Frühe Mehrsprachigkeit: Probleme des Grammatikerwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten [Reprint 2012 ed.] 9783110911343, 9783484304406

This monograph sets out to establish a theoretical framework for the study of childhood linguistic acquisition processes

181 48 8MB

German Pages 232 [236] Year 2001

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Frühe Mehrsprachigkeit: Probleme des Grammatikerwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten [Reprint 2012 ed.]
 9783110911343, 9783484304406

Table of contents :
Vorwort
0. Einführung
0.1 Einführung in die Fragestellung: Probleme des Spracherwerbs in mehrsprachigen Kontexten und ihre möglichen Ursachen
0.2 Sprachliches (grammatisches) Wissen: intuitives Wissen (nowing how) und/oder bewußtes Wissen (knowing that)?
0.3 Aufbau der Untersuchung
1. Grammatik und Kognition
1.1 Einführung: Grammatikerwerb – die kognitiven Grundlagen
1.2 Universalgrammatik (UG) und der Erwerb der Grammatik einer Einzelsprache
1.3 Frühe Mehrsprachigkeit – ein grundsätzliches Problem?
1.4 Zusammenfassung
2. Grammatik und Konvention
2.1 Einführung: Konventionen/Traditionen und der Erwerb der Grammatik einer Einzelsprache
2.2 Grammatikerwerb und kultureller Kontext
2.3 Frühe Mehrsprachigkeit – ein Problem für Kinder aus Sprachminderheiten?
2.4 Zusammenfassung
3. Grammatik und Instruktion
3.1 Einführung: ‚Natürliche Künstlichkeit‘ – Spracherwerb durch content based language learning
3.2 Spracherwerb durch Immersion
3.3 Immersion und Submersion: Probleme und Chancen einer gemeinsamen mehrsprachigen Erziehung
3.4 Zusammenfassung
Nachwort
Literatur

Citation preview

Linguistische Arbeiten

440

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese

Gesa Maren

Siebert-Ott

Frühe Mehrsprachigkeit Probleme des Grammatikerwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Siebert-Ott, Gesa: Frühe Mehrsprachigkeit : Probleme des Grammatikerwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten / Gesa Maren Siebert-Ott. - Tübingen : Niemeyer, 2001 (Linguistische Arbeiten ; 440) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-484-30440-5

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

Vorwort 0. Einführung 0.1 Einfuhrung in die Fragestellung: Probleme des Spracherweibs in mehrsprachigen Kontexten und ihre möglichen Ursachen 0.2 Sprachliches (grammatisches) Wissen: intuitives Wissen (knowing how) und/oder bewußtes Wissen (knowing that)? 0.3 Aufbau der Untersuchung

VII 1 1 10 16

1. Grammatik und Kognition 21 1.1 Einfuhrung: Grammatikerwerb - die kognitiven Grundlagen 21 1.2 Universalgrammatik (UG) und der Erweib der Grammatik einer Einzelsprache... 26 1.2.1 Die Autonomiehypothese: Grammatikerwerb als autonomer Prozeß 26 1.2.2 Erstspracherweib: UG und das Entwicklungsproblem 41 1.2.3 Zweitspracherwerb: immittelbarer Zugang zu UG? 56 1.3 Frühe Mehrsprachigkeit - ein grundsätzliches Problem? 66 1.4 Zusammenfassung 85 2. Grammatik und Konvention 87 2.1 Einführung: Konventionen/Traditionen und der Erwerb der Grammatik einer Einzelsprache 87 2.2 Grammatikerwerb und kultureller Kontext 93 2.2.1 Interdependenz- und Schwellenhypothese: Grammatikerwerb als abhängiger Prozeß 93 2.2.2 Grammatikerwerb als Übernahme sprachlicher Konventionen: konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit 102 2.3 Frühe Mehrsprachigkeit - ein Problem für Kinder aus Sprachminderheiten? 139 2.4 Zusammenfassung 146 3. Grammatik und Instruktion 3.1 Einführung: .Natürliche Künstlichkeit'- Spracherwerb durch content based language learning 3.2 Spracherwerb durch Immersion 3.2.1 Ein Modell: die kanadischen Immersionsprogramm 3.2.2 Immersion und bilingualer Unterricht in Europa 3.2.2.1 Das luxemburgische Schulsystem und die Europäischen Schulen 3.2.2.2 Das ,deutsche Modell': bilingualer Unterricht in der Sekundarstufe 3.2.2.3 Immersionsprogramme für Kinder autochthoner Minderheiten: Schulen für dänische Kinder in Deutschland und für deutsche Kinder in Dänemark

149 149 153 153 158 158 163

175

VI 3.3 Immersion und Submersion: Probleme und Chancen einer gemeinsamen mehrsprachigen Erziehung 3.3.1 Aus der Not eine Tugend machen: Begegnung mit Sprachen und die Entwicklung von language awareness and cultural awareness 3.3.2 Eine bildungspolitische Kontroverse: die Bedeutung der Förderung der Muttersprache (LI) bei Schülern mit Migrationshintergrund 3.3.3 Ein neues Etikett oder ein neues Konzept? Deutsch als Arbeitssprache 3.3.4 Zum Abschluß: die Vorteile von two way immersion-Programmen 3.4 Zusammenfassung

180 181 186 191 195 198

Nachwort

201

Literatur

205

Vorwort

An dieser Stelle möchte ich allen danken, ohne deren Anregungen und Unterstützung diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Besonders herzlich danke ich Prof. Dr. Haitmut Günther und Prof. Dr. Heinz Vater, die die Abfassung der Arbeit in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung stets wohlwollend begleitet und unterstützt haben. Ebenso bedanke ich mich auch bei Prof. Dr. Georg Auernheimer und Prof. Dr. Henning Wode für ihre kritisch-anregenden Kommentare zu meiner Arbeit. Diese Arbeit wurde teilweise finanziert durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der ich für diese Unterstützung ebenfalls danke. Ein herzlicher Dank gilt auch Dr. Katharina Kuhs, die mir Sprach- und Sozialdaten aus ihrer Untersuchung zur Bedeutung sozialpsychologischer Faktoren im Zweitsprachenerwerb für die Zwecke meiner Untersuchung zur Verfügung gestellt hat. Danken möchte ich aber auch Prof. Dr. Marga Reis, in deren Seminaren ich nicht nur Syntax gelernt habe, sondern auch erfahren habe, daß die Beschäftigung mit Grammatik spannend sein kann. Danken möchte ich schließlich auch Prof. Dr. Hubert Ivo und Enja Riegel, der heutigen Schulleiterin der Helene-Lange Schule - UNESCO-Projektschule und Versuchsschule des Landes Hessen, an der bereits in der Zeit nach ihrer Gründung 1847 der Geographieunterricht in französischer Sprache stattfand - die mein Interesse an sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Fragestellungen geweckt haben. Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Eike Thürmann vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und Thomas Jaitner von der Hauptstelle der Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien in Nordrhein-Westfalen, die mir vielfaltig Gelegenheit gaben, auch außerhalb der Hochschule über Probleme des Spracherwerbs in multilingualen und multikulturellen Kontexten zu diskutieren. Danken möchte ich schließlich meiner Familie: meinem Mann, der mich bei der Abfassung dieser Arbeit auch dadurch unterstützt hat, daß er mir von manchen anderen Verpflichtungen den Rücken freigehalten hat und meinen Töchtern, die die Entstehung dieser Arbeit auch in der Form kritisch begleitet haben, daß sie die Entwicklung von Mehrsprachigkeit in institutionellen Kontexten selbst erfolgreich erprobt haben und noch weiter erproben wollen.

0. Einleitung

0.1 Einführung in die Fragestellung: Probleme des Spracherwerbs in mehrsprachigen Kontexten und ihre möglichen Ursachen

Die Bundesrepublik Deutschland ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt ein Land mit nur einer Nationalsprache und autochthonen Sprachminderheiten, die zahlenmäßig nur einen sehr geringen Bevölkerungsanteil ausmachen.1 Kinder und Jugendliche wuchsen hier bis in die jüngste Vergangenheit mehrheitlich in einer weitgehend einsprachigen Umgebung auf. Die regelmäßige Begegnung mit einer oder mehreren anderen Sprachen - in der Regel Englisch, daneben Französisch, seltener Italienisch, Spanisch oder Russisch - fand für diese Kinder und Jugendlichen in aller Regel erst im Fremdsprachenunterricht, der ihnen in den weiterführenden Schulen angeboten wurde, statt. Als Folge erhöhter Mobilität, ermöglicht etwa durch die Schaffung der Europäischen Union, nahm aber auch in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren die Zahl der Kinder und Jugendlichen zu, die in ihrem Alltag regelmäßig mit mehr als einer Sprache in Kontakt kommen, die mehrsprachig aufwachsen.2 Die Situation dieser Kinder und Jugendlichen wird im Hinblick auf ihre sprachliche, ihre allgemeine kognitive und ihre psychosoziale Entwicklung häufig als konfliktträchtig bewertet. Besonders wird in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten mehrsprachiger Kinder in deutschen Bildungseinrichtungen, wie Vorschule (Kindergarten), Schule und Berufsschule, sowie in der Berufsausbildung aufmerksam gemacht: Zweisprachige Kinder und einsprachige Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch treffen hier auf Institutionen, die nach wie vor am Bild des monolingual deutschsprachig aufwachsenden Kindes orientiert sind. Gogolin (1994) spricht in diesem Zusammenhang vom monolingualen Habitus der multilingual/multikulturellen Schule. Dieser monolinguale Habitus hat negative Auswirkungen nicht nur auf die Einschätzung der Sprachkenntnisse mehrsprachig aufwachsender Kinder, sondern auch auf die institutionelle Förderung ihrer sprachlichen Entwicklung. So wird einerseits beklagt, daß bei vielen mehrsprachig aufwachsenden Kindern, besonders bei Kindern mit Migrationshintergrund, und zwar auch bei solchen, deren Eltern oder Großeltern bereits nach Deutschland eingewandert sind, häufig weder altersentsprechend entwickelte Kenntnisse in der Herkunftssprache noch altersentsprechend entwickelte Kenntnisse in der Landessprache Deutsch vorhanden seien. Andererseits wird den sprachlichen Voraussetzungen dieser mehrsprachig aufwachsenden Kinder in der Regelschule bis heute nicht systematisch Rechnung getragen: Erziehimg zur Mehrsprachigkeit ist bislang noch nicht zum selbstverständlichen Bestandteil des Curriculums geworden. Ebensowenig ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, Deutsch als Unterrichtsgegenstand und als Unterrichtsmedium stets auch aus der Perspektive des Fremd- bzw. Zweitsprachlerners zu reflektieren (Siebert-Ott 2000b). 1 2

In Deutschland leben drei autochthone Sprachminderheiten: Dänen, Nordfriesen und Sorben. Aktuelle statistische Angaben finden sich jeweils in den Berichten der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.) 2000: 229ff.).

