Genese der Zeit aus dem Du: Untersuchungen zur interkulturellen Phänomenologie 9783495817605, 9783495489185

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Genese der Zeit aus dem Du: Untersuchungen zur interkulturellen Phänomenologie
 9783495817605, 9783495489185

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Mein Bewusstsein von meiner unbewussten Körperbewegung und Empfindung
Unser Urbewusstsein von unserer unbewussten Körperbewegung
Zur Begründung dieser These: Grundriss der Arbeit
Erster Teil. Die Zeit
Kapitel I. Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl im Hinblick auf die Frage des unendlichen Regresses und deren Lösung
1. Die Frage des unendlichen Regresses in den »Zeitvorlesungen«
§ 1. Die Einheit des Zeitinhalts und die Einheit des Zeitbewusstseins selbst
§ 2. Wahrnehmung und gleichzeitiges Erinnern?
§ 3. Die Entstehung des unendlichen Regresses
§ 4. Ein Versuch der Problemlösung
2. Die Retention als passive Intentionalität – Husserls Kritik an der Zeitlehre Brentanos und Meinongs
§ 1. Kritik am psychologisch-realistischen Ansatz der Zeitlehre Brentanos
§ 2. Kritik an der Zeitlehre Meinongs
§ 3. Die Thematik der Phansiologie und der Begriff des Urbewusstseins
1) Der Begriff der Phansiologie
2) Die phansiologische Auffassung des absoluten Zeitflusses
3) Der Begriff des »Urbewusstseins« in der Vorlesung »Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie«, 1906/07 (Hua XXIV)
3. Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention
§ 1. »Ordinaten-« und »Abszissenachse« der Retention
1) Die Abszissenachse der Retention
2) Die Ordinatenachse der Retention
3) Die Entsteheung des Problems des unendlichen Regresses
4) Der Hinweis auf die Lösung des Problems
5) Der Begriff der »impliziten Intentionalität«
§ 2. Querintentionalität und Längsintentionalität der Retention
1) Die doppelte Intentionalität der Retention im §39
2) Die momentane Phase des Bewußtseinsflusses
3) Die Gegenüberstellung der Querintentionalität und der Längsintentionalität
§ 3. Die doppelte Intentionalität der Retention und die Lösung des Problems des unendlichen Regresses
1) Der urbewusste Zeitinhalt in der Querintentionalität
2) Die Phase der Aktualität in der Längsintentionalität
§ 4. Die weitere Entwicklung der Analyse des retentionalen Prozesses
1) Die doppelte Deckung der Wesensgleichheit und der Dingauffassung
2) Die innere und äußere Wahrnehmung
§ 5. Verschiedene Missverständnisse hinsichtlich der doppelten Intentionalität der Retention
1) Levinas’ Missverständnis der Retention
2) Die abstrakte Trennung zwischen der Urimpression unde der Retention bei Levinas
3) Die Retention als die passive Intentionalität
4. Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«
§ 1. Die Frage des unendlichen Regresses in den L-Manuskripten
1) Die Retention als ein »vergegenwärtigender Akt«?
2) Ein hyletischer Vorgang ohne alle Ichbeteiligung
3) Der andere, unendliche Regress aufgrund der Protention?
§ 2. Die Notwendigkeit und die Evidenz der Protention
1) Die Protention in der Horizontstruktur des Leerhorizontes
2) Die protentionale Deckung zwischen dem unerfüllten Leeren und dem vorangegangenen Leeren
3) Das Ineinander von Retention und Protention
§ 3. Tendenz der Protention in der genetischen Analyse des Zeitbewusstseins
5. Endgültige Lösung: die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention
§ 1. Die unbewusste Retention
§ 2. Die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention
1) Die Evidenz der unbewussten Retention der unbewussten Bewegung
2) Das Vorangehen der unbewussten Retention aller Sinnesempfindungen
§ 3. Das Verhältnis zwischen Urimpression und Retention
1) Leergestalt und Leervorstellung
2) Die wechselseitige Weckung in der lebendigen Gegenwart
3) Wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention
§ 4. Die endgültige Lösung des Problems des unendlichen Regresses
Kapitel II. Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl
1. Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung der Zeitigung
§ 1. Die eigentümliche Intentionalität der Retention
§ 2. Der unendliche Regress aufgrund des Schemas Auffassungsakt – Auffassungsinhalt
§ 3. Die Herkunft des Zeitinhalts in der konkreten lebendigen Gegenwart
1) Der Zeitinhalt aus der Urimpression?
2) Der Zeitinhalt aus der Simultaneität zwischen der Impression und der Retention
§ 4. Die Reflektierbarkeit der lebendigen Gegenwart
§ 5. Egologische und monadologische Interpretation der lebendigen Gegenwart
1) Die egologische Interpretation der lebendigen Gegenwart
2) Die Triebintentionalität in der Monadologie Husserls
2. Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls
§ 1. Die apodiktische Evidenz der Retention in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1922/23)
§ 2. Husserls Rückblick auf die Entwicklung seiner Zeitlehre
§ 3. Der Begriff des phänomenologisierenden Ichs
1) Das phänomenologisierende Ich als der Träger der wirklichen Zeitigung?
2) Die transzendentale Faktizität als die absolute Wirklichkeit
3) Zeit und Assoziation im passiven Strömen der Zeitigung
§ 4. Monadologische Zeitigung im Wandel von der egologischen zur monadologischen Phänomenologie
1) Husserls Selbstkritik an der »Naivität der transzendentalen Reduktion« in den »Ideen I«
2) Intermonadische Zeitigung gegenüber dem absoluten, unzeitlichen ego
3) Intermonadische Zeitigung in der Teleologie der monadologischen Phänomenologie
3. Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung
§ 1. Die Unterscheidung zwischen Voraffektion und Affektion
§ 2. Die paradoxe Simultaneität einer im Jetzt simultanen Vergangenheit in der Voraffektion
§ 3. Das Phänomen der Aufmerksamkeit
§ 4. Die voraffektive Unterdrückung
Kapitel III. Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins und die Orientierung der Neurophänomenologie
1. Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden
§ 1. Verfahren und Endergebnisse dieser Entdeckung
1) Die subjektive Rückdatierung zum Zeitpunkt der EP-Reaktion
2) Das Bewusstsein als formale Funktion bei Libet
§ 2. Kritische Fragen bezüglich Libets Interpretation der Daten
1) Die fragwürdige Rückdatierung zum Zeitpunkt der EP-Reaktion
2) Die problematische Trennung zwischen dem Bewusstsein und dem Gedächtnis
3) Der Begriff »emergent«
4) Die Rettung des freien Willens durch das bewusste Veto?
5) Die kausale Erklärung der Natur ohne Sinndifferenzierungen
2. Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl und die phänomenologische Interpretation der libetschen Zeitverzögerung
§ 1. Die Evidenz der bewussten und unbewussten Retention
1) Die Retention als die implizierte Intentionalität
2) Die Selbstkonstitution des Bewusstseinsflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention
3) Der Zeitinhalt aus der Deckung der passiv-assoziativen Synthesis
4) Die Assoziation als die wechselseitige Weckung
5) Die Wirkung der unbewussten Ähnlichkeiten und Kontraste
6) Die Evidenz der unbewusst vorangehenden Retention der Sinnesempfindungen
7) Das Aufmerksam-Werden
8) Das Vorangehen der unbewussten Retention
§ 2. Die unbewusste Retention statt der subjektiven Rückdatierung zur EP-Reaktion
1) Die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention
2) Das Zeit-Diagramm mit den Schichtenstrukturen der affektiven Kräfte
3) Die Grenze der formalen Betrachtung des Bewusstseins
4) Die passive Synthesis vor der Spaltung zwischen der bewussten Freiheit und der unbewussten Kausalität
5) Die freie Handlung aufgrund der impliziten Intentionalität des leiblichen Gedächtnisses
6) Die Herkunft der aktiven Intentionalität
3. Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas
§ 1. Die methodische Betrachtung der Neurophänomenologie Varelas
§ 2. Neurophänomenologische Analyse des »Gegenwarts-Bewusstseins«
1) Die Neurodynamik der zeitlichen Erscheinung
2) Die Affektion unter dem Aspekt der Protention
3) Das von Varela vorgeschlagene, neue Zeitschema
4) Abschließend eine zusammenfassende Betrachtung
Kapitel IV. Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus
1. Husserls Analyse des Zeitbewusstseins
§ 1. Über das Bewusstsein der Vergangenheit. Der Begriff der Retention
1) Die unbewusste und die bewusste Retention
2) Die Retention und Kants Lehre von der Zeit als Anschauungsform des inneren Sinnes
§ 2. Egologische und intermonadische Auffassung der Zeitigung
1) Die Frage nach der Zeit und der Intersubjektivität der lebendigen Gegenwart
2) Zwischenmonadische Auffassung der Intersubjektivität
§ 3. Die Zeitigung in der genetisch-intermonadologischen Phänomenologie Husserls
1) Die Zeitigung der Triebintentionalität in der intermonadischen Urkommunikation
2) Die Zeitigung durch die passive Synthesis und der Begriff der »kleinen Perzeption«
2. Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus
§ 1. Die Grundeinsichten des Buddhismus
§ 2. Die Lehre vom Leiden im Buddhismus, Leiden als Dharma
1) Leiden als Unheilsituation unter dem transzendentalen Aspekt
2) Leiden in der Dharma-Lehre
3) Nicht-Ich-Lehre und Dharma als Seinskategorie
4) Dharma-Lehre und der philosophische Standpunkt der Mahayana-buddhistischen Philosophie
§ 3. Leiden als existenzielle Erfahrung
§ 4. Zur phänomenologischen Untersuchung des Buddhismus
1) Das Schauen des Dharmas und die Wesensanschauung Husserls
2) Der Problembereich des Triebs und des Unbewussten
3) Eine unmittelbare Erfahrung des »Urdialogs«
§ 5. Analyse der Zeit in der Dharma-Lehre der Yogacara-Schule
1) Die Auffassung des Dharmas im Hinayana- und Mahayana-Buddhismus
2) Zeit in der veränderten Interpretation des Dharmas
3) Die Lehre der Korrelation des Bewusstseins und des Unbewussten in der Yogacara-Schule
4) Gemeinsamkeit und Differenz der Auffassung des Bewusstseinsflusses bei Husserl und in der Yogacara-Schule
Zweiter Teil. Der Andere
Kapitel I. Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität
1. Berührung mit dem Du
§ 1. Die Empfindung bei Levinas
§ 2. Die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Intentionalität
§ 3. Die Empfindung in der Ich-Du-Beziehung
2. Die Begründung der Intersubjektivität aus der intermonadischen zwischenleiblichen Urkommunikation
§ 1. Die Fragestellung der Intersubjektivität in der egologischen Phänomenologie
1) Die Konstitutionsfrage der Intersubjektivität
2) Der Begriff der Konstitution und die egologische Auffassung der Intersubjektivität nach Zahavi
§ 2. Die Frage nach der genetischen Methode in der Thematik der Intersubjektivität
1) Die Frage nach der apodiktischen Evidenz der Zeit und des Anderen
2) Die Abbaumethode der genetischen Phänomenologie
3) Die intermonadische Kommunikation in der genetischen Phänomenologie
4) Die Methode der Entwicklungspsychologie und die Methode der genetischen Phänomenologie
§ 3. Passive Synthesis, die produktive Einbildungskraft bei Kant und Heideggers Interpretation der Einbildungskraft bei Kant
1) Heideggers Interpretation der Einbildungskraft Kants
2) Heideggers Interpretation der transzendentalen Apperzeption des Ichs
3) Die Gegenüberstellung von Heideggers und Husserls Interpretationen der Einbildungskraft Kants
4) Zusammenfassende Betrachtung
§ 4. Die Begründung der Intersubjektivität durch die Paarung der passiven Synthesis: die Paarung in der statischen und genetischen Analyse
1) Der Begriff der Paarung im Rahmen der Thematik der transzendentalen Logik 1924 oder 1928
2) Der Begriff der Assoziation in der ersten Fassung der 1920/21 gehaltenen Vorlesung »Logik«
3) Die Paarung für die Begründung der Intersubjektivität
4) Die Analyse der Paarung in der statischen und genetischen Konstitution
§ 5. Triebintentionalität als uraffektive passive Synthesis und die Begründung der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie
1) Evidenz der Triebintentionalität als passive Synthesis
2) Die Gradualität der affektiven Kräfte in der lebendigen Gegenwart
3) Der Veranschaulichungsprozess der Triebintentionalität aus der Ursynästhesie des Kleinkindes
4) Problematische Interpretationen der passiven Synthesis und der Intersubjektivität
5) Triebintentionalität als transzendentale Bedingung der Intersubjektivität
6) Tragweite der Kritik Kühns an der Intersubjektivität bei Husserl
§ 6. Die Leibzentrierung aus der Ursynästhesie des Säuglings
1) Die ursynästhetische, intermonadische Weckung des Säuglings
2) Die assoziative, genetische Analyse des Urbewusstseins von der »Nullkinästhese« als Leergestalt
3) Die Bildung der Leervorstellungen der Triebintentionalitäten
4) Die gleichzeitige Spaltung zwischen der »Nullkinästhese« und dem »Null-Akustischen«
5) Die assoziative Weckung aus der »Nicht-Erfüllung« bestimmter Triebintentionalität
§ 7. Der Mangel der assoziativen Synthesis der Paarung beim Autismus und die Frage der Bildung der emotionalen Kommunikation
1) Versuch der Überwindung der Panik durch die Herstellung der passiv-assoziativen Paarung
2) Das emporsteigende Gefühl im eigenen Leib
§ 8. Die passive Genesis der »objektiven« Raumzeitlichkeit in der intermonadischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind
1) Die Leibzentrierung und die Ich-Polarisierung
2) Das Phänomen der Synchronisation
3) Die Konstitution der objektiven Räumlichkeit in der intermonadischen Kommunikation
§ 9. Die Genesis der Sprache in der intermonadischen, emotionalen Kommunikation
1) Die Wiederholung eines bestimmten Wortes und die Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Kinästhese
2) Das Phänomen der Nachahmung
§ 10. Die aktive Genesis der intersubjektiven Objektivität der Wissenschaft
1) Die Entwicklung der aktiven Intentionalität der Wahrnehmung und Wiedererinnerung
2) Das Zählen eines wahrgenommenen Gegenstandes
§ 11. Vergessenheit der passiven Intersubjektivität und die Mathematisierung der Lebenswelt
1) Das Verhältnis zwischen der passiven und aktiven Intersubjektivität und das Verhältnis zwischen dem Apriori der Lebenswelt und der Idee der Objektivität der Naturwissenschaft
2) Die Grenze der Mathematisierung der Lebenswelt
§ 12. Die Integration der affektiven Übereinstimmung (»affect attunement«) Sterns in die genetische Phänomenologie
1) Die »amodal perception« als die Ursynästhesie des Kleinkindes
2) Das »affect attunement« und die intermonadische Urkommunikation des Gefühls
§ 13. Die Integration der »Spiegelneuronen« in die genetische Phänomenologie
1) Die »mindreading«-Debatte in den Kognitionswissenschaften
2) Eskens Interpretation der »Paarungsassoziationen«
3) Paarung als simultane Vereinheitlichung zwischen visuellen und kinästhetischen Empfindungen
4) Die Entwicklung der Spiegelneuronen durch den Bildungsprozess der einzelnen Empfindungsfelder
5) Die Integration der Neurowissenschaft in die genetische Phänomenologie Husserls
§ 14. Ich-Du-Beziehung in der intermonadischen Vergemeinschaftung
1) Die Unterscheidung zwischen der Elternliebe und der sozialen Liebe
2) Die verschiedenen Auffassungen der Ich-Du-Beziehung von Buber, Husserl und Levinas
3. »Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida
§ 1. Nishidas Kritik an Bergson und seine neukantianische Auffassung der Zeit
1) Nishidas Kritik an Bergson
2) Nishida und der Standpunkt des Neukantianismus Lotzes
3) Nishida und die Tathandlung Fichtes
§ 2. Logik und Mathematik bei der Selbstentwicklung der reinen Erfahrung
1) Das Bewusstsein vom »Linienziehen«
2) Nishidas Verständnis des Realen als Mathematisches
§ 3. Das Moment des Nichts und der Negation im »Vor-der-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt«
§ 4. Die Selbstentwicklung der reinen Erfahrung in der Ganzheit von Wissen, Fühlen und Wille; Nicht-Ich und Person
§ 5. »Ich und Du« bei Nishida, Buber und Husserl
1) »Ich und Du« in der späteren Denkperiode Nishidas, der »Logik des Orts«
2) Vermittlung des absoluten Nichts bzw. Anderen oder Ausgang von der einzelnen Ich-Du-Beziehung
3) Diskontinuierliche Kontinuität und die Frage nach der moralischen Entscheidung
4) Das Ich-Es-Verhältnis bei Buber und die personalistische Einstellung Husserls
§ 6. Die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in der heutigen japanischen Gesellschaft
1) Kompromiss vs. Konsens
2) Die Entwicklung der Wissenschaft als die des Ich-Es-Verhältnisses
3) Amae und Ijime (Mobbing)
4) »Du-Du-Beziehung«?
5) Die Verobjektivierung der eigenen Empfindung beim Sprechen
Kapitel II. Ethik in der interkulturellen Phänomenologie
1. Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls
§ 1. Aktivität und Passivität in der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24)
§ 2. Voraffektion und Affektion in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls
§ 3. Passive Intentionalität und nicht-intentionale Passivität in der Problematik der Ethik
1) Henrys Interpretation der Zeitlehre und der Assoziation Husserls
2) Die passive Synthesis ohne Dualität von Form und Inhalt
3) Levinas’ Interpretation der Empfindung Husserls
4) Der Verlust des »eingeborenen Du« bei Levinas
5) Waldenfels’ Kritik an der Ethik Levinas’
§ 4. Widerfahrnis und seine paradoxe Simultaneität
1) Der Begriff der Simultaneität bei Merleau-Ponty und Husserl
2) Die der Evidenz der Aktivität vorangehende Evidenz der Passivität
3) Der Begriff des Widerfahrnisses bei Waldenfels
§ 5. Die Dimension der Voraffektion der paradoxen Simultaneität
1) Der Prozess des »Aufmerksam-Werdens«
2) Die Voraffektion in der Simultaneität
3) Der Unterschied zwischen der Leergestalt und der Leervorstellung
4) Widerfahrnis und Antworten
5) Die Nachträglichkeit des Antwortens
2. Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie
§ 1. Der Begriff der passiven Motivation, der weder der Kausalität der Natur noch dem freien Willen des Geistes angehört
1) Passive Motivation als Assoziation
2) Assoziation ohne Ich-Beteiligung
§ 2. Passive Motivation als Mutterboden der Vernunft
1) Husserls Kritik an der Assoziation bei Hume
2) Kritik an der Ästhetisierung der Ethik bei Hume
§ 3. Husserls Kritik an der Moralphilosophie Kants
1) Apriorische Gesetze der Sinnlichkeit
2) Der grundverkehrte Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft
3) Bestimmung des Forschungsbereichs des »Vorethischen«
§ 4. Die Frage der Intersubjektivität und der Ethik in der genetischen Phänomenologie Husserls
1) Erneute Kritik am Formalismus bei Levinas
2) Freiheit als aktive Intentionalität gegenüber Libets Auffassung des Bewusstseins
3) Die passive Einfühlung im Vorethischen und die aktive Einfühlung in der Ethik
§ 5. Ethik des Schweigens in der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung
1) Drei Stufen des Schweigens
2) Zeit und Ethik
3) Zeit in der Yogacara-Schule in einer erneuten Zusammenfassung
4) Konsequenzen der Zeitlehre Husserls und der Yogacara-Schule
5) Der Andere und die Ethik des Schweigens
6) Selbstlosigkeit und Ethik des Schweigens
7) Wesensanschauung, Selbstlosigkeit und Ethik des Schweigens
8) Selbstlosigkeit im Ich-Es-Verhältnis und in der Ich-Du-Beziehung
3. Die Integration des sozialen Systems Luhmanns in die genetische Phänomenologie Husserls
§ 1. Das Paradox des Rechts in der Abgeschlossenheit und Offenheit des sozialen Systems
1) Das Paradox von Geschlossenheit und Offenheit des Systems
2) Luhmanns Kritik an der Theorie der Fundierung Habermas’
3) Der Begriff der Redundanz
4) Die Autopoiesis als die Bedingung und der Erfolg der Operation des Systems
5) Luhmanns Fehlinterpretation der Intentionalität
6) Vergleich zwischen den Zeitlehren Luhmanns und Husserls
§ 2. Soziale Systeme bei Luhmann und Intersubjektivität bei Husserl
§ 3. Der Ansatz der Sozialphilosophie in der interkulturellen Phänomenologie
1) Die Vielzahl von Bewusstseinssystemen bei Luhmann und die passive und aktive Intersubjektivität bei Husserl
2) Das Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und aktiven Intersubjektivität
3) Die Integration der Systemtheorie in die genetische Phänomenologie
Literaturverzeichnis
I. Benutzte Abkürzungen
II. Schriften von Edmund Husserl
II.1 Werke aus den Husserliana
II.2 Werke aus den Husserliana Materialien
II.3 Werke außerhalb der Husserliana und der Husserliana Materialien
II.4 Aus den unveröffentlichten Manuskripten
III. Weitere Autoren
Namenregister
Sachregister

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Welten der Philosophie 18

Ichiro Yamaguchi

Genese der Zeit aus dem Du Untersuchungen zur interkulturellen Phänomenologie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817605

.

B

WELTEN DER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Welten der Philosophie 18 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann †, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle †, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart und Ichirô Yamaguchi.

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Ichiro Yamaguchi

Genese der Zeit aus dem Du Untersuchungen zur interkulturellen Phänomenologie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

山口一郎 汝からの時間の発生 −− 間文化現象学の研究 −− 本書では時間の問題と他者の問題との関係が塾考されている。 時間の発生が時間内容に即して、主観の三階層に区分された生 成プロセスの発展において探求される。第一の層は、乳幼児と 養育者とのあいだの衝動志向性をとおした根源的で先自我的な 時間化の層とみなされる。第二の層においては、計測可能な客 観的時間性と空間性の根源が、知覚や言語使用、判断や計算な どの能動的綜合の出現をとおして、相互主観的に根拠づけられ る。この二階層の解明をとおして、B.リベットによる「意識」 についての、そしてG.リゾラッティなどによる「ミラーニュー ロン」の脳科学研究が、フッサールの発生的現象学に統合され うることが明証的に論証される。第三の層は、成人における我 −汝−関係の汝に由来する時間の根源に関係づけられている。そ の際、我−汝−関係と仏教における無我の没自我性とが、発生的 現象学における以下の二つの問いをとおして究明されることに なる。第一の問いは、「原共感覚」からの個別的感覚野の生成 の問いであり、第二の問いは、世界に対する没自我的な関わり における先言語的な沈黙と超言語的な沈黙からする倫理の生成 の問いである。

筆者紹介 山口一郎(やまぐち・いちろう) 1968 年から 1974 年まで上智大学文学部哲学科、同大学大学院 哲学研究科修士課程修了後、1974 年から 1979 年までドイツ、 ミュンヘン大学にて哲学、基礎神学、日本学を学ぶ。哲学の学 位(1979 年)と教授資格(1994 年) 取得後、1996 年から 2013 年 まで東洋大学文学部教授。現在、東洋大学名誉教授。

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Ichiro Yamaguchi Genese der Zeit aus dem Du Untersuchungen zur interkulturellen Phänomenologie Im vorliegenden Buch wird das Verhältnis zwischen den Problematiken der Zeit und des Anderen durchdacht. Die Genese der Zeit wird inhaltlich hinsichtlich der Entwicklung der drei Schichten des Werdeprozesses des Subjekts untersucht. Die erste Schicht wird als die ursprüngliche, vor-ichliche Zeitigung durch die Triebintentionalität zwischen dem Kleinkind und den Eltern angesehen. In der zweiten Schicht wird der Ursprung der messbaren, objektiven Zeitlichkeit und Räumlichkeit durch das Auftreten der aktiven Synthesen des Wahrnehmens, des Sprechens, des Urteilens, des Rechnens usw. intersubjektiv grundgelegt. Dadurch wird die Integration der neurowissenschaftlichen Untersuchung des Bewusstseins durch B. Libet oder jener Spiegelneuronen durch G. Rizzolatti in die genetische Phänomenologie Husserls begründet. Die dritte Schicht bezieht sich auf den Ursprung der Zeit aus dem Du der Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen. Dabei werden die Ich-Du-Beziehung und die selbstlose, nichtichliche Zuwendung zur Welt im Buddhismus in den folgenden Fragestellungen der genetischen Phänomenologie weiter vertieft: zum einen die Frage nach der Entstehung der einzelnen Empfindungsfelder aus der »Ursynästhese«, zum anderen die nach der Entstehung der Ethik aus dem vorsprachlichen und übersprachlichen Schweigen der selbstlosen Zuwendung zur Welt.

Der Autor: Ichiro Yamaguchi studierte von 1968 bis 1974 Philosophie an der Sophia-Universität in Tokyo und von 1974 bis 1979 Philosophie, Fundamentaltheologie und Japanologie an der Ludwig-MaximiliansUniversität in München. Nach Promotion (1979) und Habilitation (1994) war er von 1996 bis 2013 ordentlicher Professor für Philosophie an der Tōyō-Universität in Tokyo. Seit 2013 Prof. emeritus an derselben Universität.

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48918-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81760-5

https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Vorwort

Die Frage der Zeit und des Anderen ist und bleibt für mich eine Grundfrage, die den Weg meines Denkens bestimmt hat und weiter bestimmen wird. Als ich meine Dissertation »Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl« 1982 schrieb, war ihr Hauptthema der Andere. Das Thema Zeit stand im Hintergrund, weil die Charakterisierung der Zeit als Form der Sinnlichkeit die Auffassung der Selbstkonstitution des Zeitinhalts durch die Querintentionalität der Retention noch verborgen bleiben ließ. Anders gesagt habe ich damals den echten Sinn dessen, was mit Husserls Begriff »absolute Zeitigung« auf der allerletzten Seite des Husserliana-Bands XV (»Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III«, S. 670) gemeint war, noch nicht richtig verstanden. Dennoch war für mich klar, dass die Frage der Intersubjektivität letztlich nur durch das korrekte Verständnis des oben genannten Begriffs der passiven Synthesis und ihrer Urform, nämlich der »Paarung«, gelöst und somit transzendental begründet werden kann. Für die genau verstandene transzendentale Bestimmung der passiven Synthesis, die die Unterscheidung zwischen der aktiven und der passiven Intentionalität voraussetzt, ist ferner die Auslegung der Entwicklung der monadologischen Phänomenologie unter dem Aspekt der genetischen Phänomenologie in den 20er-Jahren notwendig. Andererseits ist die Grenzziehung zwischen der aktiven und der passiven Intentionalität sehr schlicht. Es geht allein darum, ob sich in den jeweiligen Intentionalitäten ein Anteil einer Leistung der Aktivität des Ichs befindet oder nicht. In der aktiven Intentionalität gibt es eine Beteiligung der Ich-Aktivität, in der passiven Intentionalität nicht. Gerade wegen der Missachtung dieser eindeutigen Differenz konnten die meisten immer wiederkehrenden Kritiken an der Begründung der Intersubjektivität bei Husserl den Kern dieser Einsicht nicht treffen. Vor diesem Hintergrund habe ich in meiner Habilitationsschrift 7 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Vorwort

»Ki als leibhaftige Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit« versucht, die Dimension der Zwischenleiblichkeit unter dem Aspekt der genetischen Phänomenologie Husserls und der buddhistischen Philosophie des »Nicht-Ichs« phänomenologisch darzustellen. Dadurch ist klar geworden, dass die Basis der Zwischenleiblichkeit erst durch die intermonadisch fungierende passive Synthesis der Triebintentionalität vor der »Ich-Zentrierung« des eigenen und anderen Ichs in der intermonadischen Zeitigung konstituiert wird und die Leiblichkeit in der Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers von der bereits fungierenden Ich-Zentrierung völlig befreit entsteht. Diese Einsicht wurde durch eine phänomenologische Reflexion auf die Übung des japanischen Kampfsports, die Schulung des Zen-Buddhismus und die Bewusstseins- und Zeitlehre der YogacaraSchule des Mahayana-Buddhismus vielseitig, und zwar in transzendentalphänomenologischer Analyse bestätigt. Im vorliegenden Buch »Genese der Zeit aus dem Du« wird das Verhältnis zwischen den Problematiken der Zeit und des Anderen, der methodischen Strenge der phänomenologischen Forschung entsprechend, transzendental im Bereich der genetischen Phänomenologie durchdacht. Die Genese der Zeit wird inhaltlich hinsichtlich der Entwicklung der drei Schichten des intermonadischen Werdeprozesses untersucht. Die erste Schicht wird als die ursprüngliche, intermonadischvorichliche Zeitigung durch die Triebintentionalität zwischen dem Kleinkind und den Eltern angesehen. In der zweiten Schicht wird der Ursprung der messbaren, objektiven Zeitlichkeit und Räumlichkeit, die von der naturwissenschaftlichen Forschung methodisch notwendigerweise vorausgesetzt werden, durch das Auftreten der aktiven Synthesen des Wahrnehmens, des Sprechens, des Urteilens, des Rechnens usw., die alle die ihnen vorausgehenden passiven Synthesen voraussetzen, intersubjektiv grundgelegt. Dadurch wird die Integration der naturwissenschaftlichen Forschung – z. B. der neurowissenschaftlichen Untersuchung des Bewusstseins durch B. Libet oder der der Spiegelneuronen durch G. Rizzolatti – in die genetische Phänomenologie Husserls methodisch streng, d. h. auch hinsichtlich der Begrenzung der naturwissenschaftlichen Methode, begründet. Als eine wichtige Entwicklung dieser Orientierung ist F. Varelas Entwurf einer »Neurophänomenologie« anzusehen. Die dritte Schicht bezieht sich auf den Ursprung der Zeit aus 8 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Vorwort

dem Du der Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen. In diesem Buch werden die Ich-Du-Beziehung und die selbstlose, nicht-ichliche Zuwendung zur Welt im Buddhismus in den folgenden Fragestellungen der genetischen Phänomenologie weiter vertieft: derjenigen des Prozesses der intermonadischen Entstehung der einzelnen Empfindungsfelder (bzw. der sogenannten »Qualia« in der Neurowissenschaft) aus der »Ursynästhese« (»amodal perception«), derjenigen der Rolle des Ich-Es-Verhältnisses bei der Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung in der japanischen Gesellschaft und derjenigen der Entstehung der Ethik aus dem vorsprachlichen und übersprachlichen Schweigen der selbstlosen Zuwendung zur Welt. Dieses Buch basiert auf der Bearbeitung und Überarbeitung von Vorträgen und Aufsätzen, die ich nach meiner Habilitationsschrift in Japan, Deutschland und Österreich verfasst habe. Husserls Phänomenologie der Lebenswelt war für mich von Anfang an eine Phänomenologie der Lebenswelten, aus der interkulturelles Philosophieren durch die nicht nur sprachlichen, sondern auch vorsprachlichen und übersprachlichen Kommunikationen ständig entsteht. Denken ist in diesem Sinne ständiges intersubjektives und interkulturelles Mitdenken. Für solches Mitdenken danke ich herzlich Hideo Kawamoto, Katsuzo Murakami, Shinji Hamauzu, Toru Tani, Yoshihiro Nitta, Elmar Holenstein, Georg Stenger und vor allem meinem Lehrer Bernhard Waldenfels. Er hat mir ein offenes Feld des phänomenologischen Dialogs gezeigt, aus dessen Zwischen eine neue Dimension des Philosophierens entstehen kann. Die erste Gesprächspartnerin, mit der ich seit über dreißig Jahren meine philosophischen Themen und Fragestellungen diskutiere, die oftmals aus unserem Familienleben mit unseren zwei Kindern, Fabian und Sophia, erwachsen sind, ist meine Frau Karin Yamaguchi. Für ihr Mitdenken und ihre Kommentare danke ich ihr sehr herzlich. Für die genaue, sorgfältige Korrektur meiner deutschen Texte bin ich besonders Wolfgang Fasching und auch Peter Zieme, Fabian Gabelberger sowie Philipp M. Schlögl sehr dankbar. Yokohama, im Herbst 2017

Ichiro Yamaguchi

9 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Erster Teil. Die Zeit Kapitel I. Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl im Hinblick auf die Frage des unendlichen Regresses und deren Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Frage des unendlichen Regresses in den »Zeitvorlesungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Einheit des Zeitinhalts und die Einheit des Zeitbewusstseins selbst . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Wahrnehmung und gleichzeitiges Erinnern? . . . . § 3. Die Entstehung des unendlichen Regresses . . . . . § 4. Ein Versuch der Problemlösung . . . . . . . . . . . 2. Die Retention als passive Intentionalität – Husserls Kritik an der Zeitlehre Brentanos und Meinongs § 1. Kritik am psychologisch-realistischen Ansatz der Zeitlehre Brentanos . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Kritik an der Zeitlehre Meinongs . . . . . . . . . . § 3. Die Thematik der Phansiologie und der Begriff des Urbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention . . . . . . . . . . . . . . . § 1. »Ordinaten-« und »Abszissenachse« der Retention . § 2. Querintentionalität und Längsintentionalität der Retention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die doppelte Intentionalität der Retention und die Lösung des Problems des unendlichen Regresses . .

33 34 34 35 36 37 39 40 41 42 46 46 50 52

11 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Inhalt

4.

5.

§ 4. Die weitere Entwicklung der Analyse des retentionalen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Verschiedene Missverständnisse hinsichtlich der doppelten Intentionalität der Retention . . . . . . . Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten« . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Frage des unendlichen Regresses in den L-Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die Notwendigkeit und die Evidenz der Protention . § 3. Tendenz der Protention in der genetischen Analyse des Zeitbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . Endgültige Lösung: die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention . . . . . § 1. Die unbewusste Retention . . . . . . . . . . . . . § 2. Die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention § 3. Das Verhältnis zwischen Urimpression und Retention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Die endgültige Lösung des Problems des unendlichen Regresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel II. Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl . . . 1. Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung der Zeitigung . . . . . . . § 1. Die eigentümliche Intentionalität der Retention . . § 2. Der unendliche Regress aufgrund des Schemas Auffassungsakt – Auffassungsinhalt . . . . . . . . § 3. Die Herkunft des Zeitinhalts in der konkreten lebendigen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Die Reflektierbarkeit der lebendigen Gegenwart . . § 5. Egologische und monadologische Interpretation der lebendigen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die apodiktische Evidenz der Retention in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1922/23) § 2. Husserls Rückblick auf die Entwicklung seiner Zeitlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Der Begriff des phänomenologisierenden Ichs . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

54 57 60 60 63 67 68 69 71 73 80 82 83 83 84 85 87 88 90 91 92 94

Inhalt

3.

§ 4. Monadologische Zeitigung im Wandel von der egologischen zur monadologischen Phänomenologie . . Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Unterscheidung zwischen Voraffektion und Affektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die paradoxe Simultaneität einer im Jetzt simultanen Vergangenheit in der Voraffektion . . . . . . . . . § 3. Das Phänomen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . § 4. Die voraffektive Unterdrückung . . . . . . . . . .

Kapitel III. Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins und die Orientierung der Neurophänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Verfahren und Endergebnisse dieser Entdeckung . . § 2. Kritische Fragen bezüglich Libets Interpretation der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl und die phänomenologische Interpretation der libetschen Zeitverzögerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Evidenz der bewussten und unbewussten Retention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die unbewusste Retention statt der subjektiven Rückdatierung zur EP-Reaktion . . . . . . . . . . 3. Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas . . § 1. Die methodische Betrachtung der Neurophänomenologie Varelas . . . . . . . . . . . . . . § 2. Neurophänomenologische Analyse des »Gegenwarts-Bewusstseins« . . . . . . . . . . . . Kapitel IV. Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus . . . . . . . . 1. Husserls Analyse des Zeitbewusstseins . . . . . . . § 1. Über das Bewusstsein der Vergangenheit. Der Begriff der Retention . . . . . . . . . . . . § 2. Egologische und intermonadische Auffassung der Zeitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97 109 109 111 114 116

118 119 120 121

125 126 132 137 138 139

. . 146 . . 146 . . 146 . . 151 13

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Inhalt

2.

§ 3. Die Zeitigung in der genetisch-intermonadologischen Phänomenologie Husserls . . . . . . . . Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des MahayanaBuddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Grundeinsichten des Buddhismus . . . . . § 2. Die Lehre vom Leiden im Buddhismus, Leiden als Dharma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Leiden als existenzielle Erfahrung . . . . . . . § 4. Zur phänomenologischen Untersuchung des Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Analyse der Zeit in der Dharma-Lehre der Yogacara-Schule . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 154 . . 158 . . 159 . . 160 . . 174 . . 176 . . 181

Zweiter Teil. Der Andere Kapitel I. Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berührung mit dem Du . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Empfindung bei Levinas . . . . . . . . . . . . § 2. Die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die Empfindung in der Ich-Du-Beziehung . . . . . 2. Die Begründung der Intersubjektivität aus der intermonadischen zwischenleiblichen Urkommunikation . . . § 1. Die Fragestellung der Intersubjektivität in der egologischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . § 2. Die Frage nach der genetischen Methode in der Thematik der Intersubjektivität . . . . . . . . . . . § 3. Passive Synthesis, die produktive Einbildungskraft bei Kant und Heideggers Interpretation der Einbildungskraft bei Kant . . . . . . . . . . . . . . § 4. Die Begründung der Intersubjektivität durch die Paarung der passiven Synthesis: die Paarung in der statischen und genetischen Analyse . . . . . . . . . § 5. Triebintentionalität als uraffektive passive Synthesis und die Begründung der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . .

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205 206 207 208 210 211 212 214

223

232

242

Inhalt

3.

§ 6. Die Leibzentrierung aus der Ursynästhesie des Säuglings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Der Mangel der assoziativen Synthesis der Paarung beim Autismus und die Frage der Bildung der emotionalen Kommunikation . . . . . . . . . . . § 8. Die passive Genesis der »objektiven« Raumzeitlichkeit in der intermonadischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind . . . . . . . . . . . . . § 9. Die Genesis der Sprache in der intermonadischen, emotionalen Kommunikation . . . . . . . . . . . § 10. Die aktive Genesis der intersubjektiven Objektivität der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Vergessenheit der passiven Intersubjektivität und die Mathematisierung der Lebenswelt . . . . . . . § 12. Die Integration der affektiven Übereinstimmung (»affect attunement«) Sterns in die genetische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Die Integration der »Spiegelneuronen« in die genetische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . § 14. Ich-Du-Beziehung in der intermonadischen Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . »Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Nishidas Kritik an Bergson und seine neukantianische Auffassung der Zeit . . . . . . . . . . § 2. Logik und Mathematik bei der Selbstentwicklung der reinen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Das Moment des Nichts und der Negation im »Vorder-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt« . . . . § 4. Die Selbstentwicklung der reinen Erfahrung in der Ganzheit von Wissen, Fühlen und Wille; Nicht-Ich und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. »Ich und Du« bei Nishida, Buber und Husserl . . . § 6. Die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in der heutigen japanischen Gesellschaft . . . . . . . . . .

264

271

274 283 288 291

295 301 309 316 318 323 326

331 333 356

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Inhalt

Kapitel II. Ethik in der interkulturellen Phänomenologie . . . . 1. Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Aktivität und Passivität in der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24) . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Voraffektion und Affektion in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls . . . . . . . § 3. Passive Intentionalität und nicht-intentionale Passivität in der Problematik der Ethik . . . . . . . § 4. Widerfahrnis und seine paradoxe Simultaneität . . . § 5. Die Dimension der Voraffektion der paradoxen Simultaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Der Begriff der passiven Motivation, der weder der Kausalität der Natur noch dem freien Willen des Geistes angehört . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Passive Motivation als Mutterboden der Vernunft . § 3. Husserls Kritik an der Moralphilosophie Kants . . . § 4. Die Frage der Intersubjektivität und der Ethik in der genetischen Phänomenologie Husserls . . . . . . . § 5. Ethik des Schweigens in der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Integration des sozialen Systems Luhmanns in die genetische Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . § 1. Das Paradox des Rechts in der Abgeschlossenheit und Offenheit des sozialen Systems . . . . . . . . . . . § 2. Soziale Systeme bei Luhmann und Intersubjektivität bei Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Der Ansatz der Sozialphilosophie in der interkulturellen Phänomenologie . . . . . . . . . . . .

369

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

Namenregister

369 369 371 372 377 382 388

389 391 396 401 410 439 439 450 454

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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473

Einleitung

Mein Bewusstsein von meiner unbewussten Körperbewegung und Empfindung In Tokyo kann man sich folgende Situation gut vorstellen: Ich stehe in einem vollbesetzten Zug. Durch den plötzlichen Ruck einer Notbremsung trete ich auf den Fuß eines dicht neben mir stehenden Mannes. Wahrscheinlich kennen viele diese Situation einer überraschenden Notbremsung. Jeder würde meinen, ich sei ohne Absicht auf den Fuß des Fremden getreten. Lässt sich jedoch ausschließen, dass ich doch mit Absicht – die Notbremsung ausnützend – auf den Fuß dieses auf mich unsympathisch wirkenden fremden Mannes getreten bin? Ob ich mit oder ohne Absicht gehandelt habe, kann im ersten Moment nur ich wissen. Woher weiß ich jedoch davon? Ich kann unterscheiden, ob sich mein Körper zunächst unbewusst bewegt hat oder ich mich kraft einer bewussten Entscheidung bewegt habe. Dies entspricht der Unterscheidung zwischen einer unbewussten und einer bewussten Körperbewegung. Allerdings stellt sich zugleich die Frage, wie ich das Vorher und Nachher der Bewegung überhaupt trennen und des Weiteren davon wissen kann. Meine unbewusste Bewegung war eben unbewusst. Aber der Tatsache, dass meine unbewusste Körperbewegung vorher geschah, bin ich gewiss. Wenn es nötig ist, kann ich das vor Gericht bezeugen. Aber von diesem Vorher der unbewussten Bewegung kann ich erst nachher wissen. Wo ist allerdings dieses Vorher der unbewussten Bewegung, wenn ich erst nachher davon wissen kann? Jedenfalls ist unbezweifelbar klar, dass meine unbewusste Bewegung vor meinem Bewusstsein von dieser Bewegung geschehen ist. Dieses unbewusste »Vorher-da-Sein« der Bewegung bezeichne ich, Husserls Begriff der Retention folgend, als die unbewusste Retention der Körperbewegung. 17 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

Retention bedeutet »Noch-bewusst-Sein« (vgl. Hua X, 24) 1. Das in der Retention noch Bewusste, m. a. W. das Retinierte, ist in diesem Fall meine unbewusste Körperbewegung. Also geht das unbewusst Retinierte meiner Körperbewegung der bewussten Retention meiner Körperbewegung voran. Dieses unbezweifelbare Bewusstsein von dem zeitlichen Nacheinander-Sein zeigt die Genesis bzw. das Werden der Sinnbildung des Zeitbewusstseins von der Vergangenheit und dem Jetzt (Gegenwart). In dem Augenblick, in dem das unbewusst Retinierte der Körperbewegung als die Körperbewegung bewusst wird, entsteht die Unterscheidung zwischen der vorangegangenen Vergangenheit der unbewussten Körperbewegung und dem Jetzt der nun bewussten Körperbewegung. Auch wenn diese Erklärung des Zeitbewusstseins von dem Vorher- und Nachher-Sein überzeugend klingt, ist die Frage noch offen, auf welche Weise die unbewusste und die bewusste Retention am Werk sind. Auf welche Weise kann die unbewusste Körperbewegung als solche, d. h. nicht als eine bestimmte Empfindung einer Farbe oder eines Tones, sondern eben als die Empfindung der Bewegung, unbewusst retiniert werden? Das unbewusst Retinierte kann auch eine visuelle, akustische oder haptische Empfindung sein. Denn ich erlebe bei einer Notbremsung auch eine plötzliche Änderung des Blickfeldes sowie eine im Gehörten und im Gefühlten. Ich sehe die plötzliche Körperbewegung anderer Fahrgäste und höre gleichzeitig die Schienen quietschen oder spüre eine plötzliche Änderung der Druckempfindung meiner Füße. Dieses ganze Bewusstsein von der plötzlichen Änderung der verschiedenen Empfindungen ist nur möglich, wenn die unbewusste Retention der visuellen, akustischen und haptischen Empfindung tätig ist. Denn das Bewusstsein von der Änderung der Empfindung kann nur im Vergleich zwischen der vorherigen und der anschließenden Empfindung entstehen. Aber wie wäre solch ein Vergleich überhaupt möglich, wenn die vorangehenden, unbewussten Empfindungen nicht retiniert wären? Während ich auf der Zugfahrt in Gedanken oder Erinnerungen vertieft war, war ich auf keine visuellen, akustischen oder haptischen Empfindungen aufmerksam. Dann setzte plötzlich die Notbremsung ein, die alle diese Zustände ändern sollte. Das Kürzel »Hua« bezieht sich auf die Husserliana-Ausgabe der Werke Husserls, die römische Zahl bezeichnet die Nummer des Bandes, die arabische Zahl dahinter die Seitenzahl.

1

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Einleitung

Zwischen der vorangehenden, unbewusst retinierten visuellen Empfindung, die ich von den anderen Fahrgästen hatte, und der jetzt bewussten Retention dieser Empfindung entsteht solch ein Vergleich, der das Bewusstsein von der Änderung der visuellen Empfindung ausmacht. Das Gleiche gilt auch für die akustische und haptische Empfindung. Der unbewusst entstandene Vergleich – und das ist hier der entscheidende Punkt – zwischen der unbewusst retinierten akustischen Empfindung des Geräusches während der Zugfahrt und der bewusst retinierten akustischen Empfindung während der Notbremsung macht das Bewusstsein der Änderung der akustischen Empfindung aus. Durch das Beispiel der Notbremsung des Zuges ist klar geworden, dass das Bewusstsein von der vorangegangenen unbewussten Körperbewegung das Bewusstsein von der Vergangenheit und dem Jetzt ursprünglich stiftet. In diesem Beispielder plötzlichen Änderungen der Empfindungen wurde gezeigt, dass das Bewusstsein von der Änderung einer bestimmten Empfindung das Bewusstsein von der vorangegangenen unbewussten Empfindung voraussetzen muss. Diese notwendige Voraussetzung der vorangegangenen unbewussten Empfindung stiftet das Bewusstsein von der vorangegangenen Vergangenheit der unbewussten Empfindung und von dem Jetzt der daran direkt anschließenden Änderung der Empfindung. Somit ist die Quelle der Sinnbildung des Zeitbewusstseins von Vergangenheit und Jetzt (Gegenwart) angezeigt, obwohl die Art und Weise, wie die unbewusste oder bewusste Retention fungiert, noch unklar bleibt. Wie verhält es sich dann mit dem Zeitbewusstsein der Zukunft? Ein anderes Beispiel: Wenn ich völlig in Gedanken versunken auf einer Straße gehe, kann es passieren, dass ich – die Unebenheit der Straße übersehend – stolpere. Dabei liegen in meinem Stolpern schon viele Prozesse verborgen, die ich unbewusst vollziehe. Wie kann es überhaupt zu meinem Stolpern kommen? Mit Absicht ist es sicherlich nicht geschehen, es sei denn beim schauspielerischen Darstellen eines unaufmerksamen Fußgängers auf einer Bühne. Ich kann auf einem gut gepflasterten Weg bei trockenem Wetter ohne besondere Aufmerksamkeit gehen. Dabei wird vor jedem einzelnen Schritt die folgende feste und ebene Oberfläche des Wegs immer wieder unbewusst vorweggenommen. Gerade weil ich aber diese Oberfläche der Straße unbewusst und unaufmerksam vorwegnahm, geschah das Stolpern. Das unbewusst Vorweggenommene war der ebenfalls unbewusst 19 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

gegebene Empfindungsinhalt der festen Oberfläche der Straße. Wenn er bei jedem Schritt auch unbewusst immer weiter gegeben gewesen wäre, hätte ich ohne Störung völlig in Gedanken versunken weitergehen können. Aber das Vorweggenommene war nicht gegeben, sondern ich verlor aufgrund des Fehlens der Druckempfindung der Straße das Gleichgewicht und stolperte. Das Vorwegnehmen bezeichnet Husserl als »Protention«, da es im Voraus auf etwas gerichtet ist. Hier in diesem Fall zeigt sich das unbewusste Vorwegnehmen, die unbewusste Protention, indem sie das unbewusste Gehen ermöglicht. Diese unbewusste Protention betrifft nicht nur die Empfindung der Körperbewegung, d. h. die Kinästhese, sondern wie bei der unbewussten Retention alle unbewussten Empfindungen. Beim Beispiel der Notbremsung etwa beschränkte sich die Retention nicht nur auf die unbewusste Retention der Körperbewegung, sondern betraf auch die unbewusste Retention der anderen Empfindungen. In Bezug auf die Protention kann ich vor der Notbremsung ohne besondere Aufmerksamkeit unbewusst im Zug stehen bleiben, weil die unbewusste Protention der Kinästhese beim Stehen den unbewusst gegebenen Empfindungsinhalt derselben Kinästhese immer schon verarbeitet und mitvollzieht. Das betrifft aber nicht nur die unbewusste Protention der Kinästhese, sondern auch die unbewusste Protention aller anderen Empfindungen. So umfasst die unbewusste Protention vor der Notbremsung auch die visuellen, akustischen, haptischen u. a. Empfindungen. Die visuellen Empfindungen, z. B. die Bilder der Mitfahrenden, bleiben vor der Notbremsung unbeachtet, die Aufmerksamkeit ist nicht auf sie gerichtet. Das jeweils Vorweggenommene der gesamten Bilder der Mitfahrenden ist mit den jeweilig unbewusst empfundenen Empfindungsinhalten identisch. Daher ist die gesamte visuelle Empfindung der Bilder der Mitfahrenden unbeachtet geblieben. Genauso verhält es sich bei der akustischen Empfindung. Das Geräusch des fahrenden Zugs bleibt stets im unbeachteten Hintergrund. Aber trotz dieses Hintergrundes wird dieses Geräusch immer unbewusst empfunden, unbewusst retiniert, und das so Retinierte wird immer wieder unbewusst durch die Protention vorweggenommen und das gleiche Geräusch unbewusst empfunden usw. Somit wird deutlich, dass das Bewusstsein von der Zukunft aus dem ständigen Vorwegnehmen der unbewussten Protention gebildet wird. Das Vorwegnehmen der unbewussten Protention bedeutet hier »das unbewusste 20 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

Gerichtet-Sein« des bestimmten Empfindungsinhalts auf den ständig neu auftretenden Empfindungsinhalt. Normalerweise versteht man aber unter dem Begriff der Zukunft einen bestimmten Termin oder Plan in der nächsten Woche, dem nächsten Jahr bzw. einer noch nicht gekommenen Zeit. Bei Heidegger entfaltet sich die Angst vor dem eigenen Tod durch eine noch nicht gekommene Zeit, aber in einer für die Existenz des Daseins voll bewussten Zukunft. Diese voll bewusste Zukunft entspricht allerdings nicht der Dimension der Zukunft im Sinne der unbewussten Protention (Vorwegnehmen). Diese voll bewusste Zukunft setzt die bewusste Protention voraus, weil die bewusste Zukunft die bewusste Protention der lebendigen Gegenwart notwendig voraussetzen muss. Und ferner setzt die bewusste Protention wiederum die unbewusste Protention voraus. So kann etwa ohne vorangehende und vorwegnehmende unbewusste Protention der Körperbewegung beim Gehen nicht die Empfindung der Körperbewegung des Stolperns entstehen. Beim vorsichtigen Gehen auf einer vereisten Straße gehe ich hingegen sehr aufmerksam. Bei jedem Schritt wird die bewusste Protention, die auf die Glätte der Straße gerichtet ist, vollzogen, und sie ändert sich dem jeweils neu gegebenen bewusst Retinierten entsprechend. Das Verhältnis zwischen dieser bewussten Protention und der unbewussten Protention kann durch das Verhältnis zwischen der Kinästhese bei der willentlichen Bewegung und der Kinästhese bei der unabsichtlichen, instinktiven Bewegung verstanden werden. Die instinktive Kinästhese geht, wie am Beispiel der Notbremsung gezeigt wurde, der willentlichen Kinästhese voran. Bei der Protention der instinktiven Kinästhese geht die unbewusste Protention der bewussten Protention voran. Also setzt die bewusste Protention der willentlichen Kinästhese die ursprüngliche, unbewusste Protention der instinktiven Kinästhese voraus. Dieses Verhältnis gilt auch für die unbewusste und die bewusste Retention. Durch die bisherige Beschreibung der Erlebnisse bei einer Notbremsung und beim Stolpern wurde gezeigt, dass die unbewusste Retention der unbewussten, instinktiven Körperbewegung der bewussten Retention derselben Körperbewegung vorangeht und so das Zeitbewusstsein der vorangehenden Vergangenheit gebildet wird und dass gleichermaßen das Stolpern während des Gehens die unbewusste Protention der Körperbewegung voraussetzen muss und so das Zeitbewusstsein der vorweggenommenen Zukunft gestiftet wird. 21 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

Die Themenstellung und die methodischen Fragen dieses Buches blieben bisher allerdings noch unerwähnt. Die Themen dieser Arbeit bilden die Zeit und der Andere. Methodisch orientiert sie sich dabei an der phänomenologischen, genauer der genetisch-phänomenologischen Methode. Zur Thematisierung der Zeit und zur Methode ist Folgendes anzumerken: a) Zeit wird zunächst durch die phänomenologische Methode (im Sinne der phänomenologischen Reduktion) als die unbezweifelbare, apodiktische Evidenz des eigenen Bewusstseins (z. B. das unbezweifelbare Vorangehen der unbewussten Körperbewegung bei der Notbremsung) gedacht. Dabei bleibt die kausale Untersuchung der Zeit durch die Naturwissenschaft zunächst eingeklammert. b) Der Hinweis auf die apodiktische Evidenz des bestimmten Bewusstseinsinhalts bezeichnet aber nur den Ausgangspunkt der phänomenologischen Untersuchung. Die apodiktische Evidenz (z. B. der vorangehenden, unbewussten Retention der Körperbewegung) ist zur vollständigen, adäquaten Evidenz dieser apodiktischen Evidenz, also zur Analyse, auf welche Weise die apodiktische Evidenz selbst entsteht, zu bringen. Mit anderen Worten bedeutet dies, die genetische Analyse der apodiktischen Evidenz der unbewussten und bewussten Retention und der unbewussten und bewussten Protention vorzunehmen. Dabei wird klar werden, dass die Genesis der Retention und der Protention, wie in einem Beispiel weiter unten gezeigt wird, nicht mehr im einzelnen Bewusstsein des isolierten Subjekts abgeschlossen ist, sondern in der intersubjektiven, genauer gesehen intermonadischen Sinnbildung liegt. c) »Intermonadisch« bedeutet die Art und Weise, wie »zwischen Monaden« agiert wird. Der Gebrauch des Begriffs der Monade wird bei Husserl durch die Unterscheidung zwischen der unbewussten und der bewussten Retention verständlich. Die bisherigen Interpretationen der Zeitkonstitution und Zeitigung bei Husserl sind entweder egologisch oder monadologisch differenziert zu betrachten. Die Unzulänglichkeit der egologischen Interpretation liegt eindeutig darin, dass die unbewusste Retention, die als passive Intentionalität zu charakterisieren ist, innerhalb der auf dem Bewusstsein beruhenden Egologie nicht ans Licht der Reflexion gebracht werden kann. Die Egologie Husserls basiert in den »Ideen I« einerseits auf dem »ego« des »ego cogito« Descartes’ und andererseits auf dem »reinen Ich« bzw. transzendentalen Ich im Sinne Kants. Die Monadologie bezieht sich ursprünglich auf Leibniz’ Begriff der »Monade«. Aber der ent22 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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scheidende Unterschied im Verständnis des Begriffs Monade zwischen Leibniz und Husserl liegt darin, dass bei Leibniz die Monade noch als Substanz mit metaphysischen Annahmen wie »prästabilierte Harmonie« oder »Fensterlosigkeit der Monade« usw. gefasst wird, während sie bei Husserl als die transzendentale Subjektivität der Intentionalitäten gedacht wird. d) Durch das In-den-Blick-Nehmen der Monade wird es Husserl möglich, die Genesis bzw. die Entwicklung des transzendentalen Ichs selbst, also die Entwicklung von der vor-ichlichen Monade zur ichlichen Monade, zu thematisieren, da die Monade in sich die Stufenentwicklung von der anorganischen über die organische bis hin zur menschlichen Monade hat. Die genetische Phänomenologie, die die Genesis aller Sinnkonstitutionen befragt, ermöglicht es Husserl, den Aspekt der Egologie in die monadologische Phänomenologie zu integrieren. In der egologischen Phänomenologie, die die Aktivität des fungierenden Ichs voraussetzt, kann nur die »aktive Intentionalität« (Hua IV, 333) fungieren, während die passive, vor-ichliche, völlig ichlose Intentionalität und ihre Art des Fungierens in diesem Bereich der Egologie niemals reflektierbar sein können, da die passive Synthesis der vor-ichlichen passiven Intentionalität vor der Reflexion der aktiven Intentionalität der Ich-Aktivität bereits ihre »Vorkonstitution« (Hua XXXI, 44) vollzogen hat. Die nachträgliche Reflexion der aktiven Intentionalität kommt immer zu spät. Das wird an dem oben genannten Beispiel der apodiktischen Evidenz des Vorangehens der unbewussten Retention der Körperbewegung unmissverständlich klar gezeigt. e) In der monadologischen Phänomenologie gibt es demnach die vor-ichliche Stufe (die Stufe vor der Ich-Monade), in der die rein passive Intentionalität ohne Beteiligung der Aktivität des Ichs fungiert. Diese doppelte Struktur der passiven und aktiven Intentionalität der Menschenmonade wird hinsichtlich der Frage nach der passiven Genesis der Vorkonstitution und der aktiven Genesis der Konstitution genetisch-phänomenologisch untersucht. In den 30er-Jahren ist Husserl meines Erachtens zu dem entscheidenden Standpunkt des urtümlichen Zeitstroms der intermonadischen Zeitigung gelangt.

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Unser Urbewusstsein von unserer unbewussten Körperbewegung Folgendes Beispiel sei gegeben: Ich reise mit meinem dreijährigen Kind in einem Zug. Das Kind sitzt neben dem Fenster und ich direkt neben ihm an seiner linken Seite in einem Abteil des Zuges. Wir sehen durch das Fenster des fahrenden Zugs eine grüne, ländliche Landschaft in der Ferne. Plötzlich kommt es zu einer Notbremsung. Dabei merke ich, dass meine Hände den sich plötzlich vorbeugenden Oberkörper meines Kindes an den Schultern unbewusst festgehalten haben. Dieses Festhalten geschieht gleichzeitig mit einer unbewussten, unwillentlichen Körperbewegung meines und seines Oberkörpers. Dabei geht diese gesamte Körperbewegung meinem Bewusstsein von derselben Bewegung voraus. Das Ziel der gesamten Körperbewegung ist klar: Ich möchte das Kind davor bewahren, von seinem Sitz hinunterzufallen. Hierbei ist es äußerst wichtig, dass die gesamte Körperbewegung unbewusst geschieht und zugleich an einen Zweck gebunden ist: dass es zu keiner Verletzung kommt. Das unbewusste Geschehen der gesamten Körperbewegung bedeutet, dass die bewusste Unterscheidung zwischen meinem eigenen Körper und dem Körper des Kindes nicht gemacht zu werden braucht. Es passiert also so, als ob ein einheitlicher, ganzer Körper mit zwei Polen eine einheitliche Bewegung vollzogen hätte: Die plötzliche, unwillentliche Bewegung meines Körpers und die des Kindes geschehen gleichzeitig und unbewusst. Diese Tatsache wird erst direkt nach diesem Geschehen bewusst. Es scheint zunächst klar, dass das Geschehnis zugleich mir und meinem Sohn bewusst wird. Allein woher weiß ich, dass es ihm bewusst wird? In dem Verhältnis zwischen dem unbewusst Geschehenen und dem nachträglichen Bewusstsein von demselben überschneiden sich die Frage nach der Zeit und der nach dem Anderen. Wie oben dargestellt, stiften die unbewusste Retention und die unbewusste Protention das Zeitbewusstsein von Vergangenheit und Zukunft. Die vertiefte, genetische Frage beinhaltet, woher diese unbewusste Retention und Protention eines Empfindungsinhalts überhaupt kommen. Husserl antwortet darauf, dass die formale Struktur der lebendigen Gegenwart – Vergangenheit, Jetzt, Zukunft – aus der durch die unbewusste Triebintentionalität (wie z. B. die Triebintentionalität des Erhaltens des Körpers) fungierenden intermonadischen Urkommunikation entsteht. Zeit stammt also aus der intermonadischen, d. h. 24 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

zwischen den Monaden entstehenden unbewussten Urkommunikation.

Zur Begründung dieser These: Grundriss der Arbeit Diese anspruchsvolle These über die Zeit und den Anderen gilt es, unter verschiedenen Aspekten, vor allem transzendentalphänomenologisch gründlich, d. h. von der apodiktischen Evidenz ausgehend auf die adäquate Evidenz gerichtet, zu begründen. Zur Begründung der These habe ich mir in diesem Buch die folgenden Aufgaben gestellt: a) Die gesamte Entwicklung von Husserls Auffassung des Zeitbewusstseins wird zunächst unter dem Aspekt der Entdeckung der Retention und der Protention, die das Problem des unendlichen Regresses überwindet, betrachtet. Die Entdeckung der Retention und der Protention bedeutet die Entdeckung der passiven Intentionalität, die zur Unterscheidung zwischen Passivität und Aktivität und schließlich zur Unterscheidung zwischen der egologischen und der monadologischen Auffassung der Zeitigung führt. Jede passive Intentionalität fungiert im Sinnhorizont der passiven Synthesis, deren Gesetzmäßigkeiten Assoziation und Affektion genannt werden. Die genaue Überlegung über das Verhältnis zwischen der unbewussten und der bewussten Retention bringt uns zur Differenz von Voraffektion und Affektion, die die Eröffnung der Dimension der Zeitigung der Triebintentionalität ermöglicht. b) Die phänomenologische Methode der Wesensschau schließt natürlich Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft, die zunächst durch die Methode der Epoché eingeklammert werden, nicht prinzipiell aus. Vielmehr werden diese Forschungsergebnisse durch den Prozess der Exemplifikation in die Wesensschau integriert. In Bezug auf die Erfassung des Zeitbewusstseins wird gezeigt, dass B. Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins von 0,5 Sekunden durch die in der naturwissenschaftlichen Forschung vorausgesetzte objektive Zeit nicht schlüssig erklärt, sondern erst durch die unbewusste Retention der passiven Intentionalität verstanden werden kann. Diese Einsicht kann jedoch erst durch die Untersuchung der Genesis des objektiven Zeitbewusstseins, die ich im zweiten Teil meiner Arbeit leisten werde, begründet werden. c) Die Betrachtung der Auffassung der Zeit in der Philosophie des Mahayana-Buddhismus, besonders in der Philosophie der Yoga25 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Einleitung

cara-Schule, zeigt uns eine überraschende Übereinstimmung mit der husserlschen Zeitigung, die durch die wechselseitige Weckung zwischen den Monaden, auf der ursprünglichen Stufe der intermonadischen Triebintentionalität, vorkonstituiert wird. Die Übereinstimmung betrifft einerseits den nicht-egologischen Standpunkt der buddhistischen Philosophie, den Begriff des Nicht-Ichs und insbesondere den Begriff des »Speicherbewusstseins« (alayavijnana) in der Yogacara-Schule und andererseits die passiv-assoziative Synthesis der passiven, d. h. völlig ichlosen Intentionalität bei Husserl. Beiden Seiten gemeinsam ist die Einsicht, dass das Zeitbewusstsein aus der non-egologischen, intermonadischen Wechselwirkung entsteht. d) Die oben gestellte Frage nach der Herkunft der verschiedenen Empfindungsinhalte, die durch die unbewusste Retention und Protention fungieren, ist mit der Frage bzw. der Begründung der Intersubjektivität in der Phänomenologie Husserls sehr eng verbunden. In dem Beispiel des unbewussten Festhaltens meines Kindes an seinen Schultern während der Notbremsung zeigt sich, dass die zwischenleibliche, passiv-assoziative Synthesis der »Paarung« schon am Werk ist. Im zweiten Teil meiner Arbeit wird zunächst die Entwicklung des Begriffs der Paarung als passive Synthesis zwischen den kinästhetischen und visuellen Empfindungen untersucht und dann die Genesis der einzelnen kinästhetischen, visuellen, akustischen u. a. Empfindungsfelder aus der »Ursynästhesie« des Kleinkindes mittels der Methode des Abbaus der genetischen Phänomenologie erforscht. Dabei wird sich zeigen, auf welche Weise der Aspekt der Entwicklungspsychologie D. N. Sterns mit seiner Lehre von der »affektiven Abstimmung« zwischen Mutter und Kind sowie der Aspekt der »Spiegelneuronen« der Neurowissenschaft in die genetische Phänomenologie Husserls integriert werden können. Hierbei ist besonders zu betonen, dass die Genesis der objektiven Zeit, die in den Naturwissenschaften vorausgesetzt wird, im Lichte der intermonadischen Kommunikation phänomenologisch erörtert werden kann. Dabei wird sich die objektive Zeit als eine abgeleitete herausstellen. e) Dem Fundierungsverhältnis zwischen Passivität und Aktivität entsprechend besteht die Intersubjektivität Husserls aus der passiven und der aktiven Intersubjektivität. Die Begründung der Intersubjektivität durch die passive Synthesis der Paarung betrifft die Begründung der passiven Intersubjektivität, auf der die höhere Schicht der aktiven Intersubjektivität gründet. Die interpersonale Beziehung in der aktiven Intersubjektivität hat ihren wesentlichen Ausdruck in 26 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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der »Ich-Du-Beziehung«, die in der Dialog-Philosophie Bubers und in der personalistischen Einstellung Husserls thematisiert wird. Kitaro Nishida, der Begründer der »Kyoto-Schule«, der modernen japanischen Philosophie, hat 1932 mit seinem Artikel »Ich und Du« den Grundriss einer Sozialphilosophie zu markieren versucht. Nishidas Versuch beruht – vor dem Hintergrund der Praxis der ZenMeditation, die zur Schule des Buddhismus gehört – auf der positiven Aufnahme der damals aktuellen und populären westlichen Philosophie Kants, Fichtes, Hegels, des Neukantianismus u. a. Sein Verständnis der Ich-Du-Beziehung weist einen Vorrang des absoluten Du (des Anderen) gegenüber dem einzelnen Du auf, das erst inmitten der konkreten, schwierigen Bedingungen des Ich-Es-Verhältnisses im Sinne Bubers verwirklicht werden kann. Es geht hier um die Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung in der Gesellschaft, in welcher der Träger des Ich-Es-Verhältnisses Wissenschaft, soziale Institution sowie politisches und wirtschaftliches System im höchsten Maß entwickeln kann. In diesem Zusammenhang wird heute die Möglichkeit der Begründung der Sozialphilosophie in Japan untersucht. f) Das Merkmal der Ethik Husserls liegt in seiner genetisch-phänomenologischen Untersuchungsweise, die im Lichte des Fundierungsverhältnisses zwischen Passivität und Aktivität gedacht wird. Hier wird der Bereich der »passiven Motivation der Assoziation« 2, der »weder vernünftig noch unvernünftig« (Hua XXXVII, 112) ist, bestimmt. Die Motivation gehört eigentlich zum Bereich des Geistes, der im Gegensatz zum Bereich der Naturkausalität durch die Intentionalität bestimmt wird. Innerhalb der Geistigkeit unterscheidet Husserl die niedrige Stufe von der höheren Stufe. Er sagt: »Die niedrige Stufe ist die der reinen Passivität. Reine Passivität ist der Charakter des Seelischen, des Ichlosen, nämlich ohne aktive Ichbeteiligung verlaufenden Untergrundes« (Hua XXXVII, 110). Das Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und der aktiven Motivation gilt in den erkenntnistheoretischen und den ethischen Fragen analog: »Ähnlich wie die Erkenntnisaktivität eine Erkenntnispassivität ursprünglich voraussetzt, so auch eine wertende Aktivität eine entsprechende Passivität« (Hua XXXVII, 294). 3 Vgl. Hua XXXVII, 111. Husserl macht hier auch die für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Passivität und Aktivität entscheidende Aussage: »Nämlich alle Aktivität setzt eine Passivität voraus« (Hua XXXVII, 294).

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Die Idee der passiven Motivation, die Assoziation genannt wird, hat eine entscheidende Auswirkung auf Husserls Auffassung der Ethik. Die passive Motivation (Intentionalität) der Assoziation ist aber »nicht ein bloßer Titel für eine empirische Gesetzlichkeit der Komplexion von Daten einer ›Seele‹ […], so etwas wie eine innerseelische Gravitation« 4 wie bei Hume. Die Tragweite des Konnektionismus der Neurophysiologie hat ihre Grenze nämlich insofern, als die neuronalen Verbindungen im Rahmen der gleichen Auffassung der Assoziation im naturalistischen Sinne (wie bei Hume) verstanden werden. Husserls scharfe Kritik an der Moralphilosophie Kants wird an zwei Punkten festgemacht, die durch die apodiktische Evidenz der phänomenologischen Analyse der passiv-assoziativen Synthesis transzendental begründet sind. Der erste Punkt betrifft Kants »Verkennen der Wesensnotwendigkeiten, die in der Sinnlichkeit durchaus walten« (Hua XXXVII, 220). Anders gesagt übersieht Kant »apriorische Gesetze« der Sinnlichkeit, 5 die nichts anderes als die passive Synthesis der Assoziation bedeuten. Als zweiten Punkt nennt Husserl »das Verkennen des Unterschiedes der passiven sinnlichen Gefühle und der Gefühlsakte als wertender Akte« (Hua XXXVII, 222). Das passive sinnliche Gefühl, das von Husserl als passive Motivation der passiven Intentionalität aufgefasst wird, wird bei Kant naturkausal bestimmt, »[d]a auch er [Kant] das Gefühl sensualisierte, da er in jeder Motivation durch das Gefühl eine Naturkausalität sah, die den Menschen mechanisch stoße« (Hua XXXVII, 233). Im Gegensatz zu Hume und Kant sieht Husserl das passive sinnliche Gefühl als eine passive Intentionalität, die als passive Motivation der Assoziation »der Mutterboden der Vernunft« ist. Dadurch wird die passive Einfühlung der passiven Synthesis als der unentbehrliche Boden für die aktive praktische Vernunft der Ethik begründet. Dieses ichlose Fungieren der passiven Intentionalität der Assoziation eröffnet die Möglichkeit, die Entstehung der passiven, nonverbalen Kommunikation vor der Bildung des Ich-Pols im Sinne der passiven Synthesis zu erörtern. Aber die Ichlosigkeit im anderen SinE. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 83. Dazu sagt Husserl: »Es gibt für jede Sinnlichkeit apriorische Gesetze; jederlei Sinnlichkeit ist eine Sphäre echter Rationalität, einer im guten Sinne reinen Vernunft: so zunächst die Sphäre der Sinnesempfindungsdaten, der Farben, der Töne usw. Dass eine Farbe undenkbar ist ohne Ausbreitung, ohne Helligkeit u. dgl., gehört hierher« (Hua XXXVII, 220).

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ne – nämlich nicht die Ichlosigkeit vor der Bildung des Ich-Pols beim Kind, sondern die Ichlosigkeit in einer höchsten, voll bewussten, kreativsten Aktivität der Menschenmonaden – ist die übersprachliche, von der Egozentrik befreite, in diesem Sinne selbstlose Ebene der Ich-Du-Beziehung, die der Ethik Sprache verleiht. Diese Ebene der schweigenden Ethik lässt sich auch in der Mahayana-buddhistischen Denktradition finden. g) Schlussendlich ist auch die Problematik der Intersubjektivität bei N. Luhmann in die Diskussion einzubeziehen. Hierbei wird klar, dass der Versuch Luhmanns, die Problematik der Intersubjektivität durch den Aspekt der Autopoiesis F. Varelas im Rahmen seiner Systemtheorie zu lösen, wegen seines verengten Verständnisses der Begriffe der Intentionalität und der Lebenswelt, aber auch aufgrund seines einseitigen methodischen Zugangs hinsichtlich des Beobachtungsstandpunktes der dritten Person nicht den Bereich der Neurophänomenologie Varelas erreicht hat. Diese ermöglicht es, die Thematik der Intersubjektivität im Rahmen der interkulturellen Phänomenologie zu entfalten. Diese kritische Bemerkung zur Systemtheorie Luhmanns bedeutet auch eine zusammenfassende Begründung meiner in diesem Buch dargestellten These.

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Erster Teil. Die Zeit

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Kapitel I. Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl im Hinblick auf die Frage des unendlichen Regresses und deren Lösung

Die Frage nach dem Zeitbewusstsein war für Husserl die Kernfrage seiner Phänomenologie, die er bis zum Ende seines Lebens gründlich bearbeitet hat. Seine erste Arbeit über diese Frage wurde im Band X der Husserliana (»Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins«, 1893–1917) veröffentlicht. Die gesamten Texte über die Thematik der Konstitution des Zeitbewusstseins sind allmählich durch die Publikation der L-Manuskripte in Hua XXXIII und der C-Manuskripte in den »Husserliana Materialien« sowie in der Analyse der Intersubjektivität in Hua XIII, XIV und XV in einer fast vollständigen Form zugänglich. Außerhalb der obigen Texte ist auch etwa in Hua XI (»Analysen zur passiven Synthesis«) die Thematik der Zeit, besonders der Prozess der Retention und des Retinierens selbst, der die Kernfrage der Zeitigung der lebendigen Gegenwart betrifft, im Zusammenhang mit der passiven Synthesis – nämlich der Assoziation und Affektion – sehr präzise dargestellt. Ohne eine ausführliche Darstellung ist die richtige Interpretation der sogenannten »lebendigen Gegenwart« in den C-Manuskripten nicht möglich. Dabei ist die transzendentale Bestimmung der Triebintentionalität als eine Uraffektion, der als solcher eine wichtige Aufgabe in der phänomenologischen Begründung zukommt und die unten eingehend behandelt wird, von großer Bedeutung. 1 In ebendiesem Sinne ist es auch eine wichtige Aufgabe dieses Kapitels zu zeigen, dass die Zeitigung der lebendigen Gegenwart in dem Paradox des »Bleibens und Fortfließens« durch die ursprüngliche Affektion (Uraffektion der Triebintentionalität) transzendental begründet wird. Letztere bündelt nämlich verschiedene Affektionen des Bewusstseinslebens in einer bestimmten Tendenz bzw. Richtung. In diesem Kontext der Entwicklung der Problematik der Zeitanalyse spielen das Problem des unendlichen Regresses und seine Lösung 1

Zur ausführlichen Begründung dafür vgl. unten, S. 242 ff.

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

eine entscheidende Rolle, da gerade durch seine Lösung die ursprüngliche Schicht der Zeitigung, nämlich die des Urbewusstseins und der Retention, entdeckt wurde. Die Lösung legt die Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses durch die Erfassung der doppelten Intentionalität der Retention frei. Diese entscheidende Einsicht wird in den Texten von Hua X, besonders in den Abschnitten Nr. 50 und Nr. 54, aufschlussreich dargestellt. Trotz dieses entscheidenden Schrittes findet sich das Problem in einer anderen Form in den L-Manuskripten, den sogenannten »Bernauer Manuskripten« (Hua XXXIII), wieder. In diesem Kapitel wird also gezeigt, dass die in Hua X gezeigte Lösung dieses Problems nur insofern, als die Retention als eine passive Synthesis der Assoziation und der Affektion korrekt interpretiert wird, eine endgültige Lösung sein kann. Diese Interpretation führt uns zur wichtigen Unterscheidung zwischen der egologischen und der monadologischen Interpretation des Zeitstromes. Zum Schluss dieses Kapitels wird die Möglichkeit einer interdisziplinären Forschung im Sinne einer neurophänomenologischen Untersuchung im Bereich der intermonadischen Zeitigung erläutert.

1.

Die Frage des unendlichen Regresses in den »Zeitvorlesungen«

§ 1. Die Einheit des Zeitinhalts und die Einheit des Zeitbewusstseins selbst Das Problem des unendlichen Regresses, der, wenn man die Konstitution des Zeitbewusstseins durch die phänomenologische Reduktion zu analysieren versucht, aufgrund verborgener Gründe notwendigerweise entsteht, wird in einem Zitat aus Hua X präzise dargestellt. Somit besteht die Notwendigkeit der Reflexion darin, den im folgenden Zitat besprochenen Begriff der »Erinnerung« im Sinne der »Retention« zu denken: »Ist ein geschlossener (zu einem dauernden Vorgang oder Objekt gehöriger) Fluß abgelaufen, so kann ich doch auf ihn zurückblicken, er bildet, wie es scheint, in der Erinnerung eine Einheit. Also konstituiert sich offenbar auch der Bewußtseinsfluß im Bewußtsein als Einheit. In ihm konstituiert sich z. B. die Einheit einer Ton-Dauer, er selbst aber als Einheit des Ton-Dauer-Bewußtseins konstituiert sich wieder. Und müssen wir dann nicht wieder auch sagen, diese Einheit konstituiere sich in ganz analoger Weise und sei 34 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Frage des unendlichen Regresses in den »Zeitvorlesungen«

ebensogut eine konstituierte Zeitreihe, man müsse also doch von zeitlichem Jetzt, Vorhin und Nachher sprechen?« (Hua X, 80). In dieser Passage finden sich zwei verschiedene Zeiteinheiten: einerseits die »Einheit einer Ton-Dauer« und andererseits die »Einheit des Ton-Dauer-Bewusstseins«. Hinsichtlich der ersten Einheit der Ton-Dauer ist klar, dass sie uns sehr deutlich als die Einheit des Zeitinhalts (Ton-Dauer) bewusst ist. Was bedeutet aber die letztere Einheit des Ton-Dauer-Bewusstseins? Sie betrifft die Einheit des Bewusstseinsflusses selbst, die als in der »Erinnerung« gegebene Einheit gedacht ist. Diese zwei Seiten, einerseits die Konstitution des Zeitinhalts der Ton-Dauer und andererseits die Konstitution der Einheit des Bewusstseinsflusses selbst, versucht Husserl vom Schema des Auffassungsakts und des Auffassungsinhalts her zu verstehen. Sind so die Einheit der Ton-Dauer als der Inhalt der Erinnerung und die Einheit des Bewusstseinsflusses als Erinnerungsakt verstehbar? Husserl fragt sich selbst, ob und warum die letzte Einheit des Bewusstseinsflusses als eine konstituierte Zeitreihe die Zeitordnung Jetzt, Vorhin und Nachher haben muss.

§ 2. Wahrnehmung und gleichzeitiges Erinnern? Diagramm 1 kann dieses Problem verständlicher machen. Hier ist der später eingeführte Begriff der Retention mit dem Buchstaben R bezeichnet. Das Diagramm 1.1 stellt folgenden Sachverhalt dar: Wenn Ton 1 (T1) ertönt und T2, T3 und T4 folgen, dann entsteht hier das Bewusstsein von der Dauer der Töne, das mit den Zeichen R2(T1), R2 (T2), R(T3) auf der Ordinatenachse gekennzeichnet ist. T1

T2

T3

R(T1) R(T2)

T4

R(T3)

R3(T1)

E1

R2(T2)

R(T3)

T4

R4(T1) R3(T2) R2(T3)

R2(T1) R2(T2)

R5(T1) R4(T2)

R3(T1)

R6(T1)

Diagramm 1.1

E2

Diagramm 1.2 Diagramm 1

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

Dabei ist nicht nur diese Ton-Dauer als der Zeitinhalt, sondern auch die Einheit des Ton-Dauer-Bewusstseins selbst als die Dauereinheit des Bewusstseinsflusses – in der Reihenfolge T1 bis T4 auf der horizontalen Achse der Längsintentionalität der Retention objektiviert – bewusst. Die letztere Einheit ist durch das Zeichen E1 (Erinnerung 1) und einen bogenförmigen Pfeil dargestellt. Dieser Erinnerungsakt E1 wird durch die folgende Zeitreihe (der Ton-Dauer) konstituiert: die dritte Retention von T1 (R2(T1)), die zweite Retention von T2 (R2(T2)) sowie die erste Retention von T3 (R(T3)). Diese Erklärung beinhaltet den Anspruch, dass die Wahrnehmung T4 und die damit entstehende Erinnerung – die alles Retinierte in der richtigen Reihenfolge, nämlich zunächst R3(T1), dann R2(T2), schließlich R(T3), erinnert – eben gleichzeitig entstehen müssen. Später wird diese Möglichkeit erneut kritisch thematisiert werden. Jedenfalls ist es notwendig, dass der Erinnerungsakt die Reihenfolge von R3(T1), R2(T2) und R(T3) als einen Erinnerungsinhalt der Ton-Dauer konstituiert.

§ 3. Die Entstehung des unendlichen Regresses Aber eigentlich wurde das Diagramm 1.1 dafür gebraucht, dass die Konstitution des Bewusstseins des Zeitinhalts, nämlich der Ton-Dauer, und die Konstitution des Bewusstseinsflusses als der Einheit des Erinnerungsakts erörtert werden kann. Es ist jedoch klar geworden, dass für die Erklärung der Konstitution des Erinnerungsakts die Reihenfolge von R3(T1), R2(T2) und R(T3) selbst notwendigerweise vorausgesetzt werden muss. Deshalb muss diese Reihenfolge selbst auf ihre Konstitution hin befragt werden. Dies muss analog zum Diagramm 1.1 geschehen. Das Diagramm 1.2 versucht, wie das Diagramm 1.1, die Konstitution von R3(T1), R2(T2) und R(T3) durch den zweiten Erinnerungsakt (E2) zu erklären. Aber der zweite Erinnerungsakt (E2) setzt, genau wie beim Erinnerungsakt (E1), die vorkonstituierte, bereits retinierte Reihenfolge R6(T1), R4(T2), und R2(T3) voraus. Dann, um die Konstitution dieser vorausgesetzten, vorkonstituierten Reihenfolge von R6(T1), R4(T2), und R2(T3) zu erklären, braucht es notwendigerweise das nächste Diagramm, das in sich (wie beim ersten und zweiten Diagramm) den konstituierenden Erinnerungsakt einschließen muss. Somit entsteht ein unendlicher Regress auf den weiteren, sich unendlich wiederholenden Erinnerungsakt. 36 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Frage des unendlichen Regresses in den »Zeitvorlesungen«

Diese Problemlage schildert Husserl in der folgenden Textstelle: »Um das Bewußtsein der Tonfolge zu haben, muß ich das Bewußtsein der Folge der Erinnerungskontinua (der Ordinaten) haben. Muß ich nicht, um dieses zu haben, wieder eine zweite Zeichnung machen, und so in infinitum?« (Hua X, 332).

§ 4. Ein Versuch der Problemlösung Husserl versucht dieses Problem mit der Einführung des folgenden Diagramms zu lösen. t03 A' E

t02 = E (t0 in t2) t01

t0

t1

t12

= E (t1 in t2)

t2

A

t3

Diagramm 2 (Hua X, 331)

Husserls Erklärung dieses Diagramms (das nach Husserls Aussage eigentlich nach unten geklappt dargestellt sein sollte) lautet wie folgt: »Indem t0 in t1 t2 … übergeht, bilden sich eben die Erinnerungsreihen, die wir als Ordinaten bezeichnen, heraus, und es gehen zugleich die Ordinaten in einander über. […] Aber heißt das etwas anderes, als daß eben die Ordinaten ineinander übergehen und daß hier das Übergehen selbst nichts anderes ist als Übergehen der Erinnerungsmodifikation? Oder besser: Der Fluß des Bewußtseins ist zwar selbst wieder Aufeinanderfolge, aber er erfüllt von selbst die Bedingungen der Möglichkeit des Bewusstseins der Folge« (Hua X, 332 f.). Das Ineinander-Übergehen der Erinnerungsreihen der Ordinaten bedeutet die Bildung der Kontinuität der Erinnerung: »Die Ordinate im ganzen ist ein Erinnerungskontinuum, und jede spätere ent37 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

hält die Erinnerung jeder früheren in sich« (Hua X, 330). Für die Bildung des Erinnerungskontinuums braucht es nichts anderes als die Ordinate selbst, weil die spätere Erinnerung in sich die frühere Erinnerung ohne weiteres implizit erhalten kann. Das bedeutet, dass das Erinnerungskontinuum bereits als das Konstituierte da ist und darüber hinaus keinen weiteren Erinnerungsakt, der jenes eben konstituieren sollte, mehr braucht. Die Erinnerung (später die Retention) enthält in sich ihre eigenen Modifikationen, die in sich wiederum ihre eigenen Bedingungen dieser Modifikationen einschließen. Im folgenden Zitat ist diese Modifikation als etwas »Impliziertes« bestimmt. Der Begriff der Erinnerung weicht damit dem Begriff der Retention, die als implizite Intentionalität und nicht mehr als aktive Intentionalität der Erinnerung charakterisiert werden muss: »Dagegen, was den Fluß der Erinnerung anlangt, so braucht sich an die neu eintretende Erinnerung nichts weiter anzuschließen, weil sie selbst schon in sich die Erinnerung der vorgängigen Erinnerung impliziert. (Retention.)« (Hua X, 333). Aufgrund einer vom Herausgeber gemachten Anmerkung in Hua X lässt sich sagen, dass der in Klammern gesetzte Begriff der Retention hier zum ersten Mal in den Originaltexten über die Zeitkonstitution gebraucht wird. Husserls Wechsel des Begriffs von der Erinnerung zur Retention zeigt den besonderen Charakter der Intentionalität der Retention sehr klar. Zunächst ist die Erinnerung selbst eine Aktintentionalität, die in dem Schema Auffassung – Auffassungsinhalt korrelativ analysiert wird. Aber die Retention »ist selbst kein ›Akt‹« (Hua X, 118) und »eine Intentionalität eigener Art« (ebd.). Diese eigene Art der Intentionalität wird später als »passiv« bezeichnet. Zweitens ist die Retention unmittelbar an das »Urbewusstsein« gebunden und davon untrennbar gegeben. Das Urbewusstsein hat ebenso keinen Aktcharakter, wie im Fall der Reflexion im gewöhnlichen Sinne ersichtlich wird. Dies wird im folgenden Zitat deutlich ausgedrückt: »Sagt man: jeder Inhalt kommt nur zum Bewußtsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewußtsein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewußt wird, und der unendliche Regreß ist unvermeidlich. Ist aber jeder ›Inhalt‹ in sich selbst und notwendig ›urbewußt‹, so wird die Frage nach einem weiteren gebenden Bewußtsein sinnlos« (Hua X, 119). In diesem Text wird klar formuliert, dass die Erinnerung, sofern 38 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Retention als passive Intentionalität

sie das Bewusstsein der Einheit des Bewusstseinsflusses der Ton-Dauer nach dem Schema Auffassungsakt – Auffassungsinhalt konstituiert, in einen unendlichen Regress geraten muss, da das Bewusstsein der Einheit, als selbst bewusster Inhalt, den ihn konstituierenden Akt braucht. Aber das Bewusstsein der Einheit des Bewusstseinsflusses der Ton-Dauer ist unmittelbar gegeben als die konstituierten »Dauereinheiten, die durch die Vertikalreihen des Zeitdiagramms wiedergegeben werden« (ebd.). Die Retention lässt sich als eine implizite Intentionalität verstehen. Die Impliziertheit spielt dabei eine entscheidende Rolle für die Auffassung der Habitualität und der Geschichtlichkeit des Menschen allgemein. Hiermit ist die Richtung der Entwicklung der genetischen Phänomenologie angezeigt, die nach dem Werden des noematischen Sinns fragt und prinzipiell ohne den Begriff der Retention als implizierter Intentionalität nicht möglich ist. Die Konstitution der oben genannten »Dauereinheit« in der Vertikalreihenfolge der Retentionen ist selbst noch nicht ausreichend erklärt. Die nächste Frage bezieht sich demnach auf das »Wie« dieser Konstitution. Husserl versucht diese Konstitutionsweise durch die doppelte Intentionalität der Retention zu erhellen. Bevor ich näher auf diese Thematik eingehe, scheint es vonnöten, die besondere Eigenheit des Begriffs der Retention durch Husserls Kritik an der Auffassung der Zeit bei Brentano und Meinong zu erhellen.

2.

Die Retention als passive Intentionalität – Husserls Kritik an der Zeitlehre Brentanos und Meinongs

Die Bedeutung dieser Entwicklung des oben eingeführten Begriffs der Retention wird durch Husserls Kritik an der Zeitlehre Brentanos und Meinongs deutlicher. Dabei wird gezeigt, dass Husserl gegenüber der neukantianischen Einsicht des zeitlos fungierenden Aktes auf die Thematik der Phansiologie und den Begriff des Urbewusstseins hingewiesen hat.

39 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

§ 1. Kritik am psychologisch-realistischen Ansatz der Zeitlehre Brentanos Das Problem des unendlichen Regresses wird klarer umrissen, wenn die Notwendigkeit der Überwindung der Aktintentionalität wegen des unendlichen Regresses, die Husserl durch seine Kritik an der Zeitlehre Brentanos und Meinongs erreicht hat, deutlich gezeigt werden kann. Husserl macht deutlich, dass ein Grundirrtum der Forschung der Psychologie im empirischen Sinne darin besteht, dass sie glaubt, »[d]er äußere Reiz errege durch die Form der physischen Prozesse die Qualität, durch ihre lebendige Kraft die Intensität und durch seine Fortdauer die subjektiv empfundene Dauer« (Hua X, 12). Aber Husserl erwidert zu Recht: »Dauer der Empfindung und Empfindung der Dauer ist zweierlei« (ebd.). Mit anderen Worten, die objektive Dauer der Empfindung als des äußeren Reizes kann die subjektive Empfindung der Dauer nicht erzeugen. Dieser versteckte Realismus Brentanos enthält einen versteckten Idealismus unter dem Deckmantel der Intentionalität, die nur als die Aktintentionalität verstanden werden kann. Husserls Kritik an Brentanos Begriff der Assoziation besteht gerade darin, dass Brentanos Lehre der »ursprünglichen Assoziation«, die nämlich die »stetige Anknüpfung einer zeitlich modifizierten Vorstellung an die gegebene [Empfindung]« (Hua X, 13) bedeutet, nur hinsichtlich der aktiven Intentionalität verstanden wird. Gleichzeitig geht damit auch eine Kritik an Brentanos Ansicht über die Zeitvorstellung, und zwar der Unterscheidung zwischen realen und irrealen Zeitprädikaten, einher: »Die modifizierenden Zeitprädikate sind nach Brentano irreale, real ist nur die Bestimmung des Jetzt« (Hua X, 14). Demnach wäre nur das Jetzt real und das Vergangene irreal. Das Vergangene ist nach Brentano ein irreales Zeitprädikat, das durch die an das reale Jetzt unmittelbar anschließende ursprüngliche Assoziation hinzugefügt wird. Husserls Kritik an Brentanos Konzept der Assoziation liegt darin, dass Brentano schließlich in einer Art Sensualismus und trotz seiner Entdeckung des Aktcharakters der Intentionalität die Assoziation als die Vorstellung ansieht, die dem gleich bleibenden Zeitinhalt des sensualistisch aufgefassten Empfindungsinhalts ein neues Moment, nämlich »Vergangen-Sein«, hinzusetzt.

40 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Retention als passive Intentionalität

§ 2. Kritik an der Zeitlehre Meinongs Husserls Kritik an der Zeitlehre Brentanos kann anhand seiner kritischen Betrachtung über die damals verbreitete neukantianische Zeitlehre noch deutlicher dargestellt werden. Der damals herrschende Gedanke des Neukantianismus z. B. von Lotze ist nämlich folgender: »[E]s sei für die Erfassung einer Folge von Vorstellungen […] nötig, daß diese die durchaus gleichzeitigen Objekte eines beziehenden Wissens sind, welches völlig unteilbar sie in einem einzigen und unteilbaren Akte zusammenfaßt. Alle Vorstellungen […], welche eine Vergleichung mehrerer Elemente enthalten und das Verhältnis zwischen ihnen ausdrücken, können nur als Erzeugnis eines zeitlos zusammenfassenden Wissens gedacht werden« (Hua X, 19 f.). Lotze behauptet, dass das zeitlose zusammenfassende Wissen bzw. das zeitlose Vorstellen für die Auffassung eines Übergangs nötig sei. Diese Notwendigkeit wird dadurch erklärt, dass das Vorstellen, wenn es selbst ganz in zeitlicher Sukzession aufginge, unmöglich sei. Also wird hier behauptet, dass etwa die Zeitdauer von A bis B nur durch die gleichzeitigen Akte des überzeitlichen Subjekts, nämlich die Akte der Repräsentation von A und des Wahrnehmens von B, erkannt werden kann. Mit dem obigen Zeitdiagramm 1 2 wird ausgedrückt, dass das zeitlose Wissen der Wahrnehmung von Ton 4 die Erinnerungen T1, T2 und T3 in sich einschließen kann. Dabei wird vorausgesetzt, dass mehrere Akte gleichzeitig in einem zeitlosen Wissen fungieren können. Husserls Kritik an der Zeitlehre Meinongs befindet sich nicht in den Haupttexten (A) in Hua X, sondern im Teil B, in Nr. 29, »Meinongs Unterscheidung in distribuierte und indistribuierte Gegenstände« (Hua X, 216 ff.). Die hier besprochene Unterscheidung zwischen dem distribuierten, d. h. zeitlich verteilten Gegenstand und dem indistribuierten, d. h. zeitlich nicht-verteilten Gegenstand betrifft genau Lotzes Unterscheidung zwischen der zeitlichen Ausdehnung und dem zeitlosen Akt des Vorstellens. Somit bezieht sich Husserls Kritik auf die Behauptung Meinongs, dass der alle Zeitpunkte des Jetzt übergreifende einzige Akt alle vorangehenden Vorstellungen am Ende der Dauereinheit zusammenfassen könne (vgl. Hua X, 226). Nach Meinong, genauso wie bei Lotze, »muß ein Akt vorliegen, der über das Jetzt hinaus das ganze Zeitobjekt umfaßt. […] Also dis2

Siehe oben, S. 35.

41 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

tribuierte Gegenstände werden nur mittels indistribuierter ›Inhalte‹ vorgestellt« (ebd.). Wie in der bisherigen Erörterung der Retention allerdings klar gezeigt wurde, stecken in der obigen Behauptung Meinongs mehrere prinzipielle Schwierigkeiten, die weiter unten auseinandergesetzt werden müssen. Diese Zeitauffassung Meinongs schließt in sich mehrere Annahmen ein, die zu überprüfen nötig sind. Die erste Frage bezieht sich dabei darauf, ob das »zeitlose zusammenfassende Wissen aller Vorstellungen« wirklich möglich ist. Dabei besteht die Grundvoraussetzung, dass jeder Akt, jedes Vorstellen, jedes Urteil grundsätzlich zeitlos fungieren kann und soll. Dahinter steckt die Grundannahme der kantischen Einsicht der zeitlosen Vereinheitlichung der transzendentalen Apperzeption des Ichs. Dieser Annahme Meinongs stellt Husserl seine Einsicht gegenüber, dass evidenterweise jeder Akt, jede cogitatio selbst eine reell immanente Dauereinheit haben muss.

§ 3. Die Thematik der Phansiologie und der Begriff des Urbewusstseins Husserl weist in diesem Zusammenhang auf seine »phansiologische« Forschung hin, nämlich die direkt auf das reell Immanente des Bewusstseins bezogene Analyse des absoluten Bewusstseinsflusses. Ferner ist es zu beachten, dass der Begriff des Urbewusstseins in diesem Kontext eingeführt wird. 1)

Der Begriff der Phansiologie

Was bedeutet nun »das Phansiologische«? Husserl gebraucht den Ausdruck »phansiologisch«, »um innerhalb der phänomenologischen Analyse scharf pointieren zu können den Unterschied zwischen dem, was Sache der cogitatio ist und Sache des Cogitierten als solchen, das ja auch evident zu beschreiben ist. Den Ausdruck cogitatio haben wir in Anlehnung an die Cartesianische Betrachtung festgehalten. Phansiologisch nennen wir eine Untersuchung, welche die cogitatio nach ihrem reellen Bestand erforscht« (HM VII, 157, 3 Hervorhebung vom Verfasser; Hua X, 277 f.). Was heißt hier aber, die cogitatio nach ihrem reellen Bestand zu 3

Das Kürzel »HM« steht hier wie im Folgenden für »Husserliana Materialien«.

42 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Retention als passive Intentionalität

erforschen? Die cogitatio wird in der Phänomenologie als der intentionale Akt verstanden. Wie ist es dann möglich, die cogitatio nach ihrem reellen Bestand zu erforschen? Zunächst ist zu klären, warum Husserl den Bereich der phansiologischen Forschung überhaupt in die phänomenologische Analyse eingeführt hat. Husserl hat in seiner Vorlesung »Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis« (1909, HM VII) versucht, die »Wissenschaft vom reinen Bewusstsein« (HM VII, 65 ff.) zu etablieren. Dabei unterscheidet er den Akt im Sinne der psychologischen Gegebenheit vom Akt im Sinne der phänomenologischen Reduktion. Übrig bleibt hier einzig »die reine cogitatio«. Hinsichtlich der Thematik der Zeitkonstitution ist die phänomenologische Reduktion der sogenannten objektiven Zeit der Natur notwendig, um die Frage der Konstitution des immanenten Zeitbewusstseins allererst thematisieren zu können. Damit entsteht sofort die dringende Frage nach der Evidenz des stets fließenden Jetzt: »Die Ausschaltung der Natur hätten wir vollzogen; fordert man aber von uns auch Ausschaltung derjenigen Transzendenz, die in der Erinnerung und Retention liegt, dann sind wir zu Ende in dem Momente, wo wir angefangen haben. […] Wie soll es [das Aussagen] das Jetzt fixieren, das im Fixieren immer wieder ein Neues wird?« (HM VII, 70). Das Problem: »absoluter Skeptizismus« (ebd.). Also beinhaltet die Frage des Skeptizismus, wie weit die absolute Selbstgegebenheit des immanenten Zeitbewusstseins reicht, d. h., ob die absolute Gegebenheit nur im Bereich des ständig fließenden momentanen Jetzt bleibt. Husserl antwortet darauf, »dass der schauende Blick, indem er z. B. auf Wahrnehmungserscheinung und das Wahrgenommene als solches gerichtet ist, er dieses in seiner Dauer immanent fasst, als absolute Selbstgegebenheit, und dass die Beschränkung auf das Jetzt, das im stetigen Fluss ist, eine Fiktion wäre« (HM VII, 71). Dem folgend muss die Bestimmung der Fixierung auf das Jetzt als »Fiktion« noch gründlicher beschrieben werden. Und allgemeiner stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, die Wahrnehmungserscheinung in der Dauer immanent aufzufassen. 2)

Die phansiologische Auffassung des absoluten Zeitflusses

Gerade aufgrund des Begriffs des oben genannten reellen Bestandes des Bewusstseins ist die Bestimmung der Fixierung auf das momen43 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

tane Jetzt als Fiktion begründbar. Husserl blickt in dieser Vorlesung auf den Unterschied zwischen dem Reellen und dem Ideellen zurück. Was ist mit dem Reellen eigentlich gemeint? Er sagt: »Die cogitatio, das absolute Diesda, das nicht gesetzt ist als ein Seiendes der psychischen Natur, […] ist ein phänomenologisch Reelles und hat seine reellen Teile und Momente (bzw. Eigenschaften)« (HM VII, 62). Demnach bedeutet cartesianische absolute Evidenz »die doppelte Evidenz, die auf das reell Immanente bezügliche wie die auf das intentional Immanente« (HM VII, 63). Die Unterscheidung zwischen Reellem und Intentionalem betrifft den »Doppelsinn des Wortes ›Phänomen‹« (HM VII, 64): nämlich einerseits als »die jeweilige reelle cogitatio, das reelle Bewusstsein, und fürs Zweite aber auch der intentionale Inhalt des Bewusstseins« (ebd.). Husserl führt, gerade hier in diesem Zusammenhang mit dem Zeitfluss, zur phansiologischen Auffassung des absoluten Zeitflusses hin: »Andererseits aber sind diese Einheiten Einheit von Mannigfaltigkeit, nämlich von Einheiten, die notwendig zurückweisen auf die Mannigfaltigkeiten des letzten Zeitflusses, in dem sie sich notwendig darstellen, sich im Fluss phansiologischer Zeit abschatten. Hier in diesem Fluss liegt das Absolute, auf das alle phänomenologische Analyse zurückführt; wir sprechen von dem absoluten phansiologischen Zeitfluss und sagen, dass sich in ihm alle Einheiten konstituieren« (HM VII, 157, Hervorhebung vom Verfasser; Hua X, 277 f.). 4 Hier wird Entscheidendes für die Analyse des Zeitbewusstseins deutlich ausgesagt: a) Die phansiologische Erforschung der reell immanenten Dauer der Abschattung des Zeitflusses ist in der Tat möglich, weil die reelle cogitatio in der cartesianischen absoluten Evidenz unmittelbar gegeben ist. b) Die reellen cogitationes müssen reelle immanente Zeitdauer haben. Daher ist es in diesem Sinne undenkbar, dass der Bewusstseinsakt jeder cogitatio zeitlos in dem zeitlosen Jetzt fungieren kann. Also widerspricht die Annahme des Neukantianismus, das Verhältnis der Zeitdauer sei als Erzeugnis eines zeitlos zusammenfassenden

Später in seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« erwähnt Husserl den Begriff der »Phansis«: »1) Die Ich-Akte und Ich-Affekte. 2) Die Erlebnisse der Phansis, wie ich es früher nannte, die Dingerscheinungen, in dem einen Sinn, Empfindungsdaten in ihren ›Auffassungen‹, das und das ›Ding von der Seite‹ darstellend« (HM IX, 465).

4

44 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Retention als passive Intentionalität

Wissens zu verstehen, der absoluten Evidenz des phänomenologisch Reellen der cogitatio. c) Die Einführung des Begriffs des absoluten phansiologischen Zeitflusses ist im Zusammenhang mit der Entwicklung des Begriffs der Retention und des absoluten Zeitflusses sehr wichtig, weil dadurch die dreischichtige Struktur des Zeitbewusstseins enthüllt werden kann: nämlich die des präphänomenalen, selbstkonstituierenden, absoluten Zeitflusses, die der phänomenalen, immanenten Erscheinung des Zeitflusses und die des objektiven Zeitbewusstseins. 3)

Der Begriff des »Urbewusstseins« in der Vorlesung »Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie«, 1906/07 (Hua XXIV)

Hier ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Phansiologie und dem Urbewusstsein zu stellen. Die Einführung des Begriffs der Phansiologie in die Analyse des Zeitbewusstseins ermöglicht, die reell immanente Zeitdauer des absoluten Zeitflusses zu analysieren. Aber auf welche Weise? Wie oben gezeigt wurde, hat die cartesianische absolute Evidenz »die doppelte Evidenz« des reell Immanenten und des intentional Immanenten, was der Unterscheidung zwischen dem reellen und dem intentionalen Erlebnis entspricht. Dementsprechend hat Husserl im Zusammenhang mit der phansiologischen Forschung (der reellen Momente des Bewusstseins) das reelle Erlebnis als »Sein« bezeichnet: »Wir vollziehen nun eine Wesensanalyse und konstituieren so den Begriff des Erlebnisses, der jedes in phänomenologischer Zeitlichkeit extendierte datum oder dabile betrifft, und wir konstituieren den Begriff des bloßen Erlebnisses als des Urbewusstseins, in dem das datum noch nicht gegenständlich geworden, aber doch ist, in dem es sein vorphänomenales Sein hat und mit Evidenz haben muss« (Hua XXIV, 245). Durch die Einführung des Begriffs des Urbewusstseins als des bloßen Erlebnisses, nämlich des reellen Erlebnisses, ist der absolute Zeitfluss als der vorphänomenale (präphänomenale), selbstkonstituierende Zeitfluss im Unterschied zur phänomenalen, immanenten Erscheinung des Zeitflusses bestimmt.

45 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

3.

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention

Eine genaue Interpretation der doppelten Intentionalität der Retention ist deswegen wichtig, weil die Lösung des Problems des unendlichen Regresses (bei der Erfassung des Zeitstroms) gerade durch die Einführung des Begriffs der Retention und ihrer doppelten Intentionalität gegeben wird. Dieser Ansatz hat zwar der Lösung die entscheidende Richtung gegeben, kann aber zugleich noch nicht ihre endgültige Darstellung und Begründung sein. Um die Bedeutung der von Husserl weitergeführten und vertieften Analyse der retentionalen Abwandlung – vor allem in »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI) – und den Status der endgültigen Lösung dieser Problematik klar zu erfassen, ist es nötig, wieder auf »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« (Hua X) zurückzukommen und die deutliche Kontur ihrer komplizierten Textinhalte zu erhellen.

§ 1. »Ordinaten-« und »Abszissenachse« der Retention Die Beschreibung der doppelten Intentionalität der Retention wird hauptsächlich im § 39 der »Zeitvorlesungen« gegeben. Für eine richtige, ausreichende Interpretation dieser Textstelle ist es empfehlenswert, zur genauen Darstellungen der Problementwicklung zurückzukehren. Als die wichtigste Passage sehe ich in diesem Zusammenhang jene von Nr. 50 im Teil B der »Zeitvorlesungen« an, da hier erstmals der Begriff der Retention angewendet wird und dabei die Frage nach dem unendlichen Regress und die damit unmittelbar zusammenhängenden Zeitdiagramme dargestellt werden. Zunächst können wir uns den Zeitdiagrammen in Hua X, S. 330 f. (d. h. dem oben gezeigten Diagramm 2) zuwenden. Die Abwandlungen der Retentionen auf den Ordinatenachsen sind dabei nicht nach unten, sondern ungewöhnlicherweise nach oben gezeichnet. Dazu sagt Husserl selbst: »Die Fächerung wäre noch besser nach unten umgeklappt, um etwas vom Heruntersinken bildlich anzudeuten« (Hua X, 331). Daher werde ich hier, diesem Hinweis Husserls folgend, die Fächerung der Retentionen, wie gewöhnlich, nach unten umgeklappt vorstellen.

46 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

1)

Die Abszissenachse der Retention

Es ist zunächst festzuhalten, dass die Linie OX als die »Abszissenachse« (also die Achse in der horizontalen Richtung) bezeichnet wird. Husserl sagt: »Die objektive Dauer zeichnen wir mit ihren Punkten auf die Abszissenachse OX« (Hua X, 330). Was bedeutet aber die hier genannte »objektive Dauer«, und in welchem Verhältnis steht sie zum »Erinnerungskontinuum« (ebd.) auf der Ordinate? Hierbei ist der Unterschied zwischen den beiden Achsen selbst für die Bedeutung der doppelten Intentionalität der Retention zentral. Diese zentrale Frage werde ich weiter unten behandeln. Hinsichtlich der ersten Frage gilt es zu beachten, dass die oben genannte »objektive Dauer« natürlich nicht die Bedeutung der Objektivität im Sinne der objektiven Zeit, die durch die phänomenologische Reduktion in den Untersuchungen der »Zeitvorlesungen« bereits eingeklammert wurde, annimmt. Demnach ist »die objektive Dauer«, zunächst ohne ausführliche Begründung, als durch die Objektivierung der immanent konstituierten Zeitlichkeit verobjektiviert zu verstehen. 2)

Die Ordinatenachse der Retention

Wie bereits erwähnt bemerkt Husserl zum Erinnerungskontinuum auf der Ordinate: »Die Ordinate im ganzen ist ein Erinnerungskontinuum, und jede spätere enthält die Erinnerung jeder früheren in sich« (ebd.). Der hier angewandte Begriff der »Erinnerung« wird später, wie oben bereits gezeigt, wegen der intentionalen Eigenschaft des Aktes zum Begriff der Retention korrigiert, denn die »Erinnerung ist ein Ausdruck, der immer nur Beziehung hat auf ein konstituiertes Zeitobjekt; Retention aber ein Ausdruck, der verwendbar ist, um die intentionale Beziehung (eine grundverschiedene) von Bewußtseinsphase auf Bewußtseinsphase zu bezeichnen« (Hua X, 333). Hier ist die Bedeutung der Bewusstseinsphase entscheidend, die durch die oben genannte »phansiologische Analyse« des absoluten Bewusstseinsflusses eingeführt wurde. Dies bedeutet, dass die Retention als eine besondere Art der Intentionalität erst durch die Charakterisierung der Intentionalität als von einer zur anderen Phase des Bewusstseinsflusses intendierend begründet wird. Also bedeutet das hier genannte Erinnerungskontinuum korrekt gesagt das Phasenkontinuum der Retentionen, die auf der Ordinate eingezeichnet werden. In den Zeitdiagrammen wird ein ständiger Zu47 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

wachs dieser retentionalen Dauer dargestellt, insofern sie die die frühere Dauer ständig in sich einschließt, darauf eine neue Dauer auflegend und somit anwachsend. Die Dauer der Retention kann aber hier von der Dauer des retinierten Zeitinhalts natürlich nicht getrennt betrachtet werden, weil eine Retention zugleich die Retention der früheren Retentionen als die retinierten bestimmten Zeitinhalte – z. B. eines Tones – in sich einschließt. 3)

Die Entsteheung des Problems des unendlichen Regresses

Gerade hier in der Beschreibung der Retention selbst taucht das Problem des unendlichen Regresses auf, dessen Lösung mit dem richtigen Verständnis der Retention selbst sehr eng verbunden ist. Anders als die oben gestellte Frage nach dem unendlichen Regress formuliert Husserl diese Frage nun auf folgende Weise: »Habe ich nicht auch eine Erinnerung an die Bewegung des Flusses, an das Aufkommen immer neuer Jetzt, an die Entwicklung, die aus dem t0 die Kontinuität der Ordinaten hervorgehen ließ? Droht hier nicht der unendliche Regreß?« (Hua X, 332). Erneut ist hier zu fragen, was für ein Problem der unendliche Regress eigentlich darstellt. Im Ausgangspunkt der phänomenologischen Analyse des Zeitbewusstseins ist z. B. das Bewusstsein einer Tondauer bereits als solches gegeben. Für die Erhellung der Konstitution dieser Bewusstseinsdauer wird die beschreibende Analyse mit den Skizzen der Abszissenachse, der Ordinate und der schrägen Linie durchgeführt. Dabei wird das »Erinnerungskontinuum«, d. h. das Retentionskontinuum, direkt unter den jeweiligen aktuellen Jetztpunkten anschließend, im stetig versinkenden Zuwachsen gezeichnet. Aber bedarf es nicht, um die Einheit des Bewusstseins dieses Retentionskontinuums sicherzustellen, der nochmaligen, nacheinander folgenden Erinnerung der einzelnen Phasen des Retentionskontinuums auf der Ordinate? Bedarf es dann wieder einer gleichartigen Skizze zur Erhellung dieser Vereinheitlichung? Diese Frage ist oben mit Hilfe des Diagramms 1 dargestellt. 4)

Der Hinweis auf die Lösung des Problems

Husserl antwortet, wie oben zitiert, dass die Lösung des Problems bereits in der Skizze selbst dargestellt ist: »Indem t0 in t1 t2 … übergeht, bilden sich eben die Erinnerungsreihen, die wir als Ordinaten 48 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

bezeichnen, heraus, und es gehen zugleich die Ordinaten ineinander über. […] Aber heißt das etwas anderes, als daß eben die Ordinaten ineinander übergehen und daß hier Übergehen selbst nichts anderes ist als Übergehen der Erinnerungsmodifikation? Oder besser: Der Fluß des Bewußtseins ist zwar selbst wieder Aufeinanderfolge, aber er erfüllt von selbst die Bedingungen der Möglichkeit des Bewußtseins der Folge« (Hua X, 332). Die Erinnerungskontinua (Retentionskontinua) auf den Ordinaten gehen ineinander über. Das heißt, dass die frühere Retention, wenn eine neue Impression stattfindet, von selbst, ohne weitere Bedingung, absinkt und zugleich die frisch retinierte Impression auf die frühere Retention folgt. Für diese Aufeinanderfolge braucht es keine andere Bedingung als diese Modifikation der Retentionen selbst. Daher braucht es für die Bildung solcher Folgen von Retentionen auch keine andere Skizze als das eben besprochene Diagramm, das nur einmal und nicht unendlich oft gezeichnet zu werden braucht. 5)

Der Begriff der »impliziten Intentionalität«

Des Weiteren ist besonders zu beachten, dass der Begriff der impliziten Intentionalität gleichzeitig mit der Entwicklung des Begriffs der Retention herausgebildet wurde. Der Begriff der impliziten Intentionalität spielt für die transzendentale Auffassung der Geschichtlichkeit und der Herausbildung der Habitualität in der späten Denkperiode Husserls eine zentrale Rolle, ist für die Entfaltung der formalen Egologie des reinen Ichs zur historisch-konkreten Monadologie Husserls und schließlich für die genetische Phänomenologie entscheidend. Wie oben gezeigt, liegt das Wesen der Retention darin, dass das Kontinuum der Retentionen ohne Beteiligung anderer Bewusstseinsleistungen von selbst entsteht. Dieselbe Einsicht wird im Haupttext der »Zeitvorlesungen« im § 11 auf folgende Weise dargestellt: »Das führt auf keinen einfachen unendlichen Regreß, weil jede Retention in sich selbst kontinuierliche Modifikation ist, die sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in sich trägt« (Hua X, 29 f.). Eine Retention ist immer in einer anderen Retention implizit gegeben. Sie trägt in sich das Erbe der früheren Retentionen, den gesamten Vergangenheitshorizont. Ferner wird die Lösung des Problems des unendlichen Regresses im § 39 folgendermaßen formuliert: »Es ist der eine, einzige Bewußt49 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

seinsfluß, in dem sich die immanente zeitliche Einheit des Tons konstituiert und zugleich die Einheit des Bewußtseinsflusses selbst. So anstößig (wo nicht anfangs sogar widersinnig) es scheint, daß der Bewußtseinsfluß seine eigene Einheit konstituiert, so ist es doch so« (Hua X, 80). Das Bewusstsein konstituiert sich also selbst, indem die immanente Einheit der Ton-Dauer und die Einheit des Bewusstseinsflusses gleichzeitig durch die doppelte Intentionalität der Retention als der einzige Bewusstseinsfluss entstehen.

§ 2. Querintentionalität und Längsintentionalität der Retention Nun können wir auf die Darstellung im § 39, »Die doppelte Intentionalität der Retention und die Konstitution des Bewußtseinsflusses«, direkt eingehen. 1)

Die doppelte Intentionalität der Retention im § 39

Im letzten Zitat aus § 39 wird dargelegt, dass sich in dem einzigen Bewusstseinsfluss die immanente zeitliche Einheit des Tones und zugleich die Einheit des Bewusstseinsflusses selbst konstituieren. 5 Die doppelte Intentionalität der Retention beinhaltet nämlich die Konstitution des Zeitinhalts und die mit dieser Konstitution einhergehende Konstitution des Bewusstseinsflusses. Husserl beschreibt die Konstitution des Zeitinhalts auf der Zeitachse der »Querintentionalität« auf folgende Weise: »Nehme ich die Richtung auf den Ton, lebe ich mich aufmerkend in die ›Querintentionalität‹ ein […], so steht der dauernde Ton da, sich in seiner Dauer immerfort erweiternd« (Hua X, 82). Durch die Querintentionalität der Retention vollzieht sich die Dauer des Tones auf die Weise des Implizierens, d. h., dass der retinierte Zeitinhalt des Tones schon in sich den vorgängigen Zeitinhalt des Tones impliziert. Andererseits entsteht die Längsintentionalität: »Stelle ich mich auf die ›Längsintentionalität‹ ein und auf das in ihr sich Konstituierende, so werfe ich den reflektierenden Blick vom Ton (der so und so lange gedauert hat) auf das im Vor-Zugleich nach einem Punkt Neue

5

Vgl. Hua X, 80.

50 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

der Urempfindung und das nach einer stetigen Reihe ›zugleich‹ damit Retinierte« (ebd.). Der retentional reflektierende Blick der Längsintentionalität der Retention wird immer auf das Neue der Urempfindung und das damit »zugleich« Retinierte geworfen. Somit wird »die retinierte Reihe des abgelaufenen Bewußtseins mit dem Grenzpunkt der aktuellen Urempfindung und der stetigen Zurückschiebung dieser Reihe mit der Neuansetzung von Retentionen und von Urempfindungen« (ebd.) erfasst. 2)

Die momentane Phase des Bewußtseinsflusses

Auf Seite 81 befindet sich die sehr interessante Beschreibung, in der einmal das Fließen des Stromes in einem Gedankenexperiment angehalten und die momentane Phase auf der Ordinate analysiert wird, bevor er weiterfließt: »Fassen wir irgendeine Phase des Bewußtseinsflusses ins Auge (in der Phase erscheint ein Ton-Jetzt und eine Strecke der Ton-Dauer in dem Modus der Soeben-Abgeflossenheit), so befaßt sie eine im Vor-Zugleich einheitliche Kontinuität von Retentionen: diese ist Retention von der gesamten Momentankontinuität der kontinuierlich vorangegangenen Phasen des Flusses (im Einsatzglied ist sie neue Urempfindung, im stetig ersten Glied, das nun folgt, in der ersten Abschattungsphase, unmittelbare Retention der vorangegangenen Urempfindung, in der nächsten Momentanphase Retention der Retention der vorangegangenen Urempfindung usw.)« (Hua X, 81). Wenn Husserl hier von der »Phase«, insofern in ihr ein TonJetzt und eine Strecke der Ton-Dauer erscheint, spricht, ist klar, dass sie auf der Ordinate erscheint, weil es unmöglich ist, dass unter der Voraussetzung des Stoppens des Stroms eine Strecke der Ton-Dauer auf der Abszissenachse, die die Dauer in der horizontalen Richtung voraussetzt, zustande kommen kann. Auf der Ordinate erscheint eben »die Kontinuität von Retentionen«, die in sich »die gesamte Momentankontinuität der kontinuierlich vorangegangenen Phasen des Flusses« einschließt. Husserl lässt anschließend den Bewusstseinsstrom wieder weiterfließen: »[S]o haben wir das Flußkontinuum im Ablauf, das die eben beschriebene Kontinuität sich retentional abwandeln läßt, und dabei ist jede neue Kontinuität von momentan-zugleich seienden Phasen Retention in Beziehung auf die Gesamtkontinuität des Zu51 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

gleich in der vorangegangenen Phase. So geht also durch den Fluß eine Längsintentionalität, die im Lauf des Flusses in stetiger Deckungseinheit mit sich selbst ist« (ebd.). Wenn wir das Flusskontinuum haben, entsteht durch das Fließen des Stroms die Längsintentionalität, die in der stetigen Deckungseinheit mit sich selbst besteht. Dabei ist es nicht schwer, die Richtung des Fließens des Flusses zu bestimmen. Das Fließen ist nur in der Richtung der Abszissenachse möglich, weil die einzelnen Phasen des Jetztpunktes, die das Kontinuum des Flusses bilden, auf der Abszissenachse und die Kontinuität der Retentionen auf der Ordinate dargestellt werden. 3)

Die Gegenüberstellung der Querintentionalität und der Längsintentionalität

Der Schluss dieses Paragraphen enthält die folgende sehr klar dargestellte Gegenüberstellung der Querintentionalität und der Längsintentionalität: »Vermöge der einen [der Querintentionalität] konstituiert sich die immanente Zeit, eine objektive Zeit, eine echte, in der es Dauer und Veränderung von Dauerndem gibt; in der anderen [der Längsintentionalität] die quasi-zeitliche Einordnung der Phasen des Flusses, der immer und notwendig den fließenden ›Jetzt‹-Punkt, die Phase der Aktualität hat und die Serien der voraktuellen und nachaktuellen (der noch nicht aktuellen) Phasen« (Hua X, 83). In dieser Gegenüberstellung wird klar, dass die quasi-zeitliche Einordnung der Phasen des Flusses eindeutig der Längsintentionalität zugehören, da sich der fließende Jetzt-Punkt, die Phase der Aktualität, auf der Abszissenachse befindet – wie die »Reihe der Jetztpunkte« auf der Abszissenachse (AE) in dem Zeitdiagramm in Hua X, S. 28 deutlich zeigt. Ebenso ist klar, dass durch Querintentionalität auf der Ordinatenachse die immanente Zeit (natürlich mit dem Zeitinhalt von Dauerndem) konstituiert wird.

§ 3. Die doppelte Intentionalität der Retention und die Lösung des Problems des unendlichen Regresses Aus der obigen zusammenfassenden Darstellung der doppelten Intentionalität der Retention lassen sich die folgende Konsequenzen ziehen: 52 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

1)

Der urbewusste Zeitinhalt in der Querintentionalität

Durch die Querintentionalität der Retention auf der Ordinatenachse konstituiert sich der immanente Zeitinhalt. Dabei ist entscheidend, dass der immanente Zeitinhalt nicht durch einen Bewusstseinsakt, im Sinne des Schemas Auffassungsakt – Auffassungsinhalt, konstituiert wird. Vielmehr wird er durch die kontinuierlichen Modifikationen der Retention, die vorgängigen Retentionen als das Erbe der Vergangenheit implizierend, auf der Ordinatenachse der Querintentionalität selbst konstituiert. Anders gesagt sind die immanenten Zeitinhalte »Bewußtseinsinhalte, Inhalte des Zeitgegenstände konstituierenden Urbewußtseins, das nicht selbst wieder in diesem Sinne Inhalt, Gegenstand in der phänomenologischen Zeit ist« (Hua X, 84). Das heißt, dass die Frage nach dem unendlichen Regress durch die Entdeckung der Querintentionalität der Retention auf der Ordinatenachse gelöst wird, indem das Urbewusstsein des Zeitinhalts nichts anderes als der in der Querintentionalität der Retention konstituierte immanente Zeitinhalt ist. Dazu bemerkt Husserl: »Sagt man: jeder Inhalt kommt nur zum Bewußtsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewußtsein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewußt wird, und der unendliche Regreß ist unvermeidlich. Ist aber jeder ›Inhalt‹ in sich selbst und notwendig ›urbewußt‹, so wird die Frage nach einem weiteren gebenden Bewußtsein sinnlos« (Hua X, 119). 2)

Die Phase der Aktualität in der Längsintentionalität

Wie oben in den Darstellungen gezeigt, ist die Längsintentionalität immer auf das »Neue der Urempfindung« gerichtet und wird dadurch »die retinierte Reihe des abgelaufenen Bewußtseins mit dem Grenzpunkt der aktuellen Urempfindung« konstituiert. Das Neue der Urempfindung ist nichts anderes als der »›Jetzt‹-Punkt, die Phase der Aktualität«. Also ist klar, dass die Längsintentionalität in der »Reihe der Jetztpunkte« auf der Abszissenachse 6 zu verorten ist. Die Einheit des Bewusstseinsflusses selbst konstituiert sich durch die »Längsintentionalität, die im Lauf des Flusses in stetiger Deckungseinheit mit sich selbst ist« (Hua X, 81). Diese Selbstdeckung des Flusses ist natürlich verschieden von der »vertikale[n] Deckung« (Hua X, 93), 6

Vgl. Hua X, 28.

53 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

die als die Selbstdeckung der immanenten Zeitinhalte auf der vertikalen Ordinatenachse ausgedrückt wird. 7 Die Längsintentionalität läuft in der »Längsrichtung des Flusses« (Hua X, 327), dem »Fluß entlang oder mit ihm gehend«, und so »haben wir eine stetige zum Einsatzpunkt gehörige Reihe von Retentionen« (Hua X, 29), nämlich die Retentionen der Längsintentionalität auf der Abszissenachse.

§ 4. Die weitere Entwicklung der Analyse des retentionalen Prozesses Das hier thematisierte Paradox der Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses beinhaltet die Einheit bildende doppelte Intentionalität der Retention selbst. Die oben aufgezeigte Grundorientierung der Problemlösung wird mittels einer Analyse der Selbstdeckung des immanenten Zeitinhaltes auf der Zeitachse der Querintentionalität der Retention vertieft untersucht. 1)

Die doppelte Deckung der Wesensgleichheit und der Dingauffassung

Husserl sagt, in den Vertikalreihen des Zeitdiagramms (Diagramm 3, E2–E'1–O') gebe es zwei verschiedene Deckungen: »Dabei haben wir in den Vertikalreihen des Diagramms nicht nur die durchgehende vertikale Deckung, die zur phänomenologischen Zeitkonstitution gehört (wonach in einem Moment das Urdatum E2 und die retentionale Modifikation O' und E'1 vereint sind), sondern auch die zu jeder Vertikalreihe gehörigen retentionalen Abschattungen der Dingauffassungen als Dingauffassungen stehen in durchgehender Deckung« (Hua X, 93). In den Vertikalreihen, nämlich den Vertikalreihen der Querintentionalität – keinesfalls der Längsintentionalität – der Retention, entsteht einerseits die Vereinheitlichung von E2–E'1–O' und andererseits die einheitliche Dingauffassung dieser Empfindungseinheiten. Erstere wird als »Deckung der verbindenden Wesensgleichheit« (ebd.) bezeichnet. Das hier genannte Wesen beinhaltet nämlich das Zur entscheidenden Bedeutung der »Deckungssynthesen« in der vertikalen Richtung für Husserls Konzeption der Zeitkonstitution vgl. D. Lohmar: Analysen der Protention im Anschluss an Husserls Bernauer Manuskripte, S. 114 f.

7

54 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

0

E1

E2

E'1

0' Diagramm 3 (Hua X, 93)

Wesen der Empfindung, z. B. »die zu einem unveränderten Rot gehörigen Momentandaten von völlig gleichem Wesen« (Hua X, 94). Also wird das Wesen der Empfindungseinheiten des Rots durch die Deckung der verbindenden Wesensgleichheit konstituiert. Andererseits wird die letztere genannte Deckung als »eine Deckung der Identität« gefasst, »weil in der kontinuierlichen Identifizierung der Folge dauerndes Identisches bewusst ist« (Hua X, 93 f.). Die Identität beinhaltet nämlich die Identität der Dingauffassung, die eindeutig zur Ebene der gegenständlichen Dingwahrnehmung gehört. Also bezieht sich eine Deckung der Gleichheit zum einen auf die Einheit des Zeitinhalts hinsichtlich der Sinnesempfindungen (der sogenannten fünf Sinne) durch die später sogenannte passive Synthesis und zum anderen eine Deckung der Identität auf die Einheit des Zeitinhalts hinsichtlich eines Wahrnehmungsgegenstandes, also einer Dingwahrnehmung, die durch die höhere Intentionalität der aktiven Synthesis konstituiert wird. Dabei ist es sehr interessant, dass die zwei Deckungen, nämlich die Deckung der Wesensgleichheit der Empfindung und die Deckung der gegenständlichen Dingwahrnehmung, auf der gleichen vertikalen Reihe der Querintentionalität eingetragen sind. Weiter zu untersuchen bleibt, in welchem Verhältnis diese doppelten Deckungen zueinander stehen. In den 20er-Jahren wird dieses Verhältnis als das Verhältnis zwischen der passiven und der aktiven Intentionalität dahingehend analysiert, dass die Deckung der Empfindungseinheiten die Deckung der Abschattung der Dingwahrnehmung fundiert und dass jene immer dieser vorangeht.

55 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

2)

Die innere und äußere Wahrnehmung

Diese zwei Deckungen werden im § 44 in der »Zeitvorlesungen« unter dem Aspekt der inneren und äußeren Wahrnehmung betrachtet. Der inneren Wahrnehmung, so könnte man sagen, entspricht die erste Deckung der Empfindungseinheiten und der äußeren Wahrnehmung die zweite Deckung der Dingauffassung. Was Husserls Darstellung der inneren Wahrnehmung angeht, ist es sehr interessant, dass in ihr das Wahrnehmen und das Wahrgenommene nicht unterschieden werden können sowie dass es das innere Bewusstsein ohne Zuwendung in der immanenten Wahrnehmung gibt. Husserl bemerkt zum ersten Punkt, nämlich zur Nicht-Unterschiedenheit zwischen dem Wahrnehmen und dem Wahrgenommenen, Folgendes: Während Wahrnehmung und Wahrgenommenes bei der äußeren Wahrnehmung ein Verschiedenes sind, »kann, wenn wir von innerer Wahrnehmung sprechen und dabei auch Wahrnehmung und Wahrgenommenes verschieden bleiben soll, unter Wahrnehmung nicht das Immanente, d. i. eben das Objekt selbst, verstanden werden« (Hua X, 95). Zum zweiten Punkt, nämlich zur immanenten Wahrnehmung ohne Zuwendung, sagt er: »Sprechen wir von innerer Wahrnehmung, so kann darunter nur verstanden werden: entweder 1. das innere Bewußtsein des einheitlichen immanenten Objekts, das auch ohne Zuwendung vorhanden ist, nämlich als das Zeitliche konstituierendes; oder 2. das innere Bewußtsein mit der Zuwendung« (ebd.). Der erste Hinweis auf die »Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem« (Hua X, 111) im inneren Bewusstsein der immanenten Wahrnehmung entspricht genau dem Ausgangspunkt der immanenten Wahrnehmung in den »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI). Dort wird die assoziative passive Synthesis durch die »Wesensgleichheit« der Empfindungsfelder, die Weckung im retentionalen Prozess in der lebendigen Gegenwart analysiert und erörtert. Der zweite Hinweis betrifft genau den Fall des unbewusst retinierten Zeitinhalts, der ohne Zuwendung des Ichs durch die passiv weckende Synthesis assoziativ und affektiv konstituiert wird. 8 Hier sieht man eindeutig, dass die deckende Vereinheitlichung der immanenten Zeitinhalte durch die Querintentionalität der Retention mit-

8

Vgl. dazu Hua XI, 155.

56 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

tels der Analyse der passiven assoziativ-affektiven Synthesis evident gezeigt wird.

§ 5. Verschiedene Missverständnisse hinsichtlich der doppelten Intentionalität der Retention Wenn man den engen Zusammenhang der doppelten Intentionalität der Retention mit dem Problem des unendlichen Regresses und der »Intentionalität eigener Art« (Hua X, 118) der Retention aus den Augen verliert, gerät man in weitreichende Missverständnisse des Zeitbewusstseins und schließlich des für die Phänomenologie entscheidenden Begriffs der Intentionalität selbst. 1)

Levinas’ Missverständnis der Retention

Auf der Ordinatenachse der Querintentionalität der Retention konstituiert sich der Zeitinhalt durch die Deckung des Urdatums der Urimpression mit der retentionalen Modifikation. Diese Deckung ist aber kein Bedecken, als ob der Inhalt der Urimpression den retentional modifizierten Inhalt überdeckte. Vielmehr, wie später in der Analyse der passiven Synthesis gezeigt wird, bedeutet dies eine wechselseitige Weckung des wesensgleichen Inhalts zwischen der Urimpression und der Retention. Wenn E. Levinas die Urimpression als »Urzeugung«, die für ihn allein die Quelle der »Neuheit von Inhalten« ist, von der modifizierenden Intentionalität der Retention als des »Wesen[s] allen Denkens« 9 scharf abgetrennt betrachtet, unterliegt er zwei Missverständnissen. Zum einen, indem er die wechselseitige Weckung, die nicht nur die Weckung vonseiten der Urimpression, sondern auch – in Gegenrichtung – die Weckung durch die retentional modifizierte, ganz ferne, verborgene, dennoch stetig affizierende Vergangenheit umfasst, übersieht. Zum anderen, indem er die besondere Eigenheit der Intentionalität der Retention, die schließlich als passive Intentionalität ohne Beteiligung der Ich-Aktivität bestimmt wird, übersieht.

9

E. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 173.

57 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

2)

Die abstrakte Trennung zwischen der Urimpression unde der Retention bei Levinas

Das erste und das zweite Missverständnis hängen sehr eng zusammen. Die abstrakte Trennung zwischen der Urimpression und der Retention ist bei Levinas’ Identifizierung des von ihm missverstandenen »inneren Bewusstseins« mit der Urimpression deutlich zu sehen: »Bleibt die Urimpression; sie heißt selbst ›inneres Bewußtsein‹, und man kann sie im weiteren Sinne Wahrnehmung nennen. Hier sind Wahrgenommenes und Wahrnehmen gleichzeitig. Die Beilage XII stellt die Urimpression dar als die Ununterschiedenheit des Gegenstandes und der Wahrnehmung – und sie wird in einer Weise beschrieben, die sie von der Seinsweise der Intention deutlich abhebt.« 10 Eigentlich ist mit dem inneren Bewusstsein folgender Tatbestand gekennzeichnet: dass jedes Erlebnis »empfunden«, »immanent ›wahrgenommen‹ (inneres Bewußtsein), wenn auch natürlich nicht gesetzt« (Hua X, 126) ist. Daher ist das »innere Bewusstsein« niemals punktuell wie die Urimpression gegeben, sondern »Wahrnehmen«: »[D]as [innere Bewusstsein] ist hier nichts anderes als das zeitkonstituierende Bewußtsein mit seinen Phasen der fließenden Retentionen und Protentionen« (Hua X, 127). Ohne Dauer des fließenden Zeitstroms mit den Phasen der Retention und Protention ist natürlich keine Empfindung etwa des Rots, die mit dem »empfundenen Rot« identisch ist, möglich. In dem Sinne ist es unmöglich, die Urimpression von der Retention und Protention im »inneren Bewusstsein« zu trennen. Levinas missversteht die eigene Art der Intentionalität der Retention, indem er die Retention als aktive, meinende Intentionalität des »Denkens« im weitesten Sinne deutet. Nach der Identifizierung der Urimpression mit dem inneren Bewusstsein schreibt Levinas: »›Inneres Bewußtsein‹, wird sie [d. i. die Urimpression] Bewußtsein durch die zeitliche Modifikation der Retention und bezeichnet vielleicht das Wesen allen Denkens. […] Das Geheimnis der Intentionalität liegt in dem Abstand von … oder in der Modifikation des zeitlichen Stroms. Das Bewußtsein ist Altern und Suche nach einer verlorenen Zeit.« 11

10 11

A. a. O., S. 172. A. a. O., S. 173.

58 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Das Selbstkonstituieren des Zeitflusses

Die falsche Unterscheidung zwischen dem inneren Bewusstsein und dem Bewusstsein, die der Unterscheidung zwischen der Urimpression und der Retention entspricht, ist hier von großer Bedeutung. Sie führt dazu, dass Levinas die Intentionalität der Retention, also die oben thematisierte doppelte Intentionalität der Retention, als »aktive« Intentionalität ansieht; des Weiteren, dass er die – weiter unten zu begründende – wechselseitige Weckung zwischen der Urimpression und dem Retentionalen im Vergangenheitshorizont durch die passive Synthesis in seine Phänomenologie nicht integrieren kann. 3)

Die Retention als die passive Intentionalität

Ohne die Einsicht in die Intentionalität – genauer die Querintentionalität der Retention als der »passiven« Intentionalität – kann das Problem des unendlichen Regresses und schließlich das Paradox der »fließenden und stehenden« lebendigen Gegenwart nicht gelöst werden. Die Lösung dieser Probleme wird in der Untersuchung der Selbstkonstitution bzw. -deckung der Zeitinhalte in der Querintentionalität der Retention gesucht. Wenn diese Charakterisierung der Retention als passive Intentionalität nicht gesehen wird, bleibt stets die große Gefahr, aufgrund der Charakterisierung des Zeitstroms als ein aktiv Intentionales (d. i. mit der Beteiligung der Ich-Aktivität) erneut in einen unendlichen Regress zu geraten sowie das Paradox der lebendigen Gegenwart unter dem Aspekt der Egologie, nämlich des »phänomenologisierenden Ichs«, 12 metaphysisch zu interpretieren. Diese egologische Tendenz entsteht, wenn man – aufgrund der Trennung zwischen der Urimpression und der Retention – die gleichursprüngliche Rolle der Urimpression und der Retention für die Selbstkonstitution des Zeitinhalts völlig übersieht. Wie oben gezeigt wurde, ist die Selbstkonstitution des Bewusstseinsflusses für Husserl ohne Mitwirkung der Retention unmöglich.

Zum Versuch Husserls, mit dem Begriff des »phänomenologisierenden Ichs« den lebendigen Strom der Zeitigung zu begründen, vgl. Hua XXXIV, 181.

12

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

4.

Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«

§ 1. Die Frage des unendlichen Regresses in den L-Manuskripten Die Charakterisierung der Texte Nr. 1 und Nr. 2 im Husserliana-Band XXXIII (»Bernauer Manuskripte«) ist nicht einfach. Wenn man die Entdeckung der Retention als »eine[r] Intentionalität eigener Art« (Hua X, 118) in den »Zeitvorlesungen« als ein wichtiges Kriterium für die gesamte Charakterisierung des Zeitstroms nimmt, wird der Zugang zum richtigen Verständnis der Protention, die in den »Bernauer Manuskripten« in den Vordergrund gestellt wird, verständlicher. Dadurch wird auch der Lösungsversuch zum Problem des unendlichen Regresses im Band XXXIII wesentlich einsichtiger. 1)

Die Retention als ein »vergegenwärtigender Akt«?

Dabei ist es auffällig, dass die Intentionalität der Urpräsentation in Text Nr. 1 von Anfang an als die Intentionalität des Wahrnehmens und des Antizipierens und somit als aktive Intentionalität aufgefasst wird. So etwa in folgender Passage: »Das Sich-Richten ist eine attentionale Wandlung, die etwas dem Sich-Anspinnen der Konstitution des Zeitobjekts Nachkommendes ist« (Hua XXXIII, 3). Die Attention bedeutet die Aufmerksamkeit der aktiven Intentionalität. Wenn man nach dem Ursprung dieser Aufmerksamkeit selbst nicht fragt, bleibt die aufmerkende Intentionalität als das schlicht Vorausgesetzte, das das Paradox des unendlichen Regresses nicht lösen kann. Diese Grundschwierigkeit, die durch die Charakterisierung von Retention und Protention als Akte verursacht werden kann, ist schon in folgendem Text eindeutig feststellbar: »Das Jetzt […] ist Grenzpunkt von zweierlei ›vergegenwärtigenden‹ Akten, den Retentionen und Protentionen« (Hua XXXIII, 4, Hervorhebung vom Verfasser). Weshalb findet sich hier plötzlich eine hinter Band X zurückfallende Fehlinterpretation der Retention als eines »vergegenwärtigenden Aktes«? Wenn die Intentionalität von Retention und Protention als aktive Intentionalität verstanden wird, entsteht das Problem des unendlichen Regresses notwendigerweise.

60 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«

2)

Ein hyletischer Vorgang ohne alle Ichbeteiligung

Andererseits findet man auch die oben gezeigte wichtige Einsicht der doppelten Intentionalität der Retention im Abschnitt 1. Im § 2 beschreibt Husserl den Zeitstrom auf der Ebene der hyletischen Abläufe. Husserl hebt an: »Denken wir uns, ein phänomenologischer Vorgang, und zwar ein hyletischer, läuft ab ohne alle attentionale Ichbeteiligung« (Hua XXXIII, 6). Dabei bemerkt er: »Es scheiden sich dann in der hyletischen Sphäre, die wir jetzt bevorzugen, hyletische Abläufe, die einen schon inszenierten Prozess fortsetzen, und solche, die neu einsetzen« (ebd.) Ein hyletischer Vorgang läuft »ohne alle Ichbeteiligung«, also passiv ab. Dennoch gibt es hier einen »inszenierten« Prozess, der allerdings nur durch die passive Intentionalität inszeniert werden kann. Hierbei ist der Unterschied zwischen den hyletischen Abläufen, die nur durch die passive Intentionalität der Retention »inszeniert« werden können, und dem neu einsetzenden, auch hyletischen Ablauf sehr entscheidend. a) Diese Unterscheidung wird von Husserl folgendermaßen ausgedrückt: »dass im Ablauf eines inhaltlich einigen Prozesses, eines solchen, der in sich Bedingungen der Einheit eines Ereignisses erfüllt, jeder neue Punkt des Prozesses schon protentionale Horizonte vorfindet, in die er aufgenommen wird, während das für den Einsatzpunkt eines solchen Prozesses nicht der Fall ist« (Hua XXXIII, 6 f., Hervorhebung vom Verfasser). Hierbei ist die wichtige Frage zu stellen, woher dieser protentionale Horizont überhaupt stammt. Beim hyletischen Prozess ist der retentionale Prozess in den »Zeitvorlesungen« (Hua X) sehr präzise beschrieben. Aber woher taucht der Begriff der Protention und des protentionalen Horizontes, der im hyletischen Prozess als passiv intentional aufzufassen ist, plötzlich auf? b) Husserl spricht vom Implizieren der Protention im Zusammenhang mit dem uns bekannten Implizieren der Retention auf folgende Weise: »Jede vorangehende Protention verhält sich zu jeder folgenden im protentionalen Kontinuum, wie sich jede nachfolgende Retention zur vorhergehenden derselben Reihe verhält. Die vorangehende Protention birgt alle späteren intentional in sich (impliziert sie), die nachfolgende Retention impliziert intentional alle früheren« (Hua XXXIII, 10). Das Implizieren der Retention muss als passiv aufgefasst werden. Sonst bleibt das Problem des unendlichen Regresses in der Form 61 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

des Implizierens ungelöst. In diesem Sinne ist der folgende Satz nur auf der Ebene der passiven Intentionalität der Retention und der Protention zu verstehen: »Beiderseits [d. h. bei Retention und Protention] haben wir mittelbare Intentionalität, und zu jeder mittelbaren Intentionalität gehört die doppelte ›Richtung‹ der Intentionalität, auf das primäre Objekt und das sekundäre Objekt, d. i. auf die ›Akte‹ und die primären Objekte im Wie ihrer Gegebenheitsweise. Beiderseits führt das auf keine unendlichen Regresse der Intentionalität« (ebd.). Die hier genannte »mittelbare Intentionalität« entspricht der Modifikation der Retention und der Protention, die von der »bloße [n] Intention« der Gegenwärtigung zu unterscheiden ist. Diese mittelbare Intentionalität von Retention und Protention wird eindeutig entsprechend der doppelten Intentionalität der Retention in Hua X aufgefasst. Somit kann das Problem des unendlichen Regresses bei der Protention, ebenso wie bei der Retention, als gelöst angesehen werden. Die Richtung auf das primäre Objekt entspricht dem Bewusstseinsstrom der Intentionalität selbst, der auf der Abszissenachse der Längsintentionalität als die Einheit der Intentionalität – hier unglücklicherweise als »Akte« bezeichnet – eingezeichnet ist. Die Richtung auf die sekundären Objekte bezeichnet das »Wie ihrer Gegebenheitsweise«, d. h., auf welche Weise sich Retention und Protention auf der Vertikalachse der Querintentionalität konstituieren. Also kann eindeutig festgestellt werden, dass sowohl die Retention als auch die Protention (wie in Hua X gezeigt) aufgrund ihrer doppelten Intentionalität keinen unendlichen Regress hervorrufen. 3)

Der andere, unendliche Regress aufgrund der Protention?

Trotz des oben genannten eindeutigen Lösungsversuchs behauptet Kortooms, dass dieser Versuch, die Retention und die Protention als eine Funktion des absoluten Zeitflusses anzusehen, auch seine Grenze hat, da dieser auf die Protention hin orientierte Versuch in den »Bernauer Manuskripten« einen anderen unendlichen Regress aufgrund der Betonung der Protention verursacht. Kortooms bemerkt kritisch: »Wenn die Protention selbst als die Erfüllung der vorangehenden protentionalen Offenheit auf etwas hin fungiert, gilt das Gleiche für die spätere protentionale Offenheit und so ad infinitum.« 13 Diese Behauptung hinsichtlich der Intentionalität und ihrer 13

T. Kortooms, Phenomenology of Time, S. 170.

62 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«

Erfüllung der Protention weist eindeutig auf eine Fehlinterpretation der Protention als eine aktive Intentionalität hin. Die Erfüllung der Intentionalität hat verschiedene Modi: abhängig von der Erfüllung der aktiven oder passiven Intentionalität. Die Erfüllung der passiven Intentionalität wird nicht immer in die Anschauung des Bewusstseins gebracht. Wenn diese Interpretation der Protention als aktive Intentionalität unverändert bleibt und kein genetischer Aspekt der Protention, der ihre Herkunft in der Retention als passiver Intentionalität sieht, in die Betrachtung Eingang findet, bleibt die einmal in den »Zeitvorlesungen« erblickte Richtung der Problemlösung des unendlichen Regresses in Verborgenheit.

§ 2. Die Notwendigkeit und die Evidenz der Protention In Hua X ist das Apriori der Retention durchaus streng und notwendig ausgewiesen. Aber das Apriori der Protention ist weniger überzeugend dargestellt. Andererseits wird in den »Bernauer Manuskripten« das »Ineinander der Retention und Protention« (Hua XXXIII, 11) in der Konstitution des immanenten Zeitbewusstseins darzustellen versucht. Aber ohne Begründung des Apriori der Protention selbst hat solche Beschreibung keinen evidenten Charakter. Also gilt es zunächst festzustellen, woher die Notwendigkeit der Protention für die Konstitution des inneren Zeitbewusstseins überhaupt kommt. Hierbei scheint es sehr wichtig, dass bei der Beschreibung der Protention die Erfüllung und die Nicht-Erfüllung der Protention als gleichrangig dargestellt werden. Die Erfüllung der Protention ist natürlich möglich, aber zugleich besteht auch die Möglichkeit der Nicht-Erfüllung der Protention. Der Aspekt der Nicht-Erfüllung der Retention wird bei deren Beschreibung ausgeblendet. Denn die Retention wird als das Modifizieren der Urpräsentation der Urempfindung, also als der Modifikationsprozess, durch den die volle Anschauung der Erfüllung der Intention immer mehr entleert wird, angesehen. Dieser Prozess wird z. B. auch als Sedimentierung bzw. das Implizieren der Retention gefasst. Diese der Protention spezifische Unerfülltheit wird in dem folgenden Zitat erwähnt: »Und nun ist jede Phase des Prozesses eine Strecke Retention, ein Punkt Urpräsentation als erfüllter Protention und eine Strecke unerfüllter Protention« (Hua XXXIII, 14). Was heißt hier »eine Strecke unerfüllter Protention«? Die Unterscheidung 63 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

entsteht dadurch, dass eine bestimmte Protention mit dem kommenden hyletischen Moment erfüllt wird und die anderen Protentionen damit nicht erfüllt werden. Husserl schreibt hierzu: »Dabei ist aber zu bedenken, dass in der Mitte des Prozesses jede Retention eine Retention früher erfüllter Protention und ihres Leerhorizontes sein müsste, dass in der kontinuierlichen Phasenreihe dieser Strecke jede folgende in retentionaler Modifikation Erfüllung eines Punktes der vorangehenden Protention in sich birgt, dass hinsichtlich des Unerfüllten Deckung besteht, und dass im Fortgang das Unerfüllte durchgeht, in seiner Unerfülltheit streckenweise verharrt, ähnlich wie das Erfüllte als solches durch Strecken der Retention hindurchgeht, obschon in höherer Zeitobjektivation« (ebd., Hervorhebung vom Verfasser). In diesem Abschnitt finden sich verschiedene interessante Punkte hinsichtlich der Unerfülltheit der Protention, die ausführlicher analysiert werden müssen. 1)

Die Protention in der Horizontstruktur des Leerhorizontes

Die Protention ist nicht einzeln am Werk, sondern in der – im obigen Zitat angedeuteten – Horizontstruktur des Leerhorizontes aufgefasst. Die Konzipierung des Zeitstroms vom Begriff des Horizontes her scheint sich allmählich bis zur Zeitperiode, in der die »Bernauer Manuskripte« (1917–18) geschrieben wurden, herausgebildet zu haben. In dem 1916/17 geschriebenen Text »Die phänomenologischen Ursprungsprobleme« schreibt Husserl im Rahmen der Thematik der »Analyse der intentionalen Implikation« (Hua XIII, 354) Folgendes: »Erinnerung im Erinnerungszusammenhang. Auftauchende Erinnerung und ihr Horizont, erfüllter Horizont – leerer Horizont. Zusammenhang der Zusammengehörigkeit, eines erinnert an das andere im Dasein und der Kontinuität des Daseins. Zeitliche Koexistenz, zeitliche Folge. Leerintentionen als Tendenzen, denen ich nachgeben kann, sie erfüllen sich in neu kontinuierlich ablaufenden ›Bildern‹« (Hua XIII, 355, Hervorhebung vom Verfasser). Der Begriff des Horizontes betrifft natürlich nicht nur die hier genannte Erinnerung des Vergangenen, sondern auch die Erwartung der Zukunft und die Wahrnehmung der Gegenwart. 1912 schreibt Husserl im Zusammenhang einer ausführlichen Darstellung des Themas Wahrnehmung: »Es ist nun vorauszusehen, dass zu den vollen Wesen der Erinnerungen, Erwartungen, aber auch schon hderi Wahr64 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«

nehmungen als Horizontcharakterisierungen oder durch die Horizonte bestimmte Charakterisierungen jenes Gegenwärtig, Vergangen, Künftig gehört, das sich unterscheidet von den temporalen Grundcharakteristiken, die im bloß horizontlosen Phänomen (eine Abstraktion) liegen« (Hua XXXVIII, 370). Also ist es offenkundig, dass der Zeitstrom (hinsichtlich der Horizontcharakterisierung) sowohl unter dem Aspekt der Koexistenz als auch der Sukzession gedacht werden muss. Diese Charakterisierung der Horizonthaftigkeit des Zeitstroms hat sehr wichtige Konsequenzen in Bezug auf die Interpretation des Zeitbewusstseins. 2)

Die protentionale Deckung zwischen dem unerfüllten Leeren und dem vorangegangenen Leeren

Gerade wegen der Horizontcharakterisierung des Zeitstroms ist es verständlich, dass im Leerhorizont der Protention nur ein bestimmter Teil erfüllt wird und das Übrige unerfüllt bleiben muss. Besonders interessant und wichtig ist hierbei die oben zitierte »Deckung hinsichtlich des Unerfüllten« der Protention. In Bezug auf den Begriff der Deckung wird in den »Zeitvorlesungen« (Hua X) »die vertikale Deckung« (Hua X, 93) des Zeitinhalts (in der Querintentionalität der Retention) natürlich unter dem Aspekt der Erfüllung und der Entleerung des Erfüllten dargestellt. Aber beim Leerhorizont der Protention wird sogar die Deckung »zwischen dem unerfüllten Leeren und dem vorangehenden Leeren« insofern gezeigt, als »die übrige Leere sich mit der vorangegangenen Leere deckt« (Hua XXXIII, 9). Welcher Art der Deckung zwischen dem unerfüllten Leeren und dem vorangehenden Leeren entspricht dies? Zudem ist zu beachten, »dass im Fortgang das Unerfüllte durchgeht, in seiner Unerfülltheit streckenweise verharrt« (ebd.). Die erfüllte Protention ist anschaulich gegeben. Aber die unerfüllte Protention bleibt unanschaulich. Wie ist es überhaupt möglich, dass sich die unanschauliche, unerfüllte Protention mit der vorangegangenen, leeren Protention deckt und sich dieses Unerfüllte in der Unanschaulichkeit als das Unerfüllte durchhält? Die ausreichende Begründung dieser Möglichkeit wird erst durch die Analyse der passiven Synthesis (in den 20er-Jahren) – in Zusammenhang mit der Problematik der Affektion – durchgeführt, die im nächsten Paragraphen erörtert wird. Jedenfalls wird hier gezeigt, dass sich die un-

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

erfüllte Protention mit der vorangegangenen, unerfüllten Protention deckt und wie der Fortgang solcher Deckung entsteht. Anders gesagt kann die Horizontcharakterisierung des Zeitstroms, die den erfüllten Horizont und den leeren Horizont notwendig in sich trägt, ohne die Unerfülltheit der Protention – die vom Aspekt der Retention her nicht in den Blick gebracht werden kann – nicht vollständig begründet werden. 3)

Das Ineinander von Retention und Protention

Die Notwendigkeit der Protention im Prozess der Konstitution des inneren Zeitbewusstseins ist auch in dem folgenden Abschnitt eindeutig festzustellen: »Ist die Retention überhaupt erst wirkliche Retention eines Zeitpunktgegenstandes und identischen Punktes dadurch, dass schon Protention ein Jetzt geschaffen hat und damit zugleich ein auch in verschiedenem Gegebenheitsmodus Identifizierbares?« (Hua XXXIII, 14). Obwohl dieser Satz als eine Frage formuliert ist, ist die Bejahung des Textinhalts klar: »Das Jetzt ist konstituiert durch die Form der protentionalen Erfüllung, das Vergangen durch retentionale Modifikation dieser Erfüllung« (ebd.). Ohne Protention wird das Jetzt also nicht konstituiert. Das Jetzt ohne Retention ist nichts anderes als der abstrahierte Zeitpunkt, der niemals evident gegeben ist. Das Ineinander von Retention und Protention in der Konstitution des phänomenologischen Zeitbewusstseins zeigt, dass die Urpräsentation nur durch dieses Ineinander von Retention und Protention entstehen kann. Das heißt, wenn die Urpräsentation durch den Begriff der Urimpression ausgedrückt wird, bedeutet jene nur den Grenzpunkt, durch den sich der Zeitinhalt selbst, der durch die Querintentionalität der Retention konstituiert wird, nicht konstituieren kann. Dazu sagen die Herausgeber der »Bernauer Manuskripte«, »dass die Urpräsentation nun nicht mehr als der ursprüngliche Kern des Zeitbewusstseins bezeichnet wird, sondern als ein bloßer Grenzpunkt, in dem Kontinuen der retentionalen und protentionalen Modifikationen sich überschneiden« (Hua XXXIII, XLI). In dieser Einsicht zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu der Behauptung in der Beilage I der »Zeitvorlesungen«: »Die Urimpression ist der absolute Anfang dieser Erzeugung, der Urquell, das, woraus alles andere stetig sich erzeugt« (Hua X, 100), worauf sich

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Die Analyse des Zeitbewusstseins in den »Bernauer Manuskripten«

Levinas’ Interpretation der Urimpression, die unten ausführlich kritisiert wird, einseitig stützen wird.

§ 3. Tendenz der Protention in der genetischen Analyse des Zeitbewusstseins Das Ineinander von Retention und Protention wird im Zusammenhang mit dem Zeitdiagramm in Hua XXXIII (S. 22) im Lichte des Begriffs des »Tendenzbewusstseins« der Protention auf folgende Weise beschrieben: »Wenn E1 ›herabsinkt‹, wenn das retentionale Bewusstsein davon wieder herabsinkt […], so fügt sich als Protention, als ›Tendenzbewusstsein‹, wie wir auch sagen können, das auf die künftige Kontinuität der Folge gerichtet ist, eine ähnlich gebaute, nur anders gerichtete mittelbare Intentionalität den Punkten der Retention an« (Hua XXXIII, 25). Wenn die Protention als das Tendenzbewusstsein bezeichnet wird, kann die Retention im Prozess der »Entfüllung« (Hua XXXIII, 34) als die »negative Tendenz«, »Intention von etwas weg« bzw. »Gerichtetsein-weg« (Hua XXXIII, 39) und die Protention als die »positive Tendenz«, »Intention auf etwas hin« bzw. »Gerichtetsein-auf« (ebd.) bezeichnet werden. Dabei ist es wichtig, dass die beiden Intentionalitäten in jeder Phase des Bewusstseins in eins fallen. Durch die Einführung des Begriffs des protentionalen Tendenzbewusstseins bringt die in den »Bernauer Manuskripten« angesetzte genetische Analyse die »Zeitlichkeit der ursprünglichen, ichlosen Sensualität« (Hua XXXIII, 274) in den Blick. In der ursprünglichsten Schicht befinden sich »die ›völlig ichlosen‹ sinnlichen Tendenzen: sinnliche Tendenzen der Assoziation und Reproduktion, dadurch bestimmte Horizontbildungen« (Hua XXXIII, 276). Beim ursprünglichen Zeitbewusstsein der passiven, ichlosen sinnlichen Tendenzen fungiert eine »[p]assive Intentionalität« (ebd.), weil »das Ich auch als Pol der Affektionen und Reaktionen außer Spiel gedacht« (ebd.) ist. In diesem Kontext seien mehrere wichtige Einsichten erwähnt: a) Hier wird der Begriff der »passiven Intentionalität« der passiv-assoziativen protentionalen Tendenzen eingeführt. Passiv ist diese Intentionalität deshalb, weil diese sinnlichen Tendenzen in der Horizontbildung der Protention und Retention ohne Aktivität des Ichs, also völlig ichlos, fungieren. Also bezeichnet die passive Inten-

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tionalität eine Intentionalität ohne Ich-Aktivität bzw. ichlose Intentionalität. b) Hier ist der Unterschied zwischen dem Gebiet der Affektion, die auf die Zuwendung des Ichs gerichtet ist, und dem Gebiet der ichlosen Tendenz der Assoziation der passiven Intentionalität, nämlich dem Gebiet der »Voraffektion«, sehr wichtig. Diese Unterscheidung wird in den »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI) ausführlich behandelt. c) Der hier angewendete Ansatz der genetischen Fragestellung wird schon im Abschnitt 1 deutlich dargestellt: »Wir können als Urgesetz notwendiger Genesis hier den Satz in Anspruch nehmen: Ist ein Stück Urfolge von hyletischen Daten […] abgelaufen, so muss sich ein retentionaler Zusammenhang bilden […]. Es wäre also genetisch die Aufgabe, verständlich zu machen, wie sich überhaupt vor der vollzogenen Bildung eines Prozesses […] ein konstitutiver Prozess bilden kann und bilden muss« (Hua XXXIII, 13). Die genetische Frage der Zeitkonstitution betrifft die Aufgabe, die ursprüngliche Urkonstitution der Urfolge der hyletischen Daten zu erhellen. Es geht hier um die notwendige Genesis des Nacheinanders der Konstitutionen.

5.

Endgültige Lösung: die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

Die Lösung des Problems des unendlichen Regresses mittels der Einsicht der doppelten Intentionalität der Retention in den »Zeitvorlesungen« (Hua X) wird durch die Einführung der Protention, die Charakterisierung der Horizontstruktur des Zeitflusses und die Einführung des Begriffs der passiven Intentionalität sowie durch die passive Synthesis der Assoziation und Affektion auf Basis der apodiktischen Evidenz von Retention und Protention in der genetischen Phänomenologie vollständig geleistet. Um diese vollständige Begründung mit den phänomenologischen Analysen darzustellen, ist zunächst das Verhältnis zwischen der Impression und der Retention zu klären. Dies ist deshalb notwendig, weil die Wesensgleichheit des Zeitinhalts mit der Querintentionalität der Retention nicht einfach einseitig, von der Sinnstiftung der Urimpression und deren retentionaler Modifikation her, bestimmt werden kann. Anschließend wird die Erweiterung der apodiktischen Evidenz der bewussten Retention 68 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

hin zur Evidenz der unbewussten, assoziativen Retention auf der Ebene der völlig ichlosen Voraffektion begründet.

§ 1. Die unbewusste Retention Bei der Betrachtung der Deckung des Zeitinhalts in der Querintentionalität der Retention tauchte die Frage auf, wie überhaupt die Deckung zwischen der Impression und der Retention und zwischen der Retention und der früheren Retention entsteht. Mit anderen Worten zielt diese Frage auf das Verhältnis zwischen der Urimpression und der Retention ab. Um eine gründliche Analyse dieses Problems durchzuführen und damit der Begründung der These von der unbewussten Retention bzw. vom unbewussten retentionalen Inhalt näher zu kommen, ist folgender Abschnitt aus Hua XI, »Analysen zur passiven Synthesis«, von großer Bedeutung: »Eine Melodie ertönt, ohne erhebliche affektive Kraft zu üben, oder gar, wenn das möglich sein sollte, ganz ohne affektiven Reiz auf uns. Wir sind etwa mit anderem beschäftigt, und es sei nicht so, daß uns die Melodie etwa unter dem Titel ›Störung‹ affiziert« (Hua XI, 155). Hier analysiert Husserl die Gesetzmäßigkeit der Affektion, d. h. die Frage, ob eine wirkliche Affektion mit der Zuwendung des Ichs entsteht oder der affektive Reiz auf der Ebene der Voraffektion bleibt. Natürlich sind »affektive Kraft« und »affektiver Reiz« hier nicht empirische, sondern phänomenologische Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Begriff »Motivation« verstanden und analysiert werden. Das heißt, die Charakterisierung ihrer phänomenologischen Auffassung beruht, genauso wie die des Begriffs der Assoziation, auf der »Erfahrbarkeit« der Motivation, die nicht als empirische Kausalität verstanden wird, sondern als Erfüllungsmöglichkeit und daher eine »keineswegs beliebige, sondern nach ihrem Wesenstypus vorgezeichnete, motivierte« (Hua III, 112) ist. 14 Die Affektion ist prinzipiell auf den Ich-Pol bezogen, der transzendentalphänomenologisch aufgefasst wird. Es wird analysiert, inwiefern die affektive Kraft das Interesse des Ichs – das als solches weiter unten thematisiert wird – erwecken kann. Die Gegenüberstellung von empirischer Kausalität und intentional aufgefasster Motivation in den »Ideen II« ist deutlich genug, damit Assoziation und Affektion als die Motivation durch »passive Intentionalität« aufgefasst werden können. Vgl. auch den Begriff der »assoziativen Motivation«, unten, S. 129.

14

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In dem oben erwähnten Fall beschäftigt sich jemand ganz intensiv mit einer bestimmten Angelegenheit, sei es Lesen oder Schreiben, und merkt nicht, dass eine Melodie ertönt. Gewisse affektive Kräfte dieser Melodie reizen ihn gewiss, wecken aber nicht sein Interesse, wie er auch seine Aufmerksamkeit nicht auf sie richtet. 15 In dieser Situation geschieht Folgendes: »Nun kommt ein besonders schmelzender Ton, eine die sinnliche Lust oder auch Unlust besonders erregende Wendung. Diese Einzelheit wird nicht bloß für sich lebhaft affiziert, vielmehr hebt sich nun mit einem Male die ganze Melodie, soweit sie im Gegenwartsfeld noch lebendig ist, heraus; die Affektion also strahlt ins Retentionale zurück, wirkt zunächst einheitlich hebend und zugleich in die Sonderabgehobenheiten, in die einzelnen Töne hhineini, Sonderaffektion fördernd« (Hua XI, 155). 16 Zunächst ist hier die besondere Art und Weise zu beachten, wie »das Retentionale« im Gegenwartsfeld retiniert wurde. Das Retentionale ist unmittelbar vor dem Ertönen »des besonders schmelzenden Tones« von der sich mit einer anderen Sache intensiv beschäftigenden Person unbemerkt bzw. unbewusst retiniert worden, und zwar nicht als irgendetwas Beliebiges, sondern als bestimmter Inhalt, der – von den Inhalten anderer Melodien verschieden – vorkonstituiert und nicht bewusst ist. Diese Person beschäftigte sich mit einer bestimmten Sache, einem bestimmten objektiven Jetzt. Das zu befragende Jetzt, das in den »Zeitvorlesungen« notwendigerweise zum Urbewusstsein gehören sollte, gehört eben der bestimmten Aktivität dieser Person an, nicht aber dem unbewusst retinierten Vorkonstituierten. An diesem Beispiel und bei der Darstellung Husserls finden sich

Eine fast identische Beschreibung der affektiven Situation ist schon in den »Bernauer Manuskripten« 1917/18 zu finden: »Denken wir uns, ein phänomenologischer Vorgang, und zwar ein hyletischer, läuft ab ohne die attentionale Ichbeteiligung. Nehmen wir dabei an, das Ich betätige sich gewahrend an irgendwelchen anderen Vorgängen, etwa einem objektiv zeitlichen« (Hua XXXIII, 6). 16 Dazu gibt es auch in den »Bernauer Manuskripten« eine dieser Situation genau entsprechende Darstellung: »Doch mag man auch sagen, dass das Verklingende nur dann einen Reiz auf die Aufmerksamkeit üben wird, wenn schon eine gegenständliche Apperzeption im Hintergrund eingesetzt hat, so, wenn ich nachträglich auf den Uhrschlag aufmerksam werde (meine Aufmerksamkeit war etwa durch eine intensive Vertiefung in ein Bild gefesselt, die sich inzwischen hinreichend gesättigt hat, um nicht mehr als genug starkes Hindernis zu fungieren), der als solcher im Hintergrund aufgefasst war und für mich jetzt wichtig sein mag« (Hua XXXIII, 253). 15

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Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

prinzipiell sehr wichtige Einsichten, die zunächst, ohne Ausführung der begründenden Beschreibung, aufgelistet werden: a) Apodiktische Evidenz der unbewussten bzw. vorbewussten Retention b) Apodiktische Evidenz des Vorangehens der unbewussten Retention vor der bewussten Retention c) Apodiktische Evidenz, dass die bewusste Retention die unbewusste Retention voraussetzt und jene von dieser fundiert wird

§ 2. Die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention Die oben erwähnten drei Einsichten sind hier ausführlicher zu begründen. Bei der Beschreibung dieses Beispiels ist es wichtig, dass die zeitliche Reihenfolge bzw. das Verhältnis von Vorher und Nachher, nämlich dem Vorher des unbewusst Retinierten (bzw. der Retention) und dem darauffolgenden Bewusstsein vom affizierenden Teil der Melodie, auf evidente Weise notwendig bewusst ist. Interessant ist dabei, dass das Vorher dieses Retinierten (bzw. dieser Retention) selbst noch im Moment des Geschehens nicht bewusst ist, dass aber zugleich ohne das Vorangehen dieses unbewusst Retinierten das Bewusstsein von dieser Reihenfolge selbst – nämlich der ersten unbewussten Retention und dann des zweiten Bewusstseins von dem affizierenden Teil der Melodie – nicht zustande kommen könnte. 1)

Die Evidenz der unbewussten Retention der unbewussten Bewegung

Die Evidenz des Vorangehens der unbewussten Retention wird durch das Anführen mehrerer Beispiele aus Erfahrungen unseres Alltags immer überzeugender werden. Als Erstes ist die Unterscheidung der zeitlichen Reihenfolge bei der willkürlichen, bewussten und der unwillkürlichen, unbewussten Bewegung des Körpers gegeben. Eine bereits angefangene Bewegung eines Gähnens kann man zwar unterdrücken, aber die Reihenfolge, dass das Gähnen bereits angefangen hat und dass es nachher bewusst wurde, ist deutlich und nicht nur unzweifelhaft, sondern auch nicht umkehrbar. Wenn der Anfang der Bewegung des Gähnens bewusst durchgeführt wird, ist das schon ein willkürlich und bewusst vollzogenes Gähnen, wie etwa 71 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

bei der Vorführung eines Schauspiels, und kein natürlich entstandenes Gähnen mehr. Die Reihenfolge der ersten, unbewussten Körperbewegung und der zweiten, bewussten Körperbewegung (der Bewegungsempfindung, Kinästhese) hat beim Gähnen normalerweise keine große Bedeutung für unser soziales Handeln. Aber die Unterscheidung, ob man, wie in der Einleitung dieses Buchs geschrieben, wegen des plötzlichen Bremsens eines Zugs versehentlich auf den Fuß eines Fremden getreten ist oder aus Hass absichtlich, hat soziale Konsequenzen. Die Fähigkeit, soziale Verantwortung zu übernehmen, wird dadurch überprüft, ob man die unbewusste von der bewussten Retention unterscheiden kann. Bei dieser Fähigkeit ist es besonders wichtig, den unbewussten Anfang der Bewegung des Leibkörpers überhaupt retinieren zu können. Die Reihenfolge des ersten Anfangs der unbewussten Bewegung und des danach folgenden Bewusstseins davon ist unzweifelhaft, also apodiktisch evident. Besonders interessant ist dabei, dass der Anfang der Körperbewegung selbst nicht bewusst war. 2)

Das Vorangehen der unbewussten Retention aller Sinnesempfindungen

Ein entscheidender Schritt für die Erfassung des Fundierungsverhältnisses zwischen der unbewussten und der bewussten Retention ist dadurch getan, dass gesehen wird, dass das Vorher der unbewussten Retention und das Nachher der bewussten Retention nicht nur für den Fall der unwillkürlichen Kinästhese (Bewegungsempfindung), sondern allgemein für alle Sinnesempfindungen gelten muss. Das wird durch folgendes Beispiel ersichtlich: Jemand genießt während einer Zugfahrt die schöne Aussicht. Plötzlich wird der Zug gebremst. Dabei wird die Aufmerksamkeit des Fahrgasts sowie sein Bewusstsein von der Aussicht weggerissen, und er bemerkt, dass sein Oberkörper sich zur Fahrtrichtung stark neigt und die gerade Sitzhaltung verlorengegangen ist. Außerdem hört er das knirschende Metallgeräusch der bremsenden Wagenräder; der dadurch eintretende Schrecken steht im Kontrast zum vorherigen Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit. Dabei ist zu beachten, dass beim Genießen der Aussicht das normale Wagengeräusch zwar gehört, aber nicht ins Bewusstsein selbst gebracht wurde und die Kinästhese beim geraden Sitzen zwar emp72 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

funden, aber ebenso nicht bewusst wurde und auch das Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit zwar wirklich erlebt, aber nicht besonders beachtet wurde. Auf welche Weise wird überhaupt die unterbewusste Empfindung des Geräuschs, der Kinästhese und des Gefühls eben als Geräusch, Kinästhese und Gefühl vereinheitlicht empfunden? Auf diese Frage antwortet Husserl mit den Begriffen der unterbewussten, passiven Synthesis der Assoziation und der Affektion, die hinsichtlich der Prinzipien Ähnlichkeit und Kontrast in Hua XI beschrieben werden.

§ 3. Das Verhältnis zwischen Urimpression und Retention Die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Urimpression und Retention wird im Kontext der unterbewussten bzw. unbewussten Empfindung wesentlich klarer dargestellt. Wie anhand der obigen Beispiele gezeigt wurde, können die plötzlichen Änderungen der Empfindungen allein in der Ähnlichkeit und im Kontrast zwischen dem unbewusst Retinierten und dem gerade »jetzt« bewusst Retinierten entstehen. Das Geräusch der Wagenräder wird unterbewusst »gehört« und retiniert und gleichzeitig auch unterbewusst protentional und passiv intendiert. Anschließend wird diese passive Intention durch die unterbewussten ähnlichen Urimpressionen erfüllt, retiniert und gleichzeitig protentional intendiert und so weiter bis zum Augenblick, da das Geräusch der Bremsen die Person durch den starken Kontrast zum bis dahin unterbewusst empfundenen Wagengeräusch affektiv überrascht. Die auf die Zeitinhalte direkt bezogenen Ähnlichkeiten und Kontraste sind in der passiven Synthesis zwischen den Urimpressionen und den Retentionen unbewusst bereits am Werk. 1)

Leergestalt und Leervorstellung

Hier ist es natürlich erforderlich, die assoziative, passive Synthesis der Assoziation hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Urimpression und der Retention zu erhellen. Dabei gilt es zunächst, die assoziative Ähnlichkeit zwischen der Impression und der Retention, die im Modus der Leergestalt und der Leervorstellung im Leerhorizont implizit am Werk ist, zu klären. Aber woher kommen die 73 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

Begriffe der Leergestalt 17 und der Leervorstellung, die in diesem Kontext eine entscheidende Rolle spielen? a) Bereits 1905 hat Husserl in seinen »Zeitvorlesungen« über das »Kontinuum leerer Intentionen« (das späterhin als Querintentionalität der Retention bezeichnet wird) Folgendes geschrieben: »Jedes solche Kontinuum nennen wir ein intuitives Querschnittkontinuum. An die Kontinuität der intuitiven Querschnittkontinua schließt sich ein vages Kontinuum leerer Intentionen an, bezüglich auf die nicht mehr intuitiven Teile des Zeitobjekts« (Hua X, 232 f.). Durch die Retention wird die intuitive Anschauung stufenweise leer. Auf dem Querschnitt der Querintentionalität der Retention befindet sich das an dem intuitiven Kontinuum direkt anschließende Kontinuum leerer Intentionen der Retention. Dieses Grundverhältnis zwischen der vollen Anschauung der Impression und der Entleerung der Anschauung durch die Retention wurde schon im Jahr 1905 konzipiert. b) Als Randbemerkung zum Wesen der Erinnerung im Zusammenhang mit der Wahrnehmung sagt Husserl 1909 in der Vorlesung »Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis« Folgendes: »Jede Wahrnehmung (wie jedes originär auftretende Erlebnis) lässt einen ›unbewussten‹ Niederschlag zurück als bleibende Erfahrung. Dieser wird geweckt als ›Leervorstellung‹. Diese deckt sich mit einer neuen Anschauung teils nach dem eigentlich Anschaulichen, teils nach dessen Horizonten, die nun durch die Deckung eine Einzeichnung erhalten« (HM VII, 85). Eine »bleibende Erfahrung« bedeutet den »unbewussten«, implizierten Niederschlag der jeweiligen Wahrnehmung, der als »Leervorstellung« durch die Erinnerung geweckt wird. Während des Erinnerns entsteht eine Deckung zwischen einer neuen Anschauung und der geweckten Leergestalt und Leervorstellung aus dem Leerhorizont der Vergangenheit. Sehr interessant ist hierbei der nähere Zusammenhang zwischen der Deckung und der Weckung, die später nur als die wechselseitige Weckung zwischen der Urimpression und der Leergestalt und Leervorstellung im Vergangenheitshorizont entstehen kann.

Zum Begriff der Leergestalt vgl. Hua XI, 326: »Genetisch gehen aller Art Anschauung, aller wahrnehmungsmäßigen Konstitution von Gegenständlichkeiten in allen Erscheinungsmodis Leergestalten vorher« (Hervorhebung vom Verfasser).

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Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

c) Vor Beginn der 20er-Jahre, in denen Husserl den Begriff der »passiven Intentionalität« in den »Bernauer Manuskripten« eingeführt hat, findet man seine Erwähnung des Begriffs der Leervorstellung hinsichtlich dreier Aspekte in seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1916–20): »Dann aber auch ›Leervorstellungen‹ 1) als Erlebnisse, 2) als Sinn in sich ›habend‹, implizierend, 3) als diesen Sinn in einer Erscheinungsweise in sich ›implizierend‹. Das Leere in sich beschlossen, das zur Erfülltheit zu bringen ist« (HM IX, 465). Dieser Text bezieht sich auf Husserls Bewertung der Philosophie Leibniz’. Hierbei handelt es sich um sein In-den-Blick-Nehmen der »Phänomenologie der Erfahrung und Erfahrungsgegenständlichkeit« (ebd.). Dabei werden »die sinnenanschaulichen Gegebenheiten, die das Was des Erfahrens ausmachen« (ebd.), erwähnt. In diesem Zusammenhang werden die drei verschiedenen Aspekte der Leervorstellung genannt. Die hier entscheidende Aussage über die Leervorstellung zeigt, dass jede Leervorstellung in sich ihren implizierten Sinn hat, der zur Explikation gebracht werden kann. d) Die Deckung zwischen einer neuen Anschauung und einer Leervorstellung, die in sich den impliziten Sinn trägt, wird unter dem Begriff »der passiven Deckungs-Synthesen« im Kontext der Frage nach der Wesensanschauung in »Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation« (Hua XLI) 1920/21 dargestellt. Die Beilage XX (zum Abschnitt 12: »Zur Klärung des Vorstellungsbegriffs und zur Bestimmung der in den Wesen gründenden Relationen (Humes Ideenrelation)«) trägt den vom Herausgeber gewählten Titel »Gegebenheit vom Wesen in passiven Deckungssynthesen« und beginnt folgendermaßen: »Alles Gegenstandsbewusstsein ist Deckungsbewusstsein und setzt Deckungsbewusstsein eventuell in unterer Stufe noch voraus. 1) Deckungsbewusstsein ist dabei eine Grundform passiver Bewusstseinsverbindung zu einem Bewusstsein, einer passiven Synthese, wenn man dieses Wort benützen will. Deckungsbewusstsein ist entweder kontinuierliches Deckungsbewusstsein, dann ist darin Einheit eines Gegenstandes kontinuierlich bewusst. 2) Oder es ist ein Deckungsbewusstsein, das eine Synthese herstellt zwischen diskret gesonderten Bewusstseinen, […], [die] bestimmte Einigungsformen haben, die wir die Deckungsverbindungen, denen die Deckungsrelationen entsprechen, nennen: Ähnlichkeit, Gleichheit, Ganzes-Teil« (Hua XLI, 171). Die hier eingeführte passive Synthese bedeutet »eine Grundform passiver Bewusstseinsverbindung«. Zwar wird das Deckungs75 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

bewusstsein hinsichtlich der Konstitution des Gegenstandes betrachtet, aber es ist nicht zu übersehen, dass die Voraussetzung des Deckungsbewusstseins für die Konstitution des Gegenstandes, nämlich die passiven Deckungssynthesen, festgelegt wird. e) Eine ausführliche Erörterung des Begriffs der Leervorstellung wird in den §§ 12 und 40 der »Analysen zur passiven Synthesis« und insbesondere im § 10, »Grundtypen von ›Vorstellungen‹« (Hua XI, 242–245), gegeben. Zunächst wird die Bedeutung des »Leeren« erneut auf folgende Weise dargestellt: »Das leere ist implizites, uneigentliches Vorstellen, es trägt nur implicite Sinn und Seinsmodi in sich, und in weiterer Folge all das in sich, was sich wirklich und eigentlich eben nur im expliziten Bewußtsein finden läßt« (Hua XI, 242). Der implizite Sinn wird von den Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont getragen. Diese implizite Vorstellung steht im Zusammenhang mit dem expliziten Sinn. Das Verhältnis zwischen dem impliziten und dem expliziten Sinn wird als das Verhältnis von »Leere und Fülle« verstanden. Demnach kann die Konstitution des konkreten Gegenstandes nur auf folgende Weise verstanden werden: »Ohne Mitwirkung von Leerhorizonten kann sich kein konkreter Gegenstand bewußtseinsmäßig konstituieren, es bedarf beständig des Ineinander von Fülle und Leere« (ebd.). Hier ist also ausreichend evident dargestellt, dass die Konstitution des konkreten Gegenstandes durch die Wahrnehmung in der Gegenwart ohne Mitwirkung der Leerhorizonte der Vergangenheit nicht zustande kommen kann. Anders gesagt: »Die Veranschaulichung selbst (Enthüllung), der Übergang der leeren Vorstellung in ihre entsprechende Anschauung ist die Aktualisierung der Potentialität der Konstitution, die eben als bloße Potenz in der Leervorstellung lag« (Hua XI, 244 f.). Diese notwendige und wechselseitige Deckungssynthese, die der »Deckung« des Zeitinhalts in der Querintentionalität der Retention in Hua X entspricht, wird als »Deckung der Leervorstellung und Anschauung«, nämlich als die »Übereinstimmung zwischen potentiellem und aktuellem Sinn« (Hua X, 245), bezeichnet. Dieses Grundverhältnis tritt in folgendem Zitat deutlich hervor: »Genetisch gehen aller Art Anschauung, aller wahrnehmungsmäßigen Konstitution von Gegenständlichkeiten in allen Erscheinungsmodis Leergestalten vorher. Nichts kann zur Anschauung kommen, was nicht vorher leer

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Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

vorstellig war und was in der Anschauung zur Erfüllung kommt« (Hua XI, 326, Hervorhebung vom Verfasser). f) Im Folgenden bin ich um eine Unterscheidung zwischen der gerade oben genannten Leergestalt und der Leervorstellung bemüht. Der Begriff Gestalt wurde von Husserl bereits in der »Philosophie der Arithmetik« (Hua XII) in Bezug auf den Terminus »figurales Moment« (Hua XII, 209) der Mengenanschauungen verdeutlicht. Husserl weist auf Ehrenfels’ »Über Gestaltqualitäten« hin, »in welcher die oben nur gelegentlich im Interesse der Erklärung indirekter Mengenauffassungen untersuchten figuralen Momente einer umfassenden Untersuchung unterworfen werden« (Hua XII, 210). Der Begriff Gestalt als figurales Moment wurde weiter im Zusammenhang mit dem Begriff der Verschmelzung dargestellt: »Wir können hier von einem verschiedenen Grade der Verschmelzung sprechen, welche die verschiedenen Figural-Momente eingehen« (Hua XII, 210). In der Analyse der passiv-assoziativen Synthesis spielt die inhaltliche Verschmelzung von sinnlichen Daten (visuellen Daten, Tondaten usw.) eine zentrale Rolle. Ein typisches Beispiel dafür ist die inhaltliche Kontinuität eines Geigentones: »Einheit einer kontinuierlichen Verschmelzung von Phase zu Phase« (Hua XI, 141). Diese Einheit der impressionalen Gegenwart »kann mannigfaltige sukzessive Einheiten und Mehrheiten als Einheiten der Kontinuität bieten, die in der beschriebenen Weise in der Einheit einer kontinuierlichen zeitlichen Verschmelzung unter Kontrast sich in der Passivität zu konkreten Sondereinheiten gestaltet haben« (Hua XI, 142). Also wird unter dem Begriff der Verschmelzung die Vereinheitlichung der sinnlichen Daten zur Gestalt verstanden. Die leere Form der »intentionale[n] Gestalt von Retentionen« (Hua XI, 78) wird »Leergestalt« genannt. Was der Leerhorizont aus dem vergangenen Bewusstseinsstrom in sich inhaltlich einschließt, sind alle implizierten, potenziellen Intentionalitäten aus den Leergestalten der passiven Intentionalität und den Leervorstellungen der aktiven Intentionalitäten. Wenn also etwas Ähnliches aus der Gedächtnissphäre des Vergangenheitshorizontes geweckt wird, hinterlässt das Geweckte seine assoziative Beeinflussung der gesamten Sinnhorizonte dieser Leergestalten und Leervorstellungen.

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

2)

Die wechselseitige Weckung in der lebendigen Gegenwart

Das Phänomen der Weckung schließt in sich den Werdegang vom Impliziten zum Expliziten ein, der mit dem umgekehrten Prozess vom Expliziten zum Impliziten eng zusammenhängt. Interessant ist der Wechsel der Perspektive: dass die Anschauung nicht von der Urimpression zur Retention, sondern von den genetisch vorangehenden Leergestalten her gedacht wird. Dadurch erreicht Husserl die Einsicht in die wechselseitige Weckung zwischen den unbewusst verborgenen, impliziten Leergestalten in der Vergangenheit und dem Sinngehalt der Urimpression im Jetzt: »Hier haben wir aber ein Zeitfeld, eine immer fortgehende Bildung einer im Jetzt simultanen Vergangenheit, und in diesem Felde ist nun Fernassoziation, Paarung, Konfiguration am Werke – im ›Unbewussten‹ bzw. vom ›Bewussten‹ ins Unbewusste hinein« (HM VIII, 87, Hervorhebung vom Verfasser). Oder anders gesagt: »Weckung ist möglich, weil der konstituierte Sinn im Hintergrundbewußtsein in der unlebendigen Form, die da Unbewußtsein heißt, wirklich impliziert ist« (Hua XI, 179). Hier wird also Folgendes klar: a) Die lebendige Gegenwart ist das Zeitfeld, in dem eine ständige Bildung der Vergangenheit, simultan zum Jetzt, stattfindet. Die Bildung der Vergangenheit wird durch »Fernassoziation, Paarung, Konfiguration« im Unbewussten ermöglicht. Fernassoziation, Paarung und Konfiguration als passive Synthesen fungieren eigentlich im Bereich des Unbewusstseins. In diesem Horizont der unbewussten Vergangenheit (in der leeren retentionalen Sphäre des Unbewussten) »summieren und hemmen sich die Kräfte und mit ihnen auch die Kräfte der Erwartung, blind wie jene Triebe« (Hua XI, 189), die, einander hemmend und unterdrückend, im Unbewusstsein fungieren. 18 Das unbewusste Fungieren der passiven Synthesis ist auch in folgendem Zitat deutlich dargestellt: »Zum Unbewußten gehört auch die passive Leistung der assoziativen Verschmelzung (als Intentionalität) der Bildung von Apperzeptionen usw. Schließlich weiß jedermann, daß in ihm ›unbewußt‹ mancherlei vorgeht, was sich in der Sphäre des affektiven Bewußtseins, oft in Erlebnissen der Erfahrung selbst zeigt« (Hua XXIX, 196). In Hua XI sagt Husserl: »Es können also aus dem ›Unbewußten‹ fortlaufend Affektionen da sein, aber unterdrückt. Intensive Aufmerksamkeit – Unterdrückung von Affektionen des Interesses, aber eines andern Interesses« (Hua XI, 416).

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Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

b) Die wechselseitige Weckung in der lebendigen Gegenwart entsteht ursprünglich im Bereich des Unbewusstseins, wo gleichzeitig mehrere leere Gestalten und Vorstellungen, den Regeln der assoziativen Verbindungen folgend, einander fördernd oder unterdrückend zur Anschauung empordringen. Also fungiert die passive Synthesis der Assoziation auf der Ebene des Unbewusstseins, und nur das bestimmte Hervorgehobene der bereits vorkonstituierten assoziativen Synthesis kommt durch die Gesetzmäßigkeit der Affektion bzw. der affektiven Kräfte zur Anschauung des Bewusstseins. 3)

Wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

Die Analyse der passiven Synthesis wurde als Verhältnis zwischen der Urimpression als der Anfangsphase der Retention und der Retention selbst in Bezug auf die Zeitinhalte der einzelnen Phasen im retentionalen Prozess der Querintentionalität der Retention erörtert. Die Quelle der Affektion sieht Husserl einerseits »in der Urimpression und ihrer eigenen größeren oder geringeren Affektivität« (Hua XI, 168) und betont die originale, affektive Kraft der Urimpression gegenüber ihrer modifizierten, retentionalen Abwandlung. Andererseits jedoch behauptet er immer nachdrücklicher, dass die Retention sich unmittelbar an die Urimpression anschließt und dass die Affektion, als Verschmelzung zwischen den beiden, durch wechselseitige Weckung erfolgt und dass somit die beiden in der Tat unteilbar sind und die Absonderung der Urimpression lediglich eine Abstraktion darstellt. Diese Untrennbarkeit der beiden ist am deutlichsten in einem CManuskript betont: »Der Übergang von Urimpression in Urimpression besagt in Wahrheit, dass die neue mit der unmittelbar retentionalen Wandlung der früheren sich simultan einigt und diese simultane Einigung nun selbst wieder sich retentional wandelt usw. Eine inhaltliche Urverschmelzung findet statt zwischen Impression und der unmittelbaren Urretention in der Simultaneität beider.« 19 Ebenso

Ms. C 3 VI, Bl. 10. Die gleiche Stelle ist in HM VIII, 82 enthalten. Diese Einsicht ist ein deutliches Kriterium für die Kritik an allen Positionen, die eine Isolation der Urimpression von der Retention behaupten. Levinas’ Charakterisierung der Urimpression als die »unvorhersehbare Neuheit von Inhalten« übersieht diese Urverschmelzung; »[d]er Abstand der Urimpression ist das an sich erste Geschehen des

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I · Die Problematik der Konstitution des Zeitflusses bei Husserl

weist folgende Stelle auf die »Urverschmelzung« hin: »Urstiftung der Verschmelzung als Einheitsbildung im stehenden Urjetzt; im Strömen entströmende retentionale Kontinuität, in eins mit der impressionalen Randphase.« 20 Dies besagt, dass der Phasengehalt des jeweiligen Zeitbewusstseinsinhalts der Urimpression der Affektion, die das Ich affizieren soll, durch die Verschmelzung mit dem Inhalt der Retention entsteht. Die Verschmelzung der Urimpression und der Retention entsteht aus der assoziativen Paarung der passiven Synthesis zwischen dem Sinngehalt der Urimpression, der Leergestalt der Empfindung und der Leervorstellung der Wahrnehmung im Vergangenheitshorizont. Diese Paarung zwischen der Urimpression und der Retention entsteht ständig als die passive Synthesis und damit völlig ichlos, ohne Beteiligung der Ich-Aktivität auf der Ebene der Voraffektion.

§ 4. Die endgültige Lösung des Problems des unendlichen Regresses Die endgültige Lösung des Problems des unendlichen Regresses auf der Ebene der passiven Synthesis kann durch die bisherigen Betrachtungen vielseitig begründet werden. a) Die Retention als Intentionalität eigener Art wird als passive Intentionalität ohne Ich-Aktivität bezeichnet. Der Bewusstseinsinhalt der Vereinheitlichung des Zeitflusses kann daher ohne unendlichen Regress – der notwendigerweise aus der Konstitution des Auffassungsinhalts durch den Auffassungsakt auf der Ebene der aktiven Intentionalität stammt – durch die doppelte Intentionalität der Retention, der passiven Intentionalität ohne Ichbeteiligung, erklärt werden. b) Die inhaltliche Deckung zwischen der Impression und der Retention auf der Achse der Querintentionalität (der Retention) ist kein bloßes Bedecken – so als würde der in der Urimpression empfangene Zeitinhalt den modifizierten Inhalt der Retention überlappen –, sondern eine wechselseitige Weckung zwischen dem hyletischen Inhalt der Impression und der Leergestalt oder Leervorstellung im Vergangenheitshorizont. Abstandes der Phasenverschiebung«. Vgl. dazu E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 169. 20 Ms. C 3 VI, Bl. 17, HM VIII, 87.

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Die assoziative wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Retention

Diese wechselseitige Weckung ist schon im Bereich der Voraffektion, also im Bereich der unbewussten Retention der passiven Intentionalität, am Werk. Daher verursacht die unbewusste, passive Intentionalität keinen unendlichen Regress, der durch die aktive Intentionalität des Bewusstseinsaktes verursacht würde. c) Das Vorangehen der unbewussten Retention vor der bewussten Retention charakterisiert die besondere Erfüllung der passiven Intentionalität der Empfindung. Das Urbewusstsein und die bewusste Retention der Empfindung gehören natürlich dem Bereich des Bewusstseins an. Aber das Urbewusstsein ist das besondere Bewusstsein, dessen Bewusstseinsinhalt nicht durch einen bestimmten Bewusstseinsakt konstituiert, sondern als die implizite Intentionalität der Retention unmittelbar durch die passive Synthesis der Assoziation gegeben wird. Das Urbewusstsein bleibt dabei selbst abstrahierter Zeitpunkt: Das Urbewusstsein ohne Kontinuität der Retention ist bloßes nachträglich hergestelltes Produkt der Abstraktion. Der unendliche Regress wird durch die doppelte Intentionalität der Retention, vor allem die Querintentionalität der Retention, mittels deren sich der Zeitinhalt durch die passive Synthesis der Assoziation, ohne Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität, konstituiert, endgültig überwunden.

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Kapitel II. Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

Die Problematik der Zeit ist das Kernproblem der ursprünglichen Konstitution des Bewusstseinslebens und der genetischen Phänomenologie Husserls. Die Urfaktizität des Ereignisses, die als transzendentale Faktizität dimensional tiefer als die überlieferte Dichotomie von Wesen und Faktum liegt, lässt sich hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Vorkonstitution und Konstitution und zwischen Voraffektion und Affektion betrachten. Andererseits ist das Ereignis als voraffektive Zeitigung in der passiven allmonadischen Urkommunikation der Boden für die Begegnung in der aktiven Intersubjektivität, die hier in diesem Kontext nicht thematisiert wird. Das Präfix »Vor« in »Voraffektion« spiegelt, mit Hilfe des Begriffs der passiven Synthesis, das Bewusstseinsleben, »das uns völlig verborgen ist, weil es unser lebendiges Leben ist«, (Hua XI, 365, Hervorhebung vom Verfasser) lebendig wider. Dieser Bereich des »Vor«, der durch die genetische Phänomenologie zum aufklärenden Verständnis geführt wurde, zeigt die Grenze der egologischen Auffassung der Zeit und weist auf die monadologische Auffassung der Zeit hin. Dies ist der Grenzpunkt, an dem Husserls egologische Interpretation der Zeitigung scheitert und sich die intermonadische Zeitigung »im Miteinander der konkreten, einander implizierenden Monaden« (Hua XXXIV, 471) ständig vollzieht. Vor dem Affizieren des Ichs, der sogenannten Selbstaffektion des Ichs, ereignet sich die voraffektive Urkommunikation »in wechselseitiger Weckung« (Hua IV, 531) zwischen dem Bewusstseinsleben und der Lebenswelt. Die intermonadische Zeitigung wird von der Triebintentionalität transzendental bedingt, weshalb sie auch in der allmonadischen Zeitigung, »in ursprünglich instinktiver Kommunikation« (Hua XV, 609), fungiert. Das voraffektive Ereignis geschieht im Bereich der Zwischenleiblichkeit Merleau-Pontys. Seine Bemühung, »die Einfühlung Wahr-

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Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung

nehmender–Wahrgenommenes« 1 als Paarung der passiven Synthesis aufzuklären, unterläuft die radikale Alterität des Anderen bei Levinas, der den Begriff der Intentionalität bloß als aktive Intentionalität auffasst. Somit wird für ihn der Spielraum der völligen Zuwendung des Kleinkindes zur Umwelt als dem eingeborenen Du im Sinne von Bubers »ohne Ich-Zentrierung« ausgeschlossen. Das Ereignis als die Begegnung der Ich-Du-Beziehung kann erst auf dem Boden der Zwischenleiblichkeit entstehen – d. h. dadurch, dass das »Fleisch« der Welt auch das des Körpers des Menschen ist, was durch »Ähnlichkeit«, »fungierende oder latente Intentionalität«, auch mittels des Begriffs des »Elements«, zu erhellen versucht wird. 2 Um diese Problemlage und meine obige Thesen vom Ereignis als der Voraffektion zu erläutern und zu begründen, bedarf es zunächst einer scharfen Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung hinsichtlich der lebendigen Gegenwart und der urtümlichen Zeitigung.

1.

Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung der Zeitigung

§ 1. Die eigentümliche Intentionalität der Retention Die Interpretation der Retention als »Akt«-Intentionalität, die oben wegen des unendlichen Regresses für ungültig erklärt wurde, wird verständlicher, wenn die genaue Bestimmung der passiven Intentionalität ohne Ich-Aktivität weiter erhellt wird. Per definitionem ist die Intentionalität »Bewusstsein von etwas«. Intentional heißt »das Gerichtetsein-auf des reinen Ich im cogito« (Hua III, 81). Die Intentionalität ist in der Korrelation zwischen dem noetischen Bewusstseinsakt und dem noematischen Bewusstseinsinhalt zu verstehen. Wenn die Dimension der passiven Intentionalität nicht entdeckt würde, bliebe die aktive Eigenschaft der Intentionalität der Retention als das Selbstverständliche verborgen. Aber die Retention als die passive Intentionalität, die in der pasM. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 313. Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183 f. Unter anderem zu »Ähnlichkeit« S. 339 f., »fungierende oder latente Intentionalität« S. 308, »Element« S. 278.

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

siven Synthesis fungiert, wurde in den »Zeitvorlesungen« als »eine Intentionalität eigener Art« (Hua X, 118) bezeichnet. Sie ist selbst »kein Akt«, denn »[j]eder Akt ist Bewusstsein von etwas« (Hua X, 126). In den »Bernauer Manuskripten« wird sie schließlich als »passiv« charakterisiert. 3 Hierbei wird die Bedeutung der Passivität als »ichlos«, »nicht aus einem Tun des Ich«, 4 geprägt. Ferner wird die Retention als die passive Intentionalität in dem folgenden Text deutlich dargestellt: Die Retention bedeutet »eine intentionale Modifikation im Rahmen der puren Passivität: […] ohne jede Beteiligung der vom Ichzentrum ausstrahlenden Aktivität« 5. Die Retention entspricht aber auch nicht der Rezeptivität, die die geringste Stufe der Aktivität ist und bereits die Ich-Aktivität voraussetzt. 6

§ 2. Der unendliche Regress aufgrund des Schemas Auffassungsakt – Auffassungsinhalt Wenn die Retention als eine aktive Intentionalität missverstanden wird, ist der oben erwähnte unendliche Regress unvermeidbar. Der Grund dafür wurde oben bereits dargestellt: Er liegt darin, dass der retinierte, als der gerade vergangene bewusste Zeitinhalt aufgrund des Grundschemas der intentionalen Konstitution (»Auffassungsakt – Auffassungsinhalt«) den ebendiesen bewussten Zeitinhalt selbst konstituierenden Bewusstseinsakt notwendig braucht. Denn »[j]eder Akt ist Bewußtsein von etwas, aber jeder Akt ist auch bewußt« (Hua X, 126). Bei dieser Formulierung ist klar, dass die Retention, wenn sie ein Bewusstseinsakt (im Sinne der Aktintentionalität) wäre, als Bewusstseinsakt bewusst wäre und den den Bewusstseinsinhalt dieses Bewusstseinsaktes konstituierenden Bewusstseinsakt erforderte. Somit entsteht auf notwendige Weise ein unendlicher Regress. Das Bewusstsein von jedem Akt ist jedoch selbst nicht wiederum ein Bewusstseinsakt, sondern wird als »inneres Bewusstsein« bzw. »Urbewusstsein« bezeichnet, der Akt ist »immanent ›wahrgenommen‹ […], wenn auch natürlich nicht gesetzt, gemeint (wahrnehmen heißt hier nicht meinend-zugewendet-sein und erfassen)« (ebd.). Das 3 4 5 6

Vgl. oben, S. 67. E. Husserl, C 17, IV, 1 f. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 122. Vgl. a. a. O., S. 300.

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Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung

Urbewusstsein und die Retention sind untrennbar eins, und man darf natürlich »dieses Urbewußtsein, diese Urauffassung, […] nicht als einen auffassenden Akt mißverstehen« (Hua X, 119). Das Problem des unendlichen Regresses wird durch die Einführung der Begriffe Urbewusstsein und Retention, wie oben ausführlich dargestellt, gelöst. Somit muss es eigentlich klar sein, dass das Urbewusstsein und die Retention keine Aktintentionalität sind und dass sie gerade deshalb nicht zu einem unendlichen Regress führen.

§ 3. Die Herkunft des Zeitinhalts in der konkreten lebendigen Gegenwart Woher kommt eigentlich der urbewusste und retinierte Zeitinhalt, der sich in der Querintentionalität der Retention konstituieren sollte? Anders als bei Kant ist die Zeit für Husserl keine reine Form der sinnlichen Anschauung. Die Zeit bloß als eine Form ist eine Abstraktion, genauso wie der Zeitpunkt. Konkrete, evidente Gegebenheit des Zeitbewusstseins zeigt sich nur in dem urbewussten und retinierten Zeitinhalt. Aber die Herkunft dieses Zeitinhalts kann bei Husserl nicht allein unter dem Aspekt der Urimpression wie bei Levinas und dem Aspekt der Grundbestimmung des Daseins wie bei Heidegger interpretiert werden. 1)

Der Zeitinhalt aus der Urimpression?

Nach der Beschreibung Husserls in den »Zeitvorlesungen« ist die Urimpression »Urquell«, »der absolute Anfang dieser Erzeugung«, »genesis spontanea«, »Urschöpfung«, »das ›Neue‹, das bewußtseinsfremd Gewordene, das Empfangene« (Hua X, 100). Der Zeitinhalt stammt aus dem »Inhalt einer neuen Urimpression«. Die Retention ist aber die intentionale Modifikation der Urimpression. Auf dieser Aussage Husserls beruht Levinas’ Interpretation des Zeitbewusstseins und seine Charakterisierung der Urimpression als »absolut, ohne Unterschied von Materie und Form«, »die unvorhersehbare Neuheit von Inhalten, Nicht-Identität in ausgezeichneter Weise« oder »ganz Passivität, Rezeptivität eines ›Anderen‹, das das ›Selbe‹ durchdringt, Leben und nicht ›Denken‹«. 7 Für Levinas gehört die Re7

E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 172 f.

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

tention aber zum Denken und zur Intentionalität des zeitlichen Stroms: »›Inneres Bewußtsein‹, wird sie [die Urimpression] Bewußtsein durch die zeitliche Modifikation der Retention und bezeichnet vielleicht das Wesen allen Denkens: nämlich das Festhalten einer Fülle, die sich entzieht. Das Geheimnis der Intentionalität liegt in dem Abstand von … oder in der Modifikation des zeitlichen Stroms.« 8 So wird z. B. die Empfindung als der Zeitinhalt vom intentionalen, d. h. aktiv intentionalen Empfinden mit dem zeitlichen Abstand konstituiert. 2)

Der Zeitinhalt aus der Simultaneität zwischen der Impression und der Retention

Wenn die Herkunft des Zeitinhalts aus der Urimpression bzw. dem Hyletischen wegen des Verdachts des Sensualismus abgelehnt wird, bleibt Held nur die »Dimensionalität der Gegenwart« der heideggerschen Daseinsanalyse, die bipolare Wandlung der Befindlichkeit »Leben und Tod« übrig. 9 Die Retention gibt aktiv intentional zu bedeuten, sie verliert ihre aktive, meinende Eigenschaft der Ich-Aktivität auch nicht durch ihre Abwandlung in der Modifikation »der Retention von der Retention«, die sich prinzipiell unendlich fortsetzen sollte, sodass das Problem des unendlichen Regresses auch in der Analyse der lebendigen Gegenwart in den 30er-Jahren prinzipiell unlösbar bleiben musste. Der Zeitinhalt konstituiert sich ursprünglich durch die »Selbsterscheinung des Flusses« (Hua X, 83), genauer auf der vertikalen Querintentionalität der Retention. »Die immanenten Einheiten […] konstituieren sich im Fluß der temporalen Abschattungs- mannigfaltigkeiten« (Hua X, 91). In den 30er-Jahren wird aber gesagt, dass der immanente Zeitinhalt durch die wechselseitige Weckung zwischen Urimpression und Urretention in der paradoxen Simultaneität vorkonstituiert wird: »Zu jeder urimpressionalen Gegenwart (als jetzt momentan, jetzt gegenwärtige) gehört ›ihre‹ MomentanvergangenA. a. O., 173. Vgl. K. Held, Phänomenologie der Zeit nach Husserl, S. 214. Für meine Kritik daran vgl. I. Yamaguchi, Die Frage nach dem Paradox der Zeit, S. 44 f. Auch in seiner neuen Veröffentlichung über das Zeitbewusstsein Husserls mit der Berücksichtigung der Protention in den »Bernauer Manuskripten« ändert Held seine Hauptansicht über das Hyletische und die Retention nicht. Vgl. K. Held, »Phänomenologie der eigentlichen Zeit bei Husserl und Heidegger«, vorgetragen in Japan 2004.

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Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung

heit, d. h. das mit ihr simultane Kontinuum des jetzt Vergangenen. Das ist für jedes hyletische Feld für sich genommen nicht nur ein Kontinuum der retentionalen Form nach, sondern konkretes inhaltliches Kontinuum. Eine Einheit der Verschmelzung verbindet in stetiger Vermittlung das momentan Urimpressionale mit den retentionalen und kontinuierlich verschiedenstufigen Abwandlungen der früheren Impressionen« (HM VIII, 82 f.). Der Zeitinhalt der jeweiligen Zeitphase stammt aus dem konkreten inhaltlichen Kontinuum, das sich in der Simultaneität zwischen der Urimpression und der unmittelbar daran anschließenden Retention konstituiert. Die Frage lautet dann, wie es sich mit dieser Simultaneität selbst verhält.

§ 4. Die Reflektierbarkeit der lebendigen Gegenwart Die Nachträglichkeit der Reflexion als der »immanenten Wahrnehmung«, die als ein Auffassungsakt charakterisiert wird, schließt die Reflektierbarkeit der lebendigen Gegenwart, die in dem Paradox des Fließens und des Stehens fungiert, prinzipiell aus. Der Grund, warum der Auffassungsakt die lebendige Gegenwart nicht in eine Reflexion bringen kann, wird von Husserl im folgenden Text deutlich dargestellt: »Ferner ist jeder Auffassungsakt selbst eine konstituierte immanente Dauereinheit. Indem er sich aufbaut, ist das, was er zum Objekt machen soll, längst vorüber und wäre – wenn wir nicht das ganze Spiel von Urbewußtsein und Retentionen schon voraussetzten – für ihn gar nicht mehr erreichbar« (Hua X, 119). Jede Reflexion ist ein Auffassungsakt, der eine immanente Dauereinheit für sein eigenes Fungieren als Die-Reflexion-Haben braucht. Diese Grundeinsicht steht gerade der Auffassung des Neukantianismus entgegen, dessen Voraussetzung eines zeitlosen Wissens von Husserl wegen des Mangels des evidenten Erlebnisses kritisiert wurde. 10 Aber die Reflektierbarkeit des Zeitflusses liegt nicht in der Reflexion als dem Auffassungsakt, sondern in dem Urbewusstsein und der Retention: »Weil aber Urbewußtsein und Retentionen vorhanden sind, besteht die Möglichkeit, in der Reflexion auf das konstituierte Erlebnis und auf die konstituierenden Phasen hinzusehen […]« (Hua X, 119 f.). 10

Vgl. dazu oben, S. 41.

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

Ferner liegt die Evidenz der Retention nicht nur in der Untrennbarkeit zwischen der Impression und der Retention; die Retention ist apodiktisch evident, d. h. nicht nur reflektierbar, sondern im absoluten Recht der letzten Begründung der Phänomenologie. Die apodiktische Evidenz der Retention spielt die zentrale Rolle für die Erhellung der apodiktischen Evidenz der transzendentalen Faktizität des Ichbin: »Ich bin apodiktisch und apodiktisch im Weltglauben« (Hua XV, 385). 11

§ 5. Egologische und monadologische Interpretation der lebendigen Gegenwart 1)

Die egologische Interpretation der lebendigen Gegenwart

In der egologischen Interpretation der lebendigen Gegenwart wird das Rätsel der fließenden und stehenden lebendigen Gegenwart von Held mittels der metaphysisch konstruierten Einsicht der Selbstspaltung und Selbstidentifizierung des fungierenden Ichs angegangen. Jedoch ist so das Rätsel, wie bei der Frage des unendlichen Regresses, nicht lösbar, weil das urpassive Fließen der lebendigen Gegenwart, das aus der Spaltung des fungierenden Ichs stammt, niemals als das Stehende, als das mit sich selbst Identische von dem sich selbst identifizierenden Ich nachträglich intentional, d. h. den durch das Fließen entstehenden Abstand überblickend, aufgefasst werden kann. 12 Das Rätsel bleibt unlösbar. Das Rätsel der Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses wird in den »Zeitvorlesungen« durch die doppelte Intentionalität der Retention gelöst. Der Blick kann sich beim Hören eines Tones in der Querintentionalität »durch die im stetigen Fortgang des Flusses sich ›deckenden‹ Phasen als Intentionalitäten vom Ton richten« (Hua X, Ferner ist dieser Zusammenhang in einem Manuskript von 1934 auf folgende Weise dargestellt: »Nach diesen Aufklärungen ist also diese Apodiktizität des ›Ich-bin‹ nichts weiter als die Apodiktizität des ego cogito in der Epoché hinsichtlich des Seins der im Bewusstseinsleben geltenden Welt. Sie ist ja eine Apodiktizität, die auf dem Boden der Weltgeltung ihren Sinn hat, eine Apodiktizität, die hineingehört in das Ganze der Ontologie der Welt« (Hua XXXIV, 469). 12 Vgl. K. Held, Lebendige Gegenwart, besonders Kap. 4. Die Garantie für die Identifizierbarkeit des fungierenden Ichs wird ohne ausreichenden Grund behauptet. Vgl. dazu I. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, S. 24 f. 11

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Die Gegenüberstellung der egologischen und der monadologischen Auffassung

80). Die sich deckenden Phasengehalte in der Querintentionalität werden durch die Längsintentionalität der Retention als Reihe von Jetzt-Punkten verobjektiviert. 2)

Die Triebintentionalität in der Monadologie Husserls

In den »Bernauer Manuskripten« werden zwei Richtungen für die Lösung dieses Problems eingeschlagen. Die erste führt in den unbewussten, ichlosen »Urprozess« des Zeitflusses: »[V]or dem Walten jedes aufmerkenden Erfassens ist ein bloßer Prozess des Urentstehens und Abklingens ohne jede Auffassung bzw. Repräsentation, so wenn Empfindungsdaten unbemerkt auftreten und ablaufen« (Hua XXXIII, 245). Die zweite ist die gleiche Richtung wie jene der doppelten Intentionalität der Retention in den »Zeitvorlesungen«, nämlich »in passiver Identifikation oder Deckung im Fluß stetiger Urpräsentation und nach Seiten der Retention in beständiger Deckung der Retentionen, in die die jeweilige Urpräsentation versinkt« (Hua XXXIII, 389). Aber dieser Versuch scheitert immer wieder, wenn die hier genannte Intentionalität der Retention nicht als passiv intentional verstanden wird. Die Tendenz geht sogar noch in den 30er-Jahren dahin, dass die Deckung der Retention als aktive Intentionalität immer wieder in den unendlichen Regress geraten muss. Diese beiden Richtungen treffen sich in der Analyse der lebendigen Gegenwart im Bereich der passiven Synthesis. Die in den »Bernauer Manuskripten« thematisierten »›völlig ichlosen‹ sinnlichen Tendenzen der Assoziation und Reproduktion« werden in den »Analysen zur passiven Synthesis«, in denen die mit dem Zeitinhalt untrennbar konkretisierte lebendige Gegenwart analysiert wird, als transzendentale Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion dargestellt. Somit wird das Rätsel schließlich durch die das Stehen des Flusses bestimmende »universale Triebintentionalität« erhellt, »die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu Gegenwart forttreibt derart, dass aller Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist und vor dem Ziel intendiert ist« (Hua XV, 595). 13 Die hier genannte Triebintentionalität gehört zu der passiven Intentionalität, die ohne Beteiligung der IchZur Begründung der Triebintentionalität als assoziative Synthesis der Uraffektion, die den Zeitfluss transzendental bedingt, vgl. I. Yamaguchi, Triebintentionalität als uraffektive passive Synthesis in der genetischen Phänomenologie, S. 233 ff.

13

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

Aktivität, also nicht mehr im Rahmen der Egologie, sondern im Bereich der Monadologie thematisiert und analysiert werden kann.

2.

Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls

Die Unterscheidung von Husserls egologischer und monadologischer Auffassung der Zeitigung hängt mit der Entwicklung der genetischen Phänomenologie eng zusammen. Die eben erwähnte Gegenüberstellung zwischen der Egologie und der Monadologie wird vor dem Hintergrund der Entwicklung der genetischen Phänomenologie insgesamt sehr deutlich. Die Untersuchung der genetischen Phänomenologie ist gegenüber der »›statische[n]‹ Analyse der festen Apperzeptionen« die der »Notwendigkeit des Werdens« durch die Rückführung dieser statischen Elementaranalyse »auf Zeitbewusstsein, auf Assoziation, Weckung von Reproduktionen, auf Urstiftung etc.« (Hua XXXV, 410). Also ist die Aufgabe der genetischen Phänomenologie, die Gesetzmäßigkeit des Werdens durch die Rückführung auf Zeit, Assoziation und Urstiftung zu erhellen. Hierbei ist der Zusammenhang zwischen der Zeit und der Assoziation in dem Sinne klar, dass die Zeit in der ursprünglichsten Schicht als die lebendige »Präsenzsphäre von Urassoziationen« (Hua XI, 158) aufgefasst werden muss. In der Analyse der passiven Synthesis werden die Gesetzmäßigkeiten der Assoziation und Affektion durch die Analyse der retentionalen Abwandlung hinsichtlich der auf den Zeitinhalt bezogenen konkreten lebendigen Gegenwart ausreichend dargestellt. Interessant ist der Zusammenhang zwischen der Zeit und der Urstiftung. Die Urstiftung ist im »Krisis-Buch«, besonders in Beilage III, »Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem«, als »das Problem der idealisierenden Urstiftung der Sinnbildung ›Geometrie‹« (Hua VI, 386), also als die kreative, idealisierende Aktivität thematisiert. Aber die der aktiven Urstiftung vorangehende »passive Urstiftung« ist in dem folgenden Text über die Urstiftung des zeitlichen Daseins deutlich herauszuheben: »Die Stiftungspunktmitte der Urgegenwart kann nichts stiften, wenn nicht die stiftende Urimpression in das Kontinuum der Retention übergeht und andererseits nicht die Urstiftung, mit dem immer neuen Jetzt, sich anschließend fortsetzt« (Hua XXXV, 121). 90 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls

Dieser Text ist aus der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1922/23), in der die apodiktische Evidenz in Bezug auf Zeit und Intersubjektivität selbstkritisch thematisiert wird. Man sieht hier deutlich, dass der Begriff der Stiftung im Kontext der genetischen Phänomenologie in die Ebene der ursprünglichen, ichlosen Passivität vertieft wird. Aber eigentlich ist in der Thematik der Lebenswelt des »Krisis«-Buchs, aus der Perspektive der genetischen Phänomenologie gesehen, die Urstiftung auf der Ebene des anonymen, vorsprachlichen und »vor-logischen Apriori« (Hua VI, 144) wichtiger und zentraler als die Urstiftung auf der Ebene der Aktivität der Idealisierung. Es müssen zumindest zwei Aspekte der genetischen Phänomenologie, nämlich die Unterscheidung zwischen der »passiven Genesis und der aktiven Genesis« 14, beachtet werden, ferner muss die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden thematisiert werden. Die Entwicklung von der Egologie zur Monadologie ist also von den Grundbegriffen der genetischen Phänomenologie, Zeit, Assoziation und Urstiftung, her zu betrachten.

§ 1. Die apodiktische Evidenz der Retention in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1922/23) Zunächst zeigt sich die Wendung von der Egologie zur Monadologie in Husserls Selbstkritik an der »Naivität der transzendentalen Reduktion« in seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie«, Winter 1922/23 (Hua XXXV) klar. Er sieht einen Mangel in der erkenntniskritischen Überprüfung der transzendentalen Reduktion, vor allem in Bezug auf die Zeit und den Anderen. Er fordert für die letzte Begründung der Phänomenologie als strenger Wissenschaft im allgemeinen Rahmen der Einführung in die Philosophie und gegen alle Arten des Skeptizismus und Solipsismus die apodiktische Evidenz der Zeit und des Anderen durch die apodiktische Reduktion. Die apodiktische Evidenz des augenblicklichen, momentanen Cogito im Cartesianismus wird durch die apodiktische Evidenz des Kontinuums der Retention überwunden und zur konkreten lebendigen Gegenwart erweitert. Die Untrennbarkeit der Impression und der Retention in der konkreten lebendigen Gegenwart ist mit dem Begriff der den Zeitinhalt bildenden Urstiftung in dieser Vorlesung deutlich 14

Vgl. Hua I, § 38.

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

dargestellt. Die Urstiftung entsteht durch die Übergangssynthese der passiv-assoziativen Synthesis, in der sich die konkrete, d. h. nicht bloß als Form der Sinnlichkeit fungierende (wie bei Kant), sondern vom Zeitinhalt her gebildete, lebendige Gegenwart durch die passive Intentionalität ohne Beteiligung der Ich-Aktivität konstituiert. »Die Retention ist eine undurchstreichbare Gewissheit vom soeben Vergangenen, aber das erfassende Ich, das sich ihres Gegenstandes zu bemächtigen, in ihn, wie er selbst ist, erkennend einzudringen sucht, greift ins Leere. Die auf ihn gerichtete Intention hat ihre Erfüllungsgestalt in der Wiedererinnerung« (Hua XXXV, 132 f.). Immer wieder ist zu betonen, dass Retention und Wiedererinnerung streng unterschieden werden müssen und dass die Erfüllung der Retention auf der Ebene der passiven, ichlosen Intentionalität und die der Wiedererinnerung auf der Ebene der aktiven Intentionalität mit Ich-Aktivität anzusiedeln ist. Die konkrete, lebendige Gegenwart ist in der passiven Synthesis, also nicht egologisch, ohne Beteiligung der Ich-Aktivität dargestellt. Aber dann wird die folgende Frage immer dringender: Warum vertritt Husserl die egologische Auffassung der »wirklichen Zeitigung«, »die Zeitigung des phänomenologisierenden Ich«, erst in den 30er-Jahren, nach der Analyse der passiven Synthesis?

§ 2. Husserls Rückblick auf die Entwicklung seiner Zeitlehre Dazu ist Husserls Rückblick auf die Entwicklung seiner Zeitlehre interessant. Unmittelbar bevor er sich über die Grundeinsicht der universalen Triebintentionalität äußert, von der die lebendige Gegenwart transzendental bestimmt wird, sagt er: »In meiner alten Lehre vom inneren Zeitbewusstsein habe ich die hierbei aufgewiesene Intentionalität [d. h. die Triebintentionalität] eben als Intentionalität, als Protention vorgerichtet und als Retention sich modifizierend, aber Einheit bewahrend, behandelt, aber nicht vom Ich gesprochen, nicht sie als ichliche (im weitesten Sinn Willensintentionalität) charakterisiert. Später habe ich die letztere als in einer ichlosen (›Passivität‹) fundierte eingeführt. Aber ist das Ich der Akte und der daraus entspringenden Akthabitualitäten nicht selbst in Entwicklung?« (Hua XV, 594 f.). Was heißt eigentlich die »ichlich charakterisierte«, aber »in der ichlosen Passivität fundierte« Triebintentionalität? Hier spielt, nach 92 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls

meiner Meinung, das Phänomen der Affektion neben der Assoziation in der Analyse der passiven Synthesis eine zentrale Rolle. Für das Phänomen der Affektion ist es immer entscheidend, ob sich das Ich den voraffektiv-vorkonstituierten Empfindungsgehalten zuwendet oder nicht. Aber dabei ist jedenfalls der bereits gebildete Ich-Pol vorausgesetzt. Also ist durch die Analyse der Affektion klar geworden, dass der genetische Aspekt, der darin besteht, die Entwicklung der Polarisierung des Ichs und der Ich-Aktivität überhaupt unter dem Aspekt der Unterscheidung zwischen der ichlosen Passivität und der ichlichen Aktivität zu erforschen, eine entscheidende Bedeutung hat. Die Einsicht der passiven, ichlosen Intentionalität ist so radikal, dass sich Husserl selbst davon manchmal schwer überzeugen konnte. Das zeigt sich im folgenden Zitat deutlich: »Nach den späteren Klärungen (1932) bin ich zur Überzeugung gekommen, dass es nicht zweierlei Intentionalität im eigentlichen Sinn gibt und somit im eigentlichen Sinn keine Vorzeitigung. Die wirkliche Zeitigung, die in der evidenten zeitlichen Gegebenheit des Stromes der Erlebnisse vorausgesetzt und getätigt ist, ist die des transzendental-phänomenologisierenden Ich. […] Zeitlichkeit ist eben in jeder Weise Ichleistung, ursprüngliche oder erworbene« (Hua XXXIV, 181). Wenn die wirkliche Zeitigung, wie Husserl hier sagt, die Zeitigung des transzendental-phänomenologisierenden Ichs sein sollte, entsteht sofort, wie schon gründlich behandelt, das Problem des unendlichen Regresses. Der Grund dafür ist auch sehr klar, weil das phänomenologisierende Ich so wie jede cogitatio für das eigene Fungieren die Zeitdauer des Auffassungsaktes notwendigerweise braucht. In der folgenden, ans obige Zitat direkt anschließenden Passage wird Husserls Besinnung auf diese Problematik aber deutlich genug gezeigt und die prinzipielle Beschränkung seiner eigenen Betrachtung vollzogen: »Es ist aber natürlich nicht so, dass diese Erlebnisverzeitlichung immerzu betätigte ist, und gar als eine transzendental reine, die erst des transzendentalen phänomenologischen Ich bedarf, des Ich, das in der Epoché tätig ist. Man sieht ja, dass, wenn das ständige Strömen in sich als Strömen wirkliche Intentionalität hätte, wir auf einen unendlichen Regress kämen« (ebd.). Also ist es für Husserl eigentlich sehr klar, dass das Strömen der wirklichen Zeitigung in sich keine wirkliche Intentionalität einschließen kann, die die aktive Intentionalität des transzendental-phänomenologischen Ichs bedeutet, weil nur die passive, ichlose Intentionalität die Frage des unendlichen Regresses lösen kann, während die aktive 93 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

Intentionalität mit Ich-Aktivität notwendigerweise in einen unendlichen Regress geraten muss.

§ 3. Der Begriff des phänomenologisierenden Ichs An dieser Stelle ist der Grund, warum in den 30er-Jahren Husserls egologischer Standpunkt wieder hervorgehoben wurde, erneut durch die Gegenüberstellung zwischen der Egologie und Monadologie zu erhellen: 1)

Das phänomenologisierende Ich als der Träger der wirklichen Zeitigung?

Unter dem genetischen Aspekt versucht Husserl in »Nachtgespräch: h[…] Die Unendlichkeit von urtümlichen Ego’s. Monadologiei« sogar, »die letztliche Überwindung der Naivität« der transzendentalen Reduktion, nämlich die »Rückschau auf das Strömen und Inhibieren aller Aktivität« (Hua XV, 585), 15 durchzuführen. Das ist also die letzte Reduktion auf die pure Passivität. Seine darauffolgenden Gedanken: »Aber jetzt treibe ich dieses Reduzieren, jetzt vollziehe ich eine phänomenologische Aktivität […]. Muss ich also nicht scheiden die gestrige und heutige urtümliche Gegenwart, die gestrigen und heutigen Akte der ebenfalls zu scheidenden Reduktionen etc.? Aber wo hat das Gestern und Heute seine Stätte? Doch in der urtümlichen Lebensstätte des urtümlichen Ich. […] Es ist das Ich, das urtümliche des urtümlichen Lebens, das in sich impliziert hat sein eigenes Sein als ego gegenüber den alteri […]« (Hua XV, 585 f.). Thematisiert wird also das diese radikale Reduktion selbst durchführende, phänomenologisierende Ich, das der letzte Träger der wirklichen Zeitigung sein sollte. Was passiert in diesen Argumentationen eigentlich? Es besteht kein Zweifel, dass das Ich die Reduktion durchführt. Aber die Tatsache, dass ich die bestimmte Reduktion jetzt ausübe oder gestern ausgeübt habe, bleibt schlicht retentional, d. h. durch die passive Synthesis ohne Beteiligung der Ich-Aktivität in dem Zeithorizont. Husserl hat selbst in den »Zeitvorlesungen«, wie oben zitiert, ausdrücklich gesagt: »Weil aber Urbewußtsein und ReIn diesem Manuskript sieht man Husserls Schwanken zwischen der egologischen und monadologischen Auffassung der Zeitigung sehr deutlich.

15

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tentionen vorhanden sind, besteht die Möglichkeit, in der Reflexion auf das konstituierte Erlebnis und auf die konstituierenden Phasen hinzusehen […]« (Hua X, 119 f.). Also ohne das passive, urbewusstretentionale Vorkonstituierte gibt es überhaupt keine Möglichkeit, etwas zu reflektieren, etwas auf etwas zu reduzieren, ja überhaupt zu phänomenologisieren. Man könnte sagen, dass Husserl hier im Eifer des Phänomenologisierens den von ihm selbst entdeckten passiven Boden des aktiven Philosophierens augenblicklich wieder verliert bzw. darüber stolpert. Jedoch wird der augenblickliche Verlust ihm selbst sofort in seiner anschließenden Frage nach der Monadologie, der monadischen Zeit und der monadischen Welt bemerkbar. In dieser egologischen Auffassung des absoluten, die Zeitigung tragenden Ichs »komme ich also wieder darauf zurück, dass mein urtümliches ego eine ›Unendlichkeit‹ von urtümlichen ego’s impliziert« (Hua XV, 587). Husserl steht damit erneut vor der Schwierigkeit der Intersubjektivität, die im »Krisis-Buch« ungelöst bleibt. 2)

Die transzendentale Faktizität als die absolute Wirklichkeit

Diese Hervorhebung des phänomenologisierenden Ichs widerspricht sogar eindeutig Husserls eigenen Gedanken in den 30er-Jahren über die transzendentale Faktizität, die die Dichotomie zwischen Wesen und Faktum unterläuft und auf ihren Grund selbst verweist. Husserl sagt: »Das Eidos konstituiere ich, das faktische phänomenologi- sierende ego. Konstituieren und Konstruktion (die konstituierte Einheit, das Eidos) gehört zu meinem faktischen Bestande, meiner Individualität« (Hua XV, 383, Hervorhebung vom Verfasser). »Mein faktisches Sein«, so Husserl, »kann ich nicht überschreiten und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die absolute Wirklichkeit« (Hua XV, 386). Also konstituiert zwar das phänomenologisierende Ich das Eidos, aber das kann sein eigenes Faktum nicht überschreiten. Das heißt, das phänomenologisierende Ich kann sein eigenes Faktum nicht konstituieren. Die Implikation des Anderen kann nur die faktische Implikation in seiner Faktizität bedeuten. Wenn das urtümliche ego als das absolute, unzeitliche Ich (Ur-Ich) eine »Unendlichkeit« von urtümlichen egos implizieren soll, kann das nur im Zusammenhang der faktischen Implikation, d. h. in dem Sinn einer faktischen konkreten Zeitigung, seine Bedeutung haben. Die implizite Intentionalität, die eben die passiven Urstiftungen impliziert, ist der Kernbegriff der genetischen Phänomenologie. Zu 95 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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fragen ist aber nach der Art und Weise des Implizierens. Wenn Husserl sagt, dass mein urtümliches ego eine »Unendlichkeit« von urtümlichen egos impliziert, ist diese Implikation etwas ganz anderes als die faktische Implikation des Anderen. Die Implikation des Anderen kann nur die faktische Implikation in meiner Faktizität bedeuten. Die transzendentale Faktizität ist nur in der faktischen Zeitigung, die »das Absolute« 16 genannt wird, denkbar. Die Zeitigung wird nur »im Verwiesenwerden auf die Urfakta der Hyle« (Hua XV, 385) zur Zeitigung. In dem Sinne bin ich »apodiktisch im Weltglauben« (ebd.). Diese Apodiktizität des »Ich-bin im Weltglauben« kann nur in der absoluten Zeitigung apodiktisch sein. 3)

Zeit und Assoziation im passiven Strömen der Zeitigung

Das folgende verdichtete Zitat Husserls zeigt deutlich, auf welche Weise Zeit und Assoziation untrennbar zusammenwirken, um das Strömen der Zeitigung ursprünglich zu vereinheitlichen: »Im Vorontischen, das dem Ich […] vorliegt, haben wir eine strömende Einheit […]. Zu dieser strömenden Einheit gehört eine Einheitsstruktur, die nach drei Richtungen ihre Besonderheiten hat und doch eine übergreifende Gemeinsamkeit: diejenige der Assoziation der Zeitigung (der Assoziation im prägnanten Sinne). Andererseits die Gefühle und wiederum die Kinästhesen haben ihre besonderen Weisen, sich urzueinigen. Nur als Erlebnis sind sie einig durch Assoziation.« 17 a) Die Grundbegriffe der genetischen Phänomenologie – Zeit, Assoziation und Urstiftung – zeigen in diesem Text einen sehr engen Zusammenhang. In der Dimension des »Vorontischen« fungiert schon die assoziativ vereinheitlichende Zeitigung. Die hier genannten »drei Richtungen« bedeuten nämlich Jetzt, Vergangenheit und Zukunft, die durch die transzendentale Gesetzmäßigkeit von Impression, Retention und Protention vereinheitlicht werden. Aber alle diese drei Richtungen haben »eine übergreifende Gemeinsamkeit der Assoziation der Zeitigung«. Also ist die Zeitigung durch die Assoziation, nicht durch die transzendentale Apperzeption des transzendentalen Ichs, durchaus vereinheitlicht. Die Zeitigung der urtümlichen, lebenHua XV, 670: »Das Absolute ist nichts anderes als absolute Zeitigung, und schon ihre Auslegung als das Absolute, das ich direkt als meine stehend-strömende Urtümlichkeit vorfinde, ist Zeitigung, dieses zum Urseienden.« 17 E. Husserl, B III, 79b, 1931. 16

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digen Gegenwart geschieht nur durch die Assoziation, die die Einigung des Gefühls, der Kinästhese, auch des Triebs als Erlebnisse ermöglicht. b) Der deutliche Zusammenhang zwischen dem Vorontischen und dem Vor-Ichlichen ist hier zu betonen, damit die Dimension der Zeitigung durch die passive Synthesis der Assoziation und Affektion, deren ursprüngliche, ureinheitliche Schicht die Triebintentionalität als »Uraffektion« genannt wird, als »das radikal Vor-Ichliche« (Hua XV, 598) korrekt aufgefasst werden kann. Das phänomenologisierende Ich auf der Ebene der Ich-Aktivität kann die Zeitigung selbst nicht konstituieren. 18

§ 4. Monadologische Zeitigung im Wandel von der egologischen zur monadologischen Phänomenologie Der Transformationsprozess von der egologischen zur monadologischen Phänomenologie in der Entwicklung der genetischen Phänomenologie involviert die Einführung des leibnizschen Begriffs der Monade in die genetische Phänomenologie. Hierbei ist die Gegenüberstellung der Philosophie Kants und der Leibniz’ aufschlussreich. 1)

Husserls Selbstkritik an der »Naivität der transzendentalen Reduktion« in den »Ideen I«

Husserl hat, wie oben kurz erwähnt, eine sehr scharfe Selbstkritik an dem eigenen Standpunkt des reinen Ichs in den »Ideen I« in seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (1922/23) vollzogen. Seine Kritik beinhaltet, dass der Standpunkt des reinen Ichs in die »Naivität der transzendentalen Reduktion«, 19 auf das transzendentale EinzelIch gerät und dass die diese Naivität überwindende neue transzendentale Phänomenologie, die sich auf die apodiktische Evidenz der Zeit und des Anderen berufen kann, entwickelt werden soll. Was bedeutet genau diese Naivität der transzendentalen Reduktion? Die Erhellung Vgl. dazu meine ausführliche Begründung in: Sonzai kara seisei e, Teil 3, Kap. 1, § 1. Obwohl Husserl selbst in mehreren Texte dieses phänomenologisierende Ich als das Konstituierende der Zeitigung behauptet, bemerkt er selbst, dass diese Behauptung notwendigerweise in die Gefahr des unendlichen Regresses der Konstitution der Ich-Aktivität gerät. Siehe oben, S. 95. 19 Vgl. Hua XXXV, § 23, 102 f. 18

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dieser Frage bringt den Abwandlungsprozess von der egologischen zur monadologischen Phänomenologie, in der sich die Apodiktizität der Zeit und des Anderen bewähren kann und eingeschlossen wird. a) Zunächst ist Husserls Kritik an dem Formalismus des formalistischen Apriori bei Kant, der der Auffassung des Begriffs Monade widerspricht, darzustellen. Kant sieht einzig und allein sogenannte formale Apriori – die Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, und die Kategorien der reinen Begriffe des Verstandes – als a priori an. Der Inhalt der empirischen Erfahrung kann nur durch das formale Apriori zur Vorstellung gebracht werden. Kaehler beschreibt den Formalismus als »eine Revolution der Vernunft« im Rahmen einer Gegenüberstellung von Leibniz und Kant sehr deutlich: »Die transzendentale Wende ist eine Revolution eben nur der Vernunft als Inbegriff von Formen und Regeln der Subjektivität, nicht mehr – wie im Leibnizschen ursprünglich-vollkommenen Geist – als sich selber zur unendlich individuellen Realität bestimmender actus purus.« 20 Husserl entwickelt seine radikale Kritik an diesem Formalismus, dem formalen Apriori, in Bezug auf den Begriff der Empfindung und die Konstitution der Zeit. Er behauptet das »materiale Apriori« der Empfindung und gibt als Beispiele für das das Wesen der Empfindung direkt betreffende Apriori die »wechselseitige Fundierung« zwischen dem Wesen der Extension und dem der Farbe und zwischen dem Wesen der Dauer und dem des Tones. 21 Das Wesen der Farbe und das der Extension können nur in Abhängigkeit voneinander existieren, d. h., das erste Wesen setzt das zweite Wesen notwendig voraus und umgekehrt. Beide Wesen getrennt vorzustellen ist nicht möglich. Eine reine räumliche Extension einer Farbe ist nichts anderes als ein nachträglich abstrahiertes Produkt des Philosophen. Ein dauernder Ton kann, wenn die formale Dauer der Zeit und der Inhalt des Tones getrennt sind, nicht gehört werden. Die getrennte reine Dauer eines dauernden Tones und der getrennte Empfindungsinhalt des Tones sind nachträglich Abstrahiertes. Die Gegebenheit der Empfindung der Farbe und des Tones im unmittelbaren Bewusstseinserlebnis ist jedem unbezweifelbar, apodiktisch evident. Auch die Zeit als reine Form ist, wie unten ausführlich begründet, ein nachträglich Konstruiertes des Denkens. Zeit und 20 21

K. E. Kaehler, Das Bewußtsein und seine Phänomene, S. 55. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band, 1. Teil, S. 265.

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Raum als die Formen der sinnlichen Anschauung bei Kant sind für Husserl ein bloßes Produkt des Denkens, das aus dem konkret, unmittelbar gegebenen Empfindungsinhalt abstrahiert wird. Der konkrete Empfindungsinhalt selbst wird hinsichtlich des Werdens des Sinns des Inhalts im Bereich der genetischen Phänomenologie, nämlich unter dem Aspekt der transzendentalen Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion als passiver Synthesis, untersucht. b) Die Grenze des Formalismus zeigt sich bei der Untersuchung der Konstitution des Zeitbewusstseins sehr deutlich. Bei dieser Konstitutionsanalyse wurde die Retention entdeckt, die unter dem Aspekt von Form und Inhalt, also dem Schema von Auffassungsakt und Auffassungsinhalt, das in den »Ideen I« durch die Korrelation von Noesis und Noema ausgedrückt wird, nicht gedacht werden kann. Der Grund der Aufhebung des Schemas Auffassungsakt und Auffassungsinhalt liegt in der Ich-Aktivität des Auffassungsaktes, die die Konstitutionsanalyse in den unendlichen Regress des Auffassungsakts geraten lässt. Die Entdeckung der Retention und die des absoluten Zeitflusses geschahen gleichzeitig. 22 Das heißt, die paradoxe Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses kann erst durch die doppelte Intentionalität der Retention, die ichlose passive Intentionalität ist, erhellt werden. Die Grenze der egologischen, auf die Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität bezogenen Auffassung der Konstitution des Zeitbewusstseins wird auch in einem Text aus den 30er-Jahren über den lebendigen Zeitstrom, in dem der egologischen Aspekt des »phänomenologisierenden Ichs« betont wird, deutlich aufgezeigt. In diesem Text wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die egologische Auffassung der Konstitution des Zeitbewusstseins wegen der aktiven Leistung des Ichs notwendigerweise an dem Problem des unendlichen Regresses scheitert. 23 In diesem Sinne ist es kein Wunder, dass Husserl die Problematik der Konstitution der Zeit als »das Letzte, […] das […] seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat« (Hua III, 198), von seiner Beschreibung der Konstitutionsanalyse der Korrelation von Noesis und Noema in den »Ideen I«, deren Konstitutionsanalyse im Bereich der aktiven, die Ich-Aktivität voraussetzenden Intentionalität vollzogen wird, ausschließen musste. 24 Vgl. R. Bernet, Einleitung, in: E. Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. XLVII. 23 Vgl. oben, S. 93. 24 Vgl. Hua III, 197 f. Wenn Kaehler über die Konstitution des Zeitbewusstseins bei 22

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c) Im Zusammenhang mit der Auffassung des Zeitbewusstseins ist Leibniz’ Aussage über die kleine Perzeption, die die Vergangenheit und die Zukunft verbindet, sehr interessant. Leibniz sagt: »Man kann sogar sagen, dass vermöge dieser kleinen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist, dass alles miteinander zusammenstimmt.« 25 Hier ist klar, dass Leibniz die Zeit nicht bloß formal wie Kant, sondern in Bezug auf den Zeitinhalt der kleinen Perzeption versteht. Leibniz sieht hier die Gegenwart als durch die kleine Perzeption mit der Zukunft und der Vergangenheit eng verbunden an. Die Gegenwart schließt in sich das Moment der Vergangenheit und der Zukunft vermöge der kleinen Perzeption ein. Die kleine Perzeption selbst ist nicht bewusst. Wenn Leibniz sagt, dass die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht, ist es wegen dieser Unbewusstheit der kleinen Perzeption nicht denkbar, dass die Gegenwart als bewusst vorgestellte Kategorie mit der Zukunft als einer ebensolchen Kategorie schwanger geht. Auch ist es undenkbar, dass die Gegenwart als Kategorie mit der Vergangenheit als Kategorie beladen sein könnte. Wie könnte die Gegenwart als formale Kategorie überhaupt die formlose bloße Materie des Zeitinhalts formen? Leibniz behauptet eben die Gegenwart, die die bestimmte Zukunft nur inhaltlich durch die kleine Perzeption wachsen lässt und die bestimmte Vergangenheit nur inhaltlich durch die kleine Perzeption implizieren kann. Aber natürlich bleibt hier die wichtige Frage offen, auf welche Weise überhaupt die kleine Perzeption die Gegenwart mit der Zukunft schwanger gehen lässt und mit der Vergangenheit belädt. Die Antwort darauf ist in Leibniz’ Texten schwer zu finden. Wir haben bis jetzt die passive Intentionalität von Retention und Protention in der lebendigen Gegenwart ausführlich analysiert und dargestellt. Nach dieser gründlichen Betrachtung ist es natürlich gar nicht mehr schwer, vielmehr bietet es sich an, die prinzipielle Entsprechung zwischen der passiven Intentionalität von Retention und Protention und der leibnizschen kleinen Perzeption, die in sich das Husserl behauptet: »Damit ist die Zeitlichkeit von Grund auf gefaßt in Rückbindung an die bzw. in Korrelation zu der Einheit des Erlebnisstroms, d. h. letztlich also zum reinen Ich«, trifft seine Behauptung die Grundeinsicht des absoluten Zeitstroms ohne Beteiligung der Ich-Aktivität nicht. Vgl. K. E. Kaehler, Das Bewußtsein und seine Phänomene, S. 66. 25 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. XXV.

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Vermögen des zukünftigen Wachsens und des Implizierens der Vergangenheit trägt, zu bestätigen. Die passive Intentionalität der Retention fungiert eigentlich unbewusst, und jeder Zeitinhalt wird, wie oben bereits dargestellt, durch die »wechselseitige Weckung« zwischen der noch nicht bewussten Urimpression und der natürlich unbewussten Leergestalt bzw. Leervorstellung im Horizont der Vergangenheit jeweils gebildet. Der Prozess des jeweiligen Bildens des Zeitinhalts bedeutet nichts anderes als den Prozess der retentionalen Implikation, die dem Vermögen des Implizierens der kleinen Perzeption entspricht, und den Prozess der Protention, die das Vermögen der kleinen Perzeption, den bestimmten Zeitinhalt unbewusst zu erwarten, als die transzendentale Gesetzmäßigkeit der passiven Intentionalität erhellt. Also besteht eine eindeutige Gemeinsamkeit zwischen Leibniz und Husserl darin, dass die Gegenwart gar keinen Zeitpunkt auf der objektiven Zeitachse bedeutet, sondern in sich das Moment der Zukunft und der Vergangenheit, natürlich nicht kategorial, sondern als das Moment der kleinen Perzeption bzw. der passiven Intentionalität von Retention und Protention einschließt. Die zweite Gemeinsamkeit zwischen beiden liegt darin, dass beide die Zeit nicht egologisch, vom Standpunkt der transzendentalen Apperzeption des Ichs, sondern monadologisch auffassen. 26 Bekanntermaßen ist die transzendentale Apperzeption des Ichs bei Kant der allerletzte Grund jeder Vereinheitlichung und Synthesis, der alle Synthesis des Erkennens und natürlich auch die Vereinheitlichung des Zeitbewusstseins betrifft. Auch Heidegger sieht sie als den letzten Grund für die Vereinheitlichung der transzendentalen Einbildungskraft an. 27 Aber wie oben ausführlich und gründlich dargestellt, scheitert die egologische Auffassung des Zeitbewusstseins an dem Problem des unendlichen Regresses, dessen Grund in der Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität, nämlich der transzendentalen Leistung des reines Ichs, d. h. in der hier genannten transzendentalen Apperzeption des transzendentalen Ichs, liegt. Die kleine Perzeption bei Leibniz und Retention und Protention als passive Intentionalität bei Husserl sind die Grundbedingung für die monadologische Selbstkonstitution des absoluten Zeitstroms. Die kleine Perzeption ist »perception sans apperception«. Vgl. dazu K. Sakai, Weg zu einer Phänomenologie des Sichzeigens, S. 178. 27 Vgl. unten, S. 228. 26

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d) In Bezug auf die Konkretheit der Monade ist es wichtig, die Grenze zu zeigen, bis zu der die Konkretheit der Monade durch die Habitualität der Ich-Aktivität innerhalb der egologischen Auffassung darstellbar ist. Das reine Ich in den »Ideen I« kann auch den »Habitus innerer Freiheit« (Hua III, 241) bilden, der für die Auffassung des konkreten Ichs unentbehrlich ist. Der Habitus kann durch die Identität des zeitlosen reinen Ichs die Basis des moralischen Urteils bilden. Denn das ist die Habitualität der Ich-Aktivität, die jeweils durch die freie Entscheidung des Ichs wiederholt bestätigt werden kann. Gegenüber dieser, in gewissem Sinne, Zeitlosigkeit der freien Entscheidung und ihrer Habitualität ist Husserl gezwungen, das »letzte […] und wahrhaft Absolute […]«, nämlich die Zeit, durch die Überwindung der »Naivität der transzendentalen Reduktion« in die apodiktische Evidenz zu bringen, damit die Geschichtlichkeit des konkreten Ichs auf der Basis der apodiktischen Evidenz der Zeit erneut begründet werden kann. Dabei wird statt des reinen Ichs mit dem »reinen« Habitus die konkrete und geschichtliche Habitualität der Monade, die auf der passiven, implizierten Intentionalität der apodiktisch bewährten Retention beruht, in die transzendentale Phänomenologie eingeführt. Im Rahmen der genetischen Phänomenologie, in der nach dem »Werden des Ichpols« 28 gefragt wird, muss der Begriff der Monade, die nicht mehr bei dem formalen Apriori des reinen Ichs und der IchAktivität bleibt, sondern in sich die konkrete Leiblichkeit und Geschichtlichkeit des transzendentalen Ichs trägt, thematisiert werden. In der genetischen Phänomenologie werden die passive Genesis, die das Werden der Gesetzmäßigkeit des ursprünglichen Zeitstroms und der passiven Synthesis der Assoziation und Affektion und der passiven Urstiftung betrifft, und die aktive Genesis, die sich auf die aktive Synthesis des Wahrnehmens, des Urteilens, des sozialen Aktes usw. bezieht, untersucht. 29 Wenn das reine, formale Ich in der Frage der transzendentalen Genesis durch die passive, unbewusste Retention, die als die implizite Intentionalität der passiven Synthesis fungiert, in der völligen Konkretisierung aufgefasst wird, muss es in den Begriff der Monade als völlig konkretes Ich umbenannt werden.

Vgl. Hua XXXIII, 276 f. Zur Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Genesis vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 38.

28 29

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2)

Intermonadische Zeitigung gegenüber dem absoluten, unzeitlichen ego

Der Begriff der »intermonadischen Zeitlichkeit« bzw. »intermonadischen Zeitigung« taucht in Husserls Texten nicht oft auf. Aber sowohl für die Problematik der Zeit als auch für die Auffassung der Intersubjektivität hat der Begriff der intermonadischen Zeitlichkeit eine entscheidende Bedeutung. Oben wurde gezeigt, dass die Konstitution des Zeitbewusstseins vom reinen Ich her wegen seines Wesens als formales Apriori und wegen seiner aktiven Intentionalität nicht erörtert werden kann und dass der Begriff der Monade, der zunächst als »Ichmonade« als Ausdruck für das konkrete, geschichtliche Ich verwendet wird, eine entscheidende Rolle in der neuen Entwicklung der transzendentalen Phänomenologie, nämlich in der genetischen Phänomenologie spielt. Trotz dieser Kritik am Formalismus des reinen Ichs bleibt die egologische Auffassung der Zeitigung in der veränderten Interpretation mit der »Überwindung« dieses Formalismus durch den Begriff der konkreten »Ichmonade« im Bereich der »monadologischen Zeitigung« in den 30er-Jahren sehr starr. Dazu ist zunächst die kurze, aber typische Aussage Husserls in dem folgenden Text von 1934 zu erwähnen: »Wir haben bisher 1) die im stehenden urtümlichen Strömen konstituierte Zeitlichkeit des absoluten ego, 2) in der primordialen Reduktion die reduzierte primordiale Zeitlichkeit, 3) dann in der Selbstentfremdung des absoluten ego für jede einzelne Monade in sich die immanente Zeit, welche konkret ihr Bewusstseinsstrom ist, mit dem auch eine verzeitlichte Habitualität Hand in Hand geht, 4) für das Monadenall die Zeit des monadischen Universums, 5) in der darin konstituierten Natur die Naturzeit, deren Koexistenzform den besonderen Einheitsgehalt Raum hat« (Hua XV, 637). Husserl behauptet hier eindeutig, dass das absolute ego die Zeitlichkeit im urtümlichen Strömen konstituiert und dass die immanente Zeit jeder einzelnen Monade durch die Selbstentfremdung des absoluten ego konstituiert wird. Diese Aussage von 1934 verlangt eine erneute Konfrontation mit der Egologie, damit sich die Dimension der intermonadischen Zeitigung gegenüber der monadologisch gestärkten Egologie als prinzipiell evident erweisen kann. Im Folgenden stelle ich meine Kritik an dieser Aussage hinsichtlich einzelner problematischer Punkte dar. a) Die Behauptung unter 1), nämlich dass das absolute, »unzeit103 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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liche« 30 ego den urtümlichen Zeitstrom konstituieren soll, bleibt nur eine Behauptung ohne phänomenologische Beschreibung davon, auf welche Weise überhaupt diese allerursprünglichste Konstitution des urtümlichen Strömens des absoluten ego geschehen sollte. Wenn man für diese Beschreibung an die schon oben geführte Argumentation, dass das phänomenologisierende Ich den Zeitstrom der Erlebnisse konstituieren soll, erinnern könnte, so muss man auch auf die Kritik an der Unausweichlichkeit des unendlichen Regresses wegen der Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität verweisen. Also kann dieses Argument keine überzeugende Beschreibung geben. Ferner scheint eine solche Annahme des absoluten, unzeitlichen ego nichts anderes als eine »Metaphysik des gefährlichen […] Sinnes« 31 zu sein, die Husserl selbst an den transzendentalen Begriffen Kants scharf kritisiert hat. Die letzte phänomenologische Klärung der transzendentalen Gesetzmäßigkeit verlangt die apodiktische Evidenz in der anschaulichen Beschreibung, wie die apodiktische Evidenz der Retention als passiver Intentionalität beschaffen ist. Auch die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention, die als solche an anderen Stellen ausführlich thematisiert wird, 32 bewährt sich in der »starren Passivität« phänomenologisch. Husserl sagt dazu: »Z. B. die in starrer Passivität nachfolgende Retention ist ein Leerbewußtsein, in das sich, wie wir zeigten, von der lebendigen Gegenwart her assoziative Intentionen einsenken können, rückstrahlende Intentionen in das soeben Gewesene« (Hua XI, 93, Hervorhebung vom Verfasser). Die apodiktische Evidenz der Retention ist die Apodiktizität eben des »Leerbewusstseins«, das nicht unmittelbar anschaulich gegeben ist. Aber die Annahme des absoluten ego basiert so wie die Annahme der transzendentalen Apperzeption des transzendentalen Ichs auf keinen Fall auf der apodiktischen Evidenz der Zeitigung. Wenn, wie Hussel selbst sagt, »das absolute ›ego‹ unzeitlich, Träger aller Zeitigungen und Zeiten« (Hua XV, 587) ist, taucht sofort eine dringende Frage auf: Wie kann das unzeitliche, absolute ego, genauso wie die transzendentale Apperzeption des Ichs, die urtümliche Zeitigung Vgl. den unten folgenden Text. Vgl. dazu die sehr bekannte Passage, in der Husserl Kants metaphysische Annahmen scharf kritisiert: »Alle transzendentalen Begriffe Kants, die des Ich der transzendentalen Apperzeption, der verschiedenen transzendentalen Vermögen, der des ›Dinges an sich‹ (des den Körpern wie Seelen zugrundeliegenden), sind konstruktive Begriffe, die einer letzten Klärung prinzipiell widerstehen« (Hua VI, 203). 32 Vgl. dazu S. 129 f. 30 31

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selbst überhaupt konstituieren, ohne sich selbst zu zeitigen? Die Selbstzeitigung bzw. die Selbstkonstitution des »absoluten zeitkonstituierenden Bewußtseinsfluss[es]« (Hua X, 73) wird im Husserliana-Band X trotz des Paradoxes, »daß der Bewußtseinsfluß seine eigene Einheit konstituiert« (Hua X, 80), mit der doppelten Intentionalität der Retention phänomenologisch analysiert und auf evidente Weise dargestellt. Aber bei dieser Behauptung der Selbstkonstitution des absoluten ego fehlt die auf die apodiktische Evidenz bezogene phänomenologische Beschreibung völlig. b) Die unter 2) behauptete in der primordialen Reduktion reduzierte primordiale Zeitlichkeit steht in diesem Fundierungsverhältnis vor der intermonadischen Zeitlichkeit. Hier ist die genetische Frage dieser Fundierung gestellt worden, ob die so reduzierte primordiale Zeitlichkeit der intermonadischen Zeitlichkeit vorangeht oder umgekehrt. Dabei ist die folgende Aussage Husserls über die Bestimmung des Begriffs der »Primordialität« entscheidend. Husserl sagt: »Die Primordialität ist ein Triebsystem« (Hua XV, 594). 33 Wenn die Primordialität als »Triebintentionalität« bestimmt wird, muss gefragt werden, ob die Triebintentionalität als »ichhaft«, egologisch oder intermonadisch aufgefasst werden muss. Die Antwort ist sehr klar: Obwohl die Triebintentionalität in diesem Text in Hua XV »ichhaft«, nämlich »als ichliche (im weitesten Sinn Willensintentionalität) charakterisiert« (ebd.) wird, spricht Husserl eindeutig von der Fundierung der Passivität in diesem Sinne: »Später habe ich die letztere [die ichliche Triebintentionalität] als in einer ichlosen (›Passivität‹) fundierte eingeführt« (Hua XV, 595). Die ichliche Triebintentionalität ist in einer ichlosen Passivität fundiert. Die hier genannte Grundeinsicht über die genetische Fundierung, dass die Passivität die Aktivität fundiert und die Passivität der Aktivität vorangeht, 34 gibt uns immer Diese Aussage Husserls steht, wie immer, in einem streng prinzipiellen Zusammenhang der passiven und aktiven Intentionalitäten. Dieser Zusammenhang lässt sich an der diesem Satz folgenden Passage sichtbar machen: »Wenn wir sie [die Primordialität] verstehen als urtümlich stehendes Strömen, so liegt darin auch jeder in andere Ströme, und mit evtl. anderen Ichsubjekten, hineinstrebende Trieb. Diese Intentionalität hat ihr transzendentes ›Ziel‹, transzendent als eingeführtes Fremdes, und doch in der Primordialität als eigenes Ziel, also ständig ihren Kern urmodaler, sich schlicht erhebender und erfüllender Intention« (Hua XV, 594). Also gehört die Primordialität als Triebsystem zum Bereich der Passivität. 34 Vgl. dazu verschiedene Textstellen Husserls. Z. B.: »Jede einheitliche, zusammenhängende Ichaktivität setzt offenbar – das letztere wird dadurch immer wieder möglich – eine Unterschicht der Passivität voraus« (Hua XXIX, 195). 33

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Orientierung bei der korrekten Interpretation der inhaltsreichen, manchmal widersprüchlich aussehenden Texte. Die ichliche Triebintentionalität, die aktiv und anschaulich bewusst ist, ist bereits in der passiven Urassoziation fundiert. Wie in diesem Text angedeutet, ist die Ich-Polarisierung ständig in der genetischen Entwicklung. c) Die in 3) behauptete »Selbstentfremdung des absoluten ego« hat einen engen Zusammenhang mit der Auffassung der »Selbstzeitigung« des absoluten ego in der »Krisis«. Husserl sagt: »Die Selbstzeitigung sozusagen durch Ent-Gegenwärtigung (durch Wiedererinnerung) hat ihre Analogie in meiner Ent-Fremdung (Einfühlung als eine Ent-Gegenwärtigung höherer Stufe – die meiner Urpräsenz in eine bloß vergegenwärtigte Urpräsenz)« (Hua VI, 189). Diese auch im fünften Kapitel der »Cartesianischen Meditationen« angewandte Denkweise, Selbstentfremdung als der Ent-Gegenwärtigung bzw. Vergegenwärtigung entsprechend zu betrachten, steht der anderen, wichtigen und entscheidenden Einsicht der wechselseitigen Weckung der Urassoziation zwischen dem hyletischen Moment und den Leergestalten und Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont in der lebendigen Gegenwart, also in der »Simultaneität« von Urimpression und Urretention, gegenüber. Der Begriff der oben genannten »Urpräsenz« verliert seine kernhafte Bedeutung in der Analyse des Zeitbewusstseins, was schon in den »Bernauer Manuskripten« gezeigt wird. Die Urpräsenz bedeutet hierbei nur den abstrakten Grenzpunkt, von dem kein Zeitinhalt, der nur in der Simultaneität der Urimpression und der Urretention gebildet wird, getragen werden kann. d) Ferner wird die unter 4) genannte Aussage über das »Monadenall« und »die Zeit des monadischen Universums« in Zusammenhang mit dem genetischen Aspekt der »Ichzentrierung« in Hua XV auf folgende Weise formuliert: »Die Frage ist dann, wie die Ichzentrierung zu verstehen ist in der Universalität der intentionalen Implikation in der ständig konstituierten all-primordialen urtümlichen lebendigen Gegenwart, der absoluten ›Simultaneität‹ aller Monaden, durch wechselseitiges unmittelbares und mittelbares Transzendieren von Trieben vergemeinschafteten Monaden« (Hua XV, 595). Die oben genannte »Zeit des monadischen Universums« wird hier in der »all-primordialen urtümlichen lebendigen Gegenwart, der absoluten ›Simultaneität‹ aller Monaden« ausgedrückt. Die Zeitlichkeit des Monadenalls wird als die absolute Simultaneität aller Monaden bezeichnet, in der die Urassoziation zwischen der Ur106 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitigung in der genetisch-monadologischen Phänomenologie Husserls

impression und der Urretention als das jeweilige Stehen der all-primordialen urtümlichen lebendigen Gegenwart entsteht. Gerade weil die Primordialität der all-primordialen Gegenwart durch die Triebintentionalität bestimmt wird und gerade weil die Triebintentionalität als »wechselseitiges unmittelbares und mittelbares Transzendieren« charakterisiert werden muss, ist die intermonadische Zeitigung der lebendigen Gegenwart, die nur passiv-assoziativ, niemals aktiv-egologisch aufgefasst werden kann, apodiktisch notwendig. 3)

Intermonadische Zeitigung in der Teleologie der monadologischen Phänomenologie

Der hier oft erwähnte Text Nr. 34 in Hua XV hat den Titel »Universale Teleologie. Der intersubjektive, alle und jede Subjekte umspannende Trieb geschieht transzendental. Sein der monadischen Totalität« (Hua XV, 593). Die intermonadische Zeitigung all-primordialer lebendiger Gegenwart durch die wechselseitige, intermonadische Triebintentionalität wird bezüglich der monadischen Entwicklung aller Monaden in der universalen Teleologie auf folgende Weise dargestellt: »Dabei die Unendlichkeit der Stufen von animalischen Monaden, der tierischen, vortierischen, andererseits bis hinauf zum Menschen, andererseits der kindlichen und vorkindlichen Monaden – in der Ständigkeit der ›ontogenetischen‹ hundi phylogenetischen Entwicklung« (Hua XV, 595). Die Entwicklung der animalischen Monaden schließt in sich natürlich die Stufe der Menschenmonade bzw. der transzendentalen Apperzeption des Ichs in dem Sinne ein, dass die Egologie in die Monadologie integriert wird. Diese Entwicklung wird auch aus der Perspektive der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung, die von dem bekannten Evolutionstheoretiker Ernst Haeckel vertreten wird, so aufgefasst. Diese Einsicht gilt in der Tat für alle Stufen der Monadenentwicklung, »dann in Form des generativen Zusammenhanges [für] alle Monaden der Monadenstufen, die höheren und niederen Tiere, die Pflanzen und deren Unterstufen, und für alle ihre ontogenetischen Entwicklungen« (Hua XV, 596). Unter dem Titel »Monadologie« fasst Husserl den Text auf, der die Entwicklung der Monaden durch die »Anwendung der Idee der Sedimentierung« in der »systematische[n] intentionale[n] Phänomenologie« auf folgende Weise darstellt: »1) Die Allheit der Monaden in ursprünglich instinktiver Kommunikation, jede in ihrem individuel107 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

len Leben immerfort lebend, und somit jede mit einem sedimentierten Leben, mit einer verborgenen Historie, die zugleich die ›Universalhistorie‹ impliziert. Schlafende Monaden. 2) Entwicklung der monadischen Historie; erwachende Monaden und Entwicklung in der Wachheit mit einem Hintergrund schlafender Monaden als ständiger Fundierung. 3) Entwicklung menschlicher Monaden als Welt konstituierend, als worin das Monadenuniversum in orientierter Form zur Selbstobjektivation durchdringt, Monaden zum vernünftigen Selbstund Menschheitsbewusstsein und zum Weltverständnis kommen etc.« (Hua XV, 609). Also ist es unleugbar, dass die instinktive Kommunikation der Allheit der Monaden nur durch die intermonadische Zeitigung der wechselseitigen Triebintentionalität der Monaden ermöglicht wird. In der zweiten Stufe der Entwicklung der monadischen Historie ist das Fundierungsverhältnis von der Passivität und Aktivität deutlich festzustellen, sodass die Passivität der schlafenden Monaden im Hintergrund ständig die Aktivität der erwachenden Monaden in der Wachheit fundiert. Die dritte Stufe der menschlichen Monaden ist in der Form der Teleologie, nämlich in der Orientierung nach dem vernünftigen Selbst- und Menschheitsbewusstsein und dem Weltverständnis dargestellt. Aber es ist wichtig anzumerken, dass die von Gott geschaffene »prästabilierte Harmonie« Leibniz’ für Husserl nicht akzeptabel ist. Iribarne sagt zu Recht: »Die Teleologie besitzt bei Husserl den gleichen Stellenwert wie die Harmonie bei Leibniz. Aber da nach Husserl die Vollkommenheit als Idee unerreichbar bleibt, kommt es nicht zu einer teleologischen Ordnung; es gibt nur eine mögliche Annäherung an sie.« 35 Die Teleologie Husserls ist in der systematischen, intentionalen, also passiv intentionalen und aktiv intentionalen monadologischen Phänomenologie etabliert. In diesem Sinne der Teleologie wird Gott bei Husserl auf folgende Weise aufgefasst: »Gott ist das Monadenall nicht selbst, sondern die in ihm liegende Entelechie, als Idee des unendlichen Entwicklungstelos, des der ›Menschheit‹ aus absoluter Vernunft, als notwendig das monadische Sein regelnd, und regelnd aus eigener freier Entscheidung« (Hua XV, 610).

35

J. v. Iribarne, Husserls Gottesauffassung, S. 156.

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Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

3.

Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

Die wichtige Unterscheidung zwischen der Egologie und der Monadologie besteht natürlich im Begriff vom Ich, der für die Auffassung des Begriffs der Affektion eine entscheidende Rolle spielt. Die Affektion fungiert nur insofern, als das voraffektiv Vorkonstituierte das Ich affiziert. Also ist beim Phänomen des Affizierens entscheidend, ob das Interesse des Ichs geweckt wird und das Ich sich dem assoziativ Vorkonstituierten zuwendet oder nicht. Dabei ist es prinzipiell wichtig, dass die Dimension der Voraffektion als vor der Zuwendung des Ichs, also vor dem Fungieren der Ich-Aktivität, passiv, selbständig fungierend bestimmt wird. Durch diese Bestimmung wird es möglich, die Grenze der egologischen Dimension der Affektion der Ich-Aktivität zu zeigen und diese Dimension in die monadologische Dimension der Voraffektion zu integrieren.

§ 1. Die Unterscheidung zwischen Voraffektion und Affektion Husserl unterscheidet die Voraffektion von der Affektion in den »Analysen zur passiven Synthesis« graduell, d. h., das hyletisch Vorkonstituierte wird einmal bewusst und einmal unbewusst aufgefasst. 36 Jedoch darf die Schwelle bzw. die Differenzierung zwischen dem passiv Vorkonstituierten der Voraffektion und dem aktiv Konstituierten der Affektion niemals verwischt oder verloren werden. Diese Schwelle liegt aber nicht zwischen der Intentionalität und der Nicht-Intentionalität, sondern zwischen der aktiven und der passiven Intentionalität. Diese Differenz zeigt sich im Phänomen der Zuwendung 37 des Ichs zum Vorkonstituierten deutlich. Die Zuwendung des Ichs entsteht durch das Interesse des Ichs, dessen allerursprünglichste Motivation in der Triebintentionalität als der die verschiedenen Voraffektionen vereinheitlichenden Ur-Affektion der passiven Synthesis liegt. Die Zuwendung als aktive Intentionalität wird, dem Grundsatz der genetischen Phänomenologie – Passivität fundiert Aktivität – ent-

Vgl. dazu E. Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, § 42, S. 218 ff. Der Begriff der Zuwendung wird bereits in den »Zeitvorlesungen« verwendet. Vgl. Hua X, 95.

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sprechend, von der die Zeitigung selbst bestimmenden Triebintentionalität passiv fundiert. Wenn die Affektion der starren Alternative entweder intentional oder nicht-intentional, »Denken oder Leben« bei Levinas, zugeordnet werden sollte, gäbe es keine Möglichkeit, den Bereich der vorkonstituierend-vorkonstituierten Voraffektion als passiver Synthesis der passiven Intentionalität, also den Bereich des vorlogischen, vorreflexiven, vorprädikativen Apriori der Lebenswelt als die Forschungsfelder der Phänomenologie festzulegen. Die eigene Dynamik und Kreativität der passiven Synthesis, die Merleau-Ponty »tiefere Intentionalität« bzw. »Existenz« nennt, 38 kann im Rahmen der herkömmlichen Dualität von Form und Inhalt oder Wesen und Tatsache nicht phänomenologisch analysiert werden. Waldenfels schreibt: »Wie die Analysen des Zeitbewußtsein [sic] […] lassen auch die Analysen zur passiven Synthesis die Dualität von sensueller Hyle und intentionaler Morphe hinter sich.« 39 Wenn man die Analyse der passiven Synthesis richtig als die Vertiefung der Zeitanalyse ansieht, kann man die Entwicklung der Auffassung der Empfindung als »nicht-intentional« in den »Logischen Untersuchungen« und den »Zeitvorlesungen« zur Affektion als der aktiven und der Voraffektion als der passiven Intentionalität feststellen. Husserl hat früher die Empfindung zwar als nicht-»intentional« betrachtet, gerade weil Empfinden und Empfindungsinhalt identisch sind und die Empfindung somit gegenüber den intentionalen Akten zu den »Nicht-Akten« gehört. In der Analyse der passiven Synthesis wird der in dem retentionalen Urbewusstsein, m. a. W. der in der immanenten Wahrnehmung apodiktisch gegebene Empfindungsinhalt durch die Analyse der Assoziation und Affektion erörtert und versucht, ihn zur adäquaten Evidenz zu bringen. Dabei zeigt sich der voraffektive Werdeprozess des Empfindungsinhalts mitsamt der affektiven Zuwendung des Ichs aus genetischer Perspektive klar. Aber Levinas bemerkt diese Entwicklung nicht. Er interpretiert, ohne Berücksichtigung dieser Entwicklung, die Empfindung als »intentional«, genauer gesagt »aktiv« intentional, weil für ihn das Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 148 f. Er schreibt: »Husserls Originalität geht über den Begriff der Intentionalität hinaus; sie liegt in einer Entfaltung dieses Begriffs und in der Entdeckung einer der Intentionalität der Vorstellungen zugrunde liegenden tieferen Intentionalität, der andere den Namen der Existenz gegeben haben.« 39 B. Waldenfels, Arbeit an den Phänomenen, S. 230. 38

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Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

Empfinden der Empfindung die Intentionalität, die Erfüllung des Abstandes zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen bedeutet. 40 Daher ist es kein Wunder, dass die Andersheit des Anderen hinter der intentional konstituierten, retentionalen Spur der den Empfindungsinhalt tragenden Urimpression außerhalb des Zeitstroms bleiben muss, weil der Strom der Zeit als solcher aktiv intentional charakterisiert ist. Somit wird die Möglichkeit, die unmittelbare Berührung mit der Andersheit des Anderen in der zwischenmonadischen, zwischenleiblichen Urkommunikation durch die Paarung als passive Synthesis, die Husserl und Merleau-Ponty in die absolute, adäquate Evidenz zu bringen versuchten, phänomenologisch zu analysieren, völlig ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird dabei auch das sogenannte »eingeborene Du« 41 in der Ich-Du-Beziehung der Kindheit, in der die Urkommunikation zwischen dem Kleinkind, ohne feste Bildung des Ich-Pols, der Ich-Aktivität und der Umwelt passiv intersubjektiv in der intermonadischen Zeitigung erlebt wird. Diese unmittelbare Berührung mit der Andersheit des Anderen in der Kindheit ist der unentbehrliche Boden für die soziale Kommunikation, in der sich die Ich-Du-Beziehung ereignet, und gleichzeitig bildet sie das Feld der Untersuchung für die Psychopathologie.

§ 2. Die paradoxe Simultaneität einer im Jetzt simultanen Vergangenheit in der Voraffektion In Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit der gerade erwähnten passiven Intersubjektivität und der intersubjektiven Zeitigung möchte ich auf das Verhältnis zwischen »Widerfahrnis« und »Antworten« eingehen, das Waldenfels thematisiert 42. Hier, in der Thematisierung des Widerfahrnisses und des Antwortens, ist die zeitliche Verschiebung zwischen den beiden von zentraler Bedeutung. »Die Verschiebung gewinnt«, so Waldenfels, »einen radikal zeitlichen Sinn, wenn wir die Vorgängigkeit eines Widerfahrnisses mit der Nachträglichkeit der eine Antwort produzierenden Wirkung zusammen denken.« 43 Vgl. E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 167 f. M. Buber, Werke I, S. 96. Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 225 ff. 42 Vgl. B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 56 ff. 43 A. a. O., S. 178. Vgl. dazu des Weiteren: »Wenn wir von einer zeitlichen Verschiebung zwischen vorgängiger Affektion und nachträglicher Antwort ausgehen« 40 41

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In Bezug auf die Einsicht der zeitlichen Verschiebung zwischen den beiden drängt sich das Problem der Simultaneität der lebendigen Gegenwart auf. Somit ist die Frage zu stellen, ob bereits in dem Widerfahrnis oder der Affektion selbst eine voraffektive Vorkonstitution der paradoxen »Simultaneität« – passiv fundiert – am Werk ist, die durch die passiven Aufmerksamkeitsmodi entweder zur Affektion, d. h. Konstitution, wird oder voraffektiv vorkonstituiert bleibt. Über die paradoxe Simultaneität schreibt auch Merleau-Ponty, sich kritisch beziehend auf den Begriff der Intentionalität (auch hier ist allein die aktive Intentionalität gemeint), sie sei »eine dimensionale Gegenwart […], wo die Vergangenheit mit der Gegenwart im engeren Sinne ›simultan‹ ist« 44, die Husserl jedoch noch genauer bezüglich der passiv-assoziativen wechselseitigen Weckung zwischen dem Urhyletischen in der Gegenwart und den Leergestalten bzw. Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont im retentionalen, differenzierenden Prozess der voraffektiven Synthesis phänomenologisch analysiert. Hinsichtlich dieser Simultaneität, unter dem Aspekt der Vergangenheit, denkt Merleau-Ponty: »[D]ie vertikale Vergangenheit erhebt selbst den Anspruch, wahrgenommen worden zu sein.« 45 Solch ein Anspruch ist bei Husserl als die affektive Kraft im Unbewusstsein zu bezeichnen: »In der leeren retentionalen Sphäre aber summieren und hemmen sich die Kräfte und mit ihnen auch die Kräfte der Erwartung, blind wie jene Triebe, jedenfalls die Typik und Gesetzmäßigkeit der Erwartung ist, sehen wir, durchaus abhängig von der Typik und Gesetzmäßigkeit der reproduktiven Assoziation und dadurch vermittelt auch von derjenigen der ursprünglichen Assoziation in der lebendig strömenden Gegenwartssphäre« (Hua XI, 189). Die Simultaneität gehört für Merleau-Ponty zum »Ablaufsphänomen«, das er als passive Synthesis bezeichnet: Das »enthält die ›Simultaneität‹, den Übergang, das nunc stans, die Proustische Leiblichkeit als Hüterin des Vergangenen, das Eintauchen in ein transzendentes Sein« 46. In der »Formalen und transzendentalen Logik« beschreibt Husserl diese Simultaneität sehr klar dahingehend, dass der Vergangenheitshorizont mit den unanschaulichen, sedimentier(a. a. O., S. 116) oder »in einer zeitlichen Verschiebung, die eben aus der Antwort ein nachträgliches, aus dem Widerfahrnis ein vorgängiges Ereignis macht« (a. a. O., S. 60). 44 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 308. 45 Ebd. 46 Ebd.

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Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

ten Abgehobenheiten die lebendige Gegenwart eben simultan begleitet; im folgenden Zitat charakterisiert Husserl das Unbewusste als einen »Grenzmodus des Bewußtseins«: »Auf diesen Hintergrund der sedimentierten Abgehobenheiten, der als Horizont alle lebendige Gegenwart begleitet und seinen kontinuierlich wechselnden Sinn in der ›Weckung‹ zeigt, bezieht sich die ganze intentionale Genesis zurück« (Hua XVII, 319, Hervorhebung vom Verfasser). 47 Der Horizont der Vergangenheit wird hier als ein Hintergrund der sedimentierten Abgehobenheit dargestellt, wo die verschiedenen affektiven Kräfte, wie oben gezeigt, hemmend oder auch einander fördernd zusammenwirken. Vor allem ist die Wechselseitigkeit der Weckung wichtig, die nicht nur von der Urimpression des Urhyletischen auf leere Vorstellungen und Gestalten im Vergangenheitshorizont ausstrahlt, sondern auch von den affektiven Kräften des Vergangenheitshorizonts auf die Urimpression gerichtet ist. Diese Seite der Weckung wird in diesem Zitat als Begleitung aller lebendigen Gegenwart beschrieben. Also wird alle lebendige Gegenwart vom Horizont der Vergangenheit, die mit affektiven Kräften in der Form protentionaler Erwartung gefüllt ist, ständig begleitet. In einem anderen Zitat wird auch die affektive Kraft der Weckung aus dem Vergangenheitshorizont klar ausgedrückt: »Weckung ist möglich, weil der konstituierte Sinn im Hintergrundbewußtsein in der unlebendigen Form, die da Unbewußtsein heißt, wirklich impliziert ist« (Hua XI, 179, Hervorhebung vom Verfasser). Es ist klar, dass die Weckung ohne unbewusste, implizierte Leergestalten oder Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont überhaupt nicht fungieren kann. Also ist die Weckung prinzipiell eine wechselseitige Weckung, was etwa in folgender Aussage Husserls eindeutig belegt ist: »[D]ie Weckung ist eine wechselseitige, wechselseitig die Tendenz des Überganges« (Hua XIV, 531). 48 Schließlich findet man im C-Manuskript Nr. 20, »Hyletische Urströmung und Zeitigung«, folgende klare Aussage. »Hier haben Interessant ist Varelas Versuch, die phänomenologische Analyse des Bewusstseins der Gegenwart und den neurologischen realen Vorgang in einem wechselseitig ergänzenden und abhängigen Verhältnis zu untersuchen. Das dabei erörterte neue Modell der Zeitigung nähert sich der Grundeinsicht der Simultaneität sehr stark an. Vgl. F. Varela, The Specious Present. 48 Hier spricht Husserl in Bezug auf die Analyse der Intersubjektivität von der Paarung als einer perzeptiven Assoziation, die als »Deckung in Distanz« in der wechselseitigen Weckung charakterisierbar ist. 47

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wir aber ein Zeitfeld, eine immer fortgehende Bildung einer im Jetzt simultanen Vergangenheit, und in diesem Felde ist nun Fernassoziation, Paarung, Konfiguration am Werke – im ›Unbewussten‹ bzw. vom ›Bewussten‹ ins Unbewusste hinein« (HM VIII, 87, Hervorhebung vom Verfasser). Die im Jetzt simultane Vergangenheit drückt die paradoxe Simultaneität der Gegenwart und der Vergangenheit unmissverständlich klar aus. In diesem Text wird die Simultaneität auch als die wechselseitige Weckung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten dargestellt.

§ 3. Das Phänomen der Aufmerksamkeit Die oben erwähnte Weckung in der Simultaneität der passiven Synthesis spielt im Phänomen der Aufmerksamkeit, das Waldenfels mit den Phänomenen Widerfahrnis, Affektion und Ereignis in einem engen Zusammenhang sieht, eine zentrale Rolle. Waldenfels schreibt: »Die Bestimmung des Aufmerkens als das Überqueren einer Schwelle impliziert, dass sie nicht durch einen Akt der Aufmerksamkeit zustande kommt, sondern aus einer Weckung hervorgeht.« 49 »Die Weckung der Aufmerksamkeit erfolgt« nach ihm »auf der Ebene der Ereignisse«, 50 die gleich wie die Affektionen zur Dimension des Widerfahrnisses gehören. Die oben gestellte Frage nach der Simultaneität im Widerfahrnis selbst nimmt eine im Zusammenhang der Aufmerksamkeit geänderte Formulierung an: Ist die Weckung der Aufmerksamkeit bereits im Widerfahrnis selbst am Werk, oder ereignet sie sich erst in der zeitlichen Verschiebung zwischen dem Widerfahrnis und dem Antworten? Dazu sagt Waldenfels: »Aufforderungsqualitäten und Aufmerksamkeitsmodi haben ihren Ort in eben jenem Zwischenfeld, das Widerfahrnisse mit eigenen Antworten verbindet.« 51 Das Zwischenfeld ist nämlich der Ort, wo die Zeitverschiebung »nunc distans« 52 entsteht. Hier scheint es in der Tat keinen Platz für die Simultaneität, das nunc stans der passiven Synthesis im Widerfahrnis, zu geben. Wenn die Aufmerksamkeit, wie Waldenfels sagt, nicht aus dem 49 50 51 52

B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 22. A. a. O., S. 96. B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 104. A. a. O., S. 179.

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Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

Akt entsteht, muss es den Prozess des Aufmerksam-Werdens geben, die Genesis dessen, »dass überhaupt etwas in der Erfahrung auftritt, dass gerade dieses und solches auftritt und nicht vielmehr anderes und dass es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt« 53. Im Phänomen der Affektion, nämlich des Aufmerksam-Werdens in der lebendigen Gegenwart, das zur gleichen Dimension des Widerfahrnisses gehört, unterscheidet Husserl die voraffektive Vorkonstitution und die affektive Konstitution. Die Affektion als die affektive Konstitution der aktiven Intentionalität hat schon den Prozess des Aufmerksam-Werdens hinter sich. Die Affektion entsteht durch die zeitliche Verschiebung, die für das Durchführen der Akt-Intentionalität notwendig ist. Aber die Voraffektion als passive Synthesis konstituiert sich ohne Zuwendung der Ich-Aktivität in diesem Sinne passiv vor. Die Voraffektion ereignet sich in der Simultaneität, nämlich in der Simultaneität der wechselseitigen Weckung zwischen dem Urhyletischen der Gegenwart und den sedimentierten retentionalen Leergestalten oder Leervorstellungen der Vergangenheit. Diese simultane Vorkonstitution der Voraffektion kommt vom Prozess des Aufmerksam-Werdens, wo sich passive Synthesen unbewusst und unanschaulich im Zusammenhang 54 der Weckung der Ähnlichkeit und des Kontrastes ereignen, gerade dieses und solches im »lebendigen Streit« um die affektive Anschauung, die Zuwendung des Ichs sind und anderes gleichzeitig in die »Verdrängung als Unterdrückung, Hinunterdrückung in die Unanschaulichkeit« (Hua XI, 413). gebracht wird. Die in der leeren retentionalen Sphäre sich summierenden und hemmenden affektiven Kräfte bilden die uraffektiv-voraffektive Synthese der oben genannten Triebintentionalität, »die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht« (Hua XV, 595). Zwar werden die simultan vom Urhyletischen wechselseitig geweckten Instinkt- oder Triebintentionalitäten als passive Intentionalitäten 55 auf der Ebene der Voraffektion passiv-assoziativ erfüllt, aber die solcherart Vorkonstituierten bleiben unanschaulich und nicht affektiv genug, insofern sie keine Zuwendung des Ichs gewinnen. Erst durch die Zuwendung des Ichs, die nachträglich auf das B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 16. Diesen Zusammenhang sieht Waldenfels im Begriff »Relief« ausgedrückt, der in den »Analysen zur passiven Synthesis« dargestellt wird. Die passive Synthesis der Assoziation und Affektion ermöglicht die genetische Analyse der Bildung des Reliefs. 55 Vgl. dazu I. Yamaguchi, Triebintentionalität als uraffektive passive Synthesis in der genetischen Phänomenologie, S. 219–240. 53 54

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II · Ereignis als die voraffektive Zeitigung bei Husserl

Vorkonstituierte durch die Zeitverschiebung fällt, wird das voraffektiv Vorkonstituierte affektiv und anschaulich. Die hier dargestellte Doppelstruktur des Voraffektiven und Affektiven in der lebendigen Gegenwart ist aber nichts anders als die ausführliche Analyse des Grundprinzips der genetischen Phänomenologie Husserls, nämlich: Passivität fundiert Aktivität, Passivität geht der Aktivität voraus. Hinsichtlich der Fundierung wird die Simultaneität als das Fungieren in der wechselseitigen Weckung der Synthesis der Paarung sehr deutlich formuliert: »Fundieren und Fundiertes ist im Miteinander untrennbar, in Notwendigkeit eins« (Hua XI, 398). Also geht die Simultaneität der wechselseitigen Weckung der Zeitverschiebung, die durch Ich-Aktivität erfüllt wird, voraus. Das Fließen des Zeitstroms als die Zeitverschiebung wird von dem Stehen des Zeitstroms als der Simultaneität triebintentional fundiert.

§ 4. Die voraffektive Unterdrückung Die Eigendynamik der Voraffektion und der voraffektiv-passiven Intersubjektivität zeigt sich z. B. im Phänomen PTSD (»posttraumatic stress disorder«) oder in einer »Therapie in Schweigen« 56 sehr deutlich. Wenn am Kleinkind, das noch in der Welt der Ursynästhesie 57, wo noch keine Leergestalten der einzelnen Empfindungsfelder, geschweige denn Leervorstellungen derselben gebildet werden, Gewalt ausgeübt wird, werden nachher alle möglichen sinnlichen, hyletischen Urimpressionen der Umwelt zu Anlässen, die die Ursituation des Gewaltausübens durch die wechselseitigen assoziativen Weckungen zwischen den Urimpressionen und den retentionalen Leergestalten der gesamten gewaltsamen Ursituation immer wieder lebendig werden lassen. Sogar beim Erwachsenen, dem jederzeit das Eingreifen der Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität möglich ist, entsteht durch die voraffektiv-assoziative Weckung die gewaltsame Ursituation unweigerlich immer wieder. Das gelebte Paradox der Simultaneität der allzeitlichen Vorkonstitution bewegt sich in einem anderen Bereich als in dem des vorgestellten Paradoxes. Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 68 ff. sowie auch T. Fuchs, Zur Phänomenologie des Schweigens. 57 Zum Begriff der Ursynästhesie des Kleinkindes vor der Bildung der einzelnen Empfindungsfelder vgl. unten, S. 264 ff. 56

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Voraffektion und Affektion in der intermonadischen Zeitigung

Das Paradox der Formulierung, »dass die Erfahrung nachträglich einen Sinn bekommt, den sie nicht vorweg schon hat« 58, ist, genetisch gesehen, ein sekundäres Paradox, dem das urtümliche, erste Paradox der Simultaneität der wechselseitigen Weckung vorausgeht. Das Ereignis, der Anfang des Traumas, besteht bereits im vorkonstituierten Sinngehalt der Phasengehalte, die durch urtümliche intermonadische Zeitigung der Triebintentionalität die Ursynästhesie des Kleinkindes durchdrungen haben. Immer wenn das Trauma nachträglich erlebt wird, wird die im urtümlichen Paradox der Zeitigung durchlebte sinnhafte Vorkonstitution durch den Blick des Reflexionsakts mit der Zeitverschiebung der aktiven Intentionalität vergegenständlicht und konstituiert. 59 Das gelebte Paradox geht dem vorgestellten Paradox voraus.

B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 327. Er bezieht sich auf Freuds Analyse »der infantilen Neurose des Wolfsmannes, daß das traumatische Ereignis seine Bedeutung einem nachträglichen Verständnis verdankt und daß dieses sich seinerseits auf nachträgliche Wirkungen stützt« (ebd.). 59 Über das Verhältnis zwischen der Vorkonstitution und der Konstitution hinsichtlich der Wesensanschauung sagt Husserl deutlich: »Erst in dieser fortlaufenden Deckung [der passiven Synthesis] kongruiert ein Selbiges, das nun rein für sich herausgeschaut werden kann. Das heißt, es ist als solches passiv vorkonstituiert, und die Erschauung des Eidos beruht in der aktiven schauenden Erfassung des so Vorkonstituierten […]« (Erfahrung und Urteil, S. 414). 58

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Kapitel III. Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins und die Orientierung der Neurophänomenologie

Die von B. Libet entdeckte Bedingung für das Entstehen des Bewusstseins, nämlich dass es für das Bewusstsein von etwas die Zeitdauer von 0,5 Sekunden der unbewussten neuronalen Aktivität im Gehirn braucht, verursacht verschiedene philosophische Unruhen sowohl in Bezug auf die theoretische als auch in Bezug auf die praktische Vernunft. Die auf der Evidenz des Bewusstseins beruhende Philosophie der theoretischen und praktischen Vernunft stößt auf die entscheidende Frage nach der Grenzziehung zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, anders gesagt, auf die Frage nach der Möglichkeit der »Philosophie des Unbewusstseins«. Aber diese Entdeckung hat nicht nur die Frage nach der Philosophie des Unbewussten geweckt, sondern die Tragweite der apodiktischen Evidenz des retentionalen Zeitbewusstseins selbst auf dringliche Weise zur Diskussion gestellt, da, wenn jedes Bewusstsein erst nach der Zeitdauer von 0,5 Sekunden als evident bewusst werden kann, solche Evidenz des Bewusstseins nichts anderes sein kann als das Endergebnis einer, nach Libet, unbewussten neuronalen Aktivität im Gehirn, also etwas, das nicht auf dem Bewusstsein selbst, sondern auf einem realen Prozess gründet. Muss die apodiktische Evidenz der Retention, die der letzte Grund der Konstitution des Zeitbewusstseins in der Phänomenologie sein soll, ihren tiefer liegenden realen Grund hinnehmen und somit den Status des letzten Grundes der Bewährung verlieren? Die Phänomenologie hat ihren Standpunkt zwar in der Evidenz des Bewusstseins, aber sie erweitert ihre Forschungsfelder, wo die apodiktische Evidenz des Bewusstseins selbst ihre Herkunft in der unbewussten, vorprädikativen, vorreflexiven und assoziativen Synthesis der passiven Genesis hat. Die somit begründete neue Evidenz der unbewussten passiven Synthesis ermöglicht es, die unbewusste Zeitdauer von 0,5 Sekunden der neuronalen Aktivität nicht real-kausal, sondern im Lichte des Begriffs der Motivation des Lebens inten118 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden

tional zu verstehen. Die verengte Auffassung Libets, den Zeitpunkt der bewussten Freiheit der praktischen Vernunft in der vorangehenden unbewussten, realen Kausalität auf der objektiven Zeitachse zu verorten, wird in der Phänomenologie durch die Einsicht der passiven Synthesis in eine andere Dimension der lebendigen, urtümlichen Zeitigung integriert, wo der Gegensatz zwischen der bewussten Freiheit und der natürlich bewusst untersuchten Kausalität der Natur unterlaufen und überwunden wird. Durch eine solche Beweisführung wird ein neuer Forschungsbereich eröffnet, in dem eine Zusammenarbeit von Phänomenologie und Neurowissenschaft, wie beispielsweise in der Neurophänomenologie F. Varelas, ermöglicht wird.

1.

Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden

Zunächst müssen wir uns Libets Entdeckung zuwenden. Seine wichtigste Entdeckung beinhaltet folgende Einsicht: Das Gehirn benötigt eine relativ lange Zeitdauer zur Aktivierung, nämlich bis zu eine halbe Sekunde, um das Bewusstsein eines Ereignisses auszulösen. 1 Das heißt, für das Bewusstsein eines bestimmten Sinnesempfindungsinhalts (z. B. einer Schmerzempfindung) ist es notwendig, dass die die Schmerzempfindung vorbereitende Aktivität im Gehirn in etwa eine halbe Sekunde dauert. Trotz dieser objektiven Zeitverzögerung wird uns eine Sinnesempfindung, z. B. ein Hautreiz, subjektiv unmittelbar, d. h. ohne eine solche zeitliche Verzögerung von 0,5 Sekunden, bewusst, da es nach Libets Hypothese eine subjektive »Rückdatierung« auf die etwa 0,05 Sekunden nach dem Impuls auf der Hirnrinde entstehende EP-Reaktion, d. h. auf den realen Beginn des Ereignisses, gibt. Diese Grundthese von Libet ist weiter unten kritisch im Einzelnen zu betrachten.

Vgl. B. Libet, Mind Time, S. 57: »Das Gehirn benötigt eine relativ lange Dauer geeigneter Aktivierungen, bis zu einer halben Sekunde, um ein Bewusstsein der Ereignisses auszulösen!«

1

119 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

§ 1. Verfahren und Endergebnisse dieser Entdeckung Diese Entdeckung wurde hauptsächlich aus folgenden experimentalen Forschungen abgeleitet: Die experimentale Beobachtung besagt, dass es einen Unterschied zwischen der elektrischen Reaktion des Kortex auf einen Hautreiz und einer Reizung der Gehirnrinde, die vor der notwendigen Operation ermöglicht wurde, gibt. Die Versuchsperson wurde gefragt, welche der beiden Empfindungen – die durch einen Hautreiz erzeugte oder die durch die Reizung der Gehirnrinde erzeugte Empfindung – zuerst auftrat. Sie berichtete, dass die Empfindungen, die an der Haut generiert wurden, vor der kortikal induzierten Empfindung erschienen und dass die beiden Empfindungen fast gleichzeitig auftraten, wenn der Hautimpuls etwa 0,5 Sekunden verzögert wurde. 2 Also erschien die Empfindung des Hautreizes, auch der Reize an Thalamus und Lemniscus, 0,5 Sekunden früher als die Empfindung der Reizung der Gehirnrinde. 1)

Die subjektive Rückdatierung zum Zeitpunkt der EP-Reaktion

Aufgrund der oben genannten Beobachtungen erklärt Libet, warum der Hautimpuls, der durch sensorische Bahnen weitergeleitet wird, trotz der Verzögerung von 0,5 Sekunden im Gehirn subjektiv so datiert zu werden scheint, als ob es eine solche Verzögerung nicht gäbe. Er stellt die Hypothese auf, dass es »eine subjektive Rückdatierung des Zeitpunktes dieses Erlebnisses, und zwar zurück zum Zeitpunkt der primären EP-Reaktion« in der Gehirnrinde gibt. 3 Die primäre EPReaktion in der Hirnrinde entsteht innerhalb von 50 Millisekunden, also subjektiv unmittelbar bewusst, zwar nur durch den Hautimpuls und jeden einzelnen Reizimpuls »in einer 500 ms dauernden Impulsfolge im Lemniscus medialis« 4, aber nicht durch die direkten Reize auf der Oberfläche des sensorischen Kortex selbst. Also entscheidet sich die Differenz von 0,5 Sekunden zwischen den beiden Impulsen daran, ob es ein Geschehen der EP-Reaktion gibt oder nicht.

2 3 4

Vgl. a. a. O., S. 102. A. a. O., S. 105.««. Ebd.

120 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden

2)

Das Bewusstsein als formale Funktion bei Libet

Dabei sind Libets Hinweise auf seine strenge Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein als formaler Funktion, die von allen Bewusstseinsinhalten unabhängig funktionieren kann, und der Funktion der Erinnerung, die nach Libet mit der Rückdatierung des Erlebnisses zum Zeitpunkt der primären EP-Reaktion überhaupt nichts zu tun habe, sehr wichtig. Libet hat die Rolle der Erinnerung, zunächst der expliziten Gedächtnisbildung, dadurch zurückgewiesen, dass eine Person mit einem beidseitigen Verlust des Hippocampus, der neue explizite Gedächtnisinhalte bildet, die Fähigkeit des Bewusstseins sowohl von der unmittelbaren Gegenwart als auch von sich selbst behält. Auch das implizite Gedächtnis kann für den Erwerb von körperlichen und intellektuellen Fertigkeit durch Lernen eine wichtige Rolle spielen, aber nicht für die Erzeugung von Bewusstsein, weil es kein Bewusstsein gibt, das mit dem impliziten Gedächtnis, also eben dem unbewussten Gedächtnis, verbunden wäre. 5 Somit hat das Bewusstsein mit der Gedächtnisbildung nichts zu tun, und das führt uns zur zweiten Hypothese, »dass Bewusstsein das emergente Resultat geeigneter neuronaler Aktivitäten ist, wenn diese eine Mindestdauer von bis zu 0,5 Sek haben« 6.

§ 2. Kritische Fragen bezüglich Libets Interpretation der Daten Trotz aller bestätigenden und überzeugenden Berichte über die Tatsache der Verzögerung des Bewusstwerdens, die von mehreren Forschern der Neurowissenschaft international nachgeprüft und bestätigt worden ist, erheben sich ein paar wichtige, auf die theoretische Begründung bezogene Fragen: 1)

Die fragwürdige Rückdatierung zum Zeitpunkt der EP-Reaktion

Zunächst stellt sich die Frage nach der Rückdatierung zum Zeitpunkt der primären EP-Reaktion, die das subjektive, unmittelbare und gleichzeitige Erlebnis der Hautimpulse ermöglichen soll. Die Frage ist, auf welche Weise solche Rückdatierung überhaupt möglich ist, 5 6

Vgl. a. a. O., S. 87 ff. A. a. O., S. 95.

121 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

wenn die primäre EP-Reaktion nicht im Gedächtnis behalten wird. Der Zeitpunkt, zu dem die primäre EP-Reaktion stattgefunden hat, ist objektiv gesehen bereits verschwunden, wenn sich die Rückdatierung 0,5 Sekunden später darauf beziehen will. Der objektiv gesehen bereits vergangene Zeitpunkt kann niemals zurückgeholt werden, wenn er nicht subjektiv im Gedächtnis erhalten bleibt. Wenn dieser Zeitpunkt auf der objektiven Zeitachse unabhängig von Vorher und Nachher, quasi überzeitlich im Sinne der Zeitlosigkeit der Mathematik und Logik gedacht wird und das Subjekt bzw. der Geist sich frei auf jeden Zeitpunkt dieser zeitlosen Zeitachse beziehen kann, gerät diese Denkweise schließlich in eine verfeinerte Art des Dualismus von Materie und Geist, obwohl Libet dies mit seiner Einsicht der Emergenz vermeiden will. 2)

Die problematische Trennung zwischen dem Bewusstsein und dem Gedächtnis

Libets scharfe Trennung zwischen dem Bewusstsein und dem Gedächtnis ist sehr problematisch, denn sie impliziert, dass das Bewusstsein bloß formal, unabhängig von dem Bewusstseinsinhalt, der ohne Mitwirkung des impliziten Gedächtnisses durch das Lernen körperlicher und intellektueller Fertigkeiten undenkbar ist, isoliert funktionieren könnte. Die Rolle des impliziten Gedächtnisses ist allein wegen der verengten Definition des Begriffs des Bewusstseins – das implizite Gedächtnis habe kein Bewusstsein 7 – allzu unterbewertet. Tatsächlich gibt es in der Neurowissenschaft die konträre Einsicht, dass die bewusste Wahrnehmung eines Objektes nur durch die wechselseitigen Wirkungen zwischen implizitem Gedächtnis der Vergangenheit und Sinnesempfindungen der Gegenwart, also zwischen »top down« vom Zentralnervensystem und »bottom up« von Empfindungsimpulsen, entstehen kann. 8 3)

Der Begriff »emergent«

Der Begriff »emergent« bei Libet ist genauer zu betrachten. Er sagt: »Es scheint keinen neuronalen Mechanismus zu geben, der als direkVgl. a. a. O., S. 89. Vgl. dazu z. B. V. S. Ramachandran und S. Blakeslee, Phantoms in the Brain, Kap. 5 und F. Varela, The Specious Present, S. 302 ff.

7 8

122 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Libets Entdeckung der Verzögerung von 0,5 Sekunden beim Bewusstwerden

ter Vermittler die Referenzleistungen erklären konnte.« 9 Also scheint die subjektive Datierung eine rein mentale Funktion ohne materiale Basis zu sein. Aber diese Behauptung bedeutet nach Libet keinen Dualismus im cartesianischen Sinne, weil sie keine separate oder unabhängige Existenz des physischen Gehirns und der mentalen Phänomene setzt. 10 Er nimmt wie Roger Sperry den Standpunkt des Monismus ein, dass geistige Aktivität aus dem physischen System, dem Gehirn, entsteht, und schlägt vor, »dass wir das bewusste subjektive Erleben so auffassen könnten, als ob es ein Feld wäre, das durch geeignete, aber vielfältige neuronale Aktivitäten des Gehirns erzeugt wird« 11. Seine Bestimmung des Feldes ist in mehreren Hinsichten sehr interessant. Das Feld ist »Vermittler zwischen den physischen Aktivitäten der Nervenzellen und dem Auftauchen von subjektivem Erleben«, »die Entität, in der eine einheitliche subjektive Erfahrung gegenwärtig ist«, »die kausale Fähigkeit, bestimmte neuronale Funktionen zu beeinflussen oder zu verändern«, »nur durch subjektive Erfahrung feststellbar« 12 usw. Später wird gezeigt, ob und wieweit diese Bestimmungen des Feldes der passiven Synthesis Husserls in mehreren Hinsichten entsprechen könnten. Die Erhellung dieser Entsprechung kann zeigen, dass die Hypothese der Rückdatierung zur EP-Reaktion anders als bei Libet interpretiert werden kann und muss. 4)

Die Rettung des freien Willens durch das bewusste Veto?