2 Vor allem in der bildungspolitischen Debatte der letzten beiden Jahrzehnte wurde häufig die Position vertreten, daß solch einschneidende Veränderungen des Curriculums überflüssig seien. Tatsächlich hat sich aber die Prognose früherer Jahre, Probleme wie unzureichende Kenntnisse in der Unterrichtssprache Deutsch und - im Vergleich mit einsprachig aufwachsenden Kindern - schlechtere Schulleistungen würden sich im Laufe der Zeit von selbst lösen, als Fehlschluß erwiesen (Uçar 2000). In den letzten Jahren häufen sich daher auch in bildungspolitischen Diskursen die Stimmen, die im Hinblick auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit im institutionellen Kontext Schule ein kritisches Resumée ziehen und speziell im Hinblick auf Schüler, die Deutsch als zweite Sprache erwerben, feststellen, daß die schulische Förderung dieser Schüler in der Vergangenheit zu häufig zu unbefriedigenden Resultaten geführt hat (Siebert-Ott 2000b). Bei der Suche nach den möglichen Ursachen für diese Probleme ebenso wie bei der Suche nach mögüchen Lösungen wird zwar auf die Diskussion dieser Fragen in der internationalen Forschimg Bezug genommen. Da sich aber in Deutschland im Hinblick auf die skizzierte Problematik bislang kein einschlägiger, interdisziplinär orientierter Forschungsdiskurs etabliert hat, besteht bei solchen Rückgriffen auf Forschungsergebnisse in bildungspolitischen Diskursen die Gefahr, daß Ergebnisse einschlägiger Forschung falsch eingeschätzt werden, sei es, daß sie aus dem Zusammenhang gerissen und fehl interpretiert werden, sei es, daß neuere Entwicklungen nicht zur Kenntnis genommen, Widersprüche übersehen oder Beziehungen nicht hergestellt werden. So findet man in öffentlichen Diskursen, die die Sprachkenntnisse von Schülern mit Migrationshintergrund zum Thema haben, auch heute gelegentlich noch den Terminus Semilingualismus (doppelseitige Halbsprachigkeit) in der Verwendung als einschlägiger Fachterminus. Dieser Terminus wurde tatsächlich in der internationalen Forschung verwendet und auch in die Fachdiskussion in Deutschland eingeführt (Stölting 1980). Wird dieser Terminus heute in wissenschaftlichen Diskussionen aufgegriffen, wird er in aller Regel problematisiert, d.h. es wird nicht nur kritisch gefragt, welche sprachlichen Kompetenzen er beschreiben soll, sondern es wird auch gefragt, ob es überhaupt angemessen ist, die Sprachkenntnisse mehrsprachig aufwachsender Kinder an einer bestimmten (monolingualen) Norm zu messen (Gogolin/Graap/List (Hrsg.) 1998). Auch fur bestimmte wissenschaftliche Teildiskurse, die sich mit sprachlichen Aneignungsprozessen in mehrsprachigen Kontexten befassen bzw. die auch für solche Aneignungsprozesse Geltungskraft beanspruchen, gilt, daß sie häufig nicht genügend miteinander vernetzt sind, um zum Beispiel auf Widersprüche in ihren Befunden oder Deutungen aufmerksam zu werden. Das gilt etwa für das Verhältnis verschiedener sprachwissenschaftlicher Teildisziplinen untereinander oder das Verhältnis von Spracherwerbs- bzw. Sprachlernforschung und sprachdidaktischer Forschung. Im Folgenden sollen einige der in diesen Teildiskursen formulierten Hypothesen über charakteristische Merkmale sprachlicher Aneignungsprozesse in mehrsprachigen Kontexten vorgestellt und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Hypothese A l

(Akkulturations-Hypothese)

Die Entwicklung sprachlicher (speziell auch grammatischer) Kompetenz in der Zweitsprache ist unmittelbar abhängig von bestimmten soziokulturellen und sozialpsychologischen Faktoren: Eine gestörte Entwicklung der Zweitsprache ist in erster Linie zurückzuführen auf kulturelle Differenzen zwischen der eigenen Kultur und der durch die Sprecher der Zweitsprache repräsentierten Kultur sowie auf eine distanzierte Einstellung der Lemer gegenüber der fremden Kultur.

3 Diese Akkulturationshypothese, die das Ausmaß an tatsächlich vorhandener Distanz zwischen Herkunfts- und Zielkultur sowie das Ausmaß der wahrgenommenen kulturellen Unterschiede als Erklärung für Erfolg oder Mißerfolg des Zweitspracherwerbs anführt, wurde von Schumann in die Zweitspracherwerbsforschung eingebracht (Wode 21993: 329fif.).3 Aufgegriffen wurde dieser Ansatz in Deutschland etwa von Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) und von Kuhs (1989). In der öffentlichen Diskussion wird diese These neuerdings wieder aufgegriffen und unter dem Stichwort Rückzug in die eigene ethnische Gruppe dis-

kutiert: Der zweite Punkt, der uns wichtig zu sein scheint und der sicher auch den Ausschuß beschäftigen wird, ist die Bemerkung, daß die ausländischen Jugendlichen, die hier in Deutschland geboren sind, keineswegs das Geschäft des Lernens erleichtem. Es gibt ja die Auffassung, daß der 2. und 3. Generation das Lernen leichter falle, weil sie mit deutschen Kindern zusammen aufwüchsen und sie praktisch voll integriert seien, wenn sie in die Schule gingen. Das ist eben in vielen Fällen nicht der Fall. Oft beobachten wir sogar, daß Jugendliche der dritten Generation weniger Deutschkenntnisse mit in die Schule bringen als vorher. Es gibt offensichtlich, nicht zuletzt beeinflußt durch den Zeitgeist in Deutschland, eine Tendenz, sich stärker auf die eigene ethnische Gruppe zurückzuziehen.4

Die zweite Hypothese wurde von Cummins und Skutnabb-Kangas/Toukomaa Ende der siebziger Jahre in die internationale Forschungsdiskussion eingebracht. Hier wird sie seither unter der Bezeichnimg Interdependenz- und Schwellenhypothese diskutiert (Baker 1993a: 132flf., Siebert-Ott 2000b: 25£f.). Cummins und Skutnabb-Kangas/Toukomaa nehmen an, daß ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Muttersprache und der Entwicklung der Zweitsprache besteht: Hypothese B1 (Interdependenz- und Schwellenhypothese) Die Entwicklung sprachlicher (d.h. auch grammatischer) Kompetenz in der Zweitsprache sowie die allgemeine kognitive Entwicklung sind abhängig von der Entwicklung der Muttersprache. Die Entwicklung der Muttersprache muß ein bestimmtes Schwellenniveau überschritten haben, damit sich die Zweitsprache erfolgreich entwickeln kann und negative Auswirkungen der Zweisprachigkeit auf die allgemeine kognitive Entwicklung vermieden werden.

In Deutschland wird diese Hypothese seit geraumer Zeit von Sprachwissenschaftlern, Sprachdidaktikern und Bildungspolitikern kontrovers diskutiert (BAGIV (Hrsg.) 1985, Brumlik 2000, Felix 1993, Götze 1987, Karajoli/Nehr 1996, Pommerin 1992, Winters-Ohle 1989, Wunder 1994). Die aus Hypothese B1 zunächst abgeleitete Forderung, Kinder aus Sprachminderheiten, deren Erstsprache nicht mit der jeweiligen Landessprache identisch ist, in Vorschule (Kindergarten) und Schule etwa bis zum Alter von zehn Jahren ausschließlich oder überwiegend im Gebrauch ihrer Erstsprache zu fordern, wird heute in dieser Form kaum noch erhoben.5 Die frühe Förderung von Mehrsprachigkeit durch den Gebrauch einer weiteren Sprache neben der Muttersprache als Unterrichtssprache in Vorschule und Schule wird in der sprachdidaktischen und der bildungspolitischen Diskussion auch nicht mehr grundsätzlich 3

4

5

Die Frage, was hier jeweils unter Störung der zweitsprachlichen Entwicklung oder erfolgreichem Zweitspracherwerb verstanden wird, wird in den folgenden Kapiteln aufgegriffen. Vorgetragen wurde diese Position von einem Vertreter des Ministeriums für Schule und Weiterbildung im Landtag von Nordrhein-Westfalen vor dem Ausschuß für Migrationsangelegenheiten (Ausschußprotokoll 12/50, S.7 vom 5.10.1995). Für einen Literaturüberblick siehe Siebert-Ott (2000b).