Libets Hypothese der subjektiven Rückdatierung, die die objektive Zeitachse als die unhinterfragte Grundvoraussetzung hat, erschwert eher seine Argumentation über die Möglichkeit des freien Willens. Um den Zeitpunkt auf der objektiven Zeitachse, zu dem vor der Ausführung der unbewusst bereits im Gehirn vorbestimmten Handlung die freie Entscheidung dafür getroffen werden kann, zu finden, untersucht er den Mechanismus der Entscheidung durch Experimente und findet den gesuchten Zeitpunkt. Seine dadurch ermöglichte Feststellung besagt, dass Versuchspersonen vor der Ausführung etwa für 0,1 bis 0,2 Sekunden den Prozess blockieren bzw. ein Veto einlegen könB. Libet, Mind Time, S. 117. Vgl. a. a. O., S. 118. 11 A. a. O., S. 212. 12 A. a. O., S. 212 f. 9

10

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III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

nen. Das ist aber natürlich ein bewusstes Veto. Dann taucht sofort die prinzipielle Frage auf, ob das bewusste Veto einen diesem bewussten Veto vorausgehenden unbewussten Ursprung in der Gehirnaktivität haben muss. 13 Libet antwortet darauf, dass er vorschlagen würde, »dass das bewusste Veto keine vorangehenden unbewussten Prozesse erfordern könnte oder das direkte Ergebnis solcher Prozesse wäre« 14. Aber dieser Vorschlag, der zunächst nur ein Vorschlag bleiben kann, behält natürlich die Offenheit für die weitere Überprüfung solcher Hypothesen. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass er selbst nicht weiß, dass er gerade wegen seiner Verhaftetheit in Bezug auf einen Zeitpunkt auf der objektiven Zeitachse eine Spur von Freiheit in dem verobjektivierten Zeitpunkt zu suchen gezwungen ist. Diese unreflektierte Grundvoraussetzung bei der Frage nach der Alternative zwischen dem kausal bestimmten Determinismus und dem freien Willen ist unten noch schärfer zu überprüfen. 5)

Die kausale Erklärung der Natur ohne Sinndifferenzierungen

Wesentlich problematischer ist die in gewissem Sinne totale Blindheit der Forschung der Naturwissenschaft, die darin besteht, dass die Naturwissenschaft sich nicht darauf besinnt, was sie eigentlich erforscht. Die Objekte der Naturforschung sind reale kausale Zusammenhänge der Natur. Was wir in der Sinngebung hinsichtlich der Zeit unter vergangen, jetzt, zukünftig, ewig, vergänglich usw., in Bezug auf den Raum unter oben, unten, rechts, links, eng, breit usw. verstehen, kann die Naturforschung überhaupt nicht klären. Es gibt solche Sinndifferenzierungen in der Welt der physikalischen Quantität überhaupt nicht. Wo fängt die Vergangenheit auf der Achse der objektiven Zeit an? Beginnt die Vergangenheit erst nach 0,1 Sekunden des jeweiligen Jetzt? Oder nach 0,01, 0,001, 0,0001 Sekunden usw.? Was für ein Unsinn sind solche Fragestellungen überhaupt! Vielmehr geht es natürlich um den Sinn der Zukunft, Schnelligkeit, Langsamkeit usw., also alle Sinngebungen, die in der Konstitutionsfrage nach den passiven und aktiven Intentionalitäten im Bereich der Phänomenologie untersucht werden. Die Möglichkeit der freien Entscheidung auf der Linie der objektiven Zeitachse zu suchen ist nichts anderes als ein großer Unsinn. 13 14

Vgl. a. a. O., S. 179. A. a. O., S. 187.

124 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

2.

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl und die phänomenologische Interpretation der libetschen Zeitverzögerung

Die Phänomenologie Husserls gehört zu einer Philosophie, die ihr Wahrheitskriterium auf die apodiktische Evidenz des inneren Bewusstseins gründet. In diesem Sinne sieht es zunächst so aus, als ob die Phänomenologie bei der Beschreibung und Reflexion der eigenen Erlebnisse und des Bewusstseins den philosophischen Standpunkt der ersten Person einnähme. Aber der Aspekt der ersten Person, der auch von Libet als »phänomenologischer« Ansatz beim Berichten der Versuchsperson von ihren eigenen Erlebnissen als methodisch notwendig betrachtet wird, und der Standpunkt der dritten Person der naturwissenschaftlichen Methode stehen in der Phänomenologie nicht einfach nebeneinander, wie es bei der Untersuchung Libets der Fall ist. In der Phänomenologie fundiert, methodisch gesehen, der Aspekt der ersten Person den der dritten Person. Das wird daran evident, dass die Herkunft der Differenz zwischen der ersten und dritten Person als solche im Bereich der apodiktischen und adäquaten Evidenz in der genetischen Phänomenologie erörtert werden kann. Hinsichtlich der Thematik des Zeitbewusstseins bedeutet das, dass die objektive Zeit, die – in der Form der Zeitachse ausgedrückt – bei der naturwissenschaftlichen Forschung vorausgesetzt und in der experimentellen Untersuchung angewandt wird, vom inneren Zeitbewusstsein durch die phänomenologische Reduktion schließlich nur intersubjektiv, d. h. durch die inter- oder zwischenmonadische Triebintentionalität konstituiert, erwiesen ist. Für diese intersubjektive Konstitution des objektiven Zeitbewusstseins spielt die Entdeckung der Selbstkonstitution des absoluten Bewusstseinsflusses und der dabei fungierenden Retention die entscheidende Rolle. Durch diese Entdeckung wurde der Bereich der Intentionalität des Bewusstseins erweitert, sodass das zunächst in den »Logischen Untersuchungen« »nicht intentional« genannte Erlebnis Empfindung oder Gefühl als passive Intentionalität ohne Beteiligung der Aktivität des Ichs entdeckt und weiter untersucht wurde. Die Retention als passive Intentionalität hat zwei Modalitäten, nämlich die bewusste und un- (bzw. vor-)bewusste Retention. Die bewusste Retention fungiert in der bewussten Empfindung und dem bewussten Gefühl. Sie ist aber das Resultat der unbewussten Retention, die als passive Synthesis der transzendentalen Gesetzmäßigkeit 125 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

der Assoziation und Affektion erhellt wird. Das Verhältnis zwischen beiden weiter zu erörtern ist eine wichtige Aufgabe.

§ 1. Die Evidenz der bewussten und unbewussten Retention Nun, durch die obige Einführung des Begriffs der unbewussten und bewussten Retention wird zunächst meine These gegenüber Libets Hypothese der Rückdatierung zur EP-Reaktion aufgestellt: Die Annahme der subjektiven Rückdatierung auf die primäre EP-Reaktion für die zeitliche Übereinstimmung mit den Ereignissen in der Außenwelt sollte durch das »Bewusst-Werden« der unbewusst fungierenden Retention ersetzt werden können. Das Bewusstsein von der Gleichzeitigkeit mit dem Ereignis trotz der Zeitverzögerung von 0,5 Sekunden kann durch den apodiktischen Begriff der unbewussten Retention als passive Synthesis ohne eine solche Annahme der Rückdatierung des Subjekts phänomenologisch begründet werden. Die in Frage stehende Möglichkeit der Freiheit ist in einer anderen Dimension anzusiedeln und zu begründen als in der des Gegensatzes zwischen Freiheit und Kausalität in der herkömmlichen Denkweise, von der Libets Versuch der Rettung der Freiheit abhängig bleibt, nämlich in der neuen Dimension der Intentionalität, der passiven Intentionalität der wechselseitigen Weckung der passiv-assoziativen Synthesis und der davon fundierten aktiven Intentionalität der aktiven Synthesis. Um diese These zu erhellen, gilt es, einige noch eingehendere Bemerkungen über die Zeitlehre Husserls auszuführen. Wichtig sind dabei der Begriff der Retention als passive Intentionalität, die Struktur der doppelten Intentionalität der Retention, die Unterscheidung zwischen der bewussten und unbewussten Retention und das Verhältnis zwischen den beiden. 1)

Die Retention als die implizierte Intentionalität

Die Retention wird gewöhnlich als »Akt-Intentionalität« bezeichnet, sollte aber genauer »aktive Intentionalität« in Abgrenzung zur »passiven Intentionalität« genannt werden. Sie ist bei der Sinnesempfindung, z. B. bei der akustischen Empfindung einer bestimmten Tondauer, am Werk. Diese Tondauer wird nicht durch ständige Reproduktion im Sinne Kants bzw. Erinnerung als Aktivität des Ichs, 126 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

geschweige denn durch die transzendentale Apperzeption des Ichs in eine Dauereinheit gebracht, sondern durch die ständige sedimentierende Implikation der Retention selbst. Diese besondere Dimension der Retention, die nach dem Schema von Auffassungsakt und Auffassungsinhalt auf der Ebene der aktiven Intentionalität nicht verstehbar ist, muss richtig verstanden werden. 15 2)

Die Selbstkonstitution des Bewusstseinsflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention

Die Entdeckung der Retention bedeutet gleichzeitig die der paradoxen Selbstkonstitution des absoluten, zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses. Diese Selbstkonstitution des Bewusstseinsflusses wird als die Selbstkonstitution durch die doppelte Intentionalität der Retention, nämlich die vertikal dargestellte Querintentionalität und die horizontal gezeichnete Längsintentionalität der Retention analysiert und erörtert. Impressionen von Tondaten beispielsweise werden durch »Deckung der verbindenden Wesensgleichheit« des Tones (Hua X, 93) in der vertikal gezeichneten Querintentionalität der Retention als die Vereinheitlichung der Abschattungsmannigfaltigkeiten schichtweise sedimentiert retiniert. Diese Deckung der Zeitinhalte in der Querintentionalität ist eine Selbst-Erscheinung des Bewusstseinsflusses selbst, die sich ohne Vermittlung der transzendentalen Apperzeption des Ichs (d. h. nämlich »passiv«, ohne Ichbeteiligung) durch die sedimentierende Deckung der Retention selbst als immanentes Zeitbewusstsein, auf der Längsintentionalität der Retention objektiviert, erscheint. Die Selbstdeckung, aber nicht die der Zeitinhalte in der Querintentionalität, sondern die des Bewusstseinsflusses selbst, wird als »eine eindimensionale quasi-zeitliche Ordnung« (Hua X, 82) in der horizontal bezeichneten »Längsintentionalität« der Retention dargestellt. Die in der Querintentionalität sedimentierten Zeitinhalte werden als Reihe von Jetzt-Punkten durch das Blicken auf die Zeitinhalte gleichzeitig in der Längsintentionalität im inneren Zeitbewusstsein verobjektiviert.

Zur genaueren Bestimmung der Retention, vor allem hinsichtlich der prinzipiellen Schwierigkeit, die Retention im Rahmen des Denkschemas Auffassungsakt und Auffassungsinhalt zu verstehen, vgl. I. Yamaguchi, Die Frage nach dem Paradox der Zeit, S. 26 ff.

15

127 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

3)

Der Zeitinhalt aus der Deckung der passiv-assoziativen Synthesis

Die Zeitinhalte in der Querintentionalität der Retention entstehen durch die Deckung zwischen der Urimpression und der daran unmittelbar anschließenden Retention. Diese Art und Weise der Deckung wird später als Assoziation bezeichnet, die aber nicht, im empirischnaturalisierten Sinne Humes, etwas der Gravitation Analoges, sondern »alles in einem wirklich schauend vollzogenen Motivationszusammenhang« (Hua XVI, 178) der phänomenologischen und wesensgesetzlichen Befunde bedeutet. Diese Assoziation wird in den 20er-Jahren in den »Analysen zur passiven Synthesis« ausführlicher analysiert. In den C-Manuskripten der 30er-Jahre findet man diese assoziative Synthesis in der simultanen inhaltlichen Verschmelzung zwischen Urimpression und Urretention: »[K]onkretes inhaltliches Kontinuum, eine Einheit der Verschmelzung verbindet in stetiger Vermittlung das momentan Urimpressionale mit den momentanen retentionalen und kontinuierlich verschiedenstufigen Abwandlungen der früheren Impressionen.« 16 4)

Die Assoziation als die wechselseitige Weckung

Dabei zeigt sich die Assoziation als die wechselseitige Weckung zwischen dem »Sinngehalt« der Impression, der nicht von Anfang an bestimmt bewusst empfunden wird, und dem bereits unbewusst Retinierten deutlich. So wird diese Art und Weise des Blickens auf die unbewusst retinierten Zeitinhalte in der Querintentionalität geklärt. Solche Beispiele habe ich bereits an verschiedenen Stellen gezeigt. 17 Hierbei ist bereits die unbewusste Retention am Werk. Außerdem kann die besonders starke affektive Kraft des schmerzendes Tones im Fall einer nicht bewusst gehörten Melodie ihre Kraft nur durch die Kontrastierung bzw. Vergleichung zwischen den unbewusst, unaffektiv und unaufmerksam retinierten vorangegangenen Teilen der E. Husserl, C 3 VI, S. 10, Hervorhebung vom Verfasser. Zum Begriff der Simultaneität vgl. ferner: »Das ist so zu verstehen: Der Übergang von Urimpression in Urimpression besagt in Wahrheit, dass die neue mit der unmittelbar retentionalen Wandlung der früheren sich simultan einigt […]; also eine inhaltliche Urverschmelzung findet statt zwischen Impression und der unmittelbaren Urretention in der Simultaneität beider« (C 3 VI, S. 75a f.). 17 Siehe oben, S. 112 f. 16

128 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

Melodie, die ja überhaupt nicht bewusst gehört wurden, und dem gerade auftretenden, affektiv motivierenden Ton gewinnen. Husserl sagt dazu: »Die Motivationskausalität ist dabei völlig evident. Die Besonderheit des Tones hat mich aufmerksam gemacht« (Hua XI, 155). Die hier genannte »Motivationskausalität« meint die »assoziative Motivation«, die in mehreren Texten in den 20er-Jahren vorkommt. 5)

Die Wirkung der unbewussten Ähnlichkeiten und Kontraste

Wie Beispiele für die assoziative Motivation, etwa das plötzliche Auftauchen einer bestimmten Vorstellung im Alltag, gezeigt haben, ist es sehr wichtig zu sehen, dass das assoziativ Bewusste immer ein Endergebnis des Prozesses der unbewusst wirkenden assoziativen Synthesis ist. Dieser Prozess der assoziativ-passiven Synthesis selbst wird, z. B. bei der visuellen Wahrnehmung einer Stoßbewegung zweier Kugeln, nicht in die Anschauung des Bewusstseins gebracht. Die Gesetzmäßigkeit der assoziativen Synthesis, die der Ähnlichkeit und des Kontrastes, bezieht sich nicht auf anschaulich vorgestellte Ähnlichkeiten und Kontraste, die nachträglich durch die abstrahierende Reflexion des Denkens ins Bewusstsein gebracht werden. Die Wirkung dieser unbewussten Ähnlichkeiten und Kontraste wird in den folgenden Beispielen des plötzlichen Auftretens einer Änderung der Sinnesempfindungen deutlich gezeigt. Es gibt solche Fälle, in denen man nach dem langen Lesen eines Buchs plötzlich merkt, dass es im Zimmer dunkel und an den Füßen kalt geworden ist. Das Interesse beim Lesen ist meistens auf den Inhalt des Buches und nicht auf die Lichtverhältnisse oder die Lufttemperatur des Zimmers gerichtet. In dieser Situation ist es entscheidend, dass das plötzliche Bemerken der Differenz der Lichtverhältnisse und der Lufttemperatur erst möglich wird, wenn die vorangehenden, unbewusst retinierten und die jetzt gegenwärtigen Licht- und Temperaturverhältnisse unbewusst verglichen bzw. gegenübergestellt werden können. Das heißt, ohne die vorangehende unbewusste Retention ist jedes plötzliche Bemerken der Änderung der Sinnesempfindungen nicht möglich. 6)

Die Evidenz der unbewusst vorangehenden Retention der Sinnesempfindungen

Das zweite Beispiel, das bereits oben in der Einleitung genannt wurde, bezieht sich auf den Unterschied zwischen den Kinästhesen einer 129 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

unwillentlichen und einer willentlichen Bewegung, was in Bezug auf den Kontext der Lehre von B. Libet ausführlicher dargestellt werden soll. Bei der Kinästhese der unwillentlichen Bewegung, z. B. der Kinästhese des eigenen Körpers beim Notbremsen eines Zuges, ist die zeitliche Reihenfolge erstens der unbewussten Bewegung und zweitens des Bewusstseins von derselben Bewegung unbezweifelbar evident. Hier taucht aber eine wichtige Frage auf: Auf welche Weise wird diese Evidenz, nämlich dass die unbewusste Bewegung des Körpers dem Bewusstsein ebendieser Bewegung vorangeht, ermöglicht? Beim Bremsen des Zuges war meine bewusste Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt, wie z. B. den Textinhalt eines Buches, oder auf einen bestimmten Denkinhalt gerichtet, aber gerade nicht auf die Köperbewegung. Meine Aufmerksamkeit auf das bestimmte Objekt wurde zerrissen. Bevor ich von der Bewegung des Körpers wusste, hatte ich ohne bewusste Aufmerksamkeit darauf das Ereignis der Bewegung bereits unbewusst wahrgenommen und behalten. Sonst wäre das Bewusstsein von der Reihenfolge der Ereignisse, nämlich erst die Bewegung, dann das Bewusstsein von ihr, nicht möglich. Noch einmal ist zu betonen, dass die erste Bewegung nicht bewusst war und dass das unbewusste Behalten, d. h. die unbewusste Retention dieser Bewegung, dem Bewusstsein von ebendieser Bewegung vorangehen muss. Also muss die unbewusste Retention der Bewegung vorangehen und dann das Bewusstsein von ihr folgen. Wenn man diese Reihenfolge nicht bewusst haben kann, kann man in der Gesellschaft die Verantwortung für eine freie, bewusste Bewegung, deren zeitliche Reihenfolge erst Bewusstsein, dann Bewegung oder das subjektiv gleichzeitig empfundene Geschehen von beiden beinhaltet, nicht übernehmen. Im Fall der unwillentlichen Bewegung ist es klar, dass das notwendig und absolut evidente Vorangehen der unbewussten Bewegung nur durch die unbewusste Retention derselben Bewegung ins Bewusstsein gebracht werden kann. Interessant ist auch, dass das plötzliche Bemerken der Bewegung erst dann möglich wird, wenn die unbewusste »Null-Kinästhese« beim Stehen und auch die unbewusst retinierte Kinästhese der Bewegung in unbewusstem Kontrast stehen. Das unbewusste Vorangehen der unbewusst retinierten Bewegung ist absolut evident. Aber die Evidenz der unbewussten Retention betrifft nicht nur den Fall der unwillentlichen Bewegung, sondern alle Sinnesempfindungen. Die unbewusste Retention aller Sinnesempfindungen geht immer voraus, dann erst wird sie zum Bewusstsein davon gebracht. 130 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

7)

Das Aufmerksam-Werden

Beim allgemeinen Aufmerksam-Werden auf bestimmte Sinnesfelder ist die Rolle der unbewussten Retention entscheidend. Wenn jemand auf eine bestimmte Änderung bestimmter Sinnesempfindungen aufmerksam wird, z. B. auf eine plötzliche Stille im Zimmer, eine plötzliche Dunkelheit wegen eines Stromausfalls oder einen plötzlich bemerkbaren unangenehmen Gasgeruch, wird dabei immer der Kontrast zwischen dem zuvor unbewusst Retinierten bestimmter Sinnesfelder und der noch nicht bewussten, neu gekommenen Sinnesempfindung notwendig vorausgesetzt. Das affektive Werden bestimmter Sinnesempfindungen steht unter der Gesetzmäßigkeit der Urassoziation der Koexistenz der Sinnesfelder. Die oben genannte simultane und inhaltliche Verschmelzung zwischen Urimpression und Retention in den Sinnesfeldern wird als wechselseitige Weckung zwischen der Impression des Jetzt und dem Retinierten der Vergangenheit aufgezeigt. 8)

Das Vorangehen der unbewussten Retention

Also ist das Verhältnis zwischen der bewussten und der unbewussten Retention auf folgende Weise zu bestimmen: Bei der obigen Beschreibung des Aufmerksam-Werdens auf bestimmte Sinnesfelder wird gezeigt, dass die unbewusste Retention, die als die wechselseitige assoziative Weckung zwischen den leeren Gestalten der Vergangenheit und der Impression der Gegenwart fungiert, der bewussten Retention, d. h. der bewussten Empfindung, vorangeht und dass Letztere die Erstere voraussetzt. Aufgemerkt werden und bewusst werden kann nur ein bestimmter Teil des unbewusst Retinierten im gesamten Hintergrund des Unbewussten. Dieses Aufmerksam-Werden wird als das Phänomen der Affektion von Husserl thematisiert. Als die mehrere Affektionen vereinheitlichende Uraffektion wird die Triebintentionalität erörtert, die schließlich das Paradox des Zeitflusses transzendental und intermonadisch erklärbar macht.

131 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

§ 2. Die unbewusste Retention statt der subjektiven Rückdatierung zur EP-Reaktion Mit dieser ausführlichen Beschreibung der unbewussten Retention ist es jetzt möglich, die Behauptung, dass die subjektive Rückdatierung zur EP-Reaktion durch die unbewusste Retention ersetzt werden kann, zu begründen. 1)

Die apodiktische Evidenz der unbewussten Retention

Durch die Einführung der unbewussten Retention der wechselseitigen, assoziativen Weckung wird es möglich, Libets Entdeckung der Zeitdauer von 0,5 Sekunden für das Entstehen des Bewusstseins positiv aufzunehmen und gleichzeitig seine Hypothese der subjektiven Rückdatierung zur EP-Reaktion für die Evidenz des gleichzeitigen Erlebnisses der Ereignisse in der Außenwelt zurückzuweisen und dieses Erlebnis phänomenologisch mit der apodiktischen Evidenz der unbewussten Retention zu begründen. Die Zeitdauer von 0,5 Sekunden ist in der Phänomenologie als die Zeitdauer aufzufassen, in der die Zeitinhalte durch die unbewusste wechselseitige Weckung, anders gesagt, durch simultane Verschmelzung zwischen den Leergestalten oder Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont und den Impressionen der Gegenwart, deren Sinngehalt noch nicht bewusst ist, unbewusst retiniert, vorkonstituiert werden. 18 Aber diese Auffassung bedeutet keineswegs eine bloße Bestätigung dessen, dass das Bewusstsein, wie Libet es versteht, bloß als eine formale Bedingung der Zeitdauer von 0,5 Sekunden, d. h. überhaupt unabhängig von den Zeitinhalten bzw. den Bewusstseinsinhalten gedacht werden kann. Gerade wegen der schroffen Trennung von Form und Inhalt des Bewusstseins bei Libet, die in der Phänomenologie auf der Ebene sowohl der passiven als auch der aktiven Intentionalität des Bewusstseins als prinzipiell unakzeptabel zurückgewiesen wird, gerät er zu seiner Hypothese, dass die Rückdatierung bloß formal, unabhängig von den Bewusstseinsinhalten möglich ist. Die phänomenologische Auffassung der Zeitdauer von 0,5 Sekunden beinhaltet, dass das Bewusstsein niemals ohne das implizite Gedächtnis – phänomenologisch gesagt: ohne implizite Leergestalten Zum Begriff »Vorkonstituieren« und »Vorkonstitution« vgl. die folgenden Textstellen: Hua XXXI, 41, 44 f., 70, 77 f. u. a.

18

132 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

oder Leervorstellung der Bewusstseinsinhalte im Vergangenheitshorizont – zum Bewusstsein werden kann. 19 2)

Das Zeit-Diagramm mit den Schichtenstrukturen der affektiven Kräfte

Diese Trennung zwischen Form und Inhalt des Bewusstseins hängt, wie oben kurz erwähnt, eng mit Libets Hypothese der Rückdatierung auf die EP-Reaktion zusammen. Die EP-Reaktion ist bereits vor 0,5 Sekunden vorübergegangen, verschwunden und bleibt nach Libet auch nicht im Kurzzeitgedächtnis. Die Rückdatierung mit der bloßen formalen Eigenschaft ist nur überzeitlich bzw. unzeitlich im mathematisch-logischen Sinne möglich, da der wirkliche objektive Zeitfluss nicht umkehrbar vergeht. 20 Statt den ungeheuerlichen Anspruch an das Subjekt zu stellen, zur bereits verschwundenen EP-Reaktion durch den objektiven Zeitfluss, quasi in einer Zeitmaschine, zurückzufliegen, ist das gleichzeitige Erlebnis der Ereignisse mit dieser Zeitverzögerung von 0,5 Sekunden durch die phänomenologische Analyse der unbewussten Retention auf evidente Weise erklärbar. Es kann angenommen werden, dass die inhaltliche Verschmelzung zwischen der Impression und den Leergestalten oder der Leervorstellung 0,5 Sekunden dauert. Wenn z. B. Tonempfindungen T1, T2, T3 und T4 nacheinander (aber nicht auf der objektiv vorausgesetzten Zeitachse) innerhalb von 0,5 Sekunden unbewusst gegeben sind, werden die unbewussten Zeitstellen des inneren Zeitbewusstseins auf folgende Weise vorkonstituiert: Zunächst wird T1 durch die wechselseitige Weckung zwischen der Leergestalt von T1 (L-T1) und der Impression „T1“ (das Zeichen „ “ deutet den Status von T1 vor der inhaltlichen Verschmelzung an) mit der bestimmten affektiven Kraft (A-T1) in der Zeitstelle T1 vorkonstituiert, dann wird T1 in der Zeitstelle T2 unbewusst retiniert, und gleichzeitig wird durch die nächste Für die Erfüllung der Intention des Bewusstseins, die Anschauung genannt wird, bedeutet der Begriff der Leergestalt ihre Grundbedingung: »Genetisch gehen aller Art Anschauung, aller wahrnehmungsmäßigen Konstitution von Gegenständlichkeiten in allen Erscheinungsmodis Leergestalten vorher« (Hua XI, 326). 20 Zur »Irreversibilität« der Zeit in der Physik, die das herkömmliche Denkschema der »Reversibilität« der physikalischen Zeit überwunden hat, die das überzeitliche Fliegen des freien Geistes über die objektive Zeitachse zu ermöglichen glauben lässt, vgl. I. Prigogine, Vom Sein zum Werden, Kap. X. 19

133 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

wechselseitige Weckung zwischen diesem retinierten T1 (R-T1) und der Impression „T2“ (T2 vor der inhaltlichen Verschmelzung) T2 vorkonstituiert. Dabei ist die affektive Kraft von T2 (A-T2) graduell stärker als die affektive Kraft (A-T1) vom bereits retinierten T1 (R-T1). Auf diese Weise, wie in der unteren Skizze dargestellt, werden R4-T1, R3-T2, R2-T3, R-T4 und T5 von unten schichtweise auf der Querintentionalität der unbewussten Retention sedimentiert. Dieser Schichtenstruktur entspricht die Gradualität der affektiven Kräften von A-R4-T1, A-R3-T2, A-R2-T3, A-R-T4 und A-T5 (»mit den affektiven Kräften« durch „m.A-R4-T1, m.A-R3-T2, m.A-R2-T3, m.A-R-T4 und m.A-T5“ ausgedrückt). „T1“ T1 T1 (L-T1)

„T2“ T2 R-T1

„T3“ T3 R-T2 R2-T1

„T4“ T4 R-T3 R2-T2 R3-T1

„T5“ T5 m.A-T5 R-T4 m.A-R-T4 R2-T3 m.A-R2-T3 R3-T2 m.A-R3-T2 R4-T1 m.A-R4-T1

Wenn dieses unbewusst Retinierte der Tonreihe von T1 bis T4 unter der Gesetzmäßigkeit der affektiven Aufmerksamkeit, die die Zuwendung des Bewusstseinslebens weckt, ins Bewusstsein gebracht wird, wird die unbewusst vorkonstituierte Reihenfolge von T1 bis T4 auf der Querintentionalität zu der horizontalen Längsintentionalität der Retention durch den Blick des Urbewusstseins objektiviert und bewusst. 21 Also wird die genaue Reihenfolge der Ereignisse innerhalb von 0,5 Sekunden (T1, T2, T3, T4 und T5) inhaltlich durch passive Synthesis der Assoziation der wechselseitigen Weckung vorkonstituiert, unbewusst retiniert und nach 0,5 Sekunden, wenn sie ausreichend motivierende Kraft der Affektion auf das Bewusstseinsleben der Monade hat, ins Bewusstsein gebracht. Die nun bewusste Retention gibt die genaue Reihenfolge des unbewusst Retinierten wieder. 3)

Die Grenze der formalen Betrachtung des Bewusstseins

Wenn die subjektive Rückdatierung auf die EP-Reaktion als Resultat der »Emergenz« neuronaler Aktivitäten aufgefasst wird, ist der jeweilige Bewusstseinsinhalt, der als von der formalen Bestimmung 21

Zum Begriff des Urbewusstseins vgl. oben, S. 45.

134 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die unbewusst fungierende Retention bei Husserl

des Bewusstseins im Sinne Libets unabhängig gedacht wird, nur durch den neuronalen Zusammenhang der unbewussten neuronalen Aktivitäten her zu bestimmen. Dann muss hierbei Libets Bestimmung dieser neuronalen Aktivität als »geistige Funktion« 22 inhaltlich genau überprüft werden. Wenn er diese geistige Funktion innerhalb von 0,5 Sekunden im Unbewusstsein mit verschiedenen Beispielen wie der unbewusst durchgeführten Leistung eines Spitzensportlers, der unbewusst entstandenen Kreativität eines Künstlers, der unbewusst erreichten Entdeckung eines Wissenschaftlers erklärt, ist diese Erklärung ohne Bezug zu verschiedenen voll bewussten Zielsetzungen der jeweiligen mentalen Aktivitäten überhaupt nicht ausreichend. Wenn beispielsweise ein Baseballspieler einen Ball mit 145 km/h schlagen will, der ihn schon vor 450 Millisekunden, also 0,45 Sekunden, erreicht hat, kann er ihn nur unbewusst richtig schlagen, weil der Ball innerhalb von 0,5 Sekunden der Sinnesempfindung des Spielers unbewusst bereits vom Ballfänger (Catcher) gefangen wurde. 23 Die hierbei auftauchende, auf die Möglichkeit der freien Entscheidung bezogene Frage lautet, ob diese unbewusste geistige Aktivität wegen einer bloß formalen Bedingung des Bewusstseins, nämlich der Zeitverzögerung von 0,5 Sekunden, als unbewusst vor der bewussten freien Entscheidung des Schlagens bezeichnet und als unbewusste neuronale Determiniertheit vor der bewussten freien Entscheidung aufgefasst werden muss. Unter dieser Voraussetzung der formal-zeitlichen Bedingung des Bewusstseins versucht Libet, die Freiheit vor dem neuronalen Determinismus zu retten, indem er den Zeitpunkt für das Veto der Durchführung der neuronal determinierten Aktivität in der objektiven Zeitachse bestätigt. Die rein formale Betrachtung des Bewusstseins, die den Inhalt von der unbewussten »geistigen« neuronalen Aktivität abstrahiert, erschwert es, die Dimension der Freiheit zu eröffnen. Die herkömmliche Denkweise, den Zeitpunkt der freien Entscheidung auf der objektiven Zeitachse zu suchen, geht auf Aristoteles’ Gedanken eines »ersten Bewegers« zurück. Auch bei Kant wird die Freiheit als der Naturkausalität, die das Vorher, Nachher und Jetzt auf der objektiven Zeitachse voraussetzt, gegenübergestellt gedacht.

22 23

B. Libet, Mind Time, S. 122 f. Vgl. a. a. O., S. 144 f.

135 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

4)

Die passive Synthesis vor der Spaltung zwischen der bewussten Freiheit und der unbewussten Kausalität

Im Gegensatz zu Libets Hypothese des Zeitpunktes des Vetos auf der objektiven Zeitachse ermöglicht die phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins, die Freiheit mit der Kenntnis der Zeitverzögerung von 0,5 Sekunden durch die unbewusste Retention der passiven Synthesis zu begründen. Die oben genannte unbewusste geistige Aktivität beinhaltet das passiv-assoziativ, unbewusst Vorkonstituierte. Die assoziative Synthesis wird natürlich nicht wie bei Hume kausal-naturalisiert gedacht, sondern ist unter der Gesetzmäßigkeit der simultanen wechselseitigen Weckung zwischen der Impression der Umgebung und der Leergestalt oder Leervorstellung der Monade zu verstehen. Sie gehört weder zur Naturkausalität noch zur bewussten Freiheit, die in einen Gegensatz zur Kausalität gestellt wird. Die passiv-assoziative Synthesis, die die neuronale Aktivität von 0,5 Sekunden beinhaltet, unterläuft den Gegensatz zwischen der bewussten Freiheit und der unbewussten Kausalität. 5)

Die freie Handlung aufgrund der impliziten Intentionalität des leiblichen Gedächtnisses

Die Freiheit der bewussten freien Entscheidung im Sinne der aktiven Intentionalität mit Ich-Aktivität braucht die unbewusste Zeitdauer von 0,5 Sekunden der passiven Synthesis. In diesem Sinne geht die unbewusste Passivität der bewussten Aktivität voraus. Aber beim Erwachsenen (das Kleinkind lebt vor der Bildung des Ich-Pols und der Ich-Aktivität noch rein in der passiven Synthesis) ist die Aktivität bereits in der vorausgehenden unbewussten passiven Synthesis implizit am Werk. Das heißt, jede bewusste Aktivität wandelt sich in die Modalität der unbewussten Passivität durch den Prozess der Retention und sedimentiert sich im Vergangenheitshorizont. Es ist offenkundig, dass der oben genannte Baseballspieler ohne bewusste Aktivität wiederholter Übung und bewusste Motivation durch eine bestimmte Zielsetzung niemals die unbewusste Fähigkeit, den Ball innerhalb von 0,5 Sekunden zu schlagen, ausbilden kann. Also kann die unbewusste Fähigkeit, die unbewusste geistige Leistung innerhalb von 0,5 Sekunden, nur als implizite Intentionalität des leiblichen Gedächtnisses ihre Leistung erbringen. Das spielt auch beim Ausführen einer ethischen Handlung der Tugend eine entscheidende 136 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

Rolle, denn die Freiheit ohne diesen Hintergrund kann nicht zur Freiheit werden. 6)

Die Herkunft der aktiven Intentionalität

Woher kommt aber diese bewusste Aktivität bzw. Motivation selbst? In der Auffassung der genetischen Phänomenologie Husserls wird die aktive Intentionalität, die als Potenzialität der Erbanlage der Monade implizit gegeben ist, von dem passiv Vorkonstituierten affiziert und geweckt, und somit hat sie ihre eigene Herkunft. Aber ohne diese weckende Affektion des passiv Vorkonstituierten kann die Aktivität niemals aktuell werden. Daher kann die Freiheit als aktive, von der Passivität fundierte Intentionalität nicht auf die Freiheit im Sinne des cogito des cartesianischen Dualismus reduziert werden. Andererseits bedeutet das Vorangehen der unbewussten passiven Intentionalität, wie schon oft gesagt, keinen kausalen Determinismus, vielmehr wird etwas nach 0,5 Sekunden ins Bewusstsein gebracht und als das Affizierende zum Erkenntnisgegenstand für aktive Intentionalitäten. Die Zeitverzögerung von 0,5 Sekunden spielt hierbei keine Rolle, weil jede bewusste Aktivität der Erkenntnis genau wie bei der Ausübung von Sport oder Kunstfertigkeiten ihre implizite Modalität als passive Intentionalität im unbewussten Hintergrund selbst hinterlässt. Die Freiheit der aktiven Intentionalität kann die passive Synthesis voraussetzen und für eigene Aktivitäten nutzbar machen.

3.

Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

Noch ein entscheidender Schritt zu einem gemeinsamen Forschungsbereich für Phänomenologie und Neurowissenschaften wurde durch die beispiellose Arbeit Varelas zur Neurophänomenologie gemacht, besonders durch seinen Aufsatz »Präsenz-Zeitbewusstsein« 24. Varelas Grundeinsicht der »interaction« zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt in der Theorie der »Autopoiesis« steht in einem interessanten Zusammenhang mit dem Begriff der wechselseitigen Weckung bei Husserl. Diese Einsicht ist mit der oben gezeigten kritischen These gegenüber Libets Lehre eng verbunden.

24

F. Varela, »Präsenz-Zeitbewusstsein«, in: ders., The Specious Present, S. 266–314.

137 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

§ 1. Die methodische Betrachtung der Neurophänomenologie Varelas Varela hat seinen methodischen Standpunkt der Neurophänomenologie in seinem Aufsatz »Neurophenomenology« 25 deutlich gezeigt. In Bezug auf das schwierige Problem, das sogenannte »hard problem«, kritisiert er zunächst den herkömmlichen radikalen »reductionism«, der durch die Reduktion auf die Neurozellen die Qualität unserer Erfahrung von vornherein völlig ignorieren will. Damit wird das Problem überhaupt nicht gelöst. Eine zweite Kritik betrifft den Funktionalismus, der schließlich durch die äußere Betrachtung aus der Perspektive der dritten Person alles beweisen zu können glaubt. Seine Kritik am Mystizismus besagt, dass dieser die Unlösbarkeit des Problems schlicht aufgrund der Unfähigkeit der naturwissenschaftlichen Methode behauptet. Allen drei Standpunkten stellt er seinen eigenen, phänomenologischen Standpunkt gegenüber, der die erstpersonale Perspektive der phänomenologischen Forschung und die drittpersonale der naturwissenschaftlichen Forschung wechselseitig ergänzend einschließt. Was bedeutet aber dieses Nebeneinander von Erste- und Dritte-Person-Perspektive? Wenn man aus der Perspektive der ersten Person die phänomenologische Reduktion vollziehen will, kann man nicht gleichzeitig die Perspektive der dritten Person einnehmen. Die Forschung der Naturwissenschaft wird durchaus notwendigerweise aus der Perspektive der dritten Person vollzogen. Daher muss Varela behaupten, dass ein Naturwissenschaftler, wenn er eine kreative Arbeit in seinem Forschungsbereich leisten will, die phänomenologische Reduktion drei Jahre lang, parallel zur naturwissenschaftlichen Forschung, üben sollte. Die drei Jahre lange Übung bedeutet die regelmäßige Vertiefung der phänomenologischen Reduktion, indem immer wieder das eigene Erlebnis hinsichtlich der Korrelation von Noesis und Noema analysiert wird. In Bezug auf die Frage der Konstitution des Zeitbewusstseins sollte man z. B. versuchen, Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins nachzuvollziehen und bis in die Tiefe der genetischen Analyse der intermonadischen Zeitigung einzudringen. Dadurch erreicht man, wie Varela selbst, die Forschungsergebnisse der betreffenden Naturwissenschaft

25

F. Varela, Neurophenomenology.

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Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

über das Zeitbewusstsein aus der Perspektive der phänomenologischen Untersuchung zu interpretieren.

§ 2. Neurophänomenologische Analyse des »Gegenwarts-Bewusstseins« Varelas Erforschung des Bewusstseins der Gegenwart liefert uns sehr interessante Hinweise auf die neurophänomenologische Untersuchung des Zeitbewusstseins. Dabei ist das Zusammenbringen von Ergebnissen der neurowissenschaftlichen Forschung und der phänomenologischen Wesensanalyse der Sinnkonstitution der Hauptbestandteil dieser Arbeit. Unter seinen verschiedenen Hinweisen sind zunächst die Untersuchungen der Retention und Protention, dann sein Vorschlag eines neuen Schemas des Zeitstroms hervorzuheben. 1)

Die Neurodynamik der zeitlichen Erscheinung

Vor der Analyse der Retention stellt Varela die »Neurodynamik der zeitlichen Erscheinung« dar und erörtert die drei Skalen der Zeitdauer, nämlich »(1) basic or elementary events (the ›1/10‹ scale); (2) relaxation time for large-scale integration (the ›1‹ scale); and (3) descriptive/narrative assessments (the ›10‹ scale)« 26. Die erste Stufe bedeutet eine minimale Zeitspanne, in der die zwei verschiedenen Stimuli nicht simultan unterschieden werden können. Das ereignet sich zwischen 10 und 100 Millisekunden und wird z. B. als »iconic memory« in der Neurowissenschaft untersucht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass er die Stufe von 100 Millisekunden als die für die Entstehung der Scheinbewegung notwendige Zeitspanne ansieht. a) Die Scheinbewegung kann erst entstehen, wenn zwei Stimuli unterschieden werden können. Das heißt, erst wenn ein Stimulus A auftritt und ein nächster Stimulus B nach mindestens 100 Millisekunden folgt, wird eine Richtung der Scheinbewegung von dem retinierten A zum nachfolgenden B sichtbar. Eine visuelle Bewegung ist, auch wenn sie eine Scheinbewegung ist, ohne eine bestimmte Richtung der bestimmten Bewegung nicht sichtbar. Also liegt hier ein realer, neurowissenschaftlich belegter Grund für die unbewusste Retention vor, da unter 0,5 Sekunden für das Bewusst-Werden ein 26

F. Varela, The Specious Present, S. 273.

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III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

bestimmter Stimulus in 0,1 Sekunden natürlich unbewusst retiniert werden kann und muss, damit die Richtung der Scheinbewegung auch unbewusst bestimmt werden kann. b) Die von Libet entdeckte Zeitspanne von 0,5 Sekunden für das bewusste Erleben spielt hier in der zweiten Stufe der ersten Skala eine zentrale Rolle. Die zweite Stufe beinhaltet die Zeitspanne für die »relaxation time«, in der eine Einheit des kognitiven Aktes vollzogen wird. Diese kognitive Einheit wird »cognitive present« genannt und hat die Zeitdauer von etwa 0,5 Sekunden. Es ereignet sich ein kognitiver Akt als Emergenz (»emergence«) aus der Koordination und dem Zusammenwirken von verschiedenen Gehirnfunktionen: Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation usw. 27 Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass sich eine »cell assembly (CA)« durch eine Art zeitlicher Resonanz oder »Leim« in der Simultaneität als Emergenz ereignet. Genauer gesagt wird eine bestimmte CA durch die schnelle, vorübergehende Phasen-Fixierung der aktivierten Neuronen, die zu unterschwelligen (»sub-threshold«), konkurrierenden CAs gehören, selektiert. Diese Simultaneität der selektiven Phasen-Fixierung wird auch als »simultane Kopplung« der neuronalen Assembly bezeichnet. 28 c) Der kognitive Akt als Emergenz aus der selektiven PhasenFixierung in der Simultaneität der CA erinnert ohne weiteres an die assoziative Sinnbildung der Retention, die aus der wechselseitigen Weckung zwischen dem Lebewesen und der Umwelt jeweils durch die selektiven, instinktiven Interessen entsteht. Varela sagt genauso, dass der kognitive Akt des Lebewesens als Emergenz aus dem Zusammenwirken von Wahrnehmung, Erinnerung, Motivation usw. als Anpassung an jeweils aktuelle Situationen angesehen werden kann, um die für Wahrnehmung und Akt sinnvollen Inhalte in den sinnvollen Kontexten zu konstituieren. 29 Des Weiteren ist die genaue Entsprechung zwischen der in der Retention fungierenden assoziativen Synthesis der Paarung Husserls und der strukturellen Kopplung Varelas aufzuzeigen. Das wird im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich dargestellt. Trotz dieser interessanten Entsprechung verbleibt Varelas Analyse der Retention im Stadium von Husserls Analyse aus der Vorlesung »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins«

27 28 29

Vgl. a. a. O., S. 274. Vgl. a. a. O., S. 275. Vgl. ebd.

140 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

(Hua X) und weist schließlich nur auf den paradoxen Ausdruck des »hölzerne[n] Eisen[s]« (Hua X, 415) als »wahrgenommene Vergangenheit« hin. 30 2)

Die Affektion unter dem Aspekt der Protention

Husserls Analyse der passiven Synthesis der Assoziation und der Affektion, die besonders auf die Analyse der Affektion, aber kaum auf den Begriff der Assoziation bezogen ist, wird von Varela auf die Erörterung der Protention in der Gegenwart angewandt. Varela versucht unter dem Begriff der Affektion einen emotionalen Einfluss auf das noch nicht auftauchende Hyletische in der Protention zu verstehen. Somit ist es ihm möglich, das scheinbare Paradox zwischen der ursprünglichen Impression und dem Vorrang der Affektion zu überwinden, da die Affektion in sich ihre Selbstkonstitution und ihre ursprüngliche Offenheit beiderseitig enthält. 31 Diese nicht-dualistische Interpretation der Affektion entspricht in Wirklichkeit der oben ausführlich begründeten wechselseitigen Weckung zwischen dem hyletischen Phasengehalt der Gegenwart und der retinierten Leergestalt oder Leervorstellung im Vergangenheitshorizont. Das ist nichts anderes als die Selbstkonstitution des Bewusstseinsstroms, die von Husserl von der doppelten Intentionalität der Retention her verstanden wird. Aber bei Varela wird die wechselseitige Weckung als »interaction« zwischen dem Lebewesen und der Umwelt unter dem Aspekt der Affektion im biologisch-dynamischen Kontext interpretiert. 3)

Das von Varela vorgeschlagene, neue Zeitschema

Varela schlägt ein neues Zeitschema unter Anwendung der husserlschen doppelten Intentionalität der Retention vor. Neu ist hierbei, dass er den Unterschied zwischen statischer und genetischer Phänomenologie in die Skizze des Zeit-Schemas eingeführt hat. Er skizziert seine Sichtweise der genetischen Phänomenologie auf der senkrechten Achse des Schemas des Zeitstroms und schreibt das vorreflexive Vgl. a. a. O., S. 282. Vgl. a. a. O., S. 297. Zwar ist dies eine interessante Einsicht, aber es fehlt hier an phänomenologischen Begründungen durch die Beschreibung der konkreten Erfahrung, die oben ausführlich darzustellen versucht wird.

30 31

141 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

affektive Fundament dem unteren Teil der Achse und das bewusste, verkörperte (»embodied«) ego, das das Bewusstsein der Änderung der Emotionen hat, dem oberen Teil der Achse zu. Diese Einsicht entspricht genau dem Fundierungsverhältnis zwischen Passivität und Aktivität, Vorkonstitution und Konstitution in der genetischen Phänomenologie Husserls. Varelas Charakterisierung des genetischen Ursprungs als des »vorreflexiven, affektiven Fundament[s]« ist insofern treffend, wenn er die emotionale Voraffektion und das Affizierende der Affektion, dem sich das Ich zuwendet, differenziert sehen kann. Er unterscheidet zwar die Emotion in der lebendigen Gegenwart in der ersten Skala von der Affektion als der habituellen Tendenz zur kohärenten Sequenz des verkörperten Aktes in der zweiten Skala. 32 Aber die genauen Zusammenhänge von beiden sind phänomenologisch nicht zureichend dargestellt. Er versucht mit diesem Entwurf eines neuen Zeitschemas, die Paradoxa der retentionalen Gegenwart (wahrgenommene Vergangenheit) und der Selbstkonstitution des Zeitstroms zu lösen. Die Lösung dieser Paradoxa wird, phänomenologisch gesehen, durch die wechselseitige Abhängigkeit der doppelten Intentionalität der Retention, die Untrennbarkeit der statischen und genetischen Analyse und die wechselseitige Bedingung der instinktiven und kognitiven Konstitution des Selbst (ego) in diesem Zeitschema zu geben versucht. 33 4)

Abschließend eine zusammenfassende Betrachtung

Nach Varela besteht das Programm der Neurophänomenologie darin, die phänomenologische Erklärung der Struktur der Erfahrung und das dieser Erklärung Entsprechende in der Kognitionswissenschaft durch die wechselseitigen Bedingungen aufeinander beziehend zu betrachten. Diese wechselseitigen Bedingungen schließen in sich die Potenzialität der Überbrückung und den Widerspruch zwischen den beiden Forschungsbereichen ein. Dabei sind z. B. für die Untersuchung des Zeitbewusstseins drei Komponenten unentbehrlich: (1) die neuronale, biologische Basis, (2) die auf die formale Beschreibung angewandten, meistens von der nicht-linearen Dynamik herkommenden Instrumente der Neurowissenschaft und (3) das durch

32 33

Vgl. a. a. O., S. 300. Vgl. a. a. O., S. 305.

142 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

die phänomenologische Reduktion erforschte Wesen der gelebten Erfahrung der Zeit. 34 Über die hier aufgezeigte Orientierung der Neurophänomenologie Varelas und Husserls Einsicht der intermonadischen Zeitigung sind folgende Bemerkungen, die neurowissenschaftliche Forschung Libets und Ramachandrans miteinbeziehend, möglich: a) Der Begriff der Retention, besonders die doppelte Intentionalität der Retention, wird durch seine neuronale Erforschung sehr positiv und in seiner Reichhaltigkeit entfaltet. Es wird gezeigt, dass die genetisch-dynamischen Elemente des Phasengehalts in der senkrechten, genetischen Achse der Retention ständig am Werk sind. Diese Elemente schließen in sich sogar die implizite Geschichte der Evolution des Lebewesens ein und stehen mit der Umwelt ständig in wechselseitigen Akten, die vom Begriff der strukturellen Kopplung her verstanden werden können. Somit wird die komparative Betrachtung über das Verhältnis zwischen der passiven Synthesis der Paarung, die in der wechselseitigen Weckung zwischen der Retention und der Urimpression fungiert, und der strukturellen Kopplung in der ersten Skala zum interessantesten und wichtigsten Thema der Neurophänomenologie. b) Die Dimension der Retention und der Kopplung wird auf der ersten Skala in der Zeitspanne von etwa 0,3 bis 0,5 Sekunden positioniert, wo die Verbindung von Zellen (»cell assembly«, CA) stattfindet. Varela stellt diese CA in einer Zeiteinheit von 0,5 Sekunden dar, die genau der Zeitdauer von 0,5 Sekunden bei Libet entspricht. Aber der Begriff der Emergenz wird anders als bei Libet, der sie in seiner Hypothese als »subjektive Rückdatierung« deutet, gerade im Kontext der Verbindung der Zellen in »interaction« zwischen der Umwelt und dem Leben interpretiert. c) Dieser Unterschied zeigt sich deutlich daran, dass Varela gegenüber der bloßen formal-zeitlichen Bestimmung des Bewusstseins das Zeitbewusstsein unter dem Aspekt der lebendigen Gegenwart Husserls, Zeitinhalte retentional und protentional in der Querintentionalität der Retention wesensnotwendig einschließend, betrachtet. Vor allem steht Varelas Einsicht der wechselseitigen Aktion zwischen der Umwelt der Gegenwart und den genetisch impliziten Elemente der Vergangenheit in starkem Gegensatz zu Libets Ansicht vom Vorher des Unbewusstseins und Nachher des Bewusstseins, wobei 34

Vgl. ebd.

143 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

III · Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins

»Simultaneität« von Vergangenheit und Gegenwart in der »interaction« natürlich in keiner Weise erlaubt ist. d) Hinsichtlich der Thematik der Zusammenarbeit der Neurowissenschaft und der Phänomenologie in der Neurophänomenologie ist die gemeinsame Einsicht der wechselseitigen Wirkungen zwischen der Umwelt und dem Leben (Bewusstseinsleben) sehr wichtig. Diese Einsicht entspricht nicht nur Varelas Begriff von »interaction«, sondern auch dem Begriff »interaction« bei Ramachandran, der mit dem Ausdruck der wechselseitigen Wirkung zwischen »top down« und »bottom up« der neuronalen Aktivitäten benannt wird. Gerade weil Ramachandran die phänomenologische Reduktion methodisch nicht bewusst angewandt hat, wird die Gemeinsamkeit mit der »interaction« Varelas, die der wechselseitigen Weckung Husserls entspricht, umso interessanter. Desto deutlicher wird nämlich der Gegensatz zwischen dieser Einsicht und der Hypothese Libets, einerseits der der subjektiven Rückdatierung auf die EP-Reaktion und andererseits der der Fähigkeit des Verneinens (Veto) 0,15 Sekunden vor der bewussten Durchführung eines bestimmten Aktes. Gegenüber dem letzten Standpunkt, Unbewusstsein und Bewusstsein formal scharf mit dem Intervall von 0,5 Sekunden zu trennen, beziehen Husserl, Varela und Ramachandran den Standpunkt der paradoxen Simultaneität zwischen der retentionalen Vergangenheit des Lebens und der jetzigen Gegenwart der Impression der Umwelt. e) Ramachandran stellt die wechselseitige Wirkung zwischen der Projektion aus der Erinnerung des Gehirnzentrums (»top down«) und dem sensorischen Impuls der Gegenwart (»bottom up«) durch das Beispiel der neuronal verursachten visuellen Illusion überzeugend dar. So wird gezeigt, dass jede aktuelle Wahrnehmung der Gegenwart ohne Mitwirkung der Projektion des impliziten, unbewussten Gedächtnisses nicht möglich ist. Natürlich ist bei Libet eine solche paradoxe Simultaneität zwischen der unbewussten Vergangenheit und der bewussten Gegenwart prinzipiell deswegen unmöglich, weil das vorangehende Unbewusstsein niemals mit dem danach (nach 0,5 Sekunden) folgenden Bewusstsein, also unter der streng kausalen Ordnung der objektiven Zeitachse, übereinstimmen kann. f) Der Forschungsbereich der Assoziationszone wird für die zukünftige Untersuchung der Neurowissenschaft zentral. Dabei wird die Art und Weise der wechselseitigen Wirkungen (Weckung bei Husserl, »action« bei Varela und Ramachandran) zum Hauptthema. Hier spielt aber die Assoziation im empirisch-faktischen Sinn, die den 144 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitanalyse in der Neurophänomenologie Varelas

Zeitpunkt der linearen, objektiven Zeitachse voraussetzt, keine Rolle, weil die assoziative Verbindung neuronaler Aktivitäten niemals als bloß mit der Häufigkeit der faktischen Daten kausal geregelt gedacht werden kann. Die Assoziationsfelder der neuronalen Aktivität sind hinsichtlich der wechselseitigen Wirkungen top down und bottom up in der Simultaneität zwischen der Urimpression (Urhyle) der Umwelt der Gegenwart und den impliziten Intentionalitäten, die in der Entwicklung der intermonadischen Vergemeinschaftung sedimentiert vorgegeben werden, zu untersuchen. g) Die intermonadische Zeitigung bedeutet, dass die Zeitigung nur durch die intermonadische Kommunikation zustande kommt. Dieser Aspekt der Intersubjektivität, die nur durch die Phänomenologie thematisiert wird, wird zwar von Varela betont, aber die intersubjektive, intermonadische Zeitigung selbst wird in der Neurophänomenologie Varelas noch nicht entwickelt. Für diese Entwicklung sind folgende Momente hervorzuheben: (1) Eine genetische Analyse hat die Aufgabe, die affektive Tendenz zur Erfüllung der Instinktintentionalität in der Protention phänomenologisch intersubjektiv zu begründen. Das heißt, die emotionale Intersubjektivität (»interaction«) kann als Intention und Erfüllung der Instinktintentionalität (bzw. der Triebintentionalität) phänomenologisch-intermonadisch untersucht werden. (2) Dabei kann das Forschungsergebnis, die Entdeckung der »Spiegelneuronen«, die die neuronale Basis für das vorsprachliche Verständnis der Absicht des Verhaltens hochentwickelter Lebewesen sind, in die genetische Phänomenologie integriert werden. Aber ohne Unterscheidung zwischen der passiven und aktiven Intentionalität, zwischen der passiven Vorkonstitution und der aktiven Konstitution, kann die Intersubjektivität aufgrund der passiven Synthesis der Paarung durch die Kopplung natürlich nicht autopoietisch begründet werden. (3) Die Genesis der sogenannten objektiven Raumzeitlichkeit, die für die Forschung der Naturwissenschaft eine notwendige methodische Voraussetzung darstellt, ist in wissenschaftstheoretischer Hinsicht von Grund auf phänomenologisch evident durch die intermonadische Vorkonstitution und die intersubjektive Konstitution, durch die passive und aktive Intersubjektivität zu thematisieren und zu begründen.

145 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Kapitel IV. Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

In diesem Kapitel über die Zeit möchte ich zunächst Husserls Analyse des Zeitbewusstseins kurz zusammenfassen und dann im zweiten Teil die Analyse des Zeitbewusstseins in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus darstellen. Dadurch wird eine überraschende sachliche Übereinstimmung zwischen der Auffassung der Zeit in der Phänomenologie Husserls und jener der davon doch sehr verschiedenen Denktradition des Mahayana-Buddhismus der Yogacara-Schule gezeigt.

1.

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

Die in den letzten Kapiteln dargestellte husserlsche Analyse des Zeitbewusstseins wird nun im Hinblick auf eine spätere Gegenüberstellung mit der Denktradition der buddhistischen Philosophie zusammengefasst.

§ 1. Über das Bewusstsein der Vergangenheit. Der Begriff der Retention Zunächst ist im Zusammenhang der Frage nach der Zeit unser sehr rätselhaftes Vermögen, vorübergehende Geschehnisse sogar ohne besondere Aufmerksamkeit darauf behalten zu können, zu erörtern. Diese Funktion nennt Husserl Retention. Die Entdeckung der Retention und die Analyse der Art und Weise des Retinierens haben die unergründliche Tiefe unserer transzendentalen Subjektivität gezeigt und den Bereich der Phänomenologie des Unbewusstseins eröffnet.

146 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

1)

Die unbewusste und die bewusste Retention

Unter dem Begriff der Retention werden die unbewusste und die bewusste Retention fassbar. Das Wirken der unbewussten Retention wird in den bereits eingeführten Beispielen der Aufmerksamkeit, die zeigen, warum ich überhaupt eine unbewusste Empfindung mit dem gerade Empfundenen vergleichen kann, verständlich und auch von der Erforschung der realen neurophysiologischen unbewussten Prozesse bestätigt. Die bewusste Retention finden wir überall, wo irgendeine Dauer der Empfindung oder Wahrnehmung erlebt wird. Wenn nach dem Verhältnis zwischen der unbewussten und bewussten Retention gefragt wird, also danach, welche Retention ursprünglicher als die andere sei, ist es eindeutig bewiesen, dass die unbewusste Retention der bewussten Retention stets vorangeht und die zweite ohne die erste nicht möglich ist und nicht umgekehrt. Das lässt sich erneut aus der Perspektive der Frage nach dem Verhältnis zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, Passivität und Aktivität begründen. Zunächst ist ganz allgemein die Frage nach der Differenzierung der verschiedenen Inhalte der Empfindung zu stellen, die Frage, wie eine bestimmte Identifizierung z. B. von Helligkeit als Helligkeit, von Wärme als Wärme, von Schmerz als Schmerz usw., also einer bestimmten Empfindung als ebendiese bestimmte Empfindung entsteht. Wenn solche verschiedenen Empfindungen sogar unbewusst identifiziert werden, warum wird gerade eine bestimmte Empfindung – in diesem Fall der Helligkeit bzw. Dunkelheit, also die Änderung der visuellen Empfindung – und nicht andere, sonstige ihr vorangehende Empfindungen bewusst, z. B. Steifheit als Steifheit des eigenen Körpers oder die Kälte der Luft im Zimmer nach dem intensiven Hören der Musik? Um diese Frage zu klären, ist noch ein anderes Beispiel einzuführen. Wenn es in einem Zimmer nach Gas riechen würde, würde man das sofort merken. Warum? Weil eine eventuelle Gasexplosion oder Gasvergiftung lebensbedrohlich wäre. Husserl sagt dazu, dass unbewusst, verborgen wirkende Interessen, die zwischen dem Bewusstseinsleben und der Umwelt, der jeweils einzelnen konkreten Situationen entsprechend, immer neu entstehen, das Ich affizieren und dass das Ich sich nur einem bestimmten Interesse zuwendet und sich somit dessen bewusst wird. Also ist unbewusst wirksam werdendes Affizieren der Hintergrund für das Bewusstwerden einer bestimmten Empfindung. Zu diesem Affizieren zählt Husserl triebhaftes und instink147 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

tives Urbewusstsein als die ursprünglichste Uraffektion bzw. Urmotivation, was heute als das sogenannte triebhafte Unbewusste bezeichnet wird. Durch das Einbeziehen des obigen Beispiels wird das Geschehen der unbewussten Retention noch einmal klarer. Die Änderung des Geruchs der Luft, also das Riechen des Gases, kann man nur durch den unbewussten Vergleich zwischen dem früher unbewusst Retinierten der unbewusst gerochenen normalen Luft des Zimmers und der momentanen Empfindung des Geruchs der Luft bewusst wahrnehmen. In der Tat muss diese unbewusste Retention einer bestimmten Sinnesqualität dem Bewusstwerden einer Änderung oder Identifizierung einer anderen Sinnesqualität notwendig, nämlich lebensnotwendig vorangehen. a) Diese Gegenüberstellung von unbewusster und bewusster Retention hat in der Denktradition der westlichen und östlichen Philosophie einen besonderen Stellenwert. In der groben dualen Auffassung von Idealismus und Realismus gehört das Bewusstsein zum Idealen und das Unbewusstsein zum Realen. Wenn das Bewusstsein vor die Frage nach dem Sinn seiner Existenz gestellt wird, nimmt diese Frage die Gestalt des Leib-Seele-Problems an, also die Frage, ob die Seele nach dem Zerfall des Leibs weiterlebt oder nicht. Dieses Problem zwingt den Menschen, sei es den Menschen im Osten oder im Westen, seine eigene Lösung zu finden. b) In der westlichen Denktradition der Theorie der Substanz hat Descartes eine Position des Dualismus mit res cogitans und res extensa bezogen. Descartes’ Position markiert den Ausgangspunkt der modernen westlichen Philosophie und diente auch Husserl als Basis seiner Phänomenologie. Aber bei Husserls Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein gilt die Dualität von res cogitans und res extensa nicht. Der Begriff der Intentionalität kann weder idealistisch noch realistisch aufgefasst werden. Die aktive Intentionalität hat immer schon die Konstitution der Sinnbildung geleistet, die nachträglich hinsichtlich der Korrelation von Noesis und Noema analysiert wird, und auch die passive Intentionalität hat bereits durch die passive Synthesis der Assoziation ihre Vorkonstitution für die Konstitution vollzogen. Die passive Intentionalität, zu der die bewusste und unbewusste Retention gehören, und die aktive Intentionalität haben ihre Sinnbildung immer schon hinter sich. Daher ist die herkömmliche erkenntnistheoretische Frage, auf welche Weise einzelne Erkenntnisse unter der Voraussetzung einer Spaltung von bewuss148 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

tem Subjekt und unbewusstem Objekt zustande kommen, eine verkehrt gestellte, das Wesen des Erkennens als Intentionalität verfehlende Frage. c) Also geht es beim hier untersuchten Verhältnis zwischen unbewusster und bewusster Retention nicht um das Verhältnis zwischen dem unbewussten Objekt der Natur und dem bewussten Subjekt des Geistes, sondern um das Verhältnis zwischen der unbewussten Vorkonstitution und der bewussten, genauer gesagt urbewussten Konstitution. Durch die unbewusste und urbewusste Retention wird die zeitliche Ordnung »Vorher und Nachher« zur apodiktischen Evidenz des Erlebnisses des Zeitlichen gebracht. d) In diesem Kontext wird nun die interessante Frage gestellt, ob es in der außereuropäischen, speziell in der buddhistischen Denktradition eine solche nicht-dualistische, keine Spaltung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzende Einsicht in die Intentionalität gibt. Wenn ja, dann müssen die entsprechenden Gemeinsamkeiten und Differenzen genau erhellt werden. 2)

Die Retention und Kants Lehre von der Zeit als Anschauungsform des inneren Sinnes

Aber wie verhält sich diese unbewusste Retention einer bestimmten Empfindung zur Zeitlehre Kants? Die Zeit als Form der sinnlichen Anschauung bei Kant hat doch mit der Identifizierung oder dem Vergleich des retinierten Zeitinhalts, nämlich der Sinnesqualität, selbst überhaupt nichts zu tun. Die Zeit bleibt für ihn nur die Form der sinnlichen Anschauung. Der Empfindungsinhalt wird durch die sinnlichen Organe der Wahrnehmung gegeben. a) Was diese Einsicht Kants über die Zeit positiv bedeuten kann, lässt sich aus dem folgenden Beispiel Bubers gut verstehen. Der junge Buber versuchte den Anfang und das Ende der Zeit zu finden, aber ohne Erfolg. Er geriet in die Aporie der Unendlichkeit, die die gleiche Schwierigkeit hat wie das sogenannte Paradox des Zenon, dass nämlich ein fliegender Pfeil nicht fliegen kann, weil die unendlichen Punkte niemals überflogen werden können. Von dieser Aporie wurde Buber durch die Ansicht Kants über die Raum-Zeitlichkeit befreit, weil er nun verstehen konnte, dass diese Unendlichkeit aus der formalen Eigenschaft des Fragens selbst stammt, d. h. die Form der Zeit und des Raumes aus der Notwendigkeit des Fragens, die zum Wesen des Menschen als eines fragenden Wesens gehört. Die 149 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Antwort steckt schon im Fragen selbst. Die formale Eigenschaft der Zeit und des Raumes gehört uns selbst an. Wir können nach der Raum-Zeitlichkeit nicht anders als so, also formal wiederholend, fragen. b) Andererseits gibt es noch einen anderen Grund, durch den die Aporie zu dieser Aporie wird, und zwar die hier nicht thematisierte Grundvoraussetzung der Zeitlosigkeit der Wahrheit, die man eben durch die überzeitlichen logischen Urteile erhellen zu können glaubt. Gerade weil die logische Denkaktivität, in dem Beispiel Zenons das Teilen der gegebenen Zeitstrecke oder Raumdistanz, unendlich wiederholt werden kann, als ob sie von der Zeit unabhängig wäre, bleibt diese Antinomie ungelöst. Aber geschieht diese Denkaktivität wirklich zeitlos? Husserl stellt dieser Zeitlosigkeit des logischen Urteils seine These über das Zeitbewusstsein gegenüber. Seine These heißt, die Wahrnehmung (das Bewusstsein) der Zeit braucht die Zeit der Wahrnehmung (des Bewusstseins): »Jede Identifizierung, Unterscheidung, jedes Urteil setzt Sukzession, setzt ausgedehnte Wahrnehmung, Wahr-Erfassung voraus« (Hua X, 295). Anders ausgedrückt: »Die Wahrnehmung der Sukzession setzt Sukzession der Wahrnehmung voraus. (Anm.: […] Wahrnehmung der Sukzession setzt gleichwohl, wie Wahrnehmung jeder Relation, Wahrnehmung der Fundamente voraus. Die Fundamente sind aber nicht A—B, sondern gewesenes A und jetziges B. Die Sukzession ist ein Zeitverhältnis. Wahrnehmung ist doppeldeutig: Hier hat sie den Sinn von Selbsterfassung. Das Gewesensein muß selbst-erfaßbar sein und -erfaßt, wenn ich wirklich Sukzession wahrnehme.)« (Hua X, 191). Also muss das Bewusstsein der Vergangenheit, des Gewesenseins, sogar »gewesenes A« als »Gewesenes« notwendigerweise selbst erfasst sein. Das heißt, ein bestimmtes A wird nicht durch die Form der Zeit als etwas jetzt Geschehendes, Vergangenes oder Zukünftiges aufgefasst, sondern wird, wenn das geschieht, als etwas Geschehenes, Vergangenes oder Zukünftiges unmittelbar erfasst. Um diese Unmittelbarkeit klar zu erblicken, ist Kants Lehre der Zeit noch eingehend zu betrachten. Hinsichtlich des Zeitinhalts sagt Kant: »Die objektive Einheit alles (empirischen) Bewusstseins in einem Bewusstsein (der ursprünglichen Apperzeption) ist also die notwendige Bedingung sogar aller möglichen Wahrnehmungen, und die Affinität aller Erscheinun-

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Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

gen (nahe oder entfernte) ist eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist.« 1 Also ist die transzendentale Apperzeption des Ichs der Grund aller Einheiten der Wahrnehmungen und die Einbildungskraft der Grund aller Ähnlichkeiten und Differenzen aller Erscheinungen. Der Zeitinhalt wird nur dadurch vereinheitlicht. Dazu verhält sich die Zeitlehre Husserls mit dem Begriff der Retention, der die Unterscheidung der Zeitform und des Zeitinhalts unterläuft, ganz konträr. Husserl kritisiert Kants Annahme der transzendentalen Apperzeption des Ichs sehr scharf als einen Überrest der Metaphysik. Die Retention ist keine Aktivität, die aus dem Ich-Pol des transzendentalen Ichs entsteht, in diesem Sinne keine normale aktive Intentionalität, die mit Beteiligung der Ich-Aktivität entspringt, sondern eine passive Intentionalität, die ohne Beteiligung der Ich-Aktivität, also vor der Zuwendung des Ichs, unbewusst am Werk sein kann. Und ferner hat Kant zwar die Bedeutung der produktiven Einbildungskraft entdeckt, aber bloß als Rätsel des Gemüts des Menschen belassen. Erst Husserl gelang es, sie als passive Synthesis der passiven Intentionalität ans Licht der philosophischen Reflexion zu bringen. c) Diese Gegenüberstellung der transzendentalen Apperzeption des Ichs bei Kant und der urbewussten, retentionalen Intentionalität bei Husserl wirft ein scharfes, erhellendes Licht auf die buddhistische Auffassung des »Nicht-Ichs« (»anatman«), weil die Fragestellung, wie die nicht-egologische Einsicht des Nicht-Ichs im Buddhismus mit der egologischen Einsicht der transzendentalen Apperzeption des Ichs in Zusammenhang steht, eine sehr strenge erkenntnistheoretische Betrachtung beitragen kann.

§ 2. Egologische und intermonadische Auffassung der Zeitigung Die Interpretation der husserlschen Analyse des Zeitbewusstseins ist und bleibt immer ein zentrales Thema der phänomenologischen Forschung. Dabei sind Fragen, wie ob man die Retention als einen Prozess der passiven Synthesis der Urassoziation verstehen kann oder immer noch als eine Art der aktiven Intentionalität mit Ich-Aktivität und ob die Impression und die Retention zwei verschiedene Ver1

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), A 123.

151 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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mögen des Bewusstseinslebens oder untrennbar als ein passiv intentionales Erlebnis aufzufassen sind, so wichtig, dass diese Alternativen ihre Konsequenz in der Problematik der Begründung der Intersubjektivität, der Auffassung des Wesens des Anderen hat. Hinsichtlich der Charakterisierung der Zeitanalyse Husserls ist noch einmal auf die oben behandelten umstrittenen Interpretationen der Alternative zwischen der egologischen und monadologischen Zeitigung zurückzublicken und der Standpunkt der monadologischen Zeitigung wieder zu bestätigen. 1)

Die Frage nach der Zeit und der Intersubjektivität der lebendigen Gegenwart

Die Thematiken der Zeit und der Intersubjektivität stehen in einem sehr engen Zusammenhang. Besonders wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen der egologischen und der monadologischen Interpretation dieser Thematiken, weil sie gerade den Unterschied, ob die Bildung des Ich-Pols und der Ich-Aktivität vorausgesetzt ist oder nicht, beinhaltet. Ist daher nicht von vornherein klar, dass die egologische Interpretation beider Thematiken an eine Grenze stößt und dass darüber hinaus nur der Bereich der passiven Intentionalität und Synthesis thematisiert werden kann? a) Wie oben gesehen, hat die Tendenz der egologischen Interpretation Husserls bei den Thematiken der Zeit und der Intersubjektivität ihre Kraft nicht verloren. Das zeigt sich in seinen Versuchen, die Zeitigung als durch »das phänomenologisierende Ich« konstituiert zu sehen oder die Intersubjektivität durch die Analogie von Wiedererinnerung und Einfühlung aufzufassen. Diese Tendenz ist, wie oben gesehen, deutlich bei Held und Levinas zu markieren. b) Die Selbstzeitigung des transzendentalen Ur-Ichs ist Husserls Antwort auf die Frage der Intersubjektivität in seiner »Krisis«. Sie hat sich von der prinzipiellen Schwierigkeit, dass von der »urtümlichen Egoität« (Hua XV, 587) alles in mir zu konstituieren ist, nicht befreit. Wenn man in dieser Richtung der Egologie die Möglichkeit der gemeinsamen, intersubjektiven, lebendigen Gegenwart des anonym fungierenden Ichs sucht, ist dies, wie Held es sieht, nur durch die hinfällige Selbstidentifizierung des eigenen transzendentalen Ichs möglich. 2 2

Vgl. K. Held, Lebendige Gegenwart, S. 171 f.

152 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

c) Wegen der scharfen Trennung zwischen der den Inhalt liefernden Urimpression als Urpassivität und der Retention als der aktiven Intentionalität bei Levinas, der keine passive Intentionalität ohne Ich-Beteiligung als solche anerkennt, wird die Andersheit des Anderen zwar als Impression »berührt«, aber sie bleibt hinter der Spur des Anderen inhaltlos, d. h. für ihn unberührt von der aktiven Intentionalität der Retention. Die Zwischenleiblichkeit in der passiven Intersubjektivität, die ursprünglich durch die in der Triebintentionalität sich konstituierende Zeitigung passiv intentional vorkonstituiert wird, bildet keinen Zugang zur Andersheit des Anderen, die als die den Inhalt urstiftende, aber nur eine Spur hinterlassende Urimpression und als von der nach ihm aktiv intentional verstandenen Retention unberührt, unabhängig und getrennt verstanden werden muss. 2)

Zwischenmonadische Auffassung der Intersubjektivität

Durch die Einsicht der Triebintentionalität, die das Fließen und Stehen der lebendigen Gegenwart transzendental bestimmt, kann die passive Intersubjektivität der anonymen gemeinsamen, lebendigen Gegenwart grundsätzlich apodiktisch bestätigt werden. Aber die besondere, von der Ich-Zentrierung befreite gemeinsame Zeitigung im »Ich-Du-Konnex« (Hua XV, 605) der höchst aktiven Intersubjektivität wird bei Husserl nicht ausreichend thematisiert. a) In der monadologischen Auffassung der genetischen Phänomenologie zeigt Husserl den genetischen Ursprung der Intersubjektivität auf, d. h. »die Allheit der Monaden in ursprünglich instinktiver Kommunikation« (Hua XV, 609). Ihre Genesis liegt »in der Universalität der intentionalen Implikation in der ständig konstituierten all-primordialen urtümlichen lebendigen Gegenwart, der absoluten ›Simultaneität‹ aller Monaden« (Hua XV, 595). Husserl zufolge unterscheiden sich die Weckung und Ahnung der Instinktintentionalität und ihre Bildung der »Leergestalt« (Hua XI, 326) von der Bildung der Triebintentionalität und ihrer »Leervorstellung«. Die Instinktintentionalität wird durch die wechselseitige Weckung zwischen der Urhyle der Lebenswelt und der »Erbmasse« (Hua XV, 604) des Bewusstseinslebens geweckt und als Leergestalt »intermonadisch« (Hua XXXIV, 471) gebildet. b) Die gemeinsame Zeitigung im Ich-Du-Konnex wird in der Vernunft-Teleologie der Monadologie Husserls nicht besonders her153 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

vorgehoben. In der Phänomenologie der »Ich-Du-Beziehung«, wo die Handelnden durch die intensivste Zuwendung zum Du sich gegenseitig von der Ego-Zentrierung befreien, zeigt sich die Zeitigung als das Zwischen, wo das Ich durch die Berührung mit der Andersheit des Anderen zum echten Selbst wird. Die Ich-Du-Beziehung in der aktiven Intersubjektivität wird weiter unten in Zusammenhang mit der »personalistischen Einstellung« in den »Ideen II« ausführlich analysiert werden.

§ 3. Die Zeitigung in der genetisch-intermonadologischen Phänomenologie Husserls Die intermonadische Phänomenologie Husserls wird im Bereich der genetischen Untersuchung der Zeitigung entfaltet. Aber der genetischen Untersuchung der Zeitigung geht die statische Analyse des Zeitbewusstseins, die, wie oben gezeigt, in Husserls »Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins« (Hua X) dargestellt wird, voraus. Hierbei wird die Struktur der lebendigen Gegenwart mit drei Gliedern, nämlich Jetzt, Retention und Protention, aufgezeigt und die paradoxe Selbstkonstitution des Zeitflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention dargestellt und analysiert. In dieser Darstellung ist der Begriff der Deckung, durch die der Zeitinhalt auf der Querintentionalität der Retention nach der Wesensgleichheit vorkonstituiert wird, zentral. Dieser strukturelle Hinweis auf die Deckung des Zeitinhalts führt zur genetischen Frage, auf welche Weise die inhaltliche Deckung überhaupt vollzogen wird. Wie oben bereits dargestellt, beginnt ein Ansatz der genetischen Untersuchung des Zeitbewusstseins schon in den »Bernauer Manuskripten« (1917/18). Diese genetische Frage erreicht schon den Bereich, in dem das Werden des Ich-Pols und die Individualität und Vereinheitlichung der Monade thematisiert werden. Am Anfang der 20er-Jahre, in der Thematik der »transzendentalen Logik« bzw. »transzendentalen Ästhetik«, fängt die genetische Untersuchung mit der Analyse der Gesetze der Assoziation richtig an. Husserl sagt: »So ist Urgesetz der Genesis das Gesetz der ursprünglichen Zeitkonstitution, die Gesetze der Assoziation und Reproduktion, die Gesetze, durch welche sich die Monade für sich selbst als Einheit konstituiert usw.« (Hua XIV, 39). In diesem Text wird der deutliche Zusammenhang von Zeit, 154 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

Assoziation und Vereinheitlichung der Monade gezeigt. Dieser Zusammenhang ist oben schon ausführlich phänomenologisch begründet worden. Beim zusammenfassenden Rückblick ist eine vergleichende Betrachtung zwischen Husserls Begriff der passiven Synthesis und dem Begriff der »kleinen Perzeption« bei Leibniz hinzuzufügen, damit ein passender Zugang zur Analyse des Zeitbewusstseins in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus gefunden werden kann. 1)

Die Zeitigung der Triebintentionalität in der intermonadischen Urkommunikation

Die Frage nach der Deckung des Zeitinhalts in Hua X führt durch die Analyse der Erinnerung, auf welche Weise eine bestimmte Erinnerung als solche oder eine Illusion der Erinnerung auftaucht, zum Begriff der Assoziation und der Affektion der passiven Synthesis. Genauso wie ein Traum entsteht eine plötzlich auftauchende Erinnerung eben spontan ohne Beteiligung der selbstbewussten Ich-Aktivität. Wie in der Analyse der Retention gezeigt, entsteht die retentionale Deckung auf der Querintentionalität der Retention nicht durch den Auffassungsakt der aktiven Intentionalität, sondern durch die Deckung der implizierten, retentionalen Intentionalitäten, die die wesensgleichen Zeitinhalte bilden. Die hier genannte »Wesensgleichheit« bezieht sich auf den Zeitinhalt der Empfindung, deren unerfüllter Sinnesrahmen als Leergestalt genannt wird. Die genetische Frage nach der Sinnbildung der Empfindungsinhalte erreicht den Bereich der Triebintentionalität, die die ursprüngliche Schicht des Zeitstroms durch ihre uraffektive, d. h. alle affektiven Kräfte der instinktiven Tendenzen auf ein Ziel des bestimmten Triebs hin vereinheitlichende Motivation des Bewusstseinslebens konstituiert. Die verschiedenen Triebintentionalitäten selbst haben ihre passive Genesis in der intermonadischen Urkommunikation, die im nächsten Teil dieses Buchs ausführlich dargestellt wird. Also wird schließlich gezeigt, dass sich die allerursprünglichste Zeitigung der lebendigen Gegenwart durch die in der intermonadischen Kommunikation fungierende Triebintentionalität konstituiert. Denn die Selbstkonstitution der Zeitigung ist die Selbstkonstitution der intermonadischen Kommunikation.

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2)

Die Zeitigung durch die passive Synthesis und der Begriff der »kleinen Perzeption«

Die passive Synthesis der Assoziation und Affektion hat ihren besonderen Stellenwert in der Geschichte der westlichen Philosophie. Die Einsicht der passiven Synthesis überwindet den Dualismus von Idealismus und Realismus dadurch, dass die Quelle, woraus dieser Dualismus selbst stammt, als diese passive Synthesis der Assoziation bestimmt wird. In dieser Quelle selbst fungiert die selbstbewusste IchAktivität noch nicht. In Bezug auf den Begriff der Monade lässt sich sagen, dass erst auf der Stufe der selbstbewussten Ich-Monade der Apperzeption, aber noch nicht auf der Stufe der tierischen Monade der Perzeption der Dualismus von Idealismus und Realismus am Werk sein kann. Die passive Synthesis selbst fungiert aber unbewusst, also nicht auf der Stufe der Perzeption Leibniz’. Der Begriff der passiven Synthesis entspricht dem der »kleinen Perzeption« von Leibniz in den folgenden vier Punkten: a) Die kleine Perzeption ist eine unbewusste Vorstellung. Die passive Synthesis der Assoziation fungiert unbewusst, und nur ein Teil des so Vorkonstituierten, der für die Zuwendung des Ichs ausreichend affiziert, kommt zu Bewusstsein. Der Unterschied zwischen der unbewussten und der bewussten Vorstellung bezieht sich auf den Unterschied zwischen der klaren und der dumpfen Monade bei Leibniz. Husserl spricht von der dumpfen (nackten) Monade Leibniz’ im folgenden Text: »Für eine solche [dumpfe] Monade wäre das Ich nicht reell auf dem Plan, nicht in der immanenten Zeit ›konstituiert‹. Leibniz hat recht, dass Selbstbewusstsein und abgegrenztes Erlebnis notwendig zusammengehen. Abhebung von eigenen Erlebnissen und Ichzentrierung gehören notwendig zusammen« (Hua XIV, 49). Bei der Betrachtung des Problems des unendlichen Regresses weiter oben wurde klar gezeigt, dass jeder Auffassungsakt selbst in sich eine immanente Zeitdauer hat und dass diese reelle immanente Zeitdauer selbst phansiologisch urbewusst wird. Das Urbewusstsein selbst ist aber natürlich kein Auffassungsakt der aktiven Intentionalität, die mit dem Selbstbewusstsein durch die Ich-Zentrierung und die abgrenzende Abhebung der Erlebnisse begleitet wird. Zur dumpfen Monade gehört das Ich mit seiner Ich-Aktivität nicht. b) Der Stellenwert dieses Selbstbewusstseins des Ichs in der buddhistischen Philosophie ist vielseitig zu erörtern. Einerseits ist klar, dass der Grundgedanke des Buddhismus in der Befreiung vom 156 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Husserls Analyse des Zeitbewusstseins

Beharren auf einem substanziell gedachten Ich liegt. Die Lehre des Nicht-Ichs (anatman) des Buddhismus ist eine wichtige Aufgabe der Interpretation. Jedenfalls ist klar, dass die metaphysische Annahme des substanziell aufgefassten Ichs abgelehnt wird und dass diese Annahme und das Ihr-Anhaften die Quelle und der Grund des Leidens (dukkha) sind. Andererseits wurden in einer praktisch orientierten Philosophie des Buddhismus immer wieder erkenntnistheoretische Anstrengungen gemacht, die Gründe der Schwierigkeit der Verwirklichung dieser Befreiung zu erhellen. Die Yogacara-Schule (Praxis des yoga) des Mahayana-Buddhismus sieht die Gründe der Schwierigkeit darin, dass jedes aktuelle Bewusstsein mit dem Selbstbewusstsein ursprünglich aus dem alayavijnana (Speicherbewusstsein) genannten Urbewusstsein (Unbewusstsein) entsteht. So wie die genetische Phänomenologie Husserls die Genesis des Ich-Pols thematisiert hat, hat die Yogacara-Schule die Quelle der Bildung des Selbstbewusstseins, wie unten noch gezeigt werden wird, durch die praktische Übung des Yoga erkenntnistheoretisch erreicht. c) Das durch den Dualismus notwendig entstehende Leib-SeeleProblem wird nach Leibniz durch die kleine Perzeption lösbar. Er sagt: »Durch die unmerklichen Perzeptionen erklärt sich auch jene wunderbare prästabilierte Harmonie der Seele und des Körpers, wie auch aller Monaden oder einfachen Substanzen, die an die Stelle des unhaltbaren gegenseitigen Einflusses tritt.« 3 Das ist als Hinweis sehr interessant, aber bleibt nur ein Hinweis und lässt seine weitere Erklärung offen. Die »unmerklich« genannte kleine Perzeption darf nicht dualistisch, weder als Seele noch als Körper, aufgefasst werden, genauso wie die passive Synthesis der Assoziation weder realistisch wie bei Hume noch idealistisch aufgefasst werden darf. Die phänomenologische Analyse der passiven Synthesis der Assoziation hat die ausbleibende Erklärung des Leib-Seele-Problems bei Leibniz geleistet und damit die phänomenologische Begründung der »Harmonie aller Monaden«, die als die Begründung der transzendentalen Intersubjektivität thematisiert wurde, durch die passive Synthesis der Assoziation der Paarung, wie unten in zweitem Teil dieser Arbeit gezeigt wird, ermöglicht. d) Die buddhistische Einsicht des Nicht-Ichs hat nicht nur ihren negativen Ausdruck, die substanzielle Auffassung des Ichs abzulehnen, sondern die positive Seite, das echte Selbst in der Selbstlosigkeit, 3

G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. XXVII.

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IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

von der Egozentrik des selbstbewussten Ichs abhebend, zu bejahen. Der Begriff des selbstlosen Selbst hat seine volle Entwicklung im Mahayana-Buddhismus, der sich vom aufs Kloster zentrierten Hinayana- (bzw. Theravada-)Buddhismus zum in allen sozialen Schichten verbreiteten Laienbuddhismus gewandelt hat. Diese Wandlung schließt die Änderung der Interpretation des Kernbegriffs des Buddhismus in sich ein, sowohl im theoretischen als auch im praktischen Sinne, nämlich hinsichtlich des Begriffs des Dharmas. Der Dharma wird mit »Gesetz, Recht, Sitte« oder philosophisch »Seinskategorie, Daseinsfaktor« übersetzt. Die sogenannten fünf Gruppen von Dharmas, durch die das Dasein des Menschen bedingt ist, sind »Körperlichkeit (rupa), Empfindung (vedana), Vorstellung (samjna), Gestaltung (samskara) und Erkennen (vijnana)«. In der Wandlung vom Hinayana- zum Mahayana-Buddhismus wird der Dharma anders interpretiert: Hier gibt es eine Änderung von der substanziellen zu einer nicht-substanziellen, relationistischen Interpretation. Nicht nur das Ich, sondern auch der Dharma darf nicht substanziell verstanden werden. Das ist nämlich die Einsicht der »Leerheit« des Dharmas. »Leer« bedeutet »substanzlos«. Der substanzlose einzelne Dharma entsteht in den wechselseitig abhängigen Relationen zu allen anderen Dharmas und verschwindet gleichzeitig. Das Zeitbewusstsein wird in der Lehre der Leerheit des Dharmas als die Fortsetzung dieses gleichzeitigen Entstehens und Verschwindens des jeweils bestimmten Dharmas im gesamten wechselseitigen Zusammenwirken aller Dharmas verstanden, in einer paradoxen Formulierung ausgedrückt als »diskontinuierliche Kontinuität«. In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, die Auffassung des Zeitbewusstseins als diskontinuierlicher Kontinuität im Mahayana-Buddhismus mit der Einsicht der paradoxen Simultaneität zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der Phänomenologie Husserls in eine komparative Betrachtung zu bringen.

2.

Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des MahayanaBuddhismus

Warum eigentlich ein Vergleich der Zeitlehre Husserls mit der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus? Es ist völlig klar, dass beide Denktraditionen auf sehr verschiedenen Kulturgrundlagen beruhen. Umso mehr ist Husserls Aussage über die von Karl Eugen Neumann 158 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

übersetzten Texte des Buddhismus interessant. Er sieht nämlich diese Texte als »transzendentale« Argumentationen an. 4 Daraus ergibt sich dann die Frage, was er als das »Transzendentale« in den buddhistischen Texten betrachtet. Neben dieser Frage ist es in der Tat eine große Überraschung, dass wir trotz der großen Differenz dieser Denktraditionen – oder gerade wegen dieser Differenz – eine fast identische, gemeinsame Einsicht darin sehen können, dass die monadologische Zeitigung bei Husserl und die non-egologische Auffassung der Zeit im Mahayana-Buddhismus auf die gemeinsame Dimension der Selbstkonstitution des Zeitstroms hinweisen. Aber um diese Ebene der Argumentation zu erreichen, ist es zunächst notwendig, einen groben Überblick über die Philosophie des Buddhismus zu geben.

§ 1. Die Grundeinsichten des Buddhismus Als allgemeingültige Grundansichten des Buddhismus werden die Vergänglichkeit, das Leiden und das Nicht-Ich (anatman) genannt. Im damaligen religiösen und philosophischen Streit in Indien um die Frage nach dem ewigen substanziellen Ich (atman) lehrte Buddha, dass alles Sein in stetiger Wandlung ist und man, wenn man dies nicht erkennt, ihm verhaftet ist und alles Sein als Leiden erscheint und dass das metaphysische substanzielle Ich in der uns erkennbaren Welt unerkennbar und das substanziell vorgestellte Ich nichts anderes ist als die dieses vergängliche Sein bestimmende Kombination bzw. das Zusammenwirken der fünf Gruppen von Daseinskategorien (dharma): Körperlichkeit (rupa), Empfindung (vedana), Vorstellung (samjna), Gestaltung (samskara) und Erkennen (vijnana). Diese Auffassung ist aber nicht von rein theoretischem Charakter und Interesse – nämlich das Wesen der Welt zu erkennen –, das man als Grundzug der griechischen Philosophie bezeichnen könnte, sondern wesentlich mit der religiösen Frage nach der Bedeutung des Lebens und des Todes verknüpft, nach der Erlösung vom Leiden, das vor allem aus dem Verhaftet-Sein an das vorgestellte, vergegenständlichte Ich entsteht, durch das Schauen der letzten Wirklichkeit, die nichts anderes als das voneinander »abhängige Entstehen (pratityasamutpada)« der Dhar4 Vgl. dazu E. Husserl, Über die Reden Gotamo Buddhos, in: Piperbote, Frühling 1925, S. 18 f., jetzt in Hua XXVII, 125.

159 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

mas ist, und durch die Ausübung des edlen achtgliedrigen Wegs (rechte Einsicht, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Wachsamkeit und rechte Sammlung).

§ 2. Die Lehre vom Leiden im Buddhismus, Leiden als Dharma Diese Grundeinsichten des Buddhismus können durch die Fokussierung auf eine der buddhistischen Grundeinsichten, nämlich das Leiden, verdeutlicht werden. Bei der Betrachtung über das Leiden kommt die sogenannte erste edle Wahrheit des Leidens oft zur Sprache. »Dies ist ferner, ihr Mönche, die edle Wahrheit vom Leiden, Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, wenn man etwas wünscht und es nicht erlangt, auch das ist Leiden, kurz fünf Gruppen des Ergreifens (upadanaskandha) sind Leiden.« 5 Drückt dieser Satz eine bloße Fixierung auf die natürliche, von uns erfahrene Tatsache des Schmerzes und der Trauer usw. aus? Und fasst der Buddhismus die Welt mit dieser Fixierung pessimistisch als ein grundsätzlich solchem Leiden erfülltes Übel auf, und fordert er von uns die Weltverneinung und die Weltflucht, um das Nirwana zu erreichen? Wenn das richtig wäre, hätte der Buddhismus als eine pessimistische Weltanschauung in der Tat nur denen etwas zu sagen, »die alle Illusionen über ihre eigene Bedeutung und unsere Welt verloren haben, Menschen mit einer großen Empfänglichkeit für Leiden, Schmerz und jede Art von Störung, verbunden mit einem tiefen Verlangen nach Glück im und einer starken Fähigkeit zum Verzicht« 6. Wir müssen aber erstens fragen, ob die buddhistische Lehre des Leidens zunächst nur auf der Ebene der Weltanschauung, nämlich der naturhaften, vorwissenschaftlichen Überzeugung, sowie der natürlichen Einstellung Husserls erörtert werden kann und wenn nicht, auf Zitiert bei E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, S. 11. Die fünf Gruppen bedeuten die frühere Gruppierung der Dharmas, die als Seinskategorien verstanden werden sollen. Ob der letzte Teil dieses Satzes »kurz fünf Gruppen …«, dessen gleicher Inhalt sich in verschiedenen Texten des Pali-Kanons befindet, zu den ältesten Texten gehört, ist umstritten. Vgl. dazu H. Oldenberg, Buddha, S. 199, Anm. 3; H. Dumoulin, Begegnung mit dem Buddhismus, S. 154, Anm. 4. 6 E. Conze, Der Buddhismus, S. 19. 5

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Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

welcher Ebene dann; zweitens, ob der Buddhist zur Überwindung des Leidens den Prozess der Weltverneinung oder Weltflucht für notwendig hält. Die erste Frage möchte ich im Folgenden von verschiedenen Ansichten her betrachten, zunächst von der der natürlichen Auffassung des Leidens gegenübergestellten transzendentalen Auffassung Menschings, dann der ontologischen Auffassung der Dharma-Lehre bei Rosenberg und Watsuji und schließlich von der existenziell-philosophischen Auffassung Takeuchis aus. Innerhalb dieser Auseinandersetzung werden auch einige Antworten auf die zweite Frage gegeben werden. Und zum Schluss möchte ich dann auf die mit dem Thema des Leidens zusammenhängenden Themenbereiche hinweisen, die für die phänomenologische Untersuchung des Buddhismus interessant sind. 1)

Leiden als Unheilsituation unter dem transzendentalen Aspekt

G. Mensching vertritt seit seinem frühen Aufsatz »Die Bedeutung des Leidens im Buddhismus und Christentum« 7 zu diesem Problem einen deutlichen Standpunkt. Er sieht im Ausdruck »Leiden« eine doppelte Bedeutung: einerseits die konkrete Tatsache des natürlichen Leidens und andererseits deren »Symptomcharakter« für die gesamte Unheilsituation des Menschen, die ihm nur in Berührung mit einer transzendentalen Welt bzw. Einsicht bewusst werden kann. 8 Seine Begründung für letztere Bedeutung lässt sich in drei Punkten zusammenfassen. a) Der erste betrifft die traditionelle transzendentale Auffassung des Leidens der Welt in den Upanischaden, deren Grundcharakter er auch im Buddhismus findet. Diese Auffassung ist im Zusammenhang mit dem atman, dem wahren Ich, das dem empirischen Ich gegenübersteht, in den Upanischaden so ausgedrückt: »Was außer dem Atman ist, ist leidvoll.« 9 Hier ist klar, dass die auf den atman bezogene Erkenntnis des Leidens keine natürlichen Wurzeln hat, sondern »aus der primären Ahnung des Transzendenten erwachsen« ist. 10

G. Mensching, Die Bedeutung des Leidens im Buddhismus und Christentum. Vgl. a. a. O., S. 9. 9 Zitiert bei H. Oldenberg, Buddha, S. 46. 10 G. Mensching, Die Bedeutung des Leidens im Buddhismus und Christentum, S. 9. Über das Verhältnis zwischen den Upanischaden und der buddhistischen Lehre in 7 8

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b) Als zweiten Punkt beruft er sich für seine Behauptung auf einen Text aus dem Majjhima-Nikaya: »Das Leiden nicht erkennen …, das wird Nichtwissen (Pali: avijja) genannt.« 11 Darin findet er den hinreichenden Grund für den umfassenden Begriff des Leidens, der sich auf die besondere Erkenntnis des Leidens als Unheil des Menschen bezieht, »denn welcher natürliche Mensch erkennte nicht, was ihm im normalen Sinne Leiden bereitet« 12. Was aber Nichtwissen ist, das man erst im ganzen Zusammenhang mit der Lehre vom »abhängigen Entstehen« (pratityasamutpada) der Dharmas richtig verstehen kann, und wie in Bezug darauf das Erkennen des Leidens gesehen werden kann, ist weiter unten zu betrachten. c) Als dritten Punkt sehe ich eine Begründung in Menschings Behauptung, »dass das empirische Leiden gar nicht das Entscheidende in der buddhistischen Lehre ist; empirisches Leid und empirische Freude stehen gewissermaßen auf gleicher Stufe«. 13 Was er hier meint, lässt sich in Bezug auf eine der buddhistischen Grundeinsichten, die Vergänglichkeit (Pali: anicca), und die damit verbundene Dharma-Lehre, wie von Glasenapp im Folgenden zeigt, einsichtig machen. Im Samyutta-Nikaya heißt es: »Wenn ich sagte: was auch immer empfunden wird, das gehört zum Leiden, so habe ich das gesagt, weil alle bedingten Daseinsfaktoren (Dharmas) dem Dahinschwinden, dem Vergehen unterliegen.« 14 Zur hier genannten Empfindung gehört natürlich auch die lustvolle Empfindung. Glasenapp sagt demgemäß: »Buddha hat nie behauptet, daß alles Irdische schmerzvoll ist (vgl. Samyutta 22, 60, vol. III, p. 69), sondern nur, daß es wegen seiner Vergänglichkeit rastlos, unruhevoll und darum unbefriedigend ist.« 15 Es gilt jetzt, die dem Wesen des Leidens zugesprochene Vergänglichkeit, der alle bedingten Dharmas unterliegen, in Betracht zu ziehen. Zunächst möchte ich die Vergänglichkeit hinsichtlich des Begriffs des Dharmas, der schwierige Interpretations-

Bezug auf die Erlösungsfrage vgl. E. Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Bd. I, S. 192 f., 195. 11 Majjhima-Nikaya, I, 54, zitiert bei H. Oldenberg, Buddha, S. 152. 12 G. Mensching, Buddhistische Geisteswelt, S. 48. 13 G. Mensching, Die Bedeutung des Leidens im Buddhismus und Christentum, S. 12. 14 Samyutta-Nikaya, 36, 11, zitiert bei H. v. Glasenapp, im Nachwort zu H. Oldenberg, Buddha, S. 416. 15 Ebd.

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fragen einschließt, umreißen, um dann die existenziellen Ansichten zu erörtern. 2)

Leiden in der Dharma-Lehre

Das Wort Dharma wird bis heute auf verschiedene Weisen interpretiert. 16 Es ist hier nötig, uns diesem Problem der Dharma-Lehre selbst zuzuwenden. Vor allem wichtig sind die Studien von O. Rosenberg und T. Watsuji. Rosenbergs Meinung wird jetzt im Westen von vielen anerkannt, doch Watsujis Auffassung scheint mir zutreffender zu sein – allerdings wird ihr eigentlicher philosophischer Gehalt von vielen Forschern dieses Gebiets noch nicht ausreichend berücksichtigt. Beiden gemeinsam ist, dass sie das Schweigen Buddhas über die metaphysischen Fragen nicht bloß als eine Ablehnung aus praktischen Gründen betrachten, sondern auch als eine philosophisch bestimmte Haltung, wobei sie durch ihre Interpretation der DharmaLehre zur philosophischen Sichtweise auf den Buddhismus sehr viel beigetragen haben. 17 Aber bei Rosenberg finde ich eine einseitig vom Hinayana-Buddhismus geprägte Auffassung, wie dies in Watsujis Kritik verdeutlicht wird. a) Bezüglich des Dharmas ist es schwierig, seinen eigentlichen Sinn im Buddhismus zu bestimmen. Nach Glasenapps Einteilung ist er einerseits »Weltgesetz, Norm, Recht, Vorschrift, Lehrtext«, andererseits das durch das Weltgesetz Bedingte, d. h. die gesetzmäßigen Erscheinungen, Gegebenheiten, Daseinselemente. 18 Von den vielfachen Bedeutungen hebt Rosenberg die der Etymologie des Worts dharma (das, was hält) entsprechende traditionelle Definition »der Träger seines Merkmales« 19 hervor. Dabei kritisiert er, sich auf Texte mehrerer moderner japanischer Autoren über den Dharma den beAls wichtige Literaturen: M. u. W. Geiger, Pali: Dharma; O. Rosenberg, Probleme der buddhistischen Philosophie; S. T. Stcherbatsky, The Central Conception of Buddhism and the Meaning of the Word »Dharma«; T. Watsuji, Genschi-bukkyo no jissentetsugaku; H. v. Glasenapp, Zur Geschichte der buddhistischen Dharma-Theorie. 17 Über Rosenbergs Beitrag vgl. H. v. Glasenapp, a. a. O., S. 383, Nachwort zu H. Oldenberg, Buddha, S. 420 f., Die Philosophie der Inder, S. 305. Über Watsujis Beitrag vgl. H. Nakamuras Nachwort zu T. Watsuji, in: T. Watsuji, Gesamte Werke, Bd. 5, S. 581–585, Y. Takeuchi, Probleme der Versenkung im Ur-Buddhismus, S. 9. 18 Vgl. H. v. Glasenapp, Zur Geschichte der buddhistischen Dharma-Theorie, S. 385. 19 Rosenbergs Interpretation dieser Definition bezieht sich auf eine Anmerkung des chinesischen Kommentators Fukuang zu Abhidharma-Kosha, 1, 2a, vgl. O. Rosenberg, Probleme der buddhistischen Philosophie, S. 81, Anm. 11. 16

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ziehend, die bei ihnen meist vorherrschende naiv-realistische Auffassung. Sie verstehen den Terminus Dharma als die einzelnen empirischen Gegenstände und Erscheinungen selbst sowie als dingliches Objekt, jedes Gefühl, jede Vorstellung usw., »sobald sie den Gegenstand darstellen, auf den sich das Bewusstsein des Subjekts richtet« 20. Seine Kritik besagt, dass in dieser Auffassung das Dharma-System bei Vasubandhu und anderen buddhistischen Philosophen, in das z. B. auch die dem Sein nicht unterworfenen Dharmas (asamskrta) eingeschlossen sind, völlig unverständlich wird, und ferner, dass sie dem in der klassischen Dogmatik des Hinayana-Buddhismus vertretenen Prinzip der Augenblickstheorie völlig widerspricht; denn dieses besagt, dass jeder Dharma nur einen Moment dauert: Die bewusste Persönlichkeit oder der empirische Gegenstand sind folglich eine Kette unaufhörlich wechselnder Augenblickskombinationen, welche aus einzelnen, für einen Moment in Erscheinung tretenden Dharmas bestehen. 21 Man darf also den Dharma als Träger nicht mit den durch die Dharmas ständig konstituierten Gegenständen identifizieren. Rosenberg sieht die Veranlassung dieses Missverständnisses darin, dass man in den verschiedenen Darstellungen der Dharma-Lehre in den umfangreichen Texten des Abhidharma das Kriterium der Augenblickstheorie nicht klar erkannt oder nicht durchgehend berücksichtigt hat. In der Tat finden sich in vielen Texten umfangreiche physische oder psychophysiologische Darstellungen, die die naiv-realistische Auffassung motivieren könnten. Aber diese Mehrdeutigkeit des Dharmas lässt sich nach Rosenberg so erklären, dass Predigt und Traktat den Zuhörern entsprechend auf verschiedene Wiese dargeboten wurden, den scholastisch Gelehrten mittels psychologischer und erkenntnistheoretischer Analyse und den gewöhnlichen Menschen in physisch-physiologischer Rede. 22 Philosophisch wichtig ist in der Auffassung Rosenbergs die oben kurz erwähnte Doppelbedeutung des Wortes Dharma: nämlich Dharma als Eigenschaften, als momentane Merkmale, die alles in der Erfahrung Gegebene kombinieren, und Dharma als der substanzielle A. a. O., S. 86 f., Anm. 26. Vgl. a. a. O., S. 67 f., 98; vgl. auch E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, S. 207. 22 Vgl. O. Rosenberg, Probleme der buddhistischen Philosophie, S. 112–119, besonders die auf S. 144, Anm. 18 dargestellte Tafel über das korrelative Verhältnis zwischen beiden. Über die verschiedene Redeweise im Bereich des Mahayana-Buddhismus vgl. E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, S. 146 f. 20 21

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Träger dieser Merkmale selbst, der als absolute Substanz hinter der Erscheinung dieser momentanen Elemente steht. 23 Rosenberg rückt diese zweite Bedeutung in das Zentrum und definiert den Dharma als »die wahrhaft-realen, transzendenten, unerkennbaren Träger oder Substrate derjenigen Elemente, in welche der Bewusstseinsstrom mit seinem Inhalt zerlegt wird« 24. In dieser substanziellen Auffassung des Dharmas sieht er als Konsequenz die Unterscheidung des erkenntnistheoretischen und des ontologischen Standpunktes des Buddhismus. Erkenntnistheoretisch sind nach ihm die Vertreter des Buddhismus psychologische Idealisten oder Phänomenalisten, aber ontologisch, d. h. in Bezug auf die Frage nach dem Wesen des Dharmas selbst, sind »alle Buddhisten Realisten in dem Sinne, dass sie alle ein-stimmig das wahrhaft-reale Wesen anerkennen«. 25 Diese Einteilung in einen erkenntnistheoretischen und einen ontologischen Aspekt ist sehr problematisch, weshalb sie im Weiteren in mehreren Aspekten gründlich kritisiert wurde. b) Die zunächst auftauchende kritische Frage bezüglich der anscheinend klaren Argumentation Rosenbergs dreht sich um seine Interpretation des Dharmas vom Standpunkt des Hinayana-Buddhismus. Seine Betrachtung über das Wesen des Dharmas beruht hauptsächlich auf der Dharma-Lehre der Sarvastivada-Schule, die das Ansich-Sein des Dharmas behauptet; wie kann dann seine Auffassung mit der Lehre von der Dharma-Leerheit (dharma-sunyata) im Mahayana-Buddhismus, die die Dharmas nur in ihren wechselseitig abhängigen Relationen sieht, 26 in einen erklärbaren Zusammenhang gebracht werden, um dadurch die im gesamten Buddhismus geltende ursprüngliche Bedeutung des Dharmas zu erhalten? Gerade gegen diesen Punkt richtet Watsuji seine Kritik. Wenn der Dharma, wie Rosenberg ihn sieht, mit der Substanz, dem Träger der Elemente identisch ist, muss die Negation des substanziellen An-sich-Seins des Dharmas nach der Auffassung der Leerheit des Dharmas im Mahayana-Buddhismus die Negation des Dharmas selbst bedeuten; eine solche Negation findet man aber weder bei Nagarjuna, dem Vertreter der »Schule des Mittleren Weges«

Vgl. O. Rosenberg, a. a. O., S. 109. A. a. O., S. 101. 25 A. a. O., S. 107. 26 Vgl. dazu E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, S. 148 f., 173; auch H. Waldenfels, Absolutes Nichts, S. 27–33. 23 24

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(Madhyamaka), noch in irgendeiner buddhistischen Philosophie des Mahayana-Buddhismus. Nach Watsuji bedeutet Nagarjunas Leerheit des Dharmas, dass sie das Problem des letzten Gliedes im abhängigen Entstehen des Dharma-Systems, 27 nämlich der Unwissenheit (avidya), durch den ursprünglichen Grund der »Leerheit«, Wesenlosigkeit oder Unwirklichkeit, die weder Sein noch Nicht-Sein ist, auflöst und zugleich erklärt, dass das Wesen des Dharmas nicht in dem eigenen Wesen, dem An-sich-Sein, der Unabhängigkeit von allen anderen liegt, sondern in der Bedingtheit, in der gegenseitigen abhängigen Relation. 28 Noch wichtiger ist Watsujis Meinung, dass vor der späteren Entstehung der Frage nach dem An-sich-Sein oder der Leerheit des Dharmas der Gedanke des abhängigen Entstehens der Dharmas vorhanden war, der die gemeinsame Basis der beiden Standpunkte ausmachte. 29 c) Watsuji betrachtet den Dharma im Zusammenhang mit der buddhistischen Grunddoktrin des Nicht-Ichs (Pali: anatta), die zusammen mit der Vergänglichkeit (Pali: anicca) und dem Leiden (Pali: dukkha) die drei Grundeinsichten des Buddhismus bildet. Er beginnt seine Betrachtung des besonderen Standpunktes des Buddhismus gegenüber den anderen Religionen und Philosophien im damaligen Indien mit der Frage nach dem Grund für Buddhas Schweigen bezüglich der metaphysischen Probleme. In der Zeit, zu der Buddha lebte, standen in Indien mehrere religiöse und philosophische Richtungen in voller Entfaltung und stritten um metaphysische Fragen. Einen Grundgegensatz bildeten der Brahmanismus, der die Ewigkeit des universalen und individuellen Ichs behauptete, und die Materialisten, die nur die mechanische Verbindung der materiellen Elemente anerkannten. Der Grund für Buddhas Schweigen ist nach Watsuji nicht nur, wie oft gesagt wird, dass Buddha solche theoretische Argumentation für den letzten Zweck der Erlösung für unnütz hielt, sondern vielmehr auch, dass Buddha die verschiedenen Antworten auf solche Fragen als nicht an

Die Lehre vom abhängigen Entstehen mit 5, 6, 9, 10, 12 Gliedern ist nach Watsuji aus der Forschung in der Abhidharma-Zeit entstanden, die das Verhältnis zwischen mehreren Dharmas zu bestimmen suchte und zugleich die Frage nach der Einheit des Ichs berührte. Vgl. T. Watsuji, Genschi-bukkyo no jissentetsugaku, S. 136, 173–193. 28 Vgl. T. Watsuji, a. a. O., S. 236, 245. 29 Vgl. T. Watsuji, Bukkyo tetsugaku ni okeru hoh no gainen to kuh no benshouhou, S. 467. 27

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seine Einsicht heranreichend und im Gegensatz dazu seine Lehre als eine noch tiefere Erkenntnis angesehen hat. 30 Mehrere Buddhologen bemerken in dieser kritischen Haltung gegen alle dogmatische Metaphysik eine Nähe zum Kritizismus Kants. Doch Watsuji weist hier auf den nicht zu übersehenden Grundunterschied zwischen beiden hinsichtlich ihrer Traditionen, der indischen und griechischen Gedankenwelt, hin. Kants Kritik der Erkenntnis erreicht zum Schluss die gesuchte Begründung der mathematischen Naturwissenschaft, deren Begriffe erst bei den Griechen entstanden sind. Den Indern dagegen ist die mathematische Welt im wissenschaftlichen Begriff sehr fremd, und das Wissen, sei es spekulatives oder empirisches, bedeutet für sie nie rein theoretisches, sondern immer gefühltes, gewünschtes, auf Werte bezogenes, praktisches Wissen. Das für das Verständnis des Dharmas Entscheidende ist nach Watsuji, dass Buddha gerade in dieser alltäglichen Erfahrung die sie selbst ermöglichenden Grundkategorien, die Dharmas, gefunden hat. 31 Aber hier muss der deutliche Unterschied zwischen der Grundeinsicht des Nicht-Ichs und der Metaphysik der transzendentalen Apperzeption des transzendentalen Ichs hervorgehoben werden. Wie im »Krisis«-Buch unmissverständlich gezeigt, kritisiert Husserl Kants Annahme der transzendentalen Apperzeption des Ichs insofern sehr scharf, als die synthetische Einheit bloß formal gedacht werde. Ob »Grundkategorie« genannt oder nicht, Watsuji weist zu Recht darauf hin, dass der Dharma das bezeichnen kann, womit die die alltägliche Erfahrung ermöglichende transzendentale Bedingung nicht einfach metaphysisch angenommen, sondern eben durch phänomenologische Analyse weiter untersucht werden kann. Jedenfalls ist klar, dass der Standpunkt der buddhistischen Philosophie, wie er sich in der Lehre vom Dharma zeigt, dem Standpunkt der Phänomenologie Husserls wesentlich nähersteht als dem des kantischen Kritizismus mit der metaphysischen Annahme der transzendentalen Apperzeption des transzendentalen Ichs.

30 31

Seine Behauptung beruht z. B. auf den Texten Digha-Nikaya IV, 30; XXIX, 35. Vgl. T. Watsuji, a. a. O., S. 107 f.

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3)

Nicht-Ich-Lehre und Dharma als Seinskategorie

Diese Erkenntnis des Dharmas ist bei Watsuji als mit der Nicht-IchLehre direkt verbunden gedacht. Die Nicht-Ich-Lehre zeigt nach ihm: 1. Wenn man das Ich (atman) als überempirisches transzendentales Ich denkt, gibt es dieses in der uns erkennbaren Welt nicht. Das überempirische metaphysische Ich ist vom Bereich des Erkennens ausgeschlossen. 2. Wenn man unter dem Ich das empirische erkennende Subjekt versteht, ist es nicht das Ich im Sinne des atman, sondern nur die fünf Gruppen des Dharmas, in die alles Seiende eingeteilt wird: Körperlichkeit (rupa), Empfindung (vedana), Vorstellung (samjna), Gestaltung (samskara) und Erkennen (vijnana). 32 Eine wichtige Konsequenz daraus ist, dass das erst mit der Annahme des Ichs und der ihm gegenüberstehenden Welt mögliche Subjekt-Objekt-Schema aufgehoben ist; es gibt nur die Kombination der fünf Gruppen. Der Dharma ist also weder die Form des Subjekts noch die realen Elemente des Objekts, sondern die Grundkategorie des Seins selbst. 33 Watsuji bezeichnet den Standpunkt, der das zeitlich Seiende für das überdauernde, substanzielle Seiende hält und den Gegensatz zwischen dem individuellen Subjekt und dem Objekt der Außenwelt aufstellt, als den natürlichen Standpunkt. Erst durch die Ausschaltung dieses natürlichen Standpunktes ist das Erkennen des die alltägliche Erfahrung ermöglichenden Dharmas, der Kategorie, möglich, die nicht die Form des alltäglich erfahrenden Subjekts, sondern die Seinsweise der schlichten Wirklichkeit selbst ist. 34 Wie die fünf Gruppen des Dharmas im Lichte der Änderung des Standpunktes verstanden werden sollen, zeigt Watsuji ausführlich in seinem Buch. 35 Hier ist aber nicht der Ort, darauf einzugehen. Dafür referiere ich im Weiteren auf seine Erklärung der Gesamtcharakterisierung dieser Änderung, besonders in Bezug auf den Begriff des Bewusstseins, der für die phänomenologische Betrachtung ein besonderes Gewicht hat. a) Beim natürlichen Standpunkt (der »natürlichen Einstellung« nach Husserl) ist das Ich der Außenwelt gegenübergestellt. Das Ich sieht, berührt und erfährt die Welt und weiß auch um die nicht direkt erfahrbaren Bereiche durch die Fähigkeit des Denkens, und zwar mit 32 33 34 35

Vgl. a. a. O., S. 117. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., S. 115 f. Vgl. a. a. O., S. 120–129.

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anderen Ichs zusammen in der vielfältigen Verquickung von Liebe, Hass, Freude, Leid usw. in der sozialen Gemeinschaft. Gegenüber solchem natürlichen Standpunkt erklärt Watsuji den Standpunkt des Nicht-Ichs zunächst in einer erkenntnistheoretischen Fragestellung: 36 »Der Standpunkt des Nicht-Ichs behauptet, dass es kein substanziell festhaltbares Ich gibt, und fordert, bei der Betrachtung aller Phänomene jedes Ich auszuschalten. Dies kommt deutlich zum Ausdruck im Text der Erklärung über das abhängige Entstehen in folgender Formulierung: ›Wer empfindet? Ich sage nicht, dass er empfindet (dass es einen Empfindenden gibt). Die Frage ist nicht richtig gestellt. Man muss fragen, durch welche Abhängigkeit es das Empfinden gibt.‹ 37 Das heißt, der Ausdruck der Alltagssprache, die das Subjekt gebraucht, wird vermieden, ich (du, er) empfinde nicht, man erkennt nur, dass es Empfindung gibt. […] Also wenn man überhaupt den Ausdrücken ›dass etwas von mir empfunden ist‹ oder ›dass etwas von mir erkannt ist‹ das ›von mir‹ wegnimmt und nur das ›dass etwas empfunden oder erkannt wird‹, übrig lässt, dann ist hier die wichtige Änderung der Bedeutung des Bewusstseins eingetreten.« Es ist völlig klar, dass diese Art des Einstellungswechsels genauso schwierig wie oder noch schwieriger als der Einstellungswechsel von der natürlichen zur transzendentalen Einstellung in der Phänomenologie Husserls ist. Die besondere Schwierigkeit liegt natürlich in der Ausschaltung des Ichs, das als das Subjekt dem Objekt der Welt gegenübergestellt wird. Die herkömmliche Erkenntnistheorie der westlichen Denktradition, die Frage nach dem »Wie« und »Was« der Erkenntnis, hat ihre selbstverständliche Voraussetzung, dass das, was hier gefragt wird, das Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt in der Welt ist. Aber hier in diesem Text wird gefordert, diese Voraussetzung aufzugeben. Das hier Geforderte ist die radikale Reduktion des Ichs auf das abhängige Entstehen von Dharmas. b) Falls diese Reduktion verwirklicht wird, wie sieht dann die durch den Einstellungswechsel geänderte Bedeutung des Bewusstseins aus? Dazu erklärt Watsuji an den obigen Text direkt anschließend Folgendes: »Eigentlich bedeutet das Bewusstsein, dass etwas mir

Im Folgenden meine inhaltliche Übersetzung von Watsuji, a. a. O., S. 131 f.; die Hervorhebungen stammen von Watsuji. 37 Samyutta-Nikaya, XII, 12. 36

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bewusst ist. In diesem Sinne ist das Problem des Bewusstseins das der Subjektivität und so auch das der Psychologie. Aber wenn man das Ich ausschaltet, ist das Problem weder ein Problem der Subjektivität noch eines der Psychologie. Hier bedeutet das Bewusstsein, ›dass etwas bewusst ist‹. Dies ist eine Seinsweise, von der etwas notwendig abhängt, um überhaupt zu sein, kurzum, man soll dies den Dharma dessen, ›dass etwas ist‹, nennen. Die Fünf-Gruppen-Lehre bezeichnet diesen Dharma nicht nur mit dem Namen des Bewusstseins, sondern denkt ihn in der Unterscheidung der Empfindung, der Vorstellung, der Gestaltung und des Erkennens. ›Dass etwas ist‹ bedeutet, dass etwas empfunden oder erkannt usw. ist. Auf diese Weise lässt der Standpunkt des Nicht-Ichs durch das Aufheben der Subjektivität (und daher auch durch das Aufheben ihres Gegensatzes zur Objektivität) das Bewusstsein im Sinne der Seinsweise deuten.« Hier wird gezeigt, dass die substanzielle Annahme des Ichs vermieden wird, gerade weil es nur das abhängige Entstehen der Dharmas (hier z. B. des Dharmas des Empfindens) gibt. Dann muss gefragt werden, unter welchem abhängigen Entstehen das Phänomen des Ich-Bewusstseins entsteht; anders gesagt, welches Verhältnis das abhängige Entstehen von Dharmas zur Evidenz des cartesianischen Selbstbewusstseins einnimmt. Aber diese Frage steht bei Watsuji nicht zur Debatte. Stattdessen betrachtet er das Bewusstsein als Dharma im Sinne der »Seinsweise«. Was heißt es aber eigentlich, das Bewusstsein im Sinne der Seinsweise zu denken? Gerade der Begriff der Seinsweise als solche muss im Zusammenhang mit der Lehre des abhängigen Entstehens von Dharmas geklärt werden. Ohne Vertiefung dieser Fragestellung ist es klar, dass Watsuji diese Gegenüberstellung des Begriffs Bewusstsein und des Begriffs Sein von der damals gut bekannten Gegenüberstellung des Standpunkts Husserls und desjenigen Heideggers übernommen hat. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Watsuji Bewusstsein, das als eng mit dem Begriff des Ichs bei Husserl verbunden gedacht wird, im Sinne der egologischen Auffassung des reinen Ichs in der Periode der »Ideen I« versteht und das »Bewusstseinsleben« in der monadologischen Auffassung nicht sieht. Also kann die Gegenüberstellung von Bewusstsein und Sein, der Watsuji im Sinne Heideggers folgt, zur phänomenologischen Analyse der Konstitution der passiven und aktiven Intentionalität in der monadologischen Phänomenologie wenig beitragen. Wie im Weiteren näher zu erörtern sein wird, findet man unter den Begriffen des Bewusstseins und des Unbe170 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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wussten eine tiefgreifende Analyse des Bewusstseinsstroms in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus. 4)

Dharma-Lehre und der philosophische Standpunkt der Mahayana-buddhistischen Philosophie

Wie Rosenberg die verschiedenen Qualitäten des Dharmas in den frühbuddhistischen Texten unterscheidet, behauptet auch Watsuji nicht, dass die von ihm hervorgehobene eigentliche Bedeutung des Dharmas in allen Texten vorzufinden ist. Er zeigt an späteren Texten, wie diese ursprüngliche Bedeutung in der weiteren Entwicklung allmählich verflachte und von der natürlichen Einstellung überdeckt wurde; 38 aber hier ist nicht der Ort, dies auszuführen. Das für uns Wichtigere ist seine treffende Kritik an der rosenbergschen substanziellen, sei es pluralistischen oder monistischen Auffassung des Dharmas, gerade weil diese Auffassung von mehreren Gelehrten wie z. B. H. v. Glasenapp und G. Mensching anerkannt wird. 39 a) Wir haben schon oben gesehen, dass die Lehre von der Leerheit des Dharmas innerhalb der rosenbergschen Auffassung schwer erklärbar ist. Zudem weist Watsuji auf Rosenbergs Missverständnis der Anmerkung Fukuangs zu Abhidharma-Kosha 1, 2a hin, auf der Rosenberg seine substanzielle Auffassung aufgebaut hat. 40 Es handelt sich um die Interpretation der Begriffe Selbsterscheinung (svalaksana, jap. 自相, Jisō) und An-sich-Sein (svabhava, jap. 自性, Jishō) des Dharmas im Satz »Dharma hat An-sich-Sein«, den die SarvastivadaSchule als den eigenen Standpunkt behauptet. Nach der Anmerkung Fukuangs bedeuten hier An-sich-Sein (Selbst-Sein) und Selbsterscheinung dasselbe, aber wenn die Bedeutung des An-sich (Selbst) betont wird, spricht man von An-sich-Sein, und wenn der mit anderen Dharmas zusammenhängende Charakter des Dharmas beachtet wird, von Selbsterscheinung. Rosenberg interpretiert den Satz »Dharma hat An-sich-Sein« gemäß der Anmerkung Fukuangs »AnVgl. T. Watsuji, a. a. O., Kap. II. Obwohl Glasenapp in seiner früheren Abhandlung »Zur Geschichte der buddhistischen Dharma-Theorie« kritische Distanz zu Rosenbergs Meinung gewahrt hat (vgl. S. 385, 413), stimmt er ihm später (z. B. in: Die Philosophie der Inder, S. 305 f.) deutlich zu. Eine ähnliche Meinung bei G. Mensching findet man in: Buddhistische Geisteswelt, S. 50. 40 Vgl. T. Watsuji, Bukkyo tetsugaku ni okeru hoh no gainen to kuh no benshouhou, S. 465–469. 38 39

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sich-Sein (Selbst-Sein) bedeutet hier Selbsterscheinung« so, dass der Dharma sein Phänomen hat; dadurch kommt er zu der Meinung, dass hinter dem Phänomen die das Phänomen habende, transzendentale Substanz (= Dharma) sein muss. 41 Aber der Satz »Dharma hat Ansich-Sein« bedeutet, dass das An-sich-Sein des Dharmas seine je eigene Erscheinung hat und zugleich die Erscheinung des Dharmas ihr je eigenes An-sich-Sein hat, aber nicht, dass der Dharma die hinter der Erscheinung seiende transzendentale Substanz ist. Vor allem behauptet Watsuji, dass auch beim Standpunkt des An-sich-Seins des Dharmas in der Sarvastivada-Schule immer betont werde, dass man den Dharma wirklich schaut. Das Schauen des Dharmas ist immer das Schauen des Phänomens des Dharmas und nicht das Schauen von etwas Transzendental-Substanziellem. 42 Aus obigen Gründen lehnt Watsuji die Interpretation des Dharmas als »transzendentalen, substanziellen Träger« sowie die Behauptung, dass die buddhistische Philosophie eine Metaphysik sei, die außer dem Phänomen des Seins das unerkennbare Reale setzt, ab. 43 b) Durch das Vorangehende ist Watsujis Erklärung des philosophischen Standpunktes des Buddhismus und von dessen DharmaLehre klar geworden, sodass ihre naiv-realistische und naturalistische wie auch ihre dogmatisch-metaphysische Interpretation nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es erübrigt sich auch zu sagen, dass das Verständnis des Dharmas bei Watsuji nicht, wie oft gesagt, als ein erkenntnistheoretisches oder neukantianisches bezeichnet werden kann. 44 Aber als Problem bleibt natürlich die oben genannte Frage, auf welche Weise nach Watsuji das Bewusstsein im Sinne der Seinsweise im Zusammenhang mit dem abhängigen Entstehen von Dharmas erklärt werden kann. c) Das Schauen des Dharmas ist einerseits ein Schauen dessen, dass alles Seiende vergänglich, Leiden und Nicht-Ich ist, und andererseits ein Schauen dessen, dass die Dharmas alles Seienden Körperlichkeit, Empfindung, Vorstellung, Gestaltung und Erkennen oder die Dharmas der anderen Systeme sind, die sich aus diesen fünf Gruppen entwickelten. Sehr interessant ist Watsujis Behauptung, dass dieses Vgl. die entsprechende Stelle bei O. Rosenberg, Probleme der buddhistischen Philosophie, S. 81, Anm. 11, S. 101, Anm. 8. 42 Vgl. T. Watsuji, a. a. O., S. 467 f. 43 Vgl. a. a. O., S. 469. 44 Für ein solches Beispiel vgl. Y. Takeuchi, Probleme der Versenkung im Ur-Buddhismus, S. 18. 41

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Schauen oder Erkennen des Dharmas der Ideation bzw. der Wesensanschauung im phänomenologischen Sinne Husserls entspreche. Dazu erklärt er: »M. a. W. ist das nichts anderes, als […] die praktische Wirklichkeit als solche, wie sie ist, zu betrachten und in der praktischen Wirklichkeit selbst den Dharma, der der Grund des Zustandekommens der Wirklichkeit ist, zu schauen; noch anders gesagt, den natürlichen Standpunkt auszuschalten und auf dem Standpunkt der Ideation stehend das So-Sein der praktischen Wirklichkeit zu schauen, dies ist das echte Erkennen.« 45 Eine genaue Betrachtung über die Gemeinsamkeit und Differenz zwischen beiden ist unten 46 noch auszuführen. d) Im Zusammenhang mit der obigen philosophischen Interpretation des buddhistischen Standpunktes möchte ich die daher geprägte Auffassung des Leidens diskutieren. Der japanische Indologe H. Ui interpretiert den Mittelweg Buddhas aus der oben erwähnten vom Subjekt-Objekt-Schema freien Perspektive. Er sieht im damals verbreiteten Asketismus und Yoga die gemeinsame Voraussetzung des Dualismus, der den Leib und die Seele substanziell auffasst. Der Asketismus sieht unter dieser Voraussetzung den Grund der Schuld und des Bösen im Leib und versucht den Leib auf die minimalste Existenz zu reduzieren; aber die Vervollkommnung dieser Bemühung ist im faktischen Leben unerreichbar und deshalb immer mit einem Pessimismus verbunden. Der Yoga versucht auf der gleichen Basis des Dualismus durch die Versenkung der Seele in den Zustand zu gelangen, dass man die leiblichen Momente nicht mehr empfindet und so die zeitweilige Erlösung vom Leiden erreicht; solange sich der Geist nicht vom Leib trennt, bleibt man in der Existenz des Leidens. 47 Buddha hebt davon seinen eigenen Standpunkt ab, der vom Dualismus Leib-Seele frei ist; er sieht den Grund des Leidens weder im Leib noch in der Seele, sondern in einer bestimmten Verbindung der Dharmas, nämlich dem Anhaften – das natürlich selbst auch als Dharma gedacht ist – an dem aus Dharmas zusammengesetzten Seienden. 48 Für die Erlösung vom Leiden ist hier das Schauen der sich bedingenden Verhältnisse der Dharmas zentral; jedenfalls ist klar, dass T. Watsuji, a. a. O., S. 165; vgl. auch seine eindeutige Aussage: »Ideation in diesem Sinne [die Ideation in der Phänomenologie] entspricht dem Schauen des Dharmas […]« (a. a. O., S. 154, Anm. 16). 46 Vgl. S. 176 ff. 47 Vgl. H. Ui, Indo tetsugaku kenkzu, Bd. 2, S. 218. 48 Vgl. a. a. O., S. 216 f. 45

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IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Selbstpeinigung, Weltverleugnung und Weltflucht und der damit verbundene Pessimismus dem Buddhismus im Sinne des Mittelwegs, der im Mahayana-Buddhismus wieder deutlich hervorgehoben ist, prinzipiell entgegensteht. 49 Die Praxis der Versenkung ist im Buddhismus nicht Selbstzweck, der als Spaltung von Leib und Seele für sich verfolgt wird, sondern das Mittel für das vom »Leiden« befreite schöpferische Tun im alltäglichen Leben. 50 Auf das vorher Besprochene zurückblickend fasse ich zusammen, wie das Leiden in der Dharma-Lehre gesehen wird. In ihr bedeutet Leiden nicht das natürliche Leiden selbst, sondern den dieses Leiden ermöglichenden, von einer bestimmten Bedingung, nämlich der des Anhaftens, abhängigen Zusammenhang der Dharmas, der gegenüber der substanziellen Auffassung des Leib-Seele-Dualismus als die transzendentale Bedingung der natürlichen, konkreten Wirklichkeit angeschaut werden kann. Dieses Schauen der Dharmas führt zur Erlösung vom Leiden und wird Erleuchtung genannt, der ein vom natürlichen Standpunkt befreiter neuer Schritt zur Vollkommenheit des Nirwanas ist. Hier zeigt sich die philosophische Eigenschaft des Buddhismus, dessen Kern D. T. Suzuki die mit dem »Sehen« wesentlich verbundene »Erleuchtungserfahrung« genannt hat.

§ 3. Leiden als existenzielle Erfahrung Nun ist eine andere Perspektive in unsere Betrachtung hineinzubringen, die im natürlichen Leiden selbst eine positive, religiöse Bedeutung sehen lässt und zur Auffassung der Vergänglichkeit eine neue Perspektive beitragen kann. Ein japanischer Religionsphilosoph, Y. Takeuchi, kritisiert die enge Auffassung der Vergänglichkeit und der Nicht-Ich-Lehre in der Dharma-Lehre des Hinayana-Buddhismus und bezeichnet sie als »Produkte des objektivierenden Denkens, das ganz entfremdet ist von der Existenzerhellung durch die verinnerlichte Kraft der Vergänglichkeit und daher den eigentlichen Sinn der Vergänglichkeit und des ›Nicht-Ichs‹ bis zur quantitativen Bestimmung des diskrimi-

Zum Mittelweg, der auch vom Durst nach Vernichtung (vibhavatrsna) frei sein soll, vgl. E. Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie Bd. 1., S. 195 f. 50 Vgl. H. Ui, Indo tetsugaku kenkzu, S. 220 f. 49

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Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

nierenden Denkens verdirbt« 51. Wir müssen aber das Objekt dieser Kritik genau kennen und von der Bedeutung der eigentlichen Dharma-Lehre des Urbuddhismus unterscheiden. Takeuchi übt diese Kritik vor allem an der in Satipatthana dargestellten Betrachtung über die Vergänglichkeit anhand eines verwesenden Leichnams und unseres Körpers. Sie ist in der Tat ein typisches Beispiel dafür, was Rosenberg die physische, psycho-physiologische Betrachtungsweise genannt hat und nach Watsuji die zum natürlichen Standpunkt gehörende naiv-realistische Betrachtung ist. Aber dies kann man, wie oben gesagt, nicht als das Wesentliche der Dharma-Lehre im Abhidharma behaupten. Andererseits stimmt seine Kritik insofern, als man die Quelle des in der Versenkung erfolgten eigenartigen Schauens der Dharmas vergisst und die objektivierende Betrachtung, die tatsächlich im Abhidharma oft vorhanden ist, als solche fixiert oder darin ein metaphysisches System denken will. Das, was Takeuchi oben die Existenzerfahrung durch die verinnerlichte Kraft der Vergänglichkeit genannt hat, muss weiter erklärt werden. Er meint mit der verinnerlichten Kraft der Vergänglichkeit die religiöse Bedeutung des natürlichen Leidens, die mit der »Grenzsituation« bei Jaspers oder der vorlaufenden »Entschlossenheit zum Tode« bei Heidegger vergleichbar ist: jene Bedeutung, die die Frage nach dem Woher und Wohin unseres Lebens zutage fördert und das läuternde Erwachen hervorruft, »das die tiefste Begründung für unser Leben wieder stiften will« 52. Dieses Moment, das oben bei Menschings Begriff des Leidens als Unheilsituation schon angedeutet war, im Zusammenhang mit der Dharma-Lehre aber nicht genug zur Betrachtung gekommen ist, muss als Ergänzung für das Verständnis des Leidens im Buddhismus mitberücksichtigt werden; wir finden in mehreren Texten des Frühbuddhismus eine ganze Reihe von Beispielen dieses Motivs. Das mit Existenzerhellung Gemeinte kommt in Takeuchis Erläuterung des letzten Grundes des Leidens in der Lehre vom abhängigen Entstehen zum Ausdruck. Er erklärt ihn aus dem wechselseitigen Verhältnis zwischen dem fünften Glied – dem Ergreifen oder Anhaften (Pali: upadana) – und dem sechsten Glied – dem Durst oder der Begierde (Pali: tanha) – in der Lehre vom sechsgliedrigen abhängigen Entstehen und hebt die in diesem Verhältnis des Y. Takeuchi, Probleme der Versenkung im Ur-Buddhismus, S. 28; vgl. dazu H. Dumoulin, Begegnung mit dem Buddhismus, S. 34 f. 52 Y. Takeuchi, a. a. O., S. 70. 51

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IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Ergreifens und des Dürstens sehr tief verwurzelte Egozentrik hervor. 53 Dabei beruft er sich auf das Glaubensleben Shinrans, des Stifters der zum Amidabuddhismus gehörenden »Wahren Sekte des Reinen Landes«, der dieser Frage der Egozentrik auf den Grund gegangen ist. 54 Die Egozentrik wird als das betrachtet, was den letzten Schritt zur Offenheit im echten Rufen des Namens Amidabuddha verhindert. Die Wirklichkeit dieser Egozentrik kann nach Takeuchi gerade durch die existenzielle Erfahrung des Leidens, die nicht ausweichende Annahme der Soheit des Leidens, im »Licht des Nichts« durchschaut werden. Also ist die verinnerlichte Kraft des Leidens nicht nur der Anlass zum Suchen nach der Erlösung vom Leiden, sondern auch die durchleuchtende Kraft selbst. Hier muss man aber fragen, ob sich das Schauen des abhängigen Verhältnisses der Dharmas nur in solchem Licht des Leidens ereignen kann. Wie man im Fall des direkten Versenkungswegs der Zen-Meditation hört, ist das Entscheidende für das Schauen der Soheit der Wirklichkeit der dieses Ereignis vorbereitende, durch Sammlung erreichte Zustand der Selbstlosigkeit oder Leerheit, der nicht auf besondere Weise wie durch die Angst vor dem Nichts erreicht wird, sondern in der echten selbstlosen Tätigkeit des konkreten Lebens als die schöpferische Quelle erlebt wird. 55 Andererseits veranlasst uns Takeuchis Besinnung auf die in uns tief verwurzelte Egozentrik, die in zahlreichen Texten des Buddhismus, besonders in denen des Abhidharma und der Yogacara-Schule, sehr ausführlich dargestellte Analyse des Triebs zu untersuchen und den Grund des Leidens aus dieser Perspektive zu erforschen.

§ 4. Zur phänomenologischen Untersuchung des Buddhismus Wir nehmen die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wesensanschauung Husserls und dem buddhistischen Schauen

Vgl. a. a. O., S. 69. Y. Takeuchi, Shinran to gendai, Kap. 5. 55 Vgl. K. Tamaokis Bemerkung »Heidegger zeigt das Nichts in der speziellen Perspektive der Angst, beim Buddhismus aber ist das Nichts in allen abhängigen Relationen des Seienden erkennbar« (K. Tamaoki, Buddhismus und Existentialphilosophie, S. 126 f). Zum »Mushin (Nicht-Herz)« in den verschiedenen Bereichen der Kultur Japans vgl. D. T. Suzuki, Zen und die Kultur Japans. 53 54

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des Dharmas zum Anlass, die phänomenologische Problematik der buddhistischen Philosophie zu untersuchen. Dabei wird deutlich werden, dass der beiden gemeinsame interessante Problembereich der Zeitigung und des Triebs sowie die Problematik der Deutung der Person und des Nichts wichtige Aufgaben der Religionsphänomenologie sind. Der erwähnte Vergleich der Wesensanschauung und des Schauens des Dharmas bei Watsuji ist mit Bedacht zu betrachten. Zunächst muss in Bezug auf die Änderung des Standpunktes bzw. die verschiedenen Einstellungen im phänomenologischen Sinne Folgendes gesagt werden: Obwohl man die Änderung der Einstellung von der empirisch-natürlichen zur eidetisch-transzendentalen als beiden gemeinsam ansehen kann, darf man, zunächst allgemein gesagt, den Unterschied der theoretischen und der religiös-praktischen Einstellung, die aus jeweils verschiedenen Traditionen stammen, nicht übersehen. Anders als in der philosophischen Tradition des Westens stammt der Wechsel dieser Standpunkte im Buddhismus aus dem Streben nach der Erlösung vom Leiden in der existenziell aufzufassenden Situation und wird in der religiös-existenziellen Praxis durch Einhalten der Gebote, Versenkung und richtiges Wissen durchgeführt. 1)

Das Schauen des Dharmas und die Wesensanschauung Husserls

Trotz dieses Unterschiedes ist die von Watsuji zwar genannte, aber nicht begründete Gemeinsamkeit des Schauens des Dharmas und der Wesensanschauung auf folgende Weise differenzierend beschreibbar: a) Die Abwandlung der empirisch-natürlichen zur transzendentalen Einstellung in der Erkenntnistheorie wird in der Phänomenologie durch die phänomenologische Reduktion methodisch vollzogen, wohingegen die Versenkungsübung des Zen-Buddhismus auf die radikale Ausschaltung alles möglichen Denkens selbst gerichtet ist. Die erkenntnistheoretische Einsicht des Buddhismus ist nämlich das Endergebnis einer solchen Versenkungsübung. Um also die Gemeinsamkeit und Differenz beider Wege von der empirischen zur transzendentalen Einstellung zu erhellen, ist es notwendig, den Prozess der Versenkungsübung des Buddhismus in die phänomenologische Analyse hineinzubringen. b) Die Wesensanschauung Husserls hat ihren streng methodischen Zusammenhang, der phänomenologisch begründet ist. Das 177 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Schauen der Dharmas wird durch die Praxis der Versenkungsübung streng methodisch als »Gehen des Wegs«, nämlich des Schulungswegs, verwirklicht. Dieser Unterschied tritt deutlich zutage, wenn die Wesensanschauung und das Schauen der Dharmas in deren Vertiefungsprozessen genetisch durchdacht werden. Der Werdeprozess der Wesensanschauung wird erst durch die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen der statischen und genetischen Einstellung der Phänomenologie anschaulich. Die Wesensanschauung auf der ersten Stufe der statischen Phänomenologie wird durch die Methode des theoretischen Abbaus nach der genetischen Fundierung der Konstitutionsschichten auf der zweiten Stufe infrage gestellt, und somit ist die Möglichkeit gegeben, die verborgen gebliebene Schicht der Konstitution ins Licht der Reflexion der Wesensanschauung zu bringen. Beim Prozess des Schauens der Dharmas wird alles Denken, sei es empirisches oder transzendental-theoretisches, radikal praktisch, also durch die radikale Enthaltung vom Denken, abgebaut. Diese praktische Abbaumethode ist systematisch und konsequent durchzuführen, sodass die Genesis des theoretischen Schauens selbst im Zusammenhang mit dem abhängigen Entstehen von Dharmas geschaut werden kann. Diese Differenz der theoretischen und praktischen Abbaumethode beim Suchen nach der Genesis des Sinnes, m. a. W. nach dem Werdeprozess der Konstitution des Sinnes, ist ein wichtiges Thema, das weiter vertieft werden muss. 2)

Der Problembereich des Triebs und des Unbewussten

Das Problem der transzendentalen Reduktion der Phänomenologie bringt uns einen interessanten Problembereich in Reichweite, der beiden gemeinsam ist. Nach der Lehre des Nicht-Ichs entwickelte der Buddhismus diese Reduktion auf das reine Ich, das als eine metaphysische Annahme abgewiesen wird, nicht als eine Methode. Doch wie Watsuji sagt, entwickelt sich die Frage des reinen Ichs als das Problem des systematischen Verhältnisses zwischen mehreren Dharmas in der Lehre des abhängigen Entstehens, deren durch die Lehre der Dharma-Leerheit Nagarjunas zustande gekommene Vervollkommnung man schließlich in der Yogacara-Schule finden kann. Sie betrachtet die gesetzmäßige Verbindung der Merkmale des Bewusstseinsflusses im Zusammenhang mit dem Speicherbewusstsein (alayavijnana), das das Unbewusste im buddhistischen Sinne be178 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

deutet. 56 Die Problematik des reinen Ichs im Buddhismus wird, wie unten gezeigt, im Zusammenhang mit der Analyse des abhängigen Entstehens von Dharmas, des Bewusstseins (vijnana) und des Unbewusstseins (alayavijnana) in der Abwandlung des Bewusstseinsflusses deutlich. Für Husserl gilt, dass in seiner Phänomenologie die Annahme des reinen Ichs nur so weit gültig ist, »wie die unmittelbare evident feststellbare Wesenseigentümlichkeit und Mitgegebenheit mit dem reinen Bewußtsein reicht« (Hua III, 138). Wie oben ausführlich behandelt, wird der Standpunkt der egologischen Phänomenologie, die auf dem transzendentalen reinen Ich beruht, in den Standpunkt der monadologischen Phänomenologie integriert, sodass die ursprüngliche Selbstkonstitution des Zeitbewusstseins unter dem Aspekt der Triebintentionalität als uraffektiver passiver Synthesis begründet werden kann. Die Auffassung der Zeit in der buddhistischen Philosophie der Yogacara-Schule wird unten ausführlich behandelt. Trotz der tiefliegenden Differenz der traditionellen Denkweisen ist eine überraschende gemeinsame Ansicht über die allerursprünglichste Schicht der urtümlichen Zeitigung festzustellen. Hier findet man den gemeinsamen Problembereich des Triebs und des Unbewussten, den beide Auffassungen aus ihren verschiedenen Milieus, ohne Verbindung mit der freudschen Trieblehre, erreichten. 3)

Eine unmittelbare Erfahrung des »Urdialogs«

Ferner ist zu bemerken, dass so wie die Wesensanschauung auch das Schauen der Dharmas nicht als etwas Einmaliges betrachtet werden darf. Husserl zeigt in seiner späten Periode immer mehr, dass die Wesensanschauung mit der Weltwirklichkeit verbunden ist und dass man die unexplizierte Relativität bei der Wesensanschauung in Bezug auf die intersubjektive Weltkonstitution sorgfältig betrachten muss. 57 Die Ansicht Husserls, dass die für die Weltkonstitution ursprünglich Hier ist zu bemerken, dass die Begriffe des Bewusstseins und Unbewusstseins in der Yogacara-Schule nicht im Sinne der dualistischen Auffassung des bewussten Subjekts und des unbewussten Objekts, sondern als mit dem Begriff der Leerheit Nagarjunas zusammenhängend, als Dharma vor der Spaltung des Subjekts und des Objekts, gedacht werden müssen. 57 Zur Änderung des Stellenwerts der Eidetik in der Phänomenologie Husserls vgl. B. Waldenfels, Abgeschlossene Wesenserkenntnis und offene Erfahrung, S. 84 ff. 56

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intersubjektiv bestimmende Triebintentionalität 58 wesentlich in der ständigen Wechselwirkung der kulturellen Beeinflussungen steht und nicht ein selbständiges abgeschlossenes System ist, fordert von uns den phänomenologischen Ansatz, sie demgemäß im interkulturellen Zusammenhang zu analysieren. Die phänomenologische Analyse der Erfahrung der Erleuchtung in der buddhistischen Schulung sieht zunächst sehr schwierig aus, da immer die Unmittelbarkeit jener Erfahrung behauptet wird. Es ist jedoch möglich, einige wichtige Aspekte aufzuzeigen. Zunächst ist zum Verständnis der Unmittelbarkeit der Erfahrung folgende Aussage D. T. Suzukis aufschlussreich, die man im Zusammenhang mit dem Verständnis des Bewusstseinsflusses Husserls sehen kann: »Das Wunder […] besteht darin, das Ich als Akteur mitten in Aktion einzufangen – prajna (Intuition) zwingt nicht, die Aktion einzustellen, damit man es als Akteur sehen kann.« 59 Es handelt sich hier um das direkte Sehen des Aktes des Ichs, d. h. des cogito selbst, also um das Urbewusstsein Husserls, in dem alle cogitos, denen die Ich-Aktivität wesentlich angehört, unmittelbar anschaulich gegeben sind. Dieses Urbewusstsein kann aber nicht als das im Innen des Subjekts im Sinne des Subjekt-Objekt-Schemas abgeschlossen Entstandene gedacht werden. Es geschieht auf einer Ebene, wo diese Spaltung von Subjekt und Objekt noch nicht auftritt. Obwohl dieses Ereignis oft unmittelbar, übersprachlich, unsagbar genannt wird, kann dennoch in Bezug auf das Problem der Person, wie das oft in der Verständnisbemühung zwischen der christlichen Spiritualität und der Zen-buddhistischen Erleuchtungserfahrung thematisiert wird, gefragt werden, ob dieses Ereignis die Abstand haltende Beziehung zum Absoluten oder das völlige Einssein mit dem Absoluten ist. 60 Der japanische Religionsphilosoph S. Ueda nennt dieses Geschehen den im absoluten Nichts entstehenden »Urdialog« des Außen und Innen, die beide nicht Außen und Innen im Sinne des Subjekt-Objekt-Schemas sind; so sieht er z. B. das Grundwort IchDu bei M. Buber auf der gleichen Ebene dieses Urdialogs. Die von Zen-Meistern in verschiedenen Worten artikulierten Aussagen haben ihm zufolge ihre Quellen in diesem »Urdialog«, diesem GrundVgl. dazu L. Landgrebe, Das Problem der Teleologie und der Leiblichkeit in der Phänomenologie und im Marxismus, S. 96 f. 59 D. T. Suzuki, Der westliche und der östliche Weg, S. 45. 60 Vgl. dazu H. Dumoulin, Begegnung mit dem Buddhismus, 9. und 10. Kapitel. 58

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wort. 61 Der entsprechende Gedanke zeigt sich in Bubers Meinung selbst. Buber vermerkt drei Stufen des Erkennens, nämlich Ich-DuErkenntnis in der Ich-Du-Beziehung, das Schauen der Ideen im Prozess der Ablösung der Ich-Du-Beziehung, aber vor dem Entstehen der Subjekt-Objekt-Spaltung, und das Subjekt-Objekt-Erkennen im Ich-Es-Verhältnis: »›Die Schau‹ ist die erste Entbindung von der IchDu-Beziehung aus. Der Mensch im Ich-Du ›schaut‹ nichts anderes, als was er mit den Sinnen sieht: die Welt in Gott, nicht das Angesicht Gottes. Aber, indem er in die Pflicht des Erkennens genommen wird, durchläuft er einen Zustand, in dem die Beziehung des Ich-Du noch hindurchleuchtet, aber zugleich die Ablösung beginnt: nicht mehr Ich-Du-Erkennen, noch nicht Subjekt-Objekt- Erkennen.« 62 Hier finde ich eine gemeinsame Dimension des »Urdialogs«, in der das Schauen des Dharmas und das Schauen der Ideen bei Buber, die beide wegen der Annahme einer bestimmten unmittelbaren Erfahrung von der Wesensanschauung Husserls verschieden zu sein scheinen, angemessen betrachtet werden können. Aber ob diese Dimension vom Problem der Sprache und Deutung frei ist, bleibt als Problem bestehen, weil sich zunächst die Frage aufdrängt, warum und wie das Grundwort und das darin Geschaute verschieden ausgedrückt werden. In der methodischen Betrachtung über die Religionsphänomenologie spricht P. Ricœur von der notwendigen Konfrontation mit den Interpretationen der Psychoanalyse Freuds. 63 Die oben erwähnte Fragestellung des Triebs bei Husserl und der Trieblehre des Buddhismus bringt eine neue Perspektive in die Betrachtung des Problems des Unbewussten und in die Frage der direkten Erfahrung, wie der Erleuchtung im Zen-Buddhismus und der Ich-Du-Beziehung bei Buber, einen den gesamten Grundriss der Religionsphänomenologie Ricœurs erweiternden Horizont.

§ 5. Analyse der Zeit in der Dharma-Lehre der Yogacara-Schule Wie in der Kritik Watsujis an der Interpretation des Dharmas bei Rosenberg gesehen wurde, ist auf den Unterschied der Auffassung 61 62 63

Vgl. S. Ueda, Zenbukkyo, S. 95–98. M. Buber, Nachlese, S. 134. Vgl. P. Ricœur, Die Interpretation, S. 196 ff.