4 als Überforderung angesehen. In der Bilingualismusforschung wird die These, daß jüngere Kinder mit dem Erwerb von mehr als einer Sprache in Elternhaus und/oder Schule kognitiv und emotional überfordert seien, sogar ausdrücklich verneint (Kielhöfer/Jonekeit 91995, Koehn/Müller 1990, Tracy 1996a, Wode 1995.). Allerdings wird die Einschätzung, daß die frühe Begegnung mit einer weiteren Sprache für Kinder aus sprachlichen Minderheiten unter bestimmten Bedingungen eine Überforderung darstellen kann, auch in der internationalen Bilingualismusforschung von einigen Wissenschaftlern geteilt (Appel/Muysken 1987, Baker 1993a, Hamers/Blanc 1989, Wode 1995). Hierfür werden einerseits Gründe geltend gemacht, die im soziokulturellen Umfeld der Kinder ihren Ursprung haben und zum anderen Gründe, die ihren Ursprung im monolingualen Habitus der Institutionen haben, in denen die Kinder einen wichtigen Teil ihrer sprachlichen Sozialisation erfahren: Die Quote der ausländischen Schüler, die im deutschen Bildungssystem nicht erfolgreich sind oder besser gesagt: gegenüber denen das deutsche Bildungssystem versagt - , ist nach wie vor sehr hoch. Während pädagogische Analysen nachzuweisen vermögen, daß die Ursachen im wesentlichen in Defiziten hegen, die die traditionellen nationalstaatlich orientierten Bildungssysteme gegenüber diesen Schülern aufweisen, schreiben bildungspolitisch und schulorganisatorisch Verantwortliche in der Regel den ausländischen Schülern selbst die Ursachen für ihr Versagen zu; sie seien es, die gegenüber den Normen und Forderungen, die das Bildungssystem des Aufhahmelandes setzt, Defizite aufweisen. (Boos-Nünning/Gogolin 1988: 5).

In der Entwicklung geeigneter sprachdidaktischer Konzepte für die Erziehimg von Schülern, die in ihrer Lebenswelt regelmäßig mit zwei Sprachen in Kontakt kommen, sieht eine dritte Gruppe von Wissenschaftlern die Lösung der hier geschilderten Probleme. Diese Konzepte beziehen entweder beide vom Kind gesprochene Sprachen ein oder konzentrieren sich - ggf. aus pragmatischen Gründen6 - auf die Vermittlung einer near native Sprachkompetenz in der Landessprache. Mangelnde Sprachkenntnisse in der Zweitsprache lassen sich nach einer der in diesem Zusammenhang vertretenen Auffassungen mit der Verwendung eines sprachdidaktischen Konzepts erklären, das dem systematischen sprachlichen Lernen nicht genügend Aufmerksamkeit widmet: In der bisherigen didaktischen Diskussion überwiegen handlungsorientierte Ansätze, die davon ausgehen, daß die Majoritätssprache Deutsch durch die Interaktion mit deutschen native speakers erworben wird. In Klassen mit einem Ausländeranteil von mehr als 30% verläuft dieser Prozeß häufig umgekehrt, d.h. die deutschen Schüler übernehmen die Interlanguage ihrer ausländischen Mitschüler; es entsteht eine Art lingua franca, die sprachliche Entsprechung der interkulturellen Erziehung. (Belke 1989: 180)

Tatsächlich wird bis heute in Deutschland ein systematischer, kontinuierlicher Deutsch als Fremdsprache-\JrAe,mc\A im Rahmen des Regelunterrichts nicht erteilt. Ein solcher Unterricht wird Schülern mit geringen Sprachkenntnissen in der Fremdsprache Deutsch kurzzeitig in separaten internationalen Förderklassen und Schülern, die bereits in Regelklassen integriert sind oder von Anfang an am Regelunterricht teilgenommen haben, als separater

Diese Position, daß sich unter den gegenwärtigen gesellschafts- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen das unter sprachlerntheoreti sehen Gesichtspunkten Notwendige und Sinnvolle nur mit Abstrichen realisieren läßt, vertritt etwa Belke (1999: 15):, Jn der Bundesrepublik ist aufgrund der politischen Rahmenbedingungen [...] kurzfristig nicht damit zu rechnen, daß sich Konzepte für eine konsequent zweisprachige Erziehung durchsetzen lassen. Deshalb wird allen Beteiligten nichts anderes übrig bleiben, als unter den bestehenden Bedingungen so gut wie möglich zu arbeiten."

5 Förderunterricht angeboten. Diese Praxis einer möglichst frühen Integration in den Regelunterricht entwickelte sich zu Beginn der achtziger Jahre als Reaktion auf die schlechten Erfahrungen mit einer langfristigen separaten Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund in den sechziger und siebziger Jahren. 7 Allerdings führte auch diese neue Konzeption einer möglichst frühen Integration in den Regelunterricht nicht dauerhaft zu den gewünschten Ergebnissen, einer deutlichen Verbesserung der sprachlichen Kompetenz in der Zweitsprache und einer Angleichung der von Schülern mit Migrationshintergrund erreichten schulischen Abschlüsse an die Abschlüsse, die von monolingual deutschsprachigen Schülern erreicht werden: Anfang der 90er Jahre hatte sich die Schulbesuchsquote von Schülern ausländischer Herkunft dahin gehend positiv entwickelt, daß sie häufiger mittlere und weiterführende Schulen wie Realschule und Gymnasium, seltener jedoch eine Hauptschule besuchten als noch zu Anfang der 80er Jahre. Im Gegensatz dazu ist seit 1992 eine deutliche Trendwende zu beobachten: Der kontinuierliche leichte Trend zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung setzt sich seit 1992 nicht mehr fort.[...] Im Vergleich zu Anfang der 90er Jahre, als trotz der Verbesserungen der schulischen Beteiligung Jugendlicher ausländischer Herkunft sich der Abstand zu deutschen Jugendlichen kaum reduziert hatte, wächst jetzt der Unterschied in der Bildungsbeteiligung an weiterführenden Schulen wieder. (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 1997: 31)

Auch für diese Entwicklung könnten neuere Entwicklungen in der Gestaltung des Grammatikunterrichts im Rahmen des Deutschunterrichts verantwortlich gemacht werden, speziell die Prinzipien der Handlungsorientierung und des Situationsbezugs. Diese Prinzipien wirken sich nach Auffassung mancher Sprachdidaktiker auf Schüler mit besonderem Förderbedarf in der Zweitsprache Deutsch deutlich nachteilig aus: Der vielfach praktizierte .Situationsfetischismus' und die häufig damit verbundene Priorität der mündlichen Sprachbeherrschung ist [...] abzulehnen, weil er nur das reproduziert, was die Kinder außerschulisch ohnehin lernen. Außerdem lenkt er die Aufmerksamkeit stärker auf die inhaltlichen Aspekte eines interessanten Themas, weniger auf die sprachlichen Mittel, auf die es im Grammatikunterricht ankommt. (Belke 1999: 181f.)

Belke macht hier also als eine wesentliche Ursache für die gering entwickelte sprachliche Kompetenz von Schülern, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, die Neuorientierung des Grammatikunterricht Ende der siebziger Jahre aus, die Konzeption des gelegenheitsorientierten Grammatikunterrichts in Situationen (Eichler 61998). Aus diesen Überlegungen läßt sich Hypothese Cl herleiten, die allerdings in der gegenwärtigen fachdidaktischen Diskussion zumindest im Hinblick auf die Entwicklung sprachlicher Kompetenz bei Schülern mit Migrationshintergrund noch kaum eine Rolle spielt: Hypothese Cl: Die bei Schülern mit Migrationshintergrund häufig zu beobachtenden sprachlichen (speziell auch die grammatischen) Defizite in der Zweitsprache Deutsch sind das Resultat eines unzulänglichen Sprachunterrichts, der aufgrund seiner zu ausgeprägten Handlungs- und Situationsorientierung dem systematischen sprachlichen Lernen (Grammatikunterricht) eine zu geringe Bedeutung beimißt.

Während die Hypothese Al (Akkulturationshypothese) die Ursachen für die häufig nicht genügend entwickelte Sprachkompetenz in der Zweitsprache bei Schülern mit Migrationshintergrund in deren soziokulturellem Umfeld lokalisiert, lokalisiert Hypothese Cl die 7

Siehe hierzu Röhr-Sendlmeier ( 1986).