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des Dharmas im Hinayana-Buddhismus und im Mahayana-Buddhismus zu achten. Die korrekte Auffassung der Zeit, die auch nur im systematisch-theoretischen Zusammenhang mit dem abhängigen Entstehen von Dharmas verstanden werden kann, fordert daher, die genaue Veränderung dieser Interpretationen zu verfolgen. 1)

Die Auffassung des Dharmas im Hinayana- und MahayanaBuddhismus

Der Dharma wird im Urbuddhismus durch die Darstellung der fünf Gruppen der Dharmas erklärt. Wie oben bei der Darstellung des Leidens als Dharma nach Takeuchi gezeigt, liegt der Grund des Leidens in der in unserer Existenz tief verwurzelten Egozentrik der Begierde (Pali: tanha) in der Lehre vom sechsgliedrigen abhängigen Entstehen. Diese Begierde als Dharma, die mit der transzendental aufgefassten Triebintentionalität Husserls vergleichbar ist, gehört natürlich weder zum Subjekt noch zum Objekt in der realistisch aufgefassten empirischen Welt. Aber in den einzelnen Analysen und Systematisierungen der Dharmas beim nachfolgenden Hinayana-Buddhismus verändert sich die Bedeutung des Dharmas dahingehend, dass der Dharma gemäß dem Standpunkt der Sarvastivadins des Hinayana-Buddhismus – anders als ursprünglich gemeint – als das Substanzielle, real Existierende charakterisiert wird. Dies kann man als die Vergegenständlichung und das Substanzialisieren des Dharmas vom Standpunkt der Subjekt-Objekt-Spaltung aus ansehen. Demgegenüber sieht der Mahayana-Buddhismus den Dharma als substanz- und wesenlos an, nämlich in seiner Leerheit (sunyata). Diese Sichtweise beruht auf der Hervorhebung des Standpunkts des Nicht-Ichs im Urbuddhismus, der alles Sein als nicht-substanzielles Festes betrachtet und dieses in diesem Sinne als ich- bzw. substanzlos bezeichnet, und auf dem prajna- (Weisheits-)Erlebnis, in dem der Dharma aller Wesen in seiner Soheit (tathata) geschaut wird, d. h. in seiner reinen Wirklichkeit, die in von aller Egozentrik freier, klarster und tiefster Bewusstheit unmittelbar erlebt wird. In dieser Soheit wird die Festigkeit der auf der substanziellen Sichtweise beruhenden realen Welt völlig negiert, und gleichzeitig wird die reale Welt in einem neuen Licht des Schauens der Dharmas von Grund auf bejaht. Dabei verliert der Gegensatz von Bejahung und Negation, Sein und Nichts seine logische Konsequenz; solche unaussagbare letzte Wirklichkeit des Schauens des Dharmas zeigt sich aber in den verschiede182 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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nen konkreten Kulturgestalten der jeweiligen Länder, in denen diese Erfahrung des Buddhismus überliefert ist. Diese paradoxen Grundzüge der Leerheit kleidete Nagarjuna (Begründer der MadhyamakaSchule, etwa 150–250 n. Chr.) in ein strenges Gerüst und schuf dadurch den verschiedenen Richtungen des Mahayana-Buddhismus den gemeinsamen philosophischen Boden unter dem Begriff »Korrelation« (paraspara-apeksa) aller Dharmas, in der die Dharmas in ihrer wechselseitigen Relation zu schauen sind. »Korrelativ« bedeutet hier aber nicht bloß relativ, sondern ein widersprüchliches Verhältnis (die Bejahung eines korrelativen Dharmas bedeutet gleichzeitig die Negation des anderen korrelativen Dharmas und auch umgekehrt), das die Substanzlosigkeit des Dharmas schafft und radikal auffasst und das Paradox der Leerheit des Dharmas, das jenseits aller Dualität wie Sein und Nichts, Subjekt und Objekt usw. steht, deutlich ausdrückt. 2)

Zeit in der veränderten Interpretation des Dharmas

Die Wandlung der Auffassungen der Zeit vom Urbuddhismus bis zu Nagarjuna kann entsprechend der obigen Entwicklung kurz auf folgende Weise dargestellt werden: 64 Die allen Auffassungen gemeinsame Sicht der Zeit im Buddhismus besagt, dass die Zeit nicht als selbständiges Thema, sondern immer als das aus dem Zusammenhang der Dharmas zu Bestimmende betrachtet wird. Zum Beispiel wird im Urbuddhismus die Zeit im abhängigen Entstehen der Dharmas, deren Werden und Vergehen, deren Ursache und Wirkung betrachtet. Dabei ist wichtig, dass der Grundcharakter des Dharmas, der jenseits von Subjekt und Objekt erlebt wird, 65 die Zeitlichkeit dieses abhängigen Entstehens so bestimmt, dass sie weder die Zeitlichkeit der objektiven Welt noch die des vergegenständlichten Subjekts ist. Aber entsprechend der substanziellen und realen Auffassung des Dharmas im Hinayana-Buddhismus wird das abhängige Entstehen als kausale Aufeinanderfolge solcher substanziell aufgefassten Dharmas angesehen, und dadurch wird die Zeitlichkeit aus dieser realen Aufeinanderfolge als eine objektivierte, vergegenständlichte, linear vorgestellte Zeit betrachtet, die mit ihren drei Bestimmungen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft äußerlich kausal, substanziell existiert. 64 65

Vgl. dazu Y. Ueda: Bukkyo ni okeru goh no shiso, S. 48–67. Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 162 f.

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IV · Die paradoxe Zeitigung bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Nagarjuna behauptet demgegenüber, dass die Zeit so wie alle anderen Dharmas substanzlos, leer ist: »Wenn die Zeit durch das Sein bedingt entsteht, wie kann die Zeit unabhängig vom Sein sein? Es existiert sogar kein Sein. Wie kann die Zeit dann existieren?« 66 Und ferner ist entsprechend seinem Begriff der »Korrelation« des Dharmas die Zeit weder als kontinuierlich noch als diskontinuierlich bestimmbar und damit, da die Negation des einen die Bejahung des anderen bedeutet, gleichzeitig kontinuierlich und diskontinuierlich. Dieses paradoxe Verhältnis der Zeit drückte er mit dem Begriff der »Fortsetzung« (samtana) aus, deren Struktur dann von der YogacaraSchule näher beleuchtet wurde. 3)

Die Lehre der Korrelation des Bewusstseins und des Unbewussten in der Yogacara-Schule

Die Yogacara-Schule (Begründer: Maitreyanatha, etwa 270–350, Asanga, etwa 310–390, und Vasubandhu, etwa 320–400 n. Chr.) ist charakterisiert durch die erkenntnistheoretische Bewusstseinslehre und den ontologischen Gedanken der dreifachen Wesenheiten, die beide in der Ausübung des Yoga im Sinne der Bodhisattva-Schulung entfaltet werden. Der hier gebrauchte Begriff des Bewusstseins, »vijnana«, wird aber nicht im Sinne des Idealismus, der schließlich den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, verstanden. Wenn diese Schule sagt, dass alles nur Bewusstsein ist, bedeutet dies, dass alles Sein eigentlich das durch das Bewusstsein Eingebildete, daher nichts ist und es nur das konstituierende Bewusstsein gibt, aber dieses Bewusstsein selbst – das ist von entscheidender Bedeutung – in der absoluten Wirklichkeit leer, weder das Sein des Bewusstseins noch das Nichts des Bewusstseins ist. In diesem Punkt wird deutlich, dass diese Schule den Gedanken der Leerheit des Dharmas, also den Gedanken des korrelativ abhängigen Entstehens der Dharmas übernimmt. Das Verhältnis von Sein und Nichts des Bewusstseins steht folgendermaßen in Zusammenhang mit der Lehre der dreifachen Wesenheit, 67 der zufolge die Wirklichkeit je nach drei verschiedenen EinNagarjuna: Madhyanaka Karika, Kap. XIX, 6. Unter den verschiedenen Interpretationen dieses Punktes teile ich hier die Meinung von Y. Ueda: Vijnanaparinama no imi; vgl. dazu G. Nagao: Chugan to Yuishiki, S. 455–501.

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Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

stellungen in dreifachen Wesenheiten erscheint, nämlich als eingebildete (imaginäre), als abhängige (relative) und als vollendete (absolute): Die eingebildete Wesenheit entspricht dem illusionierten Nicht-Sein des Bewussten (visaya), die abhängige dem Sein des Bewusstseins (vijnana), und die vollendete verweist auf den Zustand, der weder Sein noch Nichts ist. Die erste Einstellung deckt sich mit der natürlichen Einstellung im Sinne Husserls und die zweite mit der transzendentalen Einstellung Husserls. Aber es ist schwer, die dritte Einstellung mit irgendeiner Einstellung bei Husserl zu vergleichen. Diese dreifachen Wesenheiten existieren dabei paradoxerweise nicht voneinander getrennt, sondern gleichzeitig; die absolute Wirklichkeit und die anderen Wesenheiten sind in der ursprünglichen Leerheit eins. Das Charakteristische dieser Schule liegt aber nicht darin, diese paradoxe Identität des Wahren und Illusionären zu behaupten, sondern dieses Verhältnis außerdem in der Korrelation des Bewusstseins und des Unbewussten zu betrachten. a) Das Bewusstsein wird dreischichtig erklärt: das Speicherbewusstsein (alayavijnana) (übersetzt auch mit »Grunderkennen« bei Frauwallner oder »Urbewusstsein« bei Jacobi) als »Grundlage des gesamten psychischen Komplexes und wesentlicher Träger der irdischen Persönlichkeit« 68 – zu unterscheiden von der »Informationsspeicherung« in der heutigen Psychologie –, das Denken genannte Bewusstsein (manonama-vijnanam) und das Bewusstsein der fünf Wahrnehmungsobjekte und des Denkobjekts. 69 Das Speicherbewusstsein ist gekennzeichnet durch unbewusste synthetische Vereinheitlichung (upada), die von der Habitualität (vasana) des früheren Bewusstseins herkommt und in Form eines Samens (bija) potenziell da ist und ferner als Synthesis der Leiblichkeit fungiert durch die Bildung des anorganischen Außenhorizonts der Welt. Seine psychischen Begleitphänomene sind Sinnesempfindung, Aufmerksamkeit, Gefühl, Begreifen und Wille, die alle hier im Speicherbewusstsein ethisch neutral 70, unbefleckt und in unbewusster Form existieren. Das Denken genannte Bewusstsein, das man auch das Ich-Bewusstsein nennen kann, entsteht daraus, dass das Speicherbewusstsein E. Frauwallner: Philosophie des Buddhismus, S. 352. Vgl. Vasubandhu: Trimsika Vijnaptimatratasiddhi, S. Levi, Paris 1925; dt. Übersetzung H. Jacobi, Trimsikavijnapti des Vasbandhu mit Bhasya des Acarya Stiramati. 70 Vgl. dazu Husserls Standpunkt der Bestimmung des vorethischen Bereichs, in dem die assoziative Motivation eben ethisch neutral fungiert. Vgl. auch S. 370 dieses Buches. 68 69

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durch die obige synthetische Vereinheitlichung objektiviert und als das Ich selbst vorgestellt wird. Es ist charakterisiert durch die mit dem Unwissen befleckten psychischen Phänomene, nämlich Glaube an das Ich, Verblendung über das Ich, Stolz auf das Ich und Liebe zum Ich. Das dritte, das die fünf Sinne und das Denkobjekt betreffende Bewusstsein, entsteht ebenfalls aus dem Speicherbewusstsein und ist begleitet von den auf bestimmte Objekte beschränkten psychischen Phänomenen, d. h. Begehren, Überzeugung, Erinnerung, Konzentration und Erkennen und schließlich von ethisch Gutem und Bösem. b) Die stetige Umwandlung dieses dreischichtigen Bewusstseins, die ihm wesentlich ist und einen deutlichen Ausdruck darin findet, dass es (das Speicherbewusstsein) »in stetem Fluss wie ein Strom« 71 ist, wird durch die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem unbewussten Speicherbewusstsein und den anderen zwei Schichten des Bewusstseins bedingt. Diese wechselseitige Beeinflussung wird von einem wichtigen Kommentator, Sthiramati (etwa 470–550 n. Chr.), so in einem originellen Text dargestellt: »Das Gesichtsbewusstsein [das Bewusstsein der optischen Wahrnehmung] usw., dessen Fähigkeit zu voller Reife gelangt ist, wirkt als Ursache auf die Modifikation [Umwandlung] des alayavijnana, die ihrerseits mit einer Fähigkeit ausgerüstet ist, ein, und diese Modifikation [Umwandlung] des alayavijnana ebenso auf das Gesichtsbewusstsein usw. Weil das Ganze so durch gegenseitige Beeinflussung funktioniert, entsteht aus dem von Keimen [Samen] gelenkten alayavijnana diese oder jene Vorstellung.« 72 Betrachten wir diese Darstellung näher am Beispiel der oft in Husserls Analyse des Zeitbewusstseins erscheinenden Tondauer, damit wir sehen können, wie die Zeit in der Yogacara-Schule in dieser wechselseitigen Beeinflussung aufgefasst wird. Wichtig ist dabei die allgemeine Ansicht des Mahayana-Buddhismus, dass ein Dharma nur in einem Augenblick entsteht und im nächsten Augenblick verschwindet; 73 also entsteht eine wechselseitige Beeinflussung in einem Augenblick, und sie verschwindet im nächsten Augenblick und wird in diesem Augenblick sogleich ersetzt durch eine neue wechselseitige Beeinflussung zwischen den verschiedenen Schichten des Bewusstseins und des Unbewussten. Aber natürlich ist es möglich, dass ein 71 72 73

Vgl. Jacobi, a. a. O., S. 18. A. a. O., S. 48. Vgl. dazu E. Frauwallner, Philosophie des Buddhismus, S. 64 f.

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Die Zeitlehre der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus

gleichartiges Bewusstsein eine bestimmte Weile, also in einer Fortsetzung der Gegenwart, andauert und dadurch z. B. eine gleichartige bestimmte Tondauer entsteht. Eine Tonphase wird in einem Augenblick als Tonphase gehört. c) Dabei muss man zwei Aspekte dieses einen Phänomens berücksichtigen. Einerseits das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein (vijnana) und dem Bewussten (visaya) und andererseits das »kausale«, aber nicht wirklich reale kausale Verhältnis zwischen dem Samen der unbewussten Potenzialität und dem aktuellen Bewusstsein in der »Fortsetzung«. Das erste Verhältnis ist mit Einschränkung mit dem korrelativen Verhältnis zwischen dem Bewusstsein unter dem Aspekt des Bewusstseinsakts (Noesis) und dem Bewussten des Bewusstseinsinhalts (Noema) bei Husserl vergleichbar. Ob aber die hyletische korrelative Vereinheitlichung, die für die Auffassung der passiven Synthesis Husserls zentral ist, dazugerechnet werden kann, also ob hier auch eine hyletische Konstitution wie im Fall der passiven hyletischen Synthesis im Sinne Husserls anerkannt werden kann, möchte ich hier noch offenlassen, weil trotz der deutlichen Ablehnung der Atomlehre in der Yogacara-Schule je nach der Auffassung des Begriffs vom Bewusstseinsgegenstand, z. B. bei Dignaga (circa 480–540 n. Chr.), eine gewisse hyletische Ursache anerkannt wird. 74 Beim Entstehen des aktuellen Bewusstseins (z. B. die jetzige Tonphase) ist schon jenes erste Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten eingeschlossen. Aber der Prozess dieses Entstehens des aktuellen Bewusstseins selbst wird hinsichtlich des oben genannten zweiten Verhältnisses so erklärt, dass die Ursache dieses Entstehens die Reifung der Habitualitäten von bestimmten Samen im unbewussten Speicherbewusstsein ist; und dieser Reifung entsprechend zeigt der Samen seine Wirkung auf das Ich-Bewusstsein und das aktuelle, tonale Bewusstsein, die beide möglicherweise von mehreren entsprechenden psychischen Phänomenen begleitet werden. Andererseits gibt das aktuelle tonale Bewusstsein gleichzeitig dem Speicherbewusstsein seine Habitualität auf zweifache Weise: Einerseits belässt es ihm seine Habitualität und lässt das Speicherbewusstsein im nächsten Augenblick das gleichartige Bewusstsein wie zuvor produzieren (wie z. B. das jetzige TondauerBewusstsein), andererseits veranlasst seine Habitualität im nächsten Augenblick das unbewusste Speicherbewusstsein, dass es ein anders74

Vgl. S. Yamaguchi: Kanshoenron no genten kaishaku, S. 433 ff.

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artiges Bewusstsein hervorbringt (einem Tonphase-Bewusstsein folgt z. B. ein Bewusstsein von einem Gegenstand, aus dem dieser Ton entspringt). Und ferner ist es dabei möglich, dass die bestimmte Schicht der Habitualitäten zunächst im Speicherbewusstsein verborgen bleibt und später in Form eines andersartigen, aktuellen Bewusstseins wirkt. Also ist hier in diesem Kontext der Unterschied zwischen der nahen und fernen assoziativen Weckung in der lebendigen Gegenwart Husserls in die Analyse des Entstehens des aktuellen Bewusstseins eingebracht. Hervorzuheben ist hier ferner, dass diese zwei verschiedenen Weisen der Verursachung bzw. der Beeinflussung im gleichen Augenblick möglich sind und je nach den Bedingungen eine von beiden oder auch beide koexistenziell entstehen; das bedeutet, dass die Skala der Beeinflussungsmöglichkeiten sehr breit ist und alle Schichten des Bewusstseins, alle Potenzialitäten der gegenwärtigen Samen, umfassen kann. 75 d) Die Zeit in der Yogacara-Schule kann also in wechselseitiger Beeinflussung des unbewussten Speicherbewusstseins und der anderen zwei Schichten des Bewusstseins in der aktuellen Gegenwart folgendermaßen aufgefasst werden: Die jeweils aktuelle Gegenwart schließt in sich die Dimension der Vergangenheit und der Zukunft ein. Die potenzielle Fähigkeit des Samens im unbewussten Speicherbewusstsein, die in einem Augenblick des Entstehens des aktuellen Bewusstseins wirkt, kommt aus dem früheren aktuellen Bewusstsein von guten und bösen Handlungen her. In diesem Sinne schließt die Wirkung der Samen im Speicherbewusstsein in einem Augenblick der Gegenwart in sich immer schon die Habitualität der Vergangenheit ein. Die Dimension der Zukunft besteht darin, dass die Beeinflussung des aktuellen Bewusstseins durch die Habitualität des Samens nicht im aktuellen Augenblick, sondern später, unter der fernen Weckung im Sinne Husserls, wirkt. Man muss freilich klar sehen, dass das dem »Augenblick« gegebene Prädikat »früher« und »später« nicht einfach vorausgesetzt ist, sondern aus dem gleichzeitigen Wechselverhältnis von Ursache und Wirkung, das aus keiner Kausalität in der realen, objektivierten, linearen Zeit stammt, in einem Augenblick bestimmt wird. Die Unhaltbarkeit der objektivierten, linearen Zeit, deren Herkunft bei Husserl präziser durch die intersubjektive Zeitigung erhellt und somit überwunden wird, zeigt sich auch in der Yogacara-Schule darin, dass das augenblickliche Entstehen und Verschwinden des 75

Vgl. dazu Jacobi, a. a. O., S. 43 ff.

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Dharmas die lineare, substanzielle Zeit völlig negiert, sodass in diesem Sinne die Zeit nicht substanziell, kontinuierlich ist. Andererseits ist sie auch nicht diskontinuierlich, da die drei Dimensionen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) in jedem Augenblick immanent sind. Also ist die Zeit nach der YogacaraSchule die dis-kontinuierliche Kontinuität oder die kontinuierliche Dis-kontinuität. Dieses paradoxe Verhältnis der »Fortsetzung« wird von Y. Ueda so ausgedrückt, dass die Gegenwart dieses Augenblicks – wenn die Gleichzeitigkeit dieser drei Modalitäten betont wird – nicht mehr möglich ist, da es keinen Unterschied der drei Modalitäten mehr gibt, und – wenn die Gegenwart dieses Augenblicks betont wird – die Gleichzeitigkeit der drei Modalitäten der Zeit nicht mehr möglich ist. 76 Er versteht ferner die Gleichzeitigkeit der drei Modalitäten als das Überzeitliche und die drei Modalitäten als das Zeitliche und sieht hier in jedem Augenblick die paradoxe Einheit des Überzeitlichen und des Zeitlichen, die nach ihm die zeitliche Dimension des Paradoxes der Leerheit, nämlich die paradoxe Einheit der noch nicht erlösten (illusorischen) und schon erlösten (wahren) Welt, ist; diese Einheit wird im Schulungsweg des Bodhisattvas immer deutlicher erlebt und tiefer verwirklicht. Die Umwandlung des Bewusstseins in der wechselseitigen Beeinflussung bezieht sich direkt auf diesen Schulungsweg; in diesem Sinne könnte man sagen, dass die Sicht der Zeit in der Yogacara-Schule aus der Praxis dieses Schulungswegs stammt und diese Zeitlichkeit den Schulungsweg selbst ermöglicht. 4)

Gemeinsamkeit und Differenz der Auffassung des Bewusstseinsflusses bei Husserl und in der Yogacara-Schule

Beim Versuch, den Bewusstseinsfluss und seine zeitliche Struktur bei Husserl und in der Yogacara-Schule zu vergleichen, gehe ich zunächst direkt auf die oben dargestellten Analysen beider ein und frage dann nach den jeweils verschiedenen Hintergründen. a) Die erste deutliche Gemeinsamkeit kann man darin sehen, dass das Zeitbewusstsein von den vielschichtigen Bewusstseinsstrukturen in der ursprünglichen, aktuellen Gegenwart her betrachtetet wird; die sogenannte objektive Zeit ist darin fundiert; die Zeit als subjektive Anschauungsform, wie Kant sie versteht, erreicht nicht diese Vielschichtigkeit und Dynamik des Zeitbewusstseins. Bemerkenswert 76

Vgl. Bukkyo ni okeru go no shiso, S. 74 ff.

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ist vor allem, dass bei beiden sowohl für die Konstitution des Zeitbewusstseins als auch für den konkreten Aufbau des Bewusstseinsflusses die unbewusste, triebhafte Schicht des Bewusstseins eine fundamentale Rolle spielt. Also ist die Zeit keine Form der Sinnlichkeit im Sinne Kants. Die transzendentale Subjektivität der Zeitigung geht der transzendentalen Apperzeption des Ichs wesentlich voran. Die Triebintentionalität bei Husserl und das Unbewusste des alayavijnana im Yogacara ist die Grundbedingung der Zeitigung, die die von Kant nicht thematisierte transzendentale Faktizität der Weltkonstitution betrifft. b) Die Einführung der transzendentalen Habitualität ist dabei entscheidend; sie wird am Begriff der Leergestalt und Leervorstellung bei Husserl und dem der Potenzialität des Samens im Yogacara festgemacht. Wie die aktuelle Anschauung und Handlung des Bewusstseinslebens ihre Leervorstellungen als implizite Sinngehalte im Hintergrund- und Unbewusstsein zurücklässt, so lässt das aktuelle Bewusstsein (vijnana) seine Habitualität in Form der unbewussten Potenzialität als Samen im Speicherbewusstsein (alayavijnana) zurück. Beiden Begriffen gemeinsam ist auch, dass sie als mit der Synthesis der Leiblichkeit und dem horizontalen Charakter verbunden betrachtet werden. Das Phänomen der Weckung der Leergestalt und Leervorstellung durch die zusammenwirkenden assoziativen und affektiven Synthesen verschiedener Intentionalitäten (Kinästhesen, Wahrnehmungsfelder usw.), wie es Husserl darstellt, ist deutlicher als in der Auffassung des Yogacara. c) Höchst interessant ist natürlich die Grundeinsicht der wechselseitigen Weckung bzw. Beeinflussung bei der Zeitigung bzw. der Abwandlung des Bewusstseins. Im Yogacara ist sie so ausgedrückt, dass die Reifung der Potenzialität des Samens das aktuelle Bewusstsein ermöglicht und gleichzeitig die Sedimentierung des aktuellen Bewusstseins die Reifung des Samens bedingt und dass die Reifung und die Sedimentierung zwei Seiten des gleichen, wechselseitig abhängigen Entstehens der Dharmas im selben Augenblick sind. Diese YogacaraAuffassung kann durch die Anschauung der passiven, paarenden, assoziativen wechselseitigen Weckung in einen erkenntnistheoretisch klareren Zusammenhang gebracht werden. Diese Weckung entsteht ständig zwischen den durch die geweckte Instinktintentionalität und Triebintentionalität gebildeten Leergestalten und Leervorstellungen und den hyletischen Momenten der Umwelt. Die Leergestalten und die Leervorstellung im Unbewusstsein erhalten ihre affektiven Kräfte 190 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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durch die jeweilige Weckung selbst, während die affektiven Kräfte der hyletischen Momente der Umwelt nur den affektiven Kräften der Leergestalten und Leervorstellungen entsprechend zu- oder abnehmen. d) Die Klarheit der Analysen Husserls zeigt sich besonders im Begriff der bewussten und unbewussten Retention und der daraus entwickelten Erörterung des Strukturzusammenhangs der lebendigen Gegenwart. Ein Vorzug der Bestimmung der Retention besteht in erster Linie darin, dass sich die Retention als passive Intentionalität von der aktiven Intentionalität deutlich unterscheidet und damit der vor-ichliche und vorgegenständliche Charakter der Triebintentionalität klar gesehen und erklärt wird. Hingegen wird im Prozess der Entstehung des jeweiligen Bewusstseins in den oberen zwei Bewusstseinsschichten aus dem Samen des Speicherbewusstseins im Yogacara die vor-ichliche, nämlich die unbefleckte, ethisch neutrale synthetische Funktion des Samens im Speicherbewusstsein bloß gezeigt, aber nicht erklärt. Andererseits kann das unmittelbare Erlebnis des Schauens des Dharmas nicht genug betont werden, da dieses Erlebnis immer die unerschöpfliche Quelle für die dem Erlebnis entsprechende theoretische Analyse bleibt. e) Doch gibt es auch verschiedene Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen. Wie im Prozess der Entdeckung des Retentionsphänomens gesehen, wendet sich Husserl dem Phänomen der Dauer so weit wie möglich rein theoretisch nach der Methode der phänomenologischen Reduktion zu und versucht es in seinem klarsten Sinnzusammenhang zu schauen. Demgegenüber betrachtet die Yogacara-Schule die Umwandlung des gesamten Bewusstseins unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Buddha-Wesens, das paradoxerweise schon in allen Menschen vorhanden ist, und sieht in diesem Rahmen sehr scharf die triebhafte, durch das Speicherbewusstsein bedingte Umwandlung und die daraus resultierende Zeitlichkeit. Hinsichtlich der methodischen Grundzüge der genetischen Untersuchung lassen sich die beiden phänomenologischen Methoden so charakterisieren, dass diejenige Husserls die theoretische Abbaumethode, während der Schulungsweg der Yogacara-Schule die praktische Abbaumethode repräsentiert. Natürlich ist das theoretische Denken als solches Handlung, Praxis im weitesten Sinne. Aber die Meditationspraxis, vor allem das bewusste Enthalten vom oder Abbauen des ganzen theoretischen Denkens, bringt den Menschen in 191 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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den Bereich, wo der auch nach dem theoretischen Abbauen des aktiven Denkens übrigbleibende theoretische Blick auf etwas ganz verschwindet. Der transzendentale Zuschauer jeglicher Art ist total fehl am Platz. f) Diese Gesamtcharakterisierung betrifft auch den Unterschied in der Auffassung des Bewusstseinsflusses trotz der gemeinsamen Benennung des Bewusstseinslebens als »Bewusstseinsstrom«. Die Bewusstseinsumwandlung wird nämlich in der Yogacara-Schule als Paradox der drei Modalitäten in der Gegenwart aufgefasst; dieses rührt aus dem Paradox des »kontinuierlichen« momentanen Entstehens und Verschwindens des Dharmas, das durch die zentrale Umwandlung des Bewusstseinslebens erreicht wird. Hierbei wird von der buddhistischen Philosophie behauptet, dass dies nicht anders als durch diese paradoxe Aussage ausgedrückt werden könne. Husserls Hauptinteresse lag am Anfang nicht in einer solchen gesamten Umwandlung des Bewusstseins, aber in seiner philosophischen Untersuchung gelangte er zu ähnlichen Paradoxa. Schon in seiner »Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins« enthüllte er das Absurde des zeitkonstituierenden Flusses, der selbst freilich keine objektivierte, lineare Bewegung ist. Husserl sagt: »Umgekehrt finden wir prinzipiell notwendig den Fluß stetiger ›Veränderung‹, aber diese Veränderung läuft absurderweise genau so, wie sie läuft, weder ›schneller‹ noch ›langsamer‹. Aber weiter: Wo ist das Objekt, das im Fluß sich verändert? In jedem Vorgang geht doch a priori etwas vor? Hier geht aber nichts vor. Die Veränderung ist keine Veränderung, und darum ist auch von etwas, das da dauert, sinnvoll keine Rede und ist es unsinnig, hier etwas finden zu wollen, was in einer Dauer einmal sich nicht verändert« (Hua X, 370). Es ist nun nicht schwer zu sehen, dass diese Absurdität, »wie sie läuft«, in der Thematik der assoziativen affektiven Synthesis als Konstitutionsfrage des Vorgegenständlichen in der ursprünglichen Zeitigung, in der sich, wie oben gezeigt, das Vor-Subjektive und das VorObjektive »begegnen«, erforscht wurde. Das anders ausgedrückte Paradox der menschlichen Subjektivität, nämlich »das Subjektsein für die Welt und zugleich Objektsein in der Welt« (Hua VI, § 53), führt schließlich wiederum zur Frage nach der Zeitigung, auf die Husserl mit der Selbstzeitigung des transzendentalen ego antwortet, da er in dieser Thematik in den 30er-Jahren den durchaus intersubjektiven Charakter der transzendentalen Zeitigung, den er selber in der Ana-

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lyse der passiven intermonadischen Triebintentionalität gezeigt hat, nicht richtig systematisieren konnte. g) Husserl selbst hatte Gelegenheit, die buddhistische Lehre durch K. E. Neumanns Übersetzung kennenzulernen, und schreibt: »Wohl die höchste Blüte indischer Religiosität, einer in Schau und ringender Tat rein nach innen gewandten – ich möchte sagen einer nicht ›transzendenten‹, sondern ›transzendentalen‹ – tritt erst mit diesen Übersetzungen in den Horizont unseres religiös-ethischen und philosophischen Bewusstseins, zweifellos dazu berufen, es von nun ab wirksam mitzubestimmen.« 77 Was er als »transzendental« im Buddhismus gesehen hat, ist nicht ganz eindeutig. Andererseits ist jedoch aus manchen Texten erkennbar, dass Husserl zwischen einer »praktisch-mythischen« Einstellung der vorgriechischen Philosophien und einer »unpraktisch-theoretischen« Einstellung der griechisch-europäischen Philosophie streng unterscheidet und die Entwicklung der Menschheit in der Verwirklichung der unendlichen Vernunftziele sieht. 78 Was ist aber diese theoretische Einstellung? Wenn vom »transzendentalen Zuschauer« die Rede ist, besagt die buddhistische Ansicht, dass im Zustand, in dem der Zuschauer und das Geschaute einander gegenübergestellt sind, kein reines, in echtem Sinne von allen Interessen – auch von den theoretischen Interessen – freies Schauen der Wirklichkeit möglich ist. Diese Behauptung beruht schließlich, wie oben gesagt, auf der Erleuchtung genannten Erfahrung, die außerhalb des sprach-logischen Bereichs lebendig ist.

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E. Husserl, Hua XXVII, 125. Vgl. z. B. Hua VI, 329.

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Thematisierung der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie Husserls Im vierten Kapitel des ersten Teils über die Auffassung der Zeitkonstitution bei Husserl und in der Yogacara-Schule blieb die Intersubjektivität der intermonadischen Zeitigung, obwohl sie von verschiedenen Blickpunkten aus beleuchtet wurde, bloß erwähnt. Dabei lautete die Kernthese, dass die ursprüngliche Zeitigung wesentlich eine intersubjektive ist. Aber die vertiefte Frage nach dem Wie dieser Intersubjektivität der intermonadischen Zeitigung blieb vorerst aus. Sie kann erst im zweiten Teil, im Rahmen der genetischen Phänomenologie Husserls, konkret untersucht werden. In der Fragestellung der genetischen Phänomenologie wird untersucht, auf welche Weise die gemeinsame Gegenwart in der sogenannten Mutter-Kind-Beziehung entsteht, um somit die »Leibzentrierung« (Hua XV, 642) von der »zwischenleiblichen« Welt der Mutter-Kind-Beziehung her überzeugend darzustellen. Für die Darstellung einer solchen genetischen Phänomenologie der Intersubjektivität sind mehrere Voraussetzungen zu berücksichtigen. Die erste nötige Voraussetzung ist eine deutliche Klärung der bis heute geübten Kritik an Husserls Theorie der Intersubjektivität. Die häufigste Kritik betrifft dabei den Begriff der Appräsentation und der Paarung in der fünften Meditation der »Cartesianischen Meditationen«. Daher beinhaltet die erste Voraussetzung eine sachmäßig präzise Interpretation der Paarung als der passiv-assoziativen Synthesis. Die passive Synthesis ist natürlich die Synthesis der passiven Intentionalität, keine Synthesis der aktiven Intentionalität. Es ist völlig klar, dass es ohne deutliche Unterscheidung der passiven und der aktiven Intentionalität, besonders ohne Verständnis des Fundierungsverhältnisses zwischen Passivität und Aktivität, keine Möglichkeit gibt, die Paarung als »passive Synthesis« zu verstehen. Das Fundierungsverhältnis von Passivität und Aktivität entspricht dem Verhältnis der Fundierung zwischen der passiven Vorkonstitution und der aktiven Konstitution. Wenn auch der Begriff der Konstitution als »ein Prozess« 1 charakterisiert werden kann, bleibt die Frage nach der Interpretation dieser Konstitution als eines Prozesses hinsichtlich des Fundierungsverhältnisses ungelöst. Das heißt, wenn die passive Vorkonstitution als eine bloße Vorstufe für die aktive Konsti1

D. Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 76.

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tution betrachtet und somit bloß als materieller Stoff für die aktive Synthesis des Urteils (als Prozess von Passivität zu Aktivität) eingeordnet wird, geht die Aufmerksamkeit auf das Moment der Urstiftung und Habitualität in der passiven Sphäre der intermonadischen Zwischenleiblichkeit verloren. In der Tat ist es hier vonnöten, bei der Erörterung der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie die Unterscheidung zwischen der egologischen und monadologischen Phänomenologie durchgehend aufrechtzuerhalten. Die zweite Voraussetzung betrifft die Klärung der Qualität bzw. der vielfältigen Sinngehalte der »Fremderfahrung« in Husserls Theorie der Intersubjektivität. Theunissen war der Erste, der das Du in der Ich-Du-Beziehung bei Buber und die Fremderfahrung bei Husserl gegenüberstellte und Husserl dahingehend kritisierte, dass Husserls Lehre der Einfühlung aufgrund des konstituierenden einzelnen Subjekts doch in einen transzendentalen Solipsismus geraten muss 2. Diese Gegenüberstellung zum Begriff des Du der Ich-Du-Beziehung und zur noch radikaleren Behauptung der »Andersheit des Anderen« bei Levinas bildet hier den Prüfstein. Es gilt also zu überprüfen, ob und auf welche Weise die Fremderfahrung in Husserls Theorie der Intersubjektivität – in der auch die Ich-Du-Beziehung der personalistischen Einstellung dargestellt ist 3 – mit dem Du Bubers und der Andersheit des Anderen bei Levinas verglichen werden kann. Dabei wird deutlich, dass Husserls Ich-Du-Beziehung der personalistischen Einstellung der buberschen Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen entspricht und dass das »eingeborene Du« in der Ich-Du-Beziehung in der Kindheit auch bei Husserl thematisiert wird. Es ist daher möglich, die auf das eingeborene Du gerichtete Ich-Du-Beziehung mit Blick auf die Mutter-Kind-Beziehung bzw. die Beziehung zwischen den Kindern in der genetischen Phänomenologie zu untersuchen. Bei Levinas ist es jedoch nicht möglich, den besonderen Status der Beziehung des Kleinkindes zu seiner Umwelt bzw. die »selbstlose« (da der »Ich-Pol« vor der »Leibzentrierung« noch nicht gebildet ist) Zuwendung zur Umwelt zu thematisieren. Der Grund hierfür liegt darin, dass Levinas das intentionale Leben des Kindes, genauer gesagt die passive Intentionalität nicht akzeptiert. Denn Levinas denkt die Intentionalität nur als aktive, d. h. mit Beteiligung von IchVgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 51. Zur »Ich-Du-Beziehung« bei Husserl vgl. Hua XIV, Nr. 9, § 4, S. 170 ff. und zur »personalistischen Einstellung« vgl. Hua IV, § 49.

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Aktivität. Levinas lehnt die Möglichkeit der phänomenologischen Untersuchung der Passivität deswegen ab, weil das passive, vorreflexive und nicht-intentionale Bewusstsein als »mauvaise conscience«, als Intimität des Nicht-Intentionalen gegen die Beherrschung aller Art der intentionalen Reflexion geschützt und somit vor der Gewalt der Vergegenständlichung gerettet werden soll. Diese Unzugänglichkeit im Bereich der passiven Intersubjektivität 4 hat weitreichende Konsequenzen. Die erste Konsequenz betrifft die interdisziplinäre Forschung der Psychopathologie und der Phänomenologie. Die Bezugnahme auf die »passive Synthesis«, die »vorprädikative Lebenswelt« oder die »konstitutive Genesis« durch Blankenburg entspricht keiner korrespondierenden Antwort von Seiten der Phänomenologie, wenn diese die Grenze der egologischen Phänomenologie, d. h. die aktive Intentionalität, nicht in Richtung der monadologischen Phänomenologie übersteigen kann. Erst in der monadologischen Phänomenologie, in der die Vorkonstitution der passiven und die Konstitution der aktiven Intentionalität analysiert werden können, wird die Genealogie des Ich-Bewusstseins bzw. die Bildung des Ich-Pols thematisiert. Ohne diese Thematisierung ist eine konstruktive, interdisziplinäre Zusammenarbeit der Phänomenologie und der Entwicklungspsychologie oder der Neurowissenschaften nicht zu verwirklichen. Als zweite Konsequenz lässt sich zeigen, dass Levinas die Intentionalität als »Denken« der Urimpression als »Leben« in folgender Weise gegenüberstellt: »[S]ie [die Urimpression] ist daher ganz Passivität, Rezeptivität eines ›Anderen‹, das das ›Selbe‹ durchdringt, Leben und nicht ›Denken‹.« 5 Solch eine scharfe Gegenüberstellung zwischen dem Leben als Passivität und dem Denken als aktiver Intentionalität erschwert es, die Institutionalisierung in der Gesellschaft phänomenologisch zu untersuchen, da diese hinsichtlich der aktiven Intentionalität (also nicht hinsichtlich der Ich-Du-Beziehung, sondern des buberschen Ich-Es-Verhältnisses) untersucht wird und damit unterbewertet bleibt, sodass die fundamentale Bildung der sozialen Gemeinschaft und Gesellschaft, die bei Husserl hinsichtlich der Thematik des »Gemeingeist[s]« 6 phänomenologisch darzustellen versucht wird, verlorengeht. Über die Unterscheidung zwischen der passiven und aktiven Intersubjektivität vgl. I. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, § 28. 5 E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 173. 6 Vgl. Hua XIV, Nr. 9, Nr. 10. 4

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Nishidas Versuch, »Ich und Du« in der Dialektik des absoluten Nichts aufzufassen Die Frage nach der Intersubjektivität und der fundamentalen Theoriebildung für eine Sozialphilosophie war und ist ein Kernproblem für Philosophen in Japan, die seit der internationalen Öffnung des Landes (Meiji-Restauration, 1868) – vor allem gegenüber westeuropäischen Länder mit modernen Wissenschaften und Kulturen – mit diesem Problem eindringlich konfrontiert wurden. Die westlichen Kernbegriffe dieser Thematik, sei es der Begriff des Individuums, des Ichs, der Person oder der Gesellschaft, tragen die lange Tradition des Christentums, der Theologie, der westlichen Philosophie und auch der verschiedenen Einzelwissenschaften der westlichen Länder in sich. Genauso tragen die japanischen Kernbegriffe dieses Problembereichs – sei es der Begriff des Ichs (jap. watashi, 私), des Nicht-Ichs (jap. muga, 無我) oder der Welt (jap. seken, 世間 oder sekei, 世界) – die lange Tradition des Buddhismus, des Konfuzianismus, der buddhistischen Philosophie und auch des praktischen Wissens und der Wissenschaften in sich. Aber die hier gemachte Gegenüberstellung der Kennbegriffe der Sozialphilosophie bedeutet nur eine grobe Orientierung für die interkulturelle Phänomenologie der Intersubjektivität und des Anderen. Um die Thematik konkreter und detaillierter phänomenologisch zu untersuchen, führe ich die Philosophie von Kitaro Nishida in die Diskussion ein. Er ist der Begründer der Kyoto-Schule 7 und beeinflusste den Anfang und die Entwicklung der modernen Philosophie in Japan sehr stark. In der Philosophie Nishidas nimmt das Studium der damals aktuellen westlichen Philosophien wie des durch Lange eingeführten Neukantianismus von Natorp, Rickert, Lotze, Cohen und Cassirer, der Philosophie Kants und des deutschen Idealismus, aber auch der Philosophie Bergsons u. a. eine wichtige Rolle ein. Dennoch bildet das unmittelbare Studium der östlichen Philosophie, wie etwa der buddhistischen Philosophie, den Grund dafür: Die Praxis der ZenMeditation (Zazen) bildet für Nishidas Philosophie gleichsam die Quelle. Seine Forschung wendet sich dabei aber nicht der buddhistischen Philosophie als solcher zu. Seine direkte Bezugnahme auf die Problematik der Begründung der Intersubjektivität findet sich in dem Artikel »Ich und Du« (1932). Hier findet man keine direkte Erwäh7

Zur Kyoto-Schule vgl. R. Ohashi (Hg.), Die Philosophie der Kyoto-Schule.

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nung von Bubers Buch »Ich und Du«. Aber die Problematik der Begründung der Intersubjektivität mittels des Begriffs der »Einfühlung« war Nishida bekannt. Er versucht das Verhältnis zwischen Ich und Du, anders als Husserl, im Lichte seiner eigenen Dialektik der »Ort-Logik« zu betrachten. Meines Erachtens versuchte er, in der damaligen weltpolitischen Strömung des Kolonialismus und der politischen Spaltung zwischen Kommunismus und Kapitalismus die Wichtigkeit der Dialektik des »absoluten Nichts«, das aus dem Kernbegriff des Mahayana-Buddhismus – der Leerheit oder des Nichts des »Nicht-Ichs« – stammt, für die Herausbildung einer Sozialphilosophie zu zeigen. Es geht daher im Folgenden um die Interpretation von Nishidas Dialektik des absoluten Nichts, die als Konsequenz aus dem Gedanken der »reinen Erfahrung«, den er in der »Untersuchung über das Gute« (»Zen no kenkyu«) entwickelte, angesehen werden kann, sowie um die Erhellung der Tragweite seiner Dialektik für die Herausbildung einer Sozialphilosophie in Japan. Nishida unterscheidet seine Dialektik des absoluten Nichts von der Dialektik Hegels, die er als eine »prozesshafte« Dialektik versteht, die teleologisch den Prozess der »Rationalisierung des Irrationalen« nachvollzieht. Die Dialektik des absoluten Nichts versteht er demgegenüber nicht im Sinne der prozesshaften Kontinuität, sondern im Sinne der »diskontinuierlichen Kontinuität« (jap. »hirenzoku no renzoku«), die ihre Herkunft in der buddhistischen Zeitlehre des augenblicklichen Entstehens und Vergehens des Dharmas der Zeit 8 hat. Die diskontinuierliche Kontinuität besteht aus dem »Worin« als dem Ort, wo das Ich vom Du als dem »Nicht-Ich« völlig negiert und gleichzeitig bejaht wird. Dies wird von Nishida auch so ausgedrückt: »Ich und Du erblicken im jeweils eigenen Grunde den absoluten Anderen, und weil sie gegenseitig in den absolut Anderen übergehen, sind Ich und Du füreinander absolute Andere und zugleich können sie innerlich ineinander übergehen.« 9 Anschließend stellt sich die Frage, wie diese Negation des Ichs, die als der absolute Andere bezeichnet wird, in der Begegnung zwischen dem Ich und Du charakterisiert werden kann. Zu diesem Zweck bringe ich die Interpretationen des Nichts von Ueda und Izutsu in die Diskussion ein, die sich auf MerleauPontys Auffassung der vorprädikativen, vorreflexiven Zwischenleiblichkeit beziehen. Dadurch wird klar, dass Nishidas Auffassung des 8 9

Vgl. dazu unten, S. 417. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 178.

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Zweiter Teil. Der Andere

»Ich und Du« die Entfaltung des »Ich-Es-Verhältnisses« Bubers, das auch die notwendige Voraussetzung für den Vollzug der personalistischen Einstellung Husserls bedeutet, nicht leisten kann. Die Ich-DuBeziehung bei Buber und Husserl hat ihre Gemeinsamkeit darin, dass beide von der Darstellung des einzelnen »Ich und Du«, aber nicht von der direkten Ich-Du-Beziehung, der Beziehung zwischen dem Ich und dem »ewigen« Du, ausgehen. Die einzelne Ich-Du-Beziehung entsteht in der konkreten, geschichtlichen Gesellschaft, der jeweiligen Lebenswelt. Wenn Nishida Ich und Du in seiner Dialektik des absoluten Nichts, das der Dimension des »ewigen Jetzt« des »ewigen Du (Gott)« entspricht, theoretisch begründen will, gerät er in die Gefahr, vom absoluten Nichts selbst ausgehend, die Bedingungen für die Verwirklichung der einzelnen Ich-Du-Beziehung in der Gesellschaft zu vernachlässigen. Diese Tendenz entsteht aufgrund der Überbetonung einer der beiden Aspekte des Schulungswegs des Buddhismus. Der Schulungsweg des Buddhismus wird zum einen als der Weg von der Welt zum Nirwana, zur Erleuchtung (im Zen-buddhistischen Ausdruck) und zum anderen als der Rückweg von der Erleuchtung zur Welt betrachtet. Die Yogacara-Schule hat eine sehr inhaltsreiche und differenzierte Bewusstseinsanalyse geleistet, in der der Aspekt des Hinwegs zum »wahren selbstlosen Selbst« und die damit verbundene »Drei-Wesenheiten-Lehre«, nämlich von der eingebildeten Wesenheit, der »abhängig« genannten Wesenheit und der vollkommenen Wesenheit, 10 stufenweise sehr detailliert analysiert werden. Dieser mühsame Übungsprozess ist mit der Einstellungsänderung von der natürlichen zur transzendentalen Einstellung Husserls vergleichbar. Der Aspekt des Rückwegs vom selbstlosen Selbst, m. a. W. dem absoluten Nichts im Sinne Nishidas, zur Welt wird von HuaYen-Schule (jap. kegon shu) thematisiert, die die umgekehrte Entwicklung der drei Wesenheiten, von der vollkommenen Wesenheit zur eingebildeten Wesenheit, lehrt. Nishidas Dialektik des absoluten Nichts wird mittels der Denkweise der Hua-Yen-Schule, also vom Standpunkt des absoluten Nichts aus, dargestellt. Sein Ausgang vom absoluten Nichts führt dazu, dass er die einzelne Ich-Du-Beziehung vom Standpunkt des »ewigen Du« her betrachtet. Das heißt, dass die konkrete Ich-Du-Beziehung ohne die Voraussetzung des absoluten Nichts, des ewigen Du des ewigen Jetzt, nicht entstehen kann. Anders gesagt geht die Selbstentwicklung bzw. 10

Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, Kap. VI, 2.

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Zweiter Teil. Der Andere

die Selbstbestimmung des absoluten Nichts der Verwirklichung der einzelnen Ich-Du-Beziehung immer voraus. Aber für Buber und Husserl ist die Begegnung mit dem einzelnen Du in der einzelnen Ich-Du-Beziehung als solche nicht nur möglich, vielmehr wird nur durch die Begegnung mit dem einzelnen Du, nämlich dem Du als Mensch, Natur und Geist, die Berührung mit dem ewigen Du möglich. Dieser Unterschied zwischen den Ausgangspunkten, vom einzelnen Du oder vom ewigen Du, ist entscheidend. Bei der Betrachtung der einzelnen Ich-Du-Beziehung werden verschiedene konkrete Bedingungen für die Verwirklichung ihrer verschiedenen Aspekte berücksichtigt. Wenn jedoch die einzelne Ich-Du-Beziehung die IchDu-Beziehung mit dem ewigen Du bereits als Grundvoraussetzung haben muss, bedeutet das Entstehen der einzelnen Ich-Du-Beziehung nur eine Verwirklichung der Möglichkeit der Ich-Du-Beziehung mit dem ewigen Du. Wenn aber umgekehrt die einzelne Ich-Du-Beziehung in der personalistischen Einstellung Husserls als die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung zum ewigen Du angesehen wird, wird es nötig, die personalistische Einstellung selbst als die Bedingung für die Verwirklichung der einzelnen Ich-Du-Beziehung zu betrachten. Diese Einstellung gilt es anschließend im Lichte der Änderung und der Integration der natürlichen, naturalistischen und transzendentalen Einstellung zu verstehen. Erst dann ist es möglich, dass die Sozialphilosophie, die solche Bedingungen genau analysieren und bestimmen kann, in der jeweiligen Lebenswelt begründet wird.

Ethik des vorethischen und überethischen Schweigens Der Titel »Ethik des Schweigens« scheint auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein. Aber im Kontext der genetischen Phänomenologie Husserls ist hervorzuheben, dass Husserl durch seine genetische, an den Kernbegriffen Zeit, Assoziation und Urstiftung orientierte Untersuchung der praktischen Vernunft der Ethik den Bereich der vorsprachlichen, vorreflexiven und intermonadischen Kommunikation erreicht hat. Diese vorsprachliche, intermonadische Kommunikation bildet die Basis, auf der die ethische Besinnung einer jeden Person entsteht. »Vorsprachlich« ist sie deshalb, weil sich die interemotionale, vorsprachliche Kommunikation zwischen Mutter und Kind in der Entwicklungsstufe der Kleinkindheit entfaltet. Ohne die Voraus203 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Zweiter Teil. Der Andere

setzung und das Vorausgehen dieser intermonadischen emotionalen Kommunikation kann aber, genetisch gesehen, die sprachlich artikulierte Kommunikation, natürlich auch die ethische Argumentation, überhaupt nicht hervorgehen. Andererseits wird die Bedeutung des Schweigens verständlicher, wenn das Verhältnis zwischen der Ethik der praktischen Vernunft und der Ich-Du-Beziehung fraglich wird, da die ethische Entscheidung aus der Ich-Du-Beziehung (die die ethische Argumentation übersteigt) entsteht und nicht umgekehrt. Die selbstlose Zuwendung zum Du in der Ich-Du-Beziehung besteht nicht in der ethischen Alternative zwischen Egoismus und Altruismus. Aus der Ich-Du-Beziehung selbst entsteht nämlich eine ethische Antwort auf eine ethische Frage. Demnach beinhaltet dieses Schweigen einerseits das vorsprachliche Schweigen in der interemotionalen Kommunikation zwischen Mutter und Kind und andererseits das übersprachliche Schweigen in der Ich-Du-Beziehung, deren Selbstlosigkeit nicht nur in der Ich-DuBeziehung bei Buber und Husserl, sondern auch in der Dimension von »Ich und Du« bei Nishida gilt. In diesem Kapitel soll der Stellenwert der Ethik in der interkulturellen Sozialphilosophie geklärt werden: die Position der sprachlichen Argumentation der ethischen Werte zwischen dem vorsprachlichen Schweigen der interemotionalen Kommunikation und dem übersprachlichen Schweigen der selbstlosen Zuwendung zum Du. Zum Schluss dieses Teils wird die Systemtheorie Luhmanns unter dem Aspekt der Anwendung des Begriffs »coupling« (»Kopplung«) (der Theorie der Autopoiesis) hinsichtlich der Intersubjektivität kritisch betrachtet. Inwieweit entspricht seine Anwendung den interkulturellen Differenzen? Hier wird die Möglichkeit begründet, die systemtheoretische Analyse des sozialen Systems in die genetische Phänomenologie Husserls zu integrieren.

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Kapitel I. Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Das Wesen des Menschen könnte hinsichtlich zweier nebeneinandergestellter Fragen, »Wer bist du?« und »Was ist der Mensch?«, befragt werden. Diese Fragen stammen eigentlich aus verschiedenen Blickrichtungen, und dennoch sind sie ineinander verflochten. Die Differenz zwischen beiden wurde von Buber als der prinzipielle Gegensatz der Grundworte »Du« als Person und »Es« als »Eigenwesen« in seinem Buch »Ich und Du« sehr eindrucksvoll dargelegt. Noch schärfer wurde diese Differenz von Levinas hinsichtlich des Gegensatzes von »Leben und Denken«, »Ereignis und Intendieren« aufgefasst und als radikale Symmetrie zwischen dem »Antlitz des Anderen« und dem »auf das Selbst bezogenen Anderen« überspitzt formuliert. Wenn jedoch Edmund Husserl von der »Ich-Du-Beziehung« spricht, wird nicht nur diese Differenz, sondern auch die Verflochtenheit des Du und Es ins Licht seiner phänomenologischen Reflexion gebracht. Seine Analyse der Verflochtenheit der »Wer- und Was-Dimensionen« bietet außerdem eine gute Möglichkeit, die Begegnung zwischen Lebens- und Denkweisen verschiedener Kulturen, die bereits auf verschiedene Weisen Wirklichkeit geworden und thematisiert ist, in ein interkulturelles philosophisches Gespräch zu bringen. Die verschiedenen Thematiken, die in den bisherigen Kapiteln behandelt wurden – die Konstitution des Zeitbewusstseins, die Retention als die passive Intentionalität, die intermonadische Zeitigung und die Zeit in der Yogacara-Schule des Buddhismus –, werden in diesem Teil hinsichtlich der Thematik des Anderen fokussiert und in einen prinzipiellen Zusammenhang der passiven und aktiven Intentionalität hinsichtlich des gesamten Themas der Interkulturalität gebracht. Ich unterscheide in diesem Kapitel zwei Etappen. Erstens die besondere Bedeutung der Eröffnung der Problemfelder der Intersubjektivität in Bezug auf die passive Synthesis Husserls, die die beiden Aspekte Differenz und Verflochtenheit von Du und Es zu analysieren 205 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

vermag. Zweitens wird die Frage nach der statischen und genetischen Phänomenologie des Du im Zusammenhang mit dem interkulturellen Philosophieren untersucht, indem die Ich-Du-Beziehung Bubers und der Gedanke von »Ich und Du« bei Nishida komparativ betrachtet werden.

1.

Berührung mit dem Du

Ich beginne mit einer einfachen Frage: »Wenn ich dich berühre, berühre ich dich dann wirklich? Oder ist dies bloß meine Empfindung von dir, die eigentlich nur zu mir, nämlich meiner Empfindung gehört?« Solch eine eigenartige Frage stellt man normalerweise im Alltag nicht. Jedoch sucht den jungen Buber im Alter von elf Jahren eine solche Ursituation heim, aus der diese Art von Fragen entspringt. In der Scheune seiner Großeltern streichelte er heimlich ein Pferd. Er beschreibt diese Episode auf folgende Weise: »Wenn ich über die mächtige, zuweilen verwunderlich glatt gekämmte, zu andern Malen ebenso erstaunlich wilde Mähne strich und das Lebendige unter meiner Hand leben spürte, war es, als grenzte mir an die Haut das Element der Vitalität selber, etwas, das nicht ich, gar nicht ich war, gar nicht ichvertraut, eben handgreiflich das Andere, nicht ein anderes bloß, wirklich das Andere selber, und mich doch heran ließ, sich mir anvertraute, sich elementar mit mir auf Du und Du stellte. […] Einmal aber – ich weiß nicht, was den Knaben anwandelte, jedenfalls war es kindlich genug – fiel mir über dem Streicheln ein, was für einen Spaß es mir doch mache, und ich fühlte plötzlich meine Hand. Das Spiel ging weiter wie sonst, aber etwas hatte sich geändert, es war nicht mehr Das.« 1 Ein wunderbares Erlebnis mit dem »ganz Anderen« geschah dem elfjährigen Kind. So hautnah spürte das Kind das Wesentliche eines Pferdes. Doch was passierte da plötzlich? Das Du wandelte sich zum Es, das später in seinem Buch »Ich und Du« als zweites Grundwort genannt wird. Wodurch? Durch die »Rückbiegung« 2, wie Buber seine plötzliche Reflexion anschließend in diesem Text bezeichnet? Das Ich, in der Ich-Du-Beziehung, hier nämlich beim Streicheln des Pferdes, war sich seiner selbst, nämlich als »Ich«, nicht bewusst. 1 2

M. Buber, Werke I, S. 196, Hervorhebungen vom Verfasser. A. a. O., S. 197.

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Berührung mit dem Du

Buber streichelte das Pferd nicht mit »seiner Hand« bewusst, die von ihm als solche vorgestellt bzw. ihm bewusst worden wäre. Es geschah nur das Streicheln vor der Spaltung zwischen dem Ich und dem Anderen, das Nishida als »reine Erfahrung vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt« bezeichnen würde. 3 Das wirklich Andere lebte als Element der Vitalität selbst, aber nicht als Objekt meines Spaßes, meiner Erfahrung. Durch die plötzliche Rückbiegung entstanden jedoch das empfindende Subjekt – das Ich-Bewusstsein, das mit dem Possessivpronomen »meine« bezeichnet wird – und das empfundene Objekt: »Was für einen Spaß …« Das hier erwähnte »Auf-Du-und-Du-gestellt-Sein« hat keinen bloß subjektiven Charakter, der nur das subjektive Gefühl des jungen Buber betrifft, sondern zeigt die unmittelbare Wirklichkeit der Beziehung, die nach der Rückbiegung in negativer Form – das Pferd wandte sich seiner streichelnden Hand nicht mehr zu – ausgedrückt wird: »[E]s war nicht mehr Das. Und als ich tags darauf, nach einer reichen Futtergabe, meinem Freund den Nacken kraulte, hob er den Kopf nicht.« 4 Das Berühren in der Ich-Du-Beziehung und sein Rückfall in die Spaltung zwischen dem bewusst Empfindenden und dem Empfundenen sind hier ausführlich zu analysieren.

§ 1. Die Empfindung bei Levinas Im Fall Levinas’ ist es schwierig festzustellen, ob er die unmittelbare Berührung mit dem Du zulässt oder nicht. Wenn er von der unmittelbaren Nähe zum Anderen, dem »Berühren, reine[r] Annäherung und Nähe, nicht reduzierbar auf die Erfahrung der Nähe«, 5 spricht, scheint es so, als sei »die ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation« 6 bei ihm möglich. Andererseits ist ihm klar, dass der Andere nur indirekt durch sein Antlitz und seine Spur gegeben ist und niemals als Du unmittelbar in der Gegenwart vor einem empfindenden Jemand auftreten kann. Das liegt eben daran, dass die Empfindung für Levinas von Anfang an den Charakter 3 4 5 6

Dazu ausführlich unten, S. 317. M. Buber, Werke I, S. 196 f. E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 278. A. a. O., S. 280.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

der Vergegenständlichung, die Buber die Rückbiegung nennt, also den Es-Charakter, hat und dagegen das Berühren, die Nähe, nur in der Form der »Urimpression« des Nicht-Intentionalen erlebt werden kann. Die Urimpression ist für Levinas »ganz Passivität, Rezeptivität eines ›Anderen‹«, und sie unterscheidet sich von der Empfindung, die »eine Intentionalität und daher ein geringster Abstand zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen, eben zeitlicher Abstand« 7 ist. Es muss hier gefragt werden, was Levinas unter der Unterscheidung von Urimpression als »ganz Passivität« und Empfindung als »Intentionalität« genau versteht.

§ 2. Die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Intentionalität Für Levinas gehört die Empfindung zur Intentionalität der Ich-Aktivität, die als das Auf-etwas-gerichtet-Sein, Als-etwas-bewusst-Sein, charakterisiert wird. Aber der Begriff der Intentionalität wurde von Husserl nicht nur als aktiv bestimmt, sondern weiter bis in den Bereich der passiven Intentionalität und Triebintentionalität, die beide ohne Beteiligung der Ich-Aktivität fungieren, nämlich bis in den Bereich der passiven Synthesis der Assoziation und Affektion, analysiert und erörtert. Levinas fasst den Begriff der Intentionalität aber, der in der Zeit von Husserls »Ideen I« bestimmt wurde, zu eng auf und übersieht seine Entfaltung und Vertiefung als passive Synthesis. Die Empfindung als passive Synthesis wird von Husserl parallel zur Analyse des Zeitbewusstseins in den 20er- und 30er-Jahren entfaltet. Die Analyse der retentionalen Abwandlung in den »Analysen zur passiven Synthesis« eröffnet die Dimension der inhaltlichen assoziativ-passiven, nämlich ohne Ich-Beteiligung fungierenden und in dem Sinne nicht aktiv-intentionalen Verschmelzung zwischen der Urimpression und der leeren Gestalt und Leervorstellung im Vergangenheitshorizont. Diese Wende vom Zeitschema, in dem sich der Inhalt der Impression in die Modalität der Retention abwandelt, zum Zeitschema, in dem der Inhalt der Urimpression jeweils nur durch die Urverschmelzung der wechselseitigen Weckung zwischen dem hyletischen Phasengehalt und der Urretention in der lebendigen Gegen7

A. a. O., S. 167 f.

208 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Berührung mit dem Du

wart ständig neu entsteht, ist der wichtigste Schritt der Entwicklung der genetischen Phänomenologie Husserls. In der Beschreibung der lebendigen Gegenwart in den 30er-Jahren, in den C-Manuskripten, wird die »inhaltliche Urverschmelzung zwischen der Urimpression und Urretention in der Simultaneität« sehr deutlich ausgedrückt. Hier zeigt Husserl die hyletische Konstitution des vorgegenständlichen Phasengehalts der lebendigen Gegenwart auf der Ebene der intentionalen Vergegenständlichung. Die absolute Zeitigung wird als eine urassoziativ-passive Synthesis dargestellt. Dazu ist Husserls Beschreibung im Manuskript C 15 sehr überzeugend: »Es assoziiert sich wieder Konstituiertes in der Ursprünglichkeit der Erfahrung innerhalb der urmodalen stehenden strömenden Gegenwart: 1) Sie selbst ist Einheit einer assoziativen Verschmelzung, in der eine einzige Zeit, die die Form aller Zeitigung ist, sich selbst zeitigt und zeitliche Gegenstände (onta) zeitigt oder konstituiert mit je ihrer Zeit« (HM VIII, 296). Hier findet man eine klare Aussage über die urmodale, stehende, strömende Gegenwart als »Einheit einer assoziativen Verschmelzung« der passiven Synthesis. Wenn Levinas diese Dimension der vorreflexiven und vorprädikativen Sinnkonstitution, die ohne IchAktivität aus dem Ich-Pol, nicht aktiv-intentional fungiert, nicht akzeptieren will, bleibt ihm keine andere Möglichkeit als die Festlegung und Isolierung der nicht-intentionalen Urimpression und damit die Rettung der Urimpression: also der Andersheit des Anderen, der Rezeptivität eines Anderen vor dem intentionalen Bewusstseinsfluss, der notwendigerweise den Anderen als einen Gegenstand identifizieren und vergegenständlichen muss. Die Urimpression bringt für Levinas zwar den Inhalt in die lebendige Gegenwart herein, bleibt aber selbst inhaltslos, entzieht sich, um die Andersheit des Anderen zu retten. Er lehnt damit den retentionalen, passiv konstituierten hyletischen Inhalt des Anderen ab, der als der abgewandelte Inhalt der Urimpression den Anderen zu einem Gegenstand unter anderen Gegenständen, nämlich zum »Es« im »Ich-Es-Verhältnis« Bubers, machen würde, da er darin einen intentionalen Akt der Reflexion verortet. Im Lichte dieser Auffassung ist Levinas’ Missverständnis der Ich-Du-Beziehung Bubers als inhaltlosen Formalismus kein Wunder mehr, da für Levinas das Du als reine Form inhaltlich keine leibhaftige Konkretheit haben darf, d. h. alle Inhalte als Intendiertes zum Bereich des Es gehören müssen. Für Levinas ist es somit nicht möglich, 209 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

die Haut des Anderen zu berühren, weil »das Empfinden der Empfindung« immer schon meine »Intentionalität« und das Empfundene das von mir Intendierte ist. Solch ein Formalismus trifft das Du der Ich-Du-Beziehung Bubers jedoch keineswegs. Die leibhaftige Wirklichkeit des Du in der Welt ist nicht nur unbezweifelbar, sondern bildet den Kerngehalt der Welthaftigkeit des Du, die allerdings auch Theunissen in seine Interpretation nicht integrieren konnte. 8

§ 3. Die Empfindung in der Ich-Du-Beziehung Was empfand der junge Buber bei der Berührung des Pferdes? Durch das Streicheln war etwas, das Buber später »gar nicht ichvertraut«, »wirklich das Andere selber« nannte, lebendig. Aber inmitten der Berührung kam nicht die Absicht auf, danach zu fragen, was das sei oder womit es zu bezeichnen sei. Dennoch wurde etwas Elementares empfunden. Dies wurde nicht vergegenständlicht, nicht als etwas aufgefasst, sondern empfunden, erlebt. Solche Empfindung ist aber kein bloßes Aufnehmen einer Impression, was Kant als das AffektiertSein von den Dingen bezeichnet, sondern nach Husserl ein impressional-retentional-urbewusstes Geschehen, eine Urverschmelzung, eine Urkommunikation zwischen dem Bewusstseinsleben und der Umwelt, vor aller Vergegenständlichung der Ich-Aktivität. Husserl hat die besondere Dimension, in der solche Urkommunikation, die Begegnung mit dem nicht ichhaften wirklich Anderen durch die passive Synthesis der lebendigen leibhaften Inhalte geschieht, phänomenologisch eröffnet und begründet. Andererseits wird diese Urkommunikation von Buber als die ursprüngliche Beziehung zum »eingeborenen Du« beim Kleinkind bezeichnet. Demnach ist folgende Charakterisierung der Empfindung in der Ich-Du-Beziehung möglich: a) Die Empfindung geschieht ursprünglich nicht zwischen dem Ich und den Dingen in der Subjekt-Objekt-Spaltung, sondern in der Urkommunikation zwischen dem anonymen Bewusstseinsleben und der Umwelt. Die Art und Weise dieser Urkommunikation wird »passive Synthesis« genannt. Sie ist weder ein mechanisch-kausaler noch ein vom Ich gesteuerter, subjektiver Prozess, sondern die vor-ichliche Für eine Kritik an der Auffassung der Ich-Du-Beziehung als »Weltjenseitigkeit« vgl. I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 99.

8

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Die Begründung der Intersubjektivität

Urverschmelzung zwischen der Urimpression der Umwelt und den triebhaften Leergestalten und Leervorstellungen der Retention in der lebendigen Gegenwart. b) Die ursprüngliche Empfindung der passiven Synthesis wird durch die Beteiligung der Ich-Aktivität zur vergegenständlichten Empfindung der aktiven Intentionalität, nämlich zur Spaltung zwischen dem mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Empfindenden und dem vergegenständlichten Empfundenen. c) Beim Kleinkind muss die Empfindung in der Ich-Du-Beziehung zum eingeborenen Du notwendigerweise zur vergegenständlichten Empfindung mit einem Ich-Bewusstsein werden. Aber diese selbstbewusste Empfindung kann sich, wie unten gezeigt wird, beim Erwachsenen zur nicht-ichzentrischen, ichlosen Empfindung in der Ich-Du-Beziehung wandeln.

2.

Die Begründung der Intersubjektivität aus der intermonadischen zwischenleiblichen Urkommunikation

Wie oben gesehen, ist die Rückfrage nach der Genesis der Zeitkonstitution zur transzendental aufgefassten Triebintentionalität auf der Ebene der Vorkonstitution des radikal Vor-Ichlichen gelangt. Dieses Ergebnis hat eine entscheidende Auswirkung auf die Erhellung und Lösung der Problematik der Konstitution der Intersubjektivität bei Husserl. Erstens kann die Selbstidentität des transzendentalen Ichs nicht mehr die Rolle des Begründungsprinzips für die Intersubjektivität spielen. Es geht vielmehr um die Genesis der Ich-Zentrierung bzw. -Polarisierung in der intermonadischen Zeitigung. Zweitens fungiert die Triebintentionalität durchaus intermonadisch, also in der ursprünglichen Stufe zwischenleiblich. Die Leibzentrierung fundiert die Ichzentrierung, genauso wie die Passivität die Aktivität fundiert. Drittens wird in der Vernunftteleologie die instinktiv-intermonadische Vergemeinschaftung als zwischenleiblicher Boden für die Verwirklichung der personal-intermonadischen Vergemeinschaftung aufgefasst. Dieser Grundriss der Problemlösung und des Aufbaus der Intersubjektivität bei Husserl muss unten ausführlich phänomenologisch begründet werden.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

§ 1. Die Fragestellung der Intersubjektivität in der egologischen Phänomenologie 1)

Die Konstitutionsfrage der Intersubjektivität

Die Frage nach der Intersubjektivität ist für Husserl die Frage nach ihrer Konstitution, genauso wie die Frage nach der Zeitkonstitution. Sie ist keine Frage der Geltung, in der formale Gültigkeit gefordert wird, sondern eben eine genetische Frage, in der die Sinnbildung des Anderen, d. h. die »Möglichkeiten solcher vollständigen monadischen Individualitäten« (Hua XI, 341), gesucht wird. Die Frage nach der Intersubjektivität wurde seit den 20er-Jahren hinsichtlich der Monadologie Husserls entfaltet. Was bedeutet diese Entwicklung? Die egologische Interpretation mit ihrer verengten Auffassung der Intentionalität kann den oben gezeigten Bereich der Triebintentionalität – die die Zeitigung transzendental bedingt, nämlich den Bereich des radikal Vor-Ichlichen, der Vor-Welt, der Vor-Zeit oder des Vor-Seins – in der Dimension der Vorkonstitution prinzipiell nicht aufschlüsseln. Diese Vorkonstitution kann erst im Rahmen der monadologischen Phänomenologie erhellt werden. Das Ich »in der Entwicklung« (Hua XV, 595) kann nicht mehr im Rahmen der Egologie, sondern erst in dem der Monadologie »in der Ständigkeit der ›ontogenetischen‹ hundi phylogenetischen Entwicklung« (ebd.) betrachtet werden. Dennoch wird die Verabschiedung von der egologischen Auffassung der Intersubjektivität von Husserl nicht konsequent genug durchgeführt. Vielmehr hinterlässt sie bis zur »Krisis« Spuren in Husserls Werk. Dort versucht Husserl immer wieder, das gleichursprüngliche ego von mir und den anderen aus dem undeklinierbaren Ur-ego durch die Zeitigung zu begründen, das prinzipiell kein gleichursprüngliches Ur-Du haben kann. Wenn er seine Analyse der absoluten Zeitigung, deren ursprüngliche, lebendige Gegenwart von der zwischenleiblichen Triebintentionalität konstituiert wird, in die Thematik der Intersubjektivität integriert hätte, hätte er die Begründung der Intersubjektivität systematisch durchführen können.

212 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

2)

Der Begriff der Konstitution und die egologische Auffassung der Intersubjektivität nach Zahavi

In diesem Sinne ist der Standpunkt der egologischen Begründung der Intersubjektivität bei Zahavi sorgfältig, aber gründlich zu kritisieren. Es geht hier um seine Interpretation des Begriffs der Konstitution bei Husserl, die er ohne Bezugnahme auf den Fundierungszusammenhang zwischen der passiven Vorkonstitution und der aktiven Konstitution egologisch aufzufassen versucht. Zahavi versucht die Intersubjektivität durch seine Interpretation des Begriffs der Konstitution zu begründen. Dabei weist er auf die »Gleichursprünglichkeit der Vergemeinschaftung, [der] Welthabe und [der] Selbstverweltlichung« 9 hin. Trotz der schlüssigen Argumentation Zahavis bleibt sein Standpunkt egologisch, weil er die Problematik der Intersubjektivität ausschließlich hinsichtlich der Konstitution des Fremd-Ichs problematisiert. Dies zeigt sich deutlich in seiner Interpretation der ursprünglichen Zeitigung als der urtümlichen Selbstkonstitution des Bewusstseinslebens: »Husserl (im Unterschied z. B. zu Merleau-Ponty) insistiert [darauf], daß der Ich-Pol als die Quelle der Zeitlichkeit weder entstehen noch vergehen kann und deshalb unabhängig vom Leib existieren kann […].« 10 Hier ist klar, dass Zahavi die Quelle der Zeitlichkeit in den Ich-Pol, der ohne fungierende Leiblichkeit existieren sollte, verlagert. Die genetische Ebene der intermonadischen Zeitigung durch die Triebintentionalität, die nicht mehr auf der Stufe der Konstitution der aktiven Intentionalität, sondern auf der der Vorkonstitution der passiven Intentionalität steht, wird von ihm nicht thematisiert. 11 Daher entspricht seine egologische Interpretation der Intersubjektivität dem folgenden, zweiten Punkt: der Auffassung der Konstitution in Relationsbegriffen. »Es geht hier offensichtlich um Relationsbegriffe, die eine Rückbeziehung auf das jeweilige (Eigen)Ich voraussetzen. Das Fremdich ist eben ein Fremder für mich […], nicht für sich selbst, und wenn von der (seinsmäßigen) Konstitution des D. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität, S. 93. Hier wird auf folgenden Abschnitt hingewiesen: Hua I, 130. 10 D. Zahavi, a. a. O., S. 93. 11 Obwohl Zahavi einfach feststellt, »daß es eine vor-objektive bzw. vor-theoretische Räumlichkeit und Natur gibt (17/247), die schon intersubjektiv ist« (a. a. O., S. 93), reicht seine phänomenologische Beschreibung keinesfalls aus. 9

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Anderen gesprochen wird, geht es offensichtlich um die Konstitution des Für-mich-Seins (und nicht des Selbstseins) des Fremdichs.« 12 Die Konstitutionsanalyse bedeutet für Husserl natürlich keine Begriffsanalyse. Die Begriffsanalyse muss von der Konstitutionsanalyse phänomenologisch begründet werden. Zahavis Hinweis auf die Relationsbegriffe wird von seiner Anmerkung zum oben zitierten Abschnitt durch die allerursprünglichste Konstitutionsanalyse der Zeitigung untermauert. Er behauptet, dass die Tatsache, »[d]aß jedes Ich kraft seiner Selbstzeitigung gewissermaßen sich selbst gegenüber ein Fremder ist, nichts an dieser [der oben zitierten, I. Y.] Feststellung« ändert. 13 Hier wird offensichtlich, dass er den Standpunkt der egologischen Auffassung der Zeitigung, wie auch im ersten Punkt meiner Kritik deutlich gezeigt wurde, für die Begründung der Intersubjektivität einnimmt.

§ 2. Die Frage nach der genetischen Methode in der Thematik der Intersubjektivität Die oben erwähnte Gegenüberstellung des egologischen und des monadologischen Ansatzes bei der Begründung der Intersubjektivität erfordert genaue methodische Überlegungen hinsichtlich der genetischen Phänomenologie. 1)

Die Frage nach der apodiktischen Evidenz der Zeit und des Anderen

Die genetische Frage nach dem Werden der Gestalten erreicht ihre methodische Strenge, indem die Begriffe der apodiktischen und adäquaten Evidenz überprüft werden. In der Vorlesung »Einleitung in die Phänomenologie« führt Husserl seine methodische Selbstkritik durch, die die Naivität der transzendentalen Reduktion in der Periode der »Ideen« entlarvt. Die damals versuchte transzendentale Reduktion sei naiv, da die apodiktische Evidenz des Zeitbewusstseins und des transzendentalen Bewusstseins des Anderen nicht thematisiert wurde. 14 Im § 27 (»Apodiktische Reduktion der transzendentalen 12 13 14

A. a. O., S. 98. A. a. O., S. 101, Anm. 12. Vgl. Hua XXXV, Kap. 7.

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Die Begründung der Intersubjektivität

Selbstwahrnehmung«) stellt Husserl die apodiktische Evidenz der Impression und Retention auf folgende Weise dar: »Die Stiftungspunktmitte der Urgegenwart kann nichts stiften, wenn nicht die stiftende Urimpression in das Kontinuum der Retention übergeht und andererseits nicht die Urstiftung, mit dem immer neuen Jetzt, sich anschließend fortsetzt« (Hua XXXV, 121). Hier fällt Folgendes auf: a) Die im ersten Zitat erwähnte »Urstiftung« findet in der Urgegenwart statt, in der die Urimpression ständig in das Kontinuum der Retention übergeht. Hierbei ist das Verhältnis zwischen diesem notwendigen Übergang und dem immer neu auftauchenden Jetzt wichtig. Es ist klar, dass der Begriff der Stiftung nicht nur im Bereich der aktiven Intentionalität des Idealisierungsprozesses Gültigkeit hat. Vielmehr hat die Urstiftung im passiven Strömen der lebendigen Gegenwart ihren Ursprung. b) Der Prozess des kontinuierlichen Übergangs von der Urimpression zur Retention wird in Hua XI im Einzelnen so weit analysiert, dass der Übergangsprozess als Phänomen der affektiven Weckung in der lebendigen Gegenwart dargestellt wird, in dem »das Implizite wieder explizit wird« (Hua XI, 174). Demnach ist bei diesem Prozess das Phänomen der affektiven Weckung der impliziten Intentionalität entscheidend. c) Es ist sehr bemerkenswert, dass gerade durch die Frage nach der apodiktischen Evidenz der transzendentalen Reduktion die apodiktische Evidenz der Retention und der Urstiftung gezeigt wird und dass somit der Forschungsbereich der genetischen Phänomenologie mit den Kernthemen Zeit, Assoziation (als dem Übergangsphänomen der retentionalen Weckung) und Urstiftung charakterisiert wird. 2)

Die Abbaumethode der genetischen Phänomenologie

Die Frage nach der Genesis bzw. dem Werden des Sinnes ist gleichbedeutend mit der Frage nach der zeitlichen Ordnung des Werdens der Konstitutionsschichten, die durch die Konstitutionsanalyse der Intentionalität und die Methode der Wesensanschauung in der statischen Phänomenologie gewonnen wurden. Die Ordnung des Werdens der Konstitutionsschichten wird durch die Methode des Abbauens, die die Leistung bestimmter Konstitutionsschichten außer Kraft setzt und überprüft, ob die anderen Konstitutionsschichten überhaupt fungieren können, untersucht. Sie geht der Frage nach, welche 215 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Konstitutionsschicht für die Leistungen der anderen Konstitutionsschichten vorausgesetzt wird. a) Diese Methode des Abbauens, die die durch die Analyse der noematisch-noetischen Korrelation der Intentionalität und durch die Wesensanschauung gewonnenen Konstitutionsschichten betrifft, ist deutlich unterschieden von der empirischen Methode der Entwicklungspsychologie, der Biologie usw. In der Entwicklungspsychologie oder der Biologie wird der Sinn von »Leben«, »Zeit«, »Raum«, »Empfindung«, »Wahrnehmung«, »Leib«, »Sprache«, »Urteil« usw. aus dem Sinnzusammenhang der Alltagssprache einfach übernommen. Nach der erkenntnistheoretischen Begründung des Sinnes der Alltagssprache selbst wird überhaupt nicht gefragt. In der statischen Phänomenologie wird die Konstitution des Sinnes durch die Analyse der aktiven und passiven Intentionalität thematisiert. In der genetischen Phänomenologie wird der Prozess der Genesis bzw. des Werdens der in der statischen Phänomenologie erörterten Konstitutionsschichten selbst befragt. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Forschungsergebnisse der einzelnen empirischen Wissenschaften als Beispiele herangezogen und integriert werden. b) Der Grundriss dieser Abbaumethode ist in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« präzise dargestellt: »Die Elementaranalyse [der statischen Phänomenologie, I. Y.] führt dann aber auf Zeitbewusstsein, auf Assoziation, Weckung von Reproduktionen, auf Urstiftung etc. Statt unter dem Gesichtspunkt der festen Apperzeptionen und der Ideen […] betrachte ich nun frei variierend im Elementaren […] die Notwendigkeiten des Werdens, und zwar die allgemeinsten, und dann die Notwendigkeiten des Werdens konstitutiver Gestalten, wieder unter dem Gesichtspunkte der vorausgesetzten konstitutiven Gestalten und ihrer Typen« (Hua XXXV, 410, Hervorhebung vom Verfasser). Zunächst ist klar, dass die statische Phänomenologie mit der Analyse der festen Apperzeptionen und Ideen zu tun hat. Die Analyse der Schichtenstruktur der festen Apperzeptionen wird durch die Wesensanschauung der regionalen Ontologie (materielles Ding, Leib, seelische Natur, Person, personale Gemeinschaft usw.) etwa in den »Ideen II« durchgeführt. Aber was bedeutet die Notwendigkeit des Werdens in der genetischen Phänomenologie eigentlich? Die hier genannte allgemeinste Notwendigkeit des Werdens bezieht sich unmittelbar auf das im ersten Teil behandelte Zeitbewusst216 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

sein. Das konkrete Zeitbewusstsein auf der ursprünglichen Stufe der lebendigen Gegenwart, wie bei der Analyse der Retention in Hua X gezeigt, konstituiert sich nur durch die Deckung des Zeitinhalts: »eine Deckung der verbindenden Wesensgleichheit« (Hua X, 93) in der Querintentionalität der Retention. Die hier genannte »verbindende Deckung« ist nichts anderes als die später in den 20er-Jahren voll entfaltete »Assoziation« der assoziativen Verbindung der Wesensgleichheit. Die Assoziation, die in den »Analysen zur passiven Synthesis« dargestellt wird, bezieht sich auf die hier genannten Notwendigkeiten des Werdens der »ganzen konstitutiven Gestalten« (Hua XI, 371), die nicht als »Vorstellungen« oder »Repräsentationen« aufgefasst werden dürfen. Sie steht dem Begriff der Gestalt (der mit dem Begriff der Gestalt im Sinne der Gestaltpsychologie eng zusammenhängt) wesentlich näher als dem Begriff der »association of ideas« von Hume, der als »eine naturalistische Verzerrung der entsprechenden echten intentionalen Begriffe« 15 charakterisiert wird. Die schließlich auf den Atomismus der Impression reduzierte Auffassung der Assoziation Humes stellt ein Hindernis für die genetische Phänomenologie dar, da diese Verzerrung das Eindringen in den Bereich der passiven Intentionalität und Synthesis der Assoziation blockiert. Die Thematisierung des Werdens der Gestalten eröffnet den neuen Bereich des Bildungsprozesses der Gestalten selbst. Der Begriff der Gestalt, der bereits in den »Logischen Untersuchungen« als »Einheitsmomente der anschaulichen Inhalte« 16 nämlich als »Gestaltqualitäten« bei der wechselseitigen Fundierung zwischen Farbe und Extension oder Ton und Intensität, dem sogenannten »materialen Apriori«, positiv aufgenommen wird, spielt bei der Frage nach dem oben genannten »Fundierungsverhältnis der Voraussetzungen« eine gewichtige Rolle. c) Die genetische Methode des Abbauens und der Rekonstruktion bedeutet aber nicht, ein Gebäude von oben nach unten bis zum Keller abzubauen und die abgebauten Materialien wieder von unten nach oben zu rekonstruieren, sondern eher ein Gedankenexperiment, in dem die Fundierungsverhältnisse mehrerer Konstitutionsschichten »frei variierend« untersucht werden und die verborgen fungierende, vor-ichliche, passive Intentionalität entdeckt wird. 15 16

E. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 83. E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, S. 234.

217 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Husserl zeigt dies deutlich anhand der genetischen Untersuchung der Wahrnehmung des Kleinkindes: »Wir können unsere volle Erfahrung (die Wahrnehmung, die originäre Erfahrungsapperzeption) in gewisser Weise systematisch abbauen, wir können uns überlegen, wie die Wahrnehmung ihren Horizonten nach beschaffen sein müsste, wenn wir gewisse Erfahrungen aus der Genesis ausschalten, also annehmen, dass gewisse Gruppen von Erfahrungen nie möglich gewesen wären. Zum Beispiel wir beschränken die Kinästhesen, wir nehmen an, wir könnten uns nicht von der Stelle bewegen und hätten ›an einen Gegenstand nie eine Annäherung oder Entfernung‹ vollziehen können. Und so können wir dahin kommen, zu sagen, optisch könnten wird dann nur eine ›okulomotorische‹ Dingwelt konstituiert haben usw.« (Hua XIV, 115). Diese Abbaumethode betrifft natürlich nicht nur die Konstitutionsschicht der Wahrnehmung, sondern auch alle anderen niedrigen Schichten der Vorkonstitution der passiv-assoziativen Synthesis: der Empfindung, der Zeitigung sowie die höheren Konstitutionsschichten der aktiven Synthesis des Urteilens, des Vermutens, der willentlichen Entscheidung usw. In diesem Sinne unterscheidet Husserl die passive Genesis von der aktiven Genesis. 17 3)

Die intermonadische Kommunikation in der genetischen Phänomenologie

Husserl hat in den 30er-Jahren die intermonadische Kommunikation unter dem Aspekt der Thematik der Konstitution der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie untersucht. Diese Analysen befinden sich unter anderem in Abschnitt 34 und den Beilagen XLIII und XLVII in Hua XV und in den Abschnitten 46, 55 und 83 der C-Manuskripte in HM VIII. Nicht alle Analysen werden gemäß der genetischen Methode des Abbauens durchgeführt. Doch wurden sie vor dem Hintergrund der methodischen Strenge – auf der Konstitutionsanalyse der statischen Phänomenologie beruhend –, nach der Notwendigkeit des Werdens zu fragen, durchgeführt. Ein typisches Beispiel für solch eine Entdeckung in einer Phase des husserlschen Denkens, in der sich Husserl einer solchen Methode überhaupt nicht bewusst war, ist meiner Ansicht nach die Aufdeckung des absoluten Bewusstseinsflusses und der Retention bei 17

Vgl. dazu E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 38.

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Die Begründung der Intersubjektivität

der Untersuchung des Zeitbewusstseins. Husserl versucht, die Konstitution des Sinnes der Vergangenheit mit dem ihm vertrauten Schema von Auffassungsakt und Auffassungsinhalt zu erörtern, aber stößt dabei auf die Schwierigkeit, das uns unbezweifelbar anschaulich gegebene Zeitbewusstsein von der Dauer eines Tones ohne widersprüchlichen unendlichen Regress theoretisch zu erhellen. Dadurch hat er den das immanente Zeitbewusstsein konstituierenden absoluten Bewusstseinsfluss und die besondere, diesem absoluten Zeitbewusstsein selbst zugehörige Konstitutionsweise der Retention, die eine implizit fungierende, besondere Intentionalität ist, entdeckt. Diese Entdeckung wird nicht durch eine bloße deduktive Analyse der bereits gegebenen Apperzeptionsschichten erreicht. Sie führt uns zur unbewussten assoziativ vereinigenden Retention, die als passive Intentionalität der passiven Synthesis durch die genetische Analyse weiter enthüllt wurde. Dieser Werdegang der genetischen Phänomenologie hinsichtlich der Thematik der Zeit, der Assoziation und der Urstiftung, der uns von der Entdeckung der Retention bis zu der der Triebintentionalität führt, erreicht schließlich die Einsicht der phänomenologischen Monadologie Husserls, die die Forschung der genetischen Phänomenologie und die Orientierung auf die intermonadische Entwicklung der All-Monade hin verbinden kann. 4)

Die Methode der Entwicklungspsychologie und die Methode der genetischen Phänomenologie

Der Vergleich zwischen der empirischen Methode der Entwicklungspsychologie und der Methode der genetischen Phänomenologie ist äußerst wichtig, da dadurch die genaue Auffassung der genetischen Methode des Abbaus ermöglicht wird. a) Hinsichtlich der Zeit ist klar, dass die objektive Raumzeitlichkeit, mit der konkrete Phänomene unter dem Aspekt des real-kausalen Zusammenhangs gemessen werden, die Grundvoraussetzung der Naturwissenschaft, wie etwa der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaft, ist. Die »interactional synchrony« 18 (in der Entwicklungspsychologie von D. N. Stern) untersucht die Gleichzeitigkeit der Zwischenaktivität von Mutter und Kleinkind. Dabei wird die Aktivität in den Gehirnen von Mutter und Kind jeweils objektiv mit18

D. N. Stern, The Interpersonal World of the Infant, S. 84.

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tels einer Uhr gemessen, um so zu beurteilen, ob die Aktivitäten in beiden Gehirnen wirklich gleichzeitig stattfinden. 19 Aber die gemeinsame Gegenwart des intersubjektiven Erlebnisses bedeutet phänomenologisch etwas ganz anderes als die wissenschaftlich-objektive Gleichzeitigkeit des Zeitpunktes, der, wie Waldenfels sagt, eine absolute Konstruktion des Philosophen und des Naturwissenschaftlers ist. 20 Die gemeinsam gelebte Zeit zwischen zwei Personen wird in der Tat in der lebendigen Gegenwart von beiden unmittelbar und apodiktisch erlebt. Wenn sich zwei Personen begegnen und sich die Hand geben, kann keiner von beiden zweifeln, dass sie sich gleichzeitig begegnen und die Hand geben. Die punktuelle Übereinstimmung zwischen beiden Erlebnissen in der physikalisch-objektiven Zeit spielt hier keine Rolle. Wer denkt bei einem Handschlag daran, ob die eigene Berührung der anderen Hand mit der Berührung des Anderen meiner Hand wirklich punktuell gleichzeitig stattfindet? Wenn die Aktivierung in den jeweiligen Gehirnen nicht gleichzeitig stattfände, entstünde deshalb kein gleichzeitiger Handschlag? Der Aberglaube an einen Zeitpunkt auf einer objektiven Zeitachse, den unsere Erfahrung selbst hervorbringen könnte, muss endgültig aufgegeben werden. Dies macht Husserl zunächst an der Entdeckung der bewussten Retention und dann an der unbewusst fungierenden intermonadischen Zeitigung der uraffektiven, »ursprünglich instinktiven Kommunikation« (Hua XV, 609) 21 deutlich. b) Wie oben ausführlich dargestellt, 22 ist B. Libets Forschungsergebnis der 0,5 Sekunden des Bewusstwerdens als empirisches Ergebnis in vollem Umfang zu akzeptieren. 23 Aber seine Erklärung für die Gleichzeitigkeit des Bewusstseins mit der Weltrealität (nämlich dass jeder trotz der Zeitverschiebung von 0,5 Sekunden sich der Gleichzeitigkeit mit den Vorgängen der Realität der Außenwelt bewusst ist) und des freien Willens des Menschen sind ganz und gar diesem Aberglauben an einen Zeitpunkt auf einer objektiven Zeitachse verhaftet. Die »subjektive Rückdatierung des Zeitpunktes […] Stern bleibt der Meinung, dass die Gleichzeitigkeit nicht wissenschaftlich bewiesen ist; vgl. Stern, a. a. O., S. 84. 20 Vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 130 f. 21 Vgl. für die neue physikalische Auffassung der Zeit in unserer Erfahrung I. Prigogine, Vom Sein zum Werden, S. 262 f. 22 Siehe oben, S. 121 ff. 23 Für kritische Überlegungen zu diesem Thema vgl. oben, erster Teil, Kapitel III. 19

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zurück zum Zeitpunkt der primären EP-Reaktion« 24 ist eine rein philosophische Konstruktion, mittels deren der überzeitliche und überfliegende Geist die objektiv bereits vergangenen 0,5 Sekunden zurückgewinnt. Diese Metaphysik entspricht letztlich einem gewandelten cartesianischen Dualismus. Das sogenannte Veto-Bewusstsein, dessen Libet zur Rettung des freien Willens bedarf und das keine 0,5 Sekunden in Anspruch nimmt, widerspricht seiner eigenen These. 25 c) Demgegenüber kann uns die Einsicht in die unbewusste Retention der passiven Synthesis die streng wissenschaftliche Begründung dafür liefern, die unbewusste Dauer von 0,5 Sekunden nicht als »emergentes Phänomen« auf der Basis eines real-kausalen Zusammenhangs, sondern als intermonadische Zeitigung aufzufassen. Das heißt, dass das Bewusstsein von der Gleichzeitigkeit mit den Vorgängen in der Außenwelt als Urbewusstsein bzw. inneres Bewusstsein aufgefasst werden kann, das die Überschreitung der voraffektiven Kräfte der unbewussten passiven Synthesis in den Bereich der Affektion bedeutet. Die Lösung der Frage nach der Freiheit ist im Rahmen der objektiven Zeitachse niemals zu erreichen, da Libet einen bestimmten Zeitpunkt als Ansatz für den freien Willen sucht. Die Freiheit kann als die auf der passiven Synthesis in der lebendigen Gegenwart beruhende aktive Intentionalität in der genetischen Phänomenologie aufgefasst werden. d) Die Assoziation, wie Hume und seine Nachfolger im englischen Empirismus sie verstehen, funktioniert anders als die phänomenologisch aufgefasste Assoziation. Diese setzt keine objektivlineare Zeitachse voraus, die jene bei der Datierung der Impressionen in einem kausalen Verhältnis von Vorher und Nachher voraussetzt. Die »association of ideas« beruht nach Hume auf der Disposition der Häufigkeit der atomistisch gedachten Impressionen in einem isolierten einzelnen Subjekt. Zwar ist die Assoziation in einem anderen Subjekt nur von außen zu betrachten, aber die Assoziation in mir selbst ist für mich selbst natürlich nicht von außen beobachtbar. Daher wird schließlich das Gefühl des Kleinkindes oder der Mutter nur von außen, vom Blickpunkt der dritten Person her, beobachtet,

B. Libet, Mind Time, S. 105. A. a. O., S. 159 ff. Libet bemerkt nicht, dass die Freiheit des Menschen nicht mit dem kausalen Verhältnis auf der objektiven Zeitachse zu konkurrieren braucht und dass die Freiheit als eine implizite Intentionalität bereits im Prozess des Bewusstwerdens am Werk ist.

24 25

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und die intersubjektive Co-Affektion zwischen beiden wird, im neuzeitlichen dualistischen Schema der klassischen Psychologie, als Erklärung dafür genommen, dass die Mutter das Gefühl des Kindes durch die Projektion des dem eigenen Außen entsprechenden eigenen Gefühls erschließen kann. Die Assoziation begründet die Entsprechung also mittels der Beobachtung von außen. Aber Assoziation im phänomenologischen Sinn ist von ihrem Wesen her intersubjektiv und intermonadisch. Diese intersubjektivintermonadisch fungierende Assoziation wird als passive Synthesis der »Paarung« 26 bezeichnet. Wichtig ist dabei, dass die Assoziation der Ähnlichkeit oder des Kontrasts der bewussten Ähnlichkeit oder dem bewussten Kontrast ständig unbewusst vorhergeht. Die Assoziation selbst fungiert immer unbewusst. Dieses Vorhergehen entspricht dem Verhältnis zwischen der unbewussten und der bewussten Retention. Die unbewusste Retention geht der bewussten Retention voraus und könnte die 0,5 Sekunden in Anspruch nehmen, die Libet für das Bewusstwerden ansetzt. Aber zum Bewusstwerden der unbewussten Retention wird keine subjektive Rückdatierung zur EP-Reaktion, wie bei Libet, benötigt. Vielmehr wird eine assoziativ entstehende affektive Kraft benötigt, die das wechselseitige Interesse des monadischen Lebens und des hyletischen Moments der Umwelt, durch die inhaltliche assoziative Verschmelzung zwischen beiden, weckt. e) Von der Urstiftung im Sinne der genetischen Phänomenologie spricht die Naturwissenschaft grundsätzlich nicht. Die Urstiftung ist als intermonadisches Zwischen-Ereignis charakterisiert und ist nur durch die phänomenologische Reduktion erreichbar, die Varela für die künftige neurowissenschaftliche Forschung als notwendig erachtet. 27 Für Stern spielt die affektive Übereinstimmung (»affect attunement«) eine zentrale Rolle für die Urstiftung der intersubjektiven Beziehungen des Menschen. Dabei, wie unten ausführlich dargestellt, bleibt Sterns Auffassung jedoch der affektiven Übereinstimmung im Erkenntnisschema der klassischen Psychologie verhaftet.

E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 51, S. 114 ff. Zur Begründung der Intersubjektivität durch den Begriff der Paarung der passiven Synthesis vgl. meine Darstellung in: Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, § 26, S. 94 ff. 27 Vgl. dazu F. Varela, Neurophenomenology, S. 122 ff., jap. in: Gendai shiso, 2001. 26

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§ 3. Passive Synthesis, die produktive Einbildungskraft bei Kant und Heideggers Interpretation der Einbildungskraft bei Kant Die Begründung der husserlschen Intersubjektivität wurzelt in der passiven Synthesis der Paarung. Um diesen Bereich der passiven Synthesis klar zu verstehen, braucht es eine genaue Grenzmarkierung dieses Problembereichs. Diesbezüglich möchte ich klarstellen, inwiefern Husserls Aussage, dass die Analyse der passiven Synthesis nichts anderes als die weitere phänomenologische Analyse der »produktiven Einbildungskraft« Kants ist, zutrifft. 28 Dabei ist es sehr aufschlussreich, Heideggers Interpretation der Einbildungskraft Kants in die Diskussion einzubeziehen. Dadurch wird die korrekte Auffassung der Retention und der passiven Synthesis ermöglicht. 1)

Heideggers Interpretation der Einbildungskraft Kants

Heideggers Interpretation der produktiven Einbildungskraft Kants besagt, dass die Begründung der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – also die Frage, inwiefern ein Gegenstand durch die Anwendung der Urteilsregeln als etwas erkannt werden kann – in der Ausgabe A der »Kritik der reinen Vernunft« psychologisch und in der Ausgabe B logisch, vom Standpunkt der Kategorien aus, durchgeführt wird. Heidegger hat in »Die phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft Kants« und in »Kant und das Problem der Metaphysik« versucht, die von Kant als überzeitlich angenommenen Kategorien und die transzendentale Apperzeption des Ichs unter dem Aspekt der »Zeitigung« als Problem der Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis zu erhellen. Die Hauptzüge seiner Interpretation sind auf folgende Weise darzustellen: Heidegger versteht die Recognition in seiner InterpreHusserl schreibt: »Wenn Kant in seinem großen Werk von einer analytischen Synthese spricht, so meint er das darin in expliziten Formen des Begriffs und Urteils sich entfaltende Erkennen, und dieses weist nach ihm zurück auf eine produktive Synthese. Das ist aber nach unserer Auffassung nichts anderes als das, was wir passive Konstitution nennen, als das nach unserer phänomenologischen Methode enthüllbare Zusammenspiel der sich beständig höher entwickelnden Intentionalitäten des passiven Bewußtseins, in denen sich passiv eine überaus vielgestaltige immanente und transzendente Sinngebung vollzieht und sich organisiert zu umfassenden Sinngestalten und Seinsgestalten, wie es die immanente Einheit des Erlebnisstromes ist und hinsichtlich der Transzendenz die Einheit der Welt mit ihren universalen Formen« (Hua XI, 275 f.).

28

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tation der drei transzendentalen Synthesen Apprehension, Reproduktion und Recognition 29 als »Prae-cognition« und gibt ihr den Vorrang vor den beiden anderen Momenten. Für Kant ist die Recognition die Synthesis durch den Begriff, der auf der überzeitlichen Spontaneität des Verstandes beruht. Für Heidegger ist die Rangordnung der drei Synthesen wichtig: »Damit ist gesagt, daß die drei Synthesen nicht einfach einander nebengeordnet sind, daß insbesondere die dritte sich nicht einfach anschließt, sondern vor den beiden erstgenannten am Ende einen Vorrang hat.« 30 Indem er die Recognition im Sinne der Prae-cognition als das auf die Zukunft bezogene Vorwegnehmen versteht, interpretiert er die transzendentale Apperzeption des Ichs nicht als das Überzeitliche, sondern als die ursprüngliche Zeitlichkeit, die die Gegenwart der Apprehension, die Vergangenheit der Reproduktion und die Zukunft der Prae-cognition vereint: »Demgegenüber wurde deutlich durch die Rückführung der Recognition auf die Identifizierung und dieser wiederum auf die Vorwegnahme einer regionalen Ganzheit, daß das Zeitmoment, auf das die Synthesis der Recognition bezogen ist, gerade die Zukunft, das Vorweghaben ist.« 31 Aber das Moment der Zukunft, das in der Prae-cognition am Werk ist, wird schließlich mittels des Begriffs des Entwurfs des Daseins ursprünglich begründet. Dadurch muss nicht nur die transzendentale Apperzeption, die bei Kant logisch und überzeitlich verstanden wird, sondern auch die Kategorie selbst zeitlich verstanden werden: »[D]ann ist der Ursprung der Kategorien – wenn anders die drei Synthesen auf dem Grund der Zeit zusammengehören – die Zeit selbst.« 32 Dem obigen Grundriss seiner Interpretation sind folgende wichtige Punkte zu entnehmen: a) Heidegger sieht im Grunde genommen die Recognition Kants als »den Akt der Identifizierung« an. Als Erklärung führt er das folgende Beispiel aus der Unterrichtspraxis an: »Zunächst greife ich die vorfindlichen Gegenstände apprehensiv auf und mache sie mir konkret anschaulich zugänglich: die Tafel, die Lampe, die Kreide usw. […]. Angenommen, wir vermöchten die Apprehension zu vollziehen

Vgl. KrV, A 98 ff. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 357. 31 A. a. O., S. 364. 32 A. a. O., S. 365. 29 30

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und vermögen ebenso, zu behalten, dann behalten wir eben die wahrgenommenen Gegenstände, und zwar so oft, als sie wahrgenommen waren, aber dass: sich das Kreidestück in allen den verschiedenen Apprehensionen und Reproduktionen als ein und dasselbe bekundet, ist nicht zureichend im einfachen Apprehendieren und Reproduzieren begründet.« 33 Für die hier erwähnte Identifizierung des Kreidestücks als ein und dasselbe sind die Apprehension und die Reproduktion also nicht ausreichend. Der Identifizierung liegt »die Vorweghabe eines einheitlichen Zusammenhangs von Seiendem zugrunde«. 34 b) Was ist in dem Anschauungsinhalt der Apprehension der Gegenwart in der Vorwegnahme der Prae-cognition überhaupt gegeben? »Diese Synthesis der Apprehension ist die reine Synthesis, d. h. eine Spontaneität der Rezeption. In dieser Synthesis der Apprehension liegt nichts von begrifflicher Bestimmung im Sinne einer Komparation, Reflexion und Abstraktion, d. h. keine logische Funktion des Verstandes. […] Die reine Zeitanschauung ist wesenhaft mitbestimmt durch diesen Modus der ›Synthesis‹, die Apprehension; diese aber ist ein Modus der reinen Einbildungskraft.« 35 Wichtig ist hierbei seine Unterscheidung zwischen der Apprehension und der logischen Funktion des Verstandes. Wie fungiert die Apprehension als die reine Einbildungskraft selbst? »Am Jetzt selbst wird abnehmbar der ursprüngliche Verband von Einheit und Mannigfaltigkeit. Dieses apriorische Abnehmen und zugleich dann anschauend sich orientieren ist Ab-bilden, und dieses Ab-bilden ein Modus der Einbildungskraft.« 36 Ursprünglich gegeben ist der Verband von Einheit und Mannigfaltigkeit. Die hier genannte Einheit kann z. B. die oben genannte Einheit des Kreidestücks sein. Die Mannigfaltigkeit ist die anschauliche Gegebenheit in der Apprehension selbst. Was heißt aber, dass der Verband abnehmbar wird, dass das gleichzeitige Abnehmen und SichOrientieren Ab-bilden ist? Dazu gibt Heidegger keine phänomenologische Beschreibung mehr und geht deshalb über Kant nicht wesentlich hinaus. c) Die Apprehension kann nicht allein, ohne Synthese der Re33 34 35 36

A. a. O., S. 361 ff. A. a. O., S. 364. A. a. O., S. 347 f. A. a. O., S. 348.

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produktion, sein. Heidegger folgt der Einsicht Kants: »Würde ein empirisch Dargebotenes, das sich je in einem Jetzt darbietet, mit dem Abfließen des Jetzt auch schlechthin entfallen, dann hätte das Gemüt nie die Möglichkeit, zu etwas Vorigem über- und zurückzugreifen.« 37 Die Synthesis, das fließende Jetzt zu behalten, wird von Heidegger Reproduktion genannt: »Dieses Darbieten des rein Gewesenen der Jetztfolge ist die Einigung derselben je mit jedem aktuellen Jetzt, es ist die reine reproduktive Synthesis, in der sich die Zeit als Vergangenheit unmittelbar – nicht als Gegenwart, sondern unmittelbar als sie selbst, als Vergangenheit darbietet. Diese Synthesis des reinen Behaltens des Nicht-mehr-Jetzt ist ein unmittelbares Darbieten sowohl wie zugleich ein freies ständig mögliches Zurückgreifen. […] diese reine Synthesis des Behaltens ist konstitutiv dafür, daß das Gemüt so etwas wie Zeit [als Jetzt oder als Nicht-mehr-Jetzt] unterscheiden kann.« 38 In diesem Zitat finden sich verschiedene problematische Stellen, die sorgfältig geklärt werden müssen. Die erste Frage lautet, ob dieses Behalten des Nicht-mehr-Jetzt wirklich »zugleich ein freies ständig mögliches Zurückgreifen« ist. Entspricht dieses Phänomen nicht vielmehr dem, was Husserl Retention nennt? Es stellt sich die Frage, wie die bestimmte Dauer der Empfindung, wie die des Schmerzes oder eines bestimmten Tones, als solche andauert. Ein unmittelbares Darbieten, das Heidegger hier nennt, könnte wohl der Retention Husserls entsprechen. Aber ein »freies ständig mögliches Zurückgreifen« gehört für Husserl zur »Wiedererinnerung«, die, anders als die Retention qua passive Intentionalität, als aktive Intentionalität charakterisiert werden muss. Hier wird klar, dass Heidegger das »unmittelbare Darbieten« als solches nicht, wie beim Fall der Art und Weise der Synthesis der Apprehension, phänomenologisch analysieren konnte und dass er die Unterscheidung zwischen der Retention als passiver Synthesis der passiven Intentionalität und der Wiedererinnerung als aktiver Synthesis der aktiven Intentionalität völlig übersieht. Ohne diese fundamentale Unterscheidung ist der Zugang zur Einbildungskraft Kants nicht möglich. d) Diese kritische Frage betrifft auch Kants Beschreibung der Apprehension selbst, die in sich auch die »Handlung der Zusammen37 38

A. a. O., S. 351. A. a. O., S. 352.

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nehmung« enthalten solle: »Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde […], so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne […].« 39 Wie können das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und die Zusammennehmung desselben überhaupt in der einen Handlung der Apprehension vollzogen werden? Bzw. gibt es eine Garantie dafür, dass das erst durchlaufene Mannigfaltige und das dann Zusammengenommene wirklich identisch sind? Hat man einen überzeitlichen Standpunkt, von dem aus das Vermögen der zwei Teilhandlungen ohne Zeitverlust, also zeitlos bzw. überzeitlich, wie Husserl am neukantianischen Standpunkt scharf kritisiert hat, 40 entstehen kann? In der Tat ist es sehr problematisch, unserem Gemüt einfach ein solches Vermögen der Unterscheidung zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit zuzuschreiben. Wie kann dann das Gemüt überhaupt den Unterschied zwischen dem Jetzt und dem Nicht-mehr-Jetzt, also das nicht umkehrbare Fließen der Zeit, anschaulich machen? Dieser Unterschied ist für unseren Alltag entscheidend: ob beim plötzlichen Bremsen eines Zugs die unbewusste, passive Kinästhese des unabsichtlichen Auf-den-Fuß-Tretens der bewussten Kinästhese des absichtlichen Auf-den-Fuß-Tretens vorausgeht oder im Voraus die bewusste Kinästhese des absichtlichen Auf-den-Fuß-Tretens retentional empfunden wird. Zu dieser Unterscheidung von bewusster und unbewusster Retention kann Heidegger überhaupt nichts sagen, weil er, schlicht gesagt, die Retention als passive Intentionalität nicht verstehen kann. 2)

Heideggers Interpretation der transzendentalen Apperzeption des Ichs

Heidegger sieht die transzendentale Apperzeption des Ichs nicht mehr als das bloß Formale, sondern als das Zeitliche an, indem er unter den drei Synthesen die Prae-cognition als das Primäre interpretiert. Somit kritisiert er Kants Ansicht, dass die transzendentale Apperzeption des Ichs das Logisch-Überzeitliche sei. Diese Kritik wird erst möglich, indem Heidegger den Begriff der Recognition als Prae39 40

KrV, A 99. Vgl. oben, S. 41 f.

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coginition (die der zeitlichen Vorwegnahme der Zukunft entspricht) und schließlich als den freien Entwurf des Daseins fasst. Damit interpretiert er die transzendentale Apperzeption des Ichs als »ein ursprünglich Einiges, was daher als dieses Einigende auch schon umgreift und den Horizont der einigen Zeit in seinen drei Dimensionen als offen darbietet« 41. Seine Charakterisierung der transzendentalen Apperzeption betrifft den Begriff des Daseins in seiner Tiefenstruktur: »Auf dem Verhältnis zu der transzendentalen Apperzeption als einem Vermögen beruht notwendig die Möglichkeit aller Synthesis […]. Das Ich ist also gerade in seiner Wirklichkeit reine Möglichkeit, dieses Ich-kann ist gerade die existente Existenz.« 42 In diesem bei Kant nicht durchgeführten ontologischen Zusammenhang wird das Verhältnis zwischen der Zeit und dem »Ich denke« deutlich formuliert. »Die Zeit und das ›Ich denke‹ stehen sich nicht mehr unvereinbar und ungleichartig gegenüber, sie sind dasselbe.« 43 Das Ich des »Ich denke«, das bei Kant das Formale bleibt, ist bei Heidegger also nicht mehr das Formal-Überzeitliche, sondern die Existenz als das zeitliche Ich selbst. 3)

Die Gegenüberstellung von Heideggers und Husserls Interpretationen der Einbildungskraft Kants

Bei der Gegenüberstellung von Heideggers und Husserls Interpretationen der Einbildungskraft ist zunächst der Vergleich der Begriffe des Jetzt, der Retention und der Protention bei Husserl mit der Auffassung der Apprehension, Reproduktion und Prae-cognition bei Heidegger sehr wichtig. Heidegger betrachtet das Ab-bilden der Apprehension und das Behalten der Reproduktion hinsichtlich der ursprünglichen Vereinheitlichung der gezeitigten transzendentalen Apperzeption des Ichs, die schließlich als die eigentliche Zeitlichkeit der freien Entscheidung des Daseins verstanden wird. Demgegenüber sieht Husserl, dass die Zeit mit dem »Ich denke« deswegen nicht identisch ist, weil die transzendentale Apperzeption des Ichs, wenn auch als das Gezeitigte verstanden, für die Vereinheitlichung des Zeitlichen – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – keine Rolle spielen kann. 41 42 43

M. Heidegger, a. a. O., S. 389 f. A. a. O., S. 380. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 191.

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Die Begründung der Intersubjektivität

a) Heideggers Darstellung der Apprehension beinhaltet das apriorische Abnehmen des ursprünglichen Verbandes von Einheit und Mannigfaltigkeit der Anschauung und zugleich des Anschauend-sich-Orientierens beim Ab-bilden. Aber darüber hinaus gibt es keine weiteren Hinweise, wie solche Funktionen gleichzeitig fungieren können. Husserl hingegen versucht gerade die Art dieses anschauenden Verbindens von Einheit und Mannigfaltigkeit selbst zu analysieren und in einen deutlichen Zusammenhang der phänomenologischen Analyse zu bringen. Die Mannigfaltigkeit, die in der Anschauung gegeben ist, ist für Husserl zunächst die anschauliche Gegebenheit der Sinnesempfindungen, der visuellen, akustischen, taktilen u. a. Empfindungen. Die Frage zielt nämlich auf das Wie dieser Gegebenheit, z. B. der Dauer und der Änderung einer bestimmten Empfindung, ab: Wie kann eine bestimmte Empfindung, etwa die eines Tones, innerhalb einer bestimmten Dauer als Einheit einer kontinuierlichen Dauer empfunden werden? Es geht nicht direkt um die Möglichkeit der Erkenntnis eines Gegenstandes, sondern zunächst um die Möglichkeit des Empfindens selbst. Aber dies entspricht keinem empirischen Impressionismus im Sinne Humes. Denn für Hume und auch für Kant ist, wie etwa Waldenfels trefflich äußert, die Vielheit der Sinnesqualitäten – Schmerzempfindungen, Rotempfindungen, Hörempfindungen usw. – einfach fraglos vorausgesetzt, und nach der Genesis solcher Qualitäten oder der Möglichkeit der Synästhesie wird gar nicht ernsthaft gefragt. 44 Husserl zielt allerdings genau auf die Genesis der Sinnesqualitäten, die hier als die Möglichkeit des Empfindens selbst thematisiert wird, ab. b) Husserl hat die Art und Weise, wie die Sinnesqualitäten in der Dauer anschaulich gegeben sind, Retention genannt. Zunächst gilt es, den Unterschied zwischen der Retention und dem Behalten der Reproduktion in der transzendentalen Synthesis Kants festzustellen. Entscheidend ist, dass die Retention bei Husserl ohne Voraussetzung der transzendentalen Apperzeption des Ichs, also nicht als »cogitare« des »ego cogito«, sondern als passive Synthesis fungiert. Die apodiktische Evidenz der bewussten und unbewussten Retention und auch der unbewussten Protention ist unbezweifelbar. 45 Jede unserer Hand44 45

Vgl. A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft, II-4, S. 89 ff. Vgl. oben, S. 71 f.

229 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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lungen wird immer von unbewussten Retentionen und Protentionen begleitet. Ohne das Mitwirken von Retention und Protention sind weder das plötzliche Einfallen noch eine Überraschung möglich. 4)

Zusammenfassende Betrachtung

Die bisherige Diskussion zusammenfassend, wird nun versucht, die für die Begründung der Intersubjektivität entscheidende Bestimmung des Bereichs der passiven Synthesis in den folgenden Aspekten darzustellen. a) Die Frage nach der Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« ist eine erkenntnistheoretische: Wie kann man z. B. eine gezeichnete Linie als Linie sehen? Kants Antwort beruft sich »erstlich [auf, I. Y.] das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben« in der Synthesis der Apprehension. Die wichtige Frage lautet, wie diese zwei Handlungen, Durchlaufen und Zusammennehmung, in einer Handlung der Apprehension überhaupt möglich sind. Wie im ersten Teil dieses Buchs gezeigt, ist die Auffassung der Neukantianer, Lotzes und Meinongs, dass die zeitlich-räumliche Mannigfaltigkeit vom überzeitlichen Ich-Pol der transzendentalen Apperzeption aus angesehen und durch einen überzeitlichen Akt vereinheitlicht würde, widerlegt. Somit wird die Retention als passive Intentionalität von der Reproduktion als der aktiven Intentionalität prinzipiell streng unterschieden und der Bereich der passiven Synthesis der passiven Intentionalität bestimmt. b) Weder von Kant noch von Heidegger wurde der Bereich der passiven Synthesis gesehen. Der Versuch Heideggers, die »Synthesis des reinen Behaltens des Nicht-mehr-Jetzt« als »ein unmittelbares Darbieten sowohl wie zugleich ein freies ständig mögliches Zurückgreifen« zu verstehen, geht über Kant nicht hinaus. Heideggers Interpretation der Einbildungskraft – die Apprehension als das Ab-bilden, die Reproduktion als eine Synthesis des Darbietens und des freien Zurückgreifens und die Recognition als die Prae-cognition – basiert zwar nicht mehr auf der als überzeitlich gedachten transzendentalen Apperzeption des Ichs. Aber sie stellt nirgendwo das Wie des Ab-bildens, des Darbietens, des freien Zurückgreifens und der Prae-cognition auf evidente Weise durch eine phänomenologische Beschreibung dar. c) Wenn Heidegger die Einbildungskraft unter dem Aspekt des Entwurfs des Daseins, das von Held als »eigentliche Zeitigung« der 230 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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existenzialen Entscheidung vor dem Tod verstanden wird, interpretiert, entgeht ihm der Zugang zur intermonadischen Zeitigung Husserls, die durch die Frage nach der passiven Genesis des Bewusstseinsstroms der lebendigen Gegenwart eröffnet wird. Heideggers Versuch, die lebendige Gegenwart Husserls mit der Interpretation der Einbildungskraft Kants zusammenzudenken, scheitert zwangsläufig: Er konnte die Retention als passive Intentionalität, die bereits »im unmittelbaren Darbieten« der Reproduktion vor dem »freien Zurückgreifen« am Werk ist, und die Reproduktion als aktive Intentionalität des »freien Zurückgreifens« überhaupt nicht unterscheiden. Wie oben gezeigt wurde, ist die Deckung des Zeitinhalts in der Querintentionalität der Retention, die mit der Längsintentionalität der Retention die Selbstkonstitution des absoluten Zeitbewusstseins ohne unendlichen Regress bildet, nichts anderes als die Deckung der assoziativen, vor-ichlichen Synthesis des Zeitinhalts. Dieser wird – durch die Voraffektion vorbewusst vorkonstituiert und durch die assoziative Motivation der Triebintentionalität affiziert – ins Urbewusstsein und damit auf die Ebene der Konstitution des Bewusstseins gebracht. d) Husserl ist durch seine Analyse des immanenten Zeitbewusstseins auf das Problem der transzendentalen Subjektivität gestoßen, das als Problem des unendlichen Regresses bei der Konstitutionsanalyse des Zeitbewusstseins durch das Schema von Auffassungsakt und Auffassungsinhalt ausgedrückt wurde. Das gleiche Problem wird in der »Krisis« als das Paradox der »menschlichen Subjektivität« in der Lebenswelt thematisiert. Die Lösung hierfür wird in der Zeitigung der lebendigen Gegenwart, die auch für die Begründung der Intersubjektivität entscheidend ist, gesucht. Heidegger hat die Thematik der »apodiktischen Evidenz der Zeit und des Anderen«, die Husserl im Rahmen seiner Selbstkritik hinsichtlich der »transzendentalen Naivität« in seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« (Hua XXXV) thematisiert hat, übersehen. Ohne die Frage nach der »apodiktischen Evidenz der Zeit«, die bei Husserl als die apodiktische Evidenz der Retention gesehen wurde, bleibt der Zugang zur adäquaten Analyse der Einbildungskraft als der passiven Synthesis der assoziativen Weckung zwischen den hyletischen Momenten des Jetzt und den retentionalen Leergestalten im Vergangenheitshorizont verschlossen. Ohne die Frage nach der »apodiktischen Evidenz des Anderen«, die Husserl zur passiven Synthesis der Paarung in der intermonadischen Zeitigung führt, bleibt Heideg231 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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ger allein das Mitdasein übrig, das schließlich, ohne die unmittelbare Beziehung auf die Andersheit des Anderen (des Du), in den existenziellen Solipsismus gerät.

§ 4. Die Begründung der Intersubjektivität durch die Paarung der passiven Synthesis: die Paarung in der statischen und genetischen Analyse Im folgenden Paragraphen wird der Begriff der Paarung – der in der fünften der »Cartesianischen Meditationen« für die Begründung der Intersubjektivität angewendet wurde – daraufhin befragt, welche Tragweite die Paarung für die Begründung der Intersubjektivität hat. Dabei wird klar, dass die meisten bisherigen Kritiken am Begriff der Paarung Husserls hinfällig sind, da die Analyse der Paarung von der statischen Analyse zur genetischen erweitert werden muss. 1)

Der Begriff der Paarung im Rahmen der Thematik der transzendentalen Logik 1924 oder 1928

Die Entwicklung der genetischen Phänomenologie zeigt sich als die Entfaltung der transzendentalen Logik. 46 In seiner Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« thematisiert Husserl die Problematik »der apodiktischen Kritik des Logos«. In der Beilage XXII behandelt er »die Sinnbildung der ›Andersheit‹ als Voraussetzung der Zahlbildung«. Dabei stellt Husserl fest, »dass jedes Ineinander, jedes Bewussthaben als Teil, als bestimmendes inneres oder äußeres Moment, in einer besonderen Weise der Synthese, und zwar einer ›partial identifizierenden‹, gründet« (Hua XXXV, 437). Gegenüber diesem »Ineinander« wird das »Außereinander« auf folgende Weise charakterisiert: »Das elementarste und unmittelbar ›anschauliche‹ Außereinander (wahrnehmungsmäßig als außer einander) ist das Paar. Es ist eine ursprünglichste Form synthetischer Passivität, und wenn wir alle Gestalten solcher Passivität unter dem phänomenologischen Titel ›Assoziation‹ zusammennehmen, so bezeichnet Paarung eine elementare Leistung der Assoziation« (ebd., Hervorhebung vom Verfasser). Hier wird klar, dass der Begriff des Paars und der Paarung aus der Vgl. Landgrebes Vorwort für das von ihm herausgegebene Buch Husserls »Erfahrung und Urteil«, S. XX–XXVI.

46

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Thematik der transzendentalen Logik, nämlich aus der intentionalen Analyse der Konstitution des »Außereinanderseins« bzw. der »kollektiven Mehrheit« (ebd.), stammt. Daher wird die Paarung auch als »eine Deckung in Distanz« (Hua XIV, 531) bezeichnet. In diesem Sinne, vor allem in Bezug auf die Thematik der Interpretation des Begriffs der Einfühlung, ist es kein Wunder, wenn Husserl die völlig distanzlose »Einsfühlung« Schelers schließlich als »Abwandlung meiner selbst« scharf kritisiert. 47 Das Paar als das Außereinander hat den Charakter der »synthetischen Passivität«, die als Assoziation, sogar als »eine elementare Leistung der Assoziation«, bezeichnet wird: »Das sinnlich gegebene Gleiche ›erinnert an‹ das Gleiche und dieses daran Erinnern besagt nicht Vergleichung und Gegebenheit von Gleichem, das als solches allererst aus einem Vergleichen entspringt; vielmehr besagt es diejenige ›sinnliche Gleichheit‹, die schon vorgegeben sein muss, damit Vergleichung ansetzen kann, so wie das Erinnern eines im Wahrnehmungsfeld vorgegebenen A an sein gleiches A' eine Einheitsform passiver Synthesis besagt, einer übergreifenden Intentionalität, durch die gegenüber dem einzelnen abgehobenen Wahrnehmungsobjekt A und dem wiederum einzelnen A' eine Einheit der Abhebung ermöglicht ist, die beides als aneinander erinnernd, einander durch wechselseitige Wirkung verknüpfend einheitlich heraushebt – eben als Paar« (Hua XXXV, 437 f., Hervorhebung vom Verfasser). a) Dieses Daran-Erinnern unterscheidet sich von einem Vergleichen, das die »sinnliche Gleichheit« als die Vorgegebenheit voraussetzt. Das Erinnern als »eine Einheitsform passiver Synthesis« bedeutet natürlich keine Wiedererinnerung, die als eine aktive Synthesis ohne Ich-Aktivität nicht fungieren könnte. Diese »sinnliche Gleichheit« bzw. »die passiv vorgegebene Ähnlichkeit ist kein Denkgebilde (kategoriales Gebilde), weder das soeben angedeutete aus einer Idealisierung und Normierung, noch eine Relation, als welche ja konstituiert wird durch ein beziehendes Urteilen oder mindest durch eine vor der prädikativen Stufe vollzogene beziehende Aktivität« (Hua XXXV, 438 f.). Diese Unterscheidung zwischen der passiven Vgl. Husserls Kritik an dem Begriff »Einsfühlung«: »Wenn der Andere durch diese Vergegenwärtigung für mich da ist, ist er der Andere und nicht ich und mit mir verglichen und von mir durch ein Unterscheiden unterschieden. Aber es histi nicht Einsfühlung, als ob ich mich einfühlte und im Anderen lebte, mich in ihn hineinlebte etc., und doch ist der Andere nichts anderes als eine Abwandlung meiner selbst, und ihn erfahrend erfahre ich mich selbst in Abwandlung« (Hua XIV, 527).

47

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und aktiven Synthesis ist natürlich für die Interpretation der Paarung als eine passive Intentionalität wichtig. b) Diese »als sinnlich erscheinende Ähnlichkeit« (Hua XXXV, 438) wird als Einheitsform »einer übergreifenden Intentionalität« bezeichnet. Diese besondere Art der Intentionalität ist charakterisierbar als »aneinander erinnernd, einander durch wechselseitige Wirkung verknüpfend einheitlich herausheb[end]«. Diese wechselseitige Wirkung beim »An-einander-Erinnern, einander erinnernd Wecken« (Hua XXXV, 439) ist folgendermaßen dargestellt: »[D]as eine Wahrgenommene übergreift in einer erinnernden Synthesis das andere, trägt durch eine Weckung, die zugleich Deckung des gegenständlichen Sinnes ist, in das andere jenes in ihm, hdasi das Gegenstück erinnernd bewusst hat, hinein und umgekehrt« (Hua XXXV, 438). Oder unter Anwendung des Begriffs der Intentionalität: »Die Intentionalität […] greift zugleich ›weckend‹ und synthetisch einigend hinüber in die Intentionalität des anderen, und zwar in einer überschiebenden Deckung par distance, die die voll konkreten intentionalen Gegenstände zur Deckungseinheit bringt, und zwar so, dass in einem jeden eben zugleich der andere sozusagen durchscheint und umgekehrt« (Hua XXXV, 439). c) Hier ist zu beachten, dass Husserl diese Analyse in der Beilage XXII mit der Frage nach der Sinnbildung der Andersheit »als Voraussetzung der Zahlbildung« in der Thematik der transzendentalen Logik angefangen hat. Es geht hier also nicht um »die Andersheit des Anderen« im Kontext der Frage nach der Intersubjektivität. Daher stellt sich die Frage, ob und inwieweit »ein wechselseitiges Aneinander-Erinnern, einander erinnernd Wecken« für die wechselseitige assoziative Weckung zwischen den transzendentalen Subjekten von Ich und Anderem (und nicht nur zwischen den Gegenständen und dem Ich), also für die Erhellung der Andersheit des Anderen wirklich anwendbar ist. Bevor ich auf diese Frage direkt eingehe, ist es wichtig, noch im Bereich der transzendentalen Logik zu bleiben, damit die Genesis und die Trageweite dieses wechselseitigen Aneinander-Erinnerns deutlich werden kann. 2)

Der Begriff der Assoziation in der ersten Fassung der 1920/21 gehaltenen Vorlesung »Logik«

Die erste Fassung der 1920/21 gehaltenen Vorlesung »Logik« enthält interessante Abschnitte (Nr. 18, »Das Bewusstsein der Erinnerungs234 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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illusion«, und Nr. 19, »Wiedererinnerung und Assoziation«), die zeigen, auf welche Weise der Begriff der Assoziation als wechselseitiges Aneinander-Erinnern bzw. wechselseitige Weckung entstanden ist. a) Im ersten Text analysiert Husserl anhand des Beispiels einer Verwechslung zweier Ortschaften, wie eine Erinnerungsillusion entstehen kann: »Aber da, wo ich den jungen Mann sprechen hörte und das Gesprochene mir anschaulich näherbrachte, war ein kleiner, früher unmerklicher Sprung der Kontinuität, unvermerkt sprang da die Reproduktion in das andere Bild [Bild von Sils Maria] hinein, das gewissermaßen nach der visuellen Seite durch die erste Situation [die im Fextal] verdeckt blieb, und es schob sich dem einen Gespräch das andere [Bild von Sils Maria] unter« (Hua XI, 269). Hier ist es besonders wichtig, dass die zuerst aufgetauchte Erinnerung an das lebhafte Gespräch mit dem jungen Mann in Sils Maria eine bruchlose, kontinuierliche und einstimmige Wiedererinnerung war. Dann, aus welchen Gründen auch immer, regte sich ein Zweifel. Damit tauchte ein zweites Bild auf: »Ich bin nun mit demselben jungen Mann in einem kleinen Bauernzimmer im Fextal, seiner Wohnung […]« (ebd.). Husserl bezeichnet dies als »Übergangsphänomen« (Hua XI, 268). Durch diesen Übergang zergeht »das ursprünglich einheitliche Erinnerungsbild in mehrere Bilder und schließlich in mehrere klare und in sich ungebrochene Wiedererinnerungen, die verschiedenen Zeitstellen angehören« (Hua XI, 269). Dieses Übergangsphänomen, durch das eine Erinnerungsillusion als solche klar anschaulich wird, ist kein seltener Fall in unserem Alltag. Sehr wichtig ist, dass die oben durchgeführte Beschreibung des Übergangs keine psychologische Beschreibung im Sinne der empirischen Psychologie ist. »Das Sich-auseinanderschieben in zwei gesonderte Erinnerungen ist nicht eine Theorie, sondern eine in ihrer Intentionalität verstehbare Sachlage« (ebd.). Das heißt, der Anschauungsmodus der Erinnerungen kann nur im Zusammenhang der Intention mit ihrer Erfüllung evident gegeben werden. Daher sind die »Verdeckung und Unterschiebung« zwischen zwei Erinnerungsbildern unter dem Verhältnis der impliziten Intentionalität zu verstehen. Von jedem Erinnerungsbild »ist nur eine Partie im anschaulichen Gesamtbild durch anschauliche Teile vertreten; aber Ergänzungsstücke der [vergangenen] Situationen sind implicite auch da, sie sind nur ›heruntergedrückt‹, ›verdeckt‹« (Hua XI, 270). b) Im zweiten Text ist der Begriff der Assoziation in einen deutlichen Zusammenhang gebracht. Wenn wir zwei Erinnerungen als 235 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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»das Paar gesonderter Erinnerungen« (ebd.) betrachten, erkennen wir diese aufeinander bezogenen Erinnerungen als »›assozhiierendi‹ ; die eine Situation erinnert an die andere, und das ist nicht Ausdruck irgendeiner objektiven psychologischen Tatsache, sondern eine rein phänomenologische Wesenslage« (ebd.). Hier ist natürlich die Bedeutung der psychologischen Erforschung der Erinnerung als solche nicht negiert. Vielmehr wird eher das Eigentümliche der Assoziation in der phänomenologischen Analyse der noetisch-noematischen Korrelation der Intentionalität hervorgehoben: »Wesensmäßig ist jedes Erinnern an etwas (um die Beschreibung noematisch zu führen) ein noematischer Zusammenhang der synthetisch, unter dem Titel Assoziation, geeinigten Erinnerungsgegebenheiten, der ein Doppeltes einschließt: ein unmittelbares daran Erinnern und ein mittelbares« (ebd.). Warum unterscheidet Husserl das unmittelbare Erinnern vom mittelbaren? Der Grund dieser Unterscheidung liegt in dem folgenden Verhältnis: »Das unmittelbar geweckte Ähnliche weckt ein mit ihm Koexistierendes, und dieses hat dann den Charakter des mittelbar assoziierten. […] Mit anderen Worten, was durch das Ähnliche geweckt wird, ist nicht nur das vereinzelte Ähnliche der Gedächtnissphäre, sondern mit Rücksicht auf die unabtrennbaren Leerhorizonte aus dem vergangenen Bewußtseinsstrom die gesamte Bewußtseinsgegenwart, der das Ähnliche angehörte« (Hua XI, 271). Die gesamte Bewusstseinsgegenwart ist an ihre »unabtrennbaren Leerhorizonte aus dem vergangenen Bewußtseinsstrom« notwendigerweise gebunden. Der Leerhorizont schließt inhaltlich alle implizierten, potenziellen Intentionalitäten aus den Leergestalten der passiven Intentionalität und den Leervorstellungen der aktiven Intentionalität aus dem vergangenen Bewusstseinsstrom ein. Das heißt, wenn das unmittelbar assoziierte Ähnliche der Gedächtnissphäre geweckt wird, assoziiert seine Beeinflussung unbewusst die gesamten Sinneshorizonte aus den Leergestalten und Leervorstellungen. Diese Einsicht zeitigt enorme Konsequenzen in Bezug auf die korrekte Auffassung der paarenden assoziativen Synthesis. c) Die Einsicht der mittelbaren Assoziation bedeutet die Weckung des mit dem unmittelbar Geweckten Koexistierenden des jeweilig gegenwärtigen Sinnhorizontes. Also gehört die assoziative Verbindung innerhalb der gesamten Bewusstseinsgegenwart zum Bereich der passiven Synthesis. »In der Tat müßte man phänomenologisch den Begriff der Assoziation erweitern und nicht nur von 236 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Assoziation als einer Verbindung von gegenwärtigem und gedächtnismäßig versunkenem Bewußtsein sprechen, sondern auch von analogen Verbindungen innerhalb eines Gegenwartsbewußtseins. Hierher gehört z. B. Gleichheit, Kontrast und alles überhaupt, was in der Passivität im gegenwärtigen Bewußtsein abgehobene Mehrheit als Einheit bewußtmacht« (Hua XI, 272). In diesem Zusammenhang ist klar, dass der Begriff der Assoziation ursprünglich durch die intentionale Analyse der Erinnerungsillusion, also des Phänomens des Aneinander-Erinnerns zwischen Gegenwart und Vergangenheit, entstanden ist und dann durch die Analyse der dem Bewusstseinsstrom unabtrennbar angehörigen Leerhorizonte zum Bereich der lebendigen Gegenwart erweitert wurde. Wie oben gesagt, gehört die transzendentale Gesetzmäßigkeit wie Gleichheit und Kontrast eindeutig zum Gegenwartsbewusstsein. Die Analyse der passiven Synthesis der Assoziation und Affektion wird hauptsächlich unter dem Aspekt der retentionalen Abwandlung in der lebendigen Gegenwart entfaltet, wo die Assoziation als »Urassoziation« (Hua XI, 151) im engen Sinne bezeichnet wird (aber nicht im Bereich der Wiedererinnerung). 3)

Die Paarung für die Begründung der Intersubjektivität

Nachdem erläutert wurde, wie die Begriffe Paarung und Assoziation entstanden sind, können wir uns nun den Texten über die Paarung für die Begründung der Intersubjektivität zuwenden: Nr. 35 in Hua XIV, Nr. 15 sowie Beilage LIV in Hua XV. a) Im ersten Text, der mit »Allgemeine Beschreibung einer perzeptiven Assoziation (Paarung)« (Hua XIV, 530 ff.) betitelt ist, beschreibt Husserl zentrale Punkte der Assoziation zweier körperlicher Objekte als Paarung. Hier wird das Aneinander-Erinnern der Assoziation als die wechselseitige Weckung, die unter der affektiven Kraft der Affektion verstanden wird, dargestellt: »Eins weist auf das andere hin, oder wie wir auch sagen, von einem geht auf das andere hin eine Weckung. Affiziert mich das eine, so geht die Affektion in der Art auf das andere über, dass sie des andern Affektion verstärkt und umgekehrt« (Hua XIV, 530). Diese wechselseitige Verstärkung der affektiven Kraft entsteht aber in diesem Fall nicht zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern im Gegenwartsbewusstsein. Also finden wir in den direkten Übergängen der Affektion ständig die »Vergegenwärtigung 237 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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als Retentionen und diese in beständiger Deckung mit den perzeptiven Explikationen« (ebd.). Die Übergangsrichtung ist immer wechselseitig; »die Weckung ist eine wechselseitige, wechselseitig die Tendenz des Überganges, und die ganze Sachlage ist eine gleiche, d. h. im Nacheinander solcher Übergänge konstituiert sich selbst eine Paarung« (Hua XIV, 531). Zum Schluss des Textes kommt Husserl »zu unserem Fall der Assoziation, die zwischen meinem Leibkörper und dem ihm ähnlichen Körper dort besteht« (Hua XIV, 532), zurück. Aber sein Hinweis auf die Anwendbarkeit des Paarungsphänomens zweier körperlicher Objekte ist relativ bescheiden: »In unserm Fall wird die Ähnlichkeit jenen Aussenkörper dort (fremder Leib) mit meinem Leibköper erfahren, bei einer so verschiedenen Orientierungsgegebenheit, dass für beide eine Orientierung […] ausgeschlossen ist. […] Aufzuklären ist, wie sie [die phänomenale Paarung] hier bei diesem Nullkörper und einem Aussenkörper möglich werden soll« (Hua XIV, 533). Dies entspricht jedoch eher einer bloßen Thematisierung der Paarung zwischen dem Nullköper hier und dem Außenkörper dort. b) Der Text Nr. 15 in Hua XV behandelt die oben thematisierte Paarung zwischen meinem eigenen Leib und dem Außenkörper ausführlicher. »Nun tritt ›Assoziation‹ ein, das ist nichts anderes, als dass diese Ähnlichkeit lebendig ist, als dass eben Paarung ist, Überschiebung und Apperzeption. Mein Leib ist aber nur in einer Schichte perzeptiver Körper, konkret ist er Leib, Leib meines waltenden Ich, das Ich meiner universalen primordialen Sphäre ist. Die Apperzeption kann hier nicht Indikation von etwas Seiendem ausser ihm sein […], ebensowenig in der Zeitlichkeit auf ein früheres Primordiales oder späteres als in der primordialen ›Weltlichkeit‹ in der Regel damit Verbundenes. Und doch ›erinnert‹ die typische Gestaltung und das ›Gehaben‹ dieses Körpers dort an mein Walten in meinem ausgezeichneten Körper, wodurch er einzig ist in der Originalität« (Hua XV, 256). Wichtig ist hierbei, dass diese assoziative »Erinnerung« dieses Körpers »seine Erinnerungshorizonte, seine Voraussichtlichkeit und seine Bewährung wie auch seine Entwährung« (ebd.) hat. Der assoziativ geweckte Körper hat sein perzeptives Analogon meiner physischen Körperlichkeit in den Erinnerungshorizonten, in denen alle Arten der Leergestalten und Leervorstellungen impliziert fungieren: »Das Gehaben des Körpers dort, bzw. der Biegung des Körpers dort mit der sich ausstreckenden Hand etc. ›erinnert‹ an mich, wie wenn 238 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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ich dort wäre, mich kinästhetisch biegen, die Hand strecken würde, das Ding dort, den Stock zu ergreifen. […] In dieser beweglich fortgehenden Vergegenwärtigung unter beständiger Erfüllung der immerzu vorgezeichneten Vergegenwärtigungen konstituiert sich eine Einheit vielfältig intentional miteinander verflochtener und ineinander fundierter Vergegenwärtigungen als Vergegenwärtigungen eines Waltens und damit eines waltenden Ich« (Hua XV 256 f.). Hier darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Erinnerung als die intentionale Erfüllung der Vergegenwärtigung immer unter dem Aspekt eines waltenden Ichs beschrieben ist. Zwar ist in der Tat eine Einheit vielfältig intentional miteinander verflochtener und ineinander fundierter Vergegenwärtigungen aus den Leerhorizonten des Bewusstseinsstroms am Werk. Aber die Art des Verflochtenseins und das Fundierungsverhältnis zwischen Passivität und Aktivität sind hier überhaupt nicht thematisiert. Ohne diese Thematisierung ist es kein Wunder, dass in der obigen Beschreibung die bereits passiv fundierten aktiven Vergegenwärtigungen des aktiv fungierenden, waltenden Ichs einfach vorausgesetzt sind. Das »wenn ich dort wäre« ist die aktive Vergegenwärtigung, der die passive Vergegenwärtigung der assoziativen Synthesis unvermerkt bereits vorhergeht. Genauso ist das »mich kinästhetisch biegen« die aktive Kinästhese des waltenden Ichs. Aber genetisch gesehen geht die passive Kinästhese als die passive Intentionalität der aktiven Kinästhese als der aktiven Intentionalität immer voraus. c) Der genetische Aspekt, der das Fundierungsverhältnis und die Verflochtenheit der Passivität und der Aktivität infrage stellt, macht klar, unter welcher Fragestellung, ob statisch oder genetisch, Husserl seine Analyse entfaltet. Es ist daher wichtig, dass Husserl in dem obigen Text die Paarung, die Deckung in Distanz als »statische Paarung« bezeichnet. »Versucht man aber die Sachlage der Urstiftung der Erfassung von Ähnlichkeit zu konstruieren, so ist das Erste die statische, die statische Wiederholung, sozusagen eine Deckung in Distanz« (Hua XIV, 531). Aber erst wenn die statische Paarung nach ihrer Genesis, also dem Werden der assoziativen Synthesis der Ähnlichkeit und des Kontrastes selbst, befragt wird, wird der Forschungsbereich der genetischen Untersuchung der Assoziation und Affektion etabliert. In der Beilage LIV zu Hua XV rückt dieser genetische Aspekt der Passivität der Paarung in den Vordergrund. Wenn die Paarung als »sinnliche Konfiguration« in der Koexistenz des Wahrnehmungs239 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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feldes befragt wird, wird die Rolle der Kinästhese auf folgende Weise thematisiert: »Welche Rolle spielt das Durchlaufen, wie kommt es zustande? Instinktiv umlaufende Kinästhese – instinktive Reize der Konfiguration – wohl instinktive Antizipation der Mehrheit von Einheiten – mehrheitliche Affektion – wilde Kinästhese – die Felder mit ihren Optima, in welchen die Kinästhese haltmacht – Verbindung, ›Verähnlichung‹ der Kinästhese etc.« (Hua XV, 660 f.). 48 Der hier aufgetauchte Begriff der »instinktiven Kinästhese« hat natürlich einen sehr engen Zusammenhang mit der genetischen Untersuchung der Passivität. Wenn Husserl zwischen einer aktiven und der passiven Intentionalität unterscheidet, gehören »Instinkt und Assoziation« (Hua XV, 148) eindeutig der Seite der Passivität an. In diesem Kontext ist klar geworden, dass die Paarung der passiv-assoziativen Synthesis nicht so sehr in der statischen Untersuchung, sondern eher unter dem Aspekt der genetischen Fragestellung weiter erforscht werden kann und muss. Bei der statischen Analyse der Paarung sind die Ich-Aktivität des waltenden Ichs im eigenen Leib und somit die Ich-Aktivität der aktiven Kinästhese bereits vorausgesetzt. Erst durch die genetische Analyse, in der die Genesis der »Leibzentrierung« (Hua XV, 642) und des »Ich-Pols« 49 selbst thematisiert werden, kann die Trageweite der Begründung der fundamentalen Schicht der Intersubjektivität durch die Paarung als die passivassoziative Synthesis erhellt werden: das Fundierungsverhältnis zwischen der aktiven Kinästhese des waltenden Ichs und der passiven, instinktiven Kinästhese insofern, als die passive Kinästhese der aktiven Kinästhese, genetisch gesehen, immer vorhergehen muss.

Zur »unwillkürliche Kinästhese« vgl. Husserl, HM VIII, 258: »Das Nahrungsbedürfnis ist befriedigt. Sinnesdaten […] üben einen Reiz, ziehen an. Hier ist die Frage, wie die unwillkürliche Kinästhese mitspielt, und mit dem Wandel des Datums so zusammen, dass sich beides verbindet, und in der Form der Konstitution von Erscheinung mit Erscheinungseinheit, korrelativ mit einem zugehörigen willkürlichen und geregelten kinästhetischen Verlauf als motivierend für die ihm entsprechende, als Motivat ablaufende Erscheinungsreihe mit dem Ende des ›Es selbst‹.« 49 Vgl. Hua XXXIII, 276 f. 48

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Die Begründung der Intersubjektivität

4)

Die Analyse der Paarung in der statischen und genetischen Konstitution

Durch die obige Betrachtung ist die Rolle und Tragweite der Paarung als passiv-assoziativer Synthesis für die Begründung der Intersubjektivität deutlich geworden. a) Husserl charakterisiert seine Analyse der Fremderfahrung in der fünften Meditation der »Cartesianischen Meditationen« zunächst als »statische Analyse«. 50 Andererseits wird immer wieder die Verflochtenheit des statischen und des genetischen Aspekts erwähnt. In Bezug auf die menschliche Lebenswelt »werden weitreichende Probleme der statischen und genetischen Konstitution, letztere als Teilproblem der rätselvollen universalen Genesis, sehr empfindlich« 51. Wenn man daran erinnert, dass die Grundfrage der genetischen Phänomenologie Zeit, Assoziation und Urstiftung betrifft, scheint Husserls Beschreibung der Paarung als assoziative Synthesis der Charakterisierung der statischen Analyse zu widersprechen. Allerdings besteht dieser Widerspruch nicht wirklich. Wie oben gezeigt wurde, ist der Begriff der Paarung hinsichtlich der Problematik der transzendentalen Logik, nämlich der Frage nach der Konstitution der Andersheit des anderen Gegenstandes, des »Außereinanderseins«, entstanden. Das Paar ist eben das »elementarste und unmittelbar ›anschauliche‹ Außereinander«, das als »eine elementare Leistung synthetischer Passivität der Assoziation« bezeichnet wird. Die Paarung als die »Urstiftung der Erfassung von Ähnlichkeit« (Hua XIV, 531) ist zunächst »die statische Paarung, die statische Wiederholung, sozusagen eine Deckung in Distanz« (ebd.). Aber die statische Analyse der Paarung bleibt nicht statisch. b) Denn die Notwendigkeit der genetischen Analyse steckt schon im Begriff der Paarung als der assoziativen Synthesis selbst, weil durch die Auslegung der passiven Intentionalität der Assoziation erhellt wird, dass die Assoziation als Reproduktion, genetisch gesehen, ihre Quelle in der Urassoziation der lebendigen Gegenwart hat. Die Analyse der Assoziation und Affektion in den »Analysen zur passiven Synthesis« führt uns schließlich zu in der lebendigen Gegenwart liegenden und wirksamen Motiven. Diese werden als »ursprüngliche E. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 108: »Es handelt sich hier nicht um die Enthüllung einer zeitlich verlaufenden Genesis, sondern um eine statische Analyse. Die objektive Welt ist für mich immerfort schon fertig da […].« 51 A. a. O., S. 138. 50

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oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe usw.« (Hua XI, 178) bezeichnet. Demnach wird die statische Analyse der Paarung durch die assoziative Synthesis der Koexistenz und Sukzession des Bewusstseinsstroms zur genetischen Analyse der Paarung weiterentwickelt. In dieser wird die assoziative Synthesis der Instinkt- und Triebintentionalität in der lebendigen Gegenwart durch die wechselseitige Weckung des urimpressional Hyletischen und der Leergestalten und Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont vorkonstituiert. c) Die Grenze der statischen Analyse der Paarung liegt dort, wo das »wenn ich dort wäre« in der »Hier-dort-Relation« hinsichtlich »intentional miteinander verflochtener und ineinander fundierter Vergegenwärtigungen als Vergegenwärtigungen eines Waltens und damit eines waltenden Ich« verstanden wird und nach der Genesis der »Hier-dort-Relation«, der aktiven Kinästhese eines waltenden Ichs und des Ich-Pols nicht gefragt wird. Die Paarung ist nämlich eine Urform der passiven Synthesis, die ohne Beteiligung der Ich-Aktivität fungiert. Die oben genannte »Verähnlichung der Kinästhese« der instinktiven Kinästhese ist die assoziative Synthesis, die der aktiven Synthesis der aktiven Kinästhese vorausgeht. Wenn die in der Frage nach der Intersubjektivität gesuchte »Gleichursprünglichkeit« des transzendentalen Ichs und des Anderen auf der Ebene der passiven Synthesis begründet werden soll, kann dies nur durch die genetische Rückfrage auf den letzten Grund der »Urstruktur […] in ihrem Wandel der Urhyle etc. mit den Urkinästhesen, Urgefühlen, Urinstinkten« (Hua XV, 385) geschehen.

§ 5. Triebintentionalität als uraffektive passive Synthesis und die Begründung der Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie Wie oben gezeigt wurde, ist die genetische Analyse der Paarung der assoziativ-passiven Synthesis für die Begründung der fundamentalen Schicht der transzendentalen Intersubjektivität erforderlich. Sie lässt sich durch die genetische Untersuchung der Instinkt- und Triebintentionalität, die als Urassoziation in der lebendigen Gegenwart fungiert, in der genetischen Phänomenologie in den Blick nehmen. Aber die Bedeutung der Triebintentionalität im gesamten systematischen Zusammenhang der Phänomenologie Husserls ist bis heute nicht aus242 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

reichend diskutiert. Vor allem ihr Zusammenhang mit der Frage der Zeitigung und der Intersubjektivität ist sehr umstritten. Daher ist es hier zunächst nötig, die Triebintentionalität selbst, im Zusammenhang mit der apodiktischen Evidenz der transzendentalen Faktizität des »Ich-bin«, eindeutig zu klären und dadurch ihren Stellenwert in der genetischen Phänomenologie und ihre genauere Bedeutung als passive Synthesis zu gewinnen. Nur auf diese Weise lässt sich auf die Frage nach der Begründung der lebendigen Gegenwart, die durch die Triebintentionalität transzendental bedingt sein soll, sowie nach dem Verhältnis zwischen Triebintentionalität und Intersubjektivität die der genetischen Analyse Husserls entsprechende Antwort erhalten. 1)

Evidenz der Triebintentionalität als passive Synthesis

Bei der immer schärfer und tiefer untersuchten Methodik der Phänomenologie Husserls gibt es eine sehr markante Textstelle, in der nach der apodiktischen Evidenz des transzendentalen Ichs selbst, das eben diese Methodik selbst durchdenkt und somit die Phänomenologie erforscht, erneut gefragt wird. Die Textstelle ist aus dem Text Nr. 22 in Hua XV, in dem Husserl auf das Grundproblem von Wesen und Faktum stößt, das für die Problematik der Evidenz des phänomenologisierenden Ichs eine entscheidende Rolle spielt. Er versucht hier, durch seine monadische Teleologie den »Seinsprozess der transzendentalen Intersubjektivität« zu zeigen, der »in sich einen universalen, zunächst in den einzelnen Subjekten dunklen ›Willen zum Leben‹, oder vielmehr, Willen zum wahren Sein« (Hua XV, 378) trägt. Dabei bemerkt er »sehr Bedeutsames: Das Eidos konstituiere ich, das faktische phänomenologisierende ego, Konstituieren und Konstruktion (die konstituierte Einheit, das Eidos) gehört zu meinem faktischen Bestande, meiner Individualität« (Hua XV, 383). a) Die hier auftauchende Frage betrifft nämlich das Verhältnis zwischen dem Eidos, das durch das phänomenologisierende Ich konstituiert wird, und dem Faktum meiner Individualität, die allein im konstituierten Universum ihren Platz haben sollte. Das herkömmliche Verständnis der Faktizität, sie nur als ein Verwirklichtes der eidetischen Möglichkeiten zu betrachten, kann das paradoxe Verhält-

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nis »das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches« (Hua XV, 385) nicht erklären. Die apodiktische Evidenz des transzendentalen Ichs als eines faktischen ist hier so ausgedrückt: »Ich bin apodiktisch und apodiktisch im Weltglauben. Für mich ist im Faktum die Weltlichkeit, die Teleologie enthüllbar, transzendental« (ebd.). Hier ist es wichtig, dass die Apodiktizität des »Ich-bin« mit der Faktizität der Weltlichkeit untrennbar verbunden ist. Dem transzendentalen Ich ist der Weltglaube apodiktisch vorgegeben. Daher sagt Husserl deutlich: »Eben im Verwiesenwerden auf die Urfakta der Hyle (im weitesten Sinn); ohne die wäre keine Welt möglich und keine transzendentale Allsubjektivität« (ebd.). Ohne Urfakta der Hyle und die hyletische Konstitution ist das Subjekt der phänomenologischen Forschung selbst nicht möglich. Wenn man jedoch die hier genannte Apodiktizität der Faktizität des Ich-bin von der Faktizität der hyletischen Konstitution (nämlich der Weltwirklichkeit) getrennt denkt, gerät man wiederum in die Apodiktizität des Ich-bin im Sinne der cartesianischen momentanen Evidenz, 52 die Husserl in den »Cartesianischen Meditationen« durch die »Bestimmung von Umfang und Grenzen, aber auch [durch die, I. Y.] Modi der Apodiktizität« 53 thematisiert und durch seine ausführliche Analyse zur Problematik der Evidenz der Zeitigung überwunden hat. Denn die Apodiktizität etwa der Vergangenheit wird durch die Apodiktizität der retentionalen Wandlung und der Wiedererinnerung (in den »Analysen zur passiven Synthesis«) transzendental begründet. 54 b) Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Apodiktizität der sogenannten immanenten Wahrnehmung – die in den »ZeitvorlesunHeld bringt die Apodiktizität des Ich-bin – aber in der Absicht, die Faktizität der hyletischen Konstitution und das Thema der affektiv-assoziativen Synthesis völlig von der Thematik des Paradoxes der lebendigen Gegenwart auszuschließen – mit seiner Auffassung des »fungierenden Ichs« in Verbindung. Aber dieses Unternehmen gelingt aufgrund der Annahme des Ausschließens der Faktizität der hyletischen Konstitution nicht, ohne die keine Welt und keine transzendentale Allsubjektivität möglich wären (vgl. Hua XV, 385). Vgl. K. Held, Lebendige Gegenwart, S. 149 f.; Phänomenologie der Zeit nach Husserl, S. 200. 53 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 156. 54 Zur hier thematisierten Apodiktizität der Wiedererinnerung sagt Husserl in der Rekapitulation seiner Vorlesung Folgendes: »Aber apodiktische Evidenz haben wir nur für die Wiedererinnerungen der retentionalen Nahsphäre in einiger Vollkommenheit hinsichtlich des konkreten Gehaltes des Wiedererinnerten, nämlich Sicherheit gegen Überschiebungen und Verwechslungen« (Hua XI, 382). 52

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gen« als »Urbewußtsein« bezeichnet wird (Hua X, 119 f.) – den Ausgangspunkt der Analyse der passiven Synthesis bildet: 55 »Eine immanente Wahrnehmung ist apodiktisch evident hinsichtlich der fortdauernden individuellen Gegenwart des Gegenstandes, also in unserem Beispiel der phänomenologisch reduzierte Ton, auf den wir als den jetzigen und jetzt fortwährenden mitschwimmend gerichtet sind« (Hua XI, 368). 56 Dabei ist es selbstverständlich, dass auch die Retention, deren Evidenzcharakter für die Analyse der passiven Synthesis eine entscheidende Rolle spielt, in der immanenten Wahrnehmung apodiktisch gegeben ist. »Die Retention ist eine undurchstreichbare Gewißheit vom soeben Vergangenen […]« (Hua XI, 370 f.). Auf dieser Basis der apodiktischen Evidenz der immanenten Wahrnehmung und der Retention entfaltet sich die Analyse der passiven Synthesis, die für die Erhellung der oben erwähnten transzendentalen Faktizität des Ich-bin in der Weltwirklichkeit, nämlich in der absoluten Zeitigung der hyletischen Konstitution, die entscheidende Rolle spielt. c) Der Text Nr. 22 enthält mehrere für die Thematik der Faktizität des transzendentalen Ichs und der genetischen Untersuchung der Passivität wichtige Aspekte: »Danach liegt es im Faktum, dass das Urmaterial gerade so verläuft in einer Einheitsform, die Wesensform ist vor der Weltlichkeit. Damit scheint schon ›instinktiv‹ die Konstitution der ganzen Welt für mich vorgezeichnet, wobei die ermöglichenden Funktionen selbst ihr Wesens-ABC, ihre Wesensgrammatik im voraus haben. Also im Faktum liegt es, dass im voraus eine Teleologie statthat. Eine volle Ontologie ist Teleologie, sie setzt aber das Faktum voraus« (Hua XV, 385). Das hier genannte transzendentale Faktum wird durch die genetische Rückfrage thematisiert. Aber die Frage der genetischen Phänomenologie bedeutet natürlich kein Verlassen der statischen Phänomenologie, sondern vielmehr eine Vervollkommnung der statischen Phänomenologie der eidetischen Möglichkeiten. 57 Aber erst durch Vgl. Hua XI, § 4. Vgl. dazu Husserls Aussage, »daß immanent konstituiertes Sein in seiner lebendigen Gegenwart nicht nur selbstgegeben ist als seiend, sondern daß dieses Sein undurchstreichbar ist« (Hua XI, 110). Auch: »Die lebendige Gegenwart, die sich immanent aufbaut, ist […] undurchstreichbar, der Zweifel ist hier nicht möglich. Also das betrifft auch die Strecke der lebendig zugehörigen Retention« (Hua XI, 111). 57 Die Unterscheidung der statischen und genetischen Phänomenologie wird auch als Schichtenstruktur der gesamten Konstitution ausgedrückt: »die Scheidung der Ersten 55 56

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diese genetische Frage ergibt sich die hier genannte Urstruktur, in der sich die Urhyle, durch die Urkinästhesen, Urgefühle, Urinstinkte begleitet, wandelt. Also ist die Dimension der absoluten Zeitigung nichts anderes als diese »Urstruktur in ihrem Wandel der Urhyle«, die »instinktiv« teleologisch in dieser Faktizität strömt. d) Im Zusammenhang mit der hier gezeigten »Urstruktur« muss ein anderer wichtiger Text einbezogen werden: »Die Strukturanalyse der urtümlichen Gegenwart (das stehend lebendige Strömen) führt uns auf die Ichstruktur und die sie fundierende ständige Unterschicht des ichlosen Strömens, das durch eine konsequente Rückfrage auf das, was auch die sedimentierte Aktivität möglich macht und voraussetzt, auf das radikal Vor-Ichliche zurückleitet« (Hua XV, 598). 58 Eine konsequente Rückfrage der genetischen Phänomenologie enthüllt die Unterschicht des ichlosen Strömens, die die Ichstruktur selbst (die durch die statische Phänomenologie der Untersuchung des Eidos analysiert wird) ständig fundiert und die als Urstruktur bzw. als das radikale Vor-Ichliche bezeichnet werden kann. Das hier gezeigte ichlose Strömen, d. h. das Vor-Ichliche, muss wörtlich aufgefasst werden. Das Ichlose oder das Vor-Ichliche bildet die Kernbedeutung der Passivität, der radikalen Passivität, die prinzipiell gar keinen Anteil von Ich-Aktivität, d. h. keine Intentionalität im normalen Sinne, erlaubt: »›Passiv‹ besagt also hier ohne Tun des Ich, mag auch das Ich wach sein und das ist tuendes Ich sein, der Strom geschieht, der Strom ist nicht aus einem Tun des Ich, als ob es darauf gerichtet wäre, es zu verwirklichen.« 59 Dieses »ohne Tun des Ich« betrifft natürlich das oben genannte ichlose Strömen, das auch als »ein zeitigend-zeitliches Urgeschehen, das nicht aus Quellen des Ich, das also ohne Ichbeteiligung statthat« 60, bezeichnet wird, nämlich das radikal Vor-Ichliche. Phänomenologie als Aufwicklung der als seiend vorgegebenen Weltkonstitution, wobei das Vorseiende nicht in den Blick tritt, und der tieferen Schichte der Phänomenologie, die die (nicht-aktive) Konstitution des Vorseienden betrifft« (Hua XV, 613). Die hier genannte tiefere Schicht der Phänomenologie (die genetische Phänomenologie) betrifft eben die passive Vorkonstitution des Vorseienden. 58 Hervorhebung vom Verfasser. Vgl. Landgrebe, Das Problem der Teleologie und Leiblichkeit in der Phänomenologie und im Marxismus, S. 96. 59 E. Husserl, C 17, IV, 2. Zur Triebintentionalität als passiver Intentionalität vgl. auch: »Die Intentionalität im Modus der Passivität und in dem der Aktion. ›Passivität‹ : Instinkt und Assoziation« (Hua XV, 148). 60 E. Husserl, C 10, 25. Vgl. auch: »Wir haben somit verstehen gelernt, wie das Bewußtsein vor aller Aktivität des Ich dazu kommt, sich selbst zu objektivieren […]«

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Für das korrekte Verständnis der Passivität bei Husserl ist demnach die Differenz von Passivität und Aktivität entscheidend. Die Passivität ohne Beteiligung des Ichs und der Ich-Aktivität bedeutet, dass sie das »ego« des »ego cogito«, das meist in der neuzeitlichen Philosophie als selbstverständlich vorausgesetzt wird, nicht voraussetzt. Daher hat die passive Intentionalität zwar den Kerngehalt der Intentionalität, nämlich »auf etwas gerichtet sein«, aber ihr entspricht keine Aufmerksamkeit, die aus dem Ich-Pol des transzendentalen Ichs stammt. In diesem Zusammenhang ist erst die »Erfüllung« der Intention der passiv verstandenen Triebintentionalität, die für die Problematik der Zeitigung eine entscheidende Rolle spielt, zu diskutieren. e) Die Charakterisierung der Triebintentionalität als »Uraffektion« 61 gewinnt ihre Evidenz durch die bisherige Beschreibung der assoziativen Synthesis der lebendigen Gegenwart. Wie oben gesehen, hat die assoziative, passive Synthesis ihre Urform in der Paarung, die nicht nur zwischen den Sinnhorizonten der Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch im Sinnhorizont der Koexistenz und Sukzession der lebendigen Gegenwart selbst fungiert. Gerade in dieser evident erwiesenen Urassoziation der lebendigen Gegenwart wirkt die Triebintentionalität, die die gesamten wechselseitigen assoziativen Weckungen zwischen den Leergestalten bzw. Leervorstellungen und der Urhyle in die bestimmte Richtung der Erfüllung dieser Triebintentionalität uraffektiv vereinheitlicht. f) Wenn Landgrebe die transzendentale Bedingung der Triebintentionalität für die absolute Zeitigung des »radikal Vor-Ichlichen« behauptet, begründet er seine Behauptung mit der Evidenz des »absoluten Da«, das dem Urfaktum des Ich-bin entspricht. Wichtig ist dabei, dass diese transzendentale Faktizität des Ich-bin ohne seine »stumme Konkretion« (Hua VI, 191), d. h. ohne die absolute Zeitigung, undenkbar ist. »Ich bin apodiktisch im Weltglauben« bedeutet also notwendig, dass das »Ich bin« immer schon gezeitigt ist.

(Hua XI, 210). Auch: »›Assoziativ‹ […] entspringen alle aus ursprünglicher Passivität (ohne jede Mitbeteiligung des aktiven Ich) sich konstituierenden Gegenstände« (Hua XI, 386). 61 Vgl. zum Begriff Uraffektion: »auf eine Uraffektion und eine Urhyle als affizierende etc.« (Hua XV, 78).

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2)

Die Gradualität der affektiven Kräfte in der lebendigen Gegenwart

Die Gradualität der affektiven Kräfte, die die Zuwendung des Bewusstseins motivieren, wird nach Husserl durch »Interessen« im gewöhnlichen Sinn bestimmt: »ursprüngliche oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe usw.« (Hua XI, 178) im Unbewussten der lebendigen Gegenwart. Somit nähern wir uns der Grundeinsicht des Strömens der lebendigen Gegenwart bei Husserl, nämlich des Strömens durch die Triebintentionalität, die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht. 62 a) Die Triebintentionalität ist die passive, assoziative Intentionalität, die als »die Uraffektion« alle simultanen affektiven Kräfte zum Grundinteresse des Lebens vereint. Das Strömen der lebendigen Gegenwart wird durch die Triebintentionalität transzendentalphänomenologisch bedingt, die sich nur durch die intermonadischen, »vergemeinschafteten Monaden« (Hua XV, 595) 63 vollzieht. Hier erreichen wir den Kern der Urstiftung der ursprünglichen Zeitigung durch die uraffektive, assoziative intermonadische Triebintentionalität. Hier sind die Grundbegriffe der genetischen Phänomenologie, Zeit, Assoziation und Urstiftung, eng miteinander verflochten. b) Die Triebintentionalität wird in der gesamten Entwicklung der intermonadischen Monadengemeinschaft als eine universale Teleologie (vom Animalischen bis hinauf zum Menschen) aufgefasst. Der Übergang von der Teleologie des Triebs zur Teleologie der Vernunft ist natürlich kein glatter, problemloser Übergang, sondern voll mit »notwendig dazugehörigen Verfallsvorkommnisse[n]« (Hua XV, 610). 64 Vgl. Hua XV, 595. Zur Eigenschaft der phänomenologischen Monadologie Husserls, die als »wissenschaftlich fundiert durch eine systematische intentionale Phänomenologie« (Hua XV, 609) charakterisierbar ist, vgl. R. Cristin, Monadologische Phänomenologie, S. 226 ff. 64 Zur Auffassung der Entwicklung der monadischen Teleologie ist die Beilage XLVI in Hua XV eine maßgebende Orientierung. Husserl beschreibt die Entwicklung der All-Monaden hinsichtlich der Idee der Sedimentierung: die erste Stufe als »in ursprünglich instinktiver Kommunikation«, die zweite als »erwachende Monaden und Entwicklung in der Wachheit mit einem Hintergrund schlafender Monaden als ständiger Fundierung« und die dritte als »Entwicklung menschlicher Monaden als Welt konstituierend, […] [wo] Monaden zum vernünftigen Selbst- und Menschheitsbewusstsein und zum Weltverständnis kommen etc.« (Hua XV, 609). 62 63

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Die Begründung der Intersubjektivität

c) Eine der wichtigen Aufgabe der genetischen Phänomenologie liegt in der Analyse des Prozesses der »Ichzentrierung« bzw. der Bildung des »Ich-Pols« in der Entwicklung der Monadengemeinschaft: Die Ichzentrierung entsteht »durch wechselseitiges unmittelbares und mittelbares Transzendieren von Trieben vergemeinschaftete[r] Monaden« (Hua XV, 595). Dies gibt der Forschung der Entwicklungspsychologie einen wichtigen Hinweis für eine philosophische Auffassung derselben. 3)

Der Veranschaulichungsprozess der Triebintentionalität aus der Ursynästhesie des Kleinkindes

Für die Erhellung der Triebintentionalität als Uraffektion muss die »Trieberfüllung« der Triebintentionalität genetisch gesehen in zwei Schichten betrachtet werden. Die erste, genetisch frühere Schicht ist die Weckung der Instinktintentionalität beim Säugling bzw. Embryo, die, vor der Bildung der Leervorstellung, durch die wechselseitige Weckung mit der Urhyle der Umwelt urtümlich geweckt wird. Diese Schicht lässt sich auch als Bildung der Leergestalten der einzelnen Empfindungsfelder in der Ursynästhesie des Kleinkindes fassen. Diese Ursynästhesie unterscheidet sich vom Begriff der Synästhesie, 65 die normalerweise die Übertragung der bereits gebildeten verschiedenen Empfindungsinhalte bei Erwachsenen meint. In der Ursynästhesie des Kleinkindes werden die gesamten Empfindungsfelder undifferenziert verschmolzen empfunden. Die zweite Schicht bezieht sich auf die Erfüllung der bereits habituell gewordenen Triebintentionalitäten, die sich schon als Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont, nämlich »in der leeren retentionalen Sphäre summieren und hemmen« (Hua XI, 189) und sich ständig zur wechselseitigen Weckung mit Urimpressionen, Urhyle in der jeweiligen Gegenwart – unbewusst – erwartungsmäßig bereitstellen. Die bisherige Auffassung des Zeitflusses zeigt jedenfalls, dass Husserl den impressionalen Zeitinhalt als retentionale ModifikatioÜber das Phänomen der Synästhesie, die von der Ursynästhesie beim Kleinkind zu unterscheiden ist, schreibt Husserl in den »Analysen zur passive Synthesis« (Hua XI) auf S. 179 f. Vgl. auch M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 260 ff.

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nen des Sedimentierungsprozesses im Vergangenheitshorizont beibehält. Die absolute Zeitigung entsteht in der urtümlichen wechselseitigen Weckung der »Urkommunikation« zwischen der geweckten Ahnung der Instinktintentionalität ohne gebildete Leervorstellung und der Urhyle, die diese Instinktintentionalität selbst weckt. a) Die wechselseitige Weckung in der zweiten Schicht betrifft die paarend-assoziative Verschmelzung der Impression und der Urretention in der Simultaneität der lebendigen Gegenwart: »Die simultane Einigung ist aber nur möglich als inhaltliche Verschmelzung; also eine inhaltliche Urverschmelzung findet statt zwischen der Impression und der unmittelbaren Urretention in der Simultaneität beider, und das geht nun in Ständigkeit weiter für jeden Moment und in ihm als unmittelbare inhaltliche Verschmelzung« (HM VIII, 82). Diese Urverschmelzung in der Simultaneität lässt sich als die Urassoziation des gegenwärtigen Wahrnehmungsfeldes unter der wechselseitig paarenden Weckung zwischen dem impressionalen und dem retentionalen Inhalt verstehen. Hierbei muss natürlich die Passivität der Verschmelzung durch die wechselseitigen assoziativen Weckungen auch in dieser Schicht der Trieberfüllung betont werden. Die Weckung hat ihren Grundcharakter im »Gerichtet-Sein auf bestimmte vorgegenständliche Phasengehalte«. Daher wird sie, aber nur in diesem Sinne, »intentional« genannt. Jedoch geschieht diese ohne Anteil der Ich-Aktivität, also »passiv intentional«. Die »Intentionalität« der Triebintentionalität bedeutet auch diese passive Intentionalität, die nicht als »intentional« im gewöhnlichen, ichhaften Sinne missverstanden werden darf. 66 b) Die wechselseitige Weckung in der ersten Schicht ist die wechselseitige Weckung zwischen dem Inhalt der Urhyle und dem Inhalt der noch nicht geweckten Instinktintentionalität. Die wichtige Frage lautet hier: Was heißt eigentlich die urtümliche Weckung der Instinktintentionalität, und wie wird sie überhaupt möglich? Die hier zu beachtende erste Voraussetzung besagt, dass die reDaher trifft Kühns Interpretation des Triebs bei Husserl den Kernpunkt der Passivität der Triebintentionalität nicht, wenn jener sagt, dass »auch in der späten Zeit die Triebe eben […] von vornherein intentional strukturiert bleiben« (vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität, S. 167). Diese Interpretation rührt daher, dass Kühn den Begriff der Affektion bei Husserl dahingehend versteht, »dass die affektiven Einheiten bei Husserl die ursprünglichste Grundlage für die Aktivitäten des Ich bilden« (a. a. O., S. 170). Er unterscheidet die Affektion von der Voraffektion nicht. Vgl. dazu oben, S. 109 f.

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Die Begründung der Intersubjektivität

tentionale Leervorstellung der Triebintentionalität selbst noch nicht gebildet ist. Das heißt, nach Husserl gibt es hier eine »Entfüllung von leer instinktiven Ahnungen« (Hua XIV, 333), die keine Entfüllung von der bereits gebildeten Leervorstellung der Triebintentionalität ist. Für die Beschreibung dieser Weckung der instinktiven Ahnung und des Bildungsprozesses der Leervorstellung ist das folgende Beispiel der Veranschaulichung einer ursprünglich unanschaulich gelebten Triebintentionalität sehr aufschlussreich: die Äußerung unwillkürlicher Laute des Säuglings und deren Nachahmung durch die Mutter. 67 Hier wird gezeigt, auf welche Weise eine assoziativ-paarende Verschmelzung zwischen dem Phasengehalt der triebhaft-instinktiven (»passiven, wilden«) Kinästhese und dem Phasengehalt des akustischen Empfindungsdatums bei der »eigenen« Nachahmung des Kleinkindes zur Anschauung des »Urbewusstseins« der Kinästhese als der »Nullkinästhese« (Hua XV, 606) gebracht wird. Die ursprüngliche urassoziative Weckung zwischen den kinästhetischen und akustischen Empfindungen beim Äußern der unwillkürlichen Laute des Kleinkindes ist am Anfang als das Ganze vom Kleinkind zwar anschaulich urbewusst, m. a. W. innerlich wahrgenommen, aber die Differenz des Phasengehalts der Kinästhese und des akustischen Empfindungsinhalts war am Anfang nicht urbewusst, da diese wechselseitige Weckung in der Verschmelzung der Ähnlichkeit, ursynästhetisch, eben differenzlos verschmolzen war. c) Diese Undifferenziertheit der Empfindungsfelder beim Kleinkind ist auch als das Phänomen der Ursynästhesie des Kleinkindes bekannt. Die urtümlich geweckten Triebintentionalitäten fungieren in der assoziativen Verschmolzenheit solcher Ursynästhesie. Wichtig und interessant ist die nähere Analyse des Prozesses dieser Veranschaulichung des Unanschaulichen selbst. Die dem Kleinkind fehlende unwillkürliche Kinästhese (die oben genannte instinktive oder wilde Kinästhese) beim Nachahmen durch die Mutter bedeutet die Unerfülltheit dieser instinktiven, unanschaulichen Kinästhese. Gerade in dem Mangel, d. h. der Nicht-Erfülltheit der unwillkürlichen Intention der triebhaften Kinästhese, ist deren Sinngehalt als Differenz zum akustischen Empfindungsgehalt sowie die Differenz der passiven Intentionalität der unwillkürlichen Kinästhese ge67

Vgl. unten, S. 266.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

genüber der passiven Intentionalität der akustischen Empfindung eben als »Nullkinästhese« erstmals urbewusst veranschaulicht und als erste Leervorstellung dieser Nullkinästhese durch die Retention im Vergangenheitshorizont sedimentiert. Vor dieser Veranschaulichung war der Sinn der Kinästhese als solcher nicht urbewusst. Er wurde nur unanschaulich in der Verschmelzung vollzogen und gelebt. Die hier so genannte »Nullkinästhese« als eine unwillkürliche, wilde Kinästhese ist erst in dieser Veranschaulichung urbewusst. Somit wird die urtümliche Empfindungsgestalt des Phasengehalts der Kinästhese als Vorstellung der Kinästhese veranschaulicht. Dabei wurden nicht nur »unwillkürliche« Kinästhesen, sondern auch akustische Empfindungsgehalte ursprünglich als solche unanschaulich in einer Ursynästhese erlebt. Sie werden gerade durch diese Unerfülltheit der Kinästhese, als das assoziierende, weckende Glied des Phasengehalts des akustischen Empfindungsgehalts, von der Kinästhese als Nullkinästhese unterschieden, hervorgehoben. Der Phasengehalt der akustischen Empfindung wurde als ähnlicher Phasengehalt durch die Kinästhese in der Ursynästhese zwar intendiert und immer wieder erfüllt, aber bei der Nachahmung wird er nicht bloß erfüllt, sondern erstmals anschaulich urbewusst. Also lässt sich der Prozess der Veranschaulichung des Unanschaulichen der Triebintentionalität als Prozess der Differenzierung, nämlich als der gesamte Prozess der Entwicklung der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhese des Kleinkindes charakterisieren. Die undifferenzierte Ursynästhese zwischen den »kinästhetischen« und »akustischen« Sinngehalten erhält durch die Unterbrechung bzw. den Mangel der wechselseitigen Weckung gleichzeitig die Differenzierung des weckendes Gliedes der akustischen Empfindungsgehalte ohne Sinngehalt der Kinästhese und die des weckenden Gliedes des kinästhetischen Sinngehalts ohne Sinngehalt des akustischen Empfindungsgehalts. d) Jedoch ist die ursprüngliche Ursynästhese der undifferenzierten hyletischen Sinngehalte schon die bereits geweckte instinktive Intentionalität im Ganzen. Wie ist dann die Weckung der ursynästhetischen Instinktintentionalität als das Ganze zu klären? Wie wird ihre Veranschaulichung überhaupt möglich? Dazu ist folgende Analyse Husserls, die wiederum das Mangelphänomen angeht, sehr einsichtsvoll: »Das Misslingen; Motivation zu anschaulicher Erinnerung; der ungestillte Hunger weckt assozia252 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

tiv, weckt den vergangenen Hunger und seine Erfüllung, schafft Anschauung als Quasi-Wahrnehmung und Quasi-Befriedigung als Ersatz, der alsbald Aktivität des Suchens etc. in Bewegung setzt« (HM VIII, 253, Hervorhebung vom Verfasser). Abermals kann gerade die Nicht-Erfüllung der Triebintentionalität einen assoziativen Zusammenhang der Erfüllung, in diesem Fall des Gestillt-Seins der Intention des Hungers, die retentional in der Vergangenheit leer sedimentiert ist, wecken und erstmals veranschaulichen. Wir haben diese Nicht-Erfüllung bzw. Unerfülltheit der Protention, die als besondere Eigenschaft gegenüber der Retention in den »Bernauer Manuskripten« hervorgehoben wird, bereits oben betrachtet. 68 Die protentionale Intentionalität, die als »instinktive leere Ahnung« fungiert, wird nicht erfüllt. Gerade deswegen wird die bereits verborgen fungierende Urprotention, die aus der Erbanlage im transzendentalen Sinne stammt, anschaulich. Hier ist es wichtig, dass die Erfüllung der Triebintentionalität selbst ursprünglich unanschaulich in der Verschmelzung der assoziativen Synthesis gegeben und gelebt wird. Die Unerfülltheit der Triebintentionalität wird als »Enttäuschung«, »Überraschung« oder »Hemmung« 69 ausgedrückt, wodurch die Differenzierung einzelner verschiedener Triebintentionalitäten veranschaulicht wird. e) Die in der genetischen Phänomenologie angewandte Methode des Abbauens wird hier quasi durch ein von selbst entstandenes Abbauen bestimmter assoziativer Weckungen (der Nicht-Erfüllung der bestimmten Triebintentionalität) vollzogen. Somit wird eine verborgen gelebte, ursprüngliche Motivation der bestimmten Triebintentionalität veranschaulicht und enthüllt. Also ist es hinsichtlich des Anschaulich-Werdens der ursprünglichen ursynästhetischen Triebintentionalität einleuchtend, dass die urtümliche wechselseitige Weckung der instinktiven Ahnung und ihres hyletischen Moments unanschaulich in ursynästhetischer undifferenzierter Verschmolzenheit unbewusst vorgegeben wird und dass solche Weckung ohne gebildete Leervorstellungen – die sich z. B. Siehe oben, S. 63 f. Über den Begriff Hemmung vgl. U. Kaiser, Das Motiv der Hemmung in Husserls Phänomenologie. Kaiser sieht allerdings bei der Methode der genetischen Phänomenologie, vor allem der Abbaumethode, hauptsächlich »die Schwierigkeiten, in die sich Husserl mit der Anschaulichkeit verwickelt« (U. Kaiser, a. a. O., S. 114, Anm. 2). Dabei übersieht er den Veranschaulichungsprozess, der eben durch die Hemmung der assoziativen Synthesis in Gang gesetzt wird.

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als Hungertrieb, Nullkinästhese usw. im ursynästhetischen »Urboden« des Kleinkindes ausdrücken – notwendigerweise dem Anschaulich-Werden bestimmter Triebintentionalitäten und der Bildung ihrer Leervorstellungen vorhergehen muss. Das heißt, gerade dieser Veranschaulichungsprozess der ursprünglich unanschaulich fungierenden ursynästhetischen gesamten Triebintentionalitäten ist eben der Prozess der Bildung des Sinngehalts der Leergestalten und Leervorstellungen in der genetischen Phänomenologie. 4)

Problematische Interpretationen der passiven Synthesis und der Intersubjektivität

a) Durch die obige Betrachtung über den Veranschaulichungsprozess, d. h. Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Triebintentionalität, wird die Grenze von Helds im ersten Teil dargestellter Interpretation der lebendigen Gegenwart als »des stehend-lebendigen Strömens« wesentlich klarer. Held versucht das Paradox der lebendigen Gegenwart mit seiner Konstruktion der Selbstspaltung und Selbstidentifizierung des fungierenden Ichs zu lösen. 70 Wenn man aber am Begriff der Passivität als ohne Beteiligung der Ich-Aktivität (d. h. natürlich ohne Fungieren des Ichs) geschehend festhält sowie die der Ich-Struktur zugrunde liegende Urstruktur des ichlosen Strömens in der genetischen Phänomenologie, die nämlich nichts anderes als das paradoxe Strömen der lebendigen Gegenwart selbst beinhaltet, ernst nimmt, wird klar, dass eine metaphysische Konstruktion der Ich-Struktur und Ich-Aktivität der Passivität Husserls nicht entspricht. Helds Interpretation der lebendigen Gegenwart entstammt einer zu engen Auffassung des Begriffs der Reflexion in der Phänomenologie: »Die Reflexion ist der Versuch des Ich, sich selbst zu ›schauen und zu fassen‹. Dabei geht der intentionale ›Blickstrahl‹ vom fungierenden Ich aus und trifft das Ich – allerdings auch im günstigsten Falle nur das Ich in seinem gerade vollzogenen Fungieren.« 71 Somit wird die besondere, ursprünglichere Reflexion der inneren Wahrnehmung, des inneren Bewusstseins, des Urbewusstseins bzw. Er-

Vgl. K. Held, Lebendige Gegenwart, S. 80 ff., vgl. auch oben, S. 88. K. Held, a. a. O., S. 119. Dazu ist es sehr einseitig, wenn Held bei der Untersuchung der lebendigen Gegenwart die hyletische Konstitution als den Inhalt des Zeitströmens gerade wegen der stark egologischen Interpretation völlig aus der Diskussion ausschließt. Vgl. K. Held, Phänomenologie der Zeit nach Husserl, siehe oben, Anm. 59.

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Die Begründung der Intersubjektivität

haschens, die Husserl in seiner Analyse des inneren Zeitbewusstseins enthüllt hat, ganz außer Acht gelassen. Husserl sagt, dass die Möglichkeit der Reflexion das Vorhergehen des Urbewusstseins und der Retention voraussetzt. 72 »Alle Einwände, die gegen die Methodik der Reflexion erhoben worden sind, erklären sich aus der Unkenntnis der wesensmäßigen Konstitution des Bewußtseins« (Hua X, 120 f.). Die phänomenologische Analyse der passiven Synthesis wird auf der Ebene der apodiktischen Evidenz der immanenten Wahrnehmung, des Urbewusstseins durchgeführt. Auf dieser Ebene sind die transzendental notwendigen Gesetzmäßigkeiten wie das oben genannte Vor-Ich, die inhaltliche assoziative Verschmelzung in der Sphäre der radikalen Passivität bereits am Werk. Dieser Zusammenhang – dessen weitere wichtige Momente der »ursprünglich zeitigende Prozeß«, die »vorichliche«, »assoziative Verschmelzung« sowie die »strömende retentionale Verschmolzenheit« sind (auf der gleichen ursprünglichen Ebene der absoluten Zeitigung) – wird im folgenden Abschnitt klar ausgedrückt: »Ursprünglich zeitigender Prozess als vorichlich, außeraktiv und in diesem Sinne ›passiver‹ Prozess. Als ›Vor-Assoziation‹, bloße assoziative Verschmelzung. […] In der Simultaneität haben wir inaktive pure Schmelzung in Form der Sinnesfelder und der sekundären durch das simultane Strömen. In der Sukzession, der ursprünglichsten aus dem Strömen, haben wir auf dem Grund der strömenden retentionalen Verschmolzenheit und Verschmelzung die Abgehobenheiten als erwachsen durch Brüche der Verschmelzung, überbrückt durch doch verbleibende Verschmelzung« (HM VIII, 309). b) Die Grenze von Helds Interpretation der lebendigen Gegenwart ist hinsichtlich der Evidenz der transzendentalen Faktizität zu zeigen. Die transzendentale Faktizität in der apodiktischen Evidenz hat laut Held mit der metaphysischen, nicht-phänomenologischen Konstruktion des fungierenden Ichs, das die Struktur der Selbstspaltung und Selbstidentifizierung haben sollte, kaum zu tun, da der Vollzug des Ichs (dessen Struktur eben durch das Vollziehen selbst am Werk ist) ohne Affektion des Ichfremden, des Hyletischen – das Held von der Diskussion über den Zeitinhalt der lebendigen Gegenwart ausschließt – überhaupt nicht geschehen kann. Dafür gibt es mehrere Belege in den C-Manuskripten, z. B.: »dass die Ontifizierung des Ich immer schon heini Ich in Funktion voraussetzt, das seinerseits 72

Vgl. oben, S. 38.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

der Affektion bedarf, um zu fungieren und auch für die Ich-Ontifhikationi zu fungieren« (HM VIII, 187). Das heißt, die Evidenz des Vollzugs der Ich-Aktivität kann nur durch die Affektion des ichfremden hyletischen »Vor«-Seins, das den Kern der transzendentalen Faktizität bildet, ermöglicht werden. c) Diese Evidenz der Faktizität wird nach Landgrebe in der Anschauung der Erfüllung der triebhaften Intention unmittelbar erlebt. Diese Behauptung bedeutet natürlich keinerlei »Rückschlüsse von in ursprünglicher Erfahrung Gegebenem auf Nicht-Gegebenes«, sondern ist »auf einen Erfahrungsgehalt beziehbar […], der von einer universalen Triebintentionalität zu sprechen gestattet, derart daß in dieser Triebintentionalität die Vereinzelung des ›absoluten Da‹ nicht aufgehoben ist, aber von vornherein auf die des Anderen und damit auf ein gemeinsames Da verweist« 73. Die hier genannte Evidenz dieses Erfahrungsgehalts wird in der Anschauung der Intention und Erfüllung der Triebintentionalität, ohne Beteiligung der Reflexion des Ichs, unmittelbar erlebt. Sie hat ihre Herkunft in der Evidenz der Retention, die qua »Urbewusstsein« von der Intentionalität des Aktes und dem intendierten Inhalt unterschieden ist. Dieses vorreflexive Urbewusstsein begleitet z. B. das oben erwähnte Erlebnis des jungen Buber, das Streicheln des Pferdes, das als so wichtige Erinnerung den erwachsenen Buber heimsucht. Es begleitet auch den Erfüllungs- und Nichterfüllungszusammenhang der Triebintentionalität des Kleinkindes, der von Husserl in der Beschreibung der Genesis der Leibzentrierung, nämlich der Genesis der Differenzierung des eigenen und des fremden Leibes – die schließlich die Polarisierung bzw. Deckung des Ich-Pols veranlasst –, genetisch analysiert wird. Die Analyse der genetischen Phänomenologie basiert auf solch einem vorreflexiven Urbewusstsein, das auch als das Verhältnis der affektiven Kräfte, das von der Anschaulichkeit selbst differenziert werden kann, erhellt wird. d) N. Lee hat trotz seiner Hervorhebung des Begriffs »Vor-Ich« in »Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte« die radikale Passivität des Vor-Ichs nicht konsequent genug durchdacht. Das VorIch kann kein »Moment des reinen Ich« 74 sein, weil das Vor-Ich gerade die Ich-Struktur des reinen Ichs selbst fundiert und als UnterL. Landgrebe, Das Problem der Teleologie und der Leiblichkeit in der Phänomenologie und im Marxismus, S. 96. 74 N. Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, S. 123. 73

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schicht im Sinne eines passiv-ichlosen Strömens bezeichnet wird. Lee sieht auch die Grenze der egologischen Reflexion, sich der urpassiven Sphäre der genetischen Konstitution anzunähern, deutlich. Aber er findet »den einzigen Zugang zu dieser urpassiven Sphäre der genetischen Konstitution« im »Weg zur Reduktion über die intentionale Psychologie« 75. Statt der Apodiktizität der immanenten Wahrnehmung, in der der zeitigende Prozess als die vor-ichliche, assoziative Verschmelzung urbewusst analysierbar ist, nimmt er das »Recht der empirischen Bewährung«, die die Einfühlung in der genetischen Phänomenologie, besonders in der Mutter-Kind-Beziehung, psychologisch, »intersubjektiv« gültig machen sollte. 76 Die hier erwähnte »empirische Bewährung« hat jedoch in der gesamten Konstitutionslehre Husserls einen bestimmten Platz: im Prozess der Exemplifikation in der Wesensanschauung der statischen Phänomenologie. Aber in der genetischen Phänomenologie, sei es bei der Thematik der Einfühlung oder der Zeitigung, spielt die empirische Bewährung der psychologischen Betrachtungen keine selbständige Rolle. Wenn Husserl die genetische Methode der Vorstellungsbildung beim Kleinkind thematisiert, sagt er: »Es ist also eine falsche Methode, wenn man durch äussere Beobachtung des Verhaltens kleiner Kinder auf Selbstgebungen derselben schliesst, deren Gleiches wir nicht selbst erleben können« (Hua XIV, 335). A. a. O., S. 115. A. a. O., S. 157. Eine eindeutige Überbewertung des Begriffs der Bewährung in der genetischen Phänomenologie ist in Mertens’ Arbeit »Zwischen Letztbegründung und Skepsis« zu finden. Nach ihm sollte die genetische Phänomenologie durch ihre Methode der »Konstruktion« die bereits zeitlich konstituierte fertige Struktur erklären; dabei gibt es Bewährungsinstanzen, »an denen der Anspruch der Konstruktion kritisch zu prüfen und zu bewähren ist« (K. Mertens, Zwischen Letztbegründung und Skepsis, S. 238). Dies ist eine eindeutige Fehlinterpretation der Methode des Abbauens der genetischen Phänomenologie. Der von ihm aus den »Analysen zur passiven Synthesis« zitierte Begriff der »Konstruktion« gehört inhaltlich eindeutig zur Beschreibung nicht der genetischen, sondern der statischen Phänomenologie, da der direkt dem zitierten Textteil angeschlossene Abschnitt wie folgt lautet: »Mit all dem gewinnen wir aber keine Erkenntnis, wie eine Monade in Vollständigkeit sozusagen aussieht und welche Möglichkeiten solcher vollständigen monadischen Individualitäten vorgezeichnet sind und durch welche Gesetzmäßigkeit der Individuation« (Hua XI, 341). Die letztgenannte Erkenntnis ist nichts anderes als die Aufgabe der genetischen Phänomenologie. Außerdem wird hier bei Mertens die Rekonstruktion ohne notwendige Verknüpfung mit dem Verfahren des Abbauens bloß als »eine Konstruktion, deren Zu-Erklärendes bereits vorgegeben ist« (K. Mertens, a. a. O., S. 238), dargestellt.

75 76

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e) Kühns Kritik an der »Hyletik und Zeitigung« bei Husserl in seiner sehr umfangreichen Untersuchung zur »Passivität« scheint mir am Kern des Begriffs Passivität vorbeizugehen. Kühn sieht die »Zweideutigkeit der Urimpression, die sowohl selbstgebend sein soll wie auch retentional modifiziert, das heißt: in der zeitlichen Intentionalität – und durch diese – gegeben ist« 77. Nach dieser Auffassung führt »die Kontaminierung Urimpression/Retention nur zur ›primärinhaltlichen‹ Empfindung als Transzendenz des Empfundenen selbst und nicht zur reinen, sich-empfindenden Passivität als Affektivität und damit nicht zu dem von Husserl mit aller Anstrengung zunächst gesuchten originären ›Leben‹«. 78 In dieser Argumentation finden sich viele problematische Voraussetzungen. Das erste entscheidende Missverständnis liegt darin, dass Kühn Retention schließlich »intentional« im Sinne der aktiven Intentionalität charakterisiert. Die »Nicht-Intentionalität« der Urimpression, die Kühn selber einerseits anerkennt, ist unbezweifelbar. Die Urimpression als solche bleibt bei Husserl immer nicht-intentional und auch lebendig in der Verschmelzung mit den retentionalen Leergeestalten und Leervorstellungen. Kühns Unterscheidung zwischen dem affektiven Inhalt der Urimpression und der intentionalen Form der Transzendenz betrifft »die inhaltliche Verschmelzung zwischen der Urimpression und Urretention« 79 überhaupt nicht. Die Urimpression Husserls ist natürlich kein »irrealisierender Grenzpunkt der hyletisch-lebendigen Sinnlichkeitsselbstgabe« 80. Kühns Interpretation der Impression und Retention rührt daher, dass er die Selbstaffektion des absoluten Lebens jenseits des Zeitflusses lebendig erhalten will, obwohl die lebendige Gegenwart in der affektiv-assoziativen Synthesis mit der retentionalen Leervorstellung unmittelbar lebendig gegeben ist. Bei ihm wird das Jenseits der Zeitigung notwendig, weil die Zeitigung selbst, die radikal passiv als ichloses Strömen aufgefasst werden muss, ganz ichhaft-intentional aufR. Kühn, Husserls Begriff der Passivität, S. 98. Ebd. 79 Vgl. HM VIII, 82, auch oben, S. 79. Demnach ist es völlig klar, dass die folgende Behauptung der vorausgesetzten Unterscheidung zwischen Inhalt und Form Husserls Auffassung der Zeitigung nicht entsprechen kann: »Anders gesagt ist Zeit als Querwie Längsintentionalität des Bewußtseinsflusses der Verlust der ›affektiven Materie‹ oder der ›passiven Fleischlichkeit‹ durch die rein formale (bzw. in-formierende) Transzendenz des Zeitflusses« (R. Kühn, a. a. O., S. 99). 80 R. Kühn, a. a. O., S. 99. 77 78

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Die Begründung der Intersubjektivität

gefasst wird, um somit die »radikale« Passivität der Selbstaffektion des absoluten Lebens, von der Intentionalität der Erkenntnis befreit, zu garantieren. 5)

Triebintentionalität als transzendentale Bedingung der Intersubjektivität

Die Rolle der Triebintentionalität für die transzendentale Begründung der Intersubjektivität muss unter Berücksichtigung des Fundierungsverhältnisses der Intentionalitäten stufenweise (von der Schicht der ursprünglichen Zeitigung bis zur Ebene der Intersubjektivität selbst) durchgeführt werden. a) Unter den vielen Fragen der genetischen Phänomenologie ist jene nach der absoluten Zeitigung, nach der passiven Genesis der Zeitigung, die allerwichtigste. Landgrebe hat darauf hingewiesen, dass Husserl die Triebintentionalität als die letzte und ursprünglichste Bedingung des stehenden Strömens der Zeitigung angesehen hat. Der von Landgrebe und anderen diesbezüglich oft erwähnte Abschnitt lautet: »Dürfen oder müssen wir nicht eine universale Triebintentionalität voraussetzen, die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu Gegenwart forttreibt derart, dass aller Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist und vor dem Ziel intendiert ist […]?« (Hua XV, 595). Damit ist die Triebintentionalität als der letzte Ursprung, der das Fließen der urtümlichen Gegenwart transzendental bedingt, dargestellt. Aber der Hinweis auf diese Beschreibung der Trieberfüllung allein reicht für die evidente Erhellung dieses Wie der Vereinheitlichung des Strömens der Zeitigung nicht aus. Ich habe oben die Bedeutungen der radikalen Passivität sowie des Erfüllungs- und Nichterfüllungszusammenhangs der Triebintentionalität unter dem Aspekt der Veranschaulichung unbewusst gelebter Triebintentionalität herausgearbeitet. Unter diesen Grundaspekten werde ich unten diese Frage noch genauer erörtern. Durch die Analyse des Prozesses der Veranschaulichung der Instinktintentionalität muss die Behauptung, dass die Triebintentionalität als Uraffektion die transzendentale Bedingung der absoluten Zeitigung sei, erneut begründet werden. Der Zusammenhang der Erfüllung und Nicht-Erfüllung der Triebintentionalität kann die Triebintentionalität als Uraffektion so erklären, dass die Uraffektion zunächst, als wechselseitige Weckung zwischen der undifferenzierten 259 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Ursynästhese der gesamten Triebintentionalitäten und der entsprechenden Hyle, unanschaulich urbewusst und dann, als wechselseitige Weckung zwischen den allmählich differenzierten Triebintentionalitäten und der entsprechenden Hyle, in der angeschauten Differenzierung fungiert. b) Die Frage, ob und wie die Triebintentionalität als Uraffektion interpretiert werden kann, lässt sich am besten hinsichtlich der Thematik der Intersubjektivität erhellen. Die Weckung der Triebintentionalität und die Bildung der Leergestalt und Leervorstellung der Triebintentionalität spielen für die transzendentale Begründung der Intersubjektivität eine maßgebende Rolle. Hier werden die Genesis bzw. die Bildung der »Leibzentrierung« (Hua XV, 642) des jeweiligen Leibs und die Bildung des sie notwendigerweise voraussetzenden Ich-Pols thematisiert. Das Bewusstseinsleben wird ursprünglich durch die triebhafte Leibzentrierung auf dem Urboden der Zwischenleiblichkeit gleichzeitig mit dem jeweiligen Ich-Pol polarisiert. Dieser Prozess lässt sich wiederum am Beispiel der unwillkürlichen Laute des Säuglings veranschaulichen. Durch die Aufgliederung der ursynästhetischen Triebintentionalität hin zu einzelnen Empfindungsfeldern bilden sich zum einen allmählich die Leergestalten und Leervorstellungen des eigenen Leibes, der ständig von der affektiv-assoziativen Synthesis zwischen der unwillkürlichen Kinästhese und den akustischen Empfindungsgehalten – aber ohne visuellen Empfindungsgehalt des eigenen Gesichtes – begleitet wird, sowie zum anderen die Leergestalten und Leervorstellungen des fremden Leibes, der ständig ohne Kinästhese ist, aber von der affektiv-assoziativen Synthese zwischen akustischen und visuellen Empfindungsgehalten, etwa des Gesichts der Mutter oder der Leiber anderer Kleinkinder, begleitet wird. c) Das zwischenleibliche Universum des Säuglings differenziert sich zur Welt des eigenen Leibs und seiner Umwelt, in der die fremden Leiber als solche auftreten. Dieser Prozess der Leibzentrierung ist die Voraussetzung für die Bildung bzw. die Deckung des Ich-Pols. Für die Bildung des Ich-Pols ist die voraffektive Synthesis der hyletischen Vorkonstitution notwendig, deren ursprüngliche Affektion (als die Uraffektion der Triebintentionalität) ständig das noch nicht geweckte, anonyme Ich affiziert. Also ist ohne Affektion die Bildung des IchPols ebenso unmöglich, wie ohne Urfakta der Hyle keine Welt und keine transzendentale Allsubjektivität möglich sind. 260 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Die Gleichursprünglichkeit, die auf dem Urboden der Zwischenleiblichkeit der universalen Triebintentionalität gelebt wird, wird als solche ursprünglich unanschaulich gelebt. Aber gerade durch die Leibzentrierung wird sie als der verlassene Urboden, der jedoch auch beim Erwachsenen niemals völlig verlassen wird, sondern immer noch als Urschicht der Leiblichkeit am Werk ist, anschaulich urbewusst. Die Art und Weise des ständigen Anschaulich-Werdens entspricht dem Veranschaulichungsprozess der ursynästhetisch gelebten Triebintentionalität. d) Auf diese Weise ist die Differenzierung des eigenen Leibs und des fremden Leibs die transzendental-genetische Bedingung für die Bildung der Differenz des eigenen und fremden Ich-Pols. Der IchPol des eigenen Ichs und des anderen Ichs ist keine metaphysische Entität – worauf die Begründung der Intersubjektivität abzielen soll –, sondern hat seinen genetischen Ursprung in der triebhaften Leibzentrierung. In der triebhaften Urkommunikation zwischen dem Bewusstseinsleben und der Umwelt findet man die zeitgleiche Gleichursprünglichkeit und radikale Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen. e) Aber die hier genannte Begründung der Intersubjektivität bedeutet die Stiftung des Bodens der Intersubjektivität, auf welchem die »Konstitution der höheren Stufen der intermonadologischen Gemeinschaft« 81 erst thematisiert werden können. Husserl analysiert auch den Bereich der »Ich-Du-Beziehung« in der personalistischen Einstellung, in der die radikale Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen auf der höheren Ebene der »Begegnung« aufgefasst wird. Auch hierbei spielt die Triebintentionalität eine wichtige Rolle, jedoch nicht als dominante, determinierende Kraft, vielmehr wird sie eher als Lebensenergie in das »Ganzheitlich-Werden« der »Ich-Du-Beziehung« integriert. 6)

Tragweite der Kritik Kühns an der Intersubjektivität bei Husserl

Hier lassen sich die Bedeutung und die Tragweite des obigen Grundkonzepts der Intersubjektivität bei Husserl anhand der Kritik von Kühn verdeutlichen. Diese betrifft den Begriff der Weckung der triebhaften Ahnung der Instinktintentionalität Husserls: »Auch hier 81

E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 56.

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bleibt die lebensphänomenologische Kritik gültig, daß diese urtrieblichen Ahnungen nicht in sich, sondern nur hinsichtlich einer vorgezeichneten, wenn auch noch nicht vorgestellten Welt analysiert werden, also die Reduktion nicht radikal genug ausfällt.« 82 Was heißt hier die Ahnung »in sich« und »ohne Bezogenheit der Ahnung auf die Welt«? Wie bereits erwähnt, ist die Weckung der Triebintentionalität natürlich auf bestimmte, passiv vorkonstituierte Phasengehalte der Triebintentionalität, die durch die wechselseitigen Weckungen der Triebintentionalität und des hyletischen Vor-Seins sich zeitigend entstehen, bezogen. a) Wenn Kühn jedoch diesen bestimmten, sogar bei der Ahnung unanschaulichen und nicht vorgestellten Inhalt der Triebintentionalität bestätigen muss, indem er »nicht nur eine ›triebhafte Kommunikation‹ der anonym-fungierenden, urstrebenshaften Kinästhesen, sondern auch ein absolutes Ausgeliefert-sein an das immanente Pathos des reinen Affekts: an Hunger, an die Wärme, an die Laute des Sprechens etc.« 83 behauptet, wie ist es für ihn dann überhaupt möglich, ein bestimmtes Pathos als einen bestimmten Affekt, sei es Hunger, Wärme oder Laute, inhaltlich differenzierend zu affizieren? Anders gefragt, woher bekommt das Leben die Erfüllung oder NichtErfüllung eines bestimmten Triebs ohne Bezogenheit auf die hyletische Konstitution? Was bedeutet die Selbstaffektion des Lebens? Kann das Leben seine Zustände beliebig ohne Bezogenheit auf hyletische Faktizität der Weltwirklichkeit überhaupt affizieren? Husserls Standpunkt ist eindeutig: Ohne Urhyle der Weltwirklichkeit sind keine Allsubjektivität und keine Welt möglich. Wenn Kühn behauptet, »[d]ieses ›eigene‹ Pathos des Kindes ist schon ›für sich‹ da, in tatsächlicher Weltlosigkeit, indem es absolut erfahren wird, aber es ist zugleich eingebettet in den Austausch der ›Gefühle‹, so daß sich Einfühlung in dieser ›Kompräsenz‹ des Pathischen errichtet, ohne in ihrem Wesen durch ekstatische oder gerichtete Zeitigung im Sinne einer ›ahnenden‹ Gegenwart vermittelt zu sein«, 84 müssen mehrere Punkte kritisch geäußert werden. b) Zunächst ist hier erneut zu bemerken, dass man bei Husserls Analyse der ursynästhetischen Triebintentionalität die triebhafte, R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität, S. 356 (auf die Lebensphilosophie Henrys bezogen). 83 A. a. O., S. 413. 84 A. a. O., S. 413 f. 82

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Die Begründung der Intersubjektivität

unwillkürliche Kinästhese und das Gefühl des Kindes nicht trennen kann. Es ist nicht möglich, »das immanente Pathos des reinen Affekts« isoliert oder gereinigt von der Kinästhese zu behaupten. Der reine Affekt ist bereits bei der Kinästhese des Weinens, des »Hungers«, der »Wärme«, bei der tastenden Kinästhese und der Kinästhese der unwillkürlichen Laute untrennbar beteiligt. Es gibt nirgendwo einen »reinen Affekt« ohne Kinästhese. Für Kühn ist es aber notwendig, das reine immanente Pathos isoliert zu betrachten, weil die Kinästhese für ihn mit dem Welthorizont verbunden und intentional, d. h. aktiv intentional ohne Einbeziehen der passiven, instinktiven Kinästhese, gedacht wird. Dies rührt daher, dass die Ichhaftigkeit der Kinästhese von ihm zu einseitig interpretiert wird: Er übersieht, dass die passiv-ichlose Kinästhese die ichhafte Kinästhese fundiert. Dies hängt natürlich mit seiner Behauptung der »immanenten Ipseität« des absoluten Lebens im Sinne Henrys zusammen, die für die genetische Bildung des Ich-Pols keine radikale Passivität des ichlosen Strömens akzeptieren kann. c) Darüber hinaus muss gefragt werden, woher dieses »eigene« und »für sich« genommene Pathos des Kindes (sogar in der »Weltlosigkeit« und ohne »Zeitigung«) kommt. Für Husserl ist völlig klar, dass die Zeitigung gleichzeitig die Erschließung bzw. Entstehung des Welthorizonts bedeutet und in diesem die in der Triebintentionalität fungierende affektive Kommunikation am Werk ist. Problematisch ist natürlich, dass Kühn so einfach das »Eigene« und das »für sich« des Kindes annimmt und behauptet. d) Die dritte kritische Bemerkung betrifft Kühns Interpretation der Intersubjektivität bei Husserl. Er führt dabei den Begriff »Zugang« ein, der der Zugang »zum Leben als Bezug zur Ipseität [ist], die aus jedem Sich (›Selbst‹) ein ›Ich‹ in unverwechselbar individueller Konkretheit des affektiven So-Empfindens macht« 85. Die Notwendigkeit, solch einen Begriff, der in Husserls Analyse keinen Platz finden kann, einzuführen, wird in folgendem Zusammenhang dargestellt: »Denn selbst die elementarste passiv-assoziativ fungierende Leiblichkeit als triebhaft-instinktive Kommunikation bliebe logisch wie ontologisch unverständlich ohne ein bereits seinerseits ›fungierendes‹ rein-phänomenologisches Leben in einmaliger Konkretion mit seiner absoluten, ichlich-subjektiven Situiertheit als Zeugung im Leben […]. Indem mein Leben aus dem absoluten Leben nur mög85

A. a. O., S. 449.

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lich ist als Zugang zu diesem Leben, den dieses Leben in seiner UrIpseität selbst gewährt, kann ein solcher Zugang nicht solipsistischmonadisch sein, sondern er schließt in seiner Zugänglichkeit als solcher alle anderen realen wie potentiellen ›Monaden‹ ein.« 86 Was versteht Kühn hier unter »logisch und ontologisch«? Meint er die logische und ontologische Evidenz der Zeugung? Husserl hat sich mit der »logischen und ontologischen« Evidenz in seiner genetischen Phänomenologie im Rahmen der Thematik der »Genealogie der Logik« und der »Ontifizierung des Ich« (HM VIII, 187) befasst. Eine so einfache Behauptung der logischen und ontologischen Evidenz der »Zeugung«, ohne Bezogenheit auf die transzendentale Faktizität des Ich-bin in der Weltwirklichkeit, d. h. ohne Bezogenheit auf die absolute Zeitigung, ist für Husserl nicht haltbar. Wenn aber Kühn diese absolute Zeitigung intentional im Sinne der Ich-Aktivität charakterisiert, gibt es keine Möglichkeit, die urtümliche Zeitigung als die passive inhaltliche Verschmelzung zwischen der Triebintentionalität und der hyletischen Phasengehalte zu verstehen. Somit bleibt Kühns Behauptung des Zugangs des absoluten Lebens bloß metaphysisch.

§ 6. Die Leibzentrierung aus der Ursynästhesie des Säuglings Die genetische Frage, ob die Leibzentrierung und die Differenzierung zwischen dem eigenen und dem anderen Leib die Andersheit des Anderen fundieren und gleichzeitig die Gleichursprünglichkeit des Ichs und des anderen Ichs (aus derselben Zwischenleiblichkeit) begründen können, gilt es hier gründlich zu klären. Die verbreiteten Kritiken am Begriff der Paarung als passiver Intentionalität, die die Gleichursprünglichkeit der Zwischenleiblichkeit fundiert, sind zumeist hinfällig, da sie die Bedeutung der passiven Intentionalität im Grunde missverstehen. Aber hier soll nicht auf die einzelnen Kritiken eingegangen werden. Vielmehr lässt sich die konstitutive Beschreibung des genetischen Prozesses von der Entwicklung der intermonadischen Kommunikation selbst zeigen. Dadurch wird die prinzipielle Grenze solcher Kritiken selbst offenkundig. Die zwischenleibliche Urkommunikation durch die Triebinten86

A. a. O., S. 414.

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Die Begründung der Intersubjektivität

tionalität (z. B. in der »gemeinsamen« lebendigen Gegenwart der Mutter-Kind-Beziehung) soll im Folgenden ausführlich analysiert und kann hinreichend begründet werden. Die Leibzentrierung entwickelt sich allmählich in zwei Schritten. Der erste Schritt umfasst den Veranschaulichungsprozess, in dem sich die bestimmten Sinnesempfindungsfelder (z. B. das akustische Empfindungsfeld und das Empfindungsfeld der passiven und instinktiv-unwillkürlichen Kinästhese) aus der ursynästhetischen Zwischenleiblichkeit differenzieren. Dieser Prozess wird weiter unten anhand mehrerer Beispielen hinsichtlich der assoziativen Weckung anschaulich dargestellt. Die Genesis der Differenzierung der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie des Kleinkindes ist ein wichtiges Thema der zwischenmonadischen Leiblichkeit. Hierbei muss die Genesis der zwischenleiblichen Affektivität nach den verborgen fungierenden transzendentalen Gesetzmäßigkeiten der Affektion und Assoziation in der intermonadischen Triebintentionalität zweistufig betrachtet werden. 1)

Die ursynästhetische, intermonadische Weckung des Säuglings

Die erste Stufe der Genesis wird am Phänomen des instinktiven Mitweinens des Neugeborenen als Ursynästhesie des Kleinkindes in der Zwischen-Leiblichkeit sehr deutlich gezeigt: Das Weinen eines Neugeborenen steckt andere Neugeborene (etwa bis drei oder vier Monate) unmittelbar an. Die Gesamtsituation des Weinens (undifferenziert verschmolzen: Hunger, passive Kinästhese beim Weinen und Hören des Weinens) bringt die Situation des Weinens bei anderen unmittelbar hervor. Neugeborene leben die Lebenssituation in ihrer intermonadischen Umgebung unmittelbar mit. Solche Art der ursynästhetischen Urkommunikation zeigt sich auch beim Phänomen des instinktiven Nachahmens durch das Neugeborene. Das Neugeborene kann schon durchschnittlich 32 Stunden nach seiner Geburt verschiedene Gesichtsausdrücke seiner Bezugspersonen, z. B. lachende oder erstaunte oder sogar Zunge zeigende, genau nachahmen. 87 Vgl. A. N. Meltzoff, M. K. Moore, Imitation of facial and manual gestures by human neonates, S. 75–78.

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Husserls Frage nach der passiven Genesis erreicht eine Dimension, in der der Prozess der Differenzierung der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie des Kleinkindes phänomenologisch beschreibbar wird. Ein Beispiel für eine solche Beschreibung ist die Veranschaulichung der »Nullkinästhese«, die gerade durch den Mangel des Assoziationsglieds der verborgen spielenden Assoziationen, etwa zwischen kinästhetischen und akustischen Momenten (des assoziativen Zusammenhangs der passiven Kinästhese und der akustischen Empfindung beim Weinen), aus der Ursynästhesie beim Säugling entsteht. Die hierbei zu beachtende Voraussetzung ist, dass die retentionale Leervorstellung selbst noch nicht gebildet ist. Für Husserl gibt es hier demnach eine »Enthüllung von leer instinktiven Ahnungen« (Hua XIV, 333), die keine Enthüllung von bereits gebildeten Leervorstellungen ist. 2)

Die assoziative, genetische Analyse des Urbewusstseins von der »Nullkinästhese« als Leergestalt

Für die Beschreibung dieser instinktiven Ahnung und des Bildungsprozesses der Leergestalt ist das typische Beispiel der Veranschaulichung einer ursprünglich unanschaulich gelebten Triebintentionalität sehr aufschlussreich: »Das Kind äussert unwillkürlich Laute in unwillkürlicher Kinästhese, es wiederholt sie […]. Zu seinen Lauten gehören vermögliche Kinästhesen. Aber die Mutter äussert ihrerseits ähnliche Laute, zunächst Nachahmungen der kindlichen. Das Kind hört sie, hat sie, aber ohne seine zugehörigen Kinästhesen, die assoziativ geweckt, aber nicht mit da sind, statt dessen die Nullkinästhese, von der aus die Erzeugung anhebt« (Hua XV, 606). Hier wird gezeigt, dass eine assoziativ-paarende Verschmelzung zwischen dem Phasengehalt der triebhaften instinktiven Kinästhese und dem Phasengehalt des akustischen Empfindungsdatums zwar bei der »eigenen« Äußerung des Kleinkindes, aber nicht bei der Nachahmung der Äußerung durch die Mutter als verschmolzen erlebt werden kann. Das heißt, dass die assoziative Weckung zwischen den beiden nicht entsteht und eben dadurch die ursprünglich unanschaulich verschmolzenen Phasengehalte (der Kinästhese und der akustischen Empfindungsdaten) gerade wegen des Mangels des zu weckenden Gliedes der Kinästhese, sich gleichzeitig differenzierend, vom Kleinkind veranschaulicht und urbewusst werden können. Die ursprüngliche, urassoziative Weckung zwischen den beiden 266 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

ist dem Kleinkind am Anfang als das Ganze zwar anschaulich urbewusst gegeben (bzw. wird es innerlich wahrgenommen), aber die Differenz des Phasengehaltes der Kinästhese und der akustischen Empfindungsdaten war am Anfang unanschaulich, nicht urbewusst, da diese wechselseitige Weckung synästhetisch, eben differenzlos verschmolzen war. 3)

Die Bildung der Leervorstellungen der Triebintentionalitäten

Die zweite Stufe betrifft die Differenzierung der Synästhesie der Leergestalten und die zeitgleiche Bildung der verschiedenen Leervorstellungen der Triebintentionalitäten. Die Ursynästhesie entsteht beim Säugling natürlich schon vor der Bildung der einzelnen Empfindungsinhalte und Empfindungsfelder. Zum Beispiel fungieren die urtümlich geweckten Triebintentionalitäten in der assoziativen Verschmolzenheit solcher Ursynästhesien. Wichtig und interessant ist die nähere Analyse des Prozesses dieser Veranschaulichung des Unanschaulichen selbst. Die dem Kleinkind fehlende unwillkürliche Kinästhese bei der Nachahmung durch die Mutter bedeutet die Unerfülltheit dieser triebhaften Kinästhese. Gerade im Fehlen (der Nicht-Erfülltheit) der unwillkürlichen Intention der triebhaften Kinästhese ist der hyletische Phasengehalt in der Differenz zum hyletischen Phasengehalt der akustischen Empfindungsdaten und der passiven intentionalen Differenz der passiven Intentionalität der unwillkürlichen Kinästhese gegenüber der passiven Intentionalität der akustischen Empfindung, eben als »Nullkinästhese«, nicht mehr im Sinne der Gestalt, sondern im »noetischen und noematischen Sinne« der Vorstellung erstmals urbewusst veranschaulicht und dann als erste leere Retention dieser Nullkinästhese im Vergangenheitshorizont sedimentiert und zur Leervorstellung der Kinästhese geworden. Vor dieser Veranschaulichung war der Sinn der Kinästhese als solcher nicht urbewusst, sondern wurde nur unanschaulich in der Verschmelzung vollzogen und gelebt. Die hier erwähnte »Nullkinästhese«, als unwillkürliche Kinästhese, ist erst in dieser Veranschaulichung urbewusst und zur leeren Retention der Phasengehalte der Kinästhese geworden, die die Basis für die Leervorstellung der Kinästhese bildet. In diesem Sinne beschreibt Husserl auch die wichtige Rolle des Vermissten als der Unerfülltheit der unanschaulichen Intentionalität 267 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

bei der Bildung der Leervorstellung der Ähnlichkeit: »In der Ursphäre der lebendig perzeptiven Gegenwart: Hier ist das an sich Frühere das Vermissen, das Bewusstwerden einer Ungenüge und das Begehren. […] [E]ine Datenwandlung in aufsteigender Ähnlichkeit lässt das Vermisste eben in Form der Ähnlichkeit immer durchscheinen, es gefällt schon und verähnlicht das Vermisste, erinnert daran und hat es in der Ähnlichkeit schon gleichsam in sich, aber noch nicht genug« (Hua XV, 329). 4)

Die gleichzeitige Spaltung zwischen der »Nullkinästhese« und dem »Null-Akustischen«

Vor dem Moment der Veranschaulichung der Nullkinästhese wurden nicht nur »unwillkürliche« Kinästhesen, sondern auch akustische Empfindungsdaten ursprünglich als solche unanschaulich in einer Ursynästhesie erlebt. Sie werden aber gerade durch diese Unerfülltheit der Kinästhese als das assoziierende, weckende Glied des Phasengehalts der akustischen Empfindungsdaten von der Kinästhese als Nullkinästhese unterschieden, hervorgehoben. Dies funktioniert analog zum Verhältnis zwischen der Figur und dem Hintergrund: Das Entstehen der Figur bedeutet das gleichzeitige Entstehen des Hintergrundes. In der Ursynästhesie des Kleinkindes war das »vorakustische und vorkinästhetische« Moment immer wieder intendiert und differenzlos erfüllt: Der Phasengehalt der akustischen Empfindung wurde als ein der Kinästhese ähnlicher Phasengehalt in der Ursynästhesie intendiert und immer wieder erfüllt. Aber diesmal wird der Phasengehalt der Kinästhese nicht erfüllt und gerade dadurch erstmals anschaulich urbewusst. Aus dieser Ursynästhesie differenziert sich die Nullkinästhese aber nicht allein. Sondern gleichzeitig wird dadurch das »Null-Akustische«, zunächst als »Nicht-Nullkinästhese«, veranschaulicht und hervorgehoben. Eine Differenzierung als Hervorhebung bedeutet die Hervorhebung einer Leergestalt als Figur und gleichzeitig die des anderen Teils als Hintergrund. Die hier urtümlich veranschaulichte Nullkinästhese qua Leervorstellung (ursprünglich »Leergestalt[en]« (Hua XI, 326)) gehört der Ebene der passiven Synthesis an, also der passiven Kinästhese bzw. der »instinktiv umlaufenden und wilden Kinästhese« 88, die not88

Vgl. Hua XV, 660 f.

268 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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wendig der Kinästhese der aktiven Intentionalität vorausgeht. Diese instinktive Kinästhese bleibt immer als eine Basis der Kinästhese. Auf dieser Kinästhese basierend entsteht die ich-aktive Kinästhese, die die passive Kinästhese kontrolliert, in ihrem »vermöglich beherrschten kinästhetischen System« (Hua XV, 270). Nicht nur die Nullkinästhese, sondern alle differenzierenden Phasengehalte der Empfindungsfelder (das Null-Akustische, NullVisuelle, Null-Taktile) gehören zum passiven Boden der triebhaften zwischenmonadischen Vergemeinschaftung aller Monaden. Es ist ferner sehr wichtig, dass auf dieser Ebene der passiv-assoziativen Vorkonstitution die Veranschaulichung der verschiedenen Leervorstellungen im Urbewusstsein keine Erinnerungsspur hinterlässt, weil das Vermögen der Wiedererinnerung, die die Bildung des Ich-Pols und der Ich-Aktivität voraussetzt, noch nicht entfaltet ist. 5)

Die assoziative Weckung aus der »Nicht-Erfüllung« bestimmter Triebintentionalität

Die in der genetischen Phänomenologie angewandte Methode des Abbauens wird hier durch eine Art des natürlich, von selbst entstandenen Abbauens bestimmter assoziativer Weckungen, der NichtErfüllung der Triebintentionalität, vollzogen. Dadurch wird die verborgen gelebte, ursprüngliche Motivation der bestimmten Triebintentionalität veranschaulicht und enthüllt. Es ist also einleuchtend, dass die erste wechselseitige Urweckung zwischen der instinktiven Ahnung und ihrem hyletischen Moment uranschaulich in der ursynästhetischen undifferenzierten Ähnlichkeit urbewusst vorgegeben wird und dass solche Urweckung ohne gebildete Leervorstellungen – die sich z. B. als Hungertrieb, Nullkinästhese usw. im ursynästhetischen »Urboden« des Kleinkindes ausdrücken – notwendigerweise dem Anschaulich-Werden bestimmter Triebintentionalitäten und der Bildung ihrer Leervorstellungen vorausgehen muss. Der Veranschaulichungsprozess der ursprünglich unanschaulich fungierenden ursynästhetischen Triebintentionalität entspricht eben dem Bildungsprozess des Sinngehalts der Leervorstellung in der genetischen Phänomenologie – und nicht umgekehrt. Die Veranschaulichung der Leergestalten der »Nullkinästhese« geschieht natürlich nicht auf der Ebene der Anschauung qua reflexiver Akt, in der die Leerintention der aktiven Intentionalität durch ihre korrelativen Empfindungsdaten in der Wahrnehmung erfüllt 269 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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wird, sondern eben auf der Ebene der Veranschaulichung, in der die verborgen, in dem Sinne unanschaulich fungierende, unbewusste Assoziation (durch den Mangel der betreffenden passiven Synthesis) als »Quasi-Wahrnehmung« urbewusst wird. In Husserls Beschreibung des »Misslingens« wird bereits die Bildung der leeren Gestalt im retentionalen Vergangenheitshorizont vorausgesetzt. Die leere Gestalt wird zunächst durch die Weckung der Instinktintentionalität zwischen der transzendentalen Erbanlage und der hyletischen Umgebung, dann durch die Wiederholung der Erfüllung der somit geweckten vagen »Ahnung« der Instinktintentionalität allmählich gebildet. Wichtig ist dabei, dass Husserl diese Bildung der Gestalten unter der Gesetzmäßigkeit der Assoziation beschreibt und dass gerade aufgrund des Mangels der unbewusst wirkende assoziative Zusammenhang zur Anschauung gebracht werden kann. Diese Veranschaulichung bietet uns einen sehr interessanten methodischen Aspekt der genetischen Phänomenologie. Wenn ein bestimmtes hyletisches Moment wegen der prinzipiellen Zufälligkeit der Affektion fehlt, wird die vage Richtung der instinktiven Ahnung – die durch die Wiederholung der Erfüllung der Instinktintentionalität bis dahin gebildet wurde – in Form der Unerfülltheit als Intention anschaulich. Dies ist damit vergleichbar, dass die bestimmte, aber bis dahin unbewusste Bedeutung der Anwesenheit einer Person erst durch die Abwesenheit derselben Person anschaulich erlebt wird. Dieses Mangelphänomen kann in der Tat die Wirklichkeit der unbewusst wirkenden Zwischenleiblichkeit, die für den Prozess der Heilung vom Autismus eine entscheidende Rolle spielt, sehr anschaulich darstellen. Bereits in »Ki als leibhaftige Vernunft« 89 habe ich die Wirkung und Bedeutung des Arztes beschrieben: Der Krankheitszustand eines Autismus-Patienten verschlechterte sich, weil der Arzt aufhörte, wie gewohnt neben dem Patienten auf einem Stuhl sitzend zu schlafen. Nur durch die wiederholte Anwesenheit des schweigenden Arztes konnte der Patient wieder geheilt werden. Die Anwesenheit einer anderen Person wird beim Schweigen unmittelbar zwischenleiblich zwischen zwei Personen erlebt.

89

Vgl. I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 68 ff.

270 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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§ 7. Der Mangel der assoziativen Synthesis der Paarung beim Autismus und die Frage der Bildung der emotionalen Kommunikation Ein weiteres Beispiel im Zusammenhang mit dem sogenannten Asperger-Syndrom zeigt die Wirklichkeit der zwischenleiblichen Intersubjektivität, die auch in der negativen Form der Bildung der passiven Synthesis veranschaulicht wird. Das wirkliche Fungieren der auf diese Weise allmählich sich bildenden zwischenleiblichen Intersubjektivität kann in Situationen, in denen diese fundamentale Zwischenleiblichkeit nicht zustande kommen kann, deutlich gezeigt werden. Solch ein typischer Fall bildet das Hindernis für die emotionale Kommunikation bei Autismus-Patienten. Im Fall des Autismus entsteht der Konflikt zwischen dem Wunsch der Kontaktaufnahme und der Angst vor dem Eingenommen-Sein: Es entsteht der sogenannte »approachavoidance motivational conflict«. 90 Dieser Konflikt beinhaltet, dass die Kinder bei der Bildung der emotionalen Gebundenheit einerseits so starke Angst vor dem Betreuenden haben, dass sie sich etwa dagegen wehren, wenn sie in die Arme genommen werden, und andererseits den sehr starken Wunsch nach Zuwendung der sie betreuenden Person verspüren. Sie leben in einem Zwiespalt zwischen der Zuneigung zum und der Abneigung gegen den Betreuenden. Die Panik (Zerstörung äußerer Umgebung, Selbstverletzung) entsteht jeweils, wenn die Patienten sich entfernen und verlassen fühlen und Aufmerksamkeit gewinnen wollen, aber auch, wenn sie zu große Nähe fühlen. Das Entstehen und die Struktur dieses Konflikts lassen sich aber durch die Analyse der Sprache auf der Ebene der symbolisch-sprachlichen Kommunikation nicht erhellen. Die ansprechende Zuwendung wird strikt abgelehnt. 1)

Versuch der Überwindung der Panik durch die Herstellung der passiv-assoziativen Paarung

Die Methode, autistische Kinder in einer solchen Panik zu beruhigen, wird von Donna Williams, die selbst vom Asperger-Syndrom betroffen ist und autobiographisch über ihren Autismus schreibt, eindrucksvoll dargestellt. Das in Panik geratene Mädchen Anne, das mit Vgl. J. M. Richer, Avoidance behavior, attachment und motivational conflict, S. 7– 18.

90

271 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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schriller Stimme schreit und weint, beruhigt sie durch rhythmische Bewegungen: »Ich begann eine sich wiederholende Melodie […] zu summen, während ich ihren Arm in Einklang mit der hypnotischen Melodie antippte.« 91 Das ist eben für sie »die Methode, […] mich zu beruhigen. Ich dachte somit, es wird mir irgendwann möglich, dass ich mich sicher fühle und die Welt mit geöffneten Auge anblicken kann.« 92 Leicht und rhythmisch am Arm zu tippen bewirkt, dass die in Panik geratenen Kinder von der ursynästhetischen Ursituation des Grundrhythmus des Lebens umfasst werden und sich geschützt und beruhigt fühlen können. Wenn man diese Situation unter dem Aspekt der assoziativen Synthesis Husserls betrachtet, staunt man über die strukturelle Ähnlichkeit und die dimensionale Differenz zwischen der Methode, die Williams anwendet, und der paarend-assoziativen Synthesis Husserls. Williams zeigt zwar verschiedene Methoden, die Kinder zu beruhigen, aber die erste und fundamentale Methode darunter heißt »ein Paar bilden«: »The matching or pairing of objekts. Making connections between things. Showing that relationships between two or more things can exist. Seeing this objectified, through objects, in the most concrete and undeniable way.« 93 Die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Phänomen der Paarung, die die Bildung der Ähnlichkeit zwischen zwei Empfindungsphasengehalten ohne Ich-Aktivität beschreibt, ist hier eindeutig. Die Paarung nennt Husserl »die Urform derjenigen passiven Synthesis, die wir […] als ›Assoziation‹ bezeichnen« 94. Jedoch meint Paarung nicht eine aktive Herstellung, sondern passiv und ohne Vermittlung der Ich-Aktivität, vor der Zuwendung des Ichs, vorkonstituiert zu sein. Wie oben gezeigt, entsteht die passive Synthesis der Retention zunächst immer unbewusst. Ein Ton ähnelt einem anderen Ton, eine Farbe ähnelt einer anderen Farbe voraffektiv, unbewusst. Auch der Prozess der Bildung der Paare durch die assoziative Verbindung selbst wird nicht anschaulich bewusst. Bewusst wird, wenn überhaupt, nur das Resultat der passiven Synthesis. Demgegenüber muss Williams sich bemühen, ein Paar zwischen Dingen bewusst herzustellen. Diese Bemühung führt sogar dazu, 91 92 93 94

D. Williams, Nobody Nowhere, S. 196. A. a. O., S. 212. Ebd. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 115.

272 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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immer wieder ihren eigenen Kopf an die Wand zu schlagen, um die zu lauten Schreie in ihrem Geist mit einem dumpfen Rhythmus zu beruhigen. 95 Warum bedarf es solcher Bemühungen? Eben weil ein Paar als Paar nicht fest gebildet ist. Wenn das Paar als Paar durch die passive Synthesis wirklich vorkonstituiert ist, braucht es für das Bewusstsein von diesem Paar nur die Zuwendung des Ichs. Die Frage nach dem Grund, warum diese Vorkonstitution selbst nicht stabil ausgebildet ist, führt uns zu dem Fungieren und der Erfüllung der zwischenleiblichen Triebintentionalität, die die assoziative Synthesis uraffektiv vereinheitlicht. 2)

Das emporsteigende Gefühl im eigenen Leib

Das Umarmt-Werden und Umarmen ist die Basis für die Bildung der zwischenleiblichen emotionalen Kommunikation. Die Szene, in der das Umarmt-Werden Williams erstmals bewusst wurde, wird im Folgenden dargestellt: Die siebenjährige Williams wurde von dem gleichaltrigen Mädchen Trish in ihrem Bett umarmt. »Ich war verängstigt. Es schien, als ob Tränen hochstiegen aus einem Teil von mir, der lang vergessen und begraben gewesen war. […] Wir waren zwei siebenjährige Mädchen, eine betrachtete den Trost der Umarmung als Selbstverständlichkeit, während die andere ihn steif über sich ergehen ließ und ihn beängstigend und ausschließend fand.« 96 Interessant ist, dass sie nach ein paar Jahren selber ihren jüngeren, in Panik geratenen, weinenden Bruder, diagnostiziert mit »hyperactivity disorder«, umarmt und tröstet. »Ich umarme meinen weinenden Bruder und krieche mit ihm in den Kleiderschrank. Ich halte meine Hand an seinen Mund und packe seinen Kopf mit meinem Arm, schließe auch seine Ohren zu. Nun laufen seine Tränen über meine Hand. […] Aber mir war bewusst, dass, wenn mein Bruder da ist, ein Gefühl in mir emporkommt. Er ließ mich Gefühle fühlen und hatte dennoch den Anstand, sie für mich auszudrücken. Mehr als alles andere ängstigte mich mein Bruder, indem er mich wirklich fühlen ließ.« 97 Die junge Williams kann das Gefühl des Bruders, der umarmt wird, und ihr eigenes Gefühl schwer trennen. Das Gefühl, das sie 95 96 97

Vgl. D. Williams, Nobody Nowhere, S. 213. A. a. O., S. 36. Ebd.

273 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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beim Umarmen durchströmt, ist nichts anderes als die Bewegung des echten Gefühls des Bruders selbst und dasselbe, das als Gefühl ihren Körper durchströmt. Dies zeigt die Wirklichkeit der emotionalen Kommunikation, in der das Gefühl unmittelbar miteinander, zwischenleiblich erlebt wird. Die Basis der emotionalen Kommunikation wird durch die natürliche Erfüllung der Triebintentionalität des Kindes gebildet. Besonders die Entwicklung des Gefühls ist mit der taktilen Empfindung und der Kinästhese des gesamten Körpers und mit dem Grundrhythmus des Lebens, der dem Rhythmus des Herzens entspricht, eng verbunden. Bei Donna Williams wird die Basis der unbewusst gebildeten zwischenleiblichen, emotionalen Kommunikation nicht ausreichend gebildet, gerade weil die Leergestalten der einzelnen Empfindungsfelder in ihrem Horizont der Leiblichkeit nicht gebildet sind, sodass sie unter der Bedrohung der Überflutung der chaotischen Empfindungen leiden muss. Vor diesem Hintergrund bleibt ihr nur der sogenannte »approach-avoidance motivational conflict«. Hier spielt wiederum Husserls Grundprinzip, dass Passivität Aktivität fundiert, eine entscheidende Rolle. Ohne ausreichende Bildung der vorkonstitutiven passiv-assoziativen Synthesis, der Aufnahmebereitschaft des passiven Bodens, wird der Betroffene ihn bedrohenden Empfindungsüberschüssen ausgesetzt.

§ 8. Die passive Genesis der »objektiven« Raumzeitlichkeit in der intermonadischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind Für die Untersuchung der genetischen Entwicklung der intermonadischen Kommunikation ist hier die Konstitution der objektiven Raumzeitlichkeit zu thematisieren. Das oben genannte ansteckende Weinen hört etwa nach drei oder vier Monaten allmählich auf. Das einige Monate alte Kind beginnt, ein anderes weinendes Kind ruhig anzuschauen. Der Differenzierungsprozess der Empfindungsfelder ist bereits als die höhere Stufe der Genesis am Werk. Das Akustische assoziiert zwar das Kinästhetische, aber die assoziierte passive Kinästhese kann noch nicht die Zuwendung eines Ichs hervorrufen. Die Ausdifferenzierung der Empfindungsfelder, die psychologisch als Differenzierung der äußeren und inneren Wahrnehmung bezeichnet wird, stiftet für das Kleinkind die ihm korrelative affektive Umge274 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

bung. Die passive Vorkonstitution, in der die jeweilige Empfindungsqualität inhaltlich ausgebildet wird, affiziert das Bewusstseinsleben des Kleinkindes und bringt seine Leibzentrierung besonders durch die instinktive Kinästhese, die es am eigenen Leib vorgegeben fühlt, hervor. In diesem Kontext ist die Entwicklung der aktiven Kinästhese im Zusammenhang mit der Entwicklung des Vermögens der Wiedererinnerung zu untersuchen, damit die Genesis der intermonadischen, objektiven Raumzeitlichkeit erhellt werden kann. 1)

Die Leibzentrierung und die Ich-Polarisierung

Im obigen Beispiel hinsichtlich der Nullkinästhese wurde die Differenzierung in die Stimme mit der »eigenen« passiven Kinästhese und die Stimme ohne »eigene« passive Kinästhese veranschaulicht. Diese Stimme ohne »eigene« passive Kinästhese des Kleinkindes bildet die Urquelle der Andersheit des Anderen, die der Differenzierung der Leibzentrierung entspricht und der Differenzierung des Ichs und des Anderen vorausgeht: Der Unterschied zwischen Ich und Anderem entsteht ursprünglich als der Unterschied zwischen der eigenen und der fremden Kinästhese. Die Leibzentrierung bedeutet nämlich, dass der eigene Leib als ein Zentrum gebildet wird, aus dem die eigene aktive Kinästhese qua aktive Intentionalität ausstrahlt. Sie bildet den Grund für die Ich-Zentrierung. Im Prozess der Ich-Polarisierung entsteht das Vermögen der ich-aktiven Intentionalität, die den Gesamtbereich der passiven Vorkonstitution mit dem reflexiven Blick der ich-aktiven Aufmerksamkeit durchdringt. Nun fungieren die aktive Kinästhese, das aufmerksame Zuhören, das Sehen, das Tasten etc. – die als Wahrnehmungen im Rahmen des Schemas »Hyle – Noesis – Noema« bezeichnet werden – sowie auch die Wiedererinnerung. Auf dem urtümlichen, urpassiven Strömen beruht die höhere Schicht der Ich-Aktivität, die mittels des Ich-Pols fungiert. Das Vorkonstituierte wird durch den ich-aktiven reflektierenden Blick nicht mehr als verborgen fungierende Einheit der Phasengehalte, sondern als das bewusste anschaulich Konstituierte des Wahrnehmungsgegenstandes aufgefasst. a) Auf der Stufe der aktiven Intentionalität der Wiedererinnerung, die das retentional Vorkonstituierte durch die assoziative Ferndeckung wiedererinnert, oder der Stufe der aktiven Kinästhese, die die Leibzentrierung durch die frei verfügbare Kinästhese beim Be275 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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wegen des eigenen Leibes endgültig festlegt, wird die Unterscheidung zwischen dem eigenen Leib und den anderen Leibern als Kluft zwischen dem eigenen und dem anderen Ich unwiderruflich befestigt. Dieses Vermögen der Wiedererinnerung und der aktiven Kinästhese spielt auch für die Raumkonstitution und die Konstitution der Dinge, also für die Vergegenständlichung eines Gegenstandes im intermonadisch konstituierten Raum eine entscheidende Rolle. b) Levinas’ Behauptung der radikalen Andersheit des Anderen lässt sich auf seine Interpretation der Empfindung im Sinne der aktiven Intentionalität zurückführen. Die Urimpression ist bei Levinas derart radikal passiv, dass sie durch das intentionale Empfinden des Bewusstseinsflusses nicht gezeitigt werden kann und darf. Daher wird die Andersheit des Anderen durch die radikale Passivität der Urimpression geschützt. Die Dimension der affektiv-assoziativen Verschmelzung von Urimpression und Urretention in der passiven Synthesis, in der die zwischenleibliche intermonadische Vergemeinschaftung ständig am Werk ist, wird von Levinas völlig übersehen. Dieser Bereich der passiven Intersubjektivität in der Zwischenleiblichkeit ist die notwendige Basis für die Entfaltung der aktiven intermonadischen Vergemeinschaftung. 2)

Das Phänomen der Synchronisation

In Bezug auf die passive Genesis der objektiven Raumzeitlichkeit ist zunächst das Phänomen der »Synchronisation« (»entrainment«) zwischen Mutter und Kind in Betracht zu ziehen. Das Phänomen der Synchronisation beschreibt, dass die am Anfang relativ kurze und rasche Atmung beider sich gegenseitig beeinflusst und so allmählich zur langsamen, übereinstimmenden Atmung wird, die dazu führen kann, dass manchmal beide in dieser übereinstimmenden Atmung auf dem Bett einschlafen. Zunächst wird der Prozess der übereinstimmenden Verlangsamung der Atmung selbst phänomenologisch hinsichtlich der assoziativen und voraffektiven Synthesis untersucht. Ein weiteres Beispiel: Die Mutter versucht, das Baby in ihren Armen zum Schlafen zu bringen. Die Wärme des Babys und der Rhythmus der kurzen und raschen Atmung erlebt die Mutter unmittelbar. Die Frage, ob das Baby unterscheiden kann, ob es sich in den Armen der Mutter völlig mit der Mutter eins fühlt oder nicht, lässt sich leicht klären. Das Baby wird unruhig und wach, sobald die Mutter versucht, es 276 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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auf das Bett zu legen: Das Baby war noch nicht völlig eingeschlafen. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise das Baby die feine Bewegungsänderung der Mutter überhaupt merken kann. Zur Beantwortung bedarf es einer ausführlichen Analyse der Synchronisation zwischen Mutter und Kind. a) Der Prozess der Synchronisation besagt, dass der Rhythmus der Atmung beider länger und sanfter, schließlich völlig übereinstimmend wird. Dabei wird am Anfang die Unregelmäßigkeit, die aus der Differenz zwischen dem Atmungsrhythmus des Babys und dem der Mutter entsteht, von beiden unmittelbar erlebt. So atmet das Baby etwa mit einer Periodendauer von 0,8 Sekunden und die Mutter mit einer Dauer von einer Sekunde. Die dabei entstehenden Differenzen werden von beiden retentional (in den beiden Ursynästhesien) empfunden. Die Kinästhese des Babys, die während einer Periodendauer von 0,8 Sekunden entsteht, lässt sich als K1→K1,8→K2,6 bezeichnen und die Kinästhese der Mutter entsprechend als K1→K2→K3. Dabei können Mutter und Baby merken, dass K1,8 K2 vorangeht, weil K1,8 unmittelbar (als ob im eigenen Körper) sowohl vom Baby als auch von der Mutter retiniert wird. Auch die Zeitspanne von 0,2 Sekunden, die zwischen K1,8 und K2 entsteht, kann retiniert werden. Wenn die Retention mit R und die zweimalige Retention mit R2 usw. bezeichnet wird, lässt sich das Erlebnis der gemeinsam strömenden Zeitigung der gemeinsamen lebendigen Gegenwart von Mutter und Baby auf folgende Weise abbilden: K1



K1,8 → K2 → K2,6 → R(K1) R(K1,8) R(K2) R2(K1) R2(K1,8) R3(K1)

K3 → R(K2,6) R2(K2) R3(K1,8) R4(K1)

Hierbei ist wichtig, dass dieses Zeitströmen quasi im gemeinsamen Körper von Mutter und Kind erlebt wird. b) Beim Versuch der Mutter, das Baby zum Schlafen zu bringen, kann sie, wenn sie die Atmung des Babys fühlt, nach der Retention R(K1) und R(K1,8) schon die Protention von K2,6 haben. Dann kann sie versuchen – etwas später als K2,6, aber an K2,6 anpassend –, z. B. K2,8 zu geben, damit die Synchronisierung von der Seite des Babys durch die passive Synthesis der Assoziation verwirklicht werden kann. Aber diese Synchronisierung geschieht natürlich niemals so rechnerisch, wie es in dieser Skizze dargestellt ist, sondern vielmehr 277 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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instinktiv durch die geweckte gesamte Triebintentionalität der intermonadischen Kommunikation. Dabei übernimmt die Mutter die führende Rolle: Die Mutter versucht (meist instinktiv) auf Basis der Empfindung der retinierten Kinästhese der Atmung des Babys den Rhythmus der Atmung des Babys zu beeinflussen. So kann der Rhythmus der Atmung von beiden synchron verlangsamt werden. Die Mutter kann sich der Atmung des Babys durch ihr Vermögen der Retention und Protention anpassen. Noch erstaunlicher ist das Vermögen des Babys, sich der Atmung der Mutter instinktiv, ohne Ich-Aktivität, anzupassen. c) In der synchronisierten, verlangsamten Atmung ist die Welt des gemeinsamen Mitfühlens, der gemeinsamen Zeitigung verwirklicht, in der die gemeinsame Kinästhese der übereinstimmenden Atmung und die gemeinsame Tastempfindung der Wärme, ohne Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Leib, erlebt werden. Diese Verwirklichung der Welt des gemeinsamen Mitfühlens ist für die Genesis der intermonadischen Kommunikation und auch der »objektiven« Raumzeitlichkeit entscheidend. Die Kontinuität des gemeinsamen Miterlebens der übereinstimmenden Atmung und Wärme in der einen gemeinsamen Leiblichkeit bildet für die Entstehung der intermonadischen Kommunikation eine Voraussetzung. Ohne das Vorhergehen der Welt des Mitfühlens in der Ursynästhesie von Mutter und Kind ist die Entstehung der einzelnen Empfindungsfelder im einzelnen, isoliert betrachteten Leib nicht möglich. Die Welt der gemeinsamen Empfindung des gemeinsamen Leibs geht der Welt der isolierten Empfindung des vereinzelten Leibs voraus. Es ist ein Grundirrtum, dass der vereinzelte Körper in sich von Anfang an die einzelnen Empfindungen hat. d) Wenn die Mutter versucht, das Baby, das noch nicht eingeschlafen ist, sehr sanft ins Bett zu legen, merkt das Baby trotz der sanften Bewegung die Änderung der mitfühlenden gesamten Situation der gemeinsamen Atmung und Wärme. Unter Berücksichtigung des Vermögens der Protention (P) kann man die assoziative Synthesis des mitfühlenden Zeitstroms wie folgt skizzieren:

US(K1, T1) →

P(US(K1, T1)) US(K2, T2) → R(US(K1, T1))

P2(US(K1, T1)) P(US(K2, T2)) US(K3, T3) → R(US(K2, T2)) R2(US(K1, T1))

278 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Die Ursynästhesie (US) der Kinästhese (K1) und der Tastempfindung (T1) wird in der nächsten Phase, wenn die Ursynästhesie der Kinästhese (K2) und Tastempfindung (T2) auftritt, retiniert: R(US(K1, T1)). Gleichzeitig fungiert die Protention der Kinästhese (K1) und der Tastempfindung (T1), P(US(K1, T1)). Auf diese Weise wird die Kontinuität des Zeitinhalts der Ursynästhesie in der Querintentionalität von Retention und Protention vorkonstituiert. Während der Bildung dieser Kontinuität geschieht die plötzliche Änderung der gesamten Ursynästhesie. Die Protention der vorhergehenden Ursynästhesie der Kinästhesie (Kn) und der Tastempfindung (Tn), P(US(Kn, Tn), wird in der nächsten Phase (n+1) nicht erfüllt, d. h., US(Kn+1, Tn+1) ist nicht gegeben. Das ist das Phänomen der »Nicht-Erfüllung« oder des »Misslingens« 98 der Protention, die Enttäuschung: »ein Gegenvorkommnis der Erfüllung, die Enttäuschung, es gibt heini Gegenvorkommnis der Näherbestimmung, die Andersbestimmung« (Hua XI, 25). e) Die ursprüngliche, gemeinsame, in diesem Sinne »objektive« Zeit entsteht aus dem Erlebnis der Differenzierung zwischen den kontinuierlichen, gemeinsamen Zeiterlebnissen und dem durch die Enttäuschung eintretenden diskontinuierlichen Zeiterlebnis. Für das Baby entspricht das Erlebnis der Differenz der plötzlichen Änderung des ursynästhetischen gesamten Erlebnisstromes. Die Wiederholung dieses Erlebnisses, nämlich die Unterscheidung der Erfüllung und Nicht-Erfüllung der gemeinsamen, ursynästhetischen Gegenwart, bildet die Unterscheidung zwischen dem gemeinsamen, für beide »objektiven« Zeiterlebnis und dem nicht gemeinsamen, »subjektiven« Zeiterlebnis. Natürlich entspricht das hier genannte »objektive« Zeiterlebnis nur der Quelle bzw. der Wurzel der sogenannten objektiven Zeit, die bei der naturwissenschaftlichen Forschung vorausgesetzt wird. Der Prozess der Konstitution der objektiven Zeit kann allein durch die hier entfaltete genetische Untersuchung der intermonadischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind phänomenologisch begründet werden. Gerade deshalb ist die Entdeckung der Quelle oder Wurzel des gemeinsamen »objektiven« Zeiterlebnisses von entscheidender Bedeutung.

98

Vgl. oben, S. 252.

279 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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3)

Die Konstitution der objektiven Räumlichkeit in der intermonadischen Kommunikation

Für die Erhellung der Konstitution der objektiven Räumlichkeit spielt der Unterschied zwischen der passiven und der aktiven Kinästhese eine entscheidende Rolle. Aber schon vor dieser Unterscheidung kann das Baby durch die Bildung der Leergestalt der »Null-Kinästhese« und »Null-Akustik« den eigenen Leib vom anderen unterscheiden. Das ist zugleich der Beginn der »Leibzentrierung« aus der anonymen intermonadischen Zwischenleiblichkeit: Der Entwicklung der Leibzentrierung entsprechend wird dem Baby der Unterschied zwischen der passiven und der aktiven Kinästhese deutlicher. Um die Konstitution des »objektiven« Raums zu klären, ist hier eine Situation anzunehmen, in der ein etwa elf Monate altes Baby seine Hand in Richtung eines Teddybären und einer direkt danebenstehenden Milchflasche ausstreckt und »Ah« sagt. Anschließend reicht die Mutter dem Baby den Teddybären oder die Milchflasche. a) Die Mutter gibt dem Baby etwa die Milchflasche. Wenn dies nicht zutrifft, nimmt das Baby die Flasche nicht und wiederholt seine Handlung. Die Mutter gibt dem Baby den Teddybären, und es nimmt ihn mit Freude. Warum konnte die Mutter den Gegenstand, den das Baby haben wollte, identifizieren? Einfach weil sie seine Zufriedenheit mit einem bestimmten Gegenstand unmittelbar miterleben kann. Diese emotionale Übereinstimmung zwischen Mutter und Baby ist oben am Beispiel der »Synchronisation« der Atmung zwischen beiden beim Einschlafen dargestellt. Das gemeinsame unmittelbare Erleben der bestimmten ursynästhetischen Empfindungen wandelt sich ständig. Durch die passiv-assoziative Synthesis der passiven Einfühlung wird das Mit-Fühlen der Grundstimmung der Zufriedenheit oder der Unzufriedenheit intermonadisch unmittelbar miterlebt. Die Freude und Zufriedenheit, die beim Greifen des Teddybären entsteht, wird unmittelbar von der Mutter miterlebt. Natürlich wird auch die Unzufriedenheit bei der Zurückweisung der Flasche von der Mutter unmittelbar miterlebt. Somit wird die Identität und »Objektivität« eines bestimmten Gegenstandes durch das Mit-Erleben des Mit-Fühlens der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit von beiden bestimmt. b) Das Wesentliche dieser Identifizierung eines bestimmten Gegenstandes liegt eben darin, dass die zwei isolierten, einzelnen Subjekte, zwischen denen die Objektivität entsteht, nicht die Voraussetzung bilden, sondern dass die Identität und Objektivität eines be280 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

stimmten Gegenstandes vom Unterschied der Erfüllung und NichtErfüllung der bestimmten intermonadischen Gefühls- und Triebintentionalität beider bestätigt wird. Die intermonadische Übereinstimmung der Triebintentionalitäten geht stets voraus. Die Kontinuität der Erfüllung bestimmter intermonadischer passiver Intentionalitäten der Ursynästhesie von Mutter und Baby und das Auftreten der Diskontinuität aufgrund der Nicht-Erfüllung jener bilden die Bedingung dafür, dass die Identität eines bestimmten Gegenstandes auf dem Unterschied zwischen Kontinuität und Diskontinuität der ursynästhetischen Intentionalität begründet werden kann. c) Diese Begründung wird stufenweise dargestellt: Zunächst wird die Situation, in der das Baby seinen Teddybären in die Hand nimmt, phänomenologisch analysiert. Wenn es seine Hand in Richtung des Teddybären ausstreckt, fungiert die Protention der ursynästhetischen Intentionalitäten, die beim Ergreifen des Teddybären erfüllt wurden – wie etwa die Intentionalitäten der Ursynästhesie von visuellen, haptischen, kinästhetischen Empfindungen. Wenn das Baby den Bären in seine Hand nimmt, werden dieselben Intentionalitäten erfüllt. Beim Ausstrecken der Hand wurde die Intentionalität der visuellen Empfindung schon erfüllt, aber die Intentionalität der haptischen Empfindung blieb unerfüllt protentional. Die Protention der haptischen Empfindung hat ihre Quelle in der Ursynästhesie der visuellen und haptischen Empfindung, die beim Greifen des Teddybären erfüllt wurde. Das Phänomen des Misslingens bildet die Assoziationskette zwischen der erfüllten visuellen Empfindung und der unerfüllten, vermissten haptischen Empfindung. Gerade also durch die Nicht-Erfüllung der haptischen Empfindung wird die bereits erfüllte assoziative Verbindung zwischen der visuellen und der haptischen Empfindung in der Art hervorgehoben, die den Kontrast zwischen der erfüllten Leergestalt der visuellen Empfindung und der unerfüllten Leergestalt der haptischen Empfindung bildet. Somit werden die beiden Leergestalten deutlicher hervorgehoben. d) Aber der Erfüllung der visuellen und haptischen Empfindung beim Greifen des Teddybären geht die intermonadische, passiv-assoziative Synthesis der Paarung zwischen Mutter und Baby, die sich auf den gemeinsamen Teddybären bezieht, voraus. Wenn die Mutter sieht, dass das Baby seine Hand in Richtung des Teddybären oder der Milchflasche ausstreckt, erlebt sie die Erfüllung der visuellen Empfindung und die Nicht-Erfüllung der Protention der haptischen Empfindung durch die passive Synthesis der Paarung unmittelbar. 281 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Die Kontinuität der Erfüllung der ursynästhetischen Intentionalitäten und die Diskontinuität aufgrund der teilweisen Nicht-Erfüllung derselben Intentionalitäten ermöglichen auf Basis der passiven Einfühlung der Paarung die Identität eines Gegenstandes, die durch die intermonadische Erfüllung der Zufriedenheit und die intermonadische Nicht-Erfüllung der Unzufriedenheit unmittelbar bestätigt werden kann. e) Die Möglichkeit solcher Identifizierung eines gemeinsamen, objektiven Gegenstandes zwischen Mutter und Kind zeigt sich anhand des folgenden Beispiels 99 sehr klar: Ein Spielzeugroboter nähert sich mit einem mechanischen Geräusch einem einjährigen Baby, das auf dem Boden eines Kinderzimmers neben seiner Mutter sitzt und den Roboter erstmals sieht. Das Baby wendet einen »fragenden« Blick zu seiner Mutter, was es mit diesem Ding anfangen solle. Wenn die Mutter es mit einer positiven, bestätigenden freudvollen Mimik anblickt, versucht es, den näher tretenden Roboter zu nehmen und damit zu spielen. Wenn aber die Mutter ihn mit einer negativen, angstvollen Mimik anblickt, versucht es ihn zu vermeiden und sich ihr zu nähern. Hierbei ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Roboter, den das Baby sieht, und der Roboter, den die Mutter sieht, derselbe ist. Diese Voraussetzung ist nur dadurch möglich, dass eine bestimmte Situation von beiden genau durch das Miterleben der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit identifiziert werden kann. f) Die besondere Eigenschaft der »Identifizierbarkeit« oder des »Objektivierens« in der intermonadischen Kommunikation zwischen Mutter und Kleinkind wird deutlicher, wenn sie mit der Situation der sogenannten dritten Person der Wissenschaft verglichen wird. Von außen beobachtet sehen das Baby und die Mutter den Roboter von ihrer jeweiligen Position aus. Aber was beide wirklich sehen und wie sie es sehen, ist der dritten Person weder unmittelbar gegeben, noch lässt die Situation einen Vergleich zu. Ist die Bestätigung der Identität der Situation und des Gegenstandes zwischen Mutter und Kind deshalb bloß »subjektiv« und nicht wissenschaftlich »objektiv«? Aber die Bevorzugung der sogenannten objektiv-wissenschaftlichen Einsicht aus der Dritte-Person-Perspektive ist hierbei verkehrt. Das wird klar, wenn man den Ich habe dieses Beispiel dem Buch D. N. Stern, The Interpersonal World of the Infant, S. 132, entnommen.

99

282 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Sinn der Zeitlichkeit – Vergangenheit, Jetzt und Zukunft – auf der sogenannten objektiven Zeitachse (-t1 – t0 – +t1) zu suchen und zu finden versucht. Wo beginnt überhaupt die Vergangenheit auf der Zeitachse? Am Zeitpunkt -t1? In den infiniten Dezimalzahlen kann man den Beginn der Vergangenheit nicht finden – ebenso wenig den Beginn der Zukunft und das Jetzt. Der Sinn der Zeitlichkeit – Jetzt, Vergangenheit und Zukunft – entsteht durch die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Retention und Protention in der intermonadischen Zeitigung, die durch die intermonadischen Triebintentionalitäten von Mutter und Kind gezeitigt wird: Zum Beispiel ist die Gleichzeitigkeit des Augenblicks, in dem das Baby den Teddybären von seiner Mutter bekommt, für die Mutter und das Baby unbezweifelbar, weil beide beim Greifen des Teddybären gleichzeitig Freude erleben. Wenn man versucht, diese Gleichzeitigkeit mit einer Uhr zu messen und sie wissenschaftlich zu beweisen, indem man etwa die neurophysiologischen Aktivitäten der Gehirne von Mutter und Kind untersucht, wird klar, dass solch ein Versuch keinen Sinn hat, da ohne Vermittlung des Miterlebens der Freude der Zeitpunkt, in dem der Teddybär dem Baby gegeben wird, überhaupt nicht die Gleichzeitigkeit des Nehmens und Gebens fassen kann. Erst durch das Miterleben der Lust oder Unlust in der intermonadischen Kommunikation kann der Zeitpunkt seinen Sinn in der intermonadischen Kommunikation haben. Genauso wie die Zeitlichkeit kann die »objektiv«- wissenschaftliche Einsicht der Räumlichkeit eines bestimmten Gegenstandes, wie etwa die Extension des Teddybären, nur dann ihre volle Bedeutung gewinnen, wenn der gewünschte Teddybär vom Baby mit Freude genommen wird. Die Identität zwischen der Oberfläche der Hand des Babys und der berührten Oberfläche des Teddybären kann nur entstehen, wenn der gewünschte, in der Protention intendierte Teddybär durch das Miterleben der Freude wechselseitig bestätigt wird. Der ursprüngliche Sinn der gemessenen Räumlichkeit kann nur in der intermonadischen Kommunikation liegen.

§ 9. Die Genesis der Sprache in der intermonadischen, emotionalen Kommunikation Erst auf der Basis der intermonadischen Konstitution des durch die Triebintentionalität mitintendierten Gegenstandes kann das poten283 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

zielle, implizite Vermögen des Sprechens entwickelt werden. Während der Situation, in der das Baby seine Hand in Richtung des Teddybären und der Milchflasche ausstreckt, erwidert die Mutter diese Handlung meist mit den Dingen entsprechenden einfachen Wörtern wie »Teddy?« oder »Milch?«. Hier ist klar, dass die Identifizierung des Gegenstandes in der Wahrnehmung der Bezeichnung dieses Gegenstandes vorhergeht. Ohne die Identifizierung des Gegenstandes in der gemeinsamen Wahrnehmung zwischen Mutter und Kind erhält die Bezeichnung, sei es »Teddy« oder »Milch«, keinen Sinn. Die Tragweite der emotionalen Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind in der ersten und zweiten Person wird durch die Identifizierung eines Gegenstandes zwischen den beiden in die »Welt der dritten Person« erweitert. Die Entstehung der Welt der Dritte-Person-Perspektive durch die Ich-Du-Perspektive ist von entscheidender Bedeutung, die schließlich auf die Quelle des Paradoxes der »menschlichen Subjektivität« durch die Zeitigung verweist. Um die Genesis der Sprache zu thematisieren, ist es notwendig, diesen Entstehungsprozess genauer zu analysieren. 1)

Die Wiederholung eines bestimmten Wortes und die Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Kinästhese

Die ständige Wiederholung der Mutter, den Teddybären als »Teddy« zu bezeichnen, bedeutet für das Baby die ständige Wiederholung der Gegebenheit, die der Verbindung zwischen den visuellen Empfindungen und den akustischen Empfindungen beim Aussprechen des Wortes »Teddy« entspricht. Nach der Entwicklung der einzelnen visuellen und akustischen Empfindungsfelder bildet die assoziative Verbindung beider Empfindungsfelder die wechselseitige assoziativ-intentionale Weckung zwischen der visuellen und der akustischen Empfindung »Teddy«. Die affektive Kraft dieser Weckung wird durch die Wiederholung dieser assoziativen Synthesis verstärkt, die aber nicht mechanisch, wie bei Hume, sondern intentional als passive Intentionalität der Retention und Protention verstanden werden muss. a) Die Entwicklung der einzelnen Empfindungsfelder bedeutet, dass die einzelne Leergestalt eines bestimmten Empfindungsfeldes gebildet wird. Wenn die Assoziation der visuellen und akustischen Empfindungsfelder durch die Steigerung der affektiven Kraft verstärkt wird, entsteht das Phänomen des Fehlens eines bestimmten 284 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Assoziationsglieds, das als die Leergestalt des bestimmten Assoziationsglieds urbewusst wird. Etwa wenn das Baby – nach der Entwicklung der einzelnen Empfindungsfelder – seine Hand in Richtung des Teddybären und der Milchflasche ausstreckt, kann die Mutter das Baby gezielt mit den Worten »Milch?« oder »Teddy?« fragen. Wenn die assoziative Verbindung zwischen der visuellen und der akustischen Empfindung stark genug ist, fällt es dem Baby nicht schwer, die Erfüllung und Nicht-Erfüllung der von der visuellen Empfindung geweckten akustischen Empfindung zu unterscheiden. Die Assoziation zwischen der visuellen und der akustischen Empfindung ist so eindeutig, dass ihm der Unterschied zwischen Erfüllung und NichtErfüllung der visuell geweckten, in der Protention intendierten akustischen Empfindung »Teddy« unmittelbar urbewusst ist. Bei der Nicht-Erfüllung der akustischen Empfindung »Teddy« wird die Leergestalt der akustischen Empfindung »Teddy« hervorgehoben, wodurch die affektive Kraft der Leergestalt der akustischen Empfindung »Teddy« immer stärker wird. b) Die Artikulation der Sprache beim Kleinkind setzt das Vermögen der aktiven Kinästhese beim Aussprechen voraus. Es ist auch genetisch klar, dass die passive, instinktive Kinästhese der aktiven Kinästhese vorausgeht. Nicht nur die Leergestalt der Kinästhese, sondern auch alle anderen Leergestalten der Empfindungsfelder entstehen aus der passiven Genesis der assoziativen Synthesis der ursynästhetischen Empfindungsfelder. Ohne Bildung der Leergestalt ist das Urbewusstsein jeder Empfindung, also die Anschauung jeder Empfindung nicht möglich. Der aktiven Kinästhese bei der Artikulation der Sprache geht demnach die passive Kinästhese beim wechselseitigen Nachahmen der vorsprachlichen Lautäußerungen zwischen Mutter und Baby voraus. Die passive, instinktive Kinästhese, die erst nach dem Vollziehen der unwillkürlichen Körperbewegung urbewusst wird, wird bei der willentlichen Bewegung als Protention der aktiven Kinästhese vollzogen. Wie sieht dieser Prozess aus? c) Das mehrmals erwähnte Beispiel der plötzlichen Bremsung eines Zuges zeigt, dass die passiv-vorbewusste Retention der passivinstinktiven Kinästhese als die vorbewusste Protention derselben Kinästhese, nämlich als Leergestalt der passiven Kinästhese, passiv intendiert und nachträglich ins Urbewusstsein derselben Kinästhese gebracht wird. Das geschieht alles auf der Ebene der passiven, vorichlichen Kinästhese. Aber die aktive Kinästhese (bei einer willentlichen Körperbewegung) kann nur als aktive Intentionalität fungie285 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

ren (wie etwa die mit Ich-Aktivität verbundene Intentionalität der Wiedererinnerung, des Erwartens, der absichtlichen Bewegung, der Wahrnehmung, des Urteilens, des Sprechens, des Willens etc.). 2)

Das Phänomen der Nachahmung

Als Beispiel für den Übergang von der passiven zur aktiven Kinästhese lässt sich das Phänomen des wechselseitigen Nachahmens der vorsprachlichen Lautäußerung zwischen Mutter und Kleinkind anführen: Wenn die Mutter eine bestimmte Lautäußerung des Kleinkindes leicht ändert, indem sie etwa eine bestimmte Stelle erhöht ausspricht, kann das Baby die erhöhte Stimme nachahmen. Die Nachahmensfähigkeit des Kleinkindes ist in der Tat erstaunlich. Ob höher oder tiefer, leiser oder lauter, schneller oder langsamer, alle Variationen der Nachahmung sind möglich. Die Bedingungen hierfür sind zahlreich. Die von der Mutter gemachte Erhöhung wird vom Kind gehört, retiniert und gleichzeitig in die Protention derselben Erhöhung gebracht bzw. als Protention intendiert. Die Protention der erhöhten Stimme impliziert aber nicht nur die erhöhte Stimme als solche, sondern die Art und Weise, wie diese erhöhte Stimme erzeugt wird, d. h., auf welche Weise die erhöhte Stimme geäußert wird und von welcher Kinästhese sie begleitet ist. Der lauteren Stimme entspricht eine stärkere Kinästhese, die bei der Äußerung vom Baby empfunden wird. Die schwächere Kinästhese entspricht der leiseren Stimme. Die Assoziationskette zwischen der stärkeren Stimme (akustischen Empfindung) und der stärkeren Kinästhese wird gebildet, ebenso die zwischen der schwächeren Stimme und der schwächeren Kinästhese. Alle solche Assoziationen sind als retinierte, implizite Intentionalitäten im Vergangenheitshorizont am Werk. Also wird das Nachahmen der variierten Lautäußerung dadurch möglich, dass die akustische Empfindung der erhöhten Lautäußerung die implizite Assoziationsverbindung zwischen der erhöhten Lautäußerung und der entsprechend geänderten Kinästhese weckt. Diese geweckte Assoziation motiviert die modifizierte Wiederholung der Lautäußerung, um die gerade so retinierte und in derselben Protention intendierte Assoziationsverbindung zu erfüllen. a) Die Nachahmung als eine modifizierte Wiederholung ist mit der bloßen Wiederholung der eigenen vorsprachlichen Lautäußerung des Kleinkindes zu vergleichen. Bei dieser Wiederholung geschieht auch oft von selbst eine Änderung der Lautstärke etc. Die Nach286 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

ahmung der von der Mutter modifizierten Lautäußerung ist als die vom Kind erlebte Erweiterung der modifizierten eigenen vorsprachlichen Lautäußerung zu verstehen. Für das Kleinkind bedeutet die Nachahmung der modifizierten Lautäußerung die Wiederholung der selbsterzeugten modifizierten Lautäußerung, die eigentlich die von der Mutter erzeugte Modifikation ist. Die Grenze zwischen der Nachahmung der von Anderen modifizierten Lautäußerungen und der bloßen Wiederholung der eigenen, selbstmodifizierten Lautäußerung ist für das acht Monate alte Kleinkind fließend. Aber wenn die Leergestalt der Null-Kinästhese fest gebildet wird, fängt die Entwicklung der Leibzentrierung des Kleinkindes an, aus der die eigene Kinästhese der aktiven Intentionalität zu fungieren beginnt. Bei der bloßen Wiederholung der eigenen Lautäußerung bedarf es nur des instinktiven Vermögens der Lautäußerung, das von der passiven Kinästhese begleitet wird. Aber nach der Entwicklung der Leibzentrierung, die durch das Urbewusstsein der Null-Kinästhese im eigenen Leib entsteht, ergibt sich die Möglichkeit, den gewünschten Teddybären »Teddy« zu nennen. Hier lassen sich zwei Unterscheidungen zwischen insgesamt drei Stufen der Nachahmung der vorsprachlichen Lautäußerung des Kleinkindes treffen. Die erste Unterscheidung betrifft die zwischen der unbewussten, passiven Nachahmung und der urbewussten, aber noch nicht aktiv fungierenden Nachahmung. Die zweite Unterscheidung betrifft die Differenz zwischen dieser urbewussten Nachahmung und der bewussten, aktiven Nachahmung durch eine IchAktivität. Bei der urbewussten Nachahmung ist das Urbewusstsein der Null-Kinästhese am Werk. Das heißt, die passive, instinktive Kinästhese ist bei der instinktiven Wiederholung und Nachahmung der eigenen oder fremden vorsprachlichen Lautäußerung urbewusst. Bei der bewussten, aktiven Wiederholung und Nachahmung der vorsprachlichen oder sprachlichen Lautäußerung ist jedoch die Wandlung von der unbewussten Retention und Protention zur bewussten Retention und Protention festzustellen. Die bewusste Retention und Protention ist nichts anderes als das Bewusstsein der inhaltsgleichen, unbewussten Retention und Protention. Im Prozess des Bewusstwerdens wird die Zuwendung des Ichs durch den Grad der affektiven Kräfte der Motivation begrenzend bestimmt. b) Die Genesis der Sprache ist demnach zusammenfassend auf folgende Weise darzustellen: Das Urbewusstsein von der Null-Kinästhese ist ein entscheidender Schritt zur aktiven Kinästhese. Das be287 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

wusste Nachahmen des Wortes »Teddy« wird auf der Basis der unbewussten Nachahmung der vorsprachlichen Lautäußerung ermöglicht. Dabei spielt die Wandlung von der unbewussten Protention der unbewussten Lautäußerung und akustischen Empfindung zur bewussten Protention und ihrer Erfüllung der bewussten Lautäußerung und akustischen Empfindung eine wichtige Rolle. Wenn der Teddybär von der Mutter oft wiederholt als »Teddy« bezeichnet wird und somit die Assoziation zwischen der visuellen Empfindung und der akustischen Empfindung »Teddy« fest gebildet wird, weckt die visuelle Empfindung des Teddybären beim Baby die akustische Empfindung »Teddy« als die nicht-erfüllte akustische Empfindung, die dem leeren Assoziationsglied entspricht. Wenn das Kleinkind mit dieser Voraussetzung seinen Teddy auf einem Tisch sieht und ihn nicht greifen kann, fordert es seine Mutter auf, ihn zu holen, indem es »Teddy« ruft. Das Rufen von »Teddy« ist eine aktive, bewusste Nachahmung, die das passive Nachahmen voraussetzt.

§ 10. Die aktive Genesis der intersubjektiven Objektivität der Wissenschaft Die Begründung der Intersubjektivität mittels der passiven Genesis wurde in der bisherigen Beschreibung vollzogen. Andererseits wird in der Theorie der Einfühlung der Einfühlungsbegriff zweistufig begründet: Auf der ersten Stufe der »passiven, uneigentlichen Einfühlung« wird die intermonadische Leiblichkeit durch die Paarung der passiven Synthesis konstituiert. Auf der höheren Stufe der »aktiven, eigentlichen« Einfühlung wird die intersubjektive Kommunikation durch die aktive Synthesis des sprachlichen Verständnisses, der willentlichen Entscheidung in den sozialen Institutionen, der wissenschaftlichen Forschung etc. konstituiert. Die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung kann nur auf Basis der Begründung der Objektivität der Gegenständlichkeit in der intermonadischen Welt durch die höhere, aktive Einfühlung transzendentalphilosophisch begründet werden. Unten wird der Prozess dieser Begründung ausführlich dargestellt. Dadurch wird gezeigt, dass die aktive Genesis der Objektivität der Wissenschaft zuerst nur intersubjektiv-phänomenologisch, nicht aber empirisch oder naturalistisch begründet werden kann.

288 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

1)

Die Entwicklung der aktiven Intentionalität der Wahrnehmung und Wiedererinnerung

Die passive Genesis der »objektiven« Raumzeitlichkeit gründet in der interemotionalen Übereinstimmung der Vereinigung zwischen Mutter und Kind. Ein für beide gemeinsamer Gegenstand entsteht in der gemeinsamen Gegenwart und der leiblich-emotionalen Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind. Aber durch die Entwicklung der aktiven Intentionalität der Wahrnehmung und Wiedererinnerung können Kinder Sprechen und Rechnen lernen. Zunächst ist die Bedingung für das Lernen der Sprache zu thematisierten. a) Wenn ein Kind seinen Teddy sieht und ihn nicht erreicht, kann es zur Mutter »Teddy« sagen, damit es ihn bekommt. Das Wort »Teddy« wird, wenn das Kind den Teddybären sieht, wiedererinnert. Diese Wiedererinnerung setzt die assoziative Verbindung zwischen den visuellen und akustischen Empfindungen, die bei der mütterlichen Äußerung des Wortes »Teddy« hergestellt wurde, voraus. Die Wiedererinnerung ist natürlich von der Triebintentionalität, den Teddy zu greifen und mit ihm zu spielen, stark motiviert. Die Assoziation der visuellen, akustischen und haptischen Empfindungen vom Teddy hat die dem Triebinteresse des Kindes entsprechende affektive Kraft, die sich unter den anderen affektiven Kräften der koexistierenden Gegenstände hervorhebt. Die Zuwendung des Kindes zum Teddy (Träger dieser affektiven Kräften) veranlasst die Wiederholung der Äußerung »Teddy«, die die Erfüllung der Leervorstellung der aktiven Kinästhese bei der Äußerung des Wortes »Teddy« protentional intendiert. b) Schon beim Nachahmen der vorsprachlichen Lautäußerung hat das Kleinkind etwa die Verstärkung der Äußerung der Stimme instinktiv vollzogen. Nach der Bildung des Urbewusstseins der NullKinästhese, also der »bewussten« Kinästhese, die von den akustischen Empfindungen unterschieden wird, verfügt es über die bewusste assoziative Verbindung zwischen dem Assoziationsglied der Kinästhese und dem anderen Assoziationsglied der akustischen Empfindung. Es gewinnt das Bewusstsein von der Nicht-Erfüllung eines bestimmten Assoziationsglieds, also das Urbewusstsein von der Leergestalt der bestimmten Empfindung. Durch die Wiederholung und Erfüllung des Urbewusstseins von Leergestalten einzelner Empfindungen wird etwa die passive, instinktive Kinästhese bei der instinktiven Bewegung zur bewussten Kinästhese bei der bewussten Bewegung. Die 289 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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unbewusste Modifikation der Äußerung der Stimme wird als die bewusste Modifikation der Äußerung vollzogen. Die unbewusste Nachahmung der Äußerung »Teddy« wird zur bewussten Nachahmung der Äußerung »Teddy«. c) Das Verhältnis zwischen der unbewussten und der bewussten Nachahmung entspricht dem Verhältnis zwischen der unbewusst-assoziativen Erinnerung und der aktiven Wiedererinnerung. In der Wiedererinnerung wird immer das, was irgendwann in der Vergangenheit unbewusst oder bewusst empfunden bzw. wahrgenommen wurde, bewusst wiedererinnert. Das Fundierungsverhältnis der lebendigen Gegenwart aller Empfindungen und Wahrnehmungen ist das zwischen der passiven und der aktiven Intentionalität: Die passive Intentionalität geht der aktiven Intentionalität voran. In diesem Sinne geht die unbewusste assoziative Nachahmung der aktiven Nachahmung voran. Das Fungieren der aktiven Intentionalität setzt wiederum die Zuwendung des Ich-Pols voraus. Die intermonadische, interemotionale Triebintentionalität bleibt dabei immer als eine ursprüngliche Quelle der affektiven Kräfte, durch die die intermonadische Zeitigung bestimmt wird, bestehen. 2)

Das Zählen eines wahrgenommenen Gegenstandes

Für das Lernen des Zählens ist die Wahrnehmung eines Gegenstandes vorausgesetzt. Erst wenn ein Gegenstand als etwas Bestimmtes, als noematischer Sinn wahrgenommen wird, ist es möglich, dieses Etwas als ein Etwas zu zählen. Wenn man dieses Etwas, z. B. eine Erdbeere, zählen möchte, darf man sie nicht mit einem Apfel verwechseln. Beim Zählen eines bestimmten Gegenstandes ist die Identität dieses Gegenstandes, die bei der Wahrnehmung des Gegenstandes festgelegt wird, immer beibehalten. Die Betrachtung über die Entstehung der intermonadischen Objektivität der Raumzeitlichkeit hat gezeigt, dass sich die passive Genesis der »Objektivität« des bestimmten Gegenstandes durch die intermonadische, interemotionale Übereinstimmung zwischen Mutter und Kleinkind vollzieht. Die aktive Genesis der Objektivität eines Gegenstandes besteht aber in der durch die Sprache vermittelten Objektivität des Gegenstandes, die wiederum auf der Basis der Objektivität der Übereinstimmung der intermonadischen Kommunikation beruht. Also werden für das Zählen eines bestimmten Gegenstandes und damit einhergehend ganz allgemein für das Rechnen die durch 290 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Sprache vermittelte, intersubjektive Objektivität sowie die intermonadische Kommunikation vorausgesetzt. Wenn diese notwendige Voraussetzung vergessen wird, ergibt sich die Gefahr der anschließend zu thematisierenden Idealisierung der Mathematik, die mit der platonischen Auffassung der Mathematik eng verbunden ist. Die Idealisierung der Mathematik, die Husserl in Galileis Mathematisierung der Natur feststellt, ist die »Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt« (Hua VI, 49). Die Gegründetheit der Objektivität der Wissenschaft in der aktiven Intersubjektivität ist im Zusammenhang mit der Gefahr der Mathematisierung der Lebenswelt, die im Vergessen der Voraussetzung der passiven Intersubjektivität der Lebenswelt für die aktive Intersubjektivität der wissenschaftlichen Aktivität in der Lebenswelt besteht, zu thematisieren.

§ 11. Vergessenheit der passiven Intersubjektivität und die Mathematisierung der Lebenswelt Bisher wurde die stufenweise Entwicklung der passiven und der aktiven Intersubjektivität hinsichtlich der genetischen Phänomenologie dargestellt. Nun wird es meine Aufgabe sein, das Verhältnis zwischen der passiven und der aktiven Intersubjektivität in Bezug auf die Lebenswelt zu erhellen. Wie bereits erwähnt, entspricht diese Entwicklung keinem selbstentwickelnden Prozess, der in sich die Unterstufe der passiven Intersubjektivität als bloß potenzielle Vorstufe für die höhere aktuelle Stufe der aktiven Intersubjektivität umfasst. Also übersieht der Idealismus, der die Potenzialität der Idee bloß als eine Vorstufe für die aktuelle Verwirklichung der Idee ansieht, die intermonadische Entwicklung in Husserls monadischer Phänomenologie. Diese lässt sich nur hinsichtlich des richtigen Verhältnisses der passiven und der aktiven Intentionalität bzw. Synthesis erklären. Daher ist es klar, dass die Stufe der passiven Intersubjektivität der Stufe der aktiven Intersubjektivität vorausgeht und für diese die Voraussetzung bildet. Dies entspricht nämlich dem Grundsatz des Fundierungsverhältnisses zwischen Passivität und Aktivität. Die Schwierigkeit, dieses Fundierungsverhältnis der Entwicklung der intermonadischen Phänomenologie Husserls zu verstehen, 291 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

hängt eng mit der Schwierigkeit zusammen, das transzendentale Apriori der passiven Intersubjektivität, die transzendentale Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion, zu verstehen. Ohne korrektes Verständnis der passiven Synthesis lässt sich auch die aktive Synthesis nicht verstehen. In diesem Paragraphen wird der Zusammenhang zwischen (1) dem Verhältnis der passiven und der aktiven Intersubjektivität und (2) dem Verhältnis zwischen dem Apriori der Lebenswelt, das in sich das Apriori der passiven und dasjenige der aktiven Intersubjektivität einschließt, und der Idee der Objektivität der Naturwissenschaft und Mathematik, die zum Bereich der aktiven Intersubjektivität gehören, in Bezug auf Husserls Kritik an der »Mathematisierung der Lebenswelt« untersucht. Dies wird zeigen, welchen Stellenwert die Intersubjektivität in der monadologischen Phänomenologie Husserls hat. 1)

Das Verhältnis zwischen der passiven und aktiven Intersubjektivität und das Verhältnis zwischen dem Apriori der Lebenswelt und der Idee der Objektivität der Naturwissenschaft

Zunächst ist zu klären, wieweit eine Analogisierung zwischen den beiden Verhältnissen gelten kann. a) Husserls Einsicht über das letzte Fundierungsverhältnis zwischen dem lebensweltlichen und dem objektiv-logischen Apriori ist in folgendem Satz klar ausgedrückt: »Es bedürfte also einer systematischen Scheidung der universalen Strukturen: universales lebensweltliches Apriori und universales ›objektives‹ Apriori, und dann auch einer Scheidung der universalen Fragestellungen nach der Weise, wie das ›objektive‹ in dem ›subjektiv-relativen‹ Apriori der Lebenswelt gründet oder wie z. B. die mathematische Evidenz ihre Sinn- und Rechtsquelle in der lebensweltlichen Evidenz hat« (Hua VI, 143). Die hier genannte »universale Struktur« bezieht sich auf die »allgemeine Struktur« (Hua VI, 142) der Lebenswelt selbst, an die alles relativ Seiende gebunden ist, die aber nicht selbst relativ ist. Zwar wird hier die Scheidung der universalen Struktur festgehalten, aber wichtig ist insbesondere die Frage nach dem Wie der Begründung des objektiven Apriori durch das subjektiv-relative Apriori der Lebenswelt. Wie kann man überhaupt verstehen, dass die mathematisch-objektive Evidenz ihre Sinn- und Rechtsquelle in der subjektiv292 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

relativen, lebensweltlichen Evidenz haben kann? Was bedeuten das lebensweltliche Apriori und die lebensweltliche Evidenz eigentlich? b) Um sich dieser Frage anzunähern, ist die Unterscheidung zwischen dem vorlogischen Apriori der Lebenswelt und dem logischen Apriori der objektiven Logik aufschlussreich. 100 Die Aufgabe der Logik besteht darin, »zu erforschen, wie sie selbst zu begründen sei, also nicht mehr ›logisch‹, sondern durch Rückleitung auf das universale vor-logische Apriori, aus dem alles Logische, der Gesamtbau einer objektiven Theorie, nach allen ihren methodologischen Formen, seinen rechtmäßigen Sinn ausweist, durch welchen also alle Logik selbst erst zu normieren ist« (Hua VI, 144). 101 Die »Genealogie der Logik« – die als Aufgabe der genetischen Phänomenologie bestimmt wird – sowie die »transzendentale Logik« – die in Bezug auf »die aller aktiven Bewährung zugrunde liegende Unterstufe der passiven Bewährungssynthese« (Hua XI, 70) dargelegt wird – bilden für uns die Hauptaufgaben der bisherigen Erhellung der genetischen Phänomenologie. Das vorlogische Apriori bzw. die vorlogische Evidenz der Lebenswelt sind keine bloßen Schlagwörter oder eine metaphysische Festlegung, sondern die Art, wie dieses Apriori und diese Evidenz vorkonstituiert werden. Jenes wurde in der transzendentalen Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion der passiven Synthesis hinsichtlich der intermonadischen Zeitigung und Kommunikation ausführlich analysiert und dargestellt. c) Das Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und der aktiven Synthesis in der transzendentalen Logik kann die Grenze der Mathematisierung der »sinnlichen Qualitäten der Körper« (Hua VI, 32) prinzipiell klar zeigen. Die reine Mathematik und Mathematisierung gehört der Stufe der aktiven Synthesis an. Die Genesis der sinnlichen Qualitäten der Empfindungsfelder gründet in der Bildung der »leeren Gestalten« der passiven Synthesis in der intermonadischen, interemotionalen Urkommunikation zwischen Mutter und Baby. Dieser Bereich der passiven Synthesis wird auch als eine »neue Dimension« (Hua VI, 120) bezeichnet: »Anfänge neuer Dimensionen der Zeitigung bzw. der Zeit mit ihrem Zeitinhalt« (Hua VI, 172). Es 100 Vgl. dazu die Frage »nach der Weise, wie die Lebenswelt beständig als Untergrund fungiert, wie ihre mannigfachen vorlogischen Geltungen begründende sind für die logischen, die theoretischen Wahrheiten« (Hua VI, 127). 101 Zur Rückbezogenheit auf das lebensweltliche Apriori: »[A]lles objektive Apriori, in seiner notwendigen Rückbezogenheit auf ein entsprechendes lebensweltliches Apriori. Diese Rückbezogenheit ist die einer Geltungsfundierung« (Hua VI, 143).

293 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

ist völlig klar, dass die Dimension der Zeitigung nur durch die Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion der passiven Synthesis, aber niemals durch die aktive Synthesis der Mathematik erhellt werden kann. Also wird die Grenze der Mathematisierung des lebensweltlichen, vorlogischen Apriori am Phänomen der passiven Vorkonstitution der Zeitigung und der sinnlichen Qualitäten, deren Genesis in der intermonadischen Vorkonstitution liegt, deutlich gezeigt. In diesem Sinne gilt auch die Analogie zwischen (1) dem Fundierungsverhältnis der passiven und aktiven Synthesis und (2) dem des lebensweltlichen, vorlogischen Apriori und objektiven, logischen Apriori. 2)

Die Grenze der Mathematisierung der Lebenswelt

Die Grenze der Mathematisierung der Lebenswelt zeigt sich durch die Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Intersubjektivität sehr deutlich. Die aktive Synthesis der Mathematik setzt die passive Synthesis der Zeitigung voraus. Das kommt daher, dass die aktive Intersubjektivität, in der allein jede aktive Synthesis fungiert, die passive Intersubjektivität, aus der jede passive Synthesis entsteht, voraussetzt. Es ist besonders zu betonen, »daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist« (Hua VI, 175). Wenn die hierbei zentrale Unterscheidung und das Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und der aktiven Intersubjektivität übersehen werden, wird die Grenze der Mathematisierung der Lebenswelt unklar. a) Die Lebenswelt ist hinsichtlich der Schichtenstruktur der passiven und aktiven Intersubjektivität zu verstehen. Daher hat auch das Apriori der Lebenswelt zwei Schichten: das Apriori der passiven und das Apriori der aktiven Intersubjektivität. Zum ersten Apriori gehört die passive Synthesis der Assoziation, zum zweiten Apriori die aktive Synthesis der aktiven Intentionalität. Aber diese zwei Schichten haben zwei verschiedene Quelle der Leistung der transzendentalen Subjektivität. Das Apriori der aktiven Synthesis stammt nicht aus dem Apriori der passiven Synthesis selbst. Andererseits ist das Apriori der passiven Intersubjektivität der Lebenswelt keine bloße Vorstufe des Apriori der aktiven Intersubjektivität. Es ist ein fatales Missverständnis, dass die passive Intersubjektivität bloß die Potenzialität der aktiven Intersubjektivität sei und auch dass die transzendentale Leistung der aktiven Intersubjektivität aus der Leistung der passiven Intersubjektivität stamme. Die Leistungen der passiven und der aktiven Intersubjektivität entstehen aus zwei unterschiedlichen Quellen. 294 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

b) Im Bereich der passiven Intersubjektivität ist der Dualismus von Geist und Natur bzw. von Subjekt und Objekt, der nur im Bereich der aktiven Intersubjektivität entstehen kann, noch nicht vorhanden. Die Frage der Überwindung des Dualismus entsteht erst, wenn die Dimension der aktiven Intersubjektivität vollzogen wird. Es gilt zu beachten, dass dieser Dualismus auch in der höchsten Aktivität der aktiven Intersubjektivität, der Ich-Du-Beziehung, überwunden wird, da die in der aktiven Intersubjektivität entstandene dualistische Spaltung zwischen Geist und Natur bzw. Subjekt und Objekt durch die vollständige, selbstlose Zuwendung zueinander überwunden wird. Die dualistische Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, die die Mathematik als aktive Synthesis voraussetzt, löst sich in zwei Richtungen auf: in die Richtung der passiven Intersubjektivität, in der dieser Dualismus noch nicht entstanden ist, und in die Richtung der aktiven Intersubjektivität der Ich-Du-Beziehung, in der er durch die selbstlose Zuwendung zum Du überwunden wird. c) Daher kann die Grenze der Mathematisierung der Lebenswelt sowohl hinsichtlich der passiven als auch hinsichtlich der aktiven Intersubjektivität betrachtet werden. Hinsichtlich der passiven Intersubjektivität ist klar, dass gerade wegen der Ich-Aktivität der Mathematik die aktive Synthesis der Mathematik die passive Vorkonstitution der passiven Synthesis zwar annehmen, aber diese selbst durch die unendliche Wiederholung der aktiven Synthesen der Mathematik nicht konstituieren kann. Hinsichtlich des Aspekts der höchsten aktiven Intersubjektivität der Ich-Du-Beziehung spielt die aktive Synthesis der Mathematik überhaupt keine Rolle. In der personalistischen Einstellung der Ich-Du-Beziehung zerstört die aktive Synthesis der Ich-Aktivität, ohne die die Mathematik überhaupt nicht vollzogen werden kann, die selbstlose Zuwendung zum Du.

§ 12. Die Integration der affektiven Übereinstimmung (»affect attunement«) Sterns in die genetische Phänomenologie An die Einsicht über das Verhältnis zwischen dem lebensweltlichen und dem objektiv-logischen Apriori ist die Frage nach der Integration der naturwissenschaftlichen Forschung in die genetische Phänomenologie Husserls anzuschließen. Der Entwicklungspsychologe D. N. Stern weist auf das Phänomen der intersubjektiven, affektiven Übereinstimmung in der Mut295 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

ter-Kind-Beziehung hin. Dies bedeutet auch eine radikale Wende in der herkömmlichen Psychologie: vom individuellen Subjekt hin zum intersubjektiven Ansatz. In der Untersuchung über die Genesis der Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie ist es eine wichtige Aufgabe, den neu entstandenen intersubjektiven Ansatz der Entwicklungspsychologie Sterns mit der genetischen Untersuchung der Phänomenologie zu vergleichen und die Möglichkeit zu zeigen, dass die Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie in die genetische Phänomenologie methodisch integriert werden können. Zunächst sind zwei wichtige Punkte hervorzuheben: »amodal perception« und »affect attunement«. 1)

Die »amodal perception« als die Ursynästhesie des Kleinkindes

Die »amodal perception« beim Kleinkind bedeutet, dass alle Impulse durch mehr Synapsen (im achten Monaten nach der Geburt ist die Zahl am höchsten) als bei Erwachsenen mit allen Sinnesfeldern der Großhirnrinde verbunden sind. Das heißt, dass Sinnesempfindungen noch keine bestimmte feste Modalität (visuell, akustisch usw.) haben, sondern ursynästhetisch fungieren. Die Bildung der Modalitäten der Sinnesfelder aus der Ursynästhesie der »amodal perception« wird vom »neural darwinism« 102 durch den Prozess der Reduktion und Selektion der Synapse erklärt. a) Die Bildung einzelner Sinnesfelder aus der Ursynästhesie des Kleinkindes wird zwar in der genetischen Phänomenologie Husserls selbst nicht ausführlich dargestellt, es gibt jedoch verschiedene Hinweise darauf. Besonders interessant ist, dass das Kind, wenn es unwillkürlich Laute äußert und die Mutter ähnliche Laute äußert, durch das Fehlen der dazugehörigen assoziativ geweckten Kinästhese bei der mütterlichen Äußerung die Nullkinästhese urbewusst hat. 103 Hierbei ist die Beschreibung der Verwirklichung des Urbewusstseins der Nullkinästhese wichtig, weil gerade darin erst die schon fungierende Ursynästhesie als »amodal perception« enthüllt werden kann. b) Die assoziative Verbindung zwischen dem Akustischen und dem Kinästhetischen beim Weinen der Säuglinge, die die gleiche 102 103

Vgl. dazu G. M. Edelman, Neural Darwinism. Vgl. Hua XV, 606; dazu die ausführliche Darstellung oben, S. 266.

296 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

Assoziation zwischen dem Akustischen und dem Kinästhetischen erleben und deshalb zu weinen anfangen, ermöglicht, das ansteckende Weinen der Säuglinge zu erklären. Die ursynästhetische assoziative Verbindung beim ansteckenden Weinen der Säuglinge ist als »amodal perception« (ohne modale Unterscheidung zwischen der inneren und äußeren Wahrnehmung) erklärbar. Aber dieses Erklärungsmodell kann allein keinen Beitrag für die Erhellung leisten, auf welche Weise die verschiedenen modalen Differenzen der Empfindungsqualitäten aus der »amodal perception« ins Bewusstsein des Kleinkindes gebracht werden. c) Gegenüber diesem Modell liefert Husserls Analyse des Urbewusstseins der Nullkinästhese eine weitreichendere Erklärung: durch die Erhellung der Bildung der Leergestalten der Empfindungsfelder in der paarenden assoziativ-passiven Synthesis. Nach dieser Analyse wird die Ursynästhesie des Kinästhetischen und Akustischen anlässlich des mütterlichen Nachahmens der unwillkürlichen Laute des Kindes in zwei Teile, das Kinästhetische und das Akustische, geteilt, gerade weil die assoziativ verschmolzene, gebildete Gestalt zwischen dem Kinästhetischen und dem Akustischen ohne Erfüllung der assoziativ geweckten hyletischen Momente des Kinästhetischen die Differenzierung zwischen der erfüllten akustischen Gestalt und der unerfüllten kinästhetischen Gestalt, nämlich der Nullkinästhese, hervorruft. d) Auf diese Weise wird die Bildung der Sinnesfelder in der genetischen Phänomenologie der Entwicklung der Monadengemeinschaft thematisiert. Wenn der neue Ansatz der Entwicklungspsychologie, die intersubjektive Entwicklung ins Zentrum zu stellen und als Ausgangspunkt die Ursynästhesie der »amodal perception« zu nehmen, ernst genommen wird, kann diese Forschung nicht auf dem Standpunkt der Außenbetrachtung verharren, sondern muss durch die phänomenologische Reduktion auf die apodiktische Evidenz der Zeit, Assoziation und Urstiftung in der zwischenmonadischen Entwicklung ihren wissenschaftstheoretischen Grundrahmen gewinnen. 2)

Das »affect attunement« und die intermonadische Urkommunikation des Gefühls

Die Übereinstimmung der dynamischen Bewegung der Gefühle zwischen Mutter und Kind, die von Stern »affect attunement« genannt wird, entsteht ständig und variationsreich in der vorsprachlichen Kommunikation zwischen den beiden. 297 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Wenn das Kind unwillkürliche Laute stärker und höher äußert, äußert auch die Mutter sich entsprechend stärker und höher. Diese kooperierende Änderung und Übereinstimmung beider Lautäußerungen betrifft auch den Rhythmus und die Zeitdauer. Dabei ist die dynamische Ursynästhesie von visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Sinnesvermögen zwischen Mutter und Kind vollständig am Werk. Nach Stern spielen dabei unbewusste oder bewusste kleine Abweichungen von der Übereinstimmung eine sehr große Rolle. Solche Abweichungen seitens der Mutter motivieren das Kind dazu, diese Abweichungen nachzuahmen. Als Beispiel für eine absichtliche Abweichung der Mutter gibt Stern folgende Situation: Wenn das Kind am Schnürsenkel eines Schuhs zu lutschen beginnt, fühlt seine Mutter zunächst das starke Interesse des Kindes mit, versucht dann aber sein Interesse auf ein anderes Objekt (etwa die Hände einer Puppe) zu lenken – was auch gelingt. Dabei ist es wichtig, dass die Übereinstimmung des Gefühls nicht zerstört, sondern eher gefördert wird. a) Die Frage ist, wie man diese dynamische, ständige Änderung der Übereinstimmung des Gefühls und die wechselseitige Ergänzung bzw. das Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind der Sache angemessen beschreiben kann. Wenn Stern das gesamte Verhalten der beiden lediglich von außen betrachtet und die Äußerung der Mutter in der Erste-Person-Perspektive – ihm zufolge »phänomenologisch« – hinzufügt und so die Intersubjektivität beider von außen messen zu können glaubt, gelingt ihm niemals die gesuchte Strenge der objektiven Wissenschaft, die gerade auf der transzendentalphänomenologisch begründeten Intersubjektivität beruht. Etwa ist die intersubjektive Gleichzeitigkeit bei der Übereinstimmung der Gefühle zwischen Mutter und Kleinkind nicht von außen, wie zwei gleichzeitige Funken in den Gehirnrinden beider, messbar. Vielmehr kann sie (streng wissenschaftlich) nur als eine – durch die intermonadische, wechselseitig weckende Triebintentionalität – gemeinsam, intermonadisch fungierende assoziative Zeitigung aufgefasst werden. Der Sinn der Gleichzeitigkeit stammt eigentlich aus der alltäglichen Lebenswelt, wo die Zeiterlebnisse nach dem Apriori der intermonadischen Zeitigung ständig entstehen. Wenn diese intersubjektiv erlebte Gleichzeitigkeit der intermonadischen, emotionalen Kommunikation aufgrund des Mangels an Exaktheit (im Sinne der Naturwissenschaft) als »unwissenschaftlich« beurteilt wird, zeigt sich der fatale Irrtum, der übersieht, dass die gemessene, objektive Zeit 298 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

von der intermonadischen Zeitigung in der passiven Intersubjektivität fundiert und von der aktiven Synthesis in der aktiven Intersubjektivität begründet wird. b) Das wirkliche Fungieren dieses intersubjektiven Zusammenwirkens zwischen Mutter und Kind zeigt sich in seiner negativen Form sehr deutlich: dort wo ein Mangel dieser intermonadischen Übereinstimmung des Mitfühlens das Menschwerden als intermonadisches Wesen notwendigerweise radikal verhindert. Stern führt das Beispiel einer an Schizophrenie leidenden Mutter an, die aufgrund ihrer zu starken Angst vor ihrer Umgebung ständig nur noch eifrig bestrebt ist, die dem Kind vermeintlich Schaden zufügenden Gegenstände in seiner Umgebung zu beseitigen. Somit kommt es zu keiner Zuwendung zum Kind selbst und auch zu keiner Übereinstimmung mit dem Gefühl des Kindes. Das Kind erlebt gar keine »intermonadische, instinktive Kommunikation« mit seiner Mutter. Nach der Beobachtung Sterns hat das Kind gar keine Chance, das eigene Gefühl als ein Gefühl zu bemerken und zu bestätigen, weil das Gefühl nur als intermonadische Zwischenaffektivität (»interaffectivity«) erlebt werden kann. So bleibt dem Kind ohne Übereinstimmung und Mitwirkung der intermonadischen Zwischenaffektivität nur die völlige Isolation übrig, die Stern als »pervasive feeling of aloneness« 104 bezeichnet. Ohne den intermonadischen Austausch der zwischenaffektiven Emotionen kann also der Mensch das Existieren des Menschen als Mit-Menschen nicht erleben. c) Sterns Beobachtung über das »affect attunement« kann die »intersubjectivity«, »interaffectivity« und »interintentionality« zwischen Mutter und Kind als beobachtbare Tatsachen bestätigen – jedoch ohne theoretische Begründung der Intersubjektivität selbst durch den Begriff der Evidenz der Phänomenologie. Für das »affect attunement« sind drei Funktionen zwischen den Eltern und dem Kind notwendig: (1) Die Eltern können das Gefühl des Kindes aus seinem Verhalten ablesen; (2) die Eltern ahmen nicht bloß das Verhalten des Kindes nach, sondern wählen das ihm entsprechende Verhalten, und (3) das Kind liest das Verhalten der Eltern nicht bloß als Nachahmung seines eigenen Verhaltens, sondern als ein Verhalten, das sich auf sein Verhalten bezieht. 105 Dies entspricht aber einer typischen Erklärung der klassischen Psychologie, die Mer104 105

D. N. Stern, The Interpersonal World of the Infant, S. 207. Vgl. a. a. O., S. 139.

299 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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leau-Ponty als für die Begründung der Intersubjektivität untauglich kritisiert hat. 106 Das »affect attunement« kann unter den folgenden Bedingungen in die monadische Entwicklung in der genetischen Phänomenologie integriert werden: (1) Zunächst muss geklärt werden, warum Stern immer noch am philosophisch unreflektierten Standpunkt der klassischen Psychologie festhält, dass die Psyche des Anderen analog dem Verhältnis zwischen meiner eigenen, inneren Psyche und meinem äußeren, physischen Körper aufgefasst wird. Der Grund liegt darin, dass Stern die philosophische Frage nach der Begründung der Intersubjektivität überhaupt nicht gestellt hat. Er hat zwar den Blickwinkel in der Entwicklungspsychologie vom individuellen zum intersubjektiven Standpunkt geändert, im Grunde bleibt er aber immer noch beim Standpunkt der naturwissenschaftlichen Beobachtung von außen, dem Standpunkt der dritten Person. Auch wenn Stern eine introspektive Beschreibung der ersten Person quasi als »phänomenologische Beschreibung« hinzufügt, ändert sich die wissenschaftstheoretische Grundbedingung für die Betrachtung über die intersubjektive Beziehung zwischen Mutter und Kind überhaupt nicht. (2) Wie bei allen naturwissenschaftlichen Forschungen üblich, wird bei der Untersuchung Sterns die wichtige Voraussetzung, dass die Objektivität der Zahl und der Terminologie, die bei solchen Untersuchungen gebraucht werden, immer in unserem intersubjektiven Alltag, nämlich in der uns vorgegebenen Lebenswelt, gebildet werden, übersehen. Ein typisches Beispiel hierfür bildet die oben besprochene »Gleichzeitigkeit« der emotionalen Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind, deren wirkliche Objektivität durch die gemessenen Zeitpunkte niemals bestimmt werden kann. Methodisch gesehen sollte, wie Varela sagt, die phänomenologische Reduktion der objektiven Raumzeitlichkeit der Naturwissenschaft auf das innere Zeitbewusstsein, das sich schließlich als durch die intermonadische Zeitigung vorkonstituiert erweist, die erste Aufgabe für die Naturwissenschaft darstellen. (3) Erst in der systematischen, universalen Wissenschaft der Philosophie, hier in der genetischen Phänomenologie, können die Forschungsergebnisse der einzelnen Wissenschaften, wie etwa der Entwicklungspsychologie, ihren Stellungswert gewinnen. Dabei spielt 106

Vgl. dazu M. Merleau-Ponty, Les relations avec autrui chez l’enfant, Kap. 1.