6 Ursachen in der Institution Schule in grundsätzlichen Defiziten des gegenwärtigen Deutschunterrichts. Hypothese B1 (Interdependenz- und Schwellenhypothese) nimmt demgegenüber - wie noch genauer darzulegen sein wird - eine mittlere Position ein. Danach sind zweisprachig aufwachsende Schüler aus bestimmten soziokulturellen Milieus in den beschriebenen institutionellen Kontexten besonders gefährdet, „doppelseitig halbsprachig" zu werden, worunter verstanden wird, daß sie weder in der Familien- noch in der Landessprache eine altersentsprechende sprachliche Kompetenz im mündlichen und im schriftlichen Sprachgebrauch ausbilden können. In meiner Untersuchung gehe ich zunächst von der Annahme aus - die im Folgenden dann genau zu diskutieren sein wird - , daß die folgenden Formen des Spracherweibs im Rahmen einer einheitlichen Theorie beschrieben werden können: • monolingualer und bilingualer Erstspracherwerb • ungesteuerter Zweitspracherwerb außerhalb und innerhalb von institutionellen Kontexten • gesteuerter Zweitspracherwerb in institutionellen Kontexten Von bilingualem Erstspracherwerb werde ich dann sprechen, wenn zwei Sprachen von frühester Kindheit an simultan erworben werden. Werden zwei Sprachen im Kindesalter deutlich zeitversetzt erworben, werde ich terminologisch zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb unterscheiden. Ich werde dabei Klein (1984) folgend die Grenze beim Alter von etwa drei Jahren (36 Monate) setzen.8 Von gelenktem bzw. gesteuertem Spracherwerb werde ich dann sprechen, wenn der Spracherwerb innerhalb einer Institution stattfindet und wenn systematische Bemühungen erkennbar sind, die sprachliche Kompetenz der Schüler weiter zu entwickeln. Die Annahme, daß ungesteuerte und gesteuerte sprachliche Aneignungsprozesse im Rahmen einer einheitlichen Theorie beschrieben werden können, ist in der neueren Spracherwerbs- und Sprachlernforschung keineswegs unumstritten: Die Spracherwerbsforschung berücksichtigt in empirischen Untersuchungen noch kaum Spracherwerbsdaten, die in institutionellen Kontexten erhoben wurden. Die Sprachlernforschung ist häufig noch wenig an natürlichen (ungesteuerten) sprachlichen Aneignungprozessen interessiert und skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit der Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus der modernen Spracherwerbsforschung auf Sprachlernforschung und Sprachunterricht (Siebert-Ott 2000d, Wolff 1992, Zydatiß 1997). Das Erkenntnisinteresse der neueren Spracherwerbsforschung, die sich als Teildisziplin der kognitiven Wissenschaften versteht, ist geprägt durch die drei folgenden Fragestellungen (Bierwisch 1987: 654): 1. Was ist Sprachkenntnis? 2. Wie wird Sprachkenntnis erworben? 3. Wie wird Sprachkenntnis wirksam? Mit der ersten dieser drei Fragestellungen befaßt sich insbesondere die theoretische Linguistik, die beiden übrigen Fragestellungen sind Gegenstand der Psycholinguistik. Die ent-

8

Wode (21993: 20Iff.) vertritt demgegenüber die Auffassung, daß bereits dann nicht mehr von LlMehrsprachigkeit gesprochen werden kann, wenn ein Kind zu Beginn des zweiten Lebensjahres, also nach dem zwölften Lebensmonat, erstmals Kontakt zu einer weiteren Sprache hat.

7 scheidenden Impulse gingen dabei von Entwicklungen innerhalb der theoretischen Linguistik aus. Eine wesentliche Rolle hat dabei die Entwicklung der Theorie der generativen Grammatik gespielt (Bierwisch 1987: 646). Bedeutsam für die Spracherwerbsforschung sind insbesondere die im Rahmen dieser Theorie entwickelten nativistischen Erklärungsversuche für den Erwert) von Sprachkenntnis. Es wird davon ausgegangen, daß angeborene sprachspezifische Prinzipien (Universalgrammatik) dem Kind den Erwerb der Grammatik einer Einzelsprache ermöglichen (Bierwisch 1987: 656£f.). Spracherwerb, speziell Grammatikerwerb, vollzieht sich nach dieser Theorie im wesentlichen unabhängig von der übrigen kognitiven Entwicklung und auch weitgehend unabhängig von äußeren Bedingungen. Diese These wird unter dem Stichwort Autonomiehypothese in der Forschung diskutiert.9 Nativistische Erklärungsansätze werden gegenwärtig erfolgreich bei der Erforschung des monolingualen und des bilingualen Erstspracherwerbs erprobt; zunehmend wird die Möglichkeit der Verwendung nativistischer Erklärungsansätze auch bei der Erforschung des Zweitspracherwerbs von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen diskutiert (Clahsen 1988a, Hoekstra/Schwartz (Hrsg.) 1994, Meisel (Hrsg.) 1990, 1992a und 1994a, Rothweiler (Hrsg.) 1990, Tracy 1991 und 1996a). Die genannten Untersuchungen beschäftigen sich mit der Frage, ob sich die Entwicklung grammatischen Wissens beim Kind unabhängig von seiner allgemeinen kognitiven Entwicklung und unabhängig vom Einwirken äußerer Faktoren, wie zum Beispiel soziokultureller und sozialpsychologischer Faktoren, beschreiben und erklären läßt. In diesen Untersuchungen wird außerdem der Frage nachgegangen, ob sich die Entwicklung grammatischen Wissens beim bilingualen Kind in den beiden Sprachen im wesentlichen unabhängig voneinander vollzieht. Daraus leiten sich die beiden folgenden Hypothesen ab, die nicht für den Spracherwerb insgesamt, sondern nur für den Grammatikerwerb gelten sollen: Hypothese A2 (Autonomiehypothese) Grammatikerwerb im Kindesalter vollzieht sich im wesentlichen unabhängig von der allgemeinen kognitiven Entwicklung, unabhängig von der Entwicklung weiterer sprachlicher Kenntnissysteme und unabhängig von äußeren Bedingungen auf der Basis angeborener spezifischer Fähigkeiten zur Verarbeitung sprachlicher Muster.

Hypothese A2 steht im Widerspruch zu Hypothese Al (Akkulturationshypothese). Treffen die in Hypothese A2 formulierten Annahmen über die Prinzipien, denen der Spracherwerb im Kindesalter folgt, zu, dann lassen sich auch Probleme beim Erwerb grammatischen Wissens in der Zweitsprache bei Kindern aus sprachlichen Minderheiten, die als Simplifizierung, Fossilierung, Mischsprachigkeit oder ähnliches bezeichnet werden, nicht mit Hilfe von Hypothese Al begründen. Eine plausible Erklärung solcher Phänomene muß vielmehr mit den Voraussagen von Hypothese A2 vereinbar sein. Hypothese A2 legt zumindest im Hinblick auf den bilingualen Erstspracherwerb und den Zweitspracherwerb im Kindesalter die Annahme nahe, daß die beiden Sprachsysteme grundsätzlich erfolgreich, getrennt voneinander erworben werden können.

9

Andere Forschungsrichtungen innerhalb der kognitiven Linguistik gehen davon aus, daß Spracherwerb sich nicht unabhängig von der übrigen kognitiven Entwicklung vollzieht, sondern daß sich die sprachliche Entwicklung unter Bezug auf die allgemeine kognitive Entwicklung erklären läßt. Siehe hierzu auch Schwarz (21996).

g Hypothese B2: Der Erwerb grammatischen Wissens vollzieht sich bei zweisprachig aufwachsenden Kindern in beiden Sprachen im wesentlichen unabhängig voneinander. Das gilt sowohl für den simultanen als auch für den sukzessiven Erwerb von zwei oder mehr Sprachen im Kindesalter.

Hypothese B2 steht im Widerspruch zu Hypothese Bl. Interdependenz- und Schwellenhypothese legen, zumindest in ihrer ursprünglichen Version, die Annahme nahe, daß der erfolgreiche Erwerb einer zweiten Sprache im Kindesalter nur auf der Basis gut entwickelter sprachlicher Kompetenz in der Erstsprache möglich ist. Treffen die in Hypothese B2 formulierten Annahmen zu, dann lassen sich Probleme beim Erwerb grammatischen Wissens in der Zweitsprache nicht mit Hilfe von Hypothese Bl begründen. Auch Interdependenz- und Schwellenhypothese können, weder in ihrer ursprünglichen Version noch in späteren Versionen, diese Probleme angemessen erklären. Hypothese Cl liegt außerhalb des Erklärungsanspruchs nativistischer Spracherweibstheorien, da sich diese Theorien ausdrücklich auf .natürliche' sprachliche Aneignungsprozesse beziehen. Die Frage, inwieweit in natürliche Zweitspracherweibsprozesse z.B. mit Hilfe traditioneller Lehrmethoden (,Grammatikunterricht') steuernd eingegriffen werden kann, d.h. wie erfolgreich die aus dem traditionellen Fremdsprachenunterricht bekannten lehrerzentrierten Instruktionsverfahren verglichen mit natürlichen Spracherwerbsprozessen überhaupt sein können, ist auch in der neueren Spracherwerbs-/Sprachlernforschung noch nicht geklärt (Ellis 21995, Huneke/Steinig 1997). Unabhängig vom Ausgang dieser Forschungsdiskussion ist aber davon auszugehen, daß auch im Fremdsprachenunterricht natürliche Spracherwerbsprozesse ablaufen (Wode 21993). Dies gilt speziell für Immersionsprogramme, deren Charakteristik ja gerade ist, daß hier durch den Gebrauch der Fremdsprache als Unterrichtssprache und die Verbindung von inhaltlichem und sprachlichem Lernen (Content and language integrated learning) natürliche Erwerbsprozesse simuliert werden sollen (Lamsfuß-Schenk/Wolff 1999, Siebert-Ott 1999e). Der in empirischen Studien nachgewiesene Erfolg von Immersionsprogrammen (Siebert-Ott 2000b) legt nahe, außer Hypothese Cl auch Hypothese C2 zu überprüfen: Hypothese C2: Die bei Schülern mit Migrationshintergrund häufig zu beobachtenden sprachlichen (speziell auch grammatischen) Defizite in der Zweitsprache Deutsch sind das Resultat eines unzulänglichen Sprachunterrichts, der trotz seiner ausgeprägten Handlungs- und Situationsorientierung nicht die Effizienz von Immersionsverfahren erreichen kann, da ihm alle wesentlichen Merkmale von Immersionsprogrammen fehlen.

Ein Ziel meiner Arbeit ist es, in Auseinandersetzung mit einschlägigen theoretischen und empirischen Studien zum monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb und zum Zweitspracherwerb die Gründe, die dafür sprechen, daß Hypothese A2 und Hypothese B2 wesentliche Aspekte des monolingualen und des bilingualen Erstspracherwerbs sowie des (frühen) Zweitspracherwerbs angemessen beschreiben, sowie die Gründe, die gegen diese Annahme sprechen, zu diskutieren. Dabei wird auch die Version einer generativ orientierten Sprach(erwerbs)theorie (Haider 1993) diskutiert, die eine deutliche Nähe zu neueren konnektionistischen Sprach(erwerbs)theorien aufweist. Das andere Ziel meiner Arbeit ist es, vor dem Hintergrund dieser Diskussion die Ursachen für die Probleme von Kindern aus Sprachminderheiten bei der Entwicklung von altersangemessener Sprachkompetenz in der Landes- oder/und in der Herkunftssprache genauer zu bestimmen. Dabei ist zunächst herauszuarbeiten, was in der internationalen For-

9 schung genau unter Termini wie doppelseitige Halbsprachigkeit (Semilingualismus), subtraktiver Bilingualismus, Minderheitenzweisprachigkeit, Mischsprachigkeit usw. verstanden wurde bzw. verstanden wird. Besonders ist zu prüfen, inwieweit bei der Definition dieser Termini auf Schwierigkeiten beim Erwerb der grammatischen Systeme von Herkunfts- und Landessprache Bezug genommen wird. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu klären, was unter dem Terminus sprachliches bzw. grammatisches Wissen verstanden werden soll. Ist darunter ein knowing how, ein knowing that oder beides zu verstehen? Im Rahmen der generativen Theorie wird, wie im folgenden Kapitel 0.2 noch genauer darzulegen sein wird, unter sprachlichem Wissen ein tacit knowledge verstanden. Dieser Wissensbegriff beinhaltet also gerade kein knowing that. In der Sprachdidaktik, und nicht nur dort, wird Wissen in der Regel mit knowing that gleichgesetzt und von Können als knowing how unterschieden: Sprachrichtigkeit als ein weiterer Zielbegriff sprachlicher Bildung setzt für die muttersprachliche Praxis voraus, daß die eigene, die vernaculäre Sprache in einem strikten Sinn ein zweites Mal, in einer besonderen Anstrengung gelernt und angeeignet wird. Die eigene Sprache, die die Kinder von Haus aus mitbringen (Dante nennt sie Ammensprache), gerät in dieser Anstrengung unter die Herrschaft der Grammatik als einer Sammlung von Anweisungen, was für die nun ein zweites Mal zu erlernende Eigensprache gelten soll. Das Medium, in dem sich diese Anstrengung vollzieht, ist die Schrift. Die muttersprachliche Kompetenz, die sich im Verlauf dieses doppelten Aneignungsund Lernprozesses bildet ist - in der Terminologie von Gilbert Ryles gesprochen - ein Können (knowing how) und ein Wissen (knowing that). (Ivo 1996:14)

Ivo vertritt hier die Ansicht, daß Wissen - verstanden als knowing that - nicht nur Regelwissen, sondern auch normatives Wissen beinhaltet, d.h. der Sprecher kann nicht nur Auskunft darüber geben, nach welchen Regeln eine bestimmte sprachliche Äußerung gebildet wird, er kann auch darüber Auskunft geben, nach welchen Regeln eine sprachliche Äußerung in einem bestimmten Kontext gebildet werden sollte. In der sprachwissenschaftlichen Diskussion spielen normative Aspekte gegenwärtig keine zentrale Rolle (Peyer/Portmann (Hrsg.) 1996). Sprachwissenschaft versteht sich als deskriptive, gelegentliche auch als explanative, keinesfalls aber als präskriptive Disziplin. Eine stärkere Einbeziehung normativer Überlegungen in die sprachdidaktische Diskussion hat in den letzten Jahren besonders Hubert Ivo in verschiedenen Arbeiten gefordert. Nach seinem Verständnis kann die allgemeine Sprachdidaktik im Gefüge der germanistischen Wissenschaften eine Lücke schließen, wenn sie Fragen der sprachlichen Norm (Konvention) und der Weitergabe (Tradierung bzw. Vermittlung) sprachlicher Nonnen wieder in verstärktem Maße der wissenschaftlichen Reflexion zugänglich macht: Sprachdidaktik hat in diesem Verständnis ein eigenes Gegenstandsfeld, insofern sie fragt, wie Muttersprache im geschichtlichen Prozeß einer Kultur .weitergegeben' wird und in welcher Weise dabei .planende' Eingriffe eine Rolle spielen. (Ivo 1989: 34)

Zu dem von Ivo skizzierten Gegenstandsfeld der Sprachdidaktik gehört meines Erachtens im Kontext der fachdidaktischen Diskussion in Deutschland nicht nur die Frage, wie die Muttersprache Deutsch im geschichtlichen Prozeß einer Kultur weitergegeben wird, sondern auch die Frage, wie andere, in deutschen Regelschulen unterrichtete Muttersprachen in einem solchen geschichtlichen Prozeß weitergegeben werden.10 Und es sollte meiner

10

Die Ausführungen von Ivo sind auch nicht so zu verstehen, als ob sie sich auf die Muttersprache Deutsch beschränken würden. Für Ivos Überlegungen ist die Funktionserweiterung der europäi-

10 Ansicht nach die Frage ergänzt werden, wie das Deutsche als Zweitsprache in diesem geschichtlichen Prozeß weitergegeben wird und welche planenden Eingriffe dabei eine Rolle spielen (Günther/Klotz/Ossner/Siebert-Ott 1999). Planende Eingriffe in sprachliche Aneignungsprozesse können sowohl der spontanen als auch der reflexiven Aneignung sprachlichen Wissens gelten. Reflexive Aneignung von Sprache macht nach Ivo (2000: 25) den Kern sprachlicher Bildung aus: „Sie zielt einerseits auf die sprachliche Norm, andererseits auf ein theoretisches Verständnis der eigenen Sprachlichkeit." In den folgenden Überlegungen wird es also sowohl um das knowing how als auch um das knowing that gehen.

0.2 Sprachliches (grammatisches) Wissen: intuitives Wissen (kwowing how) und/oder bewußtes Wissen (knowing that)Ί

Die Frage nach den charakteristischen Eigenschaften sprachlichen (grammatischen) Wissens, seines Erwerbs und seines Gebrauchs wird auch in der neueren Spracherwerbsforschung noch kontrovers diskutiert. Psycholinguisten, die sich an den im Rahmen der Entwicklung der Theorie der generativen Grammatik gewonnenen Erkenntnissen orientieren, charakterisieren sprachliches Wissen als intuitives Wissen bzw. als tacit knowledge. Kinder erwerben dieses Wissen nicht allein deshalb, weil sie von frühester Kindheit an ständig mit dem Gebrauch von Sprache und mit sprachlichen Handlungen in ihrer Umgebung konfrontiert werden, sondern weil sie über einen angeborenen sprachspezifischen Erwerbsmechanismus verfügen. Das intuitive sprachliche Wissen ist dem Bewußtsein nicht zugänglich, „d.h. deijenige, der über dieses Wissen verfügt, kann in der Regel nicht angeben, worin denn dieses Wissen konkret besteht" (Fanselow/Felix 1987: 29).11 Diese Annahmen sind nicht unwidersprochen geblieben. Besonders die Annahme, daß die sprachspezifischen kognitiven Grundlagen für die Entwicklung sprachlicher (grammatischer) Kompetenz eine entscheidendere Rolle spielen als der kulturelle Kontext, in dem das Kind in der Interaktion mit Erwachsenen seine Muttersprache erwirbt, ist in Zweifel gezogen worden: Auch wenn kein Zweifel daran bestehen kann, daß die Sprachfähigkeit des Menschen zu seiner genetischen Ausstattung gehört, sprechen doch viele Gründe dafür, daß die Ausbildung dieser Fähigkeit im Zuge des Spracherwerbs, die zur einzelsprachlichen Kompetenz erwachsener Sprecher

sehen Volkssprachen seit dem Mittelalter, ihr Ausbau zu Schriftsprachen konstitutiv. Seine Überlegungen beziehen also ausdrücklich alle Volkssprachen ein, die zum Prozeß der Ablösung des Lateinischen als universeller Schriftsprache, „als Kultur-, Wissenschafts-, Rechts- und Literatursprache" beigetragen haben (Ivo 1996: 14). Daß hier auch Arbeiten aus den achtziger Jahren zitiert werden, geschieht zum einen aus einem Interesse an der Entwicklung des Diskurses über die charakteristischen Merkmale sprachlichen Wissens, soll zugleich aber auch auf Konstanten in dieser Debatte aufmerksam machen. Siehe hierzu auch Smith (2000: vi): „His concentration on an internalist view of language brings Chomsky's work into the domain of psychology, and ultimately biology [...] A number of consequences follows from his naturalistic thesis: there is no justification [... ] for the demand that the rules of language which we ascribe to individuals should be consciously accessible [...]"