300 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

methodisch die Wesensschau in der statischen Phänomenologie eine wichtige Rolle. Die Untersuchungen der genetischen Phänomenologie ermöglichen durch die Methode des Abbaus die Hervorhebung der implizit wirkenden, verborgenen Schicht der Konstitution, die wiederum in den gesamten Zusammenhang der Konstitutionsschichten in der statischen Phänomenologie integriert wird.

§ 13. Die Integration der »Spiegelneuronen« in die genetische Phänomenologie Im Zusammenhang mit der Entwicklungspsychologie ist in diesem Paragraphen der Stellenwert der Entdeckung der »Spiegelneuronen« für die Thematik der Intersubjektivität zu klären. F. Esken versucht, Husserls Standpunkt der Intersubjektivität durch die Interpretation der Spiegelneuronen in der sogenannten »mindreading«-Debatte in den Kognitionswissenschaften zu überprüfen. 107 1)

Die »mindreading«-Debatte in den Kognitionswissenschaften

Im Bereich der Kognitionswissenschaften gibt es nach Esken den sogenannten »Theorie-Ansatz«, bei dem wiederum die »empirische Theorie-Annahme« (die sich die »naturwissenschaftlichen Theorien wie die Physik oder Geologie« zum Vorbild nimmt) von der »normativen Theorie-Annahme« (die auf normativen Interpretationszusammenhängen und den Rationalisierungszuschreibungen beruht) unterschieden werden kann. So wie Esken selbst kritisch die beiden Theorie-Ansätze als »das Elend des Begriffssalats in den Kognitionswissenschaften« 108 bezeichnet, kann dieser Theorie-Ansatz gegenüber Merleau-Pontys Kritik an der Lehre der herkömmlichen, »klassischen Psychologie« nicht standhalten. Die herkömmliche, klassische Psychologie setzt den Dualismus von Leib und Seele ontologisch und erkenntnistheoretisch voraus und versucht, die Intention der Handlung des Anderen entweder allein durch die Beobachtung der kausalen Zusammenhänge der äußeren Ähnlichkeit der Bewegungen des eigenen und des ande107 Vgl. F. Esken, Spiegelneuronen: Die neurobiologische Antwort auf das Intersubjektivitätsproblem, die Husserl noch nicht kannte?, S. 72–107. 108 Vgl. a. a. O., S. 87 f.

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ren Körpers oder durch die Verbindung zwischen der äußeren Bewegung und der sprachlichen Äußerung des Anderen zu fassen. In Bezug auf Merleau-Pontys Kritik ist zu betonen, dass einer der Entdecker der Spiegelneuronen, Rizzolatti, behauptet, die Spiegelneuronen fänden, philosophisch gesehen, in der Lehre der intersubjektiven Zwischenleiblichkeit Merleau-Pontys ihre Entsprechung. 109 2)

Eskens Interpretation der »Paarungsassoziationen«

Esken vergleicht den dem Theorie-Ansatz gegenüberstehenden »Simulations«-Ansatz mit Husserls Lehre der Einfühlung in den »Cartesianischen Meditationen«. Dabei interpretiert er Husserls Analyse der »Paarungsassoziationen« in zwei Schritten: »1. Schritt: Ich werde durch das Gebaren des anderen Körpers an meinen eigenen Körper erinnert. Die Ähnlichkeit dieses Gebarens motiviert die analogisierende Auffassung. 2. Schritt: In der analogisierenden Auffassung erfasse ich den anderen Körper als anderen Leib. Unsere Frage lautet: Wie ist Schritt 2 möglich?« 110 In dieser – im Grunde der herkömmlichen, von Merleau-Ponty kritisierten klassischen psychologischen Auffassung nahestehenden – Interpretation finden sich verschiedene problematische Stellen, die mit der bisherigen Darstellung der genetischen Analyse der Intersubjektivität konfrontiert werden müssen. a) Zunächst ist deutlich zu merken, dass diese Analyse der Paarung als der wechselseitigen, assoziativen, passiven Synthesis überhaupt nicht entsprechen kann. Wie oben ausführlich begründet, fungiert die Paarung als die passiv-assoziative Synthesis, in der die assoziative Verbindung zwischen der visuellen, äußerlichen Empfindung und der kinästhetischen, inneren Empfindung simultan am Werk ist. b) Diese Simultaneität der Paarung der Zwischenleiblichkeit widerspricht der Teilung in zwei aufeinanderfolgende Schritte. In der Bestimmung des ersten Schrittes ist es, wie Esken selber sagt, völlig unverständlich, auf welche Weise die Ähnlichkeit des äußeren Gebarens des anderen Körper die analogisierende Auffassung des äußeren Gebarens des eigenen Körpers überhaupt motivieren kann. Bei 109 110

Vgl. G. Rizzolatti, C. Sinigaglia, Empathie und Spiegelneuronen, S. 148 (jap.). F. Esken, Spiegelneuronen, S. 82.

302 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

der Beobachtung des Gebarens des anderen Körpers kann ich das äußere Gebaren des eigenen Körpers natürlich nicht sehen. Dies ist also, wie Esken sagt, nur durch meine Erinnerung an meinen eigenen Körper möglich. Aber die Paarung der passiven Synthesis ist natürlich keine Erinnerung, die zur aktiven Synthesis der aktiven Intentionalität des Bewusstseinsaktes gehört. Zwar kann meine Wahrnehmung des Gebarens des anderen Körpers die Erinnerung an meinen eigenen Körper motivieren. Aber die Intentionalität der Wahrnehmung und der Erinnerung gehört nur mir selbst – weshalb es keine Möglichkeit gibt, das Gebaren des anderen Körpers und das des eigenen Körpers zu unterscheiden, weil meine Wahrnehmung des anderen Körpers und meine Erinnerung an den eigenen Körper keinen Zugang zu der Andersheit des Anderen, nämlich der Wahrnehmung und Erinnerung des Anderen, die den anderen Leib gerade zum anderen Leib macht, hat. c) Diese Schwierigkeit, die aus der Annahme der dualistischen Auffassung der äußeren Körperlichkeit des anderen und der inneren, kinästhetischen Leiblichkeit des anderen Leibs stammt, wirft auch eine weitere Frage auf: Wie kann die visuelle Erscheinung des anderen, äußeren Körpers als der andere Leib mit kinästhetischen, inneren Empfindungen aufgefasst werden? Es ist kein Wunder, dass Esken keine Lösung für diese Frage finden kann, gerade weil die Teilung in zwei Schritte für die Analyse der paarenden assoziativen Synthesis untauglich ist. Und auch die Frage selbst ist eine unsachgemäße, die sich nur aus der dualistischen Annahme ergibt. d) Die simultane wechselseitige Weckung der passiv-assoziativen Synthesis der Paarung zwischen der visuellen und der kinästhetischen Empfindung vollzieht sich bereits vor der Zuwendung der Ich-Aktivität. Die bewusste Wahrnehmung des anderen Leibs – die nach Esken die Wahrnehmung des anderen Körpers und die Erinnerung an den eigenen Körper in einem ersten Schritt und die analogisierende Auffassung des anderen Körpers als des anderen Leibs in einem zweiten Schritt voraussetzen sollte – ist in Wirklichkeit bloß das bereits vollzogene Endergebnis der passiv-assoziativen Synthesis der Paarung.

303 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

3)

Paarung als simultane Vereinheitlichung zwischen visuellen und kinästhetischen Empfindungen

Hier ist nochmals die Paarung in Bezug auf die Gleichursprünglichkeit und Differenz zwischen dem eigenen und dem anderen Leib (die bei der Untersuchung der Spiegelneuronen völlig unerklärbar bleiben) in Betracht zu ziehen. Die Paarung entsteht simultan zwischenleiblich. Das heißt, eine Vereinheitlichung zwischen visuellen und kinästhetischen Empfindungsdaten kann ohne andere Vereinheitlichung zwischen visuellen und kinästhetischen Empfindungsdaten nicht entstehen. »Simultan« bedeutet das gleichzeitige Entstehen zweier Vereinheitlichungen. Dennoch entsprechen sie keiner einzigen Vereinheitlichung in »meinem« gleichen Leib. Mein Leib und der andere Leib sind natürlich verschieden. Ich kann die kinästhetische Empfindung in meinem Leib unmittelbar erfahren, aber die in einem anderen Leib nicht. Diese asymmetrische passive Synthesis ist durch die Analyse der oben gezeigten Urstiftung des retentional-protentionalen Urbewusstseins von der Null-Kinästhese erklärbar. Die Urstiftung der passiven Synthesis zwischen der akustischen und der kinästhetischen Synthesis ist durch das Urbewusstsein von der Null-Kinästhese, also durch die Verselbständigung der Kinästhese als Null-Kinästhese, aus der ursynästhetischen Verschmelzung der »vor-akustischen und vor-kinästhetischen urassoziativen Synthesis« beschreibbar. Die Genesis der passiven Synthesis zwischen den visuellen und kinästhetischen Empfindungsqualitäten ist gleichfalls durch die Verselbständigung der visuellen und kinästhetischen Empfindung aus der Ursynästhesie des Säuglings erklärbar. a) Die Unterscheidung zwischen der erfüllten und der unerfüllten Kinästhese, die für die passive Synthesis des fremden Leibes eine entscheidende Rolle spielt, basiert auf der Bildung der selbständigen einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie. Wenn jemand mit seiner bereits differenzierten Empfindungsfeldern jemanden sieht, entsteht gleich die passive Synthesis zwischen den visuellen Empfindungen und den unerfüllten kinästhetischen Empfindungsdaten, während die passive Synthesis zwischen der erfüllten Kinästhese und den erfüllten visuellen Empfindungen nur beim eigenen Leib möglich ist. Also entsteht die passive Synthesis (zwischen der erfüllten visuellen Empfindung und der unerfüllten kinästhetischen Empfindung) aus der ursynästhetischen Einheit der »vor-visuellen« 304 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

und »vor-kinästhetischen« Empfindung, die zugleich als deren impliziter Horizont ständig mitvollzogen wird. b) Die Gleichursprünglichkeit des eigenen und des fremden Leibs besteht in diesem immer implizit wirkenden Horizont der Ursynästhesie. Die simultan entstehende Differenzierung des eigenen und des fremden Leibs wird zu dieser Differenz erst durch das Erfüllen oder Nicht-Erfüllen der Kinästhese, die als solche aus dieser Ursynästhesie entstanden ist. Also entsteht diese Differenz immer wieder vor dem Hintergrund der tiefen Schicht der gleichursprünglichen Ursynästhesie. Aber wie kann eine Differenzierung auf Basis der Gleichheit überhaupt simultan entstehen? Das ist prinzipiell durch die Sedimentierung der retentionalen Phasen auf der Querintentionalität der Retention möglich. Wie oben ausführlich dargestellt, 111 entsteht der Zeitinhalt immer durch die simultane, wechselseitige, assoziative Verschmelzung zwischen den immer neu eintretenden hyletischen Momenten und den retentional sedimentierten, impliziten passiven und aktiven Intentionalitäten im gegenwärtigen Vergangenheitshorizont. c) Auf der Entwicklungsstufe, in der die einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie gebildet werden, sieht das Kind schon den anderen Leib als den so konstituierten Leib, der aber ohne Vorgegebenheit der Kinästhese erscheint. Hier besteht die Schichtenstruktur der simultanen passiven Synthesis der Paarung darin, dass auf der tieferen Schicht der Ursynästhesie die Gleichursprünglichkeit beider Leiber begründet wird, während die höhere Schicht der Differenzierung – die die passive Synthesis zwischen der visuellen Empfindung und der erfüllten oder unerfüllten kinästhetischen Empfindung unterscheidet – durch die passiv-assoziative Synthesis der Ähnlichkeit und des Kontrasts simultan zur Verschmelzung des vorkonstituierten Zeitinhalts (entweder mit der erfüllten Kinästhese oder der unerfüllten Kinästhese) führt. 4)

Die Entwicklung der Spiegelneuronen durch den Bildungsprozess der einzelnen Empfindungsfelder

Durch die Erörterung der simultan wirkenden doppelten Schichtenstruktur der passiven Synthesis der Paarung wurde klar, dass Eskens 111

Vgl. oben, S. 86 f.

305 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Ansatz bloß innerhalb der aktiven Synthesis bleibt und die Analyse der passiven Synthesis dabei übersieht. Esken versuchte die Funktion der Spiegelneuronen anhand der »Simulationstheorie« und der Lehre der passiven Synthesis der Paarung philosophisch zu überprüfen. Was bedeutet der Misserfolg seiner Analyse für uns? Die Entdeckung der Spiegelneuronen hat eine große Bedeutung für die phänomenologische Untersuchung der intermonadischen Kommunikation. Wichtig und interessant ist die Frage nach der Entwicklung der Spiegelneuronen. Rizzolatti stellt fest, dass die »sensomotorischen« Verbindungen der Spiegelneuronen durch das Lernen des Kleinkindes stufenweise gebildet werden. 112 Wenn der neu eröffnete Problembereich der Entwicklung der Spiegelneuronen mit der phänomenologischen Untersuchung der Bildung der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie in einen Zusammenhang gebracht wird, eröffnet sich das neue Forschungsgebiet der Neurophänomenologie im Sinne Varelas. Ebenso zeigt V. S. Ramachandran einen engen Zusammenhang zwischen der Dysfunktion der Spiegelneuronen und der Empfindungsstörung beim Autismus. 113 Der enge Zusammenhang zwischen der Empfindungsstörung beim Autismus und dem Fehlen der passiven Synthesis der Paarung der Empfindungsfelder zeigt, dass der Forschungsbereich der Entwicklung der Spiegelneuronen durch den Bildungsprozess der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhesie bestimmt werden kann. 5)

Die Integration der Neurowissenschaft in die genetische Phänomenologie Husserls

Die Untersuchung der Entwicklung der Spiegelneuronen kann auf der erkenntnistheoretischen Basis der genetischen Phänomenologie der intermonadischen Kommunikation entfaltet werden. Es ist dabei wichtig, dass die theoretische Basis der genetischen Phänomenologie gegenüber den anderen theoretischen Standpunkten der Neurowissenschaft differenziert betrachtet wird. Diesbezüglich ist die Betrachtung Varelas über den Standpunkt der Neurophänomenologie interessant. Varela unterscheidet vier verschiedene Standpunkte der Neuro112 113

Vgl. G. Rizzolatti, C. Sinigaglia, Empathie und Spiegelneuronen, S. 116 f. (jap.). Vgl. dazu V. S. Ramachandran, Broken Mirrors: A Theory of Autism.

306 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

wissenschaft: »reductionism«, »functionalism«, »mysterianism« und »phenomenology«. 114 Der Reduktionismus behauptet, dass mentale Phänomene wie etwa das Bewusstsein auf die Funktion neuronaler Zellen reduziert werden können. Der Funktionalismus übernimmt die empiristische Annahme der realen Außenwelt, die nur äußerlich aus der Dritte-Person-Perspektive untersucht wird. Der Mysterianismus behauptet, dass das »hard problem of consciousness« prinzipiell nicht lösbar sei. Weil die ersten zwei Standpunkte dem Realismus angehören und der letzte Standpunkt dem Idealismus, lässt sich sagen, dass alle drei Standpunkten im dualistischen Denkschema der Alternative zwischen Realismus und Idealismus verhaftet sind. Gegenüber diesem dualistischen Denkschema präsentiert Varela seinen Standpunkt der Neurophänomenologie, der folgende Aspekte einschließt: a) Varela betont die Wichtigkeit der phänomenologischen Reduktion für die Analyse aller Sinngebungen in der Lebenswelt. Die Analyse entspricht aber natürlich keiner bloßen Metapher, sondern zielt auf die apodiktische und adäquate Evidenz der Anschauung ab. Schon diese zwei Punkte sind harte Prüfsteine für die herkömmliche Naturwissenschaft, die dahingehend befragt werden muss, ob die naturwissenschaftliche Untersuchung wirklich die reale Außenwelt in der objektiven Raumzeitlichkeit auf die unmittelbare Gegebenheit der Evidenz reduzieren kann. b) Die Wesensanschauung wird als phänomenologische Methode im Rahmen der statischen Phänomenologie dargestellt. Varela sieht die Invariante, die durch die Wesensanschauung und ihre Methode der freien Variation gewonnen wird, als für das Gewinnen eines intersubjektiven Verständnisses der Wesensanschauung bedeutend an. Interessant ist, dass er die Objektivität der Invariante mit jener der mathematischen Anschauung qua Zeichen und Symbol vergleicht. Andererseits ist klar, dass die Genesis der wissenschaftlichen Objektivität qua aktive Intersubjektivität erst auf Basis der passiven Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie darstellbar ist. c) Varela betont zu Recht, dass die so begründete Intersubjektivität des Bewusstseinslebens von der in den Kognitionswissenschaften vorherrschenden Fehlinterpretation der Phänomenologie als Introspektion (des einzelnen Subjekts) radikal unterschieden werden muss. Also zeigt die bloße Gegenüberstellung zwischen der Dritte114

Vgl. F. Varela, Neurophenomenology, S. 121 (jap.).

307 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Person-Perspektive der Naturwissenschaft und der Erste-Person- Perspektive nur, dass die allein auf dem Standpunkt der Beobachtung der dritten Person beruhende Kognitionswissenschaft ihre eigene Quelle, die in der Forschungsgemeinschaft in der intersubjektiv gelebten Lebenswelt besteht, völlig übersieht und sie nicht thematisieren, geschweige denn begründen kann. d) Die Neurophänomenologie Varelas zeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen der Neurowissenschaft und der Phänomenologie möglich ist, indem sich beide Forschungen gegenseitig ergänzen. Varela sagt, dass die Forschung der Neurowissenschaft ohne die phänomenologische Erklärung der Sinnbildung die Sinndimension der Erfahrung verliert und dass die Erklärung der dynamischen Struktur der Neurowissenschaft den Bereich der phänomenologischen Forschung begrenzt. Diese wechselseitige Ergänzung und Begrenzung zeigt demnach auch, dass die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaft durch die Methode der Wesensschau in die genetische Phänomenologie integriert werden können. 115 e) Ein konkretes Beispiel, das die Richtung der Neurophänomenologie Varelas deutlich zeigt, ist seine Untersuchung des »Gegenwarts-Bewusstseins«, die bereits oben erörtert wurde. 116 Methodisch gesehen kann sie die wechselseitig ergänzende Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaft und Phänomenologie plausibilisieren. Die Forschung der Neurowissenschaft kann die Funktion und Struktur der neuronalen Aktivität im Körper, die nicht unmittelbar in der Anschauung des bewussten Erlebnisses phänomenologisch gegeben ist, erklären. Die Forschung der Phänomenologie schließt die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft durch die Methode der Exemplifikation im Prozess der Wesensanschauung von Anfang an in sich ein. Dabei gewinnt die Forschung der Naturwissenschaft ihren Stellenwert im gesamten Zusammenhang der phänomenologischen Forschung. Vor allem in der genetischen Phänomenologie – in der die Bildung der Leergestalt der Sinnesqualitäten aus der intermonadischen Urkommunikation durch die passive Synthesis der Paarung analysiert wird – findet sich eine unerwartete Übereinstimmung mit dem Kernbegriff »Kopplung« aus der Theorie der Autopoiesis der Neurobiologie in Bezug auf vier Aspekte: Verankerung im Leib, Zeit, Urstiftung des Sinnes und Intersubjektivität. 115 116

Vgl. F. Varela, a. a. O., S. 133 f. (jap.). Siehe oben, S. 139 ff.

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Die Begründung der Intersubjektivität

f) Also beruhen die Zusammenarbeit und wechselseitige Ergänzung zwischen der Neurowissenschaft und der Phänomenologie weder auf der Basis des »formalen Isomorphismus«, noch sind sie mit der »kategorialen Differenz« erklärbar. 117 Vielmehr wird die Basis durch den Prozess der Wesensanschauung gebildet und durch die genetische Phänomenologie erweitert, sodass die passive Synthesis der Paarung und die strukturelle Kopplung der Autopoiesis in der neuen Dimension der intermonadischen Phänomenologie weiter untersucht werden können. In dieser Dimension gilt das dualistische Denkschema nicht. Paarung und Kopplung entstehen vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt und werden auf der Ebene der Ich-DuBeziehung, der höchsten aktiven Intersubjektivität, auf der die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt überwunden wird, wieder verwirklicht. Die Integration der Neurowissenschaft in die genetische Phänomenologie bedeutet daher die Zusammenarbeit hinsichtlich der intermonadischen Phänomenologie.

§ 14. Ich-Du-Beziehung in der intermonadischen Vergemeinschaftung Die Ich-Du-Beziehung wird durch die vollständige Zuwendung zur anderen Person auf der Basis der intermonadischen Vergemeinschaftung verwirklicht. 118 Dabei spielt aber die theoretisch-reflektierende Einstellung, die die eigene Aktivität und sich selbst objektiviert und vergegenständlicht, keine entscheidende Rolle mehr. Die passiv-vorichliche, intermonadische Urkommunikation, in der weder der IchPol noch der ihm korrelative Gegenstandspol gebildet ist, fundiert einerseits ständig die aktiv-ichliche, intermonadische Kommunikation in deren höchster Aktivität, der Ich-Du-Beziehung bei Erwachsenen, wo sich schließlich der Gegensatz zwischen dem gebildeten IchPol und dem ihm korrelierenden Gegenstandspol aufhebt, andererIm Grunde genommen sind sowohl der Standpunkt des Isomorphismus als auch das Operieren mit der kategorialen Differenz an das dualistische Denkschema angelehnt, das Varela durch seine Einsicht der »interaction« zwischen dem Lebewesen und der Umwelt längst überwunden hat. Vgl. dazu M. Scheidegger, Neurophänomenologie. Vom Versuch, unser Erleben greifbarer zu machen. 118 Wörtlich nennt Husserl die »Ich-Du-Beziehung« unter anderem in Hua XIV, 166 f., 170 f., 179, 367, 464. Außerdem gibt es andere Begriffe wie »Ich-Du-Akte«, »Ich-Du-Bestimmung«, »Ich-Du-Konnex«, die der Ich-Du-Beziehung entsprechen. 117

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seits bedeutet diese Fundierung der passiven Intersubjektivität selbst natürlich kein Fungieren der aktiv-ichlichen Kommunikation, die allein durch die transzendentale Leistung der aktiven Intersubjektivität ermöglicht wird. In diesem Paragraphen ist die Bedeutung der aktiven Intersubjektivität und der Ich-Du-Beziehung in der personalen Gemeinschaft zu klären, damit ein vollständiges Bild der Theorie der Intersubjektivität entstehen kann. 1)

Die Unterscheidung zwischen der Elternliebe und der sozialen Liebe

Husserl unterscheidet hinsichtlich der intersubjektiven Konstitution der personalen Gemeinschaft, die er unter dem Titel, »Gemeingeist« in Hua XIV abhandelt, »eine triebhafte ›Mutterliebe‹, ›Elternliebe‹, eine triebhafte Fürsorge, die in der Erfüllung zugleich Mitfreude an ihrem Wohl ist; natürlich unmittelbar auch ein triebhaftes Mitleiden mit ihrem Leid« (Hua XIV, 165 f.), von der sozialen Liebe und den sozialen Akten. Für die sozialen Akte und Verhältnisse sind die Zuwendung zum Anderen und die Mitteilung der Absicht notwendig. Husserl charakterisiert sie als »Berührung, ursprünglichen Konnex zwischen Ich und Du herstellende, in der ursprünglich erfahrenden Einfühlung« (Hua XIV, 166 f.). Die hier genannte Einfühlung ist keine passive Einfühlung, sondern die »eigentliche«, aktive Einfühlung, in der die sozialen Akte in der Gesellschaft konstituiert werden. Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise die Unterscheidung zwischen der Elternliebe und der sozialen Liebe in der personalen Gemeinschaft getroffen wird und welche Eigenschaft die »Ich-DuBeziehung« (Hua XIV, 167) in der personalen Gemeinschaft bei Husserl hat. a) Die personale Wirkungsbeziehung in der Ich-Du-Beziehung ist bezüglich der »Zuwendung und Mitteilung« auf folgende Weise dargestellt: »1) Im Gleichnis gesprochen: Wir beide, ich und du, ›sehen uns in die Augen‹, er versteht mich, gewahrt mich, ich gewahre ihn, gleichzeitig. 2) Ich wende mich an dich und teile dir eine Tatsache mit: Ich erfahre eine Tatsache und mache den Anderen, in dessen nächstem Erfahrungsbereich sie ebenfalls ist, auf sie aufmerksam durch ein ›Hinzeigen‹« (Hua XIV, 167). Die wechselseitige, gleichzeitige Zuwendung ist charakteristisch bei der Ich-Du-Beziehung, die aber natürlich keine Beziehung auf 310 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

einen Gegenstand mit Erkenntnisinteresse ist, sondern eine Beziehung auf eine Person mit praktischem Interesse wie der Mitteilung einer bestimmen Tatsache. b) Das praktische Interesse ist natürlich nicht allein auf die Mitteilung beschränkt, sondern bezieht sich allgemein auf die Handlung in der praktischen Willensgemeinschaft, »nämlich dass sich im Status der Berührung das Du dazu bestimmen lässt, nicht bloss eine Kenntnisnahme, sondern eine anderweitige Handlung, etwa eine äussere, in die physische oder geistige Umwelt hineinwirkende Handlung zu vollziehen« (Hua XIV, 169). In solch einer sozialen Handlung wird der im Subjekt fungierende Pol »aller Affektionen und Aktionen […] zum Ich und damit zum personalen Subjekt, gewinnt darin personales ›Selbstbewusstsein‹, in der Ich-Du-Beziehung, in der durch Mitteilung ermöglichten Strebensgemeinschaft und Willensgemeinschaft« (Hua XIV, 170 f.). Dieses personale Selbstbewusstsein entsteht in der aktiven Einfühlung in der sozialen Beziehung: »Der Ursprung der Personalität liegt in der Einfühlung und in den weiter erwachsenden sozialen Akten. Es genügt nicht zur Personalität, dass das Subjekt seiner selbst innewird als Pol seiner Akte, sie konstituiert sich erst, indem das Subjekt in soziale Beziehung tritt zu anderen Subjekten, wobei es schon praktisch gegenständlich wird, wie wir gezeigt haben« (Hua XIV, 175). c) Was bedeutet aber die soziale Beziehung bzw. Handlung konkret? Husserl meint etwa, dass die gemeinsame Mahlzeit in der Familie als eine Einheit sozialer Handlung angesehen wird: »Die gemeinsame Mahlzeit ist ein Grundstück der Stiftung der Familie als einer sozialen Institution, als einer bleibenden Gemeinschaft. […] Die Freude am eigenen Essen, aber auch die erfreuliche Resonanz der fremden Essfreude. Auf dem Grund der natürlichen Liebe zu den Familiengenossen« (Hua XIV, 178). Die Eigenschaft der Familie als sozialer Institution beruht aber nicht nur auf der natürlichen Liebe zu den Familiengenossen, sondern auf der wechselseitigen, persönlichen Beziehung, die Husserl als »Ich-Du-Beziehung« bezeichnet: »[E]s sind Gemeinsamkeiten, wechselseitige Aufeinander-Bezogenheiten des strebenden Lebens, des Tuns, des Zusammenwirkens, des Ich-Bezug-aufeinander-fungierens, wobei das Tun des einen in das Tun des anderen mit eingeht, jedes Subjekt in personaler Weise in das Leben und Tun des anderen eingreift, in ihm also mitlebt, sich mit ihm als Person einigt in mannigfaltigen Ich-Du-Beziehungen« (Hua XIV, 179). 311 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Was bedeutet allerdings das »Eingehen in das Leben und Tun des anderen«? Husserl betrachtet dieses Eingehen bzw. Eingreifen als »Funktion und Pflicht (Sollen)« jedes Familienmitgliedes. »Jedes Glied hat die Funktion, durch Realisierung seiner besonderen Zwecke den Familienzweck realisieren zu helfen, und insofern hat es auch die Funktion, es ist das betreffende Zwecksubjekt« (Hua XIV, 181). d) Die Funktionen in Familien sind Vater, Mutter, Kind etc. Aber in »›künstlich‹ gestifteten Gemeinschaften der Gleichordnung und Unterordnung (Herr und Dienerschaft, Verein, Baugesellschaft) sind die Funktionen bzw. Pflichten freiwillig übernommen auf Grund der Verabredung oder, wie im Sklavenverhältnis, durch Zwang den Untergeordneten auferlegt« (ebd.). Husserl folgt nicht der Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft bei Tönnies, »der Gemeinschaft nicht als eine Willensgemeinschaft (Wille in meinem prägnanten Sinn verstanden) auffasst«. Eher differenziert Husserl hinsichtlich des Kriteriums, ob es eine direkte personale Verbindung gibt, d. h., er unterscheidet die Sprachgemeinschaft ohne personale Verbindung von den »Willensgemeinschaften bestimmter Personen, die also als Willenssubjekte, wenn auch vermittelt, in Einverständnis sind« (Hua XIV, 182). 2)

Die verschiedenen Auffassungen der Ich-Du-Beziehung von Buber, Husserl und Levinas

Die besondere Eigenschaft der Ich-Du-Beziehung ist hier in Bezug auf die verschiedenen Auffassungen von Buber, Husserl und Levinas zu betrachten. In der Dimension der Ich-Du-Beziehung Bubers entsteht die unmittelbare Berührung mit der »Andersheit des Anderen«, die die faktische Individualität mit den konkreten, leiblichen und einzigartigen Inhalten (die Levinas wegen seiner rein formalen Bestimmung der Ich-Du-Beziehung strikt ablehnt) nicht ausschließt. Ebenso wie die Untrennbarkeit von Form und Inhalt der konkreten Retention in der urtümlichen, strömenden, natürlich vor-ichlichen, nicht-gegenständlichen Zeitigung Husserls apodiktisch ausgewiesen ist, gilt diese Untrennbarkeit von Form und Inhalt auch in der Ich-Du-Beziehung, in der die individuellen Inhalte, im Licht des Du, im Hintergrund des Bewusstseins lebendig bleiben. 119 119 Buber sagt: »Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte, um zu sehen, und kein Wissen, das ich zu vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung

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Die Begründung der Intersubjektivität

Aber diese besondere Art der Ich-Du-Beziehung durch die völlige Zuwendung einer Person zu einer anderen Person wird erst klar, wenn die Art der Verwirklichung der ganzheitlichen Zuwendung phänomenologisch analysiert wird. Dabei spielt die genetische Phänomenologie Husserls – die die Genesis der unbewusst fungierenden Egozentrik und der Leibzentrierung veranschaulichen kann, auf der wiederum die Bildung des Ich-Pols und des Gegenstandspols basiert – eine entscheidende Rolle. Erst wenn die im Verborgenen wirkende Egozentrik und Leibzentrierung bewusst oder unbewusst in der ganzheitlichen Zuwendung zur anderen Person aufgehoben wird, wird ihre unmittelbare Berührung möglich. Die transzendentale Bedingung für die Ich-Du-Beziehung ist die Überwindung der Spaltung zwischen dem vergegenständlichenden Subjekt und dem vergegenständlichten Objekt. Es ist kein Wunder, dass die genetische Analyse – die die Herkunft dieser Vergegenständlichung durch die in der passiven Synthesis fundierte aktive Synthesis zu erklären vermag – einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der Vergegenständlichung leistet und dass die theoretische Erläuterung der Ich-Du-Beziehung ohne Klärung der Genesis der unbewusst wirkenden, vorreflexiv-vorsprachlichen Egozentrik und Leibzentrierung schwer verwirklicht werden kann. a) Auf der Ebene der aktiv-sozialen Intersubjektivität ist nach Husserl die Zwischenleiblichkeit nicht nur die Fundierung der passiven Intersubjektivität, sondern auch die Urstätte, an der erst die IchDu-Beziehung entstehen kann. Die Eigenschaft der ganzheitlichen Beziehung zwischen Ich und Du wird bei ihm zwar nicht ausführlich untersucht, doch wird gezeigt, dass keine transzendentale, interesselose, unbeteiligte Zuschauerposition in der Ich-Du-Beziehung möglich ist. Die Person in einer völligen Zuwendung zur anderen Person vollzieht keine Rückbezogenheit auf sich selbst in Form der Selbstreflexion. Sie hat nicht den Standpunkt des transzendentalen Zuschauens. Die Dritte-Person-Perspektive (qua interessefreies Betrachten der eigenen Handlung) ist nicht möglich. »Im Mitfühlen bin ich als Ich versunken im Anderen und seinem Fühlen, mitlebend, mitfühlend. Ich bin als Person nicht auf die andere Person als Gegenund Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, d. h. im Du, ununterscheidbar vereinigt« (Buber, Werke I, S. 82). Und: »[N]achbarnlos und fugenlos ist er Du und füllt den Himmelskreis. Nicht als ob nichts andres wäre als er: aber alles andre lebt in seinem Licht« (a. a. O., S. 83). Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 108 f.

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stand gerichtet, gerichtet bin ich auf das, worauf sie als sich so und so verhaltende Person gerichtet ist. Dabei bin ich in sie versunken, in Deckung mit ihr in der Bewusstseinshabe derselben Umwelt und in der ichlichen Richtung auf ›dieselben‹ thematischen Gengenstände; aber als Teilnehmender bin ich mit dem einfühlungsmässig vergegenwärtigten Ich in Deckung, d. i., in seinem Fühlen, Begehren, Wollen Mitfühlender, Mitbegehrender, Mitwollender. Auf mich bin ich dabei überhaupt nicht gerichtet, wie wenn ich reflexiv meine Teilnahme ausspreche« (Hua XV, 513, Hervorhebung vom Verfasser). b) Was bedeutet aber, dass das Ich »nicht auf die andere Person als Gegenstand gerichtet« ist? Wir können uns jederzeit eine bestimmte Person vorstellen oder an eine bestimmte Person denken. Jedoch ist nicht »jedes von Ich auf ein anderes Ich gerichtetes Vorstellen, Denken ein Ich-Du-Erkennen. […] Sich wechselseitig in die Augen sehen, sich wechselseitig im wahrnehmenden Bewusstsein aufeinanderbezogen vorfinden, füreinander originär dasein und erfassend, aufmerkend, sich wechselseitig geistig berührend aufeinander gerichtet sein« (Hua XIV, 211). Diese wechselseitige Beziehung aufeinander bedeutet keine rein formale, inhaltlose Beziehung, wie etwa Levinas die Ich-Du-Beziehung charakterisiert. Es stellt sich aber die Frage, auf welche Weise es möglich ist, mit der anderen Person mitzufühlen, mitzubegehren und mitzuwollen – ohne die andere Person dabei gegenständlich zu fassen –, indem ich, wie Husserl selber sagt, »in der ichlichen Richtung auf ›dieselben‹ thematischen Gegenstände« gerichtet bin. Es ist völlig klar, dass die Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen auf der Ebene der aktiven Einfühlung der aktiven Intentionalität (die sich in der Korrelation von Noesis und Noema konstituierend vollzieht) entsteht. Daher ist beim Mitfühlen, Mitbegehren und Mitwollen das Gerichtet-Sein auf dieselben thematischen Gegenstände, auf die Ich und Du gemeinsam gerichtet sind, bereits vorausgesetzt: etwa eine gemeinsam gewollte Sache. Also können das Ich und Du in die Ich-Du-Beziehung treten, indem sie einen gemeinsamen Gegenstand haben oder an demselben Unternehmen teilnehmen. Dabei ist wichtig, dass beide selbst nicht zum Gegenstand werden, sondern sich durch diese Gegenstände hindurch wechselseitig aufeinander selbstlos, d. h. ohne Bezogenheit auf sich selbst, beziehen. Husserl nennt dieses nicht-reflektierende Bewusstsein auch »Weltbewusstsein« und unterscheidet es fundamental vom »thematischen Bewusstsein« (vgl. Hua XV, 514). Im Weltbewusstsein wird 314 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Begründung der Intersubjektivität

ein ursprünglich fungierender Akt des Mitfühlens urbewusst, aber es wird nicht zugeschaut, und im thematischen Bewusstsein wird etwas Gegenständliches vom phänomenologisierenden Ich thematisch und gegenständlich reflektiert. c) Die Zwischenleiblichkeit in der kreativen Handlung, die auch als die Begegnung zwischen Ich und Welt (qua Du) bezeichnet werden kann, wird von Merleau-Ponty im Bereich der Kunst überzeugend dargestellt. Beim Malen geht es darum, »die Begegnung des Blicks mit den Dingen, die ihn gefangen nehmen, dessen, was zum Sein gelangen soll, mit dem, was ist, wiederzustellen« 120. Diese Begegnung entsteht in der Zwischenleiblichkeit – durch das »Fleisch« der Welt und des Leibs des Menschen, was durch »Ähnlichkeit«, »latente und fungierende Intentionalität« sowie durch das »Element« zu erklären versucht wird. 121 Somit wird der Zusammenhang zwischen den Elementen der griechischen Philosophie und den fünf Elementen (Erde, Holz, Metall, Feuer, Wasser) im Ki-Monismus der chinesischen antiken Naturphilosophie immer interessanter. Hierbei ist aber die Kreativität der Zwischenleiblichkeit in der Begegnung ohne Bezogenheit auf das reflektierende Ich – worauf bereits Husserl hingewiesen hat. Im Bereich des Zwischen geschieht »[e]ine fortwährende Geburt« des Blickes des Malers, woraus die Dichotomie von Sehendem und Gesehenem, Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Ich und Welt erst entspringt. Die Begegnung entsteht erst, wenn die Rückbezogenheit auf das eigene Subjekt in der eigentlichen Einfühlung Wahrnehmender – Wahrgenommenes so weit aufgehoben wird, dass »man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird« 122. Die Begegnung bzw. Einfühlung zwischen Ich und Welt wird zwar gelebt und ist klar bewusst, aber nicht thematisch, phänomenologisierend theoretisch vergegenständlicht. Vielmehr ist sie retentional-protentional »urbewusst«, ohne fungierendes, phänomenologisierendes und zuschauendes Ich. In dieser Begegnung wird die Andersheit des Anderen und der Welt unmittelbar urbewusst, aber dadurch nicht vergegenständlicht und nicht verloren, sondern vielmehr unmittelbar, jeweils neu »geboren« bejaht. Im Bereich der Phänomenologie des Du bzw. der Ich-Du-Beziehung wird die Zwischen120 121 122

M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 87. Vgl. a. a. O., S. 97 f. Vgl. a. a. O., S. 21.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

leiblichkeit sowohl in der passiven als auch in der aktiven Intersubjektivität hinsichtlich ihrer urstiftenden und kreativen Eigenschaften thematisiert.

3.

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

In diesem Kapitel wird die Philosophie Kitaro Nishidas (1870–1945) bezüglich der Begründung der Intersubjektivität thematisiert. Nishida ist der Gründer der sogenannten »Kyoto-Schule«, der modernen japanischen Philosophie der Meiji-Zeit (1868–1912). 123 Als sich Japan unter dem Motto »Bereicherung des Landes und Stärkung des Militärs« (Fukoku Kyohei) für den Außenverkehr mit den westlichen Ländern in der Meiji-Zeit öffnete, hat das japanische Volk für diesen Zweck nicht nur Naturwissenschaften wie etwa Physik, Chemie oder Militärwissenschaft, sondern auch Geisteswissenschaften wie Sprache, Religion, Philosophie, Geschichte und Politik aufgenommen und in die Kultur integriert. In der Philosophie studierte Nishida mit seinem starken Interesse an Mathematik viele bekannte Philosophien wie z. B. die von Bergson, Cohen, Natorp, Rickert, Lotze, Kant, Fichte, Hegel sowie die Phänomenologie Husserls bis zum Ende seines Lebens. Seine Aufnahme und Verarbeitung der für ihn neuen westlichen Philosophie war von Anfang an eine Begegnung, die für Nishida eine erneute Entdeckung der in der eigenen Kultur verborgen gebliebenen Philosophie bedeutete. Die Schulung des Zazen (Zen-Meditation), dessen Praxis im Mahayana-Buddhismus eine lange Tradition hat, begleitete sein Lernen und seine Forschung bis zum Lebensende. 1911 veröffentlichte er sein Buch »Untersuchung über das Gute« (»Zen no kenkyu«), das von Studenten und Wissenschaftlern mit Begeisterung aufgenommen wurde. In der Einleitung dieses Buches findet sich eine sehr entscheidende Aussage über das hier behandelte Thema: »Mir gelang es, mich vom Solipsismus durch den Gedenken zu befreien, daß nicht die Erfahrung aufgrund des Individuums, sondern das Individuum aufgrund der Erfahrung ist, und daß 123 Für eine gute Einführung in die Kyoto-Schule vgl. R. Ohashi (Hg.), Die Philosophie der Kyoto-Schule. Über die Philosophie Nishidas, unter dem Titel »Japanische Denkmodelle«, vgl. G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität, S. 534–540.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

die Erfahrung ursprünglicher ist als die Unterscheidung von Individuen.« 124 Durch langjährige Studien der westlichen Philosophie wurde das Problem des Solipsismus, das seit dem Beginn der modernen westlichen Philosophie bei Descartes präsent gewesen und durch Husserl am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Hauptproblem der phänomenologischen Philosophie geworden war, die wichtigste Frage seines Buches. Die oben genannte »Erfahrung« ist nichts anderes als die sogenannte »reine Erfahrung« Nishidas. In dieser vollzieht der Mensch seine Handlungen, sei es Bergsteigen, Malen oder Musizieren, so intensiv und »selbstlos«, dass der Handelnde sich gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Handlung erlebt. Daher wird diese unmittelbare Erfahrung als der Zustand »vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt« bezeichnet. Das Problem des Solipsismus, das als »transzendentaler Solipsismus« im Sinne Husserls aufgefasst wird, wird durch die reine Erfahrung gelöst und »befreit«. Eine interessante Entwicklung dieser Thematik in seiner Philosophie zeigt sich in seinem Artikel »Ich und Du«: »Inwieweit kann Ich von Deinem Bewußtseinsinhalt und Du von Meinem etwas wissen? Die Analogieschlußlehre, nach der ich durch die Analogie zu meinem eigenen Ausdruck etwas von deinem wissen kann, ist nur schwer aufrechtzuerhalten; zudem ist es, wie Max Scheler sagt, auch anhand der Einfühlung unmöglich zu erklären, daß ich deine individuelle Existenz erkenne und du meine.« 125 Hier sieht man deutlich, dass die Thematik der Intersubjektivität Nishida gut bekannt war und dass er seine Antwort darauf in diesem Artikel dargelegt hat. 20 Jahre später, in »Logik des Ortes«, hat er die Frage des Solipsismus nicht direkt mittels des Begriffs der reinen Erfahrung oder der »Einfühlung« Husserls, sondern in Bezug auf die Dialektik Hegels mittels seiner eigenen »Dialektik des absoluten Nichts« thematisiert. Ueda, der ein wichtiger Vertreter der Religionsphilosophie und auch einer der bedeutendsten Interpreten Nishidas im heutigen Japan ist, gliedert die Philosophie Nishidas in drei Etappen: (1) die der reinen Erfahrung, in der die Einheit von »Wissen, Fühlen und Wille« (知,情,意 chi jō i) des betrachteten Menschen vollzogen wird und die als vor »jeder Subjekt-Objekt-Spaltung« charakterisiert wird, (2) die 124 125

K. Nishida, Logik des Ortes, S. 21. A. a. O., S. 164.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

des »Selbstbewusstseins bzw. Selbstgewahrens« (自覚, jikaku) sowie (3) die Stufe der »Ort-Logik« 126. Die Entwicklung von Nishidas Philosophie bedeutet aber keine Abwandlung der ersten Kernthese, sondern vielmehr die durchgehende Vertiefung des Philosophierens: die ursprüngliche reine Erfahrung in die reflexive, philosophische Begründung zu bringen. In diesem Sinne entspricht der zweiten Etappe der Versuch, den unmittelbaren Erlebnisgehalt der reinen Erfahrung (auch »einzige Realität« genannt) in eine philosophische Reflexion zu bringen. Das Hauptwerk dieser Periode ist »Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein« (jap. »Jikaku ni okeru chokkann to hannssei«), in der Anschauung und Reflexion in seine Philosophie der reinen Erfahrung integriert werden sollten. Das Moment der Anschauung findet Nishida in der Philosophie Bergsons, das Moment der Reflexion in der Philosophie der Neukantianer Natorp, Lotze und Cohen und beide Momente in Fichtes Begriff der »Tathandlung« sowie Husserls Begriff des »intentionalen Erlebnisses«. Der Begriff der reinen Erfahrung wurde in der zweiten Denkperiode durch die Auseinandersetzung mit den damals aktuellen philosophischen Positionen durchgearbeitet. Damit wurde der wichtige Übergang zur dritten Denkperiode, der »Logik des Ortes«, bewerkstelligt, in der sein Artikel »Ich und Du« erschien. Demnach werden hier zunächst das Buch »Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein« und dann der Artikel »Ich und Du« im Zusammenhang mit dem Begriff der Ich-Du-Beziehung bei Buber und Husserl interpretiert.

§ 1. Nishidas Kritik an Bergson und seine neukantianische Auffassung der Zeit In der Einleitung seines Buchs »Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein« sagt Nishida: »Das hier genannte ›Selbstbewusstsein‹ (jap. 自覚, jikaku) ist das Selbstbewusstsein des apriorischen Ichs. Es ist ähnlich der sogenannten Tathandlung Fichtes« (3). 127 Er versucht, die Dimension der reinen Erfahrung, die »[v]or der SpalVgl. Sh. Ueda, keiken to basho (Erfahrung und Ort), S. 153 ff. In Klammern findet sich, sofern keine weiteren Hinweise gegeben werden, die Seitenzahl von »Jikaku ni okeru chokkan to hannsei« (»Anschauung und Reflexion 126 127

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

tung zwischen Subjekt und Objekt« ansetzt, unter dem Aspekt der transzendentalen Apperzeption des transzendentalen Ichs Kants und dem Begriff der Tathandlung Fichtes zu erklären. Nishidas Absicht wird klar, wenn er Bergsons Begriff der reinen Dauer (»durée«) und der Zeit, die er einerseits als die unmittelbare Anschauung positiv bewertet, andererseits auch kritisch zu interpretieren versucht. Er sieht die reine Erfahrung als eine »besondere Erkenntnis der Empfindung« (93) an und thematisiert sie im Bereich der Empfindung und der reinen Dauer Bergsons. Trotz dieser positiven Bewertung der reinen Dauer Bergsons kritisiert Nishida Bergsons Einsicht in das Fließen des Bewusstseins als die reine Dauer – dass »man auf das gerade vorbeigehende Moment der Vergangenheit nicht zurückblicken kann« (ebd.). Der Grund seiner Kritik liegt darin, dass »das korrekte Verständnis des Prozesses der Zeit und der Änderung des Bewusstseinsinhalts das überzeitliche und unveränderliche Bewusstsein im Hintergrund erfordert« (94). Für das Bewusstsein der Änderung des Bewusstseinsinhalts ist somit Kants »Einheit der transzendentalen Apperzeption« (ebd.) notwendig. Nishida behauptet, dass »das Bewusstsein der Zeit ohne die transzendentale Überzeitlichkeit der Zeit widersprüchlich ist« (95). Dazu ist zunächst eine kritische Bemerkung zu machen, die mit meiner Betrachtung über die Konstitution des Zeitbewusstseins bei Husserl zusammenhängt. 1)

Nishidas Kritik an Bergson

Nishida kritisiert an Bergson die »Unwiederholbarkeit der reinen Dauer«: »Bergson sagt, dass die reine Dauer nicht wiederholbar ist. Aber diese Unwiederholbarkeit selbst ist nur dadurch denkbar, dass es das die Zeit transzendierende Ding hinter dem Grund dieser Aussage geben muss. Er übersieht die die Änderung transzendierende Seite der Einheit, indem er vom Gedanken der Zeit gefangen bleibt« (220). Nishida vertritt hier den Standpunkt des Neukantianismus etwa Lotzes, der auf der Einheit der transzendentalen Apperzeption beruht. Dadurch wird die Grundeinsicht der kreativen Evolution des Lebens bei Bergson auf das »Selbstbewusstsein des Ichs a priori« beschränkt. Somit muss die Dimension der reinen Erfahrung, die sich im Selbstbewusstsein«, zweiter Band des Nishida Kitaro Zenshu (Sammelbände von Kitaro Nishida, Iwanami)).

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»[v]or der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt« vollzieht, durch die Egologie der Tathandlung interpretiert werden. Nishida versteht die reine Dauer Bergsons als das Metaphysische, das vom Denken nicht aufgefasst und nur intuitiv erlebt werden kann. Die reine Dauer selbst wird nicht weiter philosophisch reflektiert und analysiert. Der intuitive Gehalt der Intuition wird durch die philosophische Reflexion verzerrt und verräumlicht. Diese kritische Einsicht entspricht der Behauptung Bergsons über die reine Dauer. Aber gegenüber einer solchen metaphysischen Feststellung der reinen Dauer haben wir im ersten Teil dieses Buchs gesehen, dass Husserl in seiner phänomenologische Analyse der »Dauer der Empfindung«, wie oben gezeigt, 128 die Zeitlehre Lotzes, der sich auf die transzendentale Apperzeption des Ichs bei Kant beruft, überwunden hat. 2)

Nishida und der Standpunkt des Neukantianismus Lotzes

Lotze behauptet, dass das überzeitliche Wissen notwendig ist für die Vorstellung des Nacheinanders mehrerer Vorstellungen, die als eine Einheit der Vorstellungen durch dieses Wissen aufgefasst werden müssen. Demgegenüber weist Husserl darauf hin, dass jedes Vorstellen, das als ein Bewusstseinsakt angesehen wird, seine eigene Zeitdauer, in der der Bewusstseinsakt erst aktiviert werden kann, haben muss sowie dass jeder Bewusstseinsakt in seiner Durchführung in sich selbst unmittelbar urbewusst ist. Das Bewusstsein der Zeitdauer ist durch das Urbewusstsein und die daran unmittelbar anschließende Retention konstituiert. Somit beteiligt sich das überzeitliche Wissen durch die transzendentale Apperzeption des Ichs an der Zeitigung selbst nicht: Jenes entspräche dem abstrakt Vorgestellten, das durch die Zeitigung nachträglich konstituiert wird. Husserl sieht, dass das überzeitliche Wissen des transzendentalen Ichs nicht nur die Zeitigung nicht betreffen kann, sondern dass das Wissen durch die Evidenz der Zeitdauer des Bewusstseinsaktes als eine metaphysisch dogmatische Annahme abgelehnt werden muss. Durch die Unterscheidung zwischen dem durch die Zeitdauer konstituierten Bewusstseinsakt und der urbewussten Retention, in der sich diese Zeitdauer selbst konstituiert, wird das Problem des unendlichen Regresses – dass das Bewusstsein der Zeitdauer durch den Bewusst128

Vgl. für Husserls Kritik an der Zeitlehre des Neukantianismus oben, S. 41.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

seinsakt, der bei seinem Fungieren die bestimmte Zeitdauer selbst braucht, nicht erklärt werden kann – als gegenstandslos aufgelöst. Das Hauptkriterium für die logische Beweisführung ist dabei die apodiktische Evidenz des retentionalen Urbewusstseins, die durch die phänomenologische Reduktion erreicht wird. Das Urbewusstsein wird danach befragt, wie es selbst im immanenten Zeitbewusstsein konstituiert wird: Es zeigt sich, dass es nur durch die daran unmittelbar anschließende Retention, die nicht den Charakter der aktiven Intentionalität, sondern den der passiven Intentionalität ohne Aktivität der Ich-Beteiligung hat, zum Urbewusstsein von etwas werden kann. 3)

Nishida und die Tathandlung Fichtes

Das Urbewusstsein ähnelt wegen des erkenntnistheoretischen, nur formal-strukturellen Zusammenhangs Fichtes Begriff der »intellektuellen Anschauung«, den Nishida positiv aufnimmt. Aber bei Fichte wird die Quelle der intellektuellen Anschauung selbst nicht weiter reflektiert; sie bekommt im Begriff der »Tathandlung«, die von Nishida als die »Identität zwischen dem Sinn und der Tatsache« interpretiert wird, ihre genaue Bestimmung. Interessant ist dabei, dass Nishida eine Nähe des Begriffs der Tathandlung zum Begriff der Intentionalität Husserls behauptet: »Das intentionale Erlebnis nach Husserl ist die unmittelbare Erfahrung, die ich als die Entwicklung des Sinnes selbst bezeichne. Das muss wie die Tathandlung Fichtes aufgefasst werden, die zeigt, dass der Sinn gleich der Tatsache ist und die Tatsache gleich dem Sinn. Das Sehen ist nämlich die Selbstentwicklung der Farbe und der Form« (157). Husserl entwickelt den Begriff der Intentionalität in den »Ideen I« anhand der Korrelation zwischen Noesis und Noema insofern, als die Noesis die Empfindungsdaten beseelt und dadurch das Noema konstituiert wird. Es ist zwar möglich, wie es Nishida versucht, diese intentionale Korrelation als das »›So-gleich‹-Verhältnis (›sohsoku‹) zwischen dem Sinn und der Tatsache« zu interpretieren. Allerdings findet sich keine Entsprechung zwischen dem »So-gleich-Verhältnis« und dem »Urbewusstsein vom Bewusstseinsakt« (Husserl), das der »intellektuellen Anschauung« Fichtes entsprechen sollte, da das Urbewusstsein keine Aktivität und Leistung des Ichs ist und gerade deshalb Urbewusstsein der Differenzen der verschiedenen Akte der Intentionalität sein kann. Es ist also möglich, die Erklärung der »unmittelbaren Erfahrung als der Entwicklung des Sinnes« durch 321 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

die Tathandlung des apriorischen Ichs mit der aktiven Intentionalität von Noesis und Noema zu vergleichen, aber kaum möglich, sie mit dem Urbewusstsein, der Retention und der Assoziation, die vor der Aktivität der Ich-Leistung fungieren, zu vergleichen. Nishida versteht die Intentionalität nur als die aktive Intentionalität der IchAktivität, die Fichte als selbstverständlich voraussetzt – allerdings zu einer Zeit, in der die tiefer liegende passive Intentionalität erst für Husserl selbst allmählich klar wurde. a) Nishida versucht die »Selbstentwicklung des Bewusstseinsinhalts« mit der Wesensanschauung Husserls zu verbinden: »Zum Beispiel könnte man denken, dass die Auffassung der einzelnen, spezifischen Farbe unter dem allgemeinen Begriff Farbe als die innere Entwicklung des Wesens [im Original deutsch], das in der sogenannten husserlschen Anschauung des Inhalts der Erfahrung, der allgemeinen Farbe, gegeben wird, denkbar sei« (45, Hervorhebung vom Verfasser). Es bleibt aber anzumerken, dass es in der Wesensanschauung Husserls das Moment der inneren Entwicklung des Wesens nicht gibt, dass die Wesensanschauung 129 als ein Endergebnis durch diesen Prozess entsteht und sie nicht als Entwicklung des von Anfang an vorausgesetzten, universalen Wesens als des allgemeinen Begriffs angesehen werden kann. Als ein Beispiel für seine Interpretation nimmt Nishida »das Wesen der Farbe Rot« bei Husserl: »In der konkreten Erfahrung der Farbe ›Rot‹ sind die Qualität Rot, nämlich so wie das Wesen Husserls das rote Ding als das objektive Sein mit der Qualität Rot, die Empfindung ›Rot‹, und das Empfinden, nämlich der Bewusstseinsakt des ›Roten‹ qua Empfindungsakt zu unterscheiden« (121). b) Gegenüber einer solchen etwas gewaltsamen Interpretation Nishidas ist deutlich zu bemerken, dass Husserl nicht nur die Zeitdauer, sondern auch die Empfindung phänomenologisch nicht nach dem Schema Bewusstseinsakt – Bewusstseinsinhalt versteht. Husserl zeigt in seiner Analyse der Empfindung, dass »die Erfahrung ›Rot‹« zwar als die Erfahrung des Wesens verstehbar ist – allerdings nicht als der durch den Bewusstseinsakt konstituierte Bewusstseinsinhalt, sondern als das Urbewusstsein des durch die Assoziation ohne IchLeistung Vorkonstituierten.

129 Zum Prozess der Wesensanschauung bei Husserl vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, § 87.

322 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

§ 2. Logik und Mathematik bei der Selbstentwicklung der reinen Erfahrung Nishida versucht, das Moment des Denkens, das sich in der reinen, konkreten Erfahrung zeigen sollte, durch seine Zuwendung zur Logik und zum mathematischen Denken des Neukantianismus klarer zu fassen. Für Nishida sind Logik und Mathematik durch eine formale Gesetzmäßigkeit charakterisierbar: »Unsere unmittelbare Erfahrung ist die Selbstentwicklung des Bewusstseinsinhalts. Das unabhängig von der Entwicklung des Inhalts, rein formal Gedachte ist das System der Logik und der Mathematik« (79). Aber die Charakterisierung der Formalität der Logik und der Mathematik beinhaltet mehr als die Bestimmung der »Form der sinnlichen Anschauung des Raumes und der Zeit« bei Kant. Nishida kritisiert nämlich gerade dieses: »Also wird die Mathematik nicht durch die Formen der Zeit und des Raumes, wie bei Kant, aufgebaut, sondern die Formen der Zeit und des Raumes selbst entstehen durch das sogenannte homogene Medium von Rickert als die Basis der Mathematik« (81). Die Mathematik schließt im Verständnis Rickerts, trotz Nishidas Behauptung der Formalität der Mathematik, das inhaltliche Moment des homogenen Mediums in sich ein. Interessant ist, dass Nishida dieses homogene Medium qua »sinnliches Apriori« mit der »kreativen Synthesis« Wundts in Verbindung bringen will. Husserl hat dem formalen Apriori das »materiale Apriori« 130 gegenübergestellt, dessen Genesis später in der Analyse der passiven Synthesis der Assoziation erforscht wird. Nach Nishida ist es »möglich, das System des Empfindungswissens aus dem Apriori der Empfindungsqualität zu konstruieren. Dies ist die sogenannte kreative Synthesis Wundts« (87). Somit wird einerseits die der Form vorangehende konkrete Erfahrung betont, andererseits wird die Tendenz klar, das Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auf folgende Weise durch die Mathematik zu bestimmen: »Seit Kepler ist die Denkrichtung festgelegt, dass der Punkt qua erzeugender Punkt [im Original deutsch] der Kurve hinsichtlich der Qualität des Tangenten-Punktes gedacht wird. Der Punkt ist nicht bloß ein Punkt, sondern einer, der Richtungen in seiner Stelle einschließt. Die Kurve entsteht aus solchen Punkten. Sie ist ein Ganzes aus den ›Tangenten130

E. Husserl, Logische Untersuchungen, II, 2, S. 203.

323 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Punkten‹ [im Original deutsch]. Es ist möglich zu denken, dass eine endliche Kurve aus unendlich kleinen Punkten entsteht und dx der Ursprung von x ist« (111). Unten wird gezeigt, was bei der Anwendung der mathematischen Unterscheidung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen zur »Entwicklung der reinen Erfahrung« Nishidas gewonnen wird und was verlorengeht. 1)

Das Bewusstsein vom »Linienziehen«

Nishida zieht das Beispiel des »Linienziehens« in den Texten über die transzendentale Einbildungskraft in Kants »Kritik der reinen Vernunft« zur Erklärung des Verhältnisses zwischen der konkreten Wahrnehmung und der mathematischen Einsicht heran. Er sagt: »Die visuell wahrnehmbare Linie und die mathematische Linie lassen sich nicht als ein Gleichartiges ansehen. Aber es muss eine Grundlage von beiden geben. Sonst ist es unmöglich, etwas Wahrnehmbares als eine Linie zu sehen. Ich denke daher, dass das kreative System der konkreten Erfahrung, das, wie Fichte sagt, ›sich selbst als tätig anschauendes Ich anschaut als ein Linienziehen‹ [im Original deutsch], als das ursprüngliche Bewusstsein von kontinuierlicher Linie gedacht werden kann« (137 f., Hervorhebung vom Verfasser). Und danach fragt er: »Was ist das, was die mathematische Linie als den Gegenstand des reinen Denkens zum Subjektiven beliebig bestimmen kann?« (139). In diesen Texten gibt es verschiedene problematische Punkte. a) Es ist unverständlich, warum Nishida so einfach »eine Grundlage der visuellen und der mathematischen Linie« als eine notwendige Voraussetzung annehmen kann. Das hier genannte Etwas ist in der Tat nichts anderes als das Selbstbewusstsein der Einheit des apriorischen Ichs Kants bzw. die Tathandlung Fichtes, wie in der Einleitung des Buches »Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein« gezeigt wird. Dieses Etwas wird als das kreative System der konkreten Erfahrung, das im Ich Fichtes am Werk sein sollte, aufgefasst, und somit wird der Fokus auf die Theorie der Selbstentwicklung und -bestimmung der Aktivität des Ichs hin verschoben. b) In Bezug auf die Grundlage der visuellen und mathematischen Linie führt Nishida die Frage nach dem Verhältnis zwischen der analytischen Geometrie und der Arithmetik der Zahlenreihe in seine Betrachtung ein und schreibt: »Das Apriori von beiden [der Arithmetik und der Analysis] hat das gleiche Fundament, nämlich die Größe [im 324 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Original deutsch]. Die Letztere (die Analytik) ist nämlich das Vollendete der Ersteren (der Arithmetik). Das Kontinuum lässt sich auch als das Vollendete der Zahlenreihe ansehen« (178 f.). Nach Nishida ist dieses Kontinuum daher das Vollendete der Zahlenreihe, weil die irrationale Zahl (das Ideale) und die rationale Zahl (das Reale) in ihm eingeschlossen sind. Schließlich wird die Tathandlung Fichtes als das »Ideal + Real« ausgedrückt. »Das Kontinuum, das den Grenzpunkt [den der irrationalen Zahl als idealen Punkt und den der rationalen Zahl als realen Punkt] in sich enthält, ist in der Tat das Ideal + Real [im Original deutsch]; das ist nämlich das Konkrete [im Original deutsch]. Unser Selbst ist nämlich der Grenzpunkt, den wir durch die Reflexion nicht erreichen können […]. Das ist nämlich das Selbstbewusstsein als ›das gleiche Geschehen zwischen dem Akt der Reflexion und dem Selbst‹. D. h., die Tathandlung Fichtes ist das Ideal + Real« (166). Damit entsteht seine Einsicht, dass »das System der Zahl durch die rationale und irrationale Zahl das Kontinuum ausdrücken kann und somit das Reale mathematisch betrachtet werden kann« (180). 2) Nishidas Verständnis des Realen als Mathematisches Nishidas Verständnis des Realen als Mathematisches steht in diametralem Gegensatz zu Husserls Auffassung des mathematischen Gegenstandes, vor allem seiner späteren Kritik »der Mathematisierung der Lebenswelt« 131. Das hier genannte Ideale und Reale hat den ontologischen Status des durch das Denken entstandenen idealen Seins und des realen Seins. Woher kommt überhaupt die Notwendigkeit, dass die konkrete, reine Erfahrung vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt in die Spaltung zwischen den beiden, zwischen idealem und realem Sein, gebracht werden muss, wenn das kontinuierliche System des Selbstbewusstseins die die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt in sich einschließende Einheit ist? Ohne darauf einzugehen, weist Nishida auf die Möglichkeit der mathematischen Betrachtung des Realen hin und fragt: »Wird das Wesen der Kontinuität, die die Tatsache unserer Wahrnehmung konstituiert, zum Gegenstand des Denkens, und ist das mit dem Wesen der Kontinuität [im mathematischen Sinne] wohl nicht identisch?« 131 Zu dieser sehr wichtigen und zentralen Kritik an der Mathematisierung und Technisierung der Lebenswelt vgl. die Darstellung im »Krisis-Buch«, Hua VI, § 9.

325 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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(173). Wenn so verstanden, bleibt die Frage nach der Selbstentwicklung des kontinuierlichen Selbstbewusstseins völlig unthematisiert. Wenn Nishida diese Notwendigkeit in der von ihm so verstandenen, der Tathandlung entsprechenden Selbstentwicklung des Bewusstseinsinhalts bei Husserl finden will, ist es doch unpassend, die »Selbstentwicklung« des Bewusstseinsinhalts als die Zahlenreihe der irrationalen Zahlen des idealen Punktes und der rationalen Zahlen des realen Punktes zu interpretieren. Der Grund der Untauglichkeit dieser Interpretation liegt darin, dass die Eigenschaft der Tathandlung, »die Selbstbewusstsein vom Gleich-Sein von Sinn und Tatsache« hat, durch das Einbeziehen der Grenzpunkte der idealen und realen Punkte nicht erklärbar ist. Zwar sagt Nishida: »Die Qualität des Aktes des intentionalen Erlebnisses [im Original deutsch] ist als die Qualität des Systems des Selbstbewusstseins in demselben System des Selbstbewusstseins anzusehen« (168). Aber die Möglichkeit, die verschiedenen Qualitäten des jeweiligen Bewusstseinsaktes zu unterscheiden, wird bei Husserl und Nishida sehr verschieden aufgefasst. Bei Husserl ist jeder Bewusstseinsakt inmitten seines Fungierens unmittelbar urbewusst. Aber bei Nishida ist die Qualität des Selbstbewusstseins nur durch die negative Bestimmung, nämlich die Bestimmung des »Selbst als des Grenzpunktes, der durch die Reflexion nicht erreichbar ist«, beweisbar, indem er das Selbst des Selbstbewusstseins als den mathematischen Grenzpunkt zu identifizieren versucht. Diese Differenz spiegelt sich in Nishidas Auffassung des Wesens der Empfindung wider, die er durch die Messung der der visuell wahrnehmbaren Linie und der mathematischen Linie unterliegenden »Menge« beweisen können will.

§ 3. Das Moment des Nichts und der Negation im »Vor-der-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt« Die reine Erfahrung, die als das »Vor-der-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt« charakterisierbar ist, lässt sich auch so ausdrücken, dass es in der reinen Erfahrung »weder Subjekt noch Objekt« gibt. Nishida sagt: »Es gibt weder Subjekt noch Objekt, wenn ein konkretes Allgemeines in der eigenen Entwicklung ist. Wenn dieses Erlebnis vom Standpunkt des im Hintergrund liegenden umfassenden Subjekts gesehen wird, wird die Phase der Entwicklung (als die Kontinui326 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

tät des Subjekts) als der subjektive Akt des Denkens oder der visuellen Wahrnehmung aufgefasst und der Ansatzpunkt solcher Akte, nämlich der Berührungspunkt zwischen dem im Hintergrund liegenden Subjekt und der Erfahrung des Aktes, als das psychische Ich aufgefasst« (208). Nishida sieht hier in der reinen Erfahrung den Berührungspunkt zwischen der transzendentalen Subjektivität und dem Bewusstseinsakt im Sinne des Erlebnisses des psychischen Ichs. Für die Annäherung an die Frage, wie diese Berührung überhaupt ermöglicht wird, lohnt es sich, die Betrachtung von S. Ueda über die Selbstentwicklung der reinen Erfahrung unter dem Aspekt des »Vor-der-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt« heranzuziehen. Ueda interpretiert die reine Erfahrung Nishidas im Zusammenhang mit dem »Bewusstsein« bzw. »Bewusstseinsfeld« und dem »Bewusstsein vom ›Un-Bewussten‹«, das in der Denkperiode der »Logik des Ortes« entfaltet wurde. Er zitiert für die Erhellung der reinen Erfahrung im Kontext der Logik des Ortes den Text aus »Grundriss der Philosophie« (»Tetsugaku gairon«): »Die Tatsache der unmittelbaren Erfahrung ist nur die Erfahrung des ›Rots‹, die nicht in der Sprache auszudrücken ist. Es ist nicht nötig, zum ›Rot‹ das Wissen oder das Bewusstsein hinzuzufügen. Das Rot-Sein des Rots selbst ist gleich dem Bewusstsein.« 132 »Das Rot-Sein« bedeutet nach Ueda, »dass der sich dem Rot sprunghaft annähernde Ort, der Ort, wo das Rot in dem Un-Bewusstsein vom Rot zum [bewussten] Rot geworden ist, d. h. der Ort, wo das Sein nicht im Bewusstsein gesehen wird, sondern das Bewusstsein ins Sein aufgesaugt wird, gerade solcher Ort ›gleich bewusst‹ ist.« 133 Diese Zitate müssen noch verständlicher erklärt werden. Das hier so genannte »Un-Bewusstsein« bedeutet das »Bewusstsein, das durch das Sein aufgesaugt und zum Nichts des Un-Bewusstseins geworden ist« 134. Die Art und Weise, wie das »Un-Bewusstsein« bewusst wird, ist natürlich mit dem Bewusstsein nicht erklärbar, das wiederum durch ein anderes Bewusstsein bewusst würde, wie die Reflexion durch eine andere Reflexion reflektiert würde. Was bedeutet es aber überhaupt, »durch das Sein aufgesaugt« zu werden? Hierbei versucht Ueda, den Begriff der intentionalen Übertra132 133 134

S. Ueda, Keikenn to Basho, S. 141. A. a. O., S. 143. Ebd.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

gung (transgression intentionelle) von Merleau-Ponty mit der Einsicht Nishidas zu vergleichen, damit dieses Nahekommen an den Ort »Rot-Sein« philosophisch erhellt werden kann. Ueda sagt: »Für das Verständnis dieser Sachlage ist der Begriff der ›transgression intentionelle‹ Merleau-Pontys hilfreich. Zum Beispiel sagt Merleau-Ponty: ›Wenn es keine Übertragung der Intention gibt, kann ich sogar den Begriff des Anderen nicht haben.‹ […] Wenn die ›intentionale Immanenz des Gegenstandes‹ dem ›intentionalen Transzendieren‹ gegenübergestellt werden kann, lässt sich Folgendes sagen: Wohin ist das Bewusstsein, das Transzendieren in dieser Gegenwart gegangen? Das Bewusstsein und das Transzendieren sind gerade in dem Geschehnis von ›Zawa, Zawa‹, das heißt eben ›Zawa, Zawa‹ [›Zawa, Zawa‹ ist ein onomatopoetischer Ausdruck für das Rascheln mehrerer Blätter], ›Rot ist Rot‹. Nishida spricht nicht von der ›intentionalen Übertragung‹. Er zeigt den Ort, wo die Übertragung bereits vollendet ist, direkt und versucht, das Bewusstsein in der aktuellen Durchführung zu zeigen und den Problemansatz da anzusetzen.« 135 In den hier zitierten Passagen befinden sich folgende für unsere Thematik wichtige Punkte: a) Merleau-Pontys Begriff »transgression intentionelle«, auf den Ueda hinweist, ist in der Tat nichts anderes als der Begriff der passiven Intentionalität, der »Paarung«, die für die Begründung der Intersubjektivität als »die Urform der passiven Synthesis« in der fünften Meditation der »Cartesianischen Meditationen« gebraucht wird. Daher bedeutet Uedas Gegenüberstellung der intentionalen Immanenz des Gegenstandes und der intentionalen Übertragung eben für Husserl in Wirklichkeit die Gegenüberstellung der aktiven und der passiven Intentionalität, die Ueda eigentlich nicht gemeint hat. Denn die hier genannte intentionale Immanenz wird als der Bewusstseinsakt (Noesis) gedacht (die Noesis selbst ist im inneren Bewusstsein als reelle Zeitdauer urbewusst), der den Bewusstseinsinhalt (Noema, die intentionale Gegenständlichkeit) konstituiert, aber »die intentionale Übertragung« fungiert schon vor der in der Korrelation Noesis – Noema vollzogenen Konstitution des Gegenstandes als die passive Synthesis der Paarung der Assoziation, eigentlich vor dem Bewusst-Werden, im Sinne des von Ueda so genannten »Un-Bewussten«. Dieses Un-Bewusstsein entsteht durch die wechselseitige We-

135

A. a. O., S. 144 f.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

ckung der passiven Synthesis, d. h. ohne Unterschied zwischen Transzendenz und Immanenz. Also zeigt die Paarung der passiven Synthesis vor der Spaltung zwischen Immanenz und Transzendenz den Ort, wie Ueda sagt, »wo die Übertragung bereits vollendet ist«, als das wechselseitige Geschehen zwischen dem Leben und der Umwelt. Daher kann eine tiefere Analyse der intentionalen Übertragung das von Nishida nicht weiter verfolgte Wie dieses »Un-Bewusstseins« in der tieferen, neuen Erkenntnistheorie der Phänomenologie erhellen. Husserl zeigt nicht nur das neue Gebiet der »Phänomenologie des Unbewussten«, sondern analysiert die intermonadische Kommunikation zwischen dem Leben und der Umwelt unter der Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Affektion in der genetischen Phänomenologie. b) Das hier genannte »Transzendieren« bedeutet, wie Ueda treffend sagt, kein »Ausgehen« oder »Grenze-Überqueren«. Vielmehr »ist das Bewusstsein [bereits] vor der Reflexion als Nicht-Bewusstsein dort da« 136. Das Transzendieren in diesem Sinne ist nach Ueda die »Ek-stase«, das »Aus-sich-selbst-Sein« im Sinne Heideggers. Das »Dort« ist bereits entstanden. Dort, beim Berühren der Dinge, d. h. »im Augenblick des Sehens einer Farbe, des Hörens eines Tons gibt es weder Subjekt noch Objekt« 137. Es geht hier um »das ›In-die-DingeEintreten‹« (später sagt Nishida »›das Zu-Dingen-Werden‹«). Es fängt von dort an, wo sich das Ich noch nicht befindet, und kommt dann nachträglich zum ›Ich‹ zurück.« 138 In solcher unmittelbaren Erfahrung wird völlig selbstlose Zuwendung zur Sache selbst, anders gesagt, »selbstloses Selbst« schon verwirklicht. 139 c) Hinsichtlich dieses Werdens des selbstlosen Nicht-Bewusstseins ist Uedas Hinweis auf die praktische Übung des Zen-Sitzens sehr wichtig. Das »Dort-Sein als das Nicht-Bewusstsein« wird erst durch eine praktische Übung ermöglicht und erklärt. Ueda sagt: »Es muss sich der Reflexion als einer Aktivität des Ichs enthalten und in der unmittelbaren Nähe des Dinges auf den Auftritt der Gegenwart vorbereitet sein. […] Das Sich-der-Reflexion-Enthalten ist natürlich kein Akt der Reflexion auf die vorbeigehende Reflexion und hat den

A. a. O., S. 145. A. a. O., S. 107. 138 Ebd. 139 Zur »reinen Erfahrung«, die mit der Unterscheidung zwischen der empirischen Erfahrung und der transzendentalen Bedingung nicht verstanden werden kann, vgl. G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität, S. 535–540. 136 137

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

eindeutigen Charakter der Schulung. – Die Frage des Wissens ist im Grunde von Anfang an die Frage der Praxis.« 140 Der in der Philosophie des Existenzialismus gebrauchte Begriff »Ek-stase« und der Begriff der Schulung, die mit dem Sich-derReflexion-Enthalten gemeint ist, haben einen sehr deutlichen praktischen Charakter. Diese praktische Eigenschaft des MahayanaBuddhismus, die durch die Ichlosigkeit des »Nicht-Ichs« in der buddhistischen Schulung erreicht wird, ist in der Einsicht der Tathandlung Fichtes natürlich nicht eingeschlossen. Ueda weist treffend darauf hin, dass Nishida beim Zurückblicken auf den eigenen Denkweg in »Philosophische Aufsätze II, 1939« sagt: »Es war aber nicht das Selbstbewusstsein bei Fichte, was mich von Anfang an bewegte. Meine Position übersteigt das ›Ich‹ bei Fichte und nimmt einen noch ursprünglicheren Standpunkt ein.« 141 Es ist kaum möglich, in der Tathandlung Fichtes das Moment des Nichts, das das Sich-der-Reflexion-Enthalten beinhaltet, zu finden. d) Im Zusammenhang mit Merleau-Pontys Auffassung der Intentionalität versucht auch der bekannte Religionsphilosoph T. Izutsu, die Schulungsaufgabe des Mahayana-Buddhismus, das ZumNichts-Werden, das mit dem Begriff »Nichts« bzw. »Leerheit« ausgedrückt wird, zu erhellen. Er erwähnt dabei in seinem Aufsatz »Entdinglichung und Wiederverdinglichung der ›Dinge‹ im Zen-Buddhismus« 142 den »vor-objektiven, auf das Sein der Welt gerichteten Blick« und die »Umkehr auf die Lebenswelt als die vor der objektiven Welt gelebte Welt« bei Merleau-Ponty. Er sagt: »Der Mahayana-Buddhismus könnte Merleau-Pontys Betonung der höchsten Wichtigkeit ›einer prä-objektiven Sicht‹ der Dinge völlig beistimmen, wenn er nicht einen radikalen Unterschied zwischen seiner eigenen Position und der des französischen Phänomenologen bemerkte.« 143 Dieser radikale Unterschied beinhaltet ihm zufolge, dass die präobjektive Sicht Merleau-Pontys wegen der vorausgesetzten erkenntnistheoretischen Struktur des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt nur die Vorstufe der Objektivierung bedeutet und der Stand-

S. Ueda, Keikenn to Basho, S. 100 f. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 63. 142 T. Izutsu, Die Entdinglichung und Wiederverdinglichung der »Dinge« im ZenBuddhismus. 143 A. a. O., S. 21. 140 141

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

punkt des Nichts nicht nur durch die Entobjektivierung, sondern vielmehr durch die »Entsubjektivierung« ermöglicht werden kann. 144 Die Entsubjektivierung Izutsus wird durch die Schulung des Sich-der-Reflexion-Enthaltens praktisch durchgeführt. Im theoretischen Sinne entspricht die hier so genannte Entsubjektivierung und Entobjektivierung genau der Methode des Abbaus in der genetischen Phänomenologie Husserls. Das Bewusstsein, das in der durch die Schulung bzw. den praktischen Abbau erreichten Aussage »Das RotSein von Rot ist gleich dem Bewusstsein« gemeint ist, ist auch für Husserl kein Bewusstsein im Sinne des Aktes der Reflexion, sondern eben das Urbewusstsein, in dem der Bewusstseinsakt selbst wie der der Reflexion unmittelbar urbewusst wird. Somit ist der Ort des Urbewusstseins des Bewusstseinsaktes eröffnet. Jedenfalls ist das Verhältnis zwischen dem praktischen Abbau beim Zen-Sitzen und dem theoretischen Abbau in der genetischen Phänomenologie sehr aufschlussreich für die Orientierung der zukünftigen monadologischen Phänomenologie. e) Der Prozess der Entsubjektivierung bedeutet aber keine direkte Negation des vorgestellten eigenen Subjekts, genauso wie die Entobjektivierung keine direkte Negation des vorgestellten Objekts bedeutet. Bei der Zen-Übung, z. B. mit dem Atemzug völlig eins zu sein, geht es nicht um die Negation des bei der Übung ständig auftauchenden vorgestellten Subjekts und Objekts, sondern um das völlige Ignorieren aller Arten von Vorstellungen bzw. das Unabhängig-Sein oder Abgelöst-Sein von allen möglichen Vorstellungen.

§ 4. Die Selbstentwicklung der reinen Erfahrung in der Ganzheit von Wissen, Fühlen und Wille; Nicht-Ich und Person Wenn der Fokus vom Wissen im Selbstbewusstsein zum Fühlen und Willen verschoben wird, ist der Einfluss der praktischen Vernunft Kants auf Nishidas Gedanken über das Fühlen und den Willen eindeutig. Nishida sagt sehr klar: »Unser Selbstbewusstsein gehört zur selbständigen freien Person, und das ist gleichzeitig ein Teil des großen Selbstbewusstseins. Unsere Person ist ein Teil der Person Gottes« (210). Wie oben gezeigt, ist die transzendentale Apperzeption des Ichs ohne weiteres bei Nishidas Standpunkt in diesem Buch vorausgesetzt, 144

A. a. O., S. 20 ff.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

und dabei wird der Gegensatz zwischen dem Begriff der Person im christlichen und dem des Nicht-Ichs im buddhistischen Denken in diesem Kontext überhaupt nicht berücksichtigt. Somit ist auch der Grundsatz der praktischen Philosophie Kants, nämlich der Gegensatz zwischen der Freiheit der Person und der Notwendigkeit der Kausalität der Natur, vorausgesetzt. Nishida sieht die reine Erfahrung als die Einheit von Wissen, Fühlen und Wille an und sieht darin die Verwirklichung des echten Selbst. Nach M. Fujita sind das echte Selbst und die Person eins: »Alle Kräfte des Selbst sind aufgebraucht, und das Bewusstsein des Selbst ist fast verschwunden. Wo das Selbst sein eigenes Bewusstsein verliert, ist erst die Aktivität der Person im Gang.« 145 Das echte Selbst in der reinen Erfahrung ist eben die echte Person. Das echte Selbst ist eigentlich das Nicht-Ich im Buddhismus. Ist dann die echte Person gleich dem Nicht-Ich? Der Begriff Person setzt bei Nishida die transzendentale Subjektivität Kants voraus. In Bezug auf die transzendentale Subjektivität sagt aber Ueda mit der Anwendung des Begriffs der »Ur-Erfahrung«, die nichts anderes als die reine Erfahrung Nishidas ist, in Gegenüberstellung zum Nicht-Ich: »Das Ich ist nicht das Ich, eben daher ist es das Ich. […] Die Konstitution des Ich-Subjekts selbst wird anerkannt, aber gerade deswegen muss das, was vor dieser Konstitution gegeben ist, als die Ur-Erfahrung benannt werden. Nach dieser Ur-Erfahrung wird die Konstitution des Ich-Subjekts im Rahmen der Gegenüberstellung zwischen Subjekt und Objekt als die verschiedenen, relativierten Modalitäten und Entwicklungen der Ur-Erfahrung angesehen. Solche Ur-Erfahrung wird in der Weise der ›Ich-losigkeit‹ gegeben, sodass das Ich-Subjekt durchbrochen und zum Nichts gebracht wird (philosophisch ›Ek-stase‹, empirisch ›Ich-los‹ oder ›Selbstvergessenheit‹ genannt).« 146 Hier ist klar, dass die transzendentale Subjektivität als die Aktivität der Konstitution innerhalb des Rahmens von Subjekt und Objekt verstanden wird, aber die echte Person als das echte Selbst in der reinen Erfahrung in der »Untersuchung über das Gute« nicht als die transzendentale Subjektivität des Ich-Subjekts, sondern vielmehr als die Person in der später zu thematisierenden Ich-Du-Beziehung, wo 145 M. Fujita, Gendai shiso toshiteno Nishida Kitaro, S. 184 f. Zitierte Texte: Nishida, Zen no Kenkyu, S. 192. 146 S. Ueda, Watashi to wa nanika, S. 167 f.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

das ichlose Selbst nicht als Ich-Subjekt bewusst wird, aufgefasst wird. Also wird hier weiter gefragt, in welches Verhältnis diese echte Person in der reinen Erfahrung mit dem Begriff der Person in der personalistischen Einstellung Husserls und dem der Person der Ich-DuBeziehung Bubers gebracht werden kann.

§ 5. »Ich und Du« bei Nishida, Buber und Husserl Nach Ueda hat Nishida den Bereich des »Ortes des absoluten Nichts« durch die Entwicklung seiner Philosophie, die sich vom Selbstbewusstsein bis zur »Logik des Ortes« entfaltete, erreicht. Zunächst ist hier diese Entwicklung selbst zu betrachten. In dieser Denkperiode hat Nishida die Beziehung des Menschen in der sozialen, konkreten und geschichtlichen Welt zu behandeln versucht und den Aufsatz »Ich und Du«, unabhängig von Bubers bekanntem Buch »Ich und Du«, geschrieben. Ueda erwähnt bezüglich Nishidas Selbstkritik an diesem Artikel »Ich und Du«, dass Nishida selbst vom Aspekt »vom Ich als Individuum hin zur Welt« abhängig war und der Aspekt des »Zwischen« von »Ich und Du« nicht ausreichend hervorgehoben wurde. 147 Gemäß diesen Hinweisen ist also für die korrekte Auffassung der Ich-DuBeziehung bei Nishida das Verständnis des Aspektes des »Zwischen« von »Ich und Du« entscheidend. Vorausschickend ist zu erwähnen, dass dieser Aspekt des Zwischen auch für die Auffassung des Begriffs der Intentionalität bei Husserl sehr zentral ist, weil nämlich die bereits vollzogene Bezogenheit der Intentionalität, sei es der aktiven oder der passiven Intentionalität, für das Verständnis der Intentionalität selbst entscheidend ist. Das oben erwähnte »Bereits-dort-Sein« Nishidas ist in der passiven Intentionalität vorbewusst-vorkonstituiert vollzogen und gleichzeitig, falls die aktive Intentionalität am Werk ist, auf der Stufe der aktiven Intentionalität bewusst-konstituiert vollzogen. Meine Aufgabe hier besteht darin, Bubers Ich-Du-Beziehung, auch in Bezug auf den Begriff der Intentionalität in der personalistischen Einstellung Husserls, und »Ich und Du« bei Nishida unter dem Aspekt dieses Zwischen in eine komparative Betrachtung zu bringen

147

Vgl. S. Ueda, Keikenn to Basho, S. 248.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

und schließlich die Bedingung für die soziale Verwirklichung dieses Zwischen in der Gesellschaft zu erhellen. 1)

»Ich und Du« in der späteren Denkperiode Nishidas, der »Logik des Orts«

Auf der dritten Stufe der »Ort-Logik« spielt Nishidas Auseinandersetzung mit der Dialektik Hegels eine entscheidende Rolle. Die Zeitperiode dieser Stufe fällt in die Krise der Humanität, zwischen dem Anfang des Ersten Weltkriegs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der Zweifel an der Zivilisation und den Wissenschaften in Europa, was in der Folge zu einem weiteren großen Krieg und Zerstörung führen musste. 148 Im Zeichen des Imperialismus kämpften die stärkeren Länder im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und Marxismus auf theoretischer und praktischer Ebene um ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen gegeneinander. In diesem Zeitgeist hat Nishida seinen Artikel »Ich und Du« (1932) über seine Auffassung des sozialen Zusammenlebens der Menschen in der dialektischen Entwicklung seiner Ort-Logik geschrieben. Nishida hat in solchen politisch-sozialen Unruhen seine Philosophie der Gesellschaft und Geschichte in Japan zu begründen versucht. Dabei hat er sich mit der Dialektik Hegels kritisch auseinandergesetzt und seine eigene »Dialektik des absoluten Nichts« mit der Einführung des Begriffs des »geschichtlichen Leibes« (jap. rekishiteki shinntai) postuliert. a) In diesem gesamten Zusammenhang ist zunächst, wie oben bereits gesagt, zu erwähnen, dass sich Nishida der Problematik der Intersubjektivität bei Husserl in seinem Artikel »Ich und Du« voll bewusst war. Die Thematik der Intersubjektivität war für ihn so weit klar, dass Nishida nicht nur die Grenze des Analogieschlusses, den Husserl selber deutlich kritisierte, sondern auch Schelers Kritik am Begriff der 148 Zu diesem Krisenbewusstsein nach dem Ersten Weltkrieg, das mit der Entstehung der Frage nach einer philosophischen Anthropologie, also nach dem Wesen des Menschen, eng zusammenhängt, vgl. Martin Buber, Die Krisis und ihr Ausdruck, in: Werke I, S. 352 ff. Interessant ist dabei sein Hinweis auf Husserls Satz über das Krisenbewusstsein vom Menschen als sozialem Wesen: »Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein in generativ und sozial verbundenen Menschheiten« (Hua VI, 13).

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Einfühlung bei T. Lipps gekannt hat. Aber sein Lösungsversuch, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ich und Du zu erhellen, liegt nicht in einer phänomenologischen Analyse in der Art Husserls, sondern in seiner eigenen Auffassung der wahren dialektischen Bewegung des absoluten Nichts, die auch den Begriff der »Anerkennung« bei Hegel einschließen sollte. b) Dabei sah Nishida die Dialektik Hegels kritisch als »eine prozesshafte Dialektik«. Mit »prozesshaft« meint Nishida die Eigenschaft der Dialektik Hegels, das Moment der Negation, des Widerspruchs, das Moment der Andersheit des Anderen im Kontext der sozialen Kommunikation schließlich problemlos begrifflich, prozesshaft wegzurationalisieren, also den Prozess der Rationalisierung durch Begriffe. Nishida zeigt demgegenüber das Moment der echten Negation als Moment »des Anderen«, als »Irrationalität« auf, was Nishida als Begriff von E. Lask übernommen hat. Die Irrationalität bedeutet bei Lask »ein Irrationales, begrifflich nicht Festlegbares und Unkonstruierbares, ein logisch Unzugängliches«, anders gesagt, die »Irrationalität des Materials« oder »die Nicht-Rationalisierbarkeit«. 149 Bereits weiter oben ist »das Rot-Sein« am vorsprachlichen Ort, nämlich vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, bei Nishida gezeigt worden. Im Zusammenhang mit der Intersubjektivität, also mit dem Moment des Anderen wird dieses »Rot-Sein« mit dem Begriff der »Empfindung« von Nishida in seinem Artikel »Ich und Du« auf folgende Weise ausgedrückt: »Schon in der Empfindung erkenne ich in mir selbst den Anderen, so daß bereits dort die Bedeutung eines dialektischen Selbstbewußtseins enthalten ist, indem Ich durch den Anderen bestimmt werde und zugleich den Anderen bestimme.« 150 Wie sieht es dann mit der wechselseitigen Bestimmung zwischen Ich und Anderem auf der Ebene der Empfindung, auf der die Bedeutung eines dialektischen Selbstbewusstseins enthalten ist, aus? Ueda interpretiert, wie oben gezeigt, diese Empfindung mit der intentionalen Übertragung Merleau-Pontys, die eigentlich die passiv-assoziative Synthesis der passiven Intentionalität bedeutet. c) Diese wechselseitige Bestimmung in der, nach Nishida, dialektischen Bewegung wird in der Ort-Logik der Beziehung zwischen Ich 149 Vgl. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 96. Elberfeld zitiert den Text von Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, S. 76 f. 150 K. Nishida, Logik des Ortes, S. 181.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

und Anderem (Du) auf der Ebene der Beziehung zwischen Ich und den Dingen und zwischen Ich und anderem Menschen noch konkreter ausgedrückt: »Die Dinge (mono) werden zur rufenden Stimme eines Du; indem die Dinge uns ansprechen, weiß ich Dich und Du Mich. […] Ein Ausdruck ist der in uns und uns gegenüber gesehene Andere. Zudem ist er die rufende Stimme des Anderen. Indem wir in unserem Grunde den absolut Anderen erkennen, gehen wir von Innen her unvermittelt in den Anderen über; dies hat aber nicht die Bedeutung einer undifferenzierten Ich-Du-Einheit, vielmehr müssen sich Ich und Du vereinen, indem der absolut Andere als Vermittlung fungiert. Indem ich in meinem eigenen Grunde den absolut Anderen als den eigenen Grund sehe, gehe ich ins Innere des Anderen ein, d. h., Ich verliere Mich im Anderen und zugleich musst auch Du Dich im Anderen verlieren; Ich kann im Anderen Deine und Du kannst im Anderen Meine Stimme rufen hören.« 151 Was kann man unter der Aussage »Die Dinge werden zur rufenden Stimme eines Du« verstehen? Ist das eine bloße Metapher? Hier ist es möglich, diese Aussage mit Bubers Behauptung über die reziproke Ich-Du-Beziehung mit der Natur (den Dingen) in eine Verbindung zu bringen. Buber sagt, dass die Ich-Du-Beziehung zwischen dem Ich und den Dingen (der Natur) möglich ist. Nicht nur in Bezug auf ein Pferd, sondern auch in Bezug auf einen Stein ist die »reziproke Beziehung« für Buber möglich. 152 Das ist aber kein Bericht über ein mystisches Erlebnis, die sogenannte völlige Einheit mit der Natur, die der Behauptung des mystischen Erlebnisses des Pantheismus entspräche. Auch für Husserl ist diese Beziehung zwischen Ich (genauer gesagt der Ich-Monade) und Natur (als der ursprünglichen, ersten Stufe der Monade), als »intermonadische, instinktive Urkommunikation« ausgedrückt, möglich, obwohl die konkrete Art und Weise einer solchen Beziehung nicht wie bei Nishida und Buber dargestellt wird. Aber wie oben gesagt, ist die Tragweite der phänomenologisch-erkenntnistheoretischen Erhellung der Basis der intersubjektiven Kommunikation mit der passiv-assoziativen Synthesis bei Husserl wesentlich weiter als Nishida und Buber. In dem obigen Zitat ist zu bemerken, dass Nishida die »undiffeA. a. O., S. 183. Buber sagt: »O Glimmerstück, welches anschauend ich einst zuerst verstand, daß Ich nicht etwas ›in mir‹ ist […]« (M. Buber, Werke I, S. 144 f.). 151 152

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

renzierte Ich-Du-Einheit« verneint, die auch Husserl in Bezug auf den Begriff der »Einsfühlung« bei Scheler sehr scharf kritisiert. 153 Vielmehr weist Nishida auf »die Vereinigung zwischen Ich und Du« in der Vermittlung durch den absolut Anderen hin. d) Die Nähe von Nishidas Darstellung der dialektischen Bewegung zwischen Ich und Du zur Darstellung der Ich-Du-Beziehung bei Buber wird im obigen Zitat Nishidas als »Stimme rufen hören« und im wechselseitigen »Antworten« 154 deutlich ausgedrückt. Die wichtige Frage ist allerdings, auf welche Weise solches Stimme-rufen-Hören oder Aufeinander-Antworten geschieht. Dabei stehen die oben genannten Hinweise auf die praktische Schulung der Ichlosigkeit des Nicht-Ichs Uedas und die Entsubjektivierung Izutsus in engem Zusammenhang mit der Aussage über das »Sich-Verlieren« des eigenen Ichs bei Nishida. Nishida sagt: »Ich verliere Mich im Anderen und zugleich musst auch Du Dich im Anderen verlieren; Ich kann im Anderen Deine und Du kannst im Anderen Meine Stimme rufen hören.« Das ist gewiss eine paradoxe Aussage, gerade weil das Sich-Verlieren und das Stimme-rufen-Hören in Bezug auf die gleiche Handlung des Menschen behauptet werden. Diese Selbstlosigkeit entsteht also in der Mitte der, nach Buber, völligen, ganzheitlichen Zuwendung (bzw. Handlung) zum Du von selbst. Aber das Sich-Verlieren ist keine Negation in dem Sinne, dass etwas Gegenständliches oder eine bestimmte Situation im Urteil logisch negiert wird. Also ist es nun nötig zu klären, was Nishida mit diesem paradoxen Verhältnis des wechselseitigen Verneinens meint und vor allem was er mit dem Begriff der »Vermittlung des absolut Anderen« ausdrücken will. 2)

Vermittlung des absoluten Nichts bzw. Anderen oder Ausgang von der einzelnen Ich-Du-Beziehung

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem einzelnen Anderen und dem absoluten Anderen, das bei Buber als das Verhältnis zwischen »dem einzelnen Du und dem ewigen Du« thematisiert wird, macht den Unterschied der Auffassung der Ich-Du-Beziehung bei Nishida und Buber sehr deutlich. 153 154

Vgl. Hua XIV, 527, siehe oben, S. 233. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 179.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Die Dialogphilosophie Bubers gibt uns die sehr überzeugende Darstellung, dass der Bezug auf das ewige Du nur durch die Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung zu einem einzelnen Du ermöglicht wird. »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm.« 155 Ohne die verlängerten Linien der Beziehungen befindet sich kein Überschneidungspunkt mit dem ewigen Du. Ohne geeinzeltes Du kann kein Durchblick zu ihm entstehen. Die allerernsteste und wichtigste Frage ist die nach der Verwirklichung der einzelnen Ich-Du-Beziehung inmitten des Ich-Es-Verhältnisses in der konkreten Gesellschaft. Aber für Nishida ist das Verhältnis zwischen dem einzelnen Anderen und dem absoluten Anderen gerade umgekehrt aufzufassen. Das heißt, ohne Vermittlung des absoluten Nichts bzw. des absoluten Anderen ist die Vereinigung zwischen Ich und Du nicht möglich. Nishida sagt, wie schon oben zitiert: »Indem ich in meinem eigenen Grunde den absolut Anderen als den eigenen Grund sehe, gehe ich ins Innere des Anderen ein […].« Und auch: »Weil der absolut Andere, den wir in unserem Grunde bergen, die Bedeutung des absoluten Du besitzt, empfinden wir im Grunde unseres Ich eine unendliche Verantwortung, so daß die Existenz unseres Ich an sich als Schuld (zaiaku) verstanden werden kann.« 156 Es ist hier eindeutig, dass der absolute Andere in einem ethischen und religiösen Kontext verhandelt wird. Wenn alle einzelnen Ich-Du-Beziehungen in der Gesellschaft nach Nishida schließlich als der Ausdruck oder die Selbstbestimmung des absoluten Nichts, des absoluten Du in der Dialektik des absoluten Nichts gedacht werden müssen, kann eine ethische Entscheidung des Einzelnen nur aus der Beziehung zwischen dem einzelnen Ich und dem absoluten Anderen, also zwischen dem Ich und »dem ewigen Du« im Sinne Bubers, entstehen. Dadurch ergibt sich aber die große Gefahr, dass die konkrete Verwirklichung oder die Schwierigkeit dieser Verwirklichung der einzelnen Ich-Du-Beziehung in der jeweiligen Gesellschaft gerade wegen der Übermacht der Dialektik des Absoluten nicht hinreichend beachtet wird. In der Gesellschaft steht man aber jeweils vor der Kon-

155 156

M. Buber, Werke I, S. 128. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 198.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

frontation mit der »unendlichen Verantwortung« für den absoluten Anderen jedes einzelnen Ichs gegenüber dem einzelnen Du in einer einzelnen ethischen Verantwortung. Hierbei muss das Verhältnis zwischen dem einzelnen Du und dem absoluten, ewigen Du in der Gesellschaft bei Nishida erneut infrage gestellt werden. a) Dieses Verhältnis ist bei Nishida insofern eindeutig, als die Geschichte des Menschen für Nishida unter dem Aspekt der Dialektik des absoluten Nichts, das auch als das »ewige Jetzt« in der Auffassung der Zeit der »diskontinuierlichen Kontinuität« 157 oder als »der absolute Andere« bzw. »das absolute Du« bezeichnet wird, darzustellen ist. Das heißt, der methodische Zugang, den Nishida für die Darstellung seiner eigenen Philosophie besonders in dieser Denkperiode wählt, hat seinen Ausgangspunkt in dem oben genannten Absoluten, sei es im absoluten Nichts oder im Anderen, und er versucht, die Geschichte, die erst entsteht, »indem Ich und Du sich treffen« 158, darzustellen. Diese Art und Weise des methodischen Zugangs hat einen sehr engen Zusammenhang mit den zwei verschiedenen Darstellungsweisen der tradierten buddhistischen Philosophie. Als eine Methode der Darstellung wird der Modus des Hinwegs (往相, Ōsō) von der Weltwirklichkeit zur letzten Wahrheit bezeichnet, und der andere Weg ist der Modus des Rückwegs (還相, Gensō), der umgekehrt von der letzten, absoluten Wahrheit zur Weltwirklichkeit führt. Der Hinweg wird ausführlich dargestellt als der Prozess des Schulungsweges bis zur letzten Wahrheit, währenddessen der Schüler Schwierigkeiten und Hindernissen begegnet, die eigentlich aus der eigenen Egozentrik stammen. Der Rückweg vom Absoluten zur Weltwirklichkeit wird als der Weg der »Selbstbestimmung des ewigen Jetzt« 159 logisch-begrifflich darzustellen versucht. b) Ein typisches Beispiel für den ersten Weg ist die Beschreibung der Yogacara-Schule 160 des Mahayana-Buddhismus, die die Wandlung des Bewusstseins von der ersten Stufe der »eingebildeten Einstellung« über die zweite Stufe des Schauens des »wechselseitig abhängigen Entstehens« der Dharmas zur dritten und letzten Stufe der

Dazu ausführlich vgl. unten, S. 346 f. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 197. 159 A. a. O., S. 147. 160 Zum Verhältnis zwischen der Yogacara-Schule und der Phänomenologie Husserls vgl. I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, Kap. VI; siehe auch oben, S. 184 f. 157 158

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Verwirklichung der vollkommenen Wahrheit sozusagen von unten nach oben detailliert darstellt. Der zweite Weg zeigt sich in den Texten der Hua-Yen-Schule 161 des Mahayana-Buddhismus deutlich, deren Standpunkt und Methode der Dialektik des absoluten Nichts Nishidas nähersteht. In dieser Schule wird der Weg vom Absoluten zur Weltwirklichkeit gerade umgekehrt als in der Yogacara-Schule, nämlich von der letzten Stufe der vollkommenen Wahrheit zur ersten Weltwirklichkeit der »eingebildeten Einstellung«, also von oben nach unten, dargestellt. Der Vorzug des Ersteren besteht in der der Wirklichkeit der Schulung nahen, sehr differenzierten Darstellung, in der die tiefste Wechselwirkung zwischen dem unbewussten Trieb unseres Lebens und unserer Umwelt als der Grund unserer phänomenalen Welt in die Reflexion der Philosophie eingebracht werden kann. Wie im ersten Teil dieses Buchs gezeigt, entspricht diese Darstellung erstaunlicherweise genau der Konstitutionsanalyse des Bewusstseinsstroms, nämlich der intermonadischen Zeitigung der genetischen Phänomenologie Husserls. 162 Der Vorzug des zweiten Wegs liegt in der systematischen, logisch-begrifflichen Darstellung, die aber in der Gefahr steht, durch die Überwindung des Irrationalen, Unbegreiflichen, das niemals ins System des Begriffs integriert werden kann und das gesamte System eventuell durchbrechen könnte, völlig rationalisiert zu werden, wie Nishida sagt. c) In seinem Artikel »Ich und Du« fasst Nishida das Moment der Negation als das Irrationale, das in der Dialektik Hegels nicht begrifflich aufgehoben werden kann, anhand des Begriffs »das Ich übersteigende Du« auf folgende Weise: »Im Grunde unseres Wissens muß das Du enthalten sein. Wir stehen in drei Richtungen etwas gegenüber, das unser Ich überstiegen hat. Dabei handelt es sich (1) um die Dinge, (2) um das Du und (3) um das transzendente Ich. Diese drei sind jedoch von Anfang an nicht getrennt voneinander, vielmehr können sie als Momente im konkreten Wissen darin enthalten sein. Das heißt, im persönlichen Selbstbewußtsein, in dem ich in mir selbst den absolut Anderen sehe, sind diese drei Gegensätze enthalten.« 163 Das Irrationale als die Dinge habe ich schon oben in Bezug auf 161 162 163

Torakazu Doi, Kegon-Sutra. Vgl. dazu I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, Kap. VI, 4. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 190.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

den Begriff der Empfindung bei Nishida erwähnt. Zusätzlich ist hier Uedas Hinweis auf den Anderen im Bereich der Empfindung hinzuzufügen. Er macht einen deutlichen Unterschied dahingehend, dass die Empfindung bei Hegel als »das allgemeine Diese« bereits abstrakt aufgefasst ist und demgegenüber die Empfindung bei Nishida mit dem »selbstlosen« Erstaunen (θαυμάζειν) im Sinne von »vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt« in der unmittelbaren Erfahrung (»dies da« der Empfindung) vergleichbar ist. 164 Um sich dem »dies da« zu nähern, versucht Ueda, wie oben gezeigt, die Einsicht der Phänomenologie Merleau-Pontys, nämlich den Begriff der »transgression intentionelle«, anzuwenden. d) Das unter (2) genannte Du als Mensch zunächst beiseitelassend, finde ich es hier zunächst etwas problematisch, dass Nishida »das transzendente Ich« als Du unter (3) bestimmt. Das »transzendente«, aber nicht »transzendentale« Ich bedeutet nach ihm »das vergangene Ich«. Er schreibt dazu: »Indem das Ich von Heute das Ich von Gestern als ein Du sieht und indem das Ich von Gestern das Ich von Heute als ein Du sieht, entsteht das Selbstbewußtsein des individuellen Selbst bzw. unser individuelles Selbstbewußtsein als diskontinuierliche Kontinuität.« 165 Es stellt sich aber die Frage, ob das heutige Ich das Ich von gestern wirklich als ein Du sehen kann, anders gesagt, ob das Ich von gestern doch das Ich und nicht das Ich übersteigende Du sein kann. Zwar kann das Ich sich im Anderen verlieren, aber wie kann das Ich sich im vergangenen Ich verlieren? Das Sich-im-Anderen-Verlieren bedeutet für Nishida, dass das Ich an seinem Grunde den absoluten Anderen sieht. Also kann das Ich das Ich von gestern als ein Du nur sehen, wenn das heutige Ich den absoluten Anderen im vergangenen Ich sehen kann. Das so entstehende Selbstbewusstsein ist nur durch die Vermittlung des absoluten Anderen möglich. Die Bestimmung der Zeit, nämlich der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wird in der Philosophie des Mahayana-Buddhismus zwar paradoxerweise als »diskontinuierliche Kontinuität« formuliert, aber die Ich-Du-Beziehung zwischen dem heutigen Ich und dem gestrigen Ich scheint mir der Wirklichkeit der Ich-Du-Beziehung nicht zu entsprechen. Fragwürdig dabei ist nämlich, ob sich das heutige Ich dem gestrigen Ich als Du wirklich zuwenden kann. 164 165

Vgl. S. Ueda, Keikenn to Basho, S. 134 ff. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 195.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Buber spricht dagegen vom »Selbst-Widerspruch« der Ich-DuBeziehung zum eigenen Ich auf folgende eindeutige Weise: »Wenn der Mensch das Apriori der Beziehung nicht an der Welt bewährt, das eingeborene Du nicht am begegnenden auswirkt und verwirklicht, dann schlägt es nach innen. Es entfaltet sich am unnatürlichen, am unmöglichen Gegenstand, am Ich […]. So entsteht das Gegenübertreten in sich selbst, das nicht Beziehung, Gegenwart, strömende Wechselwirkung, sondern nur Selbstwiderspruch sein kann.« 166 Wenn Nishida von einer Beziehung des heutigen Ichs zum gestrigen Ich spricht, versteht er darunter das Vermögen der »Erinnerung«. Er sagt: »Ohne Erinnerung gibt es kein individuelles Selbstbewußtsein. Nimmt man jedoch an, daß sich in der Erinnerung das vorherige Ich (ware) und das spätere Ich unmittelbar vereinen, so hat dies bereits die Bedeutung, daß Ich und Ich (ware to ware) miteinander sprechen. In diesem Sinne können wir mit Augustinus sagen, daß sich alles in der Erinnerung befindet, und zwar auch das Vergessene.« 167 Andererseits behauptet Nishida eindeutig, dass das das Ich übersteigende Du erst durch die totale Negation des Ichs entstehen kann. Wenn aber das Du auch das erinnerte, vorherige oder vergessene Ich sein kann, bleibt für das Ich doch die Gefahr des Solipsismus des transzendentalen Ichs. Husserl sieht diese Gefahr genau und begründet das andere Subjekt natürlich nicht als das erinnerte oder modifizierte Ich, sondern als das durch die passive Synthesis der Paarung mit dem eigenen Subjekt gleichzeitig auftretende. In der radikal vorichlichen, intermonadischen Kommunikation entsteht die Konstitution der intersubjektiv gemeinsamen Natur für den Menschen. Wenn Nishida »das individuelle Selbstbewusstsein als diskontinuierliche Kontinuität« in Bezug auf den absoluten Anderen in mir selbst verstehen will, müsste er diese diskontinuierliche Kontinuität genau genommen als die Beziehung zwischen dem heutigen Ich der Gegenwart und dem Anderen als dem einzelnen Du im vergangenen Ich ansehen. Die Ich-Du-Beziehung zwischen dem Ich und dem Du im vergangenen Ich ist zwar möglich, aber die Ich-Du-Beziehung zwischen dem heutigen und dem gestrigen Ich ist nicht möglich. e) Dieser wichtige Unterschied, nämlich zwischen der Beziehung von Ich und Du im vergangenen Ich und der Beziehung von heutigem 166 167

M. Buber, Werke I, S. 125. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 189.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

und vergangenem Ich, geht leicht verloren, wenn die in der einzelnen Person getroffene moralische Entscheidung gedacht wird ausgehend von der dualistischen Auffassung vom irrationalen Materiellen, der Natur der Vergangenheit auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, dem vernünftigen Willen, dem Geist der Zukunft im »ewigen Jetzt« des absoluten Nichts, das Nishida als den Ursprung und die Quelle seiner Dialektik annimmt. Nishida denkt die moralische Entscheidung des Einzelnen im Rahmen seiner Dialektik des absoluten Nichts, des absoluten Anderen bzw. »des absoluten Du«. 168 Wenn bei Nishida auch das Du als das transzendente, gestrige Ich im Lichte der Ich-Du-Beziehung gedacht wird und wenn noch dazu jede einzelne Ich-Du-Beziehung in der Gesellschaft schließlich als Ausdruck oder Selbstbestimmung des absoluten Nichts, des absoluten Du gedacht werden muss, muss auch die moralische Entscheidung des Einzelnen rein aus der Beziehung zwischen dem einzelnen Ich und dem absoluten Anderen, also zwischen dem Ich und »dem ewigen Du« im Sinne Bubers, entstehen. f) Ueda stellt bei seiner Betrachtung über das Verhältnis zwischen Bubers Auffassung der Ich-Du-Beziehung und derjenigen Nishidas das Verständnis des »Zwischen« in dieser Beziehung ins Zentrum. Im »Zwischen« der Ich-Du-Beziehung Bubers sieht Ueda aber, anders als Buber selbst, kein Zwischen des Ichs und des einzelnen Du der einzelnen Ich-Du-Beziehung, sondern vielmehr direkt das Zwischen des Ichs und des »ewigen Du« der Ich-Du-Beziehung. Ueda sieht wie Nishida in der Ich-Du-Beziehung den Vorrang des Zwischen des Ichs und des ewigen Du gegenüber dem Zwischen des Ichs und des einzelnen Du. Nishida hat also, nach Ueda, das Zwischen von »Ich und Du« in seiner Dialektik des absoluten Nichts als das Zwischen des Ichs und des absoluten Nichts, des absoluten Anderen aufgefasst. Daher stellt sich hierbei folgende Frage: Die Negativität des absoluten Nichts (»weder Ich noch Du«) bei Nishida und die Ichlosigkeit der Ich-Du-Beziehung bei Buber, die nur durch die Auflösung der Ich-Zentriertheit, d. h. von der Ich-Zentriertheit ganz befreit, verwirklicht wird, haben sicher die Gemeinsamkeit dieser Ichlosigkeit. Aber was ist dann der Unterschied zwischen diesen Ichlosigkeiten in den verschiedenen Auffassungen des Zwischen von Ich und Du?

168

A. a. O., S. 198.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Zunächst ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Negation beim »weder Ich noch Du« Nishidas keine bloße Negation von Ich und Du als vorgestellten Gegenständen ist. Wenn dem Meditierenden bei der Zen-Meditation mehrere Empfindungen und Vorstellungen auftauchen (z. B. das vorgestellte Ich oder das vorgestellte Du), wird die Einstellung geübt, diese überhaupt nicht zu berücksichtigen, anders gesagt, sie völlig zu ignorieren und sich auf die eigene Aufgabe, mit dem Atmen völlig eins zu werden, zu konzentrieren. »Nicht-Berücksichtigen« bedeutet aber kein Negieren als Bewusstseinsakt wie die Reflexion, kein Negieren einer bestimmten Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes. Wenn Negation oder Affirmation als Bewusstseinsakte ausgeführt werden, ist bereits die aktive Intentionalität mit einer Aktivität des Ichs am Werk. Das ist nichts anderes als die Überlappung der Reflexionen und keine Enthaltung gegenüber der Reflexion, wie Ueda behauptet. g) Ueda erwähnt die Eigenschaft des »Er«, das den Absoluten in der christlichen Theologie bei F. Gogarten zeigt und der Negativität des absoluten Nichts bei Nishida entspricht. 169 Ueda sagt, dass die Frage nach dem Moment des »Er« bei Buber ein unlösbares Problem bleiben muss, weil das Er nur als Es im Ich-Es-Verhältnis und dieses Moment des Er nicht in der Ich-Du-Beziehung sein kann. Nach Ueda ist also das Moment des Er von der Ich-Du-Beziehung bei Buber ausgeschlossen. 170 Jedoch ist für Buber das Verhältnis zwischen dem Du und dem Es kein schwieriges, unlösbares Problem, sondern innerhalb des folgenden Kontexts klar verständlich, erklärbar und begründbar. In der Mitte der Begegnung mit dem Du steht das Es (Er) unbewusst im Hintergrund des Lichtes des Du. Nur in diesem Sinne ist die Negation des Es zu behaupten. Das gilt auch für die Gesetzmäßigkeit des Ich-Es-Verhältnisses, die Kausalität, die im Hintergrund des Du unbewusst und potenziell bleiben kann. Buber sagt, dass es kein Ich-Es-Verhältnis gibt, das aus der Ich-Du-Beziehung ausgeschlossen werden muss: »Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte […]. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.« 171

169 170 171

Vgl. S. Ueda, Keikenn to Basho, S. 252 f. Vgl. a. a. O., S. 133. M. Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, S. 11.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Das Konkrete und die Geschichtlichkeit des Einzelnen bei Nishida sind für Buber nichts anderes als das Konkrete und die Geschichtlichkeit im Ich-Es-Verhältnis, dessen Ursprünge andererseits in der Ich-Du-Beziehung selbst liegen. Das Konkrete und die Geschichtlichkeit des Ich-Es-Verhältnisses entwickeln sich in den konkreten Gestalten, die als Kultur, Wissenschaft und Institutionalisierung der Gesellschaft in der Geschichte des Menschen ausgedrückt werden. Dabei ist die Auffassung des Verhältnisses zwischen beiden Beziehungen, dass das Ich-Es-Verhältnis auf der Ich-Du-Beziehung gründet, sehr wichtig. Diese Auffassung ist auch für den Aufbau der praktischen, sozialen Philosophie fundamental. Hier wird die nicht einfache Aufgabe gestellt, wieweit die Einsicht des Konkreten und der Geschichtlichkeit des »geschichtlichen Leibes«, die in der »Logik des Ortes« gezeigt wird, für den Aufbau einer solchen Sozialphilosophie, in der sich die Freiheit der Person und die Selbstlosigkeit des Nicht-Ichs entwickeln können, eine konstruktive Rolle spielen kann. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt in der Betonung der Negativität des »weder Ich noch Du« bei der Auffassung des Zwischen des absoluten Nichts bei Nishida. Wenn dieses Zwischen das Moment des Er einschließen kann: Auf welche Weise ist dies möglich? Falls diese Möglichkeit gezeigt werden kann: Wie verhält es sich dann mit dem Verhältnis zwischen diesem Er und dem Es im Ich-Es-Verhältnis, also der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt? Die Betonung des absoluten Anderen, des Er in der Dialektik des absoluten Nichts birgt, wie oben gezeigt wurde, die Gefahr, dass die Verwirklichung der einzelnen Ich-DuBeziehung in der Gesellschaft vernachlässigt wird. h) A. Mori kritisiert die eigenartige Struktur der Beziehung des Menschen in der japanischen Gesellschaft, in der das der Ich-DuBeziehung vorangehende Ich-Es-Verhältnis als kritische Instanz bei der Bildung der Gesellschaft nicht ausreichend entwickelt ist. Wenn die Negativität des absoluten Nichts zu stark betont wird und das Moment des Es mitsamt dem »weder Ich noch Du« negiert wird, auf welche Weise sind dann die Konkretisierung und die Zeitigung des Leibs als solche in der Gesellschaft erklärbar? Die völlig selbstlose, nicht auf sich selbst bezogene Zuwendung zur Welt betrifft auch die Ich-Du-Beziehung bei Buber, in der aber das Subjekt-Objekt-Verhältnis als solches nicht direkt negiert wird. Aber der Vorrang des absoluten Du gegenüber dem einzelnen Du bei Nishida macht uns für die Schwierigkeit der Verwirklichung der 345 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Selbstlosigkeit in der Ich-Du-Beziehung zum einzelnen Du blind, weil ein großer Teil dieser Schwierigkeit von den konkreten, strukturell-sozialen Bedingungen der Gesellschaft, die auf dem Grund des Subjekt-Objekt-Verhältnisses aufgefasst werden, herrührt. Die bedingungslose Aufforderung zur unendlichen Verantwortung und zum Sollen führt uns zur Dimension der Religiosität des isolierten Individuums, aber nicht zur Sozietät der Gesellschaft, in der die IchDu-Beziehung zum einzelnen Du unter ständiger Berücksichtigung der Verbesserung der sozialen Bedingungen für diese Beziehung verwirklicht werden kann. 3)

Diskontinuierliche Kontinuität und die Frage nach der moralischen Entscheidung

Bei Nishida wird das Sich-Verlieren in der wechselseitigen Bestimmung von Ich und Du unter dem Aspekt der dialektischen Bewegung des absoluten Nichts dargestellt. Um seiner eigenen Auffassung der Dialektik des absoluten Nichts näherzukommen, ist es wichtig, erneut seine Auffassung von Zeit und Geschichte zu betrachten. Dafür sind zunächst die folgenden Aussagen Nishidas wichtig: »Die Tatsache, daß die Zeit bestimmt wird, indem die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimmt, muß bedeuten, daß die Zeit als Selbstbestimmung des ewigen Jetzt gedacht wird. Die Zeit als Selbstbestimmung des ewigen Jetzt verlöscht (kie) überall und wird überall geboren (umareru). Aus diesem Grund berührt die Zeit in jedem Augenblick das ewige Jetzt. Das heißt, die Zeit verlischt von Augenblick zu Augenblick und wird von Augenblick zu Augenblick geboren. Zeit ist denkbar als diskontinuierliche Kontinuität.« 172 Dieses Denken der Zeit bei Nishida stammt aus der buddhistischen Lehre der Zeit, nämlich der »Augenblickslehre«. Bereits im ersten Teil dieser Arbeit habe ich gezeigt, auf welche Weise diese »diskontinuierliche Kontinuität« in der Analyse der Bewusstseinswandlung der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus dargestellt wird. Dabei sind die erstaunlichen Gemeinsamkeiten der Zeitauffassung der Yogacara-Schule und derjenigen Husserls ausführlich analysiert worden. Aber Nishidas Betrachtung dieser diskontinuierlichen Kontinuität geht nicht unmittelbar in diese Richtung der Be-

172

K. Nishida, Logik des Ortes, S. 141, Hervorhebung vom Verfasser.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

wusstseinsanalyse der Yogacara-Schule, sondern in seine eigene Dialektik des absoluten Nichts, die hinsichtlich der Auffassung der Zeit der Dialektik Hegels gegenübergestellt wird. a) Seine eigene Dialektik des absoluten Nichts wird zunächst gegenüber der Dialektik Hegels in Bezug auf die begriffliche Rationalisierung im »kontinuierlichen Prozess« deutlich. Nishida sagt: »Das Dialektische als die Rationalisierung des Irrationalen muß in seinem Grunde Leben sein. Die Hegelsche Dialektik kann als noematisch bezeichnet werden. Folglich denkt Hegel die Dialektik lediglich prozessual. Die wahre Dialektik ist auf diese Weise undenkbar, da man sich nicht grundsätzlich von der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung löst.« 173 Hier charakterisiert er Hegels Dialektik als »kontinuierliche Entwicklung vom Irrationalen zum Rationalen im Prozess der Rationalisierung« ohne das Moment des oben genannten Verlöschens, des Todes, also ohne Einsicht über das »Leben durch den absoluten Tod hindurch«. 174 Diese Charakterisierung konkretisiert sich in der Darstellung der Vergangenheit, in der Bestimmung des Todes, der Zukunft und in der des Lebens auf folgende Weise: »Nehmen wir an, daß wir im Grunde unserer Wirklichkeit die unbegrenzte Vergangenheit bzw. das unendlich Irrationale sehen, müssen wir durchgehend vom Bereich der stofflichen Materie bestimmt sein. Gehen wir jedoch davon aus, daß wir in der Spitze der augenblicklichen Bestimmung von der unbegrenzten Zukunft her bestimmt sind, so muß diese Welt der Ort unserer Willensverwirklichung sein.« 175 Also sieht Nishida im Grunde unserer Wirklichkeit einerseits »die unbegrenzte Vergangenheit in der Bestimmung des Todes« bzw. »das unendlich Irrationale« und andererseits die unbegrenzte Zukunft in der Bestimmung des Lebens. Die Spitze der augenblicklichen Bestimmung bedeutet die oben genannte »Zeit als Selbstbestimmung des ewigen Jetzt«, in dem unser Wille verwirklicht wird. Aber diese Willensverwirklichung steht der hegelschen Dialektik, die von Nishida als kontinuierlich, prozesshaft in der Rationalisierung des Irrationalen bezeichnet wird, gegenüber. In der Selbstbestimmung des ewigen Jetzt »berührt es immer das wahre Leben im Sinne von das

173 174 175

A. a. O., S. 143. Vgl. ebd. A. a. O., S. 160.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Leben ist zugleich Tod, d. h., es kann Gott (kami) berühren, der stoffliche Materie und zugleich Geist ist« 176. Der letzte Satz, dass Gott »stoffliche Materie und zugleich Geist ist«, kann verschiedene Ausdrucksweisen, die der »diskontinuierlichen Kontinuität« entsprechen, haben. In der Selbstbestimmung des ewigen Jetzt entsteht die Zeit, in der Tod zugleich Leben ist, Nichts zugleich Sein, Vergangenheit zugleich Zukunft, Diskontinuität zugleich Kontinuität. Diese paradoxe Ausdrucksweise entspricht der Kernthese des Mahayana-Buddhismus, dass die Leere zugleich die Erscheinung und die Erscheinung zugleich die Leere ist; d. h. hinsichtlich der Auffassung der Zeit, dass die Gegenwart zugleich die Vergangenheit, die Vergangenheit zugleich die Gegenwart ist. 177 b) Nishida denkt die Selbstentwicklung des ewigen Jetzt, anders gesagt die Selbstbestimmung der Gegenwart, im Spannungsfeld bzw. in der Spitze der augenblickhaften Bestimmung zwischen der unendlichen Vergangenheit der Materie und der unendlichen Zukunft des Geistes. Diese Dualität der determinierten Vergangenheit der Materie und der Freiheit der Zukunft des Geistes bildet trotz Nishidas Ausgehen von der reinen Erfahrung, nämlich dem »Vor-der-Spaltungzwischen-Subjekt-und-Objekt«, den Hintergrund seiner Denkweise, die von der kantischen Gegenüberstellung zwischen der Kausalität der Natur und der Freiheit des Willens stark beeinflusst ist. c) Wenn Nishida unter dem Begriff der »diskontinuierlichen Kontinuität« die Zeit als die Selbstbestimmung des ewigen Jetzt zu erörtern versucht, könnte man eine gewisse Nähe zur Auffassung der Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses (bzw. Zeitigung) bei Husserl ausmachen. Aber diese anscheinende Nähe muss in mehreren Punkten differenziert betrachtet werden. Die paradoxe Selbstkonstitution des absoluten Zeitflusses bei Husserl wird, wie oben gezeigt, gleichzeitig mit der Entwicklung des Begriffs der Retention als der passiv-implizierten Intentionalität erörtert. Dabei ist die evidente Beweisführung, die die Grenze des unendlichen Regresses des Bewusstseinsaktes bei den Neukantianern Lotze und Meinong zeigen kann, entscheidend. Nishida hat diese Grenze, die erkenntnistheoretisch durch die phänomenologische Analyse gezeigt wird, nicht gesehen. Seine Auffassung der Zeit ist neukantiaA. a. O., S. 161. Dies wird in der Phänomenologie als die paradoxe Simultaneität zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit bezeichnet. Vgl. dazu oben, S. 112 176 177

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

nisch geprägt, durch die praktische Vernunft des freien Willens bei Kant geleitet und schließlich im Bereich der Selbstbestimmung des ewigen Jetzt, nämlich des absoluten Anderen, Gottes, gelandet. Daher ist die Vermittlung des absoluten Anderen in der Selbstbestimmung der Gegenwart, die jeweils in der Beziehung zwischen Ich und Du erst entsteht, notwendig, weil die Beziehung zwischen Ich und Du bei Nishida nur im gesamten Zusammenhang der Selbstbestimmung des absoluten Anderen gedacht und situiert werden kann. Das ewige Du (Gott) bei Nishida, das durch das einzelne Du bei Buber nur angedeutet werden kann, geht dem einzelnen Du voran. Die jeweilige Gegenwart, die zwischen Ich und Du jeweils entsteht, lässt die ewige Gegenwart, die weder zur Vergangenheit noch zur Zukunft unter dem Ich-Es-Verhältnis wird, erahnen, aber nicht umgekehrt. Das heißt, die Vermittlung des absoluten Anderen kann nur durch die jeweilige Ich-Du-Beziehung, die keine Idee der »Vermittlung« als solche in der Mitte der Ich-Du-Beziehung selbst zulässt, erahnt werden. d) Die intermonadische Zeitigung der Mensch-Monade bei Husserl hat zwei Schichten, nämlich die Zeitigung der passiven Intentionalität und die der aktiven Intentionalität. In der personalistischen Einstellung der aktiven, natürlich passiv fundierten Intentionalität entsteht die »Ich-Du-Beziehung« 178, die für Husserl die völlige Zuwendung zum Du ohne reflexive Selbst-Bezogenheit bedeutet. In der intermonadischen Zeitigung der Ich-Du-Beziehung Husserls und auch in der Schicht der intermonadischen Zeitigung der passiven Intentionalität ist die wechselseitige Weckung bzw. Berührung von der Leergestalt oder Leervorstellung der Vergangenheit und dem zufälligen hyletischen Moment der Gegenwart ständig am Werk. Auf der Stufe der intermonadischen Zeitigung der passiven Intentionalität entsteht die Gegenwart ständig aus der wechselseitigen Weckung zwischen der Vergangenheit und der protentionalen Zukunft. Aber auf der Stufe der intermonadischen Zeitigung der aktiven Intentionalität der personalistischen Einstellung entsteht die Gegenwart aus der wechselseitigen Weckung zwischen der Vergangenheit und der protentional fundierten Zukunft der Erwartung der aktiven Intentionalität. Also ist die Berührung zwischen der Vergangenheit der stofflichen Materie des Todes (des Nichts) und der Zukunft des Geistes des Lebens (des Seins), die für die freie Entscheidung des Willens über die 178

Hua XIV, 166 f., 170 f., 179, 367, 404.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

passive Vorgegebenheit gegeben ist, ohne Vermittlung des absoluten Anderen ständig am Werk. In der teleologisch gedachten Entwicklung der monadologischen Phänomenologie Husserls spielt Aristoteles’ Gedanke der Entelechie eine leitende Rolle, wird aber anders als bei Leibniz prozesshaft gedacht, ohne die metaphysische Annahme der »prästabilierten Harmonie«. Wie oben gesagt, 179 ist Gott für Husserl »die im Monadenall liegende Entelechie«, die durch die freie Entscheidung für die Menschheit explizit ausgedrückt werden kann, aber keine Vermittlung des absoluten Anderen benötigt, damit die Zeitigung selbst entstehen kann. e) Dafür, dass Nishida nicht auf die Analyse des Zeitbewusstseins bei Husserl und in der Yogacara-Schule eingeht, gibt es Gründe, besonders in Bezug auf die Zeitanalyse Husserls. Nishida interpretiert die sinnliche Anschauung Husserls in den »Logischen Untersuchungen« einseitig in der Richtung der »kategorischen Anschauung« durch den Begriff. Das wird im folgenden Zitat deutlich ausgedrückt: »Die sinnliche Anschauung bei Husserl ist lediglich ein durch den Allgemeinbegriff bestimmter Ort. Die wahre Anschauung muß eher ein mit Leben Erfülltes sein, ähnlich wie die reine Dauer bei Bergson. […] Allgemeinbegriff bedeutet nicht mehr, als daß der Ort des Seins im Ort des Nichts gespiegelt wird. Dort, wo sich der Ort des Seins und der Ort Nichts berühren (fureru), entsteht die Welt des Begriffs.« 180 Nishida hat das Wesentliche an der sinnlichen Anschauung Husserls in folgenden Punkten missverstanden: Erstens hat die sinnliche Anschauung bei Husserl ihr eigentliches, selbständiges Gebiet der Vereinheitlichung, die später die passive Synthesis der Assoziation genannt wird. Diese besondere Eigenschaft der sinnlichen Anschauung, die in den »Logischen Untersuchungen« als nicht-intentionales Erlebnis der Empfindung und dann als die Retention qua »Intentionalität eigener Art« in den »Zeitvorlesungen«, schließlich als die passive Synthesis der Assoziation dargestellt und analysiert wird, wird von Nishida völlig übersehen. Dieses Übersehen ist sehr bedeutsam. Der bei der Entdeckung der Retention eröffnete Bereich der implizierten Intentionalität, der Leervorstellungen und Leergestalten der

179 180

Siehe oben, S. 108. K. Nishida, Logik des Ortes, S. 121.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Empfindung ermöglicht den Zugang zur »Phänomenologie des Unbewussten«. Wir haben oben gesehen, dass Nishida die Zeit unter dem Aspekt der transzendentalen Apperzeption des Ichs bei Kant, die das Zeitliche und das Überzeitliche in eine Einheit bringen soll, auffassen wollte. Hier im Bereich der aktiven Intentionalität mit Ich-Aktivität gibt es keine Möglichkeit, die wechselseitige Weckung zwischen der unbewussten, implizierten Leervorstellung bzw. Leergestalt und den hyletischen Momenten der Umwelt im Bereich des »Vor-der-Spaltung-zwischen-Subjekt-und-Objekt«, d. h. von weder »Sein« noch »Nichts«, ins Licht der Reflexion zu bringen. 4)

Das Ich-Es-Verhältnis bei Buber und die personalistische Einstellung Husserls

Wie oben gezeigt worden ist, wird das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt als solches in der Mitte der Zen-Meditation nicht verneint, sondern vielmehr völlig ignoriert. Die durch diese Übung geschulte selbstlose Zuwendung zur Welt kann in allen Bereichen des Handelns des Menschen verwirklicht werden. Daisetsu Suzukis Buch »Zen und die Kultur Japans« zeigt, wie lebendig die Haltung des ZenGeistes, der selbstlosen Zuwendung zur Welt, in allen Handlungen des Menschen ausgeübt werden kann. Doch tritt hierbei die wichtige Frage auf, auf welche Weise die politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten, die unter dem Ich-EsVerhältnis vollzogen werden, in der Ich-Du-Beziehung positioniert werden können. Anders gesagt die Frage, ob die selbstlose Zuwendung zur Sache der Politik und der Wirtschaft möglich ist. Darauf antwortet Buber bejahend, weil das Ich-Es-Verhältnis selbst von der Ich-Du-Beziehung nicht ausgeschlossen wird. Aber was in der Dialektik des absoluten Nichts bei Nishida hinsichtlich dieser Frage problematisch bleiben muss, wurde oben gezeigt. Das Hauptproblem liegt im Vorrang des absoluten Anderen, des Nichts. Dadurch wird die Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung in der Gesellschaft erschwert. Vor allem angesichts der Behauptung der IchDu-Beziehung zwischen dem Ich und dem absoluten Anderen im eigenem Ich entsteht die Gefahr, dass die Kommunikation zwischen Ich und Du als moralische Aufgabe direkt vor dem Absoluten innerhalb des transzendentalen Ichs als abgeschlossen, also schließlich solipsistisch gedacht wird. 351 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Hier ist eine neue Orientierung für den Aufbau der praktischen Philosophie in der Lebenswelt Japans nötig, eine Orientierung, die ihren Ausgang bei der Ich-Du-Beziehung zum einzelnen Du nehmen sollte. Zu diesem Zweck ist es aufschlussreich, die Bedeutung des IchEs-Verhältnisses in Bezug auf die verschiedenen Einstellungen in der Phänomenologie Husserls und seine Bedeutung für die Bildung der Sozialphilosophie in Japan zu erhellen. Hierfür ist als einführende Überlegung zunächst eine komparative Betrachtung der dreistufigen Entwicklung in der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus und der Unterscheidung der verschiedenen Einstellungen bei Husserl geeignet. a) Wie oben gezeigt, gibt es in der Philosophie der YogacaraSchule die Lehre der dreifachen Wesenheiten, nämlich eingebildete (imaginäre), abhängige (relative) und vollendete (absolute) Wesenheiten. Die erste, eingebildete Wesenheit entspricht der natürlichen Einstellung Husserls. Eingebildet ist diese Wesenheit deswegen, weil die phänomenale Welt als die Wirklichkeit schlechthin genommen wird und nicht als das durch das wechselseitig abhängige Zusammenwirken von Dharmas Entstandene. Zunächst ist klar, dass Nishidas reine Erfahrung vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt in verschiedenen Lebenswelten, sei es in Indien oder in Japan, ständig entsteht und vergeht. Aber die Frage nach dem »vor oder nach der Spaltung«, die nur von den Philosophen gestellt wird, wird von in dieser Wesenheit lebenden Menschen überhaupt nicht gestellt. Das reflexionslose »Dahinleben«, das für die natürliche Einstellung bei Husserl charakteristisch ist, findet in der Spaltung zwischen Subjekt (dem Ich) und Objekt (der Welt) unreflektiert statt. b) In diesen dreifachen Wesenheiten des Yogacara findet man aber keine Entsprechung zur »naturalistischen Einstellung« bei Husserl. Die naturalistische Einstellung hat ihre Herkunft in der natürlichen Einstellung. In diesem Sinne gehört die in den dreifachen Wesenheiten nicht eingeschlossene naturalistische Einstellung im Grunde genommen zum Bereich der eingebildeten Wesenheit. Aber der heutige Naturwissenschaftler akzeptiert diese Voraussetzung und, in gewissem Sinne, Abhängigkeit, die aus dieser Herkunft stammt, niemals und verlangt die von allen Voraussetzungen unabhängige, universale Objektivität der Naturwissenschaft. Die Voraussetzung der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt ist nicht nur für die Menschen, die in der eingebildeten Wesenheit leben, sondern 352 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

auch für den Naturwissenschaftler allzu selbstverständlich, aber der philosophischen Frage nach der Herkunft dieser Spaltung selbst völlig fremd. Doch wie auch Nishida sagt, sind die Methoden der Naturwissenschaft, Mathematik, Logik und Erkenntnistheorie, worauf Experiment und Beobachtung beruhen, vom Wahrnehmungsvermögen des Menschen abhängig, das allein unter der Spaltung z. B. zwischen sehendem Subjekt und gesehenem Objekt erkenntnistheoretisch begründet wird. Wenn der Naturwissenschaftler die Frage der Erkenntnistheorie ernst nimmt, gibt es keinen anderen Ausweg, als deutlich den eigenen philosophischen Standpunkt der Naturwissenschaft im Rahmen der Wissenschaftstheorie darzulegen. c) Die abhängige (relative) Wesenheit wird deswegen so genannt, weil auf dieser Stufe die als eingebildete Wesenheit bezeichnete phänomenale Welt der ersten Stufe erkenntnistheoretisch unter dem Aspekt der Gesetzmäßigkeit des wechselseitig abhängigen Entstehens von Dharmas betrachtet werden kann. Diese Stufe entspricht genau der transzendentalen Einstellung Husserls. In Bezug auf die Frage der Begründung der Intersubjektivität geben die beiden Standpunkte ihre philosophische Begründung auf folgende Weise: Für die Yogacara-Schule wird die Begründungsfrage der Intersubjektivität selbst ganz anders als in der Phänomenologie Husserls gestellt. Denn für den Standpunkt der buddhistischen Philosophie ist die Frage nach dem transzendentalen Ich im Anderen in der modernen westlichen Philosophie eine gänzlich verkehrt gestellte Frage. Die buddhistische Einsicht des Nicht-Ichs zeigt, dass der Begriff des transzendentalen Ichs ein vom Bewusstseinsstrom des Unbewussten (alayavijnana) konstituierter Begriff ist. In der Dialektik des absoluten Nichts bei Nishida nimmt die Frage des transzendentalen Solipsismus eine komplizierte Gestalt an. Durch die Einführung des Begriffs des absoluten Anderen, des Nichts, verlagert sich diese Frage auf die Ebene des absoluten Anderen, der gleichursprünglich dem Ich und dem Anderen zugrunde liegt. Dadurch verschwindet das Problem des Solipsismus, weil es in die gesamte Selbstentwicklung des Absoluten hineingezogen und aufgelöst wird. Diesem Standpunkt der Dialektik des absoluten Nichts steht Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität gegenüber, die von der Beschreibung der Schichtenstruktur der passiven und aktiven Intersubjektivität her begründet wird. Auf der Ebene der passiven Intersubjektivität wird die transzendentale Gesetzmäßigkeit der passiven 353 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

Synthesis entdeckt (Assoziation und Affektion), die als vorbewusste, wechselseitige Weckung zwischen hyletischen Momenten, die dem Dharma der Körperlichkeit (色, shiki) entsprechen, und den impliziten Intentionalitäten der Triebintentionalität charakterisierbar ist. Auf der Ebene der aktiven Intersubjektivität wird die interpersonale Beziehung in der Gesellschaft hervorgehoben, die als »Ich-Du-Beziehung« in der personalistischen Einstellung thematisiert wird. d) Genauso wie die naturalistische Einstellung wird die personalistische Einstellung in den dreifachen Wesenheiten des Yogacara nicht erwähnt. Der naturalistischen Einstellung entspricht nach Husserl die Betrachtung des Menschen als Objekt der Naturwissenschaft, und gemäß der personalistischen Einstellung ist der Mensch das Objekt der Geisteswissenschaft. Der Mensch ist nach diesen zwei Einstellungen doppelseitig: »Der Mensch im Sinne der Natur (als Objekt der Zoologie und naturwissenschaftlichen Anthropologie) – der Mensch als geistiges Reales und als Glied der Geisteswelt (als Objekt der Geisteswissenschaften)« (Hua IV, 143). Diese dualistische Auffassung des Menschen in Form von Natur- und Geisteswissenschaften hat sich in der buddhistischen Philosophie nicht entwickelt. Wenn man den Grund für diese Entwicklung mit Husserl in der »Mathematisierung« der Lebenswelt sieht, kann man ihn in außereuropäischen Ländern schwer finden. Aber die Mathematisierung der Natur selbst ist aus der Perspektive außereuropäischer Länder durch das Lernen der Naturwissenschaft leicht verständlich und nachvollziehbar. Doch die naturalistische Betrachtung der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen im Sinne einer Distanzierung und Verobjektivierung dieser Beziehungen durch Psychologie im Sinne der Naturwissenschaft ist dem buddhistisch-konfuzianistischen Menschenbild Japans sehr fremd. e) Der Grund für diese Fremdheit liegt einerseits darin, dass das vorsprachliche, empfindsame, emotionale Vermögen der passiven Einfühlung im Sinne Husserls, die natürlich kein Objekt der empirischen Psychologie ist, in der japanischen Gesellschaft sehr hoch geschätzt wird. Andererseits besteht der Grund für diese Fremdheit in der Auffassung des Vermögens der aktiven Einfühlung, nämlich im »Ich und Du« Nishidas bzw. in der Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers – gerade weil in der konfuzianistisch-buddhistischen Denkweise die selbstlose Handlung, die der Ich-Du-Beziehung bei Erwachsenen entspricht, von einzelnen Menschen gezielt geübt wird und unter dem Aspekt der bereits entstandenen Spaltung zwischen Subjekt 354 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

und Objekt des einzelnen Selbstbewusstseins schwer verstanden werden kann. Aber der Grund für die Fremdheit liegt nicht nur in der Betonung der selbstlosen Handlung auf der Stufe der aktiven Intentionalität selbst, sondern auch in der besonderen Charakterisierung dieser selbstlosen Handlung – wie bei Nishida. Wie bereits oben gezeigt, wird die selbstlose Handlung »der reinen Erfahrung« unter dem Aspekt der Beziehung zwischen dem einzelnen Ich und dem absoluten Anderen, dem Nichts verstanden, d. h. von der Beziehung zwischen Höher- und Tiefergestellten (typisches Beispiel: die Eltern-KindBeziehung), also schließlich in Bezug auf das Höchste, Absolute, nicht in einer gleichrangigen, horizontalen zwischenmenschlichen Beziehung, sondern in einer hierarchischen, vertikalen Beziehung. f) Die Ich-Du-Beziehung Bubers unterscheidet sich von der IchDu-Beziehung zwischen Eltern und Kind in der Kindheit und im Erwachsenenalter. Die Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen setzt, wie Mori oben gesagt hat, das Ich-Es-Verhältnis voraus, das seine Entwicklung in der naturalistischen Einstellung der Naturwissenschaft deutlich zeigt. Aber wenn in einer Gesellschaft die Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen immer noch stark von der Ich-Du-Beziehung zwischen Eltern und Kind, das noch keine feste Bildung des Ich-Kerns hat, beeinflusst bleibt 181 und dadurch die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses bis zu einem gewissen Grad verhindert wird, kann die interpersonale Beziehung im Sinne der Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen, die die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses, wie Mori sagt, voraussetzt, in einer solchen Gesellschaft schwer verwirklicht werden. g) Das Verhältnis zwischen der Ich-Du-Beziehung und dem IchEs-Verhältnis kann in Bezug auf das Verhältnis zwischen der personalistischen und der naturalistischen Einstellung Husserls erörtert werden. Husserl sagt dazu, »daß die naturalistische Einstellung sich der personalistischen unterordnet und durch eine Abstraktion oder vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit des personalen Ich eine gewisse Selbständigkeit gewinnt, dadurch zugleich ihre Welt, die Natur, unrechtmäßig verabsolutierend« (Hua IV, 183 f.). Hier sieht man sehr deutlich, dass die naturalistische Einstellung sich der personalistischen Einstellung unterordnet. Das ist aber keine Behauptung von der Art des Idealismus, der den Dualismus von Geist 181

Vgl. dazu T. Doi, Amae – Freiheit in Geborgenheit.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

und Natur voraussetzt. Beide Einstellungen werden in die transzendentale Einstellung und durch die phänomenologische Reduktion in die Konstitutionsanalyse der passiven und aktiven Intentionalität gebracht. Jedenfalls ist klar, dass die naturalistische Einstellung schließlich durch die Methode der Wesensanschauung, vor allem des Prozesses der Exemplifikation, in die personalistische Einstellung integriert werden kann, bei der in der transzendentalen Einstellung die Konstitutionsanalyse der Intentionalitäten vollzogen wird.