11 führt, in entscheidender Weise durch den kulturellen Kontext der sprachlichen Ontogenese bestimmt wird. (Jäger 1994: 1)

Jäger, der den von ihm vertretenen Ansatz als funktionsorientiert und die Gegenposition als strukturorientiert bezeichnet, vertritt die Ansicht, daß die Geschichte der Sprachwissenschaft von ihrem Beginn an durch einen Grundkonflikt zwischen kulturorientierten Theorien (,Mead-Theorien') und kognitionsorientierten Theorien (,Chomsky-Theorien') bestimmt worden sei (Jäger 1993a: 77ff.): Seit sich die Sprachwissenschaft von ihren Herkunftskontexten - der klassischen Philologie, der Theologie und der Philosophie - gelöst hat [...] seit sich das Problem der Sprache als ein autonomes wissenschaftliches Untersuchungsfeld etablierte, ist der Streit darüber, worin die Natur der Sprache bestehe, was das Wesen der Sprache ausmache, inhaltlich zu keinem Ende gekommen [... ] Versuchte man in der Kette dieser verschiedenen Modellierungen des Gegenstandes sprachwissenschaftlicher Erkenntnis einen Grundgegensatz zu erkennen, so ließe sich dieser als Gegensatz zwischen im weitesten Sinne ifrufowrorientierten auf der einen und /««tóonjorientierten Sprachtheorien auf der anderen Seite beschreiben. Auch auf die Gefahr hin, problematische Vereinfachungen vorzunehmen, möchte ich beide Modelle wie folgt charakterisieren: (1) Strukturorientierte Theorien tendieren dazu, einen systematischen Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion der Sprache zu negieren; insbesondere die intentional-kommunikative Funktion der Sprache wird als ein unwesentlicher Aspekt ihrer Natur betrachtet [...] (2) Funktionsorientierte Theorien neigen dazu, nicht nur in phylogenetischer Hinsicht einen systematischen Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion zu postulieren; sie halten die intentional-kommunikative Funktion der Sprache für eine ihrer konstitutiven Eigenschaften. (Jäger 1993a: 77f.)

Tatsächlich negieren nicht alle kognitionsorientierten Theorien einen systematischen Zusammenhang zwischen der syntaktischen Struktur einer Äußerung, ihrer wörtlichen Bedeutung und der mit der Äußerung verknüpften kommunikativ-pragmatischen Funktion. Eine solche Hypothese über die Autonomie der Syntax wird nur in der Sprachtheorie der generativen Grammatik vertreten. Zwar war das von Chomsky entwickelte Kognitionsmodell nicht nur für die kognitive Wende in der Linguistik wichtig, sondern für die Entwicklung der Kognitionswissenschaft überhaupt, es handelt sich aber weder um das einzige noch um das von der Mehrzahl der kognitiven Linguisten verwendete Kognitionsmodell.12 Da Funktionsorientierung und Orientierung am kognitiven Paradigma nicht grundsätzlich im Widerspruch zueinander stehen, bezeichne ich hier den von Jäger vertretenen Ansatz als kulturorientiert und verstehe seine Kritik als eine Kritik aus der Position dieses Ansatzes an der Sprachtheorie der generativen Grammatik. Zu kritisieren ist an der Sprachtheorie der generativen Grammatik aus der Sicht eines kulturorientierten Ansatzes nach Auffassung von Jäger (1993a: 98f.) insbesondere die Reduktion der Geschichtlichkeit von Sprache auf Naturgeschichte, das fehlende Interesse an der kommunikativen, der medialen und der ästhetischen Dimension von Sprache und das Interesse am Sprachsubjekt als Gattungswesen, nicht aber am Sprachsubjekt als Individuum, das sein sprachliches Wissen im Rahmen einer bestimmten sozialen Bildungsgeschichte entfaltet. Das Erkenntnisinteresse der von Chomskys Auffassungen über die Natur der menschlichen Sprache geprägten kognitiven Linguistik unterscheidet sich auch nach deren eigenem Selbstverständnis wesentlich vom Erkenntnisinteresse einer geisteswissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft:

12

Siehe hierzu die ausführliche Darstellung von Schwarz ( 2 1996).

12 Die Untersuchung menschlicher Sprachen erweist, daß sie Strukturen besitzen, die ohne eine spezifisch auf sie ausgerichtete und vorstrukturierte Lernfähigkeit von endlichen Organismen (wie der Mensch einer ist) in endlicher Zeit nicht erlernt werden können [...] Folglich geht eine Richtung der modernen Linguistik davon aus, daß der generelle Teil der Sprachfähigkeit dem Menschen eigentümlich und ihm angeboren ist, also zu seiner genetisch vorgegebenen mentalen Grundausstattung gehört. Aufgabe der Linguistik ist es in diesem Sinne, die Struktur dieser angeborenen mentalen Fähigkeit zu erforschen. Damit hat sich die Linguistik ihren autonomen Gegenstand bestimmt und sich selber als autonome Wissenschaft ausgewiesen. (Lenerz 1985: 335) Das Erkenntnisobjekt Sprache wird von dieser Richtung der kognitiven Linguistik eingegrenzt auf die universellen sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die den Erwerb einzelsprachlichen grammatischen Wissens ermöglichen: Sprache ist weitgehend eine Leistung der menschlichen Gesellschaft. Die tieferliegenden Prinzipien der Grammatik sind dagegen eine Leistung der biologischen Gattung Mensch. Mit anderen Worten, Grammatik ist ein Teil der biologischen Grundausstattung des Menschen. Der generativen Grammatik geht es vor allem um Grammatik, weniger um Sprache. (Stechow/Sternefeld 1988: 9ff.) Da es also um eine Theorie über ein bestimmtes System mentaler Strukturen geht und da vermutlich die Grammatik, nicht aber die Sprache ein solches autonomes System darstellt [...] ist das Ziel der generativen Linguistik im strengen Sinne die Grammatiktheorie und nicht die Sprachtheorie. (Fanselow/Felix 1987a: 17f.) Ein eigenständiges Wissenssystem Sprache existiert nach dieser Auffassung nicht: Der Terminus , Sprache' bezeichne ein Epiphänomen und sprachliches Wissen müsse als ein Zusammenwirken verschiedener kognitiver Wissenssysteme beschrieben werden (Fanselow/Felix 1987a: 17f.). Die Untersuchung sprachlichen Wissens insgesamt sei daher nicht alleinige Aufgabe der kognitiven Linguistik, sondern müsse gemeinsam mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen betrieben werden (Lenerz 1985: 327fF.). Andererseits kann aber auch die Erforschung der sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen nicht von der kognitiven Linguistik alleine geleistet werden (Habel 1993: 263). Jäger (1993a) bezweifelt allerdings, daß die kognitive Linguistik in der Ausprägung, die sie in der Theorie der generativen Grammatik gefunden hat, überhaupt einen nennenswerten Beitrag zur Erforschimg der sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen leisten könne. Diese negative Einschätzung wird mit einem Hinweis auf die Methoden begründet, die bei der Untersuchimg des einzelsprachlichen grammatischen Wissens verwendet werden.13 Die Beschreibung dieses einzelsprachlichen Wissens erfolge nicht auf der Basis beobachtbarer Daten aus dem konkreten Sprachgebrauch einzelner Individuen in einer konkreten Kommunikationssituation, sondern auf der Basis von Sprecherurteilen über die Grammatikalität von Äußerungen (Jäger 1993a: 235ÉF.). Diese kritische Einschätzung, daß auch die Untersuchung grammatischen Wissens in der Regel von der Beobachtung konkreter Äußerungen ausgehen müsse, wird auch von anderen Sprachwissenschaftlern geteilt. Against such a position Chomsky recently argued that the investigation of observable linguistic data and the variation inherent in it (e.g. bilingual conversation), is for a linguist as unrewarding as 13

Außerdem bezeichnet Jäger (1993a: 97f.) das von Chomsky entwickelte Kognitionsmodell als veraltet. Modelle der Symbolrepräsentation/Symbolverarbeitung seien durch konnektionistische Modelle bereits überholt. Diese Debatte ist aber noch keineswegs abgeschlossen. Siehe hierzu etwa Chomsky (2000a), Elman/Bates/Johnson (1996) und Epstein/Flynn/Martohadjono (1996).

13

the investigation of ,real' fluids, for instance, the polluted water in a river, is for the (theoretical) chemist. (Auer/di Luzio 1988b: 2) In Arbeiten zur generativen Grammatik wird tatsächlich geltend gemacht, daß die Form sprachlicher Äußerungen nicht nur durch die sprachliche Kompetenz, sondern auch durch äußere Faktoren, wie die Beschränktheit des Gedächtnisses oder Konzentrationsmangel, bestimmt sei. Solche Faktoren führten in der gesprochenen Sprache zu Satzabbrüchen, Kongruenzfehlern usw. In diesem Sinne sind die beobachtbaren sprachlichen Daten tatsächlich .verschmutzt' und müssen für die wissenschaftliche Untersuchung zunächst aufbereitet werden.14 Es trifft aber nicht zu, daß beobachtbare linguistische Daten keinerlei Relevanz für einen im generativen Paradigma arbeitenden Linguisten besäßen: In principle, evidence concerning the character of I-language and initial state could come from many different sources apart from judgements concerning the form and meaning of expressions: perceptual experiments, the study of acquisition and deficit or partially invented languages such as creóles, or of literary usage or language change, neurology, biochemistry, and so on [...] As in the case of any inquiry into some aspects of the physical world, there is no way of delimiting the kinds of evidence that might, in principle, prove relevant. (Chomsky 1986: 37)15 Es trifft außerdem nicht zu, daß die in linguistischen Daten beobachtbare sprachliche Variation in empirischen Untersuchungen, die mit dem generativen Kognitionsmodell arbeiten, grundsätzlich nicht berücksichtigt werden könnte oder dürfte. Auch Chomsky (1986: 187) geht davon aus, daß jeder Sprecher über die Kenntnis einer Anzahl sprachlicher Varietäten verfügt und daß sich Sprachgemeinschaften in aller Regel auch nach außerlinguistischen Kriterien bestimmen, daß sie in aller Regel also nicht homogen sind:16 Of course it is understood that the speech communities in the Bloomfieldian sense - that is, collections of individuals with the same speech behavior - do not exist in the real world. Each individual has acquired a language in the course of complex social interactions with people who vary in the ways in which they speak and interpret what they hear and in the internal representations that underlie their use of language. (Chomsky 1986: 16 If.) Die Tatsache, daß jeder Sprecher über die Kenntnis einer Anzahl sprachlicher Varietäten verfügt, soll aber bei der Formulierung einer Theorie über charakteristische Eigenschaften sprachlichen Wissens und seines Erwerbs keine Rolle spielen. Hier wird mit dem Modell eines Sprachsubjekts gearbeitet, das sein sprachliches Wissen in einer homogenen Sprachgemeinschaft auf der Basis einheitlicher Spracherfahrung entwickelt hat (Chomsky 1986: 16f.).17 Gegenstand empirischer Untersuchungen kann natürlich trotzdem das sprachliche Wissen von Sprechern sein, die über die Kenntnis mehrerer Sprachen verfügen. Untersuchun14

15

16

17

Hierbei muß allerdings sorgfaltig zwischen Performanzphänomenen und der Realisierung sprachlichen Wissens, wie etwa pragmatischen Wissens, unterschieden werden. Zur Erforschung gesprochener Sprache siehe auch Kap. 2.2.2. Unter I-language versteht Chomsky das interne, mental repräsentierte sprachliche Wissen. Unter initial state versteht er den Anfangszustand sprachlichen Wissens zu Beginn des Spracherwerbs. „[...] every human being speaks a variety of languages. We sometimes call them different styles or dialects, but they really are different languages." (Chomsky 1986: 187). Siehe hierzu neuerdings auch Chomsky (2000a). In der bekanntesten und am häufigsten zitierten Variante lautet dieses Homogenitätspostulat folgendermaßen: „Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech-community, who knows his language perfectly." (Chomsky 1965: 3)

14 gen des bilingualen Erstspracherwerbs oder Untersuchungen zum Zweitspracherwerb im Kindesalter auf der Basis von Chomskys Kognitionsmodell sind durch diese Homogenitätsforderung nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Gegenstand empirischer Untersuchungen kann auch das sprachliche Wissen von Sprachgemeinschaften sein, die diese sprachliche Homogenitätsforderung nicht erfüllen: It may be possible and worthwhile to undertake the study of language in its sociopolitical dimensions, but this further inquiry can proceed only to the extent that we have some grasp of the properties and principles of language in a narrower sense, in the sense of psychology. It will be a study of how systems represented in the mind/brains of various interacting speakers differ and are related within a community characterized in part at least in nonlinguistic terms. (Chomsky 1988: 37)

Die Untersuchimg von sprachlichem Wissen unter Einbeziehung soziokultureller oder soziopolitischer Fragestellungen ist also auch nach Auffassung von Chomsky durchaus möglich und lohnend, setzt seines Erachtens aber Kenntnisse über die charakteristischen Eigenschaften von sprachlichem Wissen und seinem Erwert) voraus. Dieses Plädoyer für die Einbeziehung der soziopolitischen Dimension in Untersuchungen zu sprachlichem Wissen und seinem Erwerb mag zunächst erstaunen, wenn man die Bedeutung betrachtet, die Erfahrung und Lernen in sprachlichen Aneignungsprozessen im generativen Paradigma beigemessen wird: Language acquisition seems much like the growth of organs generally; it is something that happens to a child, not that the child does. And while the environment plainly matters, the general course of development and the basic features of what emerges are predetermined by the initial state. But the initial state is a common human possession. It must be, then, that in their essential properties and even down to fine detail, languages are cast to the same mold. (Chomsky 2000b: 7)

Wenn man Spracherwerb als Interaktion zwischen genetisch verankerten und umweit- und erfahrungsabhängigen Faktoren erklärt, dann bleibt nicht nur die Frage nach den spezifischen Eigenschaften dieser genetisch verankerten Faktoren einerseits und die Frage nach der Qualität und Quantität der für den Spracherwerb notwendigen Erfahrungen andererseits zu beantworten, sondern auch die Frage nach charakteristischen Merkmalen dieser Aneignungsprozesse : Halten wir zusammenfassend folgendes fest: Im Rahmen der Selbstorganisation ist der Spracherwerb, ähnlich wie andere natürliche Systeme, ein sich selbstorganisierendes System hochgradig funktioneller Komplexität, welche aus der zunehmenden Ansammlung von Daten resultiert [...] Das Gehirn braucht keinen gemeinsamen Befehlshaber, sondern es strukturiert sich durch die gemeinsame Aktivität von Nervenzellen, welche zu Zell verbänden zusammengefaßt sind, selbst. Die Informationsaufhahme und -Verarbeitung erfolgt durch das Zusammenwirken entwicklungsspezifischer und umweltbedingter Faktoren. (Zangl 1998: 9f.)

Die Aufgabe des Kindes bei der Aufnahme und Verarbeitung sprachlicher Informationen besteht nach Zangl (1998: 81), die sich bei der Darlegung der theoretischen Grundlagen ihrer empirischen Untersuchung dynamischer Muster in der sprachlichen Ontogenese auch auf Chomskys Überlegungen zu den sprachspezifischen kognitiven Voraussetzungen des Grammatikerwerbs bezieht, im Hinblick auf die morpho-syntaktische Musterbildung darin, in den verfügbaren Daten „durch die allmähliche Datenakkumulation nach kohärenten Mustern zu suchen, um schließlich in der Lage zu sein [...] den strukturellen Code zu

15

knacken". 18 Aus diesen Formulierungen darf - wie das vorangehende Zitat zeigt - nicht geschlossen werden, daß MusXarbildung hier anders als bei Chomsky als ein aktives, bewußtes Handeln des Lerners verstanden wird. Umgekehrt kann auch aus dem bildlichen Vergleich von Sprachenverb und Organwachstum noch keine Theorie über charakteristische Merkmale sprachlicher Aneignungsprozesse abgeleitet werden. Eindeutig ist jedoch eine Position, die im Hinblick auf die kognitiven Voraussetzungen der sprachliche Entwicklung auch von Zangl eingenommen wird: Sie geht davon aus, daß das Neugeborene auf der Basis von innate constraints bereits selektiv mit der Umwelt interagiert. Ziel künftiger Forschung muß es ihrer Ansicht nach sein, postnatal wirksame Selektions- und Organisationsprinzipien „im Hinblick auf universals and particulars genauer zu definieren" (Zangl 1998: 26). Kognitionsorientierte empirische Untersuchungen zum Spracherwerb können durchaus, wie dieses Beispiel zeigt, zentrale Überlegungen der von Chomsky formulierten Sprach(erwerbs)theorie übernehmen, ohne daß sie sich eindeutig und ausschließlich einem nativistischen Paradigma zuordnen lassen. Es kann also in der Spracherwerbs- und der Sprachlernforschung weder von einer Ablösung nativistischer durch andere kognitivistische Spracherwerbstheorien die Rede sein, noch hat eine Ablösung kognitionsorientierter durch kulturorientierte Spracherwerbstheorien stattgefunden, wie die Ausführungen von Krumm/ Ngatcha (1996: 241) nahelegen könnten: Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik haben sich lange Zeit als universelle Ansätze verstanden: insbesondere Chomskys These vom angeborenen Spracherwerbsmechanismus, aber auch der universalistische Anspruch der Pragmalinguistik in den frühen 70er Jahren haben dazu beigetragen [...] Erst in den letzten Jahren hat sich in Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik die Einsicht durchgesetzt, daß Lehren und Lernen ebenso wie das Gebrauchen von Sprache kulturell geprägte und tradierte Formen menschlichen Verhaltens sind.

Der Widerspruch zwischen kulturorientierten und kognitionsorientierten Theorien über charakteristische Eigenschaften sprachlichen Wissens und seines Erwerbs bleibt also bestehen. Dieser Widerspruch liegt aber nicht darin, daß letztere die Auflassung nicht teilen könnten, daß es sich bei sprachlichem Wissen auch um kulturelles Wissen handelt. Sie teilen nur die Auffassimg nicht, daß es sich bei sprachlichem Wissen ausschließlich um kulturelles Wissen handelt, daß also etwa der Spracherweib, speziell der Grammatikerwerb, überwiegend durch den kulturellen Kontext determiniert wird, in dem sich die sprachliche Entwicklung des Individuums vollzieht. Allerdings ist die Frage nach der Bedeutung kultureller oder sozialer Faktoren für den Spracherwerb für kognitionsorientierte Theorien deutlich nachrangig. Auch von Vertretern kognitionsorientierter Ansätze sollte aber überlegt werden, wie sich derartige Faktoren systematisch in eine Theorie sprachlicher Kenntnissysteme und ihres Erwerbs einbeziehen lassen. Diese Notwendigkeit wird auch von Sprachtheoretikern erörtert, die von der Existenz angeborener Kenntnissysteme ausgehen. So vertritt etwa Mötsch (1992) die Auffassung, daß die Regeln eines Kenntnissystems, also auch die Regeln des sprachlichen Kenntnissystems ,Grammatik', nicht nur durch spezifische kognitive Prinzipien, sondern auch durch Konventionen und Traditionen bestimmt sein können:

18

Zangl (1998) bezieht in ihre empirische Untersuchung Studien zum monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb sowie zum frühen Fremdsprachenerwerb ein.