§ 6. Die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in der heutigen japanischen Gesellschaft Die obige Charakterisierung der heutigen japanischen Gesellschaft muss aber durch die Analyse der genetischen Phänomenologie philosophisch begründet werden. Hier steht man vor der Aufgabe, die Bedingungen für die Bildung der gesellschaftlichen Institutionalisierung phänomenologisch zu erhellen. Für eine solche phänomenologische Begründung bedarf es folgender Kriterien: Das erste Kriterium ist eine genetisch-phänomenologische Untersuchung der Herkunft der traditionellen Denkweise über das Zusammenleben der Menschen in der betreffenden Lebenswelt. Eine solche Untersuchung fordert das zweite Kriterium, das diese genetische Analyse nur in Zusammenhang mit einer interdisziplinären Untersuchung durch Einzelwissenschaften, d. h. durch den Prozess der Exemplifikation der Wesensanschauung, in der die für das jeweilige Thema wichtigen Ergebnisse der Einzelwissenschaften als Beispiele genommen werden, in die adäquate Evidenz bringen kann. Oben ist gezeigt worden, dass die Herkunft der selbstlosen Zuwendung zur Welt die buddhistische Lehre des Nicht-Ichs ist. Dabei wurde bei Nishida auf die Gefahr des transzendentalen Solipsismus hingewiesen, in dem die selbstlose Zuwendung zum absoluten Anderen innerhalb des einzelnen abgeschlossenen Individuums zum Vorschein gebracht wird. Der Blickwechsel vom absoluten Anderen (ewigen Du) zum einzelnen Du ermöglicht es, die Verwirklichung der IchDu-Beziehung beim Erwachsenen in der japanischen Gesellschaft zu thematisieren. Es ist zunächst festzustellen, wie weit das für die Ich-Du-Bezie356 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

hung vorausgesetzte Ich-Es-Verhältnis in der heutigen japanischen Gesellschaft im Kontext verschiedener Beispiele der Problemlösung bei sozialen Problemen, z. B. bei Umweltproblemen, entwickelt ist. Sollte es gar nicht entwickelt sein, muss der Grund dafür geklärt werden. 1)

Kompromiss vs. Konsens

Zunächst kann man am Beispiel des Versuchs der Lösung des Umweltproblems im heutigen Japan den Unterschied in der Zielsetzung zwischen Deutschland und Japan zeigen. In einer deutsch-japanischen Konferenz über »die Problemlösung der Umweltverschmutzung in Japan« ist klar geworden, dass die Zielsetzung bei einer Gesprächsrunde zwischen betroffenen Einwohnern, Behörden, Unternehmern und beteiligten Wissenschaftlern in Deutschland zu einer Kompromisslösung und in Japan zu einer Konsensbildung tendiert. a) Wenn es einen mehr oder weniger großen Konflikt zwischen den privaten Interessen einzelner Einwohner und den öffentlichen Interessen von Behörden oder – manchmal unter dem Deckmantel »öffentlicher« Interessen versteckten – Interessen der Unternehmer gibt (z. B. Straßenbau in Deutschland), werden nicht nur Sachschäden, sondern auch mentale Schäden, seelische Schmerzen einzelner Einwohner mit Berücksichtigung der familiären Umstände sehr genau berechnet und schwarz auf weiß in Zahlen ausgedrückt, und schließlich wird durch wiederholte Verhandlungen ein Kompromiss geschlossen. b) In Japan ist das nicht ganz der Fall. Lange vor solchen öffentlichen Gesprächs- oder Verhandlungsrunden zwischen den Betroffenen versuchen Behörden, inoffiziell mit einzelnen Einwohnern Kontakt aufzunehmen und ihnen Schadenersatz anzubieten. Es gibt natürlich Fälle, in denen Gegner der jeweiligen Pläne derartigen Kontakt von vornherein strikt ablehnen. Es entstehen also schon lang vor der öffentlichen Verhandlungsrunde durch inoffizielle Kontakte Gruppierungen von Befürwortern und Gegnern eines bestimmten Projekts. Bei der öffentlichen Verhandlungsrunde wird der gesamte Plan des betreffenden Projekts von der Behörde präsentiert und erklärt. Auch wenn dabei kritische Fragen von der gegnerischen Seite gestellt werden, sind die Antworten darauf längst sorgfältig von der Behörde vorbereitet worden. Alle Antworten sind von den beteiligten Wissen357 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

schaftlern wissenschaftlich, d. h. kausal-objektiv begründet. Daher gibt es für Gegner keine Chance, ihre rational begründeten kritischen Standpunkte konsequent durchzusetzen. In der Folge kommen immer weniger Gegner des Projekts zu den wiederholten Verhandlungsrunden, bis schließlich kein Gegner mehr kommt. So entsteht zum Schluss der erzielte Konsens, aber nur ein Konsens von übriggebliebenen Befürwortern eines bestimmten Projekts. Der so entstandene Konsens wurde nur von den bereits vor der öffentlichen Verhandlung inoffiziell finanziell abgesicherten Befürwortern des Projekts gebildet. Der Grund, warum ein kritischer Gegner an der fortgesetzten Verhandlungsrunde nicht mehr teilnehmen will, liegt meistens darin, dass die sorgfältig überprüften, sogar auf mögliche Unfälle oder Zwischenfälle während der Bauarbeiten eingehenden sogenannten wissenschaftlichen Erklärungen für die betroffenen Einwohner zu speziell und unverständlich formuliert sind und die Diskussion dahin geleitet wird, dass ein einzelner Einwohner mit Privatinteressen gegenüber der Behauptung des öffentlichen Interesses unter schlechtem Gewissen leiden muss. c) Was kann man in Bezug auf die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in der japanischen Gesellschaft aus diesem Beispiel lernen? Die Entwicklung dieses Verhältnisses lässt sich am Umgang des Menschen mit der Forschung der Natur- und Geisteswissenschaften ermessen. Die naturwissenschaftliche Forschung und ihre Anwendung im alltäglichen Leben wurden seit der Landesöffnung zu Beginn der Meiji-Zeit von den Japanern sehr positiv aufgenommen und sehr hoch entwickelt und werden auch in der Zukunft sehr stark gefördert werden. Aber im Bereich der Geisteswissenschaften nimmt die Anwendung des Ich-Es-Verhältnisses eine etwas komplizierte Gestalt an. Wie oben gezeigt, sieht Nishida »die reine Erfahrung« als Geschehnis vor der Spaltung zwischen Subjekt (Ich) und Objekt (Welt) an. Das die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzende Ich-EsVerhältnis gilt bei diesem Geschehnis bzw. der Begegnung zwischen Ich und Du nicht mehr. Die Geschichte des Menschen entsteht nach Nishida aus der Begegnung zwischen Ich und Du. Um diesen Bereich der reinen Erfahrung zu erreichen, wird das Ich-Es-Verhältnis völlig ignoriert. Das Ignorieren und das Erforschen des Ich-Es-Verhältnisses selbst laufen nebeneinander, nicht hintereinander ab.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

2)

Die Entwicklung der Wissenschaft als die des Ich-Es-Verhältnisses

Für die Begründung der Sozialphilosophie in Japan ist der Stellenwert des Ich-Es-Verhältnisses in der Sozialphilosophie erneut zu klären. Zunächst wird dabei gefragt, warum die Ich-Du-Beziehung Bubers das Ich-Es-Verhältnis in sich einschließen kann. Das Phänomen des Zerfalls der Ich-Du-Beziehung ins Ich-Es-Verhältnis ist Buber und Nishida gemeinsam. Nach diesem Zerfall wird bei Buber das Ich-EsVerhältnis im Alltag wieder in den Vordergrund gestellt, und durch »Gnade« 182, so sagt Buber, geschieht die selbstlose Zuwendung zur Welt, die Ich-Du-Beziehung wieder. Wenn die Haltung der selbstlosen Zuwendung zum eigenen Atemzug allgemein als die Haltung, durch die alle Handlungen in der höchsten Intensität der Selbstlosigkeit vollzogen werden können, verstanden wird, wird für Wissenschaftler die Möglichkeit eröffnet, z. B. kausale Zusammenhänge von Naturphänomenen gründlich, ohne Einmischung privater Interessen, objektiv im Sinne von »selbstlos«, zu erforschen oder die phänomenologische Analyse der Vorkonstitution der passiven Synthesis und der Konstitution der aktiven Synthesis durch die phänomenologische Reduktion zu vollziehen. Sogar im Bereich der Neurophänomenologie Varelas ist es möglich, dass Neurowissenschaft und Phänomenologie einander wechselseitig ergänzend zusammenarbeiten können. Aber natürlich wird durch das Ignorieren des Ich-Es-Verhältnisses die Entwicklung der Wissenschaft nicht verwirklicht. D. Suzuki konnte zeigen, dass die Haltung des Zen-Geistes in allen Handlungen des Menschen in der Edo-Zeit – auch auf den Stierkampf in Spanien bezogen – lebendig gelebt wurde. Aber in der Edo-Zeit war der Handlungsbereich der Forschung der Naturwissenschaften und der sozialkritischen Geisteswissenschaften wie Soziologie, Politologie und Sozialphilosophie noch nicht eröffnet. Die Begründung der Sozialphilosophie im Zen-Geist der selbstlosen Zuwendung zum Phänomen der interpersonalen Beziehung ist natürlich möglich. Denn genauso wie bei der Neurophänomenologie ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Psychologie usw. von Wichtigkeit.

182

M. Buber, Werke I, S. 85.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

a) Wenn man auf die bisherige Betrachtung über die Struktur der japanischen Gesellschaft zurückblickt, gilt die Arbeit »Menschliche Beziehung im vertikalen Verhältnis« (Tateshakai no ninngen kannkei) von der Sozialanthropologin Chie Nakane als Standardwerk. Nakane hat die Strukturen der Gesellschaften in Indien und Japan verglichen und den Unterschied festgestellt, dass in Indien das horizontale Verhältnis innerhalb bestimmter Schichten des Kastensystems und in Japan das vertikale Verhältnis innerhalb von Gruppen wie Familien, Schulen, Firmen, Vereinen im Vordergrund steht. Im horizontalen Verhältnis wird der Sozialwert von Qualifikation, Kompetenz und Leistung des Einzelnen und im vertikalen Verhältnis der Sozialwert von Altersunterschied, Länge der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und Hierarchie in einer bestimmten Gruppe beachtet. Dieser strukturelle Unterschied hat natürlich einen relativen Charakter, da er in dieser Zuspitzung auf gegensätzliche Seiten mehr oder weniger in allen Gesellschaften ausgemacht werden kann. b) Die Herkunft des vertikalen Verhältnisses scheint mir in der konfuzianistischen Denkweise und in der japanischen Dorfgemeinschaft zu liegen, in der die Zusammenarbeit von Dorfeinwohnern bei Reisanbau, Flussregulierungsarbeiten, Neudecken des Hausdachs, Festorganisation usw. sehr wichtig ist. Die Zielsetzungen in einer solchen Dorfgemeinschaft sind während einer bestimmten Jahreszeit immer selbstverständlich, sodass es nichts zu diskutieren gibt. Aussagen müssen immer im Kontext des gesamten Hintergrunds unausgesprochener Regeln verstanden werden. Ein Neuankömmling in der Gemeinschaft kann nur langsam lernen, was für unausgesprochene Regeln in der Gemeinschaft bereits am Werk sind und welche Inhalte mit den ausgesprochenen Regeln in mündlichen und schriftlichen Aussagen tatsächlich gemeint sind. Die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in solchen Dorfgemeinschaften muss unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Die Einführung maschineller Technik in die Gemeinschaft erfolgt meistens problemlos. Aber die wichtigen Entscheidungen in der Gemeinschaft, wie z. B. der Beginn einer Zusammenarbeit oder die Rollenverteilung dabei etc., werden meistens durch konventionelle, unausgesprochene oder schriftlich festgelegte Regeln und in schwierigen Fällen nach sehr langen Gesprächsrunden durch den Ältesten getroffen. In der Gesprächsrunde wird auch meistens nicht darauf geachtet, was von jemandem gesagt wird, sondern darauf, wer spricht, weil die Erfahrung und Menschenkenntnis des Ältesten und 360 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

seine Verbindungen mit anderen Ältesten in anderen Dorfgemeinschaften hoch geschätzt werden. Wenn aber die soziale Ordnung und die Bedingungen für das wirtschaftliche und politische Zusammenleben einer Dorfgemeinschaft mit anderen Dorfgemeinschaften infrage gestellt werden oder ein kriegerischer Konflikt zwischen einem Staat, zu dem bestimmte Dorfgemeinschaften gehören, und einem anderen Staat, dem andere Dorfgemeinschaften angehören, entsteht, müssen die Rahmenbedingungen solcher Dorfgemeinschaften zu allgemeineren Rahmenbedingungen für die Koexistenz mehrerer Staaten erweitert werden, wobei ein sprachlich deutlich formulierter, schriftlich festgelegter Vertrag zwischen den Staaten geschlossen werden muss. Im Erweiterungsprozess der sozialen Rahmenbedingungen von einer Dorfgemeinschaft zum Staatswesen muss der logisch-sprachliche Ausdruck, der das Ich-Es-Verhältnis in der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt als selbstverständlich voraussetzt und objektiv-wissenschaftlich begründete, eindeutige Bedeutungen verlangt, gefordert werden. Dazu braucht es andererseits notwendig die unausgesprochenen Regeln der Dorfgemeinschaft bzw. das sehr reiche »implizite Wissen« (»tacit knowledge«) 183 und die emotionale Unterstützung älterer Leute dabei, die Regeln zu versprachlichen, in die Form expliziten Wissens und sprachlich ausgedrückter Ethik zu bringen. Für diese Bemühung und Bestrebung spielt die genetische Phänomenologie der Intersubjektivität eine wichtige Rolle, in der die Herkunft des sozialen Wertes in einer bestimmten Lebenswelt untersucht und das implizite Wissen zum philosophisch reflektierten, expliziten Wissen werden kann. 3)

Amae und Ijime (Mobbing)

Wenn man den Blickwinkel von der soziologischen zur psychologischen Untersuchung wechselt, stößt man immer noch auf das aussagekräftige Buch von Takeo Doi, »Struktur von Amae« (Amae no kōzō), 184 das die psychischen Eigenschaften der Japaner gut charakterisiert und gleichzeitig als für den Menschen allgemein gültige Komponenten darstellt. Das Wort »Amae« ist von E. Holenstein mit »Freiheit in Geborgenheit« übersetzt worden. Diese Übersetzung 183 184

Vgl. dazu M. Polanyi, Implizites Wissen. T. Doi, Amae – Freiheit in Geborgenheit.

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I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

trifft das Phänomen Amae genau. Holenstein drückt Amae sehr neutral so aus: »Amae bedeutet die Geborgenheit dessen, der sich bei dem, der sich seiner angenommen hat, in seiner Eigenart verstanden und anerkannt fühlt und sich entsprechend auf ihn verlassen kann.« 185 Aber besonders wichtig ist: »Dieses Element findet sich in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem aber zunächst in der ersten Beziehung eines Menschen – der zu seiner Mutter.« 186 Die »Mutter-Kind-Beziehung« bedeutet zunächst die emotionale Verbindung, die Kommunikation im Bereich der passiven Intersubjektivität nach Husserl. a) Wie oben ausführlich dargestellt, ist die intermonadische, vorsprachliche und emotionale Kommunikation die Basis für die intersubjektive, sprachlich artikulierte Kommunikation. Auch das Verhältnis der Fundierung zwischen den beiden Kommunikationen ist klar, d. h., die emotionale Kommunikation fundiert die sprachliche Kommunikation. Wenn aber die Entwicklung der sprachlichen Kommunikation der aktiven Intersubjektivität aus verschiedenen Gründen zurückbleibt und die emotionale Kommunikation und das Abhängigkeitsgefühl der Mutter-Kind-Beziehung einen starken Einfluss auf die japanische Gesellschaft haben, sind diese verschiedenen Gründe unter dem Aspekt der Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses zu betrachten. Dabei ist die phänomenologische Beschreibung des zum Phänomen Amae konträr stehenden Phänomens Ijime (Mobbing) aufschlussreich. b) Das Phänomen Mobbing ist vielseitig. Hier soll vor allem hinsichtlich des konträren Verhältnisses zwischen Amae und Mobbing die sozialpsychologische Gruppendynamik in der Gesellschaft erhellt werden. Wenn Amae als das Bewusstsein davon aufgefasst wird, »geliebt und so anerkannt zu werden, wie man ist«, bedeutet im Gegensatz dazu Mobbing das Bewusstsein davon, dass man verachtet, ohne Anerkennung ignoriert, von der sozialen Gemeinschaft ausgegrenzt und völlig isoliert wird. Vor allem zeigt stummes Mobbing, das jemandem durch stillschweigendes Verachten und völliges Ignorieren das Dasein und die soziale Anerkennung als Mitmensch entzieht, die vorsprachliche Eigendynamik der emotionalen Kommunikation und des Konflikts sehr deutlich. Dabei ist nicht zu übersehen, dass stummes Mobbing die normal 185 186

A. a. O., S. 12. Vgl. a. a. O., S. 89 f.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

fungierende emotionale Verbindung zwischen den Menschen, die durch die paarenden passiv-assoziativen Synthesen vorkonstituiert und immer am Werk ist, notwendigerweise bereits voraussetzen muss. Das stumme Mobbing ist erst möglich, wenn der Täter des Mobbings vor dem Ignorieren des Daseins der betreffenden Person ihr Dasein selbst bereits als seelisch-körperliche Einheit durch die passive, vorreflexive Synthesis aufgenommen hat. Der Andere ist immer schon in dir da, egal ob das Du ihn ignorieren will oder nicht. Das gilt auch beim Amae. Bevor ein Kind ein Bewusstsein davon hat, »geliebt und anerkannt zu werden«, ist schon die emotionale Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind, die diesem Bewusstsein von Amae vorausgeht, entstanden. Beim Mobbing genauso wie beim Amae ist das Vermögen der intermonadischen passiven Einfühlung an Werk. c) Eine erziehungswissenschaftliche Untersuchung über das Mobbing in der Schule weist darauf hin, dass die Distanzierung vom Mobbing in der Schule in europäischen Ländern früher als in Japan geschieht. 187 Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Distanzierung vom Mobbing unter Mitgliedern einer Gruppe? Das Allerwichtigste ist zunächst die stabile Bildung der Basis der passiven Einfühlung, die die Grundlage für die aktive Einfühlung bedeutet. Ohne Basis der stabilen emotionalen Verbindung zwischen Mutter und Kind, die auch die Voraussetzung für Amae ist, ist die Entwicklung der aktiven Einfühlung nicht möglich. Zweitens ist die Entwicklung des Selbstbewusstseins des eigenen Ichs wichtig, das sich parallel zur Entwicklung der aktiven Intentionalitäten weiterentwickelt. Zur aktiven Intentionalität gehört die willentliche, vom Ich gesteuerte Bewegung mit der aktiven Kinästhese, die Wahrnehmung des Gegenstandes, die Wiedererinnerung, die Erwartung, das Sprechen, Zählen, Lesen und Schreiben usw. d) Hierbei ist der Unterschied zwischen unwillentlicher und willentlicher Bewegung wichtig. Schon bei der Wahrnehmung der Mimik, Gestik und der ganzen Bewegung des Anderen sind all diese leiblichen Ausdrücke durch die passiv-assoziative Synthesis im eigenen Leib quasi mitvollzogen, aber ohne aktive Kinästhese des eigenen Leibes. Man kann die eigene Freiheit und Verantwortung des Individuums auf die eigene willentliche Bewegung und Nicht-Bewegung übertragen. Jede Person kann und muss entscheiden, ob sie das Mob187

Vgl. Y. Morita, Ijime to ha nani ka (Was ist Mobbing?), S. 138 ff.

363 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

bing mit anderen Gruppenmitgliedern mitmacht, distanziert zuschaut oder aber es den Lehrern und Lehrerinnen mitteilt oder nicht. Das Urbewusstsein von der aktiven Kinästhese bei der willentlichen Bewegung ist als das Kriterium für die eigene Freiheit und Verantwortung unbezweifelbar da. Dabei ist es mir besonders wichtig, dass dieses Urbewusstsein für die Entwicklung der aktiven Einfühlung immer wieder deutlich zu Sprache gebracht wird. Obwohl der Unterschied zwischen der willentlichen und der unwillentlichen Bewegung im Urbewusstsein deutlich bewusst wird, kann dieser Unterschied erst durch die sprachliche Formulierung intersubjektiv verständlich und kommunizierbar gemacht werden. Das Vermögen der sprachlichen Formulierung spielt für die Entwicklung der Distanzierung vom Mobbing in einer Gruppe eine entscheidende Rolle, weil die urbewussten Empfindungen erst durch die aktive Intentionalität der Wahrnehmung des Gegenstandes in der Korrelation von Noesis und Noema in der Sprache artikuliert werden können. Der sprachliche Ausdruck, der die Voraussetzung für die aktive Einfühlung und die Intersubjektivität ist, hat für die Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses in einer Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung. e) Auf der Basis der nonverbal geprägten Kommunikationsweise der Dorfgemeinschaft, in der die starke emotionale Verbindung der wechselseitigen Unterstützung und gleichzeitig ein sehr starkes Potenzial der Ausstoßung aus der Gemeinschaft enthalten sind, kann die sprachlich artikulierte Kommunikationsweise gelernt werden. Diese Übung, eigene Empfindungen, eigene Gefühle und eigenes Denken zur Sprache zu bringen, wird in der japanischen Schule nicht hinreichend vollzogen. Die schulische Erziehung dieses Vermögens kann z. B. bei der Gelegenheit einer Verhandlungsrunde über Umweltprobleme die Fähigkeit hervorbringen, eigene Interessen deutlich zu formulieren und gegenüber eventuellen sozialen Ungerechtigkeiten kritisch zu argumentieren. Das ist bei der Bildung der Voraussetzung des Ich-Es-Verhältnisses für die Verwirklichung der Ich-DuBeziehung in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig. 4)

»Du-Du-Beziehung«?

Der Philosoph Arimasa Mori hat, wie oben erwähnt, gesagt, dass die Ich-Du-Beziehung bei Erwachsenen bei einer geringfügigen Entwicklung des Ich-Es-Verhältnisses im sozialen Leben nicht möglich ist. 364 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Dabei hat er die menschliche Beziehung in der japanischen Gesellschaft als »zweigliedrige Beziehung« (二項関係, niko kannkei) bezeichnet. 188 Das erste Glied ist aber nicht das Ich in der ersten Person, sondern das Du in der zweiten Person. Das zweite Glied ist auch das Du in der zweiten Person. Daher wird die zweigliedrige Beziehung auch »Du-Du-Beziehung« genannt. Wo ist das Ich der Ich-Du-Beziehung und das Ich des Ich-Es-Verhältnisses in der japanischen Gesellschaft? Nirgendwo ist das Ich da! Weil das »Ich« in der »Du-Du-Beziehung« nichts anderes als »Du«, nämlich vom gegenüberstehenden Du gesehenes »Du«, ist. Das heißt, dass sich z. B. ein Kind in einer Mutter-Kind-Beziehung seiner selbst als die immer von der Mutter »Du« genannte Person bewusst ist. Ein Kind lebt in emotionaler Übereinstimmung mit der Mutter in einer »Du-Du-Beziehung«. In dieser emotionalen »Du-Du-Beziehung« fungiert die passive Einfühlung der passiven Synthesis, in der die intermonadische emotionale Kommunikation ohne Beteiligung der Ich-Aktivität immer schon entsteht. a) Nicht nur in der Eltern-Kind-Beziehung, sondern auch im Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem in einer Firma herrscht im Hintergrund sehr stark diese Du-Du-Beziehung. Was bedeutet aber die Du-Du-Beziehung im Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem in einem Unternehmen? Dabei ist auf beiden Seiten die Fähigkeit, die eigene Aufgabe in der Firma zu erledigen, vorausgesetzt. Auch in der vertikal strukturierten Gesellschaft sind Qualifikation und Leistung natürlich von großer Wichtigkeit. Aber bei der guten Zusammenarbeit geht es nicht um solche mehr oder weniger gleichen Voraussetzungen der Qualifikation und Leistung, sondern um etwas Kreatives, das aus der wechselseitigen Haltung beider neu entsteht. Diese Haltung beinhaltet die wechselseitige Bejahung und Anerkennung, die aber nicht nur der Du-Du-Beziehung zwischen Mutter und Kind entspricht. Wenn Mori das Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem als Du-Du-Beziehung und Nakane es als vertikale Beziehung versteht, müssen beide dennoch die Rolle des Ich-Es-Verhältnisses akzeptieren, ohne das eine bestimmte Qualifikation und Leistung nicht ermöglicht werden kann. Das Ich-Es-Verhältnis setzt nicht nur die Ich-Du-Beziehung ohne Ich-Aktivität in der frühen Kindheit im Sinne Bubers voraus, sondern auch die aktiven Intentionalitäten der Ich-Aktivität, zu der die Wahr188

Vgl. A. Mori, Keikenn to shiso, S. 93 ff.

365 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

nehmung des Gegenstandes, Wiedererinnerung, Sprechen, Rechnen, Lesen, Schreiben usw. gehören. b) In diesem Sinne ist die Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Vorgesetztem und Untergebenem in einer Firma als Du-DuBeziehung etwas einseitig. Ein Untergebener identifiziert sich selbst als Untergebener eines Vorgesetzten in einer Firma. Aber ein Untergebener, der als »Du« von einem Vorgesetzten (Du) angesehen werden kann, entspricht nicht gleich einem Kind, das als »Du« von der Mutter (Du) in starker Abhängigkeit angesehen wird. Ein Kind vor der Bildung des Selbstbewusstseins tritt ohne weiteres in die selbstlose, emotionale Übereinstimmung mit der Mutter ein. Aber ein Untergebener kann sich sehr schwer völlig selbstlos auf die Arbeit oder die Aufgabe, die ihm sein Vorgesetzter gibt, konzentrieren und in die Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen im Sinne Bubers eintreten, weil Eigeninteresse und Selbstbezogenheit, die beide aus dem IchEs-Verhältnis stammen und das Ich der Ich-Aktivität natürlich voraussetzen, seinen Alltag beherrschen. c) Das »Selbstloswerden« in der Ich-Du-Beziehung bei Erwachsenen wird nach Buber, wie oben erwähnt, »durch Gnade« 189 verwirklicht. Das wird in der buddhistischen Tradition durch die Schulungspraxis des »achtgliedrigen Pfades«, vor allem durch die Versenkungsübung verwirklicht. Aber das ist nur möglich, wenn die sozialen Bedingungen für eine solche Verwirklichung der selbstlosen Zuwendung zum einzelnen Du konkret genug durchdacht werden. Das heißt, sie wird schwierig, wenn durch die zu starke Gegenüberstellung zwischen der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung und der Egozentrik des Ich-Es-Verhältnisses die Bezogenheit auf das ewige Du bzw. den absoluten Anderen in den Vordergrund gestellt wird. d) In diesem Zusammenhang ist Moris Einsicht über die erste, zweite und dritte Person in der japanischen Gesellschaft differenzierter zu betrachten. Das mangelnde Verständnis der dritten Person in der japanischen Gesellschaft hat mehrere Gründe. Der erste Grund hat mit der buddhistischen Denktradition zu tun, in der das selbstlose Selbst erzielt wird. Das echte Selbst wird von der Vorstellung des Ichs, die aus der wechselseitigen Zusammenwirkung von Dharmas entsteht bzw. konstituiert wird, befreit. Der zweite Grund betrifft den konfuzianistischen sozialen Wert, der die hierarchische, vertikale soziale Ordnung akzentuiert. Aber die 189

Siehe oben, S. 359.

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»Ich-Du-Beziehung« bei Buber und Husserl und das »Ich und Du« bei Nishida

Verwirklichung des selbstlosen Selbst bzw. des »Ich-Du« in der IchDu-Beziehung ist schwer möglich, wenn die Grundbedingungen der Lebenswelt für das soziale Zusammenleben nicht erfüllt werden. Die Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ist immer eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die sich nur streng unter dem Aspekt der dritten Person im Ich-Es-Verhältnis entwickeln kann. Daher liegt der dritte Grund für den Rückgang in der Unterentwicklung des Aspekts der dritten Person in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in der japanischen Gesellschaft. Verlangt wird hier die Sachlichkeit, die Sache selbst, das, was gesprochen wird, und nicht die Persönlichkeit, von der etwas gesprochen wird. Die sachliche Objektivität kann erst durch den Prozess des Sprechens für den Sprechenden und Zuhörenden selbst gewonnen werden. 5)

Die Verobjektivierung der eigenen Empfindung beim Sprechen

Wie in der genetischen Analyse gezeigt wurde, basiert das Sprechen eines Kindes auf der intermonadischen emotionalen Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Das vorsprachliche Mitfühlen und Mitempfinden sowie das wechselseitige Nachahmen der lallenden Lautäußerung eines Babys bilden durch die Übereinstimmung der emotionalen, assoziativ-passiven Synthesis die Basis für die Verobjektivierung eines Dings zwischen den beiden. Das so intermonadisch verobjektivierte Ding gewinnt durch die von der Mutter vollzogene Benennung des Dinges und die Nachahmung dieser Benennung durch das Kind seinen für beide gemeinsamen objektiven Namen in der Welt der Sprache. Die Sprache hat auf diese Weise von ihrem Ursprung her eine intermonadische, verobjektivierende Eigenschaft. Dieser Verobjektivierungsprozess wird beim Sprechen immer wieder wiederholt. Eigene Empfindungen und Gedanken zur Sprache zu bringen ist eine bereits intersubjektive, verobjektivierende Handlung des Menschen, die die aktiven Intentionalitäten und die ihnen vorausgehenden passiven Intentionalitäten voraussetzt. Wenn jemand immer wieder danach gefragt wird und darauf in eigener Sprache antworten muss, wie sich jemand bei Mobbing fühlt oder was jemand dabei denkt, muss derjenige oder diejenige diesen intersubjektiven Verobjektivierungsprozess immerzu erneut wiederholen. Durch diese Wiederholung gewinnt der Schüler oder die Schülerin die Fähigkeit, 367 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

I · Die Problematik der Intersubjektivität in der Interkulturalität

eigene Empfindungen und Gedanken zu verobjektivieren und sich davon zu distanzieren. Moralpredigten wie »Seid nett zueinander!« oder »Man darf niemanden mobben!« nützen überhaupt nichts, wenn man selber den Sinn des »Nett-Seins« und des »Nicht-Mobbens« nicht unmittelbar empfinden, sich vorstellen und sprachlich ausdrücken kann. Nicht nur das Problem des Mobbings, sondern verschiedene soziale Probleme wie Arbeit, Umwelt, Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeit, Kriminalität, Diskriminierung usw. zur Sprache zu bringen und miteinander darüber zu diskutieren ist, nach meiner Meinung, die allerwichtigste Aufgabe der schulischen Erziehung. Ohne die Basis einer solchen Erziehung ist die Begründung einer Sozialphilosophie, die als Wissenschaft die Entwicklung des Ich-EsVerhältnisses voraussetzt, in einer Lebenswelt kaum möglich.

368 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Kapitel II. Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

1.

Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls

In Bezug auf die Problematik der Ethik ist der Standpunkt der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls deutlich hervorzuheben. In diesem Zusammenhang ist die Position von Waldenfels zwischen der von Levinas und der von Merleau-Ponty von großer Relevanz. Dieses »Zwischen« den beiden bringt eine enorme Bereicherung für die phänomenologischen Analysen mit sich. Worauf ich mit der »paradoxen Simultaneität« hinauswill, ist eine stärkere Akzentuierung der Grundzüge der Zwischenleiblichkeit Merleau-Pontys, indem ich wichtige Einsichten aus der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24) von Husserl und die Wendung von einer egologischen Interpretation der Affektion zu einer intermonadischen Interpretation der Voraffektion in die Diskussion bringe. Dadurch wird das Forschungsfeld der Ethik in der genetischen Phänomenologie bestimmt, in der die größere Tragweite des Beitrags von Waldenfels deutlich gezeigt werden kann.

§ 1. Aktivität und Passivität in der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24) Die für die Phänomenologie Husserls entscheidende Einsicht bezüglich der Ethik zeigt sich deutlich in seiner Kritik an der Gefühlsmoral Humes und dem verstandesmoralischen Rigorismus Kants. Der bei Hume und Kant fehlende Begriff der Intentionalität, der die Objektivität des Wertes durch den Akt des »Wertnehmen[s]« (Hua XXXVII, 72) 1 konstituiert, ermöglicht es, einerseits den subjektiven Relativis1

In Hua XXXVII, 72 führt Husserl den Begriff »Wertnehmen« ein: »Das Werten in

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

mus des modernen Hedonismus und andererseits die strenge Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Verstand bei Kant zu überwinden, indem die praktische Vernunft nicht nur im Bereich der Vernunft angesetzt, sondern auch als fungierend im Bereich der Sinneswahrnehmung aufgewiesen wird. Dabei spielt die Unterscheidung der praktischen Vernunft zwischen dem ethischen Bereich der Vernunft und dem vorethischen Bereich ohne Aktivität der Vernunft eine entscheidende Rolle. Sie weist auf das Fundierungsverhältnis zwischen Passivität und Aktivität hin, das für die Forschung der genetischen Phänomenologie Husserls von größter Bedeutung ist. In Bezug auf die vorethische Passivität, die in dieser Vorlesung mit dem Begriff der »passiven, assoziativen Motivation« 2 beschrieben wird, sagt Husserl über solche »in reiner Passivität, ohne jede Ichbeteiligung wirkenden Motivationen«: »Nun, sie [d. i. die passive Motivation, I. Y.] ist nicht selbst ein Ichakt des Fürwahr-Haltens, des Urteilens, Werthaltens, obschon ein solcher Akt sich darauf beziehen kann und obschon all solche Akte von diesem hintergründigen Bewusstsein ihre Nahrung ziehen können« (Hua XXXVII, 111). Dass die Passivität die Aktivität fundiert, kommt hier auf zweierlei Weise zum Ausdruck: Einerseits kann sich ein Ich-Akt auf passive Motivationen beziehen, d. h. genauer, dass die Aktivität die Passivität voraussetzt oder die Passivität der Aktivität vorausgeht. Andererseits weist das Ziehen der Nahrung aus der Passivität auf die passive Motivation als den »Mutterboden der Vernunft« (Hua XXXVII, 332) 3 hin. Jedenfalls ist es für Husserl klar, dass der vorethische Bereich der Passivität der Sinneswahrnehmung, ganz anders als bei Kant, eine entscheidende Rolle für den ethischen Bereich der Aktivität der praktischen Vernunft spielt. Im Zusammenhang dieser Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Intentionalität sind besonders Husserls Hinweise auf »die apriorischen We-

allen Formen und so auch das Wertnehmen (so nennen wir also das Analogon des Wahrnehmens) ist Akt des fühlenden Subjekts. Der Wert aber eignet dem Objekt.« 2 Vgl. Hua XXXVII, 110 ff., sowie auch schon »Ideen II«: »So beruhe alle dingliche Apperzeption, alle Apperzeption von Einheiten des Zusammenhangs mehrerer Dinge und Dingvorgänge auf assoziativen Motivationen« (Hua IV, 226). 3 Hier sagt Husserl: »Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft und hat als solcher Empfänglichkeit für den intellectus agens und das Subjekt der aktiven Vernunft in seinem Vernunftwalten« (Hua XXXVII, 332).

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

sensgesetzlichkeiten der Gefühls- und Empfindungssphäre« (Hua XXXVII, 220) zu betonen, die Kant aufgrund seines Gesamtkonzepts überhaupt nicht sehen konnte. Diese Gesetzlichkeiten sind für Husserl Assoziation und Affektion, die in den »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI) untersucht werden.

§ 2. Voraffektion und Affektion in der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls Die Gesetzmäßigkeit der passiven Synthesis in der genetischen Phänomenologie Husserls ist die der Assoziation und der Affektion. Für die Bestimmung der Ethik im Bereich der genetischen Phänomenologie Husserls ist die Erhellung der Begriffe der Assoziation und der Affektion notwendig, insofern Husserl in seiner genetischen Betrachtung der Ethik mit dem Begriff der assoziativen Motivation das Vorethische vom Ethischen unterscheidet. Die assoziative Motivation fungiert im Bereich der Passivität ohne Beteiligung der Ich-Aktivität. Diese Unterscheidung, in der das »ohne« oder »mit« der Ichaktivität als das Unterscheidungsmerkmal angesehen wird, betrifft ferner die hier sehr wichtige Differenz zwischen Voraffektion und Affektion. Affektion wird erst zur Affektion, wenn das Ich sich dem Affizierenden zuwendet. Aber die Zuwendung ist eine Aktintentionalität, die als Ich-Aktivität, und zwar als Noesis, vollzogen wird. Daher besteht stets die Gefahr, das Phänomen der Affektion von der Seite des affizierten Ichs her, also einseitig egologisch, aktiv-intentional, zu interpretieren. Das heißt, der Ich-Pol der Ich-Aktivität ist bei dieser Interpretation bereits vorausgesetzt, obwohl die Bildung des Ich-Pols selbst eines der wichtigsten Themen der genetischen Phänomenologie Husserls darstellt. Aber erst wenn die Affektion, der Ebene der assoziativen Synthesis entsprechend, vom Aspekt der wechselseitigen assoziativen Weckung zwischen der Triebintentionalität und der hyletischen Gegebenheit der Umwelt, also auf der Ebene der »Vorkonstitution« der Voraffektion, gedacht wird, kann das Phänomen der Affektion korrekt im Rahmen der passiven Synthesis erhellt werden. Die streng erkenntnistheoretische Fragestellung des Verhältnisses zwischen dem ethischen Bereich der Vernunft und dem vorethischen Bereich der Sinnlichkeit führt uns zur phänomenologischen Analyse der praktischen Vernunft, worin der Bereich des Vorethischen und zugleich der des Ethischen zum Thema werden können. 371 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

§ 3. Passive Intentionalität und nicht-intentionale Passivität in der Problematik der Ethik Die Unterscheidung zwischen der Affektion und der Voraffektion wird in den »Analysen zur passiven Synthesis« im Allgemeinen graduell gedacht, 4 insofern das Vorkonstituierte durch die Affektion teils ins Bewusstsein, teils aber nicht ins Bewusstsein gebracht wird, je nach der graduellen Stärke der affektiven Kräfte, die die Zuwendung des Ichs fördern. Trotz dieser Gradualität kann diese Differenz zwischen beiden, diese Grenze zwischen der passiven Vorkonstitution und der aktiven Konstitution, nicht übersprungen, geschweige denn verwischt werden. Wichtig ist dabei auch, dass diese Grenze keine Grenze zwischen Intentionalität und Nicht-Intentionalität bedeuten kann. 5 Selbstverständlich ist die passive Intentionalität auch eine Intentionalität und keine Nicht-Intentionalität. Wenn die Nicht-Intentionalität bloß eine Negation der aktiven Intentionalität, die den Erkenntnisgegenstand in der Noesis-Noema-Korrelation konstituiert, bedeutet, bleiben der gesamte Forschungsbereich und die nicht geringen Forschungsergebnisse bezüglich der passiven Synthesis und der passiven Genesis gänzlich wirkungslos und hinter dieser Negation verdeckt und verborgen. Die Differenz zwischen Affektion und Voraffektion zeigt sich deutlich im Prozess ebendieser Assoziation selbst, wodurch sich das von dem passiv Vorkonstituierten affizierte Ich diesem zuwendet. Dabei sagt Husserl, dass die Affektion durch die Zuwendung des Ichs zu den »Interessen« bzw. Motiven in der lebendigen Gegenwart »affektiv« wird, 6 aber genauer besagt das, dass dies »durch das Interesse von Monaden-Leben bzw. Bewusstseinsleben« geschieht. Dann sind Instinkte, Triebe und Gefühle, die die stärksten und ursprünglichsten Motivationen in der lebendigen Gegenwart sind, natürlich als passive Intentionalität ohne Ich-Aktivität und nicht als aktive Intentionalität mit Ich-Aktivität anzusehen. Also gehören sie zu den Interessen des Monaden-Lebens, die dem Interesse des Ichs

Vgl. Hua XI, 163 ff. R. Kühn versucht mit dieser Unterscheidung den Begriff der Passivität Husserls einzuordnen. Vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität, S. 430 ff. Vgl. auch meine Kritik an Kühns Einsicht, oben, S. 250. 6 Vgl. Hua XI, 178. 4 5

372 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

vorausgehen und das Interesse des Ichs selbst fundieren. Die Zuwendung als aktive Intentionalität kann nur entsprechend der Grundeinsicht der genetischen Phänomenologie fungieren, und zwar dergestalt, dass die Passivität die Aktivität fundiert. Das heißt, die Zuwendung der Ich-Aktivität kann erst durch die Fundierung der Triebintentionalität, die das Strömen der lebendigen Gegenwart transzendental bedingt, am Werk sein. 7 1)

Henrys Interpretation der Zeitlehre und der Assoziation Husserls

Die Einsicht der »nicht-intentionalen Passivität« wurde zunächst von M. Henry in Bezug auf seine Auffassung der Zeit und der Assoziation in die Diskussion gebracht. 8 Henry kritisiert die Zeitlehre und die Assoziation als eine passive Intentionalität bei Husserl, indem er das Gefühl als die Selbstaffektion des Lebens ansieht. Seine Kritik bezieht sich auf Husserls Ausführungen in den »Zeitvorlesungen«: »Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natürlich nicht in jeder Hinsicht decken« (Hua X, 83). Henry lehnt diese Deckung als ein dogmatisches Argument ab, wobei er Husserls Einsichten bezüglich der Untrennbarkeit zwischen dem Empfinden und dem Empfindungsinhalt übersieht. Er behauptet, dass das Wesen der Impression des lebendigen Lebens durch Husserls Auffassung von der Impression als durch den Jetzt-Punkt konstituierte formale Impression verlorengeht. Aber eine einseitige Betonung der urschöpferischen Impression mit der Charakterisierung der Retention als einer aktiven Intentionalität trifft Husserls Einsicht der Untrennbarkeit von Impression und Retention nicht. 9 Außerdem gilt die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt hinsichtlich des Begriffs der Empfindung bei Husserl überhaupt nicht, genauso wenig wie bei der Retention. Sowohl die Impression als auch

Wenn auch die Triebintentionalität als »ichliche« Intentionalität gedacht wird, vergisst Husserl nicht, zu betonen, dass die ichliche Triebintentionalität »als in einer ichlosen (›Passivität‹) fundierte« angesehen werden muss (Hua XV, 594 f., Hervorhebung vom Verfasser). 8 M. Henry, Phénoménologie Matérielle, S. 59 (jap.). 9 S. Micali kritisiert treffend das Missverständnis Henrys in Bezug auf Husserls Sichtweise des Verhältnisses zwischen Impression und Retention: Vgl. S. Micali, Überschüsse der Erfahrung, S. 180 ff. 7

373 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

die Retention lassen sich nur durch die passive Synthesis der passiven Intentionalität, ohne Dualität von Form und Inhalt, auffassen. 2)

Die passive Synthesis ohne Dualität von Form und Inhalt

Wenn die Affektion entweder als aktive Intentionalität oder als Nicht-Intentionalität aufgefasst werden soll, wie dies z. B. bei Levinas mit der Gegenüberstellung von Leben und Denken der Fall ist, so wird das Erfassen des Forschungsbereichs der genetischen Phänomenologie, in dem die Dimension der Voraffektion, der Vorkonstitution, d. h. des vorlogischen, vorreflexiven und vorprädikativen Apriori der Lebenswelt thematisiert wird, unmöglich. Die eigentliche Dynamik und die Kreativität der passiven Synthesis, die von Merleau-Ponty als »tiefere Intentionalität« oder »Existenz« eigens betont wird, können nicht durch die herkömmliche dualistische Denkweise, sei es die Dualität von Form und Inhalt oder von Wesen und Tatsache, erörtert werden. Waldenfels sagt kurz und bündig: »Wie die Analysen des Zeitbewußtsein [sic] […] lassen auch die Analysen zur passiven Synthesis die Dualität von sensueller Hyle und intentionaler Morphe hinter sich.« 10 Die Analyse der passiven Synthesis, die unter dem Aspekt der Untersuchung des Abwandlungsprozesses der Retention als eine Vertiefung der Analyse des Zeitbewusstseins angesehen wird, zeigt deutlich, dass die Empfindung, die in den »Logischen Untersuchungen« als »nicht-intentional« benannt wird, eigentlich als »passive Intentionalität« zu bezeichnen ist. Der Grund liegt darin, dass die Empfindung der Sinnesfelder als das Urbewusstsein bzw. innere Bewusstsein des unbewusst, passiv-assoziativ, durch die passive Synthesis Vorkonstituierten interpretiert werden kann. In den »Analysen zur passiven Synthesis« versucht Husserl, den Empfindungsinhalt, der im retentionalen Urbewusstsein bzw. in der immanenten Wahrnehmung apodiktisch gegeben ist, durch die Analyse der Gesetzmäßigkeit der Assoziation und der Affektion in die adäquate Evidenz zu bringen. Hierbei tritt durch die genetische Analyse des Phänomens der affektiven Zuwendung des Ichs der voraffektive, genetische Prozess der Bildung des Empfindungsinhalts ins Licht der genetischen Phänomenologie.

10

B. Waldenfels, Arbeit an den Phänomenen, S. 230.

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

3)

Levinas’ Interpretation der Empfindung Husserls

Diese Entwicklung der genetischen Phänomenologie Husserls vermochte nun Levinas überhaupt nicht zu berücksichtigen. Er hat Empfindung als Intentionalität, und zwar als eine aktive Intentionalität, verstanden, weil er die Empfindung als in das Empfinden und das Empfundene aufgeteilt gesehen hat, wobei der Abstand dazwischen, wie gering er auch immer sein mag, eben durch diese Intentionalität überbrückt wird. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass er die Andersheit des Anderen, die für ihn den Kernbegriff der Ethik bildet, frei von der Vergegenständlichung durch die aktive Intentionalität des Zeitflusses, in den Bereich der Nicht-Intentionalität der Impression retten will. Das kommt daher, dass er vor dem Hintergrund der intentionalen Charakterisierung der Zeitigung die Urpassivität der Urimpression als nicht-intentional versteht und die Impression selbst ihm zufolge nicht gezeitigt werden kann. In dieser Dimension der Urimpression muss nach Levinas die Andersheit des Anderen, die von der Intentionalität der Zeitigung befreit bleibt, liegen. Auf diese Weise wird die Möglichkeit der unmittelbaren Berührung mit der Andersheit des Anderen in der intermonadischen Urkommunikation durch die Paarung der passiven Synthesis, die Husserl und Merleau-Ponty als entscheidend für die Begründung der Intersubjektivität angesehen haben, von der Dimension der Impression ausgeschlossen. Der Grund dafür liegt, wie schon gesagt, darin, dass für Levinas das Empfundene den Charakter des Noema hat, das durch die aktive Intentionalität als gegenständlich konstituiert wird. 4)

Der Verlust des »eingeborenen Du« bei Levinas

Damit bleibt bei Levinas aber nicht nur diese Möglichkeit der Berührung mit dem Du, sondern auch die sogenannte Begegnung mit dem »eingeborenen Du« in der Ich-Du-Beziehung der frühkindlichen Phase ausgeschlossen. Dieser Verlust des »eingeborenen Du« hat nun aber eine wichtige Konsequenz für das korrekte Verständnis des Verhältnisses zwischen dem vorethischen und dem ethischen Bereich. Die unhintergehbare Bezogenheit des Kleinkindes auf das eingeborene Du, in der es sich auf seine Umwelt noch vor der Bildung des IchPols und des Ich-Bewusstseins ganzheitlich bezieht, bildet die vorethische Basis der Passivität für jede ethische Handlung. Diese vorethische Basis der »Zwischenleiblichkeit«, die durch die passive Syn375 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

thesis vorkonstituiert wird, darf nicht von der Problematik der Ethik ausgeschlossen werden. Sie beschreibt auch die Art und Weise der Urkommunikation des Kleinkindes, in der die Bildung der passiven Zwischenleiblichkeit durch die wechselseitige Weckung zwischen der Umwelt und der Instinktintentionalität vollzogen wird. Diese dadurch ermöglichte unmittelbare Berührung mit dem Anderen ist eine unentbehrliche Basis für die soziale Kommunikation und die Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen. Gleichzeitig sind der Mangel und der Verlust dieser Beziehung immer das allerwichtigste Forschungsobjekt der Psychopathologie. 11 Die emotionale Kommunikation auf der Ebene der passiven Intersubjektivität geht natürlich der sprachlich artikulierten Kommunikation voraus, weshalb die Erstere auch die Letztere fundiert. Daher beeinflusst der Verlust der ersten fundamentalen, vorethischen Beziehung die Erhellung der Problematik der Ethik auf ungemein starke Weise. 5)

Waldenfels’ Kritik an der Ethik Levinas’

Bezüglich des gesamten Konzepts von Levinas’ Ethik wirft Waldenfels vier gewichtige Kritikpunkte auf, die erstens »eine Spielart von negativer Ethik«, zweitens eine »Überpersonalisierung der Sozialwelt«, drittens die Übermacht des Anderen und die Schutzlosigkeit des Selbst und viertens »die Grenzen einer anarchischen Ethik« beinhalten. 12 Die oben unternommenen kritischen Anmerkungen entsprechen besonders der ersten und zweiten Kritik von Waldenfels. Die im ersten Punkt vorgebrachte Kritik bezüglich der »Abwesenheit« des Anderen bezieht sich nach meiner Meinung auf Levinas’ oben genannte Interpretation des Begriffs der Empfindung bzw. des Zeitbewusstseins, sprich der Impression und Retention bei Husserl. Er glaubt die Quelle des Zeitinhalts allein in der Impression zu finden und sieht das Retinierte als das intentional vergegenständlichte Die wichtige Wende vom individuell-psychologischen zum intersubjektiv-psychologischen Aspekt in den letzten Jahren wird sehr deutlich in der Arbeit von D. N. Stern gezeigt. Sein Begriff »emotional turning« kann zwar sachlich der zwischenmonadischen Kommunikation Husserls durchaus entsprechen, aber seine ohne methodische Ansätze der Phänomenologie vorgenommene Interpretation verbleibt leider im Rahmen der von Merleau-Ponty kritisierten sogenannten klassischen Psychologie mit der Annahme eines psychischen Innen und eines körperlichen Außen. Vgl. D. N. Stern, The Interpersonal World of the Infant. Vgl. Dazu oben, S. 299 f. 12 Vgl. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, S. 157 ff. 11

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

Modifizierte des Zeitinhalts der Impression an; schließlich übersieht er die Bildung des Zeitinhalts durch die wechselseitige Weckung zwischen der Umwelt der Gegenwart und den Leergestalten oder Leervorstellungen der Vergangenheit. Somit ist das in der zweiten Kritik geäußerte Fehlen »anonymer, weitgehend unbewusster Machtspiele« 13 nichts anderes als Levinas’ Übersehen der anonymen, durch die Paarung der assoziativ-passiven Synthesis fungierenden Zwischenleiblichkeit, die die Basis der passiven Intersubjektivität für die Bildung der sozialen Kommunikation der aktiven Intersubjektivität bildet.

§ 4. Widerfahrnis und seine paradoxe Simultaneität Im Zusammenhang mit der passiven Intersubjektivität und der intermonadischen Zeitigung ist nun die Thematik von »Widerfahrnis und Antworten« bei Waldenfels zu erörtern. In diesem Kontext ist die »zeitliche Verschiebung« zwischen dem Widerfahrnis und dem Antworten ein Schlüsselbegriff. Waldenfels schreibt: »Die Verschiebung gewinnt einen radikal zeitlichen Sinn, wenn wir die Vorgängigkeit eines Widerfahrnisses mit der Nachträglichkeit der eine Antwort produzierenden Wirkung zusammen denken.« 14 In diesem Zusammenhang möchte ich der Frage nachgehen, ob bereits in diesem Widerfahrnis selbst die paradoxe Simultaneität der voraffektiven Vorkonstitution am Werk ist, m. a. W., ob das Widerfahrnis sich durch die Aufmerksamkeit, die durch die passive Synthesis vorkonstituiert wird, schon selektiv ereignet, sei es, dass die voraffektive Vorkonstitution zur höheren Ebene der affektiven Konstitution gebracht wird oder dass sie noch auf der Ebene der Vorkonstitution verbleibt. Anders gesagt: Bedeutet das Widerfahrnis einen letzten Grenzbegriff, oder eröffnet es vielmehr die Möglichkeit der phänomenologischen Analyse der paradoxen Simultaneität dieses Widerfahrnisses selbst?

13 14

A. a. O., S. 158. B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 178.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

1)

Der Begriff der Simultaneität bei Merleau-Ponty und Husserl

In seinen kritischen Bemerkungen zu Husserls Intentionalitätsbegriff äußert sich Merleau-Ponty bezüglich der Frage der paradoxen Simultaneität dahingehend, dass die Intentionalität die Ordnung des »Bewusstseins« von Bedeutungen ist und selbst keine »Simultaneität Vergangenheit-Gegenwart« im Sinne Merleau-Pontys enthält. 15 Dabei behauptet er, dass das »Ablaufsphänomen« bei Husserl die Simultaneität, den Übergang enthält, d. h., es enthält einen intentionalen Verweis auf »eine dimensionale Gegenwart oder eine Welt oder ein Sein, wo die Vergangenheit mit der Gegenwart im engeren Sinne ›simultan‹ ist« 16. Das Ablaufsphänomen Husserls verweist eben auf das Phänomen der Zeit bzw. der Zeitigung, die er sein Leben lang, von der frühen Vorlesung »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« bis zu den »C-Manuskripten«, untersucht hat. Husserls Analyse des Ablaufsphänomens der Zeit, der Simultaneität, vertieft sich so weit, dass die wechselseitige Weckung der voraffektiven Synthesis zwischen der hyletischen Vorgegebenheit der Umwelt und den leeren Gestalten oder den leeren Vorstellungen im Horizont der Vergangenheit erörtert wird. Zwar ist Merleau-Pontys Aussage über die Simultaneität vom Aspekt der Vergangenheit her interessant – »die ›vertikale‹ Vergangenheit erhebt selbst den Anspruch, wahrgenommen worden zu sein« 17 –, aber als wesentlich stärker und aufschlussreicher erweist sich das folgende Zitat von Husserl über die affektiven Kräfte, bei dem wichtige Einsichten über die Simultaneität zum Tragen kommen: »In der leeren retentionalen Sphäre aber summieren und hemmen sich die Kräfte und mit ihnen auch die Kräfte der Erwartung, blind wie jene Triebe, jedenfalls die Typik und Gesetzmäßigkeit der Erwartung ist, sehen wir, durchaus abhängig von der Typik und Gesetzmäßigkeit der reproduktiven Assoziation und dadurch vermittelt auch von derjenigen der ursprünglichen Assoziation in der lebendig strömenden Gegenwartssphäre« (Hua XI, 189). Hier gilt es, folgende entscheidenden Aussagen festzuhalten: a) Die Sphäre bzw. der Horizont der Vergangenheit schließt in sich die Kräfte der Erwartung ein, die immer die jeweilige hyletische 15 16 17

Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 307. A. a. O., S. 308. Ebd.

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

Vorgegebenheit in der lebendigen Gegenwart passiv-intentional vorzukonstituieren bereit ist. Das heißt, der Vergangenheitshorizont begleitet den Horizont der Gegenwart immer simultan. b) Die hier angedeuteten »Triebe« sind Triebintentionalitäten der passiven Synthesis, die in der genetischen Phänomenologie erörtert werden. Die Triebintentionalität als Ur-Affektion, die alle affektiven Kräfte in der lebendigen Gegenwart in eine bestimmte Richtung gewisser Triebe vereinheitlicht, bezieht sich direkt auf das Ablaufsphänomen der assoziativen Zeitigung. c) Mit der Differenzierung zwischen der reproduktiven Assoziation und der Assoziation in der lebendigen Gegenwart kann die weckende affektive Kraft aus dem Vergangenheitshorizont vielschichtig erhellt werden. Die Leervorstellung des Gegenstandes wird durch die reproduktive Assoziation der Wiedererinnerung und die leeren Gestalten der Sinnesempfindung durch die voraffektive, passive Synthese in der jeweiligen lebendigen Gegenwart geweckt. Die leeren Gestalten der einzelnen Empfindungsfelder werden, wie oben dargestellt, 18 stufenweise aus der Ursynästhesie des Säuglings gebildet. 2)

Die der Evidenz der Aktivität vorangehende Evidenz der Passivität

Die Evidenz der Retention ist apodiktisch gegeben. Die Frage ist, ob die Evidenz der passiven Synthesis der Vorkonstitution (der Assoziation und der Affektion) und der Voraffektion apodiktisch bewiesen ist. Es geht hier um das Kriterium der Evidenz, anschaulich gegeben zu sein. Die Vorkonstitution der passiven Synthesis selbst ist nicht anschaulich gegeben. Ist es dann erforderlich, dass der Begriff der Evidenz vom Status der Anschaulichkeit zum Status der Unanschaulichkeit erweitert werden muss? Dabei ist zu beachten, dass die Retention die Augenblicklichkeit der Evidenz des ego cogito durch das Leerwerden der Anschaulichkeit erweitert hat. Der Prozess des Leerwerdens des Retinierten selbst ist anschaulich evident gegeben. Die Evidenz der unbewussten Retention habe ich bereits im ersten Teil dieses Buches anhand des Beispiels des Unterschiedes zwischen den Kinästhesen einer unwillentlichen und denjenigen einer willentlichen Bewegung aufgewiesen. Ohne die unbewusste Retention (eine unbewusste Bewegung des Körpers wird als eine Bewegung 18

Vgl. oben, S. 268 f.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

retiniert) kommt die unbezweifelbare Überzeugung bzw. Evidenz der zeitlichen Reihenfolge von (erstens) Bewegung und (zweitens) Bewusstsein derselben Bewegung nicht zustande. Wichtig ist, darauf aufmerksam zu machen, dass anschaulich bewusst Gegebenes immer das Endergebnis der passiven Synthesis, also der Assoziation und Affektion, ist. Aber der unmittelbare Vorgang bzw. Prozess der Assoziation und Affektion selbst ist nicht anschaulich gegeben. 19 Dennoch ist der Abwandlungsprozess der Retention im inneren Bewusstsein bzw. Urbewusstsein absolut evident gegeben, obwohl das »urbewusst« Retinierte bloß das Endergebnis dieser unbewussten passiven Synthesis ist. Das passiv Vorkonstituierte kann die affektive Kraft auf das Ich übertragen, aber völlig unbewusst. Der besondere Status der passiven Vorkonstitution wird im folgenden Zitat Husserls aus seiner Vorlesung »Aktive Synthesen« (Hua XXXI) dahingehend formuliert, »dass eine Urform der Assoziation diese Quelle ist, das heißt, es ist als ein spezifisches Apriori der passiven Vorkonstitution, worauf sich eine neue Stufe der Aktivität bauen kann« (Hua XXXI, 77, Hervorhebung vom Verfasser). Das Fundierungsverhältnis zwischen dem passiv-unanschaulich Vorkonstituierten und dem aktiv-anschaulich Konstituierten wird in »Erfahrung und Urteil« im Zusammenhang mit der Wesenserschauung deutlich beschrieben: »Das heißt, es ist als solches passiv vorkonstituiert, und die Erschauung des Eidos beruht in der aktiven schauenden Erfassung des so Vorkonstituierten.« 20 Dazu noch eine unmissverständliche Aussage Husserls, die prinzipiell aufzufassen ist: »Passivität ist das an sich Erste, weil alle Aktivität wesensmäßig einen Untergrund von Passivität und eine in ihr schon vorkonstituierte Gegenständlichkeit voraussetzt« (Hua XXXI, 3, Hervorhebung vom Verfasser). 21 Husserl bemerkt rückblickend zu seiner Vorlesung über die Analysen zur passiven Synthesis (1920/21): »In den Vorlesungen habe ich gegeben, was ich geben wollte: ein Grundstück der aufklärenden und zu letztem Verständnis führenden Arbeit, in der allein der Sinn und die Leistung desjenigen Bewußtseinslebens ist, das uns völlig verborgen ist, weil es unser lebendiges Leben ist« (Hua XI, 365, Hervorhebung vom Verfasser). 20 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 414. Das Beispiel der wechselseitigen Fundierung zwischen Farbe und Extension als materiales Apriori in den »Logischen Untersuchungen« ist uns zwar anschaulich konstituiert gegeben, aber das Wie dieser Fundierung selbst, nämlich die Art und Weise der assoziativen Verbindung zwischen zwei Wesen, ist unanschaulich vorkonstituiert gegeben. 21 Diese prinzipielle Auffassung wird im Zusammenhang mit der bewussten An19

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

Schließlich ist die Evidenz des passiv-unbewusst Vorkonstituierten mit dem Begriff der wechselseitigen, assoziativen Weckung der affektiven Kräfte überzeugend aufweisbar. Die wechselseitige assoziativ-affektive Weckung kann natürlich ohne implizite Leergestalten und Leervorstellungen im Unterbewusstsein nicht entstehen. Ohne eine passiv-assoziative Affektion können keine aktive Zuwendung des Ichs und keine anschauliche Erschauung des Konstituierten entstehen. Insofern die bewusste Retention apodiktisch evident gegeben ist, muss die der bewussten Retention vorausgehende unbewusste Retention evidenterweise unanschaulich apodiktisch vorgegeben sein. 3)

Der Begriff des Widerfahrnisses bei Waldenfels

Mit der bisher vorgenommenen und als Vorbemerkung gedachten Darlegung zur wechselseitigen Weckung in der Simultaneität der passiven Synthesis wende ich mich nun dem Begriff des Widerfahrnisses bei Waldenfels zu. Die wechselseitige Weckung spielt auch in der Analyse des Phänomens der Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle, wovon auch Waldenfels bezüglich des engen Zusammenhangs von Widerfahrnis, Affektion und Ereignis spricht: »Die Bestimmung des Aufmerkens als das Überquellen einer Schwelle impliziert, dass sie nicht durch einen Akt der Aufmerksamkeit zustande kommt, sondern aus einer Weckung hervorgeht.« 22 Damit wird deutlich auf die Unterscheidung zwischen der Aktivität des Aktes und der Passivität der Weckung hingewiesen, was wiederum einen weiteren Gesichtspunkt hervortreten lässt: »Die Weckung der Aufmerksamkeit erfolgt auf der Ebene der Ereignisse.« 23 Diese Ebene der Ereignisse gehört genauso wie die Affektion zur Dimension des Widerfahrnisses. Dann lässt sich die Frage nach der Simultaneität im Widerfahrnis noch genauer im Zusammenhang mit dem Aufmerksam-Werden stellen. Also müsste die Frage genauer lauten, ob die Weckung der Aufmerksamkeit bereits inmitten des Widerfahrnisses als des Ereignisses selbst schauung und der unbewussten Unanschaulichkeit der Leergestalten auf folgende Weise dargestellt: »Genetisch gehen aller Art Anschauung, aller wahrnehmungsmäßigen Konstitution von Gegenständlichkeiten in allen Erscheinungsmodis Leergestalten vorher. Nichts kann zur Anschauung kommen, was nicht vorher leer vorstellig war und was in der Anschauung zur Erfüllung kommt« (Hua XI, 326). 22 B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 22. 23 A. a. O., S. 96.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

oder in der Zeitverschiebung zwischen dem vorgängigen Widerfahrnis und dem nachträglichen Antworten entsteht. Hierzu bemerkt Waldenfels: »Aufforderungsqualitäten und Aufmerksamkeitsmodi haben ihren Ort in eben jenem Zwischenfeld, das Widerfahrnisse mit eigenen Antworten verbindet.« 24 Das Zwischenfeld bedeutet für ihn nichts anderes als den Ort des Werdens, wo sich die Zeitverschiebung in einem nunc distans ereignet. 25 Das heißt, die Weckung der Aufmerksamkeit entsteht in der Zeitverschiebung und nicht inmitten des Widerfahrnisses selbst. Hier sieht es so aus, als gäbe es keine Möglichkeit für das »nunc stans« der passiven Synthesis, also keine Möglichkeit für die paradoxe Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit in der lebendigen Gegenwart selbst. Wenn die Zeitverschiebung andererseits nur eine Verschiebung des Antwortens bedeutet, kann die Weckung der Aufmerksamkeit nicht als die wechselseitige Weckung der passiven Synthesis, sondern muss als eine bereits negierte Aktintentionalität des AufmerksamWerdens, die der Passivität der Weckung der Aufmerksamkeit nicht entspricht, in der Zeitverschiebung des Antwortens aufgefasst werden. Die Vorgängigkeit des Widerfahrnisses kann nur ihren Sinn bekommen, weil die Weckung der Aufmerksamkeit gerade in der Simultaneität, und zwar der Zeitverschiebung vorausgehend, vorkonstituiert wird. Nur mit diesem Verständnis ist es möglich, die Frage nach dem Wie des Widerfahrnisses selbst, d. h. der Art und Weise der Vorkonstitution der Andersheit des Anderen, die bereits durch die Weckung der Aufmerksamkeit in das Widerfahrnis eindringt, offenzuhalten und weiter phänomenologisch zu analysieren.

§ 5. Die Dimension der Voraffektion der paradoxen Simultaneität 1)

Der Prozess des »Aufmerksam-Werdens«

Wie Waldenfels sagt, entsteht die Aufmerksamkeit nicht im Akt der Aufmerksamkeit. Somit muss man nach dem Prozess des »Aufmerksam-Werdens« vor dem Fungieren der Aktintentionalität fragen. Diese Frage ist die Frage nach der Genesis der Aufmerksamkeit, dem Warum dessen, »daß überhaupt etwas in der Erfahrung auftritt, daß 24 25

B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 104. Vgl. a. a. O., S. 179.

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

gerade dieses und solches auftritt und nicht vielmehr anderes und dass es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt« 26. Bei seiner Analyse der Affektion, die für Waldenfels zur gleichen Dimension des Widerfahrnisses gehört, differenziert Husserl im Zuge einer sorgfältigen Beschreibung des Aufmerksam-Werdens in der lebendigen Gegenwart zwischen der voraffektiven Vorkonstitution und der affektiven Konstitution. Die Affektion als die affektive Konstitution durch die aktive Intentionalität kann nur mit der Zuwendung des Ichs zum bereits voraffektiv Vorkonstituierten, d. h. durch den Prozess des Aufmerksam-Werdens entstehen. Die Affektion wird erst durch die Zeitverschiebung hindurch, die für das Fungieren der Aktintentionalität notwendig ist, zur Affektion selbst. Insofern die Affektion erst durch die Zuwendung aufgrund des Interesses des Bewusstseinslebens zum Bewusstseinsphänomen der Affektion wird, bedeutet die hier wirkende Zeitverschiebung nichts anderes als die immanente Zeit, in der die aktive Intentionalität ihren intentionalen Akt vollziehen kann. 2)

Die Voraffektion in der Simultaneität

Aber die Voraffektion als passive Synthesis konstituiert sich ohne Zuwendung der Aktivität des Ichs, also ohne Beteiligung der IchAktivität und daher im Sinne von »passiv« vor. Die Voraffektion ereignet sich in der Simultaneität, wo das Urhyletische des Jetzt und die durch die Retention sedimentierten Leergestalten und Leervorstellungen im Horizont der Vergangenheit, einander wechselseitig weckend, in die vorkonstituierte passive Synthesis gebracht werden. Die Simultaneität der Voraffektion muss von dem durch den Prozess des Aufmerksam-Werdens affektiv Konstituierten unterschieden werden, weil gerade in diesem Prozess die passive Synthesis unbewusst und anschaulich, aber doch durch die wechselseitige Weckung durch die Ähnlichkeit und den Kontrast der hyletischen Empfindungsinhalte entsteht. Dabei ist auch die selektive Aufmerksamkeit bereits am Werk, um ein bestimmtes passiv Vorkonstituiertes aus verschiedenen Vorkonstituierten in Konkurrenz um die Zuwendung des Ichs auszuwählen. Wenn ein bestimmtes Vorkonstituiertes durch diesen Streit in die Anschauung gebracht wird, werden andere Vorkonstituierte in die »Verdrängung als Unterdrückung«, also in 26

B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 16.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

»Hinunterdrückung in die Unanschaulichkeit« (Hua XI, 413) gebracht. In dieser Dimension der Vorkonstitution der Voraffektion entsteht der Prozess des Aufmerksam-Werdens ständig. Die affektiven Kräfte, die sich in dem leeren retentionalen Bereich sedimentieren und gegenseitig fördern oder miteinander streiten, stehen ständig in einem dynamischen Prozess des Werdens. Dieser Prozess des Werdens selbst wird als das Ereignis der Triebintentionalität verstanden, die die urtümliche lebendige Gegenwart stehen und fließen lässt. Also geht es hierbei um die Gradualität der affektiven Kraft, die durch die passive, vorkonstitutive Synthesis zwischen der Urhyle und der Triebintentionalität erwächst. Wenn die affektive Kraft nicht ausreicht, kann die Zuwendung des monadischen Lebens nicht entstehen und das so Vorkonstituierte nicht zur Anschauung bringen. Erst durch die Zuwendung der Ich-Monade, d. h. durch die Zeitverschiebung der aktiven Intentionalität, wird das voraffektiv-unanschaulich Vorkonstituierte zum affektiv- anschaulich Konstituierten. 3)

Der Unterschied zwischen der Leergestalt und der Leervorstellung

Dabei ist auf die Unterscheidung zwischen der Leergestalt und der Leervorstellung im Vergangenheitshorizont zu achten. Das voraffektiv, durch die wechselseitige Weckung der passiven Synthesis zwischen der Urhyle und den Leergestalten der Empfindungsfelder Vorkonstituierte wird ins Urbewusstsein der Empfindung als des Konstituierten gebracht. Aber das durch die wechselseitige Weckung der passiven Synthesis zwischen der Urhyle und den Leervorstellungen von den noetisch-noematischen Korrelationen Vorkonstituierte wird ins Urbewusstsein der bestimmten neotisch-noematischen Korrelation der aktiven Synthesis der Wahrnehmung des Gegenstandes gebracht. Die Zeitverschiebung, die Waldenfels im Auge hat, zielt auf ein Zeitverständnis der Dauer, das für das Antworten die Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität notwendigerweise braucht; sie ist aber keine Zeitdauer, in der die simultane, passiv-assoziative Vorkonstitution der passiven Synthesis unanschaulich-retentional unbewusst oder anschaulich-retentional urbewusst (im Sinne des Urbewusstseins von der Empfindung) dynamisch am Werk ist. Die hier eingeführte Unterscheidung zwischen der bewussten Retention (im Sinne des Urbewusstseins von der Empfindung) und der unbewusst-passiv vorkonstituierten Retention spielt eine sehr 384 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

wichtige Rolle für die korrekte Interpretation der neurowissenschaftlichen Entdeckung des immer um 0,5 Sekunden verspäteten Bewusstseins von B. Libet. 27 Diese 0,5 Sekunden bedeuten, von Husserls Zeitanalyse her gesehen, jene Zeitdauer, die für die Vorkonstitution der passiven Synthesis nötig ist. In der Querintentionalität der unbewussten Retention von 0,5 Sekunden haben alle Ereignisse, die innerhalb von 0,5 Sekunden geschehen sind, ihre Reihenfolge nach der Gradualität des Leer-Werdens der Erfüllung der passiven Synthesis, die aber unanschaulich vorgegeben ist. Wenn die affektive Kraft des Vorkonstituierten ausreicht, wird das innerhalb von 0,5 Sekunden unanschaulich Vorkonstituierte, das eine unbewusste Reihenfolge auf der Querintentionalität der unbewussten Retention hat, ins Bewusstsein ebendieses Vorkonstituierten gebracht. Anders als die Interpretation von Libet, die durch das subjektive Zurückbeziehen auf die erste EP-Reaktion – die wie mit einer »Zeitmaschine« den objektiven Zeitfluss zurückzufahren fordert – Gleichzeitigkeit mit der Realität der Umwelt garantieren möchte, kann die unbewusste Retention die Reihenfolge der Ereignisse innerhalb von 0,5 Sekunden beibehalten und die genaue Entsprechung mit der Umwelt festlegen. Diese Vorkonstitution entsteht in der paradoxen Simultaneität, die von der Zeitverschiebung als durch die aktive Intentionalität für das Antworten generiert dimensional, d. h. im Sinne der passiven und aktiven Synthesis, verschieden ist. Diese Differenz besteht darin, (1) dass die Weckung der Aufmerksamkeit, sei es in der passiven Intentionalität der Empfindung oder in der aktiven Intentionalität der Wahrnehmung, ihre Genesis in der Dimension der Voraffektion der wechselseitigen Simultaneität und nicht im »nunc distans« der Zeitverschiebung hat; (2) dass die Zeitverschiebung für das Antworten nichts anderes als die Zeitdauer ist, in der die Voraffektion der passiven Synthesis vorkonstituiert und zum Urbewusstsein der Affektion gebracht wird; (3) dass Levinas’ Ansatz, die Empfindung in der aktiven Intentionalität mit der Distanz der Zeit zu interpretieren, an der Einsicht der Zeitdauer der paradoxen Simultaneität der wechselseitigen Weckung vorbeigeht und die Empfindung überhaupt nichts anderes als das Urbewusstsein von dem Empfundenen durch die passive Synthesis ist; (4) dass Levinas’ Distanz der Zeit zwar als Zeitverschiebung für das Fungieren der aktiven Intentionalität gilt, aber Levinas das Fungieren der passiven 27

Siehe oben, S. 118 ff.

385 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Synthesis der paradoxen Simultaneität, das bereits bei der Wahrnehmung der aktiven Synthesis vorausgesetzt wird, m. a. W. die Fundierung der Aktivität durch die Passivität, übersieht. 4)

Widerfahrnis und Antworten

Waldenfels versteht in seiner Ethik der Responsivität Freiheit vom Aspekt des Ereignisses her. 28 Die Freiheit bezieht sich nach ihm nicht auf die Alternative zwischen Freiheit und Notwendigkeit, wie in der Philosophie der Moderne. Das Ereignis wird mit der Unterscheidung zwischen dem Ereignis der inneren Ordnung und dem der äußeren Ordnung (d. h. der außerordentlichen Ordnung) angegangen. Letzteres stiftet die Erneuerung der herkömmlichen Ordnung, den Rahmen der bereits vorhandenen Ordnung der Tatsachen sprengend. Dabei wird das Ereignis von Widerfahrnis und Antworten so charakterisiert, dass Widerfahrnis als »Urpassion« vor der Unterscheidung zwischen Passivität und Aktivität angesehen wird und Antworten als die »Unausweichlichkeit« des Anspruchs des Anderen im Widerfahrnis, dem man sich nicht entziehen kann. Auch diese Unausweichlichkeit lässt sich nicht von der Alternative von Freiheit oder Notwendigkeit her verstehen. Widerfahrnis und Antworten fungieren, wie Waldenfels sehr treffend sagt, vor und nach den Unterscheidungen von »Geltung/Sein«, »Freiheit/Tatsache« und »Gut/Böse«. Dieses Ereignis ist auch als das »Zwischenereignis« charakterisierbar. Derjenige, der auf ein Widerfahrnis antwortet, kann erst darauf antworten, wenn er angesprochen wird. In diesem Sinne ist das Antworten immer nur als ein Zwischen bezüglich des Fragens und des Antwortens möglich. Dieser allzu selbstverständliche Charakter des Zwischen wird im Zusammenhang mit der Problematik der Auffassung der Zeit klarer gefasst. Für Kant ist klar, dass die Freiheit des Menschen so wie die Wahrheit der Logik als überzeitlich geltend zu denken ist. In diesem Sinne ist die Freiheit von der Kausalität der Natur ganz »frei«, da sie in dimensionaler Differenz zu dieser angesetzt wird. Aber vom Ereignis auszugehen bedeutet für Husserl, von der Zeitigung auszugehen. Waldenfels versteht dies als das Vorangehen des Widerfahrnisses und als Nachträglichkeit des Antwortens, dessen Geschehen die linear gedachte Zeitachse radikal, in der Diastase, zerbricht. Dabei ist erneut zu fragen, in welchem Verhältnis 28

Vgl. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, IV-3: Responsive Freiheit, S. 106 ff.

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Die paradoxe Simultaneität in der Ethik der genetischen Phänomenologie

Husserls Charakterisierung der Zeitigung als paradoxe Simultaneität der lebendigen Gegenwart und Waldenfels’ Einsicht in die Zeitverschiebung zwischen dem Vorangehen des Widerfahrnisses und der Nachträglichkeit des Antwortens zueinander stehen. 5)

Die Nachträglichkeit des Antwortens

Das Vorangehen des Widerfahrnisses bedeutet, dass das Widerfahrnis als Ereignis bereits vor der bewussten Auffassung des Ereignisses immer schon geschieht. Waldenfels bestimmt dieses Vorangehen als »vor der Erwartung und dem Entwurf« liegend, nicht aber als die Vorkonstitution der passiven Synthesis. Für sein Verständnis des Widerfahrnisses spielt die Gesetzmäßigkeit der Assoziation und der Affektion der passiven Synthesis nicht wirklich eine zentrale Rolle. Die Nachträglichkeit des Antwortens wird an folgender Stelle kurz und bündig ausgedrückt: »Antworten heißt, daß der Antwortende sich selbst vorausgeht, indem er vom Anderen herkommt.« 29 Das heißt nämlich, dass der Antwortende auf das Fremde und die Andersheit des Anderen, die ihm durch das vorhergehende Widerfahrnis gleichsam vorgegeben sind, antwortet. Die Spontaneität der Freiheit, jeweils aus sich selbst immer neu zu entscheiden und Entscheidungen potenziell faktisch durchzuführen, ist eine transzendentale Illusion der Freiheit. 30 Das Vorangehen des Ereignisses als Zwischenleiblichkeit entsteht immer durch das anonyme, leibliche Selbst der Zwischenleiblichkeit. Die Ich-Du-Beziehung Bubers bei Erwachsenen, die durch die in der passiven Intentionalität gründende aktive Intentionalität verwirklicht wird, steht mit dem Antworten bei Waldenfels in einem engen Zusammenhang. Das Auf-das-Widerfahrnis-Antworten kann je nach der Art und Weise des Antwortens sehr verschieden sein. Die Verwirklichung der Selbstlosigkeit in der personalistischen Einstellung, die von der Selbstbezogenheit bzw. Egozentrizität befreit wird, 31 ermöglicht die Befreiung von der allzu eng aufgefassten, letztlich metaphysisch bleibenden Annahme der Andersheit des Anderen im Sinne von Levinas. Wie man an Waldenfels’ überzeugender Kritik an den B. Waldenfels, a. a. O., S. 112. Vgl. ebd. 31 Vgl. dazu I. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, S. 125 f. 29 30

387 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Grundzügen von Levinas’ Ethik sehen konnte, ist für die Wendung von der »negativen Ethik Levinas’« zur »bejahenden Ethik« die Betonung der Zwischenleiblichkeit und der Kreativität des Antwortens in der Ich-Du-Beziehung notwendig. Die Analyse der paradoxen Simultaneität der passiven Synthesis der Zwischenleiblichkeit ist nichts anderes als die Erörterung der phänomenologischen Analyse des Ereignisses in der Zwischenleiblichkeit.

2.

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

In der Fragestellung der Ethik der genetischen Phänomenologie Husserls ist es möglich, die Andersheit des Anderen im Kontext der interkulturellen Philosophie, frei von metaphysischen Voreingenommenheiten verschiedener Philosophien, durch die Analyse konkretanschaulicher Phänomene zu erörtern. In der heutigen Debatte über die Frage nach der Ethik, die auf das Wesen des Anderen und des Ichs zentriert ist, hat Levinas’ Einsicht einen gewichtigen Stellenwert. Aber die allerschärfste Frage, die im letzten Jahrhundert im Kontext des Grundverhältnisses der zwischenmenschlichen Beziehungen gestellt wurde, die nicht nur das Fundament der Objektivität der Wissenschaft, sondern auch das des ethischen Handelns ausmachen, ist die Frage nach der Begründbarkeit der Intersubjektivität Husserls. Levinas’ Ethik lässt sich als seine Antwort auf diese Frage charakterisieren, und sie steht in Kontrast zu der Einsicht Merleau-Pontys vom Aspekt der Zwischenleiblichkeit, der vom Schlüsselbegriff »Paarung« als passive Synthesis bei Husserl herstammt. Ferner hat die anonyme Zwischenleiblichkeit Merleau-Pontys einen sehr interessanten Bezug zur Ethik der von der Egozentrik befreiten, selbstlosen Zuwendung der buddhistischen Philosophie. Zur Klärung dieses Zusammenhangs ist als Diskussionsansatz die Grenzziehung zwischen dem anonymen, non-egologischen Vorethischen und dem auf Akte des Ichs bezogenen, ethischen Bereich in Husserls Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24) geeignet. Dabei wird die Tragweite der intermonadischen Ethik in der genetischen Phänomenologie Husserls durch die Auseinandersetzung mit der neurowissenschaftlichen Diskussion über den »freien Willen« bei B. Libet und mit der »Neurophänomenologie« F. Varelas zu erhellen versucht.

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

§ 1. Der Begriff der passiven Motivation, der weder der Kausalität der Natur noch dem freien Willen des Geistes angehört 1)

Passive Motivation als Assoziation

In seiner Vorlesung »Einleitung in die Ethik« (1920/24) (Hua XXXVII) hat Husserl den Begriff der »passiven Motivation« eingeführt. In Kapitel 6 der Vorlesung, »Die eigentümlichen Entwicklungsgesetzlichkeiten des geistigen Seins. Das Reich der Motivation«, wird das Eigenwesentliche des Geistes als Motivation gegenüber dem Charakteristischen »der ganzen sensualistischen und naturalistischen Psychologie der Neuzeit« (Hua XXXVII, 104), vor allem der Assoziationspsychologie im altruistischen Utilitarismus Hartleys, deutlich aufgezeigt. Zur Natur gehören Naturgesetze, aber zum Geist gehört Motivation. »Das Reich des Geistes aber ist das der Motivation. Motivation aber steht unter Motivationsgesetzen« (Hua XXXVII, 107), die die Gesetzmäßigkeit der Intentionalität bedeuten. Husserl unterscheidet dabei zwischen passiver und aktiver Motivation und gibt ein Beispiel für das Wirken der passiven Motivation: »Ein Beispiel für passive Motivation ist also jede Assoziation. Ich denke etwa jetzt an das Engadin. In jedem solchen Fall kann ich die Frage Warum, warum ich jetzt daran denke, aufwerfen. Die Antwort lautet etwa: Kurz vorher war von einer Person die Rede, mit der ich einmal im Engadin zusammengetroffen bin. Rückschauend finde ich in meinem abgelaufenen Bewusstseinsstrom hier einen Zusammenhang: Die Vorstellung der Person finde ich nicht nur vor, sondern sie hat den Charakter der die Engadin-Vorstellung ›weckenden‹ ; das eine charakterisiert als das, was erinnerte, das andere als das, was dadurch erinnert wurde« (Hua XXXVII, 111). Gibt es in dieser sehr gewöhnlichen »Assoziationskette«, wie man sagen könnte, wirklich etwas, was für die Feststellung des Bereichs der Ethik oder des Vorethischen entscheidend ist? Zwar kann ich sicherlich auf diese Art und Weise Rückschau halten, aber kann ich denn sicher sein, ob eine solche in mir unbewusst entstandene Verkettung von Erinnerungen einzigartig, notwendig, d. h. für die ethische Frage entscheidend ist? Ist das nicht etwas bloß Zufälliges? Ist eine solche Rückschau vergleichbar mit einer Art Traumdeutung im Sinne Freuds? Auf diese Fragen antwortet Husserl in seinen Vorlesungen wie folgt.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

2)

Assoziation ohne Ich-Beteiligung

Husserl nennt eine solche Assoziation deswegen eine »passive Motivation«, weil hier »in reiner Passivität, ohne jede Ichbeteiligung wirkende[ ] Motivationen« (ebd.) am Werk sind. Was heißt aber hier »ohne Ichbeteiligung«? Wer war das, der mit der Person im Engadin zusammengetroffen ist? Das ist natürlich dieses »Ich«. Mein Traum, mein Gefühl, mein Trieb, ja, auch mein Unterbewusstsein, alles gehört zu mir. Wo gibt es einen solchen Bereich »ohne Ichbeteiligung« überhaupt? Husserl definiert die Ich-Beteiligung in dieser Vorlesung streng als die Aktivität des Ichs im Bereich der Vernunft; sie bedeutet, die Frage nach »der Richtigkeit und Unrichtigkeit, der Wahrheit oder Falschheit, der Güte oder Schlechtigkeit u. dgl. zu stellen« (ebd.). Das heißt: »Das Reich der Vernunft sind die vom Ich aus vollzogenen Akte« (Hua XXXVII, 112). Ich bin Träger der freien, selbstbewussten Entscheidung und Verantwortung im Bereich der praktischen Vernunft, die mit dem wahrhaften Erkennen der konkreten Situation durch die theoretische Vernunft eng verflochten ist. Aber wie verhält es sich dann mit der passiven Motivation ohne Ich-Beteiligung? Hat es überhaupt einen Sinn, im Bereich der Ethik von einem solchen Bereich außerhalb der praktischen Vernunft der Ich-Aktivität zu sprechen? Husserl beschreibt diesen Bereich zwar als die »ichlosen Gefühle und Triebe und die ihnen zugehörigen Motivationen«, aber nicht als »unvernünftig« oder »irrational« im Gegensatz zur Vernunft oder Ratio, sondern als »weder vernünftig noch unvernünftig« (vgl. Hua XXXVII, 111 f.). Diese Unterscheidung zwischen Unvernünftig- oder Irrational-Sein und dem Weder-vernünftig-noch-unvernünftig-Sein ist wichtig, ja entscheidend, weil die ichlosen Gefühle und Triebe, die als Triebintentionalität bezeichnet werden, nicht im Rahmen eines dualistischen Gegensatzes zwischen Sinnlichkeit und Verstand wie bei Kant aufgefasst werden können. Die Triebintentionalität gehört weder zur Natur noch zum Geist. Die passive, assoziative Motivation der Triebintentionalität gehört weder zur Naturkausalität noch zum freien Willen des Geistes. Husserl charakterisiert diesen Bereich sogar sehr positiv, weil er darin die Potenzialität der Vernunft impliziert sieht. All diese Akte der Vernunft können von diesem seelischen Untergrund der reinen Passivität »ihre Nahrung ziehen« (Hua XXXVII, 111) oder: »Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft und hat als solcher

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

Empfänglichkeit für den intellectus agens und das Subjekt der aktiven Vernunft in seinem Vernunftwalten« (Hua XXXVII, 332).

§ 2. Passive Motivation als Mutterboden der Vernunft An dieser Stelle muss allerdings gefragt werden, auf welche Weise die Nahrung aus der passiven, ichlosen Motivation für die Vernunft der Ich-Aktivität gezogen wird und wie die Potenzialität zur Aktualität der Vernunft werden kann. Diese Frage ist erst dann gründlich bearbeitet, wenn gegensätzliche Standpunkte wie diejenigen Humes oder Kants, die den Bereich der Passivität als bloß »naturalistischmechanisch« oder »außervernünftig« charakterisieren, dem Standpunkt Husserls gegenübergestellt und geklärt werden. Zunächst ist der Unterschied in den Auffassungen der Assoziation bei Hume und Husserl eingehend zu analysieren, damit die Frage nach der Art und Weise des Bezugs der Nahrung erhellt werden kann. 1)

Husserls Kritik an der Assoziation bei Hume

Hume sieht, Husserl zufolge, die hier genannte Assoziation als passive Motivation völlig anders als Husserl selbst. Husserl versteht die Assoziation als passive Motivation der passiven Intentionalität, die keine Beteiligung der Ich-Aktivität hat. Für Hume folgen Assoziationen bekanntermaßen, entsprechend seinem psychologischen Naturalismus, Naturgesetzen ähnlich dem Gravitationsgesetz. 32 Husserl charakterisiert den Standpunkt der Philosophie Humes als »einen rein immanenten Empfindungsmonismus; die objektive Welt ist bloß Phänomen im Bewusstsein, und das Bewusstsein selbst ist nur ein Zusammen von Empfindungsdaten und Gefühlsdaten, beherrscht von Gesetzen der Assoziation und Gewohnheit« (Hua XXXVII, 172). In diesem Empfindungsmonismus verwandelte sich »der Geist in einen Haufen psychischer Atome, zu einem Analogon des Körpers, den die neue Naturwissenschaft als einen Haufen von

Vgl. Hua XXXVII, 112, 333, u. a. In seiner Vorlesung »Natur und Geist« (1927) sagt Husserl: »Nicht als ob ich, auch darin Hume folgend, einem ›Mechanismus‹ blinder Assoziationen das Wort reden wollte. Ein toter Mechanismus kann nicht lebendiges Leben und Sinnesleistungen lebendigen Lebens verständlich machen« (Hua XXXII, 146).

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physischen Atomen sich zurechtgedacht hatte« (Hua XXXVII, 178). Dann muss das konsequenterweise so gedacht werden: »Aus in sich völlig seelenlosen Elementen soll eine Seele, soll ein Ich, das denkt, erkennt, wertet, sich Ziele setzt, gebaut werden, und zwar nach einer abermals geistlosen Gesetzlichkeit, nach Assoziationsgesetzen, die in genauer Analogie mit Naturgesetzen als unverständliche Regelungen im Dasein fungieren. Das ist purer Widersinn« (ebd.). Husserls Kritik am Naturalismus Humes ist hier sehr eindeutig und unmissverständlich dargestellt. a) Andererseits betont Husserl Humes Leistung, die Gesetzmäßigkeit der Assoziation im immanenten Bewusstsein zu thematisieren. In der Gesetzmäßigkeit der Assoziation und Gewohnheit wird der folgende Sachverhalt zunächst allgemein so dargestellt: »Im Laufe der Erfahrung, d. h. der immer neuen Verflechtung von Perzeptionen mit anderen Perzeptionen durch Assoziation, bilden sich auch assoziative Verflechtungen von vorgestellten Gegenständen mit den gewohnheitsmäßig mit ihnen zusammen auftretenden Gefühlen, und so gewinnen Gefühle ihnen zugehörige Gegenstände, beziehen sich auf sie« (Hua XXXVII, 180). Aber die hier wirkende Assoziation ist »nicht wirklich eine Art Attraktion oder Kohäsion« im naturalistischen Sinne, sondern »eine andere Form der Motivation, innerhalb der eine elementare Intentionalität schon waltet« (ebd.). Die Assoziation gehört zur Intentionalität, die das Wesentliche des Bewusstseins ist. Sie ist auch einer der Kernbegriffe der genetischen Phänomenologie, weil eine neue Intentionalität aus schon vorhandenem Bewusstsein eben durch eine andere Assoziation gebildet wird. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden ausgedrückt: »Die Wirksamkeit der Assoziation in der Bildung immer neuer Intentionalitäten, immer neuen Bewusstseins aus schon vorhandenem Bewusstsein soll sicher nicht geleugnet werden. Aber ich betone: aus schon vorhandenem Bewusstsein« (ebd.). Durch die Assoziation kann eine neue Intentionalität aus den schon vorhandenen Intentionalitäten gebildet werden. Dieses Werden einer neuen Intentionalität wird im Zusammenhang mit dem assoziativen Hinweisen der einen Intentionalität auf eine andere dargestellt. Wichtig dabei ist, dass der Prozess der Bildung dieser neuen Intentionalität selbst, wie beim obigen Beispiel der Erinnerung an das Engadin, unbewusst, d. h. ohne Mitwirkung der Ich-Aktivität, also passiv bleibt. Aber dieser Prozess der Assoziation ist natürlich nicht

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als mechanisch, als Naturgesetz aufzufassen, sondern als die passive Synthesis der passiven Intentionalität zu verstehen. b) Mit dem Unterschied, die Assoziation als einen mechanischen Zusammenhang der Naturkausalität, nämlich als die Bildung der Gewohnheit durch die Häufigkeit der zwei verschiedenen Empfindungsdaten, zu betrachten oder als die passive Synthesis der wechselseitigen Weckung zwischen den zwei verschiedenen passiven Intentionalitäten, lässt sich auf die oben gestellte Frage, was der Bezug der Nahrung aus der passiven Motivation für die praktische Vernunft der Ich-Aktivität bedeutet, eine überzeugende Antwort geben. Das von einem Naturgesetz beherrschte Naturphänomen kann zwar objektiv betrachtet, beherrscht oder gebraucht werden, aber es bleibt immer ein Naturphänomen. Aus dem Naturphänomen selbst kann das Geistphänomen der Ich-Aktivität des Ichs, »das denkt, erkennt, wertet, sich Ziele setzt«, wie Husserl oben scharf kritisiert, nicht entstehen. Der Mensch kann als leibliche Existenz Nahrung aus Essen ziehen. Wenn die praktische Vernunft aus der passiven Motivation der Assoziation Nahrung ziehen kann, ist das nur dadurch möglich, dass die der Ich-Aktivität der Vernunft vorausgehende Passivität der assoziativen, ichlosen Motivation für die praktische Vernunft der Ich-Aktivität eine Nahrungsquelle darstellt. Das Beziehen der Nahrung entsteht im Bereich der passiven und aktiven Motivation und Intentionalität. Husserl sagt: »[A]lle Aktivität setzt eine Passivität voraus. Ähnlich wie die Erkenntnisaktivität eine Erkenntnispassivität ursprünglich voraussetzt, so auch eine wertende Aktivität eine entsprechende Passivität« (Hua XXXVII, 294). Also ist die Passivität die Nahrung für die Aktivität der praktischen Vernunft. Anders gesagt bedeutet das, dass keine Aktivität ohne Nahrung fungieren und wirken kann. c) Nach Hume ist das Verhältnis zwischen erkennender Vernunft und bewertendem Gefühl auf folgende Weise zu denken: »Hume merkt, dass die erkennende Vernunft, als naturerkennende und als rein mathematische, Felder hat, die von allen Bewertungen des Gefühls oder, wie er sagt, des Geschmacks frei bleiben. Andererseits sieht er, dass das Gefühl nicht etwas bloß Danebenliegendes ist, sondern dass wir fühlend die erfahrenen Dinge bewerten, die im Denken gedachten umweltlichen Vorkommnisse bewerten« (Hua XXXVII, 179). Aber wie oben gesagt hat Hume das Gefühl nicht als Intentionalität aufgefasst, sondern geglaubt, es als Naturphänomen durch Assoziation und Gewohnheit naturalistisch erklären zu können. 393 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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In Bezug auf den Begriff »Bewerten« in der praktischen Vernunft bei Husserl ist zu erwähnen, dass eine »doppelschichtige« Intentionalität des Bewertens, nämlich die zusammenwirkende erkennende und bewertende Intentionalität, behauptet wird. Husserl sagt, »dass das fühlende Ich den vorgestellten, den erkenntnismäßig so und so aufgefassten Gegenstand nicht neben dem Gefühl und dass es das Gefühl nicht neben dem Gegenstand hat, sondern ihn nur hat als Gegenstand, der an sich selbst den Charakter des ihm zugeführten Wertes besitzt« (Hua XXXVII, 180 f.). Diese doppelschichtige Intentionalität des Bewertens wird auch als »Parallelität« der erkennenden und wertenden Akte bezeichnet, »die eine Parallele der erkennenden und wertenden Vernunft mit sich führt« (Hua XXXVII, 181). Wenn dazu noch die Einsicht des Fundierungsverhältnisses zwischen Passivität und Aktivität als in diese Parallelität einbezogen gedacht wird, wird klar, dass die Parallele der erkennenden und der wertenden Intentionalität im Lichte der passiven und aktiven Genesis auf eine Weise aufgefasst wird, dass die Parallele der erkennenden und wertenden, passiven Intentionalität jener der aktiven Intentionalität vorangeht. d) Ohne Auffassung der erkennenden und wertenden Aktivität mit einem Verständnis der Intentionalität kann Hume nicht sehen, »dass die Erkenntniswahrheit einer axiologischen und praktischen Aussage fundiert ist in einer eigentümlichen axiologischen Wahrheit und praktischen Wahrheit, die ihre Heimatstätte nicht in der Erkenntnis-, sondern in der Gefühlsdomäne und Willensdomäne hat« (Hua XXXVII, 182). Die Begründung der Fundierung der Erkenntniswahrheit in der Gefühls- und Willensdomäne ist z. B. in der Motivationskraft der Voraffektion in der lebendigen Gegenwart, die die Zuwendung des erkennenden und wertenden Ichs bestimmt, in der Vorlesung »Analysen zur passiven Synthesis« zu finden: »Die Motive müssen in der lebendigen Gegenwart liegen, wobei aber vielleicht die wirksamsten Motive […] ›Interesse‹ im weiten, gewöhnlichen Sinn, ursprüngliche oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe usw. [sind]« (Hua XI, 178). Hier ist klar, dass die passive Synthesis der passiven Intentionalität schon in der Gefühlsdomäne und auf der Ebene des Triebs für die Fundierung der erkennenden Aktivität eine entscheidende Rolle spielt.

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2)

Kritik an der Ästhetisierung der Ethik bei Hume

In diesem Zusammenhang des Zusammenwirkens der erkennenden und der axiologischen Vernunft wird die Bedeutung der husserlschen Kritik an der Ästhetisierung des Ethischen bei Hume deutlicher. Die Ästhetisierung des Ethischen bei Hume liegt darin, dass das Ethische »ein Gebiet des im weitesten Sinne Schönen ist« (Hua XXXVII, 188). »Das Ethische […] wird charakterisiert durch das interesselose Wohlgefallen (und im gegenteiligen Fall eines Missfallens), das Personen, ihre Charaktere, Gesinnungen, Handlungen erregen, wenn sie eben in der Einstellung des uninteressierten Beschauers und Beurteilers betrachtet werden, wenn dieser also all sein persönliches Interesse außer Spiel setzt« (ebd.). Dabei spielt der Begriff der »Imagination« eine entscheidende Rolle. »Es ist nun aber klar, dass alle durch reine Imagination fundierten aktuellen Gefühle ästhetische Gefühle sind« (Hua XXXVII, 189)Aber gerade diesen Punkt trifft Husserls Kritik: »So beschreibt aber Hume die ethische Beurteilung und er verwechselt damit ethisch und ästhetisch. Er bemerkt nicht, dass alle ethische Beurteilung an der Wirklichkeit notwendig interessiert ist und dass der Rekurs auf die Imagination hier eine ganz andere Bedeutung hat. Praktische Gestalten moralisch beurteilen, das heißt, sich auf den Boden der praktischen Wirklichkeit versetzen, diese Wirklichkeit hinnehmen, als ob sie Wirklichkeit wäre« (ebd., Hervorhebung vom Verfasser). Die hier genannte »praktische Wirklichkeit« z. B. der Handlung des Anderen kann für Husserl zwar nur indirekt im Modus des »als ob« intentional erlebt werden. Dabei werden das bestimmte Interesse des Anderen und der Wille des Anderen durch die passive Synthesis der paarenden Assoziation und die aktive Einfühlung intentional erlebt. Nach Husserl widerspricht aber das uninteressierte Beschauen und Beurteilen der Handlung des Anderen dem ethischen Beurteilen, das auf der Basis der passiv erkennenden und wertenden Synthesis der Assoziation und durch die aktive Einfühlung der personalistischen Einstellung vollzogen wird. Die uninteressierte ethische Beurteilung ist nach Husserl prinzipiell nicht möglich. Hierbei sehr deutlich ist die Gemeinsamkeit der Einstellung des uninteressierten ästhetischen Gefühls und der Methode der interesselosen objektiven Beobachtung der Naturwissenschaft, die Assoziation und Gewohnheit des Gefühls naturalistisch, mechanisch anzusehen. Also ist klar, dass in der Ethik Humes nur der Aspekt der dritten Person in den 395 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Vordergrund gestellt wird und der Aspekt der ersten und zweiten Person, ohne den die Frage der Begründung der Intersubjektivität selbst überhaupt nicht thematisierbar ist, unthematisiert bleiben muss.

§ 3. Husserls Kritik an der Moralphilosophie Kants Die Frage nach dem »Ziehen der Nahrung aus der passiven Motivation« wird nun in Bezug auf Husserls Kritik an der Moralphilosophie Kants betrachtet. Diese Kritik wird im folgenden Zitat in zwei Punkten gut zusammengefasst: »Es ist hier zweierlei zu beachten: 1) das Verkennen der Wesensnotwendigkeiten, die in der Sinnlichkeit durchaus walten, in allen möglichen Seinssphären überhaupt und die Vermengung von empirischer Faktizität und Sinnlichkeit; 2) das Verkennen des Unterschiedes von passiven und aktiven Gefühlserlebnissen und in eins damit das Verkennen aller den Gefühlsakten, wie allen Akten, eigenwesentlich zugehörigen normativen Unterschiede« (Hua XXXVII, 220). 1)

Apriorische Gesetze der Sinnlichkeit

Die hier genannten Wesensnotwendigkeiten, »apriorische Gesetze« (ebd.) in der Sinnlichkeit, sind nichts anderes als die passive Synthesis der Assoziation und Affektion, die Husserl als phänomenologische Untersuchung bei der »Einbildungskraft« ansetzt, die Kant ein völliges Rätsel geblieben ist. Dieses Rätsel wird auch so ausgedrückt: »In geheimvoller, wiederum einer rationalen Aufklärung unzugänglichen Weise sollen diese Kategorien, rein faktisch, Formungen der Sinnlichkeit vollziehen, die sich an unveränderliche Gesetze binden, an die so genannten synthetischen Urteile a priori« (Hua XXXVII, 221). Die Formung der Sinnlichkeit durch die Kategorien gilt bei Kant auch dem Bereich der praktischen Vernunft in der Form des kategorischen Imperativs. Der bei Kant vorausgesetzte Gegensatz zwischen dem formlosen, chaotischen Empfindungsinhalt und dem formalen Apriori des Verstandes wird sehr deutlich in Kontrast mit der passiven Synthesis der Assoziation gezeigt, weil der Gegensatz zwischen Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, Konstituieren und Konstituiertem im Bereich der unbewussten Vorkonstitution der passiv-assoziativen Synthesis, genetisch gesehen, noch nicht entstanden ist. 396 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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a) Bei einem nicht formalen, materialen praktischen Prinzip ist nach Kant »der Bestimmungsgrund des Willens das Begehren nach einem Objekt, also die Lust an der Vorstellung von der Existenz der Sache, die Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Sache erwartet« (Hua XXXVII, 204). Die Frage ist hierbei, ob es überhaupt möglich ist, dass der bestimmte Wille ohne Beteiligung der wertenden Aktivität mit einer bestimmten Vorstellung irgendetwas bestimmen kann. Husserl sagt dazu: »Ich frage nun, ist es denkbar, dass ein Wollen frei sei von allem Werten, also allem Fühlen? Wäre ein solches Wollen nicht so widersinnig wie ein Ton ohne jede Tonintensität oder eine Farbe ohne jede Ausbreitung oder eine Vorstellung ohne jedes Vorgestellte? A priori in unbedingter Wesensallgemeinheit muss also jedes Willenssubjekt ein wertendes, ein fühlendes Subjekt sein« (Hua XXXVII, 214). In diesem Sinne ist Husserls Kritik am Formalismus Kants sowohl in der erkennenden als auch in der praktischen Vernunft gründlich transzendentalphänomenologisch argumentiert. Wie oben ausführlich dargestellt, hat Husserl den Begriff der Retention in der Analyse des immanenten Zeitbewusstseins erhellt, das mit dem Schema »Auffassungsakt und Auffassungsinhalt«, das der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt in gewissem Sinne entspricht, nicht verstanden werden kann. Eine retentional konstituierte Kontinuität einer Tonempfindung ist natürlich ohne jede ebenso retentional konstituierte inhaltliche Tonintensität undenkbar. b) Im Bereich der wertenden Aktivität der praktischen Vernunft ist die assoziative, unbewusste Motivation vorausgesetzt, die durch die unbewusste Retention der wechselseitigen assoziativen Weckung zwischen den hyletischen Momenten und Leergestalten vorkonstituiert wird. Ferner wird in der genetischen Untersuchung der Phänomenologie dargestellt, auf welche Weise diese Leergestalten der Empfindungsfelder selbst intersubjektiv bzw. intermonadisch gebildet werden. Apriorische Gesetze von Zeit, Assoziation und Urstiftung in der genetischen Phänomenologie können im Rahmen des Schemas »Form und Inhalt« prinzipiell nicht untersucht werden. c) Husserl selbst erklärt den zweiten Punkt als »das Verkennen des Unterschiedes der passiven sinnlichen Gefühle und der Gefühlsakte als wertender Akte und in Zusammenhang damit das Verkennen der eigenwesentlichen Zugehörigkeit normativer Unterschiede zu diesen Akten, wie zu Akten aller Grundgattungen« (Hua XXXVII, 222). Unter dem passiven Gefühl versteht Husserl »ihre affektiven 397 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Aufdringlichkeiten, […] als wenn mehrere sinnliche Daten, Farben, Töne miteinander konkurrieren und eins die stärkste Vordringlichkeit hat, die stärkste Kraft der Affektion, die sich eventuell die Zuwendung erzwingt« (Hua XXXVII, 232). Aber das passiv affizierte Ich und das von sich aus frei Stellung nehmende und sich entscheidende Ich sind verschieden. Gerade weil Kant alle Gefühle, mit der Ausnahme der »Achtung«, im Grunde genommen sensualistisch auffasst, fehlt ihm nicht nur die Einsicht in die Gesetze der Assoziation und Affektion des passiven Gefühls, sondern auch die Einsicht in die wertende Aktivität des höheren, aktiven Gefühls. Dazu sagt Husserl: »Da auch er [Kant] das Gefühl sensualisierte, da er in jeder Motivation durch das Gefühl eine Naturkausalität sah, die den Menschen mechanisch stoße, während doch der moralische Mensch selbstverantwortlich handle, so wurde er zur Lehre gedrängt, dass in einem moralischen Willen kein Gefühlsmotiv bestimmend sein könnte« (Hua XXXVII, 233). Daher konnte Kant im fühlenden Werten die Motivationsunterlagen nicht sehen. Er suchte sattdessen die echten moralischen Motive in einer reinen Vernunft, in ihrer reinen Form. Husserls Kritik am Formalismus der theoretischen und praktischen Vernunft wird hier in diesem Zusammenhang klar dargestellt: »Die Forderung, von dem Sachgehalt abzusehen, ist in der Willenssphäre genauso widersinnig wie in der Denksphäre« (Hua XXXVII, 235). 2)

Der grundverkehrte Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft

Husserls Kritik am Denkschema »Form und Inhalt« steht in engem Zusammenhang mit seiner Kritik an der kantischen Kontrastierung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Husserl sagt: »Aber dieser ganze Kontrast zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, wobei auf Seiten der Sinnlichkeit die Empfindungssinnlichkeit, die Gefühls- und Triebsinnlichkeit steht, auf Seiten der Vernunft die unsinnlichen und Sinnlichkeit allererst formenden Kategorien, ist grundverkehrt und ebenso grundverkehrt die Deckung, die für Kant dieser Gegensatz hat, mit dem ganz anderen zwischen irrationaler Faktizität und rationaler Apriorität, dokumentiert in Gesetzlichkeiten von unbedingter Gültigkeit« (Hua XXXVII, 220). Der Grund für diesen »grundverkehrten« Gegensatz liegt nach Husserl in einer zu starken Reaktion Kants auf den Hedonismus, des398 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

sen Wesen er nicht sehen konnte. Das Wesen des Hedonismus wird erst klar, wenn die Erfüllung der Lust in der Korrelation der Intentionalität verstanden wird. Aber Kant konnte genauso wie Hume das Wesen der wertenden Aktivität nicht in der Korrelation der Intentionalität, in der Korrelation zwischen dem noetischen Akt des Wertens und dem noematischen Wert selbst sehen. In dieser Vorlesung hat Husserl den Begriff »Wertnehmen« eingeführt. Er sagt: »Das Werten in allen Formen und so auch das Wertnehmen (so nennen wir also das Analogon des Wahrnehmens) ist Akt des fühlenden Subjekts. Der Wert aber eignet dem Objekt« (Hua XXXVII, 72). Durch diese Unterscheidung zwischen dem Werten und dem Wert wird das Wesen des Hedonismus klar, insofern der Hedonismus diesen Unterschied völlig übersieht. Also liegt das Wesen des Hedonismus darin, »dass der Hedonismus rechtmäßig zwar sagen darf, das Streben endet in der erfüllenden Befriedigung und endet hierbei bei letzter Erfüllung mit einem wertendenden Fühlen oder, wie er sagt, einer Lust, aber nicht auf die Lust ist es als Strebensziel gerichtet, sondern auf das Korrelat der Lust, nicht auf wertgenießendes Erleben, sondern auf den Wert selbst« (Hua XXXVII, 74 f.). Kant und dem Hedonismus fehlt die Unterscheidung zwischen dem empirischen Psychologismus und der phänomenologischen Wesensanalyse der intentionalen Korrelation von wertnehmendem Akt und Wert als Inhalt. Also kann der Hedonismus genießendes Erleben, das woran auch immer Lust empfindet, von dem Wert selbst, der das Strebensziel ist, nicht unterscheiden. Durch die Abwendung von einem solchem Hedonismus, der den wertenden Akt und den gewerteten Inhalt nivelliert, lehnt Kant Lust und Gefühl als empirisch-psychologischen Inhalt strikt ab und »gerät […] in jenen leeren Formalismus, der ihn für die Mannigfaltigkeit großer und tiefer Probleme blind macht, die eine wirkliche Ethik abzusondern und zu lösen hat« (Hua XXXVII, 243). 3)

Bestimmung des Forschungsbereichs des »Vorethischen«

Durch die obige Betrachtung ist klar geworden, dass im Rahmen der Ethik Kants die Einsicht in das Beziehen der Nahrung aus dem Mutterboden der passiven Motivation nicht verstanden werden kann. Die Gründe dafür können in den folgenden Punkten zusammengefasst werden: Der erste Grund liegt in seinem Verkennen des Wesens des Be399 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

wusstseins als Intentionalität, die in die passive und aktive Intentionalität eingeteilt werden kann. Die passive Motivation ist als passive assoziative Intentionalität aufzufassen. Die passive Motivation des passiven, sinnlichen Gefühls als der passiven Intentionalität geht der aktiven Motivation des aktiven Gefühls, wie z. B. des aktiven Mitleidens in der aktiven Einfühlung, voraus. Das Verständnis des Fundierungsverhältnisses zwischen der passiven Vorkonstitution und der aktiven Konstitution kann das Ziehen der Nahrung als notwendige Voraussetzung der Ersteren für die Letztere phänomenologisch begründen. Aber wenn Kant »in jeder Motivation durch das Gefühl eine Naturkausalität« (Hua XXXVII, 233) sieht und »das psychophysische Kausalverhältnis […] mit dem Verhältnis der Motivation, das ganz in die Innerlichkeit des Geistes hineinfällt« (Hua XXXVII, 338), verwechselt, gibt es für ihn keine Möglichkeit, sich dem Bereich der passiven Motivation und ihres transzendentalen Vermögens zu nähern. Als zweiter Grund ist der Formalismus bzw. das Denkschema des strengen Gegensatzes zwischen Form und Inhalt bei Kant zu nennen. Wenn die Bezeichnung der »Genealogie der Ethik«, die als der Genealogie der Logik in »Erfahrung und Urteil« analog gesehen werden kann, der Forschung der genetischen Phänomenologie der Ethik gerecht werden soll, ist dies so zu charakterisieren, dass sie vor der Spaltung zwischen Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, also im weitesten Sinne vor der Korrelation zwischen Noesis und Noema phänomenologisch untersucht werden muss. Wie oben dargestellt, kann die passive Genesis der Bildung der einzelnen Empfindungsfelder – die als die Bildung der Leergestalten der einzelnen Sinnesqualitäten bezeichnet werden können – allein in der intermonadischen emotionalen Kommunikation der frühen Kindheit, wo die Korrelation der aktiven Intentionalität (Noesis und Noema) mit der IchAktivität noch nicht gebildet ist, phänomenologisch in die transzendentale Reflexion gebracht werden. Husserls Kritik am Formalismus Kants bleibt nicht bloß eine Kritik, sondern hat gezeigt, dass der Gegensatz von Form und Inhalt, Geist und Natur selbst seine vordualistische passive Genesis hat. Also hat die passive Motivation selbst ihre Genesis, die natürlich weder der Naturkausalität noch der selbstbewussten Freiheit des Geistes angehört. Somit ist der Forschungsbereich der vorethischen intermonadischen Kommunikation fixiert.

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

§ 4. Die Frage der Intersubjektivität und der Ethik in der genetischen Phänomenologie Husserls Wie durch die bisherigen Darstellungen klar wurde, wird der Begriff der »Paarung« als passiver Synthesis in der phänomenologischen Monadologie für die Begründung der passiven Einfühlung angewendet. Das ist dadurch möglich, dass die Vertiefung der Analyse der Intentionalität durch die Eröffnung des Bereichs der passiven Intentionalität den engen Rahmen der Egologie mit seiner aktiven Intentionalität gesprengt und den Bereich der phänomenologischen Monadologie mit der passiven und aktiven Intentionalität geöffnet hat. 33 Im Bereich der Ethik in der monadologischen Phänomenologie ist daher prinzipiell festzustellen, dass die passive Einfühlung der passiven Intentionalität der aktiven Einfühlung der aktiven Intentionalität vorangeht. Also sind passive und aktive Einfühlung Kernbegriffe der Intersubjektivität Husserls, auf deren Kommunikationsleistung die Ethik basiert. Aber passive Einfühlung in Gemütssphären oder aktive Einfühlung, z. B. echtes Mitleiden, Mitfreuen oder Liebe, spielen in Kants Moralphilosophie keine Rolle, weil das gleichursprüngliche Subjekt bei Kant nur als Postulat vorkommt und dessen Begründbarkeit überhaupt nicht infrage gestellt oder thematisiert wird. Die Frage des transzendentalen Solipsismus des isolierten Egos wird bei ihm nicht gestellt, und somit bleibt Kant im Solipsismus, in dem die Stimme des eigenen Gewissens das Subjekt mit der noumenalen Welt der praktischen Vernunft verbindet. Es ist auch klar, dass die empiristische, auf Beobachtung beruhende Moral Humes und sein ästhetischer Standpunkt nur eine Ethik aus der Perspektive der dritten Person, die nichts anderes als das Ich-Es-Verhältnis bei Buber ist, ergeben können. Wenn aber die Quelle der Ethik in der Ich-Du-Beziehung, die als das »eingeborene« Du in der frühen Kindheit und als die Realisierung des eingeborenen Du bei Erwachsenen ausgedrückt wird, liegen soll, verliert die Ethik Humes ihre eigene Basis. Natürlich hat die Frage nach der echten Andersheit des Anderen in dieser Ethik keine Bedeutung. Wie oben kurz erwähnt, stehen die Thematisierung und Begründung der Intersubjektivität und die Frage der Ethik, die in diesem Diese passive Einfühlung ist nur im Bereich der monadologischen Phänomenologie thematisierbar, weil »triebmäßige passive Einfühlungen, wo das Ich nicht dabei ist« (Hua XXXVII, 355), nur vor-ichlich, intermonadisch fungieren können.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Kontext als die Auffassung der Andersheit des Anderen thematisiert wird, in einem sehr engen Zusammenhang, der erneut geklärt werden muss. 1)

Erneute Kritik am Formalismus bei Levinas

In seiner Untersuchung der Intersubjektivität weist Husserl die passive Einfühlung als »Paarung« der passiven Synthesis aus und die aktive Einfühlung z. B. als Ich-Du-Beziehung (Deckung) in der personalistischen Einstellung. 34 Levinas hingegen weist beide Begriffe, sowohl Paarung als auch Ich-Du-Beziehung, zurück. Die Andersheit des Anderen, die für Buber und Husserl in der Ich-Du-Beziehung unmittelbar erlebt werden kann, gilt ihm als unzugänglich. Die Gründe dafür bestehen einerseits darin, dass er die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Intentionalität übersehen hat. Dadurch hat er in dieser aktiven Synthesis den Anderen als einen gegenständlichen Sinn des Noemas, also in Bubers Sinn als das Es des Ich-EsVerhältnisses, nämlich der psychologischen, physikalischen, wenn man so will neurowissenschaftlichen Eigenschaften einer Person notwendigerweise vergegenständlicht angesehen. Der andere Grund liegt darin, dass Levinas die Ich-Du-Beziehung rein formal – dieser Formalismus nähert sich Kants Auffassung der Moralphilosophie an –, ohne Bezugnahme auf die verschiedenen individuellen Eigenschaften einer Person, auffassen will. a) Dieses eindeutige Missverständnis der passiven und aktiven Intentionalität zunächst beiseitelassend, bedeutet die Ich-Du-Beziehung bei Buber und Husserl keine Negation oder Ausschließung der individuellen konkreten Eigenschaften einzelner Personen im Ich-EsVerhältnis, m. a. W. der gegenständlichen aktiven Auffassung der aktiven Intentionalität, sondern vielmehr eine Integration einer solchen Vergegenständlichung in die Ich-Du-Beziehung selbst. Wie Buber sagt, sind alle »es-haften« Eigenschaften des Anderen im Licht des Du lebendig im Hintergrund. In der personalistischen Einstellung Husserls ist die von der passiven Synthesis fundierte aktive Synthesis bereits am Werk und tritt durch ihre höchste Aktivität der reinen Subjektivität und gleichzeitig ohne Bezugnahme auf eigene Interes-

Zur Paarung siehe E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Kap. 5, § 51 und zur Ich-Du-Beziehung vgl. oben, Anm. 2.

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sen des Ichs, selbstvergessen oder selbstlos, m. a. W. durch die Befreiung von der Ich-Zentrierung in die Welt der Ich-Du-Beziehung ein. b) Der Formalismus Levinas’ hängt eng mit seiner Auffassung des Begriffs der Sinnesempfindung zusammen. Levinas akzeptiert die passiv-assoziative Identifizierung der Empfindung nicht und sieht eine zeitliche Verschiebung (Diachronie), in der das Empfinden als aktive Intentionalität des Bewusstseinsakts die Empfindung als Inhalt des gegenständlichen Bewusstseinsinhalts bilden, konstituieren soll. Diese durch das Empfinden konstituierte Empfindung entsteht nach Levinas dadurch, dass der ursprünglich unmittelbar gegebene Inhalt der Impression durch das Empfinden, d. h. durch die aktive Intentionalität des bewussten Aufbewahrens des vorübergehenden Inhalts der Impression im Jetzt, 35 als Empfindungsinhalt vergegenständlicht aufgefasst wird. Dieses Denkschema gilt auch für seine Auffassung der Andersheit des Anderen. Der ursprüngliche Inhalt der Impression, der der Andersheit des Anderen entspricht, wird durch die aktive Intentionalität der Retention als intentional aufgefasster, vergegenständlichter Inhalt, der dem Gesicht als »Spur« des Anderen entspricht, verstanden. So ist uns die Andersheit des Anderen im Zeitstrom unseres Erlebens niemals unmittelbar gegeben. Der vergegenständlichte Bewusstseinsinhalt des Anderen ist niemals der ursprünglich angenommene Inhalt der Andersheit des Anderen. Eine Ich-Du-Beziehung mit ihren individuellen Eigenschaften ist für Levinas nicht möglich, weil die Auffassung des Inhalts des Anderen nur als sekundär vergegenständlichter Inhalt verstanden werden kann. c) Aber für Husserl gibt es keinen Unterschied zwischen dem Empfinden und der Empfindung, wie bei der aktiven Intentionalität zwischen dem Sehen und dem gesehenen Gegenstand. »Empfindung ist hier nichts anderes als das innere Bewußtsein des Empfindungsinhaltes« (Hua X, 127). Auf der Ebene der passiven Intersubjektivität der Paarung ohne Beteiligung der Ich-Aktivität, d. h. ohne Unterscheidung zwischen dem Bewusstseinsakt und dem Bewusstseinsinhalt, wird die Empfindung als die intermonadische Mitempfindung, wie oben gezeigt, 36 unmittelbar anonym erlebt. Auch auf der Ebene der aktiven Intentionalität wird die Andersheit des Anderen durch die Levinas nennt sie auch »Retention«, die eigentlich eine passive Intentionalität ist, aber als aktive Intentionalität missverstanden wird. 36 Vgl. oben, S. 278. 35

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

vollständige Zuwendung zum Du in der Ich-Du-Beziehung, frei von der gegenständlichen Auffassung des Anderen, unmittelbar intermonadisch bzw. interpersonal erlebt, indem alle individuellen, gegenständlichen Eigenschaften durch die bei der Zuwendung verwirklichte Selbstlosigkeit im Lichte des Du in den Hintergrund rücken. 37 2)

Freiheit als aktive Intentionalität gegenüber Libets Auffassung des Bewusstseins

Bevor ich näher auf den Zusammenhang zwischen Intersubjektivität und Ethik eingehe, möchte ich das oben erwähnte Problem der Entdeckung Libets erneut behandeln, damit der Stellenwert des freien Willens in der intermonadischen Kommunikation der genetischen Ethik Husserls überzeugend dargestellt werden kann. Bei der Diskussion um den freien Willen des Menschen geht es um die selbstbewusste Entscheidung auf der Ebene der Ich-Aktivität, des »ego cogito« (»ich denke«). Die Entdeckung des Neurowissenschaftlers B. Libet 38 besteht darin, dass das Gehirn 0,5 Sekunden braucht, um neuronale, unbewusste Aktivitäten zum Bewusstsein von etwas werden zu lassen. Ursprünglich wollte Libet die reale neuronale Basis für den freien Willen finden. Das heißt, er suchte den gleichzeitigen, der tatsächlichen Durchführung einer Handlung vorangehenden Zeitpunkt der freien Entscheidung beim neuronalen Prozess im Gehirn auf der objektiven Zeitachse der Kausalität. Doch das Ergebnis seiner Untersuchungen, das von anderen Forschern bereits mehrfach nachgeprüft wurde und für richtig gehalten wird, zeigt, dass die bewusste Entscheidung und damit jede Art von Bewusstsein, auch eine Sinnesempfindung, erst 0,5 Sekunden nach der entsprechenden unbewussten neuronalen Aktivität im Gehirn entsteht. Angesichts dieser Tatsache einer zeitlichen Verschiebung gibt Libet dennoch eine Begründung der freien Entscheidung dadurch, dass der freie Wille die eigene Handlung 0,15 Sekunden vor einem tatsächlichen Vollzug der Handlung unterdrücken, m. a. W. ein Veto einlegen kann. Somit vertritt er schließlich, dass der Zeitpunkt der freien Entscheidung neurowissenschaftlich aufweisbar ist. Für eine ausführliche Begründung dazu vgl. I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 129. 38 Zur Kritik an Libets Lehre von der zeitlichen Verzögerung des Bewusstseins vgl. oben, erster Teil, Kapitel III. 37

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

In dieser Art der Argumentation bezüglich der menschlichen Freiheit stecken verschiedene unreflektierte Voraussetzungen. a) Libets Versuch, den Zeitpunkt der freien Entscheidung auf der objektiven Zeitachse zu suchen, und seine Feststellung, dass der Zeitpunkt des bewussten Vetos (der Ablehnung) der unbewusst bestimmten Handlung 0,15 Sekunden vor der tatsächlichen Durchführung anzusetzen sei, basieren auf der herkömmlichen Auffassung der Freiheit des Menschen. Diese Auffassung setzt die objektive Zeit voraus, in der Kausalität und Freiheit in prinzipiellem Gegensatz gedacht werden. Auch Aristoteles’ Auffassung vom »unbewegten Beweger« oder der »ersten Ursache« bezieht sich immer auf das objektiv gedachte zeitliche Nacheinander in der Kausalität der objektiven Zeitachse. Bei Kant wird Freiheit immer als Gegensatz zur Kausalität der Natur des Menschen verstanden. Aber wenn man so denkt, bleibt keine andere Alternative, um die bewusste freie Entscheidung vor der kausal bestimmten, unbewussten neuronalen Aktivität zu retten, als entweder wie bei Libet beharrlich innerhalb der objektiven Zeit zu bleiben und den angesetzten Zeitpunkt der freien Entscheidung, auch in Form der Ablehnung, vor der Handlung zu finden oder sich auf die überzeitliche, also die objektive Zeitachse transzendierende Dimension der Freiheit zu beziehen. b) Aber Libets Standpunkt ist gerade wegen seiner Entdeckung einer Verspätung des Bewusstwerdens um 0,5 Sekunden unhaltbar, weil das bewusste Ablehnen wie auch das bewusste Bejahen und überhaupt jedes Bewusstwerden notwendigerweise 0,5 Sekunden brauchen. Diese Behauptung widerspricht seiner eigenen Entdeckung, die von anderen Neurologen positiv bestätigt wurde. Auf diese Weise kann Libet die freie Entscheidung nicht beweisen. Der zweite Standpunkt, den Kant einnimmt, kann zwar eine besondere Dimension der freien Entscheidung vor dem Determinismus der Naturkausalität des Menschen retten, aber niemals, wie Husserl Kant kritisiert, »die grundverkehrte Deckung« garantieren, nämlich »die Deckung, die für Kant dieser Gegensatz hat, mit dem ganz anderen zwischen irrationaler Faktizität und rationaler Apriorität, dokumentiert in Gesetzlichkeiten von unbedingter Gültigkeit« (Hua XXXVII, 220). Aber bei Husserl basiert die Freiheit auf der aktiven Synthesis, die die passive Synthesis voraussetzt. Diese Voraussetzung bedeutet natürlich keine Voraussetzung im Sinne der Naturkausalität, die dem Bewusstsein um 0,5 Sekunden vorausgehen würde. Die unbewusste 405 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

passive Synthesis gehört weder zur unbewussten Kausalität der Natur noch zur bewussten Freiheit des Geistes, die beide die Auffassung einer objektiven Zeitachse zur Prämisse haben. Freiheit als aktive Synthesis nimmt das passiv Vorkonstituierte als Basis oder Boden für die freie Entscheidung, für das Ja oder Nein zu einer bestimmten Handlung. c) Die Fundierung der passiven Synthesis für die Aktivierung der aktiven Synthesis ist im Zusammenhang mit der Auffassung der Freiheit als der aktiven Synthesis der aktiven Intentionalität noch ausführlicher zu klären. In der Analyse der passiven Synthesis zeigt Husserl die unbewusst gebildete affektive Kraft, die durch wechselseitige affektive Weckung zwischen impressionalen Inhalten der Gegenwart und der leeren Gestalt bzw. leeren Vorstellung der Vergangenheit entsteht. Die oben dargestellte wechselseitige Fundierung zwischen Farbe und Raum, Ton und Zeit ist in den 20er-Jahren durch die Analyse des immanenten Zeitbewusstseins, ohne Voraussetzung der objektiven Zeit, als Assoziation zwischen gegenwärtigen Sinnesempfindungen und vergangenen, leer gewordenen Sinnesgehalten phänomenologisch evident geworden. Die auf diese Weise unbewusst vorkonstituierte passive Synthesis folgt der Gesetzmäßigkeit der Affektion, nach der geregelt wird, welche der verschiedenen vorkonstituierten passiven Synthesen zu Bewusstsein gebracht wird. Bei solchen Prozessen des Bewusstwerdens spielt die passiv-unbewusste Synthesis der passiven Intentionalität der oben genannten assoziativen Motivationen wie Instinkt, Trieb, Gefühl, Kinästhese usw. eine entscheidende Rolle. d) In diesem Zusammenhang wird Libets Behauptung der Rückdatierung auf die EP-Reaktion hinfällig und sogar zum Hindernis für ein richtiges Verständnis des Zeitbewusstseins, weil das Bewusstsein von der Gleichzeitigkeit mit dem äußeren Geschehen nicht durch die Rückdatierung, sondern dadurch erklärbar wird, dass die passiv-assoziative unbewusste Synthesis etwa des unbewusst gehörten Geräusches eines Klimageräts ihre zeitliche Ordnung der Dauer des Geräusches unbewusst gebildet hat und, in Verbindung mit dem Fehlen des Geräusches, die entscheidende Differenz zwischen Sinnlichkeit und Bewusstsein erbringen kann. Das heißt, die Impressionen, die innerhalb von 0,5 Sekunden nacheinander vorkommen, werden nacheinander unbewusst retiniert und dann, wenn sie ein essenzielles Interesse wecken, zu Bewusstsein gebracht. Dabei geht die unbewusst retinierte Ordnung des Nacheinander-Geschehens innerhalb von 406 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

0,5 Sekunden nicht verloren. Sie bleibt nach der Schichtenstruktur der Sedimentierung auf der Querachse, der Querintentionalität der unbewussten Retention, simultan. 3)

Die passive Einfühlung im Vorethischen und die aktive Einfühlung in der Ethik

Die genetische Untersuchung der passiven Einfühlung der Paarung zeigt, wie die vorsprachliche, emotionale Kommunikation in der Mutter-Kind-Beziehung am Werk ist. Wie oben gesehen, haben die einzelnen Empfindungsfelder ihre Herkunft in der Ursynästhesie des Kleinkindes. Die emotionale, vorsprachliche Kommunikation fungiert in der passiven Einfühlung der passiven Synthesis, in der der Ich-Pol der aktiven Intentionalität noch nicht fest gebildet ist. Auf dieser Entwicklungsstufe hat es keinen Sinn, nach der Verantwortung der freiwilligen Handlung des Kleinkindes zu fragen. Die oben erwähnte Behauptung Husserls, dass die Aktivität der praktischen Vernunft die Nahrung aus dem passiven Mutterboden bezieht und diese Aktivität die Passivität voraussetzt, kann durch die Beschreibung der vorvernünftigen, passiven, emotionalen, intermonadischen Kommunikation überzeugend bestätigt werden. a) Für die ethische Entscheidung beim Erwachsenen ist das Vermögen der passiven Einfühlung bereits vorausgesetzt. Wer aber kann den Mangel der emotionalen Kommunikation bei Kindern, die unter Autismus leiden, kritisieren und aus ethischer Perspektive als »schlechte Handlung« bewerten? Der vorethische Bereich der passiven Intersubjektivität muss eben als Mutterboden betrachtet werden, aus dem der Einzelne die Nahrung für die Aktivität der praktischen Vernunft ziehen kann. Wenn der Mutterboden, d. h. das Vermögen der passiven Einfühlung der Paarung, nicht ausreichend gebildet ist, ist es kaum möglich, die Basis der emotionalen Kommunikation für die aktive Einfühlung zu legen. Als Beispiel dafür führt D. N. Stern den völligen Mangel an emotionaler Übereinstimmung zwischen Kind und Mutter an. 39 Stern sagt, dass jemand, der in einer solchen Situation aufgewachsen ist, die leibliche Existenz des Menschen überhaupt nicht fühlen könne.

39

Siehe oben, S. 299.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

b) Andererseits ist es wichtig, die transzendentale Leistung der aktiven Einfühlung, deren höchste Kreativität als die Ich-Du-Beziehung bezeichnet wird, sachgemäß zu bewerten. Dabei ist die Betrachtung der Wesensanschauung in der Ich-Du-Beziehung aufschlussreich. In Bezug auf das am Anfang dieses zweiten Teils erwähnte Beispiel, in dem die Andersheit des Anderen bei der Begegnung zwischen dem elfjährigen Buber und dem Pferd unmittelbar erlebt wurde, lässt sich sagen, dass sich dabei die Wesensanschauung der Andersheit des Anderen ereignete. Ein elfjähriger Junge lebt in den aktiven Intentionalitäten und Synthesen, die natürlich die passiven Intentionalitäten und Synthesen voraussetzen. Die Wesensanschauung in der Ich-Du-Beziehung entsteht in der höchsten Aktivität der aktiven Einfühlung, die den Bereich der Ethik, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse im Rahmen wissenschaftlicher Argumentation erforscht, im folgenden Sinne übersteigt und umfasst: Das Übersteigen und Umfassen der Ethik bedeutet, dass die Wesensanschauung des Anderen, des Du, die Quelle der Ethik ist, d. h., dass erst im Lichte der Wesensanschauung des Du die ethische Untersuchung von Gut und Böse, die die ständige Entwicklung interdisziplinärer Forschung in der Einstellung des Ich-Es-Verhältnisses einschließt, vollständig vollzogen werden kann. c) Das Verhältnis zwischen der Wesensanschauung des Anderen und der ethischen Untersuchung wird durch die Betrachtung des Verhältnisses zwischen implizitem (»tacit knowledge«, M. Polanyi) 40 und explizitem Wissen verständlicher. Polanyi versucht das Vermögen der Einfühlung als »implizites Wissen« zu erklären. Der Begriff des impliziten Wissens steht dem Begriff der passiven Synthesis in mehreren Punkten nahe. Beiden gemeinsam ist die Betonung der potenziellen, impliziten, unterbewussten und vorsprachlichen Sinnbildung. Die erste Bedingung des impliziten Wissens ist die Funktion der »Assoziation« im »proximal term« (Glied), die der Assoziation der passiven Synthesis genau entspricht. Ohne »indwelling« (Innewohnen) in den proximalen Gliedern entsteht kein explizites Wissen, das sich z. B. als neue Entdeckung eines Gesetzes in der Naturwissenschaft ausdrückt. Der Prozess des Innewohnens des impliziten Wissens zum Ausdruck des expliziten Wissens spiegelt den Prozess der Wesensanschauung als Ich-Du-Beziehung wider. Im Prozess der

40

Vgl. M. Polanyi, Implizites Wissen.

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

Wesensanschauung spielt die Assoziation der passiven Synthesis eine entscheidende Rolle. d) Es gibt dennoch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden. Im Begriff des »indwelling« (Innewohnen), der die Einfühlung besser erklären sollte, gibt es keine Unterscheidung zwischen der passiven Einfühlung durch die passive Synthesis und der aktiven Einfühlung durch die aktive Synthesis, die das passiv Vorkonstituierte zur bewussten Konstitution der Wesensanschauung (des expliziten Wissens) bringt. Wenn Polanyi die Einfühlung bei Dilthey und Lipps als das Innewohnen erklärt, sieht er nicht, dass diese eigentlich zur aktiven Einfühlung gehört und die passive Einfühlung der passiven Synthesis der Assoziation als, nach dem Begriff Polanyis, erste funktionale Bedingung des impliziten Wissens der aktiven Einfühlung vorangeht. Also ist die passive Einfühlung der assoziativen Synthesis in der aktiven Einfühlung des Innewohnens schon am Werk. Daher muss, wenn die ethische Entscheidung durch die Wesensanschauung der Ich-Du-Beziehung, den Prozess des Innewohnens im impliziten Wissen getroffen werden kann, die Genesis der passiven Einfühlung selbst, wie oben ausführlich dargestellt, erforscht werden. e) I. Nonaka, ein Vertreter des Wissensmanagements, entwickelte das »SECI-Modell« (»Socialization, Externalization, Combination, Internalization«), in dem die kreative, spirale Entwicklung der Erweiterung und der Vertiefung des expliziten Wissens aus dem impliziten Wissen im Sinne Polanyis erklärt wird. 41 In diesem Modell ist es besonders wichtig, dass der Bereich der Sozialisation durch die Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Einfühlung, deren Differenz von Polanyi völlig übersehen wurde, in die doppelte Struktur eingeordnet ist. Nonaka hat Husserls Einsichten bezüglich der passiven Synthesis und Merleau-Pontys Zwischenleiblichkeit für seine Erklärung der Sozialisation positiv aufgenommen und die fundamentale Schicht als die passiv-assoziative Synthesis der Paarung der Zwischenleiblichkeit angesehen. Auf dieser Schicht der passiven Einfühlung beruht die aktive Einfühlung, die durch die Befreiung von der Ich-Zentrierung als die Ich-Du-Beziehung verwirklicht werden kann.

41

I. Nonaka, Managing Flow, S. 18 ff.

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§ 5. Ethik des Schweigens in der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung Die Grundeinsicht der echten Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung bei Buber und Husserl betrifft zugleich den Kernbegriff des NichtIchs in der Philosophie des Buddhismus. Echtes Mitleiden, echte Barmherzigkeit, echte Liebe ereignen sich nur durch völlige Selbstlosigkeit. In diesem Punkt treffen die Ich-Du-Beziehung und das Konzept des Nicht-Ichs, der Kerngedanke der Ethik in der buddhistischen Philosophie, zusammen. In Bezug auf die Ethik in der monadologischen Phänomenologie Husserls wird die Ethik, die aus der aktiven Einfühlung in der personalistischen Einstellung entsteht, positiv erwähnt. Es geht hier um das ethische Urteil in der personalistischen Einstellung, um die Geltung und das Sollen der Handlung in der Wertordnung innerhalb des teleologischen Rahmens. Andererseits wird gezeigt, dass der ethische Bereich der Freiheit und Verantwortung von der Dimension der IchDu-Beziehung, die durch die Korrelation der aktiven Intentionalität von Noesis und Noema nicht greifbar ist, umfasst wird. Dieser Paragraph soll erörtern, wie die Ethik, die durch die sprachlich artikulierte Kommunikation und die praktische Vernunft verwirklicht wird, erst durch die sprachlich nicht ausdrückbare, jedoch den sprachlichen Ausdruck fundierende »Ethik des Schweigens« entstehen kann. Diese Ethik, die beim Schweigen anfängt und sich im Schweigen vollendet, wird im interkulturellen Kontext aber als eine universale Ethik behauptet. 1)

Drei Stufen des Schweigens

Die hier gestellte Aufgabe der Erhellung liegt darin, dass das ethische Urteil, welches das Vermögen des Sprachgebrauchs voraussetzt, seine Quelle in der Ich-Du-Beziehung während der Kindheit und sein Ziel in der Ich-Du-Beziehung bei Erwachsenen hat. Dabei ist die Ethik in der Gegenüberstellung zwischen dem Sprechen und dem Schweigen, also durch das Vermögen des Sprechens, zu thematisieren. Es geht hier um eine Differenzierung der vorprädikativen, prädikativen und überprädikativen Ethik. Diese Differenzierung entspricht den drei Stufen vor, in und nach der sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung in ihrem erkenntnistheoretischen Zusammenhang. 410 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

a) Auf der zweiten Stufe der Subjekt-Objekt-Spaltung sind Sprache und Vorstellung ständig am Werk. In der Welt des Kleinkindes, das in der passiven Synthesis der wechselseitigen Weckung der Assoziation zwischen ihm und der Umwelt lebt, werden allmählich das Sprachvermögen und die verschiedenen Leistungen der aktiven Intentionalitäten gebildet. Sie bilden eine ethische Gemeinschaft, in der die Beziehung zwischen den Menschen durch Sprache und Vorstellung auf der Ebene der sozialen Intersubjektivität geregelt wird. Aber die zweite Stufe ist, nach meiner Ansicht, weder die Quelle der Ethik, die aus der ersten Stufe des Schweigens entspringt, noch das Ziel der Ethik, das in der dritten Stufe des Schweigens verwirklicht wird. Das hier genannte Schweigen lässt sich also in drei Schichten einordnen: das vorsprachliche Schweigen in der ersten, das der Sprache gegenübergestellte Schweigen in der zweiten und das übersprachliche Schweigen in der dritten. Auf der ersten und dritten Stufe des Schweigens ist die Ethik der Selbstlosigkeit ohne Egozentrierung lebendig. b) Für die Erhellung der Ethik durch das Schweigen unter dem Aspekt der interkulturellen Philosophie sind hier die Ich-Du-Beziehung bei Buber und Husserl und die Philosophie des MahayanaBuddhismus komparativ zu betrachten. Dabei ist es möglich festzustellen, dass das Schweigen der ersten Stufe in der Beziehung auf das »eingeborene Du« Bubers entsteht, indem das Kleinkind vor der Bildung des Ich-Bewusstseins, in diesem Sinne selbstlos, in der völligen Zuwendung zum »eingeborenen Du« der Umwelt lebt. Auf der dritten Stufe wird die Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen so verwirklicht, dass die auf der zweiten Stufe gebildete Egozentrik durch die Ich-Du-Beziehung völlig aufgehoben werden kann. c) Die Selbstlosigkeit des Schweigens, besonders auf der dritten Stufe, wird im Kontext der buddhistischen Philosophie als das Schweigen Buddhas und die Grundeinsicht des Nicht-Ichs (der Selbstlosigkeit) ausgedrückt. Jedoch ist es sehr interessant und wichtig, dass die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen der Selbstlosigkeit der ersten und der der dritten Stufe von M. Buber und E. Herrigel, dem Verfasser von »Zen in der Kunst des Bogenschießens«, bestätigt wird. Die Ich-Du-Beziehung der dritten Stufe ist für Buber nichts anderes als die »Realisierung des eingeborenen Du am Begegnenden« 42. Das Er42

M. Buber, Werke I, S. 96.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

lebnis der Erleuchtung bedeutet für Herrigel die »Wiederbelebung« des Verhaltens ohne Bezogenheit auf das Ich in der Kindheit. 43 d) Eine philosophische Analyse dieser Dimension der Selbstlosigkeit verlangt eine strenge erkenntnistheoretische Reflexion. Dabei besteht Husserls Verdienst darin, dass er den phänomenologischen Zugang zur selbstlosen Zuwendung zur Umwelt des Kleinkindes auf der ersten Stufe durch die Perspektive der genetischen Phänomenologie ermöglicht hat. Seine Analyse der passiven Genesis, in der die Urstiftung des Sinnes passiv stattfindet – d. h. ohne Beteiligung der Ich-Aktivität, natürlich »vorprädikativ«, vor der Subjekt-Objekt-Spaltung, durch die urassoziativ-passive Zeitigung der zwischenleiblichen Triebintentionalität des Unterbewusstseins in der Kindheit –, weist auch überzeugend auf die Selbstlosigkeit der völligen Zuwendung zum Du beim Erwachsenen hin, gerade weil die Zeitigung auf der dritten Stufe dargestellt werden kann hinsichtlich der völlig selbstlosen, die gebildete Egozentrierung überwindenden Zuwendung zum Du in der paradoxen Einheit zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wie auf der ersten Stufe in der genetischen Phänomenologie gezeigt. Die paradoxe Vereinigung zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der ersten und dritten Stufe überwindet den logischen Grundsatz der Identität und des Widerspruchs, der in der zweiten Stufe der Gegenüberstellung zwischen Schweigen und Sprechen in der Subjekt-Objekt-Spaltung immer als notwendig angesehen wird. Also soll hier die Ethik in Bezug auf die Modalitäten des Schweigens, zunächst hinsichtlich der Auffassung der Zeit und dann der Auffassung des Anderen, betrachtet werden. 2)

Zeit und Ethik

Die Frage nach der Zeit führt uns zur Reflexion darüber, wie die Ethik in ihrer Ursprünglichkeit gedacht wird. Hierbei sind erneut der Gedanke der absoluten Zeitigung bei Husserl und jener der Zeitlichkeit in der Wandlung des Bewusstseins der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus in einer kurzen Zusammenfassung darzustellen. a) Die phänomenologische Untersuchung der Zeit wird durch die phänomenologische Reduktion, d. h. die Reduktion auf die unbezweifelbare, unmittelbare, evidente Gegebenheit des immanenten Zeit43

Vgl. E. Herrigel, Zen-Weg, S. 103.

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bewusstseins, also durch das Einklammern der sogenannten objektiven, in der Naturwissenschaft vorausgesetzten, messbaren Zeit vollzogen. Diese Reduktion bedeutet aber keine bloße Wiederholung des cartesianischen Zweifels, sondern die Radikalisierung dieses Ansatzes, sodass die Suche nach der apodiktischen Evidenz den Rahmen des »ego cogito« selbst durchbricht und die Entdeckung des »absoluten Bewusstseinsflusses« und seiner paradoxen Selbstkonstitution durch die doppelte passive, nämlich vor-ichliche (vor-egologische) Intentionalität der Retention vollzogen wurde. Die zunächst als »Erinnerung«, als Auffassungsakt gedachte Retention, die das Bewusstsein der Vergangenheit konstituieren sollte, zeigt eine Intentionalität »eigener Art«, die keine der Eigenschaften eines Auffassungsaktes hat. Wenn die Retention ein Auffassungsakt ist, der einen Auffassungsinhalt konstituiert, gerät sie in einen unendlichen, absurden, in unserem Bewusstsein nicht gegebenen Regress, weil alle Bewusstseinsakte selbst immanent als ein Auffassungsakt bewusst sind und sie somit als bewusster Auffassungsinhalt des Auffassungsaktes einen anderen, diesen Auffassungsinhalt konstituierenden Auffassungsakt notwendig braucht. Die Retention, das Bewusstsein von »etwas, das gerade vorbeigeht und behalten bleibt«, schließt in sich keinen Aktcharakter ein, der aus der IchAktivität des »ego cogito« stammt, ferner die Intentionalität aktiv charakterisiert, sondern ist urbewusst, sodass der Inhalt der Retention »in sich selbst und notwendig ›urbewußt‹« (Hua X, 119) ist. b) Im Husserliana-Band XI, »Analysen zur passiven Synthesis«, wird die vertiefte Analyse der Konstitution des Zeitbewusstseins und gleichzeitig die für Kant stets rätselhafte »produktive Einbildungskraft« des Gemüts als die assoziativ-passive, vor-ichliche Synthesis ausführlich durch die Analyse der Modifikation der Retention phänomenologisch dargestellt. Die Bedeutung dieser Analyse wird klar, wenn man ihre Tragweite mit Heideggers Versuch, die Einbildungskraft bei Kant zu verstehen, vergleicht. Heidegger konnte wegen seiner Identifizierung des Zeitbewusstseins mit dem »Ich denke« (»ego cogito«) 44 die Dimension der produktiven Einbildungskraft als der passiven, radikal vor-ichlichen Synthesis der retentionalen Abwandlung, d. h. die Dimension der Retention und passiven Synthesis, nicht erreichen. Die Dimension der vorethischen zwischenleiblichen Triebintentionalität in der Kindheit ist Heidegger fremd. Die Zeit des 44

Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 174.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Kleinkindes kann höchstens die Bestimmung einer »uneigentlichen« Zeit gegenüber der »eigentlichen« Zeit beim Erwachsenen haben, der in Angst und im Vorlaufen zum Tod existiert. c) Die passiv-assoziative, vor-ichliche Synthesis fungiert in der paarenden, wechselseitigen Weckung zwischen den hyletischen Momenten der gegenwärtigen Umwelt und den implizierten leeren Gestalten und Vorstellungen im Horizont der Vergangenheit, der durch die Querintentionalität der Retention gebildet wird. In der Gegenwart ist immer anwesend der »Hintergrund der sedimentierten Abgehobenheiten, der als Horizont alle lebendige Gegenwart begleitet und seinen kontinuierlich wechselnden Sinn in der ›Weckung‹ zeigt« (Hua XVII, 319). Dabei ist es von großer Wichtigkeit, dass der Vergangenheitshorizont ständig die Gegenwart begleitet und in ihr anwesend ist und dass die affektive Kraft der leeren Abgehobenheiten in der dynamischen Wechselwirkung zwischen Gegenwart und Vergangenheit triebhaft, ständig zu- und abnehmend, habituell im Unterbewusstsein des Vergangenheitshorizontes gebildet wird und schließlich dass die herkömmliche lineare Auffassung der Zeit, d. h. der ursprünglich in der Impression des Jetzt unmittelbar und original gegebene und durch die Retention intentional herabsinkend modifizierte Zeitinhalt, durch die wechselseitige Weckung zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufgehoben wird. Diese wechselseitige Weckung wird von den so sich bildenden affektiven Kräften im Unterbewusstsein transzendental bedingt. Daher stellt Husserl schließlich die These auf, dass das Bestehen der lebendigen Gegenwart von der universalen Triebintentionalität als der die verschiedenen affektiven Kräfte vereinheitlichenden Ur-Affektion bestimmt wird. 45 Ohne korrektes Verständnis der Vorkonstitution des Empfindungsinhalts in der vorethischen Zeitlichkeit des Kleinkindes gerät man in die metaphysische Annahme, dass die transzendentale Apperzeption des Ichs die Vereinheitlichung des Empfindungsinhaltes ermöglicht und somit das Ich die Empfindung als die eigene Natur beherrschen soll. Aber der Empfindungsinhalt bedeutet nicht bloß empirisch-psychologische Sinnlichkeit, die vom Verstand im Sinne der Moralphilosophie Kants nur beherrscht werden sollte. Wie oben gezeigt wurde, sind alle Empfindungsfelder der einzelnen Empfindungsinhalte genetisch aus der Ursynästhesie des Kleinkindes durch 45

Vgl. Hua XV, 595.

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die intermonadische, interemotionale Übereinstimmung zwischen Kind und Mutter entstanden. Nur auf der Basis der intermonadisch gemeinsamen emotionalen Erlebnisse kann das gesunde Selbstbewusstsein des Ichs, das zum Träger des ethischen Urteils wird, gebildet werden. d) Unter dem Aspekt der genetischen Phänomenologie Husserls wird gezeigt, dass das Zeitbewusstsein beim Kleinkind im Horizont der lebendigen Gegenwart (Retention, Impression, Protention) ohne Mitwirkung der Wiedererinnerung der aktiven Intentionalität des Ichs fungiert. Die urtümliche wechselseitige Weckung entsteht zwischen den hyletischen Momenten der Umwelt und der implizierten Instinktintentionalität der transzendentalen »Erbmasse« (Hua XV, 604). Die so gebildete ursprüngliche lebendige Gegenwart gilt nicht nur für die erste Stufe, sondern auch für die zweite und dritte Stufe des Schweigens, und sie bildet die Basis für die passive Synthesis der Zwischenleiblichkeit, die nicht egologisch, sondern intermonadisch im Sinne der seit den 20er-Jahren entwickelten Monadologie Husserls durch die Triebintentionalität gezeitigt wird. Wenn dazu das transzendentale Vermögen der Wiedererinnerung geweckt und parallel zum Ich-Pol allmählich durch die Leibzentrierung und die darauf beruhende Ich-Zentrierung gebildet wird, wird die Konstitution eines Gegenstandes, also u. a. der Dingwahrnehmung, möglich. Die aktive Intentionalität beseelt, vergegenständlicht und objektiviert unter Beteiligung der Ich-Aktivität als Noesis das durch die passive Synthesis Vorkonstituierte und konstituiert somit das Noema. Die Artikulation der Sprache auf der zweiten Stufe fungiert auf der Ebene dieser Bewusstseinskorrelation von Noesis und Noema, die im erweiterten Zeithorizont, d. h. der lebendigen Gegenwart, Vergangenheit (durch die Wiedererinnerung) und Zukunft (durch die Erwartung), ständig gezeitigt wird. e) Aber auf der dritten Stufe der Ich-Du-Beziehung werden, so wie in der personalistischen Einstellung Husserls, die Vergegenständlichung und die Bezogenheit auf sich selbst und somit die dabei fungierende aktive Intentionalität durch die völlige Zuwendung zum Du aufgehoben. Buber schreibt, dass die Vergegenständlichung und die Kausalität des Ich-Es-Verhältnisses, das er zeitlich als »Vergangenheit« gegenüber der »Gegenwart« des Du charakterisiert, im Lichte der »Gegenwart« des Du nicht die Oberhand gewinnen. 46 Das bedeu46

Buber sagt: »Solang der Himmel des Du über mir ausgespannt ist, kauern die Win-

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tet aber keineswegs eine schlichte Negation des Ich-Es-Verhältnisses, vielmehr wird es überhaupt nicht berücksichtigt, ist vollkommen unwichtig und bleibt mit den Worten Meister Eckharts als völlig »abgeschieden« unlebendig im Hintergrund der Gegenwart 47. Die paradoxe Einheit zwischen der Vergangenheit des Es und der Gegenwart des Du auf der dritten Stufe lässt sich als das Paradox der Einheit durch die wechselseitige Weckung zwischen den implizierten Leergestalten oder Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont und den hyletischen Momenten der Gegenwart klar verstehen. Das heißt, verschiedene hyletische Momente von etwas (Es) werden zwar schon passiv in einem eine bestimmte Gegenwart begleitenden Vergangenheitshorizont geweckt und vorkonstituiert, aber sie werden in der völligen Bezogenheit auf das Du, d. h. im Lichte des Du der Gegenwart, völlig ignoriert und nicht zur Konstitution gebracht: Koexistenz der vorkonstituierten Vergangenheit des Es im Lichte der Gegenwart des Du. Also ist die Zeitigung bei Husserl nicht mehr innerhalb der von der aktiven Intentionalität des »ego cogito« bestimmten Egologie, sondern erst in der radikal vor-egologischen und schließlich von der Egozentrierung befreiten Vergemeinschaftung, d. h. in der Monadenentwicklung, aufzufassen. Diese Änderung von der Egologie zur Monadologie steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der genetischen Phänomenologie Husserls. Husserl sieht die »Allheit der Monaden in ursprünglich instinktiver Kommunikation« (Hua XV, 609), die schlafenden Monaden der ersten Stufe und die »erwachenden Monaden und Entwicklung in der Wachheit mit einem Hintergrund schlafender Monaden als ständiger Fundierung« (ebd.) in der gesamten Monadenentwicklung. Gott ist für ihn als die im Monadenall liegende »Entelechie, als Idee des unendlichen Entwicklungstelos der ›Menschheit‹ aus absoluter Vernunft« (Hua XV, 610) zu denken.

de der Ursächlichkeit an meinen Fersen, und der Wirbel des Verhängnisses gerinnt« (M. Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, S. 13). 47 Vgl. T. Ohtsuru, Ridatsu ni tsuite, S. 173.