16 Ein (Kenntnis)System S ist grundsätzlich durch drei Abstraktionsebenen bestimmt: Repräsentationen, Regeln und Prinzipien. Repräsentationen sind die konkreten Instanzen eines Verhaltensbereichs, die durch bestimmte Eigenschaften oder Attribute ausgezeichnet sind. Die Regeln umfassen die Gesamtheit der Elemente und Kombinationsbedingungen, die den Repräsentationen zugrundeliegen. Die Prinzipien enthalten Angaben über die allgemeinen Schemata möglicher Regelsysteme im Rahmen eines Systemtyps. Wenn man die Grammatik als System auffaßt, so sind die geäußerten Sätze einer Sprache mit der Repräsentation der grammatischen Struktur verbunden. Die möglichen Repräsentationen werden durch die Grammatik der Sprache determiniert, die ihrerseits durch universalgrammatische Prinzipien bestimmt sind [...] Prinzipien sind im Organismus verankerte Grundlagen, die die Ausbildung der Kenntnissysteme ermöglichen oder steuern. Unter inhaltlichen Aspekten ist die Unterscheidung zwischen Kenntnissystemen und der Aktualgenese des Verhaltens wichtig. Die Prozesse des Sprachverstehens oder der Sprachproduktion beziehen sich zwar auf Repräsentationen und Regelsysteme, darüber hinaus aber auch auf Mechanismen, die Repräsentationen erzeugen, aktualisieren oder abarbeiten. Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß die Regeln eines Systems außer durch Prinzipien auch durch Konventionen und Traditionen bestimmt sein können. Auf diese Weise ist der Unterscheidung zwischen invariablen und sozial wie historisch variablen Aspekten der Struktur natürlicher Sprachen Rechnung zu tragen(Motsch 1992: 53f.)

Ein differenzierter Begriff von grammatischem Wissen, der berücksichtigt, daß die Entwicklung grammatischen Wissens auch durch Konventionen und Traditionen bestimmt wird, also auch überliefertes Wissen enthält und darum nicht ausschließlich tacit knowledge sein kann, ist also nicht grundsätzlich unvereinbar mit einer Theorie, die von der Annahme ausgeht, daß es zumindest für den Grammatikerwerb auch sprachspezifische kognitive Grundlagen gibt. Eine Untersuchung, die sich mit Problemen des Grammatikerweibs in multilingualen und multikulturellen Kontexten beschäftigt, kann also auf eine intensive Auseinandersetzung mit der von Chomsky geprägten Vorstellung von grammatischem Wissen als tacit knowledge nicht verzichten, selbst wenn sie für ihre Ziele einen erweiterten Begriff von grammatischem Wissen benötigt, der berücksichtigt, daß grammatisches Äege/wissen auch explizites Regelwissen und jVor/nwissen beinhaltet.19

0.3 Aufbau der Untersuchung

In den letzten Jahren hat das Interesse am kindlichen Spracherwerb deutlich zugenommen; ein besonderes Interesse gilt dem kindlichen Spracherwerb unter den Bedingungen familiärer oder gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Zum bilingualen Erstspracherwerb sowie zum frühen Zweitspracherwerb liegen inzwischen auch in Deutschland empirische Studien vor. In diesen Studien wird auch immer wieder die Relevanz der gewonnenen Erkenntnisse für die Praxis betont: Die Sorgen um die Auswirkungen früher mehrsprachiger Erziehung auf die sprachliche, die sonstige kognitive und die psychosoziale Entwicklung des Kindes seien unbegründet, Kinder verfügten vielmehr schon ab einem frühen Lebensalter über die notwendigen kognitiven Fähigkeiten, um zwei Sprachen simultan oder sukzessiv erfolgreich zu erwerben, sie seien mit einer frühen mehrsprachigen Erziehung also keineswegs kognitiv überfordert (Koehn/Müller 1990, Tracy 1996a). 19

Zum Verhältnis von sprachlichen Gesetzen, Regeln und Normen siehe auch Heibig (1996: 97).

17 Unter sprachwissenschaftlichen Laien ist aber nach wie vor die Meinung vorherrschend, daß kindliche Mehrsprachigkeit eher als Problem denn als Chance zu bewerten sei: Die Förderung kindlicher Mehrsprachigkeit stelle kein erstrebenswertes Ziel dar, da sie Quelle sowohl individueller Störungen als auch gesellschaftlicher Konflikte sein könne. Eine solche Einschätzung wird nicht nur in traditionell einsprachigen Ländern vertreten, sondern auch in klassischen Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten (Siebert-Ott 2000a u. 2000b, Tracy 1996a, Wode 1995). Diese Einschätzung fuhrt dazu, daß Eltern, die ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen lassen wollen, von einem solchen Vorhaben häufig abgeraten wird.20 Auch finden Eltern fur ein solches Vorhaben häufig auch nicht die notwendige institutionelle Unterstützung (Siebert-Ott 1999b u. 2000a). Die Diskussion um Vor- und Nachteile der kindlichen Mehrsprachigkeit und der Mehrsprachigkeit im allgemeinen hat eine lange Geschichte. Als zugleich gesellschaftliches und individuelles Phänomen bietet Bilingualismus nun einmal vielfaltige Angriffsflächen. [...] Dabei haben Psychologie und Sprachwissenschaft oft genug zur Verfestigung von Vorurteilen, nicht zu ihrer Entkräftung beigetragen [...] (Tracy 1996a: 71)

Zur Entkräftung solcher Vorurteile kann nach meiner Einschätzung auch die kognitive Linguistik einen wesentlichen Beitrag leisten. Ziel von Teil 1 meiner Arbeit ist es, dies in Auseinandersetzung mit Ergebnissen neuerer Forschung zum monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb sowie zum ungesteuerten Zweitspracherwerb zu zeigen: In Kap. 1.2.1 werde ich zunächst darlegen, wie die Frage nach den kognitiven Grundlagen des kindlichen Spracherwerbs im Rahmen einer Theorie der Universalgrammtik mit Hilfe der Autonomiehypothese (Hypothese Al) beantwortet wird. Ich werde mich außerdem in diesem Kapitel mit empirischen und theoretischen Problemen bei der Überprüfung dieser Hypothese beschäftigen. Am Beispiel der Entwicklung der sprachtheoretischen Diskussion um die Kontrolltheorie als eine syntaktische Teiltheorie und am Beispiel der Diskussion eigener und fremder empirischer Studien zum Erwerb der Kontrollprinzipien wird ein möglicher Weg zur Widerlegung der Autonomiehypothese diskutiert. Ziel dieses Kapitels ist es, auf der Basis empirischer Überlegungen zu zeigen, daß diese Hypothese beim gegenwärtigen Kenntnisstand keineswegs als widerlegt gelten kann, sondern vielmehr als ernstzunehmende Hypothese über charakteristische Merkmale sprachlichen Wissens und seines Erwerbs behandelt werden muß. Daß - entgegen den Annahmen von Kritikern - ein solcher Ansatz der Beschäftigung mit intraindividueller und interindividueller Variation im Spracherwerb nicht im Wege steht, werde ich in den folgenden Kapiteln von Teil 1 am Beispiel der Diskussion um eine angemessene Beschreibung derartiger Phänomene beim Erwerb von Wortstellungsregularitäten zeigen: Kap. 1.2.2 befaßt sich dabei besonders mit den Gesetzmäßigkeiten, denen die Entwicklung grammatischen Wissens im kindlichen Spracherwerb folgt. Kap. 1.2.3 befaßt sich mit den Gesetzmäßigkeiten, denen die Entwicklung grammatischen Wissens im Jugend- und Erwachsenenalter folgt. Wichtig für die weitere Diskussion ist hier die Klärung der Frage, ob zwischen beiden Erwerbstypen tatsächlich eine fundamentale Differenz besteht. Ziel von Kap. 1.3 ist es, auf der Basis der Ergebnisse dieser Diskussion eine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, ob der frühe Erwerb zweier grammatischer Systeme grundsätzlich für Kinder eine Überforderung darstellt oder ob er zumindest für diejenigen 20

Ein Beispiel hierfür zitiert Tracy (1995,1996a). Siehe hierzu auch Kap. 1.1 meiner Untersuchung.

18

Kinder eine Überforderung darstellt, die die zweite Sprache nicht simultan innerhalb der Familie, sondern außerhalb der Familie mit einer Zeitversetzung erwerben. Am Beispiel griechischer Kinder in Deutschland, die die Zweitsprache Deutsch mit einer gewissen Zeitversetzung erworben haben und deren starke Sprache aufgrund ihrer besonderen Schulsituation auch im Schulalter noch Griechisch ist, soll die Entwicklung der grammatischen Kompetenz in der Zweitsprache vor dem Hintergrund des in der Erstsprache erworbenen grammatischen Wissens betrachtet werden. Es soll außerdem der Frage nachgegangen werden, inwiefern die in den von den Kindern formulierten Texten beobachtbaren Unterschiede in der sprachlichen Kompetenz überhaupt auf Unterschiede im Bereich der in der Zweitsprache Deutsch erworbenen grammatischen Kompetenz zurückgeführt werden können. Ich teile die Ansicht von Tracy (1996a), daß ein ausschließlich kognitionsorientierter Ansatz, der sich überdies auf den Erwerb morphosyntaktischen Wissens konzentriert, für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Entwicklung von Mehrsprachigkeit im Kindesalter nicht hinreichend ist. Vielmehr ist die Entwicklung einer integrativen und interdisziplinären Forschungsperspektive notwendig. Als einen ersten wesentlichen Schritt bei der Entwicklung einer solchen integrativen Forschungsperspektive halte ich die Einbeziehimg von Ergebnissen neuerer sprachwissenschaftlicher Forschung ftir notwendig, die sich mit dem Erwerb anderer Teilbereiche sprachlichen Wissens befaßt bzw. die sich auch unter einer anderen Perspektive, wie etwa einer kulturorientierten Perspektive, mit dem Erwerb sprachlichen (grammatischen) Wissens befaßt und dabei besonders auch die Satzebene überschreitet und die Text- bzw. die Diskursebene in ihre Untersuchungen mit einbezieht. Im zweiten Teil meiner Untersuchung werde ich mich besonders auf Überlegungen der neueren textlinguistischen Forschung 21 und der neueren Schriftlichkeitsforschung 22 über charakteristische Merkmale der Organisation und der mentalen Repräsentation sprachlichen