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3)

Zeit in der Yogacara-Schule in einer erneuten Zusammenfassung

Die drei Grundsätze der Lehre des Buddhismus, Leiden, Vergänglichkeit und Nicht-Ich, können im Zusammenhang mit der Auffassung der Zeit auf die folgende Weise betrachtet werden: Leiden entsteht, indem man an den Sachen hängt, statt sie als vergänglich im Wandel der Zeit zu verstehen. Das Hängen am eigenen, substanziell aufgefassten, also unvergänglichen Ich ist dabei am stärksten. Das Nicht-Ich bedeutet aber keine Negation des echten Selbst, das als das »Nicht-Ich« im Buddhismus durch die Schulungspraxis auf der dritten Stufe des Schweigens unmittelbar erlebt wird. Das echte Selbst als das Nicht-Ich wird unmittelbar erlebend angeschaut als das voneinander abhängige Entstehen (縁起, engi) der Dharmas, der transzendental aufgefassten Seinselemente bzw. Gesetzmäßigkeiten, die weder realistisch noch idealistisch in der Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. mit keiner Art von Dualismus aufgefasst werden können. Das Schauen des abhängigen Entstehens der Dharmas ist das Ziel der Schulungspraxis des Buddhismus und der Yogacara-Schule, die sich stark an der Yoga-Praxis orientiert. In dieser Schulung wird das Zeitbewusstsein der Yogacara-Schule im Mahayana-Buddhismus, wie allgemein in der Auffassung des Mahayana-Buddhismus, als »diskontinuierliche Kontinuität« bzw. »abgetrennte Fortsetzung«, auf der eine andere Grundauffassung des augenblicklichen Entstehens und Vergehens der Dharmas beruht, dargestellt. a) In dieser Lehre von der Wandlung des Bewusstseins findet man die darin fungierende Zeitlichkeit, die eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit der oben dargestellten Auffassung der Zeit bei Husserl aufweist. Hier wird nämlich die wechselseitige Wirkung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit auf folgende Weise analysiert: Sie entsteht in jedem Augenblick zwischen der habituell sedimentierten, impliziten Potenzialität (vija: Samen) in der Vergangenheit, die das aktuelle Bewusstsein durch ihre Reifung erzeugen soll, und dem aktuell entstandenen Bewusstsein der Gegenwart, das gleichzeitig seine Sedimentierung als Erhöhung seiner Potenzialität hinterlässt. Also wird einerseits die Potenzialität durch ihre allgegenwärtige Reifung aktualisiert, andererseits hinterlässt das so entstandene, aktualisierte Bewusstsein gleichzeitig seine Sedimentierungskraft. Die Reifung, die das aktuelle Bewusstsein erzeugt, und die Sedimentierung, die 417 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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seine Potenzialität hinterlässt, sind zwei Seiten derselben Entstehung des aktuellen Bewusstseins. So entsteht und verschwindet das aktuelle Bewusstsein in jedem Augenblick. Die Reifung und die Sedimentierung entstehen in einem durch die paradoxe Vereinheitlichung zwischen Gegenwart und Vergangenheit in jedem Augenblick und verschwinden, damit das nächste aktuelle Bewusstsein entsteht, durch die diskontinuierliche Fortsetzung. 48 b) Die Gemeinsamkeit dieser Einsicht mit der wechselseitigen Weckung Husserls zeigt sich darin, dass die zufälligen hyletischen Momente der Umwelt nicht als real-physikalische Einheiten aufzufassen sind, sondern nur als das dem geweckten Phasengehalt der instinktiven Urkommunikation Entsprechende bei Husserl, und die hyletischen Momente der anorganischen Umwelt und des Leib-Körpers als das selbst von der unbewussten Potenzialität des alayavijnanam (Unterbewusstsein) Vorkonstituierte. Andererseits kann die Unterscheidung zwischen der Vorkonstitution und der Konstitution, d. h. zwischen passiver und aktiver Synthesis, bei Husserl die Beteiligung der Ich-Aktivität deutlicher als die Yogacara-Schule erörtern, während die Yogacara-Schule die selbstlose Zuwendung unmittelbarer schulen und verwirklichen kann als Husserl. Wenn aktuell z. B. »ein blauer Himmel« visuell bewusst wird, geht zunächst die Vorkonstitution durch die wechselseitige Weckung zwischen der Potenzialität und der Aktualität dadurch voran, dass die jetzt vorkonstituierende Sinnbildung hein blauer Himmeli durch die paarende, assoziative Synthesis zwischen den hyletischen Momenten der gegenwärtigen Umwelt und den impliziten Leergestalten und Leervorstellungen im Vergangenheitshorizont entsteht. Aber »ein blauer Himmel« wird erst aktuell bewusst, wenn das so Vorkonstituierte, hein blauer Himmeli, durch das bzw. mit dem Ich-Bewusstsein (manovijnana) zum aktuell Konstituierten »ein blauer Himmel« wird. Wichtig ist dabei, dass dieses Vorkonstituierte – wenn es auch ohne Beteiligung des Ich-Bewusstseins nicht aktuell bewusst, d. h. konstituiert wird – immer seine Potenzialität ohne Ich-Bewusstsein hinterlässt und somit den unbewussten Reifungsprozess solcher Potenzialitäten weiter fortsetzt. T. Izutsu drückt dies so aus, dass die Spur der Aktualisierung neue Potenzialität erzeugt (vgl. T. Izutsu, Toyoteki jikann ichiki no gennkei, S. 56).

48

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

4)

Konsequenzen der Zeitlehre Husserls und der Yogacara-Schule

Jetzt können wir den Blick auf die Konsequenzen beider Auffassungen der Zeit, derjenigen Husserls und derjenigen der Yogacara-Schule, richten. a) Zunächst bedeutet das Schweigen der ersten Stufe in der Kindheit, in der die Zwischenleiblichkeit gebildet wird, das Schweigen in der Welt, in der die paradoxe Simultaneität ständig entsteht. In der Welt der Kindheit ist der Ich-Pol noch nicht fest ausgebildet und die aktive Intentionalität der Wiedererinnerung noch nicht am Werk. Daher entsteht nur die paradoxe Simultaneität der wechselseitigen assoziativen Synthesis, die natürlich als solche im Kleinkind nicht urbewusst wird. b) Auf der zweiten Stufe entwickelt sich die strukturelle Erweiterung der Zeitlichkeit dadurch, dass zur Struktur der lebendigen Gegenwart von Jetzt, Retention und Protention die zusätzliche transzendentale Leistung der Wiedererinnerung, die das Bewusstsein von der Vergangenheit in Korrelation hat, und die der Erwartung, die das Bewusstsein von der Zukunft in Korrelation hat, hinzugefügt werden. Dadurch werden die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes und der Gebrauch der Sprache möglich, und die zwischenleiblich vorkonstituierte Sinnlichkeit wird vom Bewusstseinsakt (Noesis) und vom Bewusstseinsinhalt (Noema) beseelt und vollständig konstituiert. Auf dieser Stufe entsteht das Schema der Erkenntnis in der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, worin das immer in der Gegenwart fungierende Subjekt das Objekt auffasst, das auf der Zeitachse der Zukunft, des Jetzt und der Vergangenheit ständig auftritt. Das Schweigen bedeutet hier die schweigende Gegenwart, die von der Sprache gefüllt wird, die schweigende Vergangenheit, in der die Sprache als Erinnerungen im Schweigen bleibt, und die schweigende Zukunft, in der Gegenstände und Sprache noch nicht auftreten. c) Die Welt der Empfindung, die in der paradoxen Simultaneität der ersten Stufe des Schweigens, so wie sie entsteht, geschieht, wird dann auf dieser Stufe sofort durch das Interesse des Ichs und die Leistung der aktiven Intentionalität der Ich-Aktivität als die Welt der Wahrnehmung des Gegenstandes, eben als etwas Gegenständliches, aufgefasst. Der Gegenstand der Wahrnehmung und des Urteils gewinnt dadurch die Zeitstelle auf der objektiven Zeitachse und nimmt seinen Platz im Erkenntnisschema der Spaltung zwischen Subjekt 419 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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und Objekt ein. Der sprachliche Ausdruck gilt dem logischen Satz vom Widerspruch und der Identität, der aber die Genesis der durch die intermonadische, zwischenleibliche Urkommunikation gebildeten Empfindungsfelder in der lebendigen Gegenwart, sprich die paradoxe Simultaneität zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der lebendigen Gegenwart, auf der ersten Stufe des Schweigens voraussetzen muss. d) Auf dieser zweiten Stufe sind der Grundsatz der Kausalität, die die objektive Zeitachse voraussetzt, der Satz vom Widerspruch und der Satz der Identität am Werk. Aber die paradoxe Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit, die auf allen Stufen allgegenwärtig ist, entsteht frei von der realen Kausalität, die die zeitliche Reihenfolge von »Vorher und Nachher« voraussetzt; und sie geht dieser Kausalität voran, die wiederum von der sprachlichen Artikulation vorausgesetzt wird. Die paradoxe Simultaneität selbst entsteht durch die wechselseitige Weckung der Assoziation, die von der realen Kausalität her, die das Vorher und Nachher des objektiven Zeitpunktes voraussetzt, nicht verstanden werden kann. Die Zeitigung gehört zur Dimension der Genesis des Sinnes. Die Kontinuität der Genesis des Sinnes bestimmt den Sinn von Vorher und Nachher der objektiven Zeit. Also geht die paradoxe Simultaneität der Gegenwart und Vergangenheit der Kausalität voran und bestimmt den Sinn der Kausalität. Die sprachliche Artikulation setzt die Wiedererinnerung der aktiven Intentionalität voraus, durch die das Bewusstsein von der Vergangenheit im gewöhnlichen Sinn konstituiert und die durch den Gebrauch der Sprache ermöglicht wird. Durch den Sprachgebrauch werden der Ausdruck des ethischen Urteils und auch soziale Handlungen wie Abmachung, Planung, Unternehmungen etc. möglich. e) Mit der Kausalität ist es möglich, im Rahmen der Frage nach dem Verhältnis von Vorher und Nachher, also dem Sinn der Vergangenheit und des Jetzt, die objektiv dargestellte Zeit unendlich in Zeitpunkte zu zerstückeln, jedoch ist es damit nicht möglich, die paradoxe Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit bei Husserl und der Yogacara-Schule logisch zu beweisen. Denn das für die zweite Stufe typische Beispiel, das sogenannte Paradox von Zenon, ist ein philosophisch erdachtes Paradox, das den unendlich zerstückelbaren Zeitpunkt auf der objektiven Zeitachse voraussetzt. Dieses abstrakt hergestellte Paradox gehört zu einer völlig anderen Dimension als der des wirklich gelebten Paradoxes der Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit. Wer das Paradox von Zenon ernst nimmt, be420 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

merkt nicht, dass der jeweilige Bewusstseinsakt (Noesis) des Zerteilens der Zeitstrecke selbst die zerteilte Zeitstrecke als Noema notwendigerweise konstituieren muss. Das heißt, die Konstitution der zerteilten Zeitstrecke als Noema durch das Zerteilen als Noesis, die die vorkonstituierten Empfindungsdaten beseelt, ist natürlich immer möglich, aber das Zerteilte ist immer der zerteilte Gegenstand, das aus den vorgegebenen Empfindungsdaten Konstituierte. Wenn man versucht, die Empfindungsdaten selbst zu zerteilen, ist das nicht möglich, weil die Empfindungsdaten selbst bereits vor dem Versuch des Zerteilens durch die passive Synthesis der Assoziation vereinheitlicht, vorkonstituiert sind. Dieses Vorkonstituieren geht natürlich der korrelativen Konstitution von Noesis und Noema auf der Ebene der Wahrnehmung des Gegenstandes, auf der das Zerteilte als Noema durch das Zerteilen als Noesis konstituiert ist, voraus. Der Satz der Identität (A = A) ist das logische Verhältnis, das sich auf den Gegenstand der Wahrnehmung bezieht. Die genetische Phänomenologie Husserls hat gezeigt, dass die Empfindungsdaten, die durch die paradoxe Simultaneität vor der Wahrnehmung des Gegenstandes vorkonstituiert werden, durch den Auffassungsakt der Wahrnehmung zum Gegenstand der Wahrnehmung werden. f) Auf der dritten Stufe des Schweigens in der personalistischen Einstellung Husserls und in der Ich-Du-Beziehung Bubers, auch in der Selbstlosigkeit des Buddhismus, entsteht die Befreiung von der Egozentrik und der Leibzentrierung als deren Wurzel. Hier, auf dieser dritten Stufe, wird die paradoxe Simultaneität der ersten Stufe wieder in den Vordergrund gebracht. In der Gegenwart des Du, wo die Selbstlosigkeit entsteht, können alle Inhalte, die zum Du gehören, als aus dem Vergangenheitshorizont vorkonstituierte in derselben Gegenwart sein. Im Lichte des Du sind individuelle Sinngehalte in konkreter Einmaligkeit vorkonstituiert dabei. Alles so Vorkonstituierte ist in der paradoxen Simultaneität dabei. g) Die Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit auf der ersten und dritten Stufe lässt sich nur als Intentionalität, als Motivationszusammenhang im weitesten Sinne verstehen, genauer gesagt als die passive Intentionalität, die durch die unbewusste assoziative Synthesis erfüllt oder nicht erfüllt wird. Der Sprachgebrauch wird durch die Wahrnehmung (die semantische Vereinheitlichung) der akustischen Dauer und Änderung bestimmter phonetischer Daten im Verhältnis von Vorher und Nachher der Zeit vollzogen. Das Schweigen auf der zweiten Stufe kann jemandem etwas, was durch 421 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

die Sprache nicht ausgedrückt werden kann, deswegen mitteilen, weil die Sprache zuallererst die Rolle der beschränkenden Identifizierung der Empfindungsinhalte spielt. In diesem Sinne bildet die Sprache nur Wellenkronen, die auf der Oberfläche des fruchtbaren Meeres des Vorkonstituierten gestaltet werden, das in der Simultaneität zwischen den zur Erfüllung der Anschauung drängenden Leergestalten im Vergangenheitshorizont und den hyletischen Momenten der Umwelt der Gegenwart ständig gebildet wird. Die Selbstlosigkeit des Schweigens auf der dritten Ebene hält der Sprache, die nur den logischen Ausdruck auf der zweiten Stufe leisten kann, die Grenze entgegen, von dieser Selbstlosigkeit durch den Satz des Widerspruchs und der Identität zu sprechen. Dieses Entgegenhalten des Schweigens auf der dritten Stufe ist eine schweigende Wirkung auf die Sprache auf der zweiten Stufe. 5)

Der Andere und die Ethik des Schweigens

Die Entdeckung der Retention als passiver Synthesis betrifft die Problematik der Auffassung des Anderen und der Ethik des Schweigens unmittelbar. Das Zeitbewusstsein wird, genetisch gesehen, urtümlich als die zwischenleibliche, gemeinsame Gegenwart aus der zwischenleiblichen Triebintentionalität gebildet. Die Wirklichkeit des eingeborenen Du, das in der Zwischenleiblichkeit geweckt und verwirklicht wird, und die der Ich-Du-Beziehung beim Erwachsenen bieten eine neue Dimension der Ethik des Schweigens. Um auf diese neue Dimension deutlich hinzuweisen, ist zunächst zu zeigen, auf welche Weise und unter welcher Gesetzmäßigkeit die nicht-egologische Zwischenleiblichkeit fungiert. Dann werden der Gedanke des »Ich und Du« bei Nishida und die Ich-DuBeziehung bei Buber erneut gegenüberzustellen sein, damit das Wesen der Ethik aus der Andersheit des Anderen heraus deutlich erfasst werden kann. a) Die Dimension der Zwischenleiblichkeit eröffnet eine Warnung vor dem Verlust des »eingeborenen Du« und des »Du« in der Intersubjektivität der Gesellschaft. Im Rahmen der Thematik der Intersubjektivität hat Husserl die paarende passive Synthesis der intermonadischen Zwischenleiblichkeit als transzendentale genetische Fundierung vorgegeben. 49 Der Aspekt der Zwischenleiblichkeit ist 49

Husserls Ansicht über die nicht-egologische Zwischenleiblichkeit der passiven

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für das Verständnis der ersten Stufe des vorsprachlichen Schweigens entscheidend. Levinas jedoch versucht die Andersheit des Anderen nicht von der Einsicht der passiven Intentionalität der Zwischenleiblichkeit, sondern von dem vom Begriff der Intentionalität völlig befreiten »Nicht-Intentionalen« her zu begründen. Somit wird die völlige Zuwendung des Kleinkindes zur Umwelt, das in der Zwischenleiblichkeit der passiven Synthesis, also in der Beziehung zum eingeborenen Du lebt, mitsamt der für Levinas aktiven Intentionalität des Zeitflusses mit dem Bade ausgeschüttet. Der Verlust des eingeborenen Du führt zum Verlust des Wesens der Selbstlosigkeit in der Ich-Du-Beziehung auf der dritten Stufe des Schweigens, also zum Verlust der Begegnung mit dem Du beim Erwachsenen. Dadurch geht auch das Wesen der auf der zweiten Stufe fungierenden Ethik mit Logik und Sprache, die ihre Basis in der Zwischenleiblichkeit der ersten Stufe und ihr Ziel in der dritten Stufe des übersprachlichen Schweigens der Ich-Du-Beziehung haben, verloren. b) Levinas spricht zwar auch von der »Nähe und Berührung« im Kontext der »ursprüngliche[n] Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine[r] Kommunikation« 50. Aber Nähe, Berührung und ursprüngliche Sprache werden bei Levinas im Grunde genommen immer vom Aspekt »der absoluten Passivität der Kreatur« 51 her gedacht. Dadurch wird die Bedeutung der vorsprachlichen Kommunikation in der Kindheit für die Bildung der Basis der Ethik gänzlich übersehen. Wie man oben sehen konnte, zeigt sich der Mangel der Bildung der emotionalen Kommunikation bei Kindern, die an Autismus leiden. Der phänomenologische Zugang zum Bereich der interSynthesis entwickelte sich in seiner monadischen Auffassung der transzendentalen Subjektivität seit den 20er-Jahren. Er sieht die Grenze des formalen Gesetzes der transzendentalen Apperzeption des Ichs, die der Individualität und der Konkretheit des Ichs überhaupt nicht zugänglich sein kann, und beschreibt den Begriff der Monade, der die Faktizität der Individualität des Ichs als »notwendiges Faktum« (Hua XIV, 37) thematisierbar macht. Er versucht in seiner genetischen Phänomenologie, die Ordnung der Faktizität mit Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes zu entwickeln, »dass ein Individuum, das als solches seiend ist im Werden, in diesem In-die-Zukunfthinein-werden gerade so und nicht anders wird« (Hua XIV, 15). Dem zureichenden Grund gehört die unbewusste, kleine Perzeption an, die nach meiner Meinung dem Begriff der passiven Synthesis entspricht. Zum Verhältnis zwischen der kleinen Perzeption Leibniz’ und der passiven Synthesis vgl. I. Yamaguchi, Bisho hyosho to jzudouteki sogo, S. 284–301. 50 E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 280. 51 A. a. O., S. 316.

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

monadischen Kommunikation in der Kindheit fehlt bei Levinas deswegen, weil er Husserls Intentionalität nur als aktive Intentionalität, d. h. als Intentionalität mit Ich-Aktivität, interpretiert hat. c) Bei Levinas wird nicht nur das eingeborene Du, sondern auch die Ich-Du-Beziehung selbst dem dualistischen Formalismus geopfert. Er sagt: »Einen Inhalt im anderen gewahren, heißt bereits, sich auf ihn wie auf ein Objekt beziehen und in das Ich-Es eintreten.« 52 Dieses Missverständnis, das dem Du seine Konkretheit und Weltwirklichkeit raubt, entstammt seinem Dualismus von Form und Inhalt, dessen erkenntnistheoretische Verengung jedoch bereits durch die Entdeckung des Begriffs der Retention als passiver Synthesis, die das Korrelationsschema von Auffassungsakt (Noesis) und Auffassungsinhalt (Noema) unterläuft, überwunden und aufgehoben wurde. Er kann auch die Dimension der Ethik aus der Ich-Du-Beziehung, in der die Spaltung zwischen Sein und Sollen bei Kant unterlaufen und ihre Genesis gezeigt werden kann, nicht als solche in den Blick nehmen. M. Friedman sagt: »Bei Kant ist das ›soll‹ der Vernunft vom ›ist‹ des Triebs getrennt. Im Gegensatz dazu vereinigen sich bei Buber ›ist‹ und ›soll‹, in der Vorbedingung echter menschlicher Existenz zu verlieren – das Leben zwischen Mensch und Mitmensch zu verwirklichen –, ohne dass aber dabei die Spannung zwischen diesen beiden Kategorien verlorengeht.« 53 Sein und Sollen sind bei Buber nicht getrennt wie bei Kant, sondern in der Ich-Du-Beziehung vereinigt; aber die Spannung zwischen beiden geht, wie Friedman sagt, nicht verloren. Der Grund, warum solche Vereinigung möglich ist, liegt darin, dass Buber die moralische Entscheidung nicht vom Aspekt der Anwendung des universalen moralischen Prinzips auf eine konkrete Situation der moralischen Frage, sondern eben vom Aspekt der Ich-Du-Beziehung her betrachtet. Friedman sagt: »Somit ist Kants Imperativ im wesentlichen subjektiv (der isolierte Einzelne) und objektiv (universelle Vernunft), wogegen Bubers Imperativ dialogisch ist.« 54 Was bedeutet dann eine ethische Entscheidung aus der Ich-DuBeziehung heraus, wo die Spaltung zwischen Sein und Sollen geschlossen sein soll? Dafür gibt es die notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung. Eine davon ist ein 52 53 54

E. Levinas, Martin Buber und die Erkenntnistheorie, S. 127. M. Friedman, Grundlage der Ethik Bubers, S. 159. Ebd.

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ganzheitlicher Bezug auf das ethische Problem. Die völlige Zuwendung zum Problem bedeutet einerseits die Anwendung der phänomenologischen Reduktion auf das unmittelbar gegebene, innere Bewusstsein, dessen Konstitution weiter in Bezug auf die Korrelation von Noesis und Noema der aktiven Intentionalitäten und auf die assoziative Synthesis, die unbewusst auf der Ebene der triebhaften, instinktiven Intentionalitäten vorkonstituiert wird, befragt und analysiert wird. Dabei tauchen oft unerwartet Erinnerungen aus der dunklen, entfernten Vergangenheit auf. In dieser Erinnerung begegne ich aber nicht dem transzendenten, vergangenen Ich, das in der Erinnerung lebt, wie bei Nishida, sondern dem Du, das durch die Erinnerung von mir verlangt, mich immer wieder erneut auf das erinnerte Du zu beziehen. Ein ethisches Problem steckt tief in bestimmten stark verflochtenen sozialen Beziehungen des Betreffenden. Für die Lösung eines wichtigen ethischen Problems ist eine genetische Fragestellung nötig, die Erlebnisse in der eigenen Vergangenheit tief bis zur unbewussten Bildung der eigenen Empfindungsfelder ins klare Licht der Reflexion zu bringen vermag. In dieser Tiefe begegne ich dem Du als dem eingeborenen Du, das mir in der Umwelt begegnet ist und immer noch begegnet. Aus der Ich-Du-Beziehung als Begegnung entsteht eine Antwort auf die ethische Frage. d) Die Gegenüberstellung von Sein und Sollen nach Kant setzt das erkenntnistheoretische Schema des dualistischen Gegensatzes zwischen Sinnlichkeit und Verstand deutlich voraus. Wie bereits oben ausführlich dargestellt, kann der dualistische Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand, Inhalt und Form das Wesen der Subjektivität des Menschen und das Wesen des Erkennens nicht erfassen. Die phänomenologisch begründete neue Erkenntnistheorie ist durch die phänomenologische Analyse der Korrelation von Noesis und Noema der aktiven Intentionalität auf der Ebene der Erkenntnis des Gegenstandes und durch die Analyse der dieser Erkenntnis vorangehenden passiven Synthesis der Assoziation und Affektion möglich geworden. In dieser zweiseitigen Erkenntnistheorie stammt die Idee einmal aus der Realität des Leibes und einmal aus der idealen Idee. Das bedeutet, dass die strenge Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Praxis nicht mehr gelten kann. Wie in Bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Sinnlichkeit, die schließlich aus der intermonadischen, auf Trieberfüllung zielenden Kommunikation stammt, gezeigt wurde, ist die Sinnlichkeit von vornherein auf das praktische Interesse im Bereich der »Wertnehmung« gerichtet. Andererseits ist völlig klar, dass keine 425 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Praxis ohne Basis der Erkenntnis aus Sinnlichkeit eine Praxis sein kann. Aus diesen Gründen hat die völlige Trennung zwischen Erkenntnis (Theorie) und Praxis keinen Sinn. In dieser neuen Erkenntnistheorie der Praxis hat die ethische Entscheidung ihr Objekt nicht mehr im Gegensatz von Sein als empirische Tatsachen und Sollen als Gesetz der praktischen Vernunft im Sinne Kants, sondern im neuen Rahmen der personalistischen Einstellung Husserls, in der die ethische Entscheidung durch die vernünftige Motivation getroffen wird, die die assoziative, intermonadische Motivation voraussetzt und durch die aktive Synthesis der praktischen Bewertung der vorgegebenen assoziativen Motivationen fungiert. e) Levinas hat die Dimension der Ethik aus der Ich-Du-Beziehung wegen seiner Auffassung der Ich-Du-Beziehung als einer symmetrischen Beziehung nicht anerkannt. Aber die »Großmut des Opfers, außerhalb des Bekannten und Unbekannten, ohne Berechnung, da die Großmut auf das Unendliche geht« 55, entspricht der Selbstlosigkeit, ohne die die Ich-Du-Beziehung nicht entstehen kann. Wenn er von der reinen Kommunikation ohne Worte und Sätze in der »Besessenheit« 56 spricht, betont er auch, dass diese Kommunikation gleichzeitig das »Bereits-hingeordet-Sein« auf die Verantwortung und Liebe bedeutet 57. Diese Behauptung ist unschwer so zu interpretieren, dass das Hingeordnet-Sein zur intermonadischen Kommunikation der Kindheit auf der ersten Stufe des Schweigens gehört. Aber die Verantwortung und Liebe werden bei Levinas nur von der Seite des Erwachsenen her gedacht, sodass die Seite des Kindes, der Ich-Du-Beziehung des Kindes zu Menschen und Umwelt fehlt. Diese Verantwortung und Liebe bei Levinas könnten der Kommunikation ohne Worte und Sätze auf der dritten Stufe des Schweigens entsprechen. Jedoch kommt diese Entsprechung wegen des Formalismus Levinas’, der die Begegnung mit dem Du, das natürlichkonkret als leibliche Existenz in der Geschichte und der räumlichen Welt lebt, gerade wegen des konkreten Inhalts des Du strikt ablehnt, nicht zustande. f) Der so entstandene Verlust des eingeborenen Du und des Du der Ich-Du-Beziehung bei Levinas bedeutet, dass auch die vor-ichliche Zwischenleiblichkeit und die Wirklichkeit des Zwischen der Ich55 56 57

E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 257. A. a. O., S. 281 ff. Vgl. a. a. O., S. 284.

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Du-Beziehung, die die Basis für die die monadische Gemeinschaft bejahende Ethik und die Ethik des Schweigens in der Monadengemeinschaft sein können, verlorengehen. Der Verlust des eingeborenen Du führt zum Verlust der positiven Beziehung des Kleinkindes, das die Selbstlosigkeit vor der Bildung des Ich-Pols unmittelbar lebt, zur Umwelt. Aus der intersubjektiven Perspektive der Entwicklungspsychologie Sterns hat der Verlust des eingeborenen Du in Bezug auf die interemotionale Kommunikation zwischen Mutter und Kind eine entscheidende negative Wirkung. Auch im Bereich der Ethik, in der es auf die Begegnung mit der Andersheit des Anderen ankommt, besteht die Gefahr, mit dem Verlust des Du in der Ich-DuBeziehung den Kernbereich der Ethik zu verlieren. Für Levinas gehört der Inhalt des Du zum Bereich des »Ich-Es-Verhältnisses«, in dem dieser Inhalt von der (aktiven) Intentionalität konstituiert wird und die Andersheit des Anderen vergegenständlicht werden muss. In Levinas’ Begriff der »Nähe« ist es undenkbar, dass individuelle, je einmalige Inhalte, die zum Du gehören, im Licht des Du als das durch die passive Synthesis der Assoziation im Hintergrund des Bewusstseins Vorkonstituierte vor der Vergegenständlichung, die für das Denken der Kausalität notwendig ist, lebendig sind. 6)

Selbstlosigkeit und Ethik des Schweigens

Auf die bisherige Darstellung zurückblickend, soll hier eine zusammenfassende Betrachtung über die Ethik des Schweigens auf den drei Stufen erfolgen. Die erste Stufe des Schweigens ist die Stufe, auf der die ursprüngliche Differenz zwischen eigenem und anderem Leib erst durch die Leibzentrierung entsteht, die in der vorsprachlichen, ursynästhetischen Zwischenleiblichkeit, der Bildung der einzelnen Empfindungsfelder entsprechend, gestiftet wird. Auf dieser Stufe kann die Ich-Du-Beziehung, die Beziehung zum eingeborenen Du der Umwelt, entstehen. Aus dieser Beziehung entsteht allmählich das Subjekt des Ichs, das das Ich des Ich-Es-Verhältnisses bildet. Dann wird der Unterschied zwischen dem eigenen Leib und dem anderen Leib durch die Leibzentrierung urbewusst, und so entsteht die Differenz des Selbstbewusstseins des Ichs und des Bewusstseins des Anderen, von Subjekt und Objekt. Auf dieser Stufe entwickelt sich dann die Wahrnehmung des Gegenstandes durch die aktiven Intentionalitäten, deren Bewusstseinsakt selbst inmitten seines aktiven Vollziehens urbewusst wird. Auf dieser zweiten Stufe lebt man im Ich-Es427 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Verhältnis. Auf der dritten Stufe geschieht die Ich-Du-Beziehung in der personalistischen Einstellung Husserls. Inmitten des Alltags, im Ich-Es-Verhältnis, kann die Ich-Du-Beziehung entstehen, damit das Ich durch die Ich-Du-Beziehung zum »echten Selbst« werden kann. Die Ich-Du-Beziehung aber hat ihren Platz in der teleologischen Entwicklung der gesamten monadologischen Phänomenologie. a) Die Ethik des Schweigens auf der dritten Stufe ist unter verschiedenen Aspekten beschreibbar. Das erste Beispiel ist das schon oft erwähnte Beispiel der Ich-Du-Beziehung zwischen dem elfjährigen Buber und einem Pferd. Dabei ist entscheidend, dass die »Rückbiegung« auf sich selbst nicht geschieht. Die vollständige Zuwendung zum Du ohne Reflexion auf sich selbst ist bei der Ich-Du-Beziehung bei Buber, Husserl und auch bei Nishidas reiner Erfahrung wesentlich. Dies lässt sich allgemein als die Selbstlosigkeit ohne Selbstbezogenheit bezeichnen. Diese Selbstlosigkeit kann vom Aspekt der passiven Synthesis der Assoziation und Affektion her erkenntnistheoretisch in der Dimension der transzendentalen Zeitigung auf strengste Weise evident gemacht und begründet werden. Wir haben gesehen, dass der Aspekt der passiven Synthesis ohne Ich-Aktivität die Selbstlosigkeit der IchDu-Beziehung in der Kindheit vor der Bildung des Ich-Pols, nämlich des Selbst bei Buber, gerade wegen des Vermögens der passiven Intentionalität ohne Beteiligung der Ich-Aktivität erkenntnistheoretisch auf evidente Weise begründen kann; außerdem konnte man sehen, dass die reine Erfahrung vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt bei Nishida von der passiven Synthesis her, nämlich von der unbewusst fungierenden assoziativen Synthesis ohne Ich-Aktivität des bereits gespalteten Subjekts des Ichs, phänomenologisch begründet werden kann. Vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt entsteht die reine Erfahrung, die durch die unbewusste Retention der passiven Synthesis bereits vorkonstituiert vorgegeben und nachträglich zur bewussten Konstitution im gespalteten Subjekt und Objekt gebracht wird. b) Wenn aber die reine Erfahrung vom Standpunkt des absoluten Anderen, des ewigen Du aus interpretiert wird, entsteht die Gefahr, die Ich-Du-Beziehung einzig und allein von der unmittelbaren Beziehung zwischen dem Ich und dem Absoluten her aufzufassen und das einzelne Du als Mensch, Natur und Geist, also als Welt in der Ich-DuBeziehung zum einzelnen Du in der konkreten Geschichte und Gesellschaft in die Dialektik des Absoluten völlig einzuordnen und be428 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

deutungslos werden zu lassen. Um diese Gefahr zu vermeiden, ist die Selbstlosigkeit der reinen Erfahrung und im Mahayana-Buddhismus im Kontext des Unterschiedes zwischen der Beziehung zum einzelnen Du und zum ewigen Du zu betrachten. Dabei ist die Betrachtung über die zweite Stufe des Schweigens notwendig, weil die Ich-DuBeziehung zum einzelnen Du nur in der konkreten Gesellschaft verwirklicht werden kann. c) Im ethischen Kontext der Gesellschaft spielt die zweite Stufe des Schweigens und des Sprechens eine entscheidende Rolle. Das Schweigen auf der zweiten Stufe bedeutet aber keine bloße Pause während des Sprechens. Das Sprechen setzt das Schweigen auf der ersten Stufe als Basis für die intermonadische, zwischenleibliche Kommunikation der passiven Intersubjektivität notwendigerweise voraus. Das Schweigen der dritten Stufe ist nach Buber die Wiederverwirklichung des Schweigens der ersten Stufe. Das auf der zweiten Stufe vorausgesetzte, verborgen wirkende Schweigen der ersten Stufe nimmt seine Gestalt als »Verantwortung und Liebe«, »Frage und Antwort« in der Ich-Du-Beziehung an, der dritten Stufe des Schweigens. Aber andererseits ist es sehr wichtig, dass das Schweigen der dritten Stufe nur auf der zweiten Stufe des Schweigens und des Sprechens, nämlich im Bereich des Ich-Es-Verhältnisses, verwirklicht werden kann. Nicht die vorethische Stufe der intermonadischen, emotionalen Kommunikation, sondern die Stufe der Ethik ist die gesprochene und geschriebene Ethik in der aktiven Intersubjektivität der Gesellschaft. Aber diese Ethik vollendet ihr Ziel nicht auf dieser zweiten Stufe, weil die ethische Entscheidung des freien Willens nur aus der vollständigen, selbstlosen Zuwendung zur Sache selbst entstehen kann, also aus der Ich-Du-Beziehung, in der der Rückblick der Reflexion, die »Rückbiegung« 58 auf sich selbst als Subjekt und die Vergegenständlichung der Dinge als Objekt, völlig verschwunden ist. d) Die ethische Entscheidung wird durch den Grundsatz von Freiheit und Verantwortung der einzelnen Person in der Gesellschaft getroffen. Die kritische Frage der Begründung der freien, selbstbewussten Entscheidung, die durch die Entdeckung der zeitlichen Verzögerung unseres sensorischen Bewusstseins von B. Libet verschärft wird, wurde bereits oben ausführlich behandelt. Die unbewusste Retention der passiven Intentionalität ist dabei der Schlüsselbegriff für die evidente Begründung der freien Entscheidung der 58

M. Buber, Werke I, S. 197.

429 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

aktiven Intentionalität. Die erstaunliche Leistung der unbewussten Retention zeigt sich darin, dass sie zwischen willentlicher, selbstbewusster Körperbewegung und unwillentlicher, unbewusster Körperbewegung, z. B. beim plötzlichen Bremsen eines Zuges, apodiktisch evident unterscheiden kann. Dieses Unterscheidungsvermögen selbst entwickelt sich auf der ersten und zweiten Stufe des Schweigens in der intermonadischen Kommunikation. Der Unterschied zwischen der passiven und der aktiven Kinästhese kann durch das Urbewusstsein vom Vorangehen der passiven Kinästhese getroffen werden. Dieses Urbewusstsein selbst kann nur durch die unbewusste Retention entstehen, die den Sinn der Kinästhese als solchen durch die assoziative, wechselseitige Weckung zwischen hyletischen Momenten der Umwelt und der Triebintentionalität des Lebewesens unbewusst vorkonstituiert und erhält. Andererseits kann dieses Urbewusstsein erst entstehen, wenn sich die aktive Kinästhese der aktiven Intentionalität auf der Basis der passiven Kinästhese entwickelt hat. Das Bewusstsein von der aktiven Kinästhese setzt das Urbewusstsein von der »Null-Kinästhese« voraus, das wiederum als das Urbewusstsein von der Kinästhese des einzelnen Empfindungsfeldes aus der Ursynästhesie des Kleinkindes entsteht. Somit ist die Begründung der Freiheit darin gegeben, dass die selbstbewusste Freiheit als die aktive Intentionalität durch die Fundierung der passiven Intentionalität der unbewussten Retention, nämlich durch das Urbewusstsein des Vorangehens der unbewussten passiven Synthesis der passiven Kinästhese, apodiktisch evident erlebt wird. e) Diese Begründung beinhaltet zunächst, dass der Unterschied zwischen der passiven, unbewussten Kinästhese und der aktiven, willentlichen Kinästhese apodiktisch evident ist, und zweitens, dass der Sinn der passiven, unbewussten Kinästhese nur intentional von der Triebintentionalität des Lebewesens, aber nicht naturwissenschaftlich durch einen kausalen Zusammenhang begründet werden kann, und schließlich, dass die Freiheit der willentlichen Körperbewegung als die aktive Intentionalität, die natürlich nicht durch den kausalen Zusammenhang erklärbar, sondern durch die passive Intentionalität fundiert ist, begründet werden kann. 7)

Wesensanschauung, Selbstlosigkeit und Ethik des Schweigens

Der japanische Philosoph Tetsuro Watsuji (1889–1960) hat darauf hingewiesen, dass die Wesensanschauung bei Husserl und das Schau430 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

en des Dharmas im abhängigen Entstehen, das nichts anderes als die Erleuchtung bei der Zen-Meditation bedeutet, gleichgesetzt werden können. 59 Er sagt: »Das ist nichts anderes, als […] die praktische Wirklichkeit als solche, so wie sie ist, zu betrachten und in der praktischen Wirklichkeit selbst den Dharma, der der Grund des Zustandekommens der Wirklichkeit ist, zu schauen; auch m. a. W., den natürlichen Standpunkt auszuschalten und auf dem Standpunkt der Ideation stehend das So-Sein der praktischen Wirklichkeit zu schauen; dies ist das echte Erkennen.« 60 Obwohl Watsujis Hinweis auf diese Gleichsetzung bzw. Entsprechung sehr interessant ist, ist für deren Begründung eine ausführliche Analyse des Prozesses sowohl der Wesensanschauung Husserls als auch des Schauens des Dharmas notwendig. Er unterlässt leider solch eine Bemühung. Aber in diesem Kontext ist der Zusammenhang besonders wichtig, dass die Wesensanschauung und die Erleuchtung grundsätzlich als ein Geschehen innerhalb der aktiven, kreativen Intersubjektivität betrachtet werden müssen und somit diese Gleichsetzung bzw. Entsprechung eine entscheidende Rolle im Hinblick auf eine phänomenologische Begründung der Ethik des Schweigens auf der dritten Stufe, nämlich in der Ich-Du-Beziehung, haben kann. a) Die Wesensanschauung bzw. Ideation bei Husserl hat drei wichtige Etappen: Exemplifikation, freies Phantasieren und Konstitution (Erschauen) des Vorkonstituierten. Diese drei Etappen werden auch auf folgende Weise dargestellt: »1. erzeugendes Durchlaufen der Mannigfaltigkeit der Variationen; 2. einheitliche Verknüpfung in fortwährender Deckung; 3. herausschauende aktive Identifizierung des Kongruierenden gegenüber den Differenzen.« 61 Die Exemplifikation und das freie Phantasieren gehören zur ersten Etappe des Durchlaufens der Variationen. Die Hervorhebung der Exemplifikation ist deswegen wichtig, weil Exempel mit beliebigem Ausgang auch Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschungen umfassen. Daher ist es eindeutig, dass die Wesenserschauung die Forschung der Naturwissenschaft von ihrem Gebiet nicht ausschließt, sondern vielmehr positiv als ein Exempel, als »Vorbild« für das gesuchte Wesen aufnimmt. Diese positive Haltung zur naturwissenschaftlichen For59 60 61

Vgl. I. Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft, S. 172 f. T. Watsuji, Genschi-bukkyo no jissentetsugaku, S. 154, Anm. 16, S. 165. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 419.

431 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

schung in der Wesenserschauung entspricht genau der Haltung, die in der Ich-Du-Beziehung zum Ich-Es-Verhältnis, zu dem auch die Forschung der Naturwissenschaft gehört, eingenommen wird. In der Ich-Du-Beziehung gibt es kein Ich-Es-Verhältnis, das davon ausgeschlossen werden kann. b) Die zweite Etappe, die einheitliche Verknüpfung in fortwährender Deckung, und die Art und Weise dieser Verknüpfung werden im folgenden Zitat aus Husserls »Erfahrung und Urteil« ausführlich dargestellt: »Voran liegt der Übergang vom Ausgangsexempel, das die Leistung gibt und das wir Vorbild nannten, zu immer neuen Nachbildern, mögen wir sie der ziellosen Gunst der Assoziation und Einfällen passiver Phantasie verdanken und sie uns nur willkürlich als Exempel zueignen, oder mögen wir sie durch pure eigene Aktivität phantasiemäßigen Umfingierens […] gewonnen haben. Bei diesem Übergang von Nachbild zu Nachbild, von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit kommen alle die beliebigen Einzelheiten in der Folge ihres Auftretens zu überschiebender Deckung und treten rein passiv in eine synthetische Einheit […]. Erst in dieser fortlaufenden Deckung kongruiert ein Selbiges, das nun rein für sich herausgeschaut werden kann. Das heißt, es ist als solches passiv vorkonstituiert, und die Erschauung des Eidos beruht in der aktiven schauenden Erfassung des so Vorkonstituierten […].« 62 Hier wird deutlich, dass die Art und Weise der einheitlichen Verknüpfung als die passive Synthesis der Assoziation charakterisierbar ist. Die überschiebende Deckung durch die assoziative Vereinheitlichung wurde bereits im Kontext der Begründung der Intersubjektivität erwähnt. Sie spielt nicht nur, wie sich hier zeigt, eine Rolle für die Analyse des Prozesses der Wesenserschauung, sondern auch für die Analyse der bereits fungierenden assoziativen Synthesis der Paarung der Zwischenleiblichkeit. Das heißt, wenn ich den Anderen bloß sehe, fungiert in mir, bewusst oder unbewusst, schon die Wesenserschauung des anderen Menschen als des die Vereinheitlichung zwischen Leib und Seele Lebenden. Die Wesensanschauung, die schon in allen einzelnen Empfindungsfeldern und bei jeder Wahrnehmung eines Gegenstandes am Werk ist, hat ihre Genesis in der passiven und aktiven Intersubjektivität. c) Hier ist die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis die passive und aktive Phantasie in der Wesenserschauung zueinander stehen. 62

A. a. O., S. 413 f.

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Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

Die Phantasie ist eine Art der Vergegenwärtigung, die aber keinen unmittelbaren Bezug auf die Wahrnehmung eines Gegenstandes hat. Erinnerung und Erwartung haben aber eine Bezugnahme auf die damalige bzw. zukünftige Wahrnehmung. Die passive Phantasie gehört zur passiven Synthesis der Assoziation, durch die alle Sinnzusammenhänge unterbewusst gebildet werden. Das aktive Phantasieren, Umfingieren spielt für die Wesenserschauung eine zentrale Rolle, um frei von der mit der sogenannten objektiven Raumzeitlichkeit eng verbundenen Wirklichkeit der Tatsachen den Bereich der offenen Möglichkeit der freien Variationen zu eröffnen. Genauso wie die passive Phantasie ihre Genesis nicht in der isolierten einzelnen Person, sondern in der passiven Intersubjektivität der intermonadischen Kommunikation hat, hat das aktive Phantasieren der freien Variation ihre Genesis in der aktiven Intersubjektivität der interpersonalen Gemeinschaft des Gemeingeistes. Somit wird klar gezeigt, dass die Wesenserschauung nicht als eigene Erfahrung der einzelnen Person, sondern wesentlich als ein intersubjektives Ereignis, das durch den Reichtum der intermonadischen Kommunikation entsteht, vollzogen wird. d) Durch die Analyse der Wesensanschauung wird die Betrachtung des Prozesses der ethischen Entscheidung in der aktiven Intersubjektivität aufschlussreicher. Zunächst wird durch den Aspekt der passiven Genesis der passiven Synthesis der Assoziation die tiefere Analyse der eigenen, unbewusst wirkenden Empfindungsfelder möglich, in denen die vorethische Sinnlichkeit intermonadisch gebildet wird. Dann wird durch den Aspekt der in der passiven Genesis fundierten aktiven Genesis der aktiven Intersubjektivität die Analyse der kreativen aktiven Synthesis der Ich-Du-Beziehung möglich, wo die völlige selbstlose Zuwendung des Ichs zum Du ohne Rückbezogenheit auf sich selbst vor der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, also vorlogisch und vorsprachlich in der kreativen aktiven Kommunikation entsteht. Die echte ethische Entscheidung entsteht so wie die Wesenserschauung durch die tiefere Analyse der passiven Genesis der eigenen Sinnlichkeit in der passiven, unreflexiv-zwischenleiblich gelebten Intersubjektivität in der je verschiedenen Lebenswelt und durch das Eintreten in die Haltung der Ich-Du-Beziehung in Bezug auf das jeweilige ethische Problem in der interpersonalen Gemeinschaft. Die Analyse der aktiven Intersubjektivität der Ich-Du-Beziehung gibt uns die für die echte ethische Entscheidung elementaren Momente: selbstlose Zuwendung und Responsivität bzw. Freiheit 433 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

und Verantwortung. Also wird durch die völlige Zuwendung zu einem ethischen Problem, d. h. durch die Analyse der jetzigen Problemlage, durch die Erinnerung an die darauf bezogenen vergangenen Erlebnisse und durch die Vermutung, Hoffnung oder Erwartung der Problemlösung in der Zukunft, das Problem sehr vielseitig, intensiv, lang und gründlich erlebt und durchdacht. Dieses Erleben und Durchdenken vollzieht sich natürlich im Kontext der aktiven Intersubjektivität. Dadurch entsteht die gesuchte Problemlösung wie von selbst aus der Ich-Du-Beziehung in Bezug auf das Problem, wie auch das passiv-unbewusst Vorkonstituierte von der aktiven Erfassung anschaulich zur echten Erkenntnis gebracht wird. e) Durch die Analyse des Prozesses der Wesenserschauung ist die Analyse der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung und der Selbstlosigkeit bei der Zen-Meditation zugänglicher geworden. Dabei ist besonders interessant, dass die Methode des Abbaus der genetischen Phänomenologie Husserls und die Zen-Meditation als die Methode des praktischen Abbaus der Egozentrik für die Annäherung an die Ethik der dritten Stufe des Schweigens einander gegenübergestellt werden können. Die praktische Eigenschaft des Abbaus bei der Zen-Meditation kann daran deutlich gezeigt werden, dass das Inhibieren der willentlichen Körperbewegung zur radikalen Reduktion, zum Abbauen der aktiven Intentionalitäten mit Ich-Aktivität führt. Bei der Zen-Meditation wird der Hinweis gegeben, während des mehr als eine halbe Stunde dauernden, wiederholten Zen-Sitzens immer still zu halten, keine Körperbewegung zu vollziehen und sich gar nichts vorzustellen oder zu denken. Bei diesem Sich-jeder- Körperbewegung-Enthalten gibt es keine Gelegenheit, die aktive Kinästhese, die bei der willentlichen Körperbewegung urbewusst wird, zu empfinden. Dadurch gibt es auch wesentlich weniger Gelegenheiten, die mit der aktiven Kinästhese eng verbundenen anderen aktiven Intentionalitäten, wie z. B. die aktive Intentionalität der visuellen Wahrnehmung der Umwelt, im Urbewusstsein zu haben. Wenn die aktive Kinästhese nicht empfunden wird, fehlt die weckende Kraft, die aus der Erfüllung der impliziten Intentionalität der assoziativen Synthesis zwischen der Kinästhese und der visuellen Wahrnehmung entsteht. Dadurch geht die affektive Kraft aus der passiven Synthesis dieser assoziativen Verbindung immer mehr verloren. Dann verliert die Aufmerksamkeit der Ich-Aktivität ihr Objekt, die aktive Kinästhese, und somit entsteht immer seltener eine Gelegenheit, in der die assoziative Synthesis 434 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

zwischen den beiden wechselseitig geweckt wird und ihre affektive Kraft den Ich-Pol affiziert. Das bedeutet das Abbauen der bestimmten aktiven Synthesis zwischen der aktiven Kinästhese und der aktiven visuellen Wahrnehmung. f) Aber dieses Abbauen der aktiven Intentionalität beinhaltet keine Negation, die die bestimmte aktive Synthesis unterdrückt. Das Abbauen dieser aktiven Synthesis entsteht dadurch, dass sich die intensive Aufmerksamkeit einzig und allein auf den natürlich geschehenden, nicht absichtlichen Atemzug richtet und alles andere völlig ignoriert wird. Dieses »Gerichtet-Sein« ist aber keine interesselose Betrachtung des eigenen Atemzugs durch den »transzendentalen Zuschauer«, sondern das völlige Eins-Werden mit dem Atemzug, wie es beim Bogenschießen bei E. Herrigel der Fall ist. Ob jemand den Bogen im völligen Eins-Sein mit dem eigenen Atemzug spannt oder nicht, zeigt sich unmissverständlich in dem unmittelbaren Erlebnis, dass das vorstellungslose, gedankenlose Eins-Sein mit dem Atemzug, das sich natürlich, ohne Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, sprachlos im tiefen und klaren Schweigen ereignet, durch das Eintreten bestimmter Empfindungen, z. B. Spannung, Schmerzen usw., oder bestimmter Gedanken, z. B. Zweifel, »ob ich den Bogen richtig spanne oder nicht«, zerfällt und zerstört wird. Das entspricht ganz genau der »Rückbiegung« im Fall der Begegnung zwischen dem elfjährigen Buber und dem Pferd, die den Zerfall der Ich-Du-Beziehung ohne Spaltung zwischen Subjekt und Objekt ins Ich-Es-Verhältnis mit der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt bringt, wo die Sprache erst anfängt. g) Die völlige Zuwendung zur ethischen Frage, die der Haltung der Ich-Du-Beziehung in Bezug auf die ethische Frage entspricht, kann erst durch das »Selbstlos-Werden« bei der Wesenserschauung und der Zen-Meditation verwirklicht werden. Die Wesenserschauung wird durch die passive und aktive Synthesis vollzogen. In der passiven Synthesis ist schon die Selbstlosigkeit am Werk, weil auf dieser Ebene der Kindheit noch kein Selbst des Ich-Pols ausgebildet ist. Aber in der aktiven Synthesis der aktiven Intersubjektivität wird die Selbstlosigkeit erst verwirklicht, wenn die Ich-Du-Beziehung in der Mitte des Ich-Es-Verhältnisses, das in der Spaltung zwischen Subjekt des Ichs und Objekt der Umwelt immer egozentrisch fungiert, vollzogen wird. Durch intensive, auch aktiv phantasierende Überlegungen in Bezug auf eine ethische Frage reicht meine Reflexion tief in den Bereich meines Unterbewusstseins, woraus der mir verborgene, 435 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

unbewusst wirkende Wille zum Leben, die Urmotivation, zum Leben emporzusteigen, möglich wird. Diese intensive, aktive Überlegung wendet sich der eigenen Vergangenheit zu und wandelt sich zum Wiedererleben der Vergangenheit in Form der intensiven Wiedererinnerung. Dort begegne ich aber, wie Nishida sagt, dem transzendenten, vergangenen Ich gerade nicht, sondern dem damals verborgen gebliebenen Du in meiner eigenen Vergangenheit. Diese Überlegung wendet sich der Zukunft der Hoffnung zu. Auf diese Weise, durch die Ich-Du-Beziehung in Bezug auf ein ethisches Problem, werde ich durch die vielseitigen und tiefen Überlegungen eins mit dieser Frage selbst. 8)

Selbstlosigkeit im Ich-Es-Verhältnis und in der Ich-Du-Beziehung

Hinsichtlich der Bedeutung der »Selbstlosigkeit« bzw. »Ichlosigkeit« muss man den Gebrauch dieses Wortes bei Husserl differenziert betrachten. »Ichlos« kann man auch bei der intensiv wiederholten Wiedererinnerung eines eindrucksvollen Erlebnisses in der eigenen Vergangenheit werden. 63 Genauso wie in der natürlichen Einstellung des »Dahinlebens« im Alltag können beide, das Ich-Es-Verhältnis und auch die Ich-Du-Beziehung, am Werk sein. »Ohne Reflexion auf sich selbst« entspricht dem Dahinleben im Alltag und der Selbstlosigkeit in der Ich-Du-Beziehung. Aber beim Ich-Es-Verhältnis gibt es einen bestimmten Zweck in einer bestimmten Handlung: die Zweck-Mittel-Relation, um etwas zu erreichen. Beim Vollzug jeder bestimmten Handlung in der aktiven Intersubjektivität im Alltag ist die Ich-Aktivität der aktiven Intentionalität urbewusst. Diese ichzentrische aktive Intentionalität als solche kommt meistens, obwohl sie urbewusst ist, nicht zu Bewusstsein. Das Urbewusstsein der fungierenden Ich-Aktivität wird durch den theoretischen Abbau bei Husserl und durch den praktischen Abbau in der Zen-Meditation ans Licht der Reflexion, also zum Selbstgewahren gebracht. a) Also wird das Wesen des Ich-Es-Verhältnisses im Alltagsleben Husserl sagt dazu: »Ich lebe ganz versunken in Erinnerung, träumend, das heißt, mein gegenwärtiger Erlebnisstrom ist in eigener Weise ichlos, ohne wirkliche Ichakte, die vom Jetzt her […] auf Jetziges und durch bewußt jetzige Vergegenwärtigungen hindurch auf Vergangenes zugehen« (Hua XI, 308).

63

436 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Andersheit des Anderen in der Ethik der interkulturellen Phänomenologie

der Gesellschaft durch die höchst kreative Aktivität des Philosophierens und des Meditierens (der Versenkungsübung) anschaulich und evident. Das Wesen der Liebe wird durch den Kontrast zwischen der Familienliebe und der sozialen Liebe, das Wesen der Ethik durch den Kontrast zwischen dem Vorethischen und dem Ethischen anschaulich und evident. Bisher ist das Wesen der Ethik unter dem Aspekt der drei Stufen des Schweigens betrachtet worden. b) Die Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung ist dadurch charakterisierbar, dass zunächst das Ich der Ich-Du-Beziehung nicht im Interesse eines Zweck-Mittel-Verhältnisses lebt, dass zweitens in der Ich-Du-Beziehung keine »Rückbiegung« geschieht, während im IchEs-Verhältnis das Selbstbewusstsein des Ichs und die vergegenständlichte Welt ständig am Werk sind, und zum Dritten, dass in der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung die echte Kenntnis der Dinge, des Menschen und des Geistes entsteht. Das betrifft auch die Kenntnis des Wesens der Selbstlosigkeit der Ethik. Also stammt das Wesen der Ethik, des praktisch-vernünftigen Urteils über Gut und Böse aus der Ich-Du-Beziehung in Bezug auf ein bestimmtes ethisches Problem. Und schließlich ist die Selbstlosigkeit in der Ich-Du-Beziehung dadurch charakterisierbar, dass die Selbstlosigkeit auch als das »Vor der Spaltung von Subjekt und Objekt« bestimmt wird. Erst nach der Spaltung, d. h. dem Zerfall der Ich-Du-Beziehung zum Ich-Es-Verhältnis werden das Selbst des Subjekts und die Welt als das Objekt bewusst. Aber in der »Ichlosigkeit« des Ich-Es-Verhältnisses in der natürlichen Einstellung ist die Spaltung von Subjekt und Objekt immer am Werk, obwohl die Selbstlosigkeit der passiven Synthesis in der passiven Intersubjektivität immer der aktiven Synthesis in der aktiven Intersubjektivität vorangeht und die Erstere die Letztere fundiert. c) In Bezug auf die erste Charakterisierung des Zweck-MittelVerhältnisses im Ich-Es-Verhältnis gibt es aber in der Ich-Du-Beziehung bezüglich der ethischen Frage keine von Anfang an vorgegebene Antwort, als ob die gestellte Frage nur ein Mittel für die Überzeugung des schon von vornherein bezweckten Urteils wäre. Im Rahmen eines Zweck-Mittel-Verhältnisses kann eine ernste ethische Frage nicht gestellt werden. Eine echte Frage und eine Scheinfrage sind streng voneinander zu unterscheiden. Zweitens bedeutet die Rückbiegung die immer wieder gestiftete Egozentrik, die sich immer wieder in das eigene Selbstbewusstsein mit ihrem fest bestimmten Standpunkt zurückzieht. Aber das starke 437 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Beharren auf dem eigenen Standpunkt mit dem Selbstbewusstsein verhindert die höchst aktive selbstlose Zuwendung zur Frage. Die Angst vor einer Veränderung des Standpunktes lässt es so erscheinen, als ob die Veränderung der Verlust der eigenen Identität wäre. Das echte Ich und das echte Du verwirklichen sich erst in der selbstlosen Ich-Du-Beziehung, d. h. in der völligen Zuwendung zur ethischen Frage selbst. Drittens stammt die echte Erkenntnis des Wesens der Ethik, von Gut und Böse aus der Haltung der Ich-Du-Beziehung in Bezug auf die betreffende Frage. Das heißt, die bewusste Antwort auf die Frage bildet ihre konkrete Gestalt durch den Zerfall der Ich-Du-Beziehung heraus, so wie das Wesentliche der Andersheit des Anderen in der Begegnung mit dem Pferd nach der Rückbiegung vonseiten des elfjährigen Jungen in seinem ganzen Leben als solche lebendig geblieben ist. Das Wesentliche der Andersheit des Anderen, die den Kernbegriff der Ethik darstellt, ist in dieser Ich-Du-Beziehung als unmittelbar erlebt gegeben. In der reinen Erfahrung bei Nishida ist das Wesentliche des Dinges, des Anderen und des absoluten Anderen durch den praktischen Abbau der aktiven Synthesis, ohne Bezogenheit auf bestimmte Eigeninteressen, in der bloßen lauteren und reinen Empfindung aufgenommen und im Schauen der Dharmas unter der Gesetzmäßigkeit ihres abhängigen Entstehens unmittelbar evident gegeben. Die Vergleichbarkeit zwischen dem abhängigen Entstehen der Dharmas und der passiven Synthesis der Assoziation wird somit zu einer sehr interessanten und wichtigen Aufgabe der interkulturellen Philosophie. Schließlich wird in Bezug auf die vierte Charakterisierung der Selbstlosigkeit der Ich-Du-Beziehung, nämlich das »Vor der Spaltung von Subjekt und Objekt«, die Ethik des Schweigens auf der dritten Stufe erschlossen. Es ist eindeutig, dass das Ich-Es-Verhältnis, obwohl die Ichlosigkeit als Anonymität im natürlichen Dahinleben vorherrscht, nur unter der Voraussetzung der Spaltung von Subjekt und Objekt, also in einem Zweck-Mittel-Verhältnis für ein bestimmtes Eigeninteresse fungieren kann. Demgegenüber lässt sich das Vorangehen der Ich-Du-Beziehung vor der Spaltung von Subjekt und Objekt als das Vorangehen des »Zwischen« der Ich-Du-Beziehung bezeichnen. Die Ich-Du-Beziehung entsteht nicht zwischen dem bereits existierenden Ich und Du, vielmehr entstehen durch die Ich-DuBeziehung als das Zwischen das Ich und das Du in der Ich-Du-Beziehung. Durch die Ich-Du-Beziehung wird das selbstbewusste Ich zum echten Selbst des Ichs und des Du. 438 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

3.

Die Integration des sozialen Systems Luhmanns in die genetische Phänomenologie Husserls

Luhmanns Systemtheorie zeigt ihre Auswirkungen nicht nur im Bereich der Soziologie, sondern sie erstreckt sich auch auf die Bereiche der benachbarten Wissenschaften wie der Wirtschaftswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Psychologie und sogar, wie in »Rezeption und Reflexion« 64 gezeigt, auch der Theologie. Umso interessanter erscheint es mir, ihre Einsichten und methodischen Zugangsweisen zur sozialen Wirklichkeit und die Einsichten und Methoden der genetischen Phänomenologie Husserls, die die Genesis der Sinnbildung aus den jeweiligen Lebenswelten zu erhellen versucht, einer komparativen Betrachtung zu unterziehen. Hierbei sind besonders Luhmanns Aufnahme und Bearbeitung von Maturanas und Varelas Theorie der Autopoiesis kritisch zu betrachten.

§ 1. Das Paradox des Rechts in der Abgeschlossenheit und Offenheit des sozialen Systems Luhmanns Aufsatz »Rückgabe des zwölften Kamels: Zum Sinn einer soziologischen Analyse des Rechts« thematisiert das Paradox des Rechts. Dieser Aufsatz gab mehreren Forschern aus verschiedenen Perspektiven Anlass zur Diskussion. Der Aufsatz und diese Diskussion wurden im Band »Rückgabe des zwölften Kamels. Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit« 65 publiziert. Zunächst möchte ich gerne dieses Paradox mit Husserls paradoxem Begriff der transzendentalen Faktizität 66 vergleichen und das Verhältnis zwischen beiden zu erklären versuchen. Als typisches Beispiel des Paradoxes des Rechts wird das Paradox des zwölften Kamels angesehen, das den folgenden Fall schildert: Ein reicher Kamelbesitzer wollte im Rahmen seines Nachlasses Kamele an seine drei Söhne vererben. Nach dem damaligen Erbrecht sollte an den ersten Sohn die Hälfte, an den zweiten ein Viertel, an den dritten ein Sechstel verteilt werden. Als ihr Vater, der Kamelbesitzer, gestorben war, waren nur elf Kamele vorhanden. Der erste 64 65 66

Vgl. H. d. Berg, J. Schmidt (Hg.), Rezeption und Reflexion. Vgl. G. Teubner (Hg.), Rückgabe des zwölften Kamels. Vgl. dazu oben, S. 82.

439 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

Sohn verlangte nun gemäß dem Nachlass sechs Kamele, was aber mehr als die Hälfte der Kamele wäre. So schlug der Richter vor, das zwölfte Kamel als Leihgabe anzubieten und dass es nach vollbrachter Arbeit sofort zurückgegeben werden sollte. Somit wurden rechtmäßig sechs Kamele an den ersten Sohn, drei Kamele an den zweiten und zwei Kamele an den dritten, also insgesamt elf Kamele, verteilt. 1)

Das Paradox von Geschlossenheit und Offenheit des Systems

Luhmann sieht dieses Beispiel als Paradox des Rechts an und fragt zunächst, ob das zwölfte Kamel wirklich notwendig war, dann, ob das zwölfte Kamel zurückgegeben wurde, d. h., ob das zwölfte Kamel wirklich angeboten wurde oder nur fiktiverweise ausgeliehen und zurückgegeben wurde. 67 Auf die erste Frage antwortet Luhmann, dass das zwölfte Kamel notwendig und gleichzeitig nicht notwendig war. Dieses Kamel stellt kein Modell oder Symbol der Umwelt dar, sondern verursacht selbst die symbolische Operation. Anders gesagt ist dieses Kamel die Selbstreferenz des lokalisierten Systems und lässt in der Selbstreferenz keine Unterscheidung zwischen Operation und Resultat zu. 68 Das zwölfte Kamel ist in diesem Sinne die Selbstreferenz des Systems und eine andere Ausdrucksweise für das Paradox der Operation des Systems, nämlich des Paradoxes von Geschlossenheit und Offenheit des Systems. Das System des Rechts als ein autopoietisches System abstrahiert die Geltung nicht von der Tatsache und sieht die »Geltung gleich als die Tatsache« an. Aus dieser Perspektive werden das Recht und die Gerechtigkeit betrachtet. Andererseits wird Husserls transzendentale Faktizität in einer Dimension gedacht, in der der dualistische Gegensatz zwischen Faktum und Wesen, Tatsache und Geltung nicht mehr gilt. Die transzendentale Faktizität liegt diesem dualistischen Denken voraus und fungiert im Bereich der passiven Genesis, wo die Tatsache erst zur Tatsache und die Geltung erst zur Geltung wird. Daher wird der Vergleich zwischen der paradoxen Operation im System Luhmanns, die die Geltung als Tatsache ansieht, und der transzendentalen Faktizität Husserls immer interessanter und wichtiger.

67 68

Vgl. G. Teubner (Hg.), a. a. O., S. 4. Vgl. ebd.

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Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

Die paradoxe Aussage, die Geltung als Tatsache anzusehen, entspricht genau dem Paradox der Operation des Systems, das darin besteht, dass die normative Geltung der Geschlossenheit des Systems entspricht und andererseits die Bereitschaft des kognitiven Lernens mit der Umwelt des Systems korreliert. 69 Dabei wird die Qualität des normativen Sollens als der Modus der Erwartung, die sich selbst den normativen Anspruch zuschreibt, charakterisiert. Die Erwartung hat ihren normativen Sinn, wenn sie trotz ihrer Enttäuschung als das Erhaltende vorausgesehen wird. 70 Hier zeigt sich klar, dass die Erwartung des Sinnes mit dem Begriff der Geltung in einen sehr engen Zusammenhang gebracht wird. Das heißt, die normative Geltung funktioniert als die Erwartung, gleich ob sie erfüllt oder enttäuscht wird. Die Geltung bestimmt mit der Offenheit des Lernens die Gradualität des Paradoxes, die in der Entfaltung der Differenzierung des Rechts je offener, desto geschlossener und je geschlossener, desto offener formuliert wird. 2)

Luhmanns Kritik an der Theorie der Fundierung Habermas’

Um die Frage des Verhältnisses zwischen Tatsache und Geltung im Zusammenhang mit der luhmannschen Aufnahme der Theorie der Autopoiesis zu klären, ist die Kritik Luhmanns an der Logik der Fundierung bzw. Begründung seitens Habermas’ wichtig. Luhmann kritisiert Habermas dahingehend, dass dessen Theorie der Fundierung das Paradox »Der gute Grund verursacht das schlechte Resultat« und das Paradox des zwölften Kamels nicht behandeln kann. Der Grund dafür liegt darin, dass Habermas’ Versuch, den guten Grund zu suchen und den Prozess der Begründung selbst als Diskursethik zu entwickeln, nichts anderes als der Versuch sei, im Zeitalter des Verlusts der traditionellen Topoi noch weiter das Universale zu suchen. Die rationale Begründung kann dem Paradox des zwölften Kamels deswegen nicht beikommen, weil ein solches Paradox entweder ausgeschlossen oder nur in den Verfahrensprozess der Selbstrevision eingebracht wird. 71 Obwohl das Resultat aus guten Gründen faktisch feststellbar ist, kann es als solches trotzdem noch keine Ungültigkeit der guten 69 70 71

Vgl. a. a. O., S. 25. Vgl. a. a. O., S. 26. Vgl. a. a. O., S. 42.

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Gründe selbst bedeuten. Wie Luhmann selbst sagt, kann das Paradox nicht als solches bestehen bleiben, vielmehr muss im Prozess der »Entparadoxierung« das Gültige immer weiter bestimmt werden, sodass das Gesetz nur auf diese Weise die Rolle der Konstitution der Erwartung spielen kann. 72 Das Charakteristische bei Geltung, Erwartung, Selbstreferenz und Geschlossenheit besteht darin, dass sie alle als »Tatsache« verstanden werden. Kritisch betrachtet sieht Luhmann die Tatsache als Tatsache an (also alles als Tatsache), was im herkömmlichen Verständnis der Philosophie der Neuzeit als Verhältnis zwischen Tatsache und Wesen aufgefasst wird. Die Differenzierung des Rechts als die Entparadoxierung sollte nicht wie bei Habermas universalisiert werden. Dann ist weiter zu fragen, welchen Unterschied es zwischen der Universalisierung Habermas’ und der Entparadoxierung Luhmanns gibt. 3)

Der Begriff der Redundanz

Die »Redundanz« erweist sich hier als ein Schlüsselbegriff der Systemtheorie, der in der Theorie von Habermas nicht erfasst werden kann. Die Redundanz bedeutet »Informationspotential«, das z. B. dem Begriff »Überdetermination« von Freud entspricht. Redundanz ist selbst in dem Sinne ein Paradox, dass das zwölfte Kamel überflüssig und gleichzeitig nicht überflüssig ist. Die Diskussion wirkt als die Begründung, die den Prozess der Entparadoxierung bedeutet. Als formale Beschreibung ist die folgende Aussage wichtig: »Die Kette der Entparadoxierung läuft von ›A weil nicht-A‹ zu ›A ist nicht-A‹ zu ›A ist nicht nicht-A‹ zu ›A ist B‹.« 73 a) Bei der Charakterisierung des Paradoxes des Rechts ist die Beschreibung des Prozesses der Entparadoxierung zentral. J. Clam analysiert den Begriff des Paradoxes und zeigt das »Zentrum der Grundparadoxie« unter dem Aspekt des »Wiedereintreten[s] der Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst« 74. Die Operation des Rechtssystems ist der Fall, »wenn das Selbst spezifiziert wird, wenn dessen Identität um ein Wesen, eine Wesensanschauung, eine Unterscheidung oder eine Grundoperation kristallisiert wird. So kann 72 73 74

Vgl. a. a. O., S. 45. Vgl. a. a. O., S. 41. J. Clam, Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, S. 126.

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Recht sich entwerfen als nur da konstituiert, wo ein gewisser Sinn, eine gewisse Intentionalität, ein gewisser Gegensatz (Dialektik), eine gewisse Funktion oder eine gewisse Abhebung bezeichneter Inhalte gegen ein ihnen Anderes vollzogen werden.« 75 Hier sieht man deutlich, dass Luhmann die Spezialisierung des Rechtssystems unter Begriffen wie der Wesensanschauung, der Intentionalität, des Sinnes, die jenen der Phänomenologie direkt entsprechen, versteht und theoretisiert. b) Im Paradox der gleichzeitigen Operation zwischen der Selbstidentität des Systems und seiner Offenheit gegenüber der Umwelt ist die Möglichkeit der Offenheit selbst zu thematisieren. Die Offenheit des Systems ermöglicht nach Clam trotz der Selbstzentrierung des Systems »Rückkoppelungen an ›lebendiges Recht‹ und Rechtsgefühl […], welche das Recht entschränken, und es […] in das Element undifferenzierter Sinnwahrnehmung lebensweltlichen Existierens sowohl diffundieren als es auch den unvermittelten Anregungen ungeschiedener Sinnfelder öffnen« 76. Interessant ist in der Tat die Offenheit des Systems, das gleichzeitig selbstreferenziell die eigene Identität gewinnt. Die Frage ist aber, wie diese Diffundierung in das Element undifferenzierter Sinnwahrnehmung lebensweltlichen Existierens überhaupt funktionieren kann. Diese Diffundierung solle Rückkoppelungen an lebendiges Recht und Rechtsgefühl bedeuten. Die Frage nach der Funktion der Diffundierung betrifft natürlich das Wie dieser Rückkoppelung selbst. Wenn die zwei verschiedenen Systeme der verschiedenen Kulturen durch Koppelung in Kommunikation gebracht werden können, muss die Selbstidentifizierung durch die Konstitution des Sinnes und die Offenheit für die verschiedenen Umwelten gleichzeitig funktionieren. Aber eine wichtige Frage lautet, wie diese doppelten Offenheiten gegenüber den jeweiligen Umwelten als Tatsache zugänglich und erlernbar sein können. Die Enttäuschung der »Erwartung« allein, die für die Differenzierung der sozialen Systeme die entscheidende Rolle spielen soll, hat keinen Zugang zur fremden Umwelt und fremden Selbstidentifizierung. c) Ein extremes Beispiel könnten die Texte im Diamant-Sutra des Mahayana-Buddhismus sein, die etwa lauten: »Ihr seid gut, ge-

75 76

A. a. O., S. 126 f. A. a. O., S. 127.

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rade weil ihr nicht gut seid.« 77 Die Texte im Diamant-Sutra sind voll mit solchen paradoxen Sätzen. Diese Lehre zeigt das lebendige Gesetz (Dharma) und zielt, wie oben ausführlich dargestellt, 78 auf das unmittelbare Erlebnis bzw. Anschauen dieses Gesetzes (Dharma) ab. Dieses Paradox wird unmittelbar erlebt. Strukturell entspricht der Satz Luhmanns »A weil nicht-A« der Lehre des Diamant-Sutra ganz genau. Die oben genannte Frage der Offenheit des Systems erweist sich hier als sehr viel problematischer und schärfer, weil die soziale Beobachtung die Religion nicht bloß unter dem Aspekt der »Reduzierung der Kontingenzen« verständlich machen kann. 79 Das Paradox des religiösen Erlebnisses im Mahayana-Buddhismus wird nicht wie bei Luhmann entparadoxiert, sodass der Satz »Ihr seid gut, weil ihr nicht gut seid« zum Satz »Ihr seid nicht-gut« zu »Ihr seid nicht nicht-gut« zu »Ihr seid B (weder ›nicht-gut‹ noch ›nicht nicht-gut‹)« werden könnte, sondern es wird unmittelbar als Paradox erlebt. Dieses Erlebnis selbst wird durch die Praxis der buddhistischen Schulung überliefert und, wie oben bezüglich der Thematik der Ethik des Schweigens dargestellt, als eine ethische bzw. religionsphilosophische Frage thematisiert und untersucht. 4)

Die Autopoiesis als die Bedingung und der Erfolg der Operation des Systems

J. Clams Betrachtung über das Paradox als Systemgenese ist hinsichtlich der Offenheit des Systems interessant. Clam behauptet dabei, dass das Paradox Luhmanns kein logisches Paradox und das Paradox »der Anfang einer Geschichte, einer mit Risiken und Bifurkationen behafteten Bewegung der Systemkonstitution« 80 sei. Die Betrachtung dieser Bewegung der Systemkonstitution zeigt: »Das Operieren von Systemen ist nichts anderes als ein solches Hantieren mit möglichkeitserweiternden Komponenten und dessen Verdich-

Das Diamant-Sutra gehört zu den wichtigsten Texten des Mahayana-Buddhismus. Für ein Beispiel der Interpretation dieser Texte vgl. G. Nagao, Daijyobukkyo ni okeru sonnzairon, S. 71 ff. 78 Vgl. oben, S. 178. 79 Vgl. H.-U. Dallmann, Von Wortübernahmen, produktiven Missverständnissen und Reflexionsgewinn, S. 248. 80 J. Clam, Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, S. 133. 77

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tung zu einem selbstkontingenten, aber nicht-abschließbaren emergetischen Ganzen.« 81 Clam spricht von den beiden Begriffen der »möglichkeitserweiternden Komponenten« und des »Selbstkontingenten«, die für die Operation des Systems als Ereignis charakteristisch sind, und versteht die Autopoiesis von Maturana und Varela als die Bedingung und den Erfolg der Operation des Systems. So sagt er: »Leben, Bewusstsein, Kommunikation sind die Hauptstufen solcher Evolution. Innerhalb jeder wird laufend paradox operiert, d. h. virtuelle Komponenten angeliehen und zurückgegeben. Jede Stufe kristallisiert um einen Typus von umweghafter Inventivität und ihre operativen Ausleihen und Rückgaben. Brücken zu Leibnizens Monadologie oder zur Einbildungskraft des deutschen Idealismus sind von hier aus denkbar: beide stellen nämlich generalisierte, kosmisch-ontologische, das Bewusstsein als solches unter- und überschreitende Konzepte dar.« 82 Hier ist klar, dass die Operation als »Ausleihen und Rückgaben der virtuellen Komponenten« bestimmt und das zwölfte Kamel als ein Beispiel für »Ausleihen und Rückgaben« herangezogen wird. Philosophisch gesehen steht dieser Gedanke Clam zufolge in engem Zusammenhang mit der Monadologie Leibniz’ und der transzendentalen Einbildungskraft bei Kant und dem deutschen Idealismus. Besonders anzumerken ist, dass Luhmann den Begriff des Subjekts hinsichtlich des Begriffs der Identität des transzendentalen Ichs kritisiert und seine Systemtheorie in der Dimension der Monadologie entwickelt. Das »Ausleihen und die Rückgabe der virtuellen Komponenten« entspricht dem Begriff »interaction«, genauer gesagt der strukturellen Koppelung zwischen System und Umwelt bei F. Varela und der wechselseitigen Weckung der passiven Synthesis zwischen leeren Gestalten und hyletischen Momenten der Umwelt bei der Weckung der Instinktintentionalität in der monadologischen Phänomenologie Husserls. Jedenfalls werden »möglichkeitserweiternde Komponenten« so auf der ersten Stufe gebildet, dass die Möglichkeit der Bildung der Synapsen durch den sogenannten »Nerven-Darwinismus«, der der Kontingenz der Umwelt entsprechen kann, in der jeweiligen Ontogenese durch wechselseitige Weckungen selbstidentisch bestimmt 81 82

A. a. O., S. 135. A. a. O., S. 135 f.

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und begrenzt wird. Auf der höheren Stufe werden die möglichkeitserweiternden Komponenten, die den höheren Konstitutionsleistungen, wie Vorstellung und Sprache, entsprechen, auf der Basis der ersten Stufe gebildet. Den Zusammenhang zwischen Monadologie und Einbildungskraft diskutiert Clam nicht weiter. Die Einsicht der »das Bewusstsein als solches unter- und überschreitenden Konzepte« kann uns zu der Assoziation führen, dass die »petites perceptions« von Leibniz der passiven Synthesis Husserls entsprechen und die Erhellung der rätselhaft gebliebenen transzendentalen Einbildungskraft Kants ebenfalls durch die passive Synthesis geleistet wird. Ferner kann die strukturelle Koppelung, deren ursprüngliche Stufe die retentionale, wechselseitige Weckung sein kann, als passive Synthesis in der genetischen Phänomenologie Husserls weiter analysiert werden. 5)

Luhmanns Fehlinterpretation der Intentionalität

Als eine Grundlinie meiner Interpretation lässt sich behaupten, dass die Konstitutionsstufe der »Geltung des Rechts, der Selbstidentität, der Erwartung« einerseits dem Konstitutionsbegriff der noetisch-noematischen Korrelation der aktiven Synthesis entspricht und andererseits der Offenheit der Operation des Systems, die durch die wechselseitige Weckung der passiven Synthesis ermöglicht wird. In diesem Kontext ist es bei Luhmann sehr problematisch, dass er die aktive Intentionalität der Erwartung und die passive Intentionalität, die die Kontingenz als Ereignis einschließt, nicht unterscheidet. S.-E. Knudsen kritisiert Luhmann zu Recht und sagt, dass »das ›radikale Neue‹ bei der phänomenologischen Konzeption, die ›unbewussten‹ und ›passiven Synthesen‹ des Bewusstseins, in der Luhmannschen Fassung von Intentionalität unberücksichtigt bleiben« 83. Im Kontext der Analyse der »sinnlichen Wahrnehmung« in den Bewusstseinssystemen Luhmanns sagt Knudsen im Vergleich mit Husserls Analyse der passiven Synthesis: »Diese fundamentale Grundannahme der Husserlschen Phänomenologie kann Luhmann mit seiner systemtheoretischen Beschreibung von Bewusstseinssystemen, in der die ›Gedanken‹ als Letztelemente des Bewusstseinssystems aufgefasst werden, nicht nachvollziehen. Hier fehlt ihm das theoretische Instrumentarium, um diesen phänomenologischen 83

S.-E. Knudsen, Luhmann und Husserl, S. 115.

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Sachverhalt adäquat beschreiben zu können.« 84 Aus Luhmanns Fehlinterpretation der Intentionalität ergeben sich, wie unten gezeigt werden wird, erheblichen Konsequenzen, die die Frage der Konstitution des Zeitbewusstseins und der Intersubjektivität (der sozialen Kommunikation) unmittelbar betreffen. Das Fehlen des Instrumentariums für die Beschreibung der sinnlichen Wahrnehmung bezieht sich auf das Problem der Methode der Selbstbeobachtung (Beobachtung zweiter Ordnung) Luhmanns. Husserl bestimmt das Bewusstsein des Bewusstseins, nämlich das Bewusstsein von verschiedenen Bewusstseinsakten (als Noesen), als das »Urbewusstsein«, das als solches nicht mehr als Bewusstseinsakt bestimmt werden kann. Aber bei Luhmann wird die Eigenartigkeit der Selbstbeobachtung in der Beobachtung durch die gleichzeitigen Operationen von Selbstreferenz und Fremdreferenz, die auf der autopoietischen Reproduktion beruhen sollen, zu erklären versucht. Luhmann sagt dazu: »Die autopoietische Reproduktion der Gedanken erfordert das Prozessieren der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz, und der Gedanke, der dies beobachtet, hat dann die Wahl, sich selbst mehr mit der Selbstreferenz oder mehr mit der Fremdreferenz zu befassen.« 85 Also erzeugen Gedanken Gedanken. Ein Gedanke beobachtet den nächsten Gedanken und trifft die Wahl zwischen der Selbstreferenz oder der Fremdreferenz. Aber wenn das Setzen dieser Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz selbst phänomenologisch intentional nach wie vor unthematisiert bleibt, scheint es mir schwierig zu sein, die Offenheit des Systems nur mit den Begriffen »Tatsache und Kontingenz« und der »doppelten Kontingenz« in den sozialen Systemen verständlich zu machen. Wie wird die Rückkoppelung zum »lebendigen Gesetz« der bestimmten Lebenswelt überhaupt verständlich? 6)

Vergleich zwischen den Zeitlehren Luhmanns und Husserls

Die Begriffe Tatsache und Kontingenz bei Luhmann können mit dem Begriff der Zufälligkeit der Affektion in der passiven Synthesis verknüpft werden, weil Husserls Begriff der transzendentalen Faktizität schließlich als das Paradox der Zeitigung in der passiven Synthesis A. a. O., S. 169. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 6, S. 66, zitiert von S.-E. Knudsen, a. a. O., S. 131.

84 85

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der Assoziation und Affektion aufgefasst wird und das Faktum erst durch eine solche Zeitigung zum Faktum, das Wesen zum Wesen wird. Wenn Luhmann denkt, dass Autopoiesis die Bedingung wie auch das Resultat von Evolution sei, 86 trifft das auch auf das retentionale Ereignis zu, das die Bedingung und das Resultat der lebendigen Gegenwart der Zeitigung ist. Im Ereignis der Retention werden der Zufall des Geschehens der Retention bei der Affektion und zugleich die Selektion der wechselseitigen Weckung eingeschlossen. Die Retention braucht keine Bedingung außer sich selbst, und sie ist gleichzeitig das Resultat ihrer selbst. In diesem Zusammenhang des Paradoxes von Wesen und Faktum mit der Frage der Zeitigung ist Clams Hinweis auf die Zeitlehre Luhmanns erwähnenswert. Er sagt: »Die Luhmann’sche Zeit ist die der zirkulären, außenlosen Operation und ihrer rekursiven Verkettungen. Es ist weder die Zeit der Subjekte noch die der Welt, sondern das interne Gesetz der Operativität, das die Operationen sequenziert in der Weise, dass alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht, und die Operationen über den Engpass eines je-›weiligen‹ Stattfindens gezwungen werden. […] Was es gibt, sind die gleichzeitig, das heißt entlang der Zeitreduktion geschehenden Operationsvollzüge. Die Zeit als operationsspezifische Gleichzeitigkeit ist der Grund von Empirie. Die Systeme berühren sich nicht in einer räumlich sie umfangenden Welt, sondern in der ihrer Operativität immanenten Zeitreduktion der Gleichzeitigkeit des Geschehenden.« 87 Folgende Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Zeitlehren Luhmanns und Husserls sind festzustellen: a) Die Zeit der Operation des Systems ist weder die Zeit der Subjekte noch die der Welt, sondern bringt beide durch die Operation selbst hervor. Wenn man den Begriff »Operation« mit dem Begriff »Fungieren« der lebendigen Gegenwart verbindet, scheint die Übereinstimmung zwischen der »Gleichzeitigkeit« des operativen Geschehens und der »Simultaneität« der Vergangenheit und Gegenwart in der lebendigen Gegenwart bei Husserl und Merleau-Ponty eindeutig zu sein. Dieser Anschein trägt in sich eine radikale Differenz, die geklärt werden muss. Der Begriff der Simultaneität bei Husserl schließt das Moment der Gleichzeitigkeit und das Moment des sedi86 87

N. Luhmann, Rückgabe des zwölften Kamels, S. 29. J. Clam, Unbegegnete Theorie, S. 309.

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mentierenden Nacheinanders der Retentionen ein. Also wird das Paradox der Simultaneität durch die wechselseitige Weckung zwischen einerseits den sedimentierten Sinnhorizonten der Gestalten und der Vorstellungen der Vergangenheit und andererseits den zufälligen hyletischen Momenten der Umwelt der Gegenwart der phänomenologischen Analyse zugänglich gemacht. Demgegenüber bleibt Luhmanns Betrachtung über das Paradox der gleichzeitigen Operation bloß eine »schwer durchschaubare […] Konstruktion […]« 88. b) Nach Knudsen besteht in Bezug auf die Auffassung des Zeitbewusstseins eine große Übereinstimmung zwischen der Systemtheorie Luhmanns und der Phänomenologie Husserls. Er sagt: »Die ›Ereignishaftigkeit‹ eines immer in der Gegenwart operierenden Bewusstseinssystems, in der sowohl die Gedanken als auch die intentionalen Akte von keiner Dauer sind, sondern herabsinken in den aus Retentionen und Protentionen bestehenden Bewusstseinsstrom, zählt zu den großen theoretischen Gemeinsamkeiten der beiden Theorien.« 89 Aber wie oben gezeigt versteht Luhmann den Begriff der Intentionalität nicht im Lichte der Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Intentionalität. Die Retention gehört zur passiven Intentionalität. Daher lässt sich Luhmanns Ansatz, die »Vorher/Nachher-Differenz« in die Funktionsweise des Bewusstseinssystems einzuführen, mit der Einsicht der Unterscheidung zwischen Protention (als »Vorher«) und Retention (als »Nachher«) prinzipiell nicht vergleichen. Die oben genannte »Ereignishaftigkeit« wird in der Systemtheorie auf folgende Weise darstellbar: »Diese ›Jetzt-Punkte‹, diese ›Urimpression‹ des gegenwärtigen Bewusstseins, […] lassen sich auf einer sehr viel allgemeineren und abstrakteren Ebene systemtheoretisch reformulieren als eine basale Selbstreferenz, die ein Element (ein Gedanke) an das nächste Element (an den nächsten Gedanken) anschließt.« 90 Also wird die Vorher/Nachher-Differenz für die Verkettungsmöglichkeit bzw. die Anschlussfähigkeit der Elemente (Gedanken) eingeführt. Dieses »Reformulieren« bedeutet eine radikale Abstraktion und Konstruktion, die die Selbstkonstitution des Bewusstseinsflusses durch die doppelte Intentionalität der Retention bei Husserl völlig verfehlt. Die dreigliedrige Struktur der lebendigen Gegenwart (Retention – Impression – Protention) ist das Ergebnis der 88 89 90

Vgl. ebd. S.-E. Knudsen, Luhmann und Husserl, S. 166 f. A. a. O., S. 124.

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Konstitutionsanalyse des Zeitbewusstseins, vor allem der Kontinuität der sinnlichen Wahrnehmung, z. B. der Tonwahrnehmung. Sie hat mit der Verkettung der Gedankenelemente überhaupt nichts zu tun. c) Wie oben bezüglich der Analyse des Zeitbewusstseins in der Neurophänomenologie Varelas gezeigt wurde, spielt das »synchronous coupling« (die simultane Koppelung) der neuronalen Assembly innerhalb von 0,5 Sekunden für die Interaktion zwischen dem System des Lebewesens und der Umwelt eine entscheidende Rolle. Die genaue Entsprechung zwischen dem Begriff der Koppelung in der Theorie der Autopoiesis und dem der Paarung der passiven Synthesis weist darauf hin, dass die Vereinheitlichung des Zeitstroms niemals vom Aspekt der Verkettung von Gedankenelementen durch die gleichzeitigen Operationen der Selbstreferenz und der Fremdreferenz her, die nach Husserl eindeutig zur Leistung der von der passiven Intentionalität fundierten aktiven Intentionalität gehört, aufgefasst werden kann. Die urbewusste Retention entsteht jeweils durch die wechselseitigen assoziativen Weckungen zwischen den implizierten Intentionalitäten im Vergangenheitshorizont und den hyletischen Momenten der gegenwärtigen Umwelt. Diese assoziative Weckung selbst hat in sich den Prozess der Selektion durch die affektive Kraft, die je nach den Interessen des monadischen Lebens graduell bestimmt wird. Dieser Prozess der Selektion in der wechselseitigen assoziativen Weckung beinhaltet die strukturelle Koppelung der neuronalen Assembly, die die Funktion der Selektion ausübt. Diese fundamentale Ebene der Selbstzeitigung des Bewusstseinsstroms, die schließlich durch die intermonadische Zeitigung begründet wird, zeigt die Grenze der Zeitlehre der Systemtheorie darin an, dass die prozessierende Operation der »Vorher/Nachher-Differenz« ohne phänomenologische Evidenz der intermonadischen Zeitigung, d. h. ohne Vermittlung der strukturellen Koppelung auf der elementaren Ebene der Konstitution des Zeitbewusstseins, »metaphysisch« in einer erneuten Form der Annahme der Differenz angesetzt wurde.

§ 2. Soziale Systeme bei Luhmann und Intersubjektivität bei Husserl Nach der Einsicht I. Srubars liegt die Grundeigenschaft der Systemtheorie Luhmanns in Folgendem: »Es ist zum einen – enger fachbezogen – die Weiterentwicklung des Systembegriffs mit Hilfe des 450 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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Husserlschen Bewusstseinskonzeptes als einer sinnprozessierenden Struktur. Zum zweiten – und hier die Fachgrenzen überschreitend – ist es die Möglichkeit, den so gewonnenen Begriff des Systems mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung in Bezug zu setzen – nämlich mit der Theorie der Autopoiesis von Maturana und Varela.« 91 Interessant ist dabei, dass Luhmann die Frage der Begründung der Intersubjektivität mit Hilfe der Autopoiesis lösen will. Srubar sagt dazu: »Um diesem Problem auszuweichen, betrachtet Luhmann das Sinngeschehen als ein Drittes, als ein Produkt und zugleich als einen gemeinsamen Rahmen der Co-evolution von psychischen und sozialen Systemen, welche durch die ihnen jeweils eigene Organisation ihrer Akte (Bewusstsein, Kommunikation) die für ihre Selbstproduktion (Autopoiesis) erforderlichen Leistungen des Sinngeschehens erreichen.« 92 Die Einsicht, die Frage der Intersubjektivität aus der Perspektive des Dritten zu lösen, beinhaltet ein relativ einfaches Schema der Kommunikation. »Aufgrund dieser ›Selbstbeobachtung‹ können Organismen die Differenz zwischen sich und der Außenwelt treffen und ihr inneres Verhalten in ein beobachtbares umsetzen, d. h. in Kommunikation mit anderen treten.« 93 Noch genauer mit dem Kernbegriff der strukturellen Koppelung der Autopoiesis heißt es: »Wenn es zu einer strukturellen Koppelung eines Systemzustands mit einem anderen, auf seinem Innen- oder Außenhorizont befindlichen, kommt, gilt eine solche Koppelung zuerst immer als der generelle Fall, d. h. als die Regel.« 94 Zu diesem Versuch Luhmanns, für die Lösung des Problems der Begründung der Intersubjektivität den Begriff der strukturellen Koppelung der Autopoiesis anzuwenden, sind die folgenden kritischen Überlegungen anzustellen: a) Luhmanns oben genannte Fehlinterpretation des Begriffs der Intentionalität hat eine Konsequenz in seiner Auffassung der Problematik der Intersubjektivität. Es ist kein Wunder, dass Luhmann ohne Verständnis von der Paarung der passiv-assoziativen Synthesis bei Husserl die Begründung der Gleichursprünglichkeit des Ichs und des 91 92 93 94

I. Srubar, Vom Milieu zur Autopoiesis, S. 318. A. a. O., S. 320. A. a. O., S. 324. A. a. O., S. 325.

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Anderen in den »Cartesianischen Meditationen« nicht verstehen konnte. Sein Urteil bezüglich des »Scheiterns« der phänomenologischen Begründung Husserls in den »Cartesianischen Meditationen« ist nichts anderes als das Scheitern seiner Interpretation des Begriffs der Paarung als passiver Intentionalität. b) Die strukturelle Koppelung, die Luhmann als Erklärung für das Verhältnis zwischen den Bewusstseinssystemen und den sozialen Systemen anwenden wollte, fungiert, wie oben gezeigt, genauso wie die Paarung der passiven Synthesis in vier wesentlichen Aspekten: der Verankerung im Leib, der Zeitigung, der Konstitution des Sinnes und der Stiftung der Andersheit des Anderen. 95 Jetzt, nach der genetischen Untersuchung der Bildung des Begriffs der Paarung und der Entwicklung der Empfindungsfelder in der intermonadischen Kommunikation, ist klar festzustellen, dass alle vier Aspekte in der Darstellung der Paarung in den »Cartesianischen Meditationen«, obwohl sie noch nicht adäquat genug dargestellt wurden, prinzipiell enthalten waren. Anders als Luhmann behauptet Varela, dass eine der größten Entdeckungen der Phänomenologie die untrennbare Verbindung zwischen dem eigenen und dem anderen Bewusstsein ist. 96 Also ist völlig klar geworden, dass die transzendentalphänomenologische Begründung der Intersubjektivität durch die Paarung der assoziativen, passiven Synthesis gerade mit dem Begriff der strukturellen Koppelung der Autopoiesis neurophänomenologisch – unter den vier gemeinsamen Aspekten – begründet werden kann. c) Die strukturelle Koppelung heißt nach Varela: Durch die Interaktion zwischen dem strukturell-praktischen System und der beunruhigenden Umwelt wird der Prozess der ständigen Selektion der Struktur des Systems hervorgebracht. Dieser Prozess, der die Selektion der Struktur herausstellt, wird strukturelle Koppelung genannt. 97 Auf der fundamentalen Ebene der Interaktion zwischen dem Menschen als dem Bewusstseinsleben und der Umwelt entsteht ständig das Zeitbewusstsein der Gegenwart durch die strukturelle Koppelung zwischen den beiden. Dabei wird die »simultane Koppelung« (»synchronous coupling«) der neuronalen Assembly als selektive

Vgl. dazu oben, S. 143. Vgl. F. Varela, Neurophenomenology, jap. S. 129, in: Gendai shiso, vol. 29–12, 2001. 97 Vgl. F. Varela, Principles of Biological Autonomy, Kap. 1–7, jap. S. 88 f., in: Gendai shiso, vol. 29–12, 2001. 95 96

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Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

Phasenfixierung aufgewiesen. In der Interaktion zwischen zwei Bewusstseinssystemen entsteht diese strukturelle Koppelung zwischen den beiden. d) Die Frage der Intersubjektivität hat besondere Bedeutung hinsichtlich der Ethik heute. Die Andersheit des Anderen im Sinne der zweiten Person ist ihr Hauptthema. Daher muss in Bezug auf den Standpunkt des Dritten in der Systemtheorie im Hinblick auf die echte Kommunikation zwischen Menschen, vor allem gegenüber dem Aspekt der zweiten Person, überprüft werden, ob die Systemtheorie mit dem Begriff der Kommunikation durch die strukturelle Koppelung die Andersheit des Anderen, also die individuelle Persönlichkeit, in der Ethik erhalten kann. B. Waldenfels kritisiert diesen Punkt sehr direkt: »So ist zu verstehen, dass bei der Darstellung der neurobiologischen Forschungssituation die Erste- und die Dritte-Person-Perspektive herangezogen werden, während von einer ZweitePerson-Perspektive nicht weiter die Rede ist.« 98 e) Jedoch sieht Varela selbst die Frage der Intersubjektivität nicht allein aus der Perspektive der dritten Person und der ersten Person. Das zeigt sich u. a. in seinem Artikel »Neurophenomenology – A Methodological Remedy for the Hard Problem« sehr deutlich. Seine Neurophänomenologie ist sich der Frage der Intersubjektivität voll bewusst. Er meint, die phänomenologische Forschung ist in der Begründung der Intersubjektivität immer auf den Anderen gerichtet, und betont, dass die Phänomenologie keine »introspection«, keine Innenschau des Selbst innerhalb der ersten Person ist. Er versucht, seine Neurophänomenologie durch eine vollständige Aufnahme und Anwendung der Methode der phänomenologischen Reduktion zu entwickeln. Dabei besteht sein Standpunkt bezüglich des Verhältnisses zwischen der naturwissenschaftlichen Forschung und jener der Phänomenologie darin, dass die sogenannte objektive Betrachtung der realen Welt aus der Perspektive der dritten Person aus der jeweiligen Lebenswelt stammt, dass also der Gegensatz zwischen Subjekt als erster Person und Objekt als dritter Person aus der zwischenleiblichen Anonymität des Lebens in der Intersubjektivität, in der die Genesis der Differenz der ersten und der zweiten Person selbst untersucht wird, entspringt. Er sagt, »es gibt das Leben, das die Dualität von Subjekt/Objekt überwindet« 99. 98 99

B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 420. F. Varela, Neurophenomenology, jap. S. 128, in: Gendai shiso, vol. 29–12, 2001.

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§ 3. Der Ansatz der Sozialphilosophie in der interkulturellen Phänomenologie In diesem Paragraphen wird die Frage, wieweit das Paradox der Geschlossenheit und der Offenheit des sozialen Systems geklärt ist, im Zusammenhang mit der Schwierigkeit der Kommunikation zwischen Gesellschaften vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen und ihrer Traditionen vertieft behandelt. 1)

Die Vielzahl von Bewusstseinssystemen bei Luhmann und die passive und aktive Intersubjektivität bei Husserl

In der Analyse des sozialen Systems setzt Luhmann bereits »eine Vielzahl von Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen« voraus. Knudsen sagt: »Nach Luhmann wäre also die Husserlsche Reflexion auf die transzendentalen Bewusstseinsleistungen zu ersetzen durch eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung, mit der sich selbstreferentielle autopoietische Systeme wechselseitig beobachten. […] Luhmann ersetzt somit das transzendentale Bewusstsein der Transzendentalphilosophie durch eine Vielzahl von Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen.« 100 Wenn sich die wechselseitige Beobachtung zwischen zwei Bewusstseinssystemen ereignet, entsteht die Kommunikation zwischen ihnen durch Mitteilung (Selbstreferenz), Information (Fremdreferenz) und Verstehen (Selbstbeobachtung). Die Frage ist die bei der Beobachtung fungierende strukturelle Koppelung zwischen den beiden Bewusstseinssystemen. Diese Koppelung ermöglicht die Geschlossenheit und die Offenheit des Systems. Somit wird die oben gestellte Frage, auf welche Weise die Diffundierung in das Element undifferenzierter Sinnwahrnehmung lebensweltlichen Existierens, d. h. die Rückkoppelung an lebendiges Recht und Rechtsgefühl, verwirklicht werden kann, durch die Erhellung der strukturellen Koppelung als Paarung der passiven Synthesis beantwortet. Sie ist, vorausschickend gesagt, nichts anderes als die Einsicht der genetischen Phänomenologie der Lebenswelten, wo die passive und die aktive Intersubjektivität in den jeweiligen verschiedenen Kulturen im Verhältnis der wechselseitigen Fundierung stehen. Die Systemtheorie der sozialen Kommunikation wird auf der Stufe der akti-

100

S.-E. Knudsen, Luhmann und Husserl, S. 120.

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Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

ven Intersubjektivität, wo die sprachliche Kommunikation am Werk ist, angesiedelt. a) Luhmann interpretiert Husserls Begriff der Lebenswelt und sieht einen Widerspruch darin, dass die Lebenswelt in sich zwei widersprüchliche Bedeutungen einschließt: die des Horizonts und die des Bodens. Auf dem Boden kann man stehen, aber auf einem Horizont nicht. 101 Um diese Doppeldeutigkeit zu vermeiden, schlägt Luhmann die Differenz von »vertraut/unvertraut« vor, damit die Lebenswelt als »Kondensation« von Vertrautheit bestimmt werden kann. Jedoch trifft diese metaphorische Interpretationsweise der Lebenswelt den Kerninhalt der Lebenswelt Husserls überhaupt nicht; das Setzen der Differenz von »vertraut/unvertraut« ist bereits innerhalb der Thematik von »Heimwelt/Fremdwelt« bei Husserl aus den Perspektiven der passiven und aktiven Intersubjektivitäten phänomenologisch analysiert und dargestellt worden. Problematisch ist bei Luhmann vielmehr, dass bei ihm das Setzen der Differenz von »vertraut/ unvertraut« nicht auf dessen Genesis der Sinnbildung hin selbst befragt wird. b) Der Begriff der Lebenswelt bei Husserl ist ohne Einsicht in das Verhältnis der Fundierung zwischen Passivität und Aktivität nicht zu begreifen. Die oben erwähnte Bedeutung der Lebenswelt als Boden bezieht sich gerade auf dieses Fundierungsverhältnis. Das Verhältnis lässt sich zweiseitig nach der doppelten Bedeutung der Passivität, nämlich als »Passivität vor Aktivität« und als »Passivität in Aktivität«, verstehen. Unter dem Aspekt der »Passivität vor der Aktivität« fundiert die Passivität die Aktivität und geht die Passivität der Aktivität voraus. Genetisch gesehen, bedeutet diese Ebene die Entwicklung der passiven Intersubjektivität und die Bildung der einzelnen Empfindungsfelder aus der Ursynästhese des Kleinkindes. Vom Aspekt der »Passivität in der Aktivität« her fundieren Passivität und Aktivität einander wechselseitig: Die Aktivität fundiert die Passivität in dem Sinne, dass die aktive Intentionalität in der Noesis-NoemaKorrelation nach der Erfüllung einer bestimmten aktiven Intentionalität retentional versinkt und als Leervorstellung der impliziten, passiven Intentionalität im Vergangenheitshorizont bleibt. Das, was Habermas unter dem Begriff der Lebenswelt als »Wissensvorrat« versteht, bedeutet höchstens das implizite Wissen, das von der Aktivität 101 Vgl. N. Luhmann, Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen, S. 6–15.

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zur Passivität umgewandelt wird. Und die Fundierung der Aktivität durch die Passivität auf dieser Ebene beinhaltet, dass auch die von der Aktivität umgewandelte Passivität derselben Aktivität vorausgeht, immer wenn irgendeine Aktivität entsteht, und sie somit fundiert. Dieses Verhältnis zwischen Passivität und Aktivität selbst wird, genetisch gesehen, durch dasselbe Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und der aktiven Intersubjektivität gebildet. c) Dann wird das Paradox der Geschlossenheit und der Offenheit des Systems klar fassbar. Die Quelle der Offenheit des Systems liegt im Bereich der passiven Synthesis, wo die strukturelle Koppelung als die assoziative Verbindung und die affektive Selektion auf der fundamentalen Ebene der intermonadischen Zeitigung fungiert. Die simultane Verbindung und Selektion der passiven Synthesis beinhaltet die wechselseitige Weckung zwischen den implizierten Intentionalitäten und der hyletischen Umwelt, nach Varela »interaction« zwischen System und Umwelt. Aber im Prozess der Entparadoxierung muss der Bewusstseinsstrom, wie er von Luhmann aufgefasst wird, als die Verkettung von »Gedanken« verstanden werden. Dabei bleibt aber die Operation der »Wahlmöglichkeit« der Selbstreferenz (System) und Fremdreferenz (Umwelt) rätselhaft. Wenn es dabei für Luhmann um »das Ergebnis eines Simultanprozessierens einer Fülle von Eindrücken mit der Möglichkeit, Schwerpunkte der Aufmerksamkeit zu wählen« 102, geht, braucht es doch eine tiefere, die Gradualität der Aufmerksamkeit selbst zergliedernde Differenzierung, die aber natürlich nicht auf dem nächsten anschließenden, schon fertig gebildeten Gedanken beruhen kann. Hier eröffnet sich der neue Bereich der Phänomenologie der Aufmerksamkeit, die unmittelbar mit der Phänomenologie der passiven Synthesis der Voraffektion oder des Unbewussten in engem Zusammenhang steht, z. B. mit der »petite perception« Leibniz’. 103 d) Die Verkettung von Elementen als Gedanken des Bewusstseinsstroms kann keinen Anlass für die Rückkoppelung an lebendiges Recht und Rechtsgefühl geben, weil die Zeitdimension der »Vorher/ Nachher-Differenz« keinen Spielraum für die assoziative Verbindung und die affektive Selektion der letzten Elemente der passiven Synthe102 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 17, zitiert von Knudsen, a. a. O., S. 142. 103 Vgl. B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 21–23. Vgl. auch oben, S. 156 f.

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Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

sis erlauben kann. Die Diffundierung in das Element der undifferenzierten Sinnwahrnehmung bleibt nur ein Schlagwort, wenn die Art und Weise der Diffundierung als solche nicht thematisiert wird. Die Analyse der passiven Synthesis zeigt schon, dass diese Annahme des Elements der undifferenzierten Sinnwahrnehmung bloß eine philosophisch konstruierte Annahme ist und nur ein Hindernis für die konstitutive phänomenologische Untersuchung darstellt. Auf der Ebene der strukturellen Koppelung und der Paarung der passiven Synthesis gibt es natürlich kein Element der undifferenzierten Sinnwahrnehmung. Die hier gemeinte Differenzierung ereignet sich ständig auf der Ebene der passiv-assoziativen Synthesis, da die wechselseitige Weckung (»interaction«) zwischen den implizierten Intentionalitäten und der hyletischen Umwelt die je neue, verbindende und selektierende Urstiftung bedeutet. Das heißt, die Rückkoppelung ist immer in der Mitte der Koppelung selbst dabei. Jede Koppelung entsteht ursprünglich nur durch die assoziative Verbindung und die affektive Selektion. 2)

Das Fundierungsverhältnis zwischen der passiven und aktiven Intersubjektivität

Wenn die zwei der Koppelung und Paarung gemeinsamen Aspekte, die Verankerung im Leib und die Verbindung mit der Andersheit des Anderen, in den Vordergrund gestellt werden, lässt sich die konkrete Situation der sozialen Kommunikation im sozialen System bzw. in der aktiven Intersubjektivität in den verschiedenen Lebenswelten hervorheben. Wie oben gezeigt, ist die Kommunikation zweiseitig, nämlich als emotionale Kommunikation in der passiven Intersubjektivität und als sprachlich artikulierte Kommunikation in der aktiven Intersubjektivität. Diese zwei Kommunikationsweisen gründen in der wechselseitigen Fundierung zwischen Passivität und Aktivität. Die Kommunikationstheorie tendiert bei Luhmann und Habermas stark und einseitig zur sprachlichen Kommunikation der aktiven Intersubjektivität und bleibt für die Fundierung und das Vorausgehen der passiven Intersubjektivität, worin Husserl und Merleau-Ponty die Begründung der Zwischenleiblichkeit sehen, blind. Das hat verschiedene Konsequenzen in Bezug auf die Problematik der Kommunikation zwischen verschiedenen Gesellschaften mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. a) Die zwischenleibliche, emotionale Kommunikation spielt für 457 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

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das wechselseitige Verstehen zwischen verschiedenen Gesellschaften mit verschiedenen kulturellen Hintergründen eine fundamentale, entscheidende Rolle, gerade weil die sprachlich artikulierte Kommunikation ohne Basis der emotionalen, vorsprachlichen Kommunikation nicht entstehen kann. Als ein direkter Zugang zur zwischenleiblichen Kommunikation lässt sich einerseits die genetische Phänomenologie durch die Methode des theoretischen Abbaus nennen, andererseits ist ein solcher Zugang auch z. B. durch die Methode der praktischen, vorsprachlichen Meditation des Buddhismus möglich. Es ist bekannt, dass Varela selbst die Meditation des tibetischen Buddhismus ausgeübt hat. Aufgrund dieser Praxis der Meditation weist Varela auf den engen Zusammenhang der zwischenleiblichen Anonymität des Lebens mit dem Begriff der »Sunyata« im Buddhismus hin, der die Leerheit des Ichs, des Nicht-Ichs und die des Dharmas beinhaltet. 104 Varela sieht den Prozess der Schulung des Buddhismus dadurch ausgezeichnet, dass die Einsicht des Nicht-Ichs, die die Negation des vorgestellten Ichs und der Annahme der transzendentalen Apperzeption des Ichs bedeutet, zur Einsicht des Nicht-Anderen, die die Negation des vorgestellten Anderen und der metaphysischen Annahme der Andersheit des Anderen bedeutet, geführt wird. Im Zusammenhang mit der Thematik der intersubjektiven Reduktion und des Bereichs der Lebenswelt sagt Varela, dass in der lebendigen Erfahrung des Anderen die lebendige Zwischenleiblichkeit am Werk ist und dass alle subjektive Erfahrung aus der passiven Genesis der Intersubjektivität entsteht. 105 Wichtig ist ferner, dass Varela die Frage der Genesis der Intersubjektivität mit der Schulung der Yogacara-Schule des Mahayana-Buddhismus verbindet. Es gibt, ihm zufolge, die vornoetische Basis der Erfahrung, die durch die Schulung erreicht wird und als anonyme, ursprüngliche Strukturierung (d. h. alayavijnana) der gesamten Erfahrung bezeichnet werden kann. Er meint damit, dass durch die Schulung des Buddhismus die zwischenleibliche, vornoetische Basis der Erfahrung vor der Konstitution des Ichs und des Anderen enthüllt wird und diese Basis dem alayavijnana (dem Unterbewusstsein) entspricht. Alayavijnana ist natürlich vorpersonal, anonym, d. h., es wird weder als erstpersonal noch als drittpersonal, auch nicht als zweitpersonal aufgefasst.

104 105

Vgl. F. Varela, The phenomenology of Sunyata (I). Vgl. F. Varela, a. a. O., S. 152.

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Die Integration des sozialen Systems Luhmanns

b) Lässt man die Teilnahme an der Übung der Meditation einmal beiseite, ist das Verstehen (Selbstbeobachtung) der Kommunikation kaum möglich, wenn die fundamentale, fundierende Rolle der emotionalen, vorsprachlichen Kommunikation der passiven Intersubjektivität überhaupt nicht berücksichtigt wird oder vielmehr methodisch nicht berücksichtigt werden kann. Der methodische Mangel bei Luhmann und auch bei Habermas liegt darin, dass das Verhältnis zwischen der philosophischen und der naturwissenschaftlichen Untersuchung bei beiden philosophisch nicht »streng« genug durchdacht ist. Varela verlangt vom Naturwissenschaftler, die Übung der Methode der phänomenologischen Reduktion zu lernen. Die Methode der Wesensanschauung in der statischen Phänomenologie schließt die positive, vollständige Aufnahme der Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft, sogar mit Berücksichtigung ihrer methodischen Bedingungen, ein. Durch die Methode des Abbauens in der genetischen Phänomenologie wird die Genesis der Konstitutionsschichten des Sinnes, der durch die Wesensanschauung festgelegt wird, nach den Gesetzmäßigkeiten Zeit, Assoziation und Urstiftung untersucht. 3)

Die Integration der Systemtheorie in die genetische Phänomenologie

Eine Integration kann nur eine Integration sein, insofern ein bestimmter theoretischer Ansatz in eine andere Theorie positiv aufgenommen und seine positive Entfaltung ermöglicht werden kann. a) Das hier von Luhmann thematisierte Paradox des Rechts bedeutet das gleichzeitige Entstehen der Geschlossenheit und Offenheit der Operation des Systems. Das Paradox beinhaltet daher einerseits das zeitliche Paradox der Gleichzeitigkeit der Operation und andererseits das Paradox der Kontingenz, die inhaltlich als bestimmte Tatsache durch die Erwartung und Selektion der Sinnkonstitution bestimmt wird. Die Sinnkonstitution wird nur anscheinend als die Korrelation von Noesis und Noema gedacht, 106 und die Kontingenz 106 Knudsen weist zu Recht darauf hin, dass Luhmann die Korrelation zwischen Noesis und Noema bei Husserl nicht verstanden hat: »Luhmanns Begriff von Intention (alität) meint wohl eher, dass ein intentionaler Zustand zum Ausdruck gebracht und somit als Gedanke immer schon festliegt. Bei Husserl hingegen bezeichnet der intentionale Akt einen Zustand, z. B. einen solchen der Überzeugung, Befürchtung usw.« (S.-E. Knudsen, Luhmann und Husserl, S. 167). Hier spiegelt sich wider, dass Luhmanns Auffassung des Bewusstseinsstroms als Verkettung der Gedanken Husserls

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II · Ethik in der interkulturellen Phänomenologie

wird als das Paradox von Genesis und Emergenz, als die Faktizität der Operation aufgefasst. Die Entparadoxierung des Paradoxes bedeutet die Bildung und die Differenzierung der Sinnkonstitution der Erwartung. Die transzendentale Faktizität Husserls beinhaltet das Paradox der Zeitigung, die der Dualität von Wesen und Faktum in der Philosophie der Neuzeit vorausgeht. Das Wesen fungiert auf der Ebene der noetisch-noematischen Korrelation. Das Faktum wird auch auf der gleichen Ebene der Korrelation des Bewusstseins als Faktum aufgefasst. Aber der Bereich der transzendentalen Faktizität der Zeitigung fungiert vor dieser Spaltung des Wesens und des Faktums auf der Ebene der intermonadischen Urkommunikation zwischen der Instinktintentionalität des Lebens und der urhyletischen Umwelt. b) Wie man durch die Erörterung der gemeinsamen Einsichten über die strukturelle Koppelung und die Paarung der passiven Synthesis deutlich sehen konnte, bleibt Luhmanns Einsicht der gleichzeitigen Operation des Systems bloß eine »schwer durchschaubare […] Konstruktion […]« 107, wenn sie im Zusammenhang mit dem Setzen der »Vorher/Nachher-Differenz« in der Sinndimension nicht geklärt wird. Dafür braucht es die radikale Wandlung von der statischen zur genetischen Untersuchung der Phänomenologie. Luhmann sieht nicht, dass die Differenz des Sinnes von Vorher und Nachher der Ausgangspunkt der phänomenologischen Untersuchung der Konstitution des Zeitbewusstseins von Zukunft und Vergangenheit war und erst durch Reduktion in die phänomenologische Analyse gebracht wurde und dass die Genesis des Sinnes der Vergangenheit (des Nachher) als das retentional Konstituierte und die Genesis des Sinnes der Zukunft (des Vorher) als das protentional Konstituierte phänomenologisch thematisiert wurden. c) Hier ist also klar geworden, dass Luhmanns Theorie des sozialen Systems in den folgenden Punkten positiv in die genetische Phänomenologie Husserls integrierbar ist: (1) Der Begriff der Operation der strukturellen Koppelung zwischen den verschiedenen Systemen kann durch die Analyse der strukturellen Koppelung selbst, die ursprünglich schon auf der Ebene des Zeitstroms am Werk ist, in die von Luhmann nicht thematisierte emotionale Kommunikation der Auffassung des Bewusstseinsstroms als Selbstkonstitution der passiven und aktiven Intentionalität nicht erreichen kann. 107 J. Clam, Unbegegnete Theorie, S. 309.

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passiven Intersubjektivität erweitert werden. (2) Dadurch gewinnt das soziale System Luhmanns für die sprachlich artikulierte Kommunikation den Boden, der die Wahlmöglichkeit der Selektion für das Verstehen (Selbstbeobachtung) der Kommunikation nicht mit der Verkettung der Gedanken, sondern mit der passiv-assoziativen Synthesis (der strukturellen Koppelung) der intermonadischen, wechselseitigen Weckung (»interaction«) zwischen dem implizierten Sinnhorizont und der Umwelt begründen kann. (3) Wenn die Systemtheorie als die aktive Intersubjektivität in der genetischen Phänomenologie positioniert wird, kann die Systemtheorie den genetischen Aspekt, das Setzen der Differenz selbst, nicht nur z. B. das Setzen der Vorher/Nachher-Differenz, sondern auch das Setzen der Vielzahl von Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen nach Zeit, Assoziation und Urstiftung genetisch-phänomenologisch untersuchen. Somit wird das Vermögen der Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen Systemen, die paradoxe Steigerung der Geschlossenheit und Offenheit des sozialen Systems, bis in die Tiefe der intermonadischen, emotionalen Kommunikation erweitert.

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Namenregister

Berg, H. d. 439 Bergson, H. 15, 316, 318–319, 350 Bernet, R. 99 Brentano, F. 39–40 Buber, M. 15, 111, 149, 180–181, 198, 202–208, 210, 256, 312, 316, 318, 333–334, 336–338, 342–345, 349, 351, 359, 366, 401–402, 408, 410–411, 415, 422, 424, 428–429, 435

Held, K. 86, 88, 152, 230, 244, 254– 255 Henry, M. 373 Herrigel, E. 411–412, 435 Hume, D. 28, 136, 157, 217, 221, 229, 284, 369, 391, 393–395, 399 Iribarne, J. v. 108 Izutsu, T. 201, 330, 418 Jacobi, H. 185–186, 188

Clam, J. 442–446, 448, 460 Cohen, H. 200, 316, 318 Conze, E. 160 Cristin, R. 248 Dallmann, H.-U. 444 Doi, T. 340, 355, 361 Dumoulin, H. 160, 175, 180 Edelman, G. M. 296 Esken, F. 301–303, 306 Fichte, J. G. 316, 321–322, 324, 330 Frauwallner, E. 160, 162, 164–165, 174, 185–186 Friedman, M. 424 Fujita, M. 332 Geiger, M. u. W. 163 Glasenapp, H. v. 162–163, 171 Habermas, J. 441–442, 455, 457, 459 Hegel, G. W. F. 316, 335, 341, 347 Heidegger, M. 21, 85–86, 101, 175– 176, 223–228, 230–231, 413

Kaehler, K. E. 98–99 Kaiser, U. 253 Kant, I. 14, 28, 85, 92, 98–101, 135, 149–151, 189, 210, 223–225, 228– 230, 316, 320, 323, 349, 351, 369– 370, 386, 390, 396–401, 405, 413, 424–425, 445 Knudsen, S.-E. 446–447, 449, 454, 456, 459 Kortooms, T. 62 Kühn, R. 250, 258, 261–264, 372 Landgrebe, L. 180, 246–247, 256, 259 Lask, E. 335 Lee, N. 256 Leibniz, G. W. 22, 75, 97–98, 100– 101, 108, 155–157, 350, 423, 445– 446, 456 Levinas, E. 14, 57–59, 67, 79, 83, 85, 110, 152–153, 198–199, 205, 207– 209, 276, 312, 314, 369, 374–376, 385, 387–388, 402–403, 423–424, 426

471 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Namenregister Libets, B. 13, 25, 118–119, 121–123, 125–126, 132–133, 135–137, 143– 144, 220, 404–406 Lipps, T. 335, 409 Lohmar, D. 54 Lotze, H. 41, 200, 316, 318, 320, 348 Luhmann, N. 16, 29, 439–452, 454– 457, 459–460 Maturana, H. R. 445, 451 Meinong, A. 39, 41, 348 Meltzoff, A. N. / Moore, M. K. 265 Mensching, G. 161–162, 171, 175 Merleau-Ponty, M. 82–83, 110–112, 201, 213, 249, 300–302, 315, 328, 330, 335, 341, 369, 374–376, 378, 388, 409, 448, 457 Mertens, K. 257 Métraux, A. 229 Micali, S. 373 Mori, A. 345, 355, 364–365 Morita, Y. 363 Nagao, G. 184, 444 Nakane, C. 360, 365 Natorp, P. 200, 316, 318 Neumann, K. E. 158 Nishida, K. 15, 27, 200–201, 204, 206–207, 316–351, 353, 355–356, 358–359, 422, 425, 428, 436, 438 Nonaka, I. 409 Ohashi, R. 200, 316 Ohtsuru, T. 416 Oldenberg, H. 160–163 Polanyi, M. 361, 408–409 Prigogine, I. 133, 220 Proust, M. 112 Ramachandran, V. S. 122, 144, 306 Richer, J. M. 271 Rickert, H. 200, 316, 323

Ricœur, P. 181 Rosenberg, O. 161, 163–165, 171– 172, 175, 181 Sakai, K. 101 Scheidegger, M. 309 Scheler, M. 317, 337 Schmidt, J. 439 Srubar, I. 451 Stcherbatsky, S. T. 163 Stern, D. N. 219–220, 222, 282, 295, 297–300, 376, 407 Suzuki, D. T. 174, 176, 180, 359 Takeuchi, Y. 161, 163, 174–176, 182 Tamaoki, K. 176 Teubner, G. 439–440 Theunissen, M. 198, 210 Ueda, Sh. 180–181, 183–184, 189, 201, 317–318, 327–330, 332–333, 335, 341, 343–344 Ui, H. 173–174 Varela, F. 113, 122, 137–145, 222, 300, 306–309, 445, 451–453, 456, 458–459 Vasubandhu 164, 184–185 Waldenfels, B. 9, 110–111, 114–115, 117, 165, 179, 220, 229, 369, 374, 376–377, 381–384, 386–387, 453, 456 Watsuji, T. 161, 163, 165–173, 175, 177–178, 430–431 Williams, D. 271–274 Yamaguchi, I. 9, 86, 88–89, 111, 115–116, 127, 183, 199, 202, 210, 270, 313, 339–340, 387, 404, 423, 431 Yamaguchi, S. 187

472 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister

Abbau 253, 257 Affektion 69, 78, 112, 115, 250 – Uraffektion 89, 247 – Voraffektion 250 Ähnlichkeit 73, 75, 82, 115, 129, 151, 222, 233–234, 238–239, 241, 251, 268–269, 272, 301–302, 305, 315, 383, 432 alaayavijnana 157, 178–179, 185– 186, 190, 353, 418, 458 amodal perception 8, 296–297 Antwort 337, 377, 382, 384–385, 393, 425, 429, 437–438 Apperzeption 42, 70, 78, 90, 96, 101, 104, 107, 127, 150–151, 156, 167, 190, 216, 219, 223–224, 227–230, 238, 319–320, 331, 351, 370, 414, 423, 458 Assoziation 25, 27–28, 33–34, 40, 67–69, 73, 79, 81, 89–91, 93, 96– 97, 99, 102, 109–110, 112–113, 115, 126, 128, 134, 141, 144–145, 148, 154–157, 203, 208, 215–217, 219, 221–222, 232–241, 247–248, 265–266, 270, 272, 277, 281, 284– 286, 288–289, 292–294, 297, 322– 323, 328–329, 350, 354, 371–374, 378–380, 387, 389–393, 395–406, 408–409, 411, 420–421, 425, 427– 428, 432–433, 438, 446, 448, 459, 462 Aufmerksamkeit 19–20, 60, 70, 78, 111–112, 114, 130, 134, 146–147, 185, 198, 247, 271, 275, 377, 381– 383, 385, 434–435, 456 Autismus 270–271, 306, 407, 423

Autopoiesis 29, 137, 204, 308–309, 439, 441, 444–445, 448, 450–452 Begegnung 82–83, 201, 203, 205, 210, 261, 315–316, 344, 358, 375, 408, 423, 425–427, 435, 438 Buddhismus 8, 27, 146, 151, 155– 166, 171–176, 205, 316, 330, 339– 341, 346, 348, 352, 410–412, 417, 421, 429, 443–444, 458 Christentum 161, 200 Dauer 34–36, 39–45, 47–48, 50– 52, 58, 98, 119, 126, 147, 187, 191–192, 229, 319–320, 350, 384, 406, 421 Deckung 52–56, 64–66, 74–76, 80, 89, 113, 117, 127–128, 154–155, 217, 231, 233–234, 238–239, 241, 256, 260, 373, 431–432 Determinismus 124, 135, 137, 405 Dharma 158–160, 162–179, 181– 184, 186, 189–192, 201, 339, 352– 354, 366, 417, 431, 438, 444, 458 Du, einzelnes 27, 202–203, 337– 339, 342–343, 345–346, 349, 352, 356, 366, 428–429 – eingeborenes D. 83, 111, 198, 210–211, 342, 375, 401, 411, 422– 427 – ewiges D. 202–203, 337–339, 343, 349, 356, 366, 428–429 Dualismus 122–123, 137, 148, 156– 157, 173–174, 295, 301, 356, 417, 424

473 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister Eidos 95, 117, 243–244, 246, 380, 432 Egologie 22–23, 49, 59, 90–91, 94,103, 107, 109, 152, 212, 320, 401, 416 Egozentrik 29, 158, 176, 182, 313, 339, 388, 411, 421, 434, 437 Einbildungskraft 101, 151, 223, 225–226, 228, 230–231, 324, 396, 413, 445–446 Einfühlung 28, 82, 106, 152, 198, 201, 233, 257, 262, 280, 282, 288, 302, 310–311, 314–315, 317, 335, 337, 354, 363–365, 395, 400–402, 407, 408–410 Einstellung 169, 177, 339–340, 344, 352, 395, 408 – natürliche E. 160, 168, 203, 352, 436–437 – personalistische E. 27, 154, 171, 198, 203, 261, 295, 333, 349, 351, 354–356, 387, 395, 402, 410, 415, 421, 426, 428 – transzendentale E. 177, 202–203, 353, 356 Emergenz 122, 134, 140, 143, 460 Empfindung 8, 17–20, 24, 26, 40, 54–56, 58, 72, 80–81, 86, 98–99, 110–111, 116, 119–120, 125, 131, 147–149, 155, 158–159, 162, 168– 170, 172, 206–208, 210, 216–218, 226, 229, 249, 251–252, 258, 260, 266–268, 274, 276, 278, 280–281, 284–289, 302–306, 321–322, 326, 335, 345, 350–351, 364, 367–368, 371, 373–376, 384–385, 403, 414, 419, 438 Entwicklungspsychologie 26, 199, 216, 219, 249, 296–297, 300–301, 427 Erfahrung, reine 207, 317–319, 325–327, 332, 352, 358, 428 Erinnerung 18, 34–38, 41, 47–48, 64, 74, 121, 126, 140, 155, 186, 235– 236, 238–239, 252, 256, 290, 303, 342, 389, 392, 413–419, 425, 433– 434, 436

Erlebnis 21, 44–45, 58, 74–75, 78, 87, 93, 95–97, 104,121, 125, 132– 133, 138, 149, 152, 156, 191, 220, 277, 279, 308, 318, 321, 326–327, 336, 350, 415, 425, 434–436, 444 Erscheinung 45, 75, 139, 150–151, 163–165, 172, 240, 348 Evidenz 22, 43–45, 68–69, 71, 88, 118, 126, 129–130, 170, 243, 247, 256, 292, 299, 307, 320, 379, 381, 450 – adäquate E. 22, 25, 307, 356, 374 – apodiktische E. 22–23, 25, 28, 71, 88, 91, 97, 102, 104–105, 110–111, 118, 125, 132, 149, 214–215, 229, 231, 244–245, 255, 297, 307, 321, 413 Faktizität, transzendentale 82, 88, 95–96, 190, 243, 245, 247, 255–256, 264, 439–440, 447, 460 Freiheit 102, 119, 124, 126, 135– 137, 221, 332, 345, 348, 361, 363– 364, 386–387, 400, 404–406, 410, 429–430, 433 Gefühl 18, 28, 72–73, 96–97, 125, 164, 185, 222, 262–263, 273–274, 281, 297–299, 364, 371–373, 390, 392–395, 397–400, 406 Gegenwart, lebendige 78, 87, 89, 92, 113, 209, 212, 231, 245, 258, 384, 414–415 Geltung 212, 293, 386, 419, 440, 441–442, 446 Gemeingeist 199, 310, 433 Gemeinschaft 169, 199, 216, 261, 310–312, 360, 362, 364, 411, 427, 433 Gleichheit 55, 75, 233, 237, 305 Habitualität 39, 49, 102–103, 185, 187–188, 190, 198 Hintergrundbewusstsein 78, 113 Horizont 61, 64–66, 74, 78, 101, 113, 305, 414–415, 455

474 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister Hyletische 86, 112–113, 115, 141, 242, 255, 383 Ich, reines 101–102, 178 – phänomenologisierendes I. 59, 97, 104, 152, 243, 315 – transzendentales I. 22–23, 96, 101, 151–152, 167, 168, 179, 211, 242–245, 247, 319, 341–342, 351, 353, 445 Ich-Du-Beziehung 8–9, 27, 29, 83, 111, 154, 181, 198–199, 202–207, 209–211, 261, 295, 309–316, 318, 332–333, 336–338, 341–346, 349, 351–352, 354–359, 364–367, 375– 376, 387–388, 401–404, 408–411, 415, 421–429, 431–438 Ich-Es-Verhältnis 8, 27, 181, 199, 202, 209, 213, 222, 301, 338, 344– 345, 349, 351, 352, 355–360, 362, 364–368, 401, 408, 415–416, 427– 429, 432, 435–438 Identität 55, 85, 102, 185, 280–283, 290, 321, 412, 420, 421–422, 438, 442–445 Implikation 64, 95–96, 101, 106, 127, 153 Instinktintentionalität 145, 153, 190, 249–250, 252, 259, 261, 270, 376, 415, 445, 460 Intentionalität 23, 27, 29, 40, 47, 57– 58, 60, 62, 80, 83, 86, 88, 93, 100, 110–111, 125–126, 148–149, 190, 208, 233–234, 245, 303, 321, 330, 333, 369, 378, 389, 443, 451 – aktive I. 7, 23, 38, 40, 55, 59–60, 63, 77, 81, 84, 89, 92–93, 99, 101, 103–105, 109, 112, 116–117, 124, 126, 132, 137, 145,, 148, 151, 153, 155–156, 191, 197, 199, 205, 208, 211, 213, 215–216, 219, 221, 226, 230–231, 236, 239, 258, 275–276, 285, 287, 289–291, 294, 303, 305, 314, 321–322, 328, 333, 349, 351, 355–356, 363–365, 367, 370, 372– 373, 375, 383–385, 394, 400–404, 406–408, 410–411, 415–416, 419–

420, 423–425, 427, 430, 434–436, 446, 455 – implizite I. 38–39, 49, 81, 95, 102, 126, 136, 145, 155, 215, 221, 235, 286, 348, 350, 354, 434, 456–457 – passive I. 7, 23, 25, 27, 39, 57, 59, 61–63, 67–68, 75, 77–78, 81, 83–84, 89, 92, 99–101, 104, 109–110, 115, 125–126, 137, 145, 148, 151–153, 191, 193, 197–198, 205, 208, 213, 216–217, 226, 230–231, 234, 236, 239, 241, 245, 247, 250–252, 264, 267, 281, 284, 290, 305, 321, 321– 322, 328, 333, 344, 349, 367, 370, 372–373, 385, 387, 391, 393–394, 400–403, 408, 413, 421, 423, 428– 429, 446, 449–450, 452, 455 Intersubjektivität 7, 26, 29, 33, 82, 88, 91, 95, 103, 111, 116, 145, 152– 154, 157, 197–201, 204–205, 211– 214, 218, 223, 230–232, 234, 237, 240, 242–243, 254, 259–261, 263, 276, 288, 291–292, 294–295, 298– 302, 307–310, 313, 316–317, 328, 334–335, 353–354, 361–362, 364, 375–377, 388, 396, 401–404, 407, 411, 422, 429, 431–433, 435–437, 447, 450–459, 461 Kausalität 69, 119, 126, 136, 188, 332, 344, 348, 386, 389, 404–406, 415, 420, 427 Kinästhese 20–21, 72–73, 96–97, 129–130, 190, 218, 227, 239–240, 242, 251–252, 260, 262–263, 266– 269, 274–280, 284–287, 289, 296, 304–305, 363–364, 379, 406, 430, 434–435 – unwillkürliche K. 240, 263, 265 Konfiguration 78, 114, 239–240 Konstitution 23, 33–36, 39, 43, 48, 50, 60, 63, 66, 68, 74, 76, 80, 98–99, 103–104, 112, 115, 117, 124–125, 138, 142, 145, 148–149, 170, 178, 187, 190, 197, 199, 205, 209, 211– 212, 214–219, 223, 231–233, 240– 241, 244–245, 257, 261–262, 274,

475 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister 276, 279–280, 283, 301, 310, 319, 328–329, 332, 340, 342, 356, 359, 372, 377, 383, 400, 409, 413, 415– 416, 418, 421, 425, 428, 431, 442– 443, 446–447, 450, 452, 458–459, 460 – Vorkonstitution 23, 82, 112, 115– 117, 132–133, 142, 145, 148–149, 197, 199, 211–213, 246, 260, 269, 273, 275, 294–295, 359, 371–372, 374, 377, 379–380, 382–385, 387, 396, 400, 414, 418 Kontinuität 37, 48, 51–52, 64, 67, 74, 77, 80–81, 158, 189, 201, 235, 278–279, 281–282, 325, 339, 341–342, 346, 348, 397, 417, 420, 450 Kontrast 72–73, 77, 115, 129–130, 132, 222, 237, 239, 281, 305, 383, 388, 398, 437 Kopplung 140, 143, 145, 204, 308– 309 Längsintentionalität 36, 50–54, 62, 89, 127, 134, 231, 258 Lebenswelt 9, 29, 82, 91, 110, 153, 199, 202–203, 231, 241, 291–296, 300, 307–308, 325, 330, 352, 354, 356, 361, 367–368, 374, 433, 439, 443, 447, 453–455, 457–458 Leergestalt 73–74, 76–78, 80, 101, 106, 112–113, 115–116, 132–133, 141, 153, 155, 190–191, 211, 231, 236, 238, 242, 247, 249, 254, 260, 266–269, 274, 280–281, 284– 285, 287–289, 297, 308, 349–351, 371, 381, 384, 397, 400, 416, 418, 422 Leerheit 158, 165–166, 171, 176, 178–179, 182–185, 189, 201, 330, 458 Leerhorizont 64–65, 73–74, 76–77, 236–237, 239 Leervorstellung 73, 77, 80, 101, 106, 112–113, 115–116, 132–133, 136, 141, 153, 190–191, 208, 211, 236, 238, 242, 247, 249–252, 254,

258, 260, 266–269, 289, 349–351, 377, 379, 381, 383–384, 416, 418, 455 Leibzentrierung 197–198, 211, 240, 256, 260–261, 264–265, 275, 280, 287, 313, 415, 421, 427 Leiden 157, 159, 160–163, 166, 172– 177, 184, 417, 423 Logik, transzendentale 112, 154, 232–234, 241, 293 Mahayana-Buddhismus 8, 25, 146, 155, 158–159, 165–166, 171, 174, 182, 186, 201, 316, 330, 339, 341, 346, 348, 352, 411–412, 417, 429, 443–444, 458, 467 Mathematisierung 291–295, 325, 354 Methode 8, 25–26, 75, 125, 138, 178, 191, 215, 219, 258, 271–272, 307– 308, 339, 356, 395, 458 – genetische M. 22, 214, 217–219, 258 – phänomenologische M. 22, 25, 191, 223, 307 Monade 22–24, 26, 29, 82, 97–98, 102–103, 106–108, 134, 137, 153– 154, 156–157, 219, 248–249, 257, 264, 269, 336, 350, 372, 416, 423, 427 Monadologie 22, 49, 89, 90–91, 94– 95, 97, 107, 109, 153, 212, 219, 248, 401, 415–416, 445–446 Motivation 69, 109, 118, 128–129, 136–137, 140, 155, 185, 252–253, 287, 370–372, 389–394, 397–398, 400, 406, 421, 426 – passive M. 370, 389–391, 393, 399–400 Mutter-Kind-Beziehung 197–198, 257, 265, 362, 365, 407 Nachahmung 251–252, 266–267, 286–288, 290, 299, 367 Neurophänomenologie 8, 29, 118– 119, 137–138, 142–145, 306–308, 359, 388, 450, 453

476 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister Nicht-Ich 7, 26, 151, 157, 159–160, 167–170, 172, 174, 178, 182, 200– 201, 206, 330–332, 345, 353, 356, 410–411, 417, 458 Nichts 176, 317, 326–327, 330–335, 337–340, 343–351, 353, 355 Noema 99, 138, 148, 187, 275, 314, 321–322, 328, 364, 372, 375, 400, 402, 410, 415, 419, 421, 424–425, 455, 459 Noesis 99, 138, 148, 275, 314, 321– 322, 328, 364, 372, 400, 410, 415, 419, 421, 424–425, 455, 459 Nullkinästhese 130, 251–252, 254, 266–269, 275, 280, 287, 289, 296– 297, 304, 430 Paarung 7, 26, 78, 80, 83, 111, 113–114, 116, 140, 143, 145, 157, 197, 222–223, 231–234, 237–242, 247, 264, 271–272, 281– 282, 288, 302–306, 308–309, 328– 329, 342, 375, 388, 401–403, 407, 409, 432, 450–452, 454, 457, 460 Paradox 33, 54, 59–60, 86–87, 105, 116–117, 127, 131, 141–142, 149, 183, 189, 192, 231, 244, 254, 284, 416, 420, 439–444, 447–449, 454, 456, 459–460 Perzeption, kleine 100–101, 156– 157, 423 Phansiologie 39, 42, 45 Primordialität 105, 107 Protention 54, 86, 132, 141, 146, 154, 228, 230, 253, 277–279, 281, 283–284, 286–287, 415, 419 – unbewusste P. 229, 288 Querintentionalität 7, 50, 52–57, 59, 62, 65–66, 69, 74, 76, 79–81, 85, 88–89, 127–128, 134, 143, 154–155, 217, 231, 279, 305, 385, 407, 414 Reduktion, phänomenologische 34, 43, 47, 125, 138, 143–144, 177, 222, 297, 300, 321, 356, 359, 412 – primordiale R. 103, 105 Redundanz 442

Regress, unendliche 48, 62, 81, 84 Retention 79–81, 83–92, 96, 99, 100–102, 104–105, 118, 125–129, 131, 134, 136, 139–143, 146–149, 151, 153–155, 191, 205, 208, 211, 215, 217–220, 222–223, 226–231, 238, 245, 252–253, 255–256, 258– 259, 267, 272, 277–279, 283–285, 287, 305, 312, 320–322, 348, 350, 373–374, 378–379, 403, 413–415, 419, 422, 424, 448–449 – unbewusste R. 94, 102, 104, 125– 126, 128–134, 136, 139, 147–149, 191, 221–222, 229, 287, 320, 381, 385, 397, 407, 428–430, 450 Schweigen 116, 163, 166–167, 203– 204, 270, 410–412, 416–417, 419– 420, 423, 426–431, 434–435, 437– 438, 444 Sedimentierung 63, 107, 190, 248, 250, 305, 407, 417–418 Selbstaffektion 82, 258–259, 262, 373 Selbstkonstitution 7, 34, 54, 59, 88, 99, 101, 105, 125, 127, 141–142, 154–155, 159, 179, 213, 231, 348, 413, 449, 460 Selbstlosigkeit 157, 176, 204, 337, 345–346, 359, 366, 387, 404, 410– 412, 421–423, 426–430, 434–438 Simultaneität 79, 86–87, 106, 111– 117, 128, 140, 144–145, 153, 158, 209, 250, 255, 302, 348, 369, 377– 378, 381–383, 385–388, 419–422, 448–449 Solipsismus 91, 198, 232, 316–317, 342, 353, 356, 401 Speicherbewusstsein 26, 157, 178, 185–188, 190–191 Spiegelneuronen 5, 8, 26, 145, 301– 302, 304–306 Subjekt-Objekt-Spaltung 181–182, 210, 317, 410, 411–412, 417 Synchronisation 276–277, 280 Synthesis 101, 116, 151–152, 185, 190, 224–227, 230, 291, 295

477 https://doi.org/10.5771/9783495817605 .

Sachregister – aktive Synthesis 55, 102, 126, 198, 218, 226, 234, 292–295, 299, 303, 305, 313, 359, 384–386, 402, 405–406, 418, 426, 433, 435, 437– 438, 446 – passive Synthesis 7, 23, 25–26, 28–29, 33–34, 46, 55–57, 59, 65, 68–69, 73, 76–84, 89–90, 92–94, 97, 99, 103, 109–112, 114–115, 118– 119, 123, 125–126, 128–129, 134, 136–137, 141, 143, 145, 148, 151, 155–157, 179, 187, 197, 199, 205, 208–211, 217–219, 221–223, 226, 229–233, 236–237, 240, 241–245, 247, 254–255, 268, 270–274, 276– 277, 280–282, 292–295, 297, 302– 306, 308–309, 313, 323, 328–329, 335–336, 342, 350, 359, 363, 365, 367, 371–372, 374–375, 377, 379– 385, 387–388, 393–396, 401–402, 405–409, 413, 415, 418, 421–422, 424–425, 427–428, 430, 432–435, 437–438, 445–447, 450–452, 454, 456–457, 460–461 Systemtheorie 29, 204, 439, 442, 445, 449–450, 453–454, 459, 461 Tathandlung 318–322, 324–326, 330 Tendenz 33, 59, 64, 67, 89, 113, 142, 145, 155, 203, 238 Teleologie 107–108, 153, 180, 211, 243–245, 248 Trieb 78, 97, 105–107, 112, 155, 176–179, 181, 242, 248–249, 340, 372, 378–379, 390, 394, 406, 424 – Triebintentionalität 5, 8, 24–26, 33, 82, 89, 92, 97, 105–110, 115, 117, 125, 131, 145, 153, 155, 179– 180, 182, 190–191, 193, 211–213, 219, 231, 242–243, 245, 256, 259– 267, 269, 273–274, 278, 281, 283, 289–290, 298, 354, 371, 373, 379, 384, 390, 412–415, 422, 430 Urassoziation 90, 106, 131, 151, 237, 241–242, 247, 250 Urbewusstsein 24, 34, 38–39, 42, 45,

53, 70, 81, 84–85, 87, 110, 134, 148, 157, 180, 185, 221, 231, 251, 254– 256, 266, 269, 285, 287, 289, 296, 304, 320, 322, 331, 364, 374, 380, 384–385, 430, 434, 436, 447 Urhyle 145, 153, 242, 246–247, 249–250, 262, 384 Urimpression 57–59, 66–69, 73–74, 78–80, 85–87, 90, 106, 111, 113, 116, 128, 131, 143, 145, 153, 199, 208–209, 211, 215, 249, 258, 276, 375, 449 Urstiftung 80, 90–92, 95–96, 102, 198, 203, 215–216, 219, 222, 239, 241, 248, 297, 304, 308, 397, 412, 457, 459, 461 Ursynästhesie 26, 116–117, 249, 251, 264–268, 277–279, 281, 296– 298, 304–306, 379, 407, 414, 430 Variation 75, 286, 307, 431, 433 Vergegenwärtigung 106, 233, 237, 239, 242, 433, 436 Verschmelzung 77–78, 80, 87, 128, 131–134, 208–209, 222, 250–253, 255, 257–258, 264, 266–267, 276, 304–305 Wahrnehmung, innere 56, 254, 274, 297 Weckung 56–57, 74, 78, 90, 113– 116, 132, 153, 188, 190–191, 215– 216, 231, 236–238, 249–252, 260– 262, 265–266, 269–270, 284, 381– 382, 414, 416, 445, 450 – wechselseitige W. 26, 57, 59, 68, 74, 78–82, 86, 101, 106, 112–117, 126, 128, 131, 133–134, 136–137, 140–141, 143–144, 153, 190, 208, 234–235, 237, 242, 247, 249–253, 260, 262, 267, 303, 349, 351, 354, 371, 376–378, 381, 383–385, 393, 397, 406, 411, 414–415, 418, 420, 430, 445–446, 448–450, 456–457, 461 Wesensanschauung 75, 117, 173, 176–179, 181, 216, 257, 307–309,

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Sachregister 322, 356, 408–409, 430–432, 442, 448, 459 Widerfahrnis 111–112, 114–115, 377, 381–383, 386–387 Yogacara-Schule 25–26, 146, 155, 157–158, 171, 176–179, 181, 184, 186, 187–189, 191–192, 197, 202, 205, 339,-340, 346–347, 350, 352– 354, 412, 417–420, 458 Zeitbewusstsein 18–19, 21, 24–26, 33–34, 43–45, 48, 57, 60, 63, 65–67, 80, 85–86, 90, 92, 99–101, 103, 106, 118, 125, 127, 133, 136–139, 142– 143, 146, 150–151, 154–155, 158, 179, 186, 189–190, 192, 205, 208, 214, 216–217, 219, 231, 255, 319, 321, 350, 374, 376, 397, 406, 413, 415, 417, 422, 447, 449, 450, 452, 460 Zeitdauer 41, 44–45, 93, 118–119, 136, 139, 156, 298, 320–321, 328, 384–385 Zeitfluss 33–34, 43–46, 54, 63, 68, 80, 87–89, 99, 131, 133, 154, 249, 258–259, 348, 375, 385, 423 Zeitigung 22, 25–26, 33–34, 59, 82– 83, 89–90, 92–97, 103–104, 113, 115, 117, 119, 145–146, 151–156,

159, 177, 179, 188, 190, 192, 197, 209, 213–214, 218, 223, 230–231, 243–248, 250, 255, 257–259, 262– 264, 277–278, 284, 294, 298, 312, 320, 345, 348–350, 375, 378–379, 386–387, 412, 416, 429, 428, 447– 448, 452 – intermonadische Z. 23, 34, 82, 103, 107–111, 117, 138, 143, 145, 197, 205, 211–213, 220–221, 231, 283, 290, 293, 298–300, 340, 349, 450, 456, 460 Zeitkonstitution 22, 38, 43, 54, 68, 154, 197, 211–212 Zen-Meditation 27, 176, 200, 316, 344, 351, 431, 434–436 Zuwendung 5, 8, 9, 56, 68–69, 83, 109–110, 115–116, 134, 151, 154, 156, 198, 204, 248, 271, 274, 387, 289–290, 295, 299, 303, 309–310, 313, 323, 329, 337, 345, 349, 351, 356, 359, 366, 371–374, 381, 383– 384, 388, 394, 398, 404, 411–412, 415, 418, 423, 425, 428–429, 433– 435, 438 Zwischenleiblichkeit 7, 82–83, 153, 198, 201, 260–261, 264–265, 270– 271, 276, 280, 302, 313, 315, 369, 375–377, 387–388, 409, 415, 419, 422–423, 426–427, 432, 457–458

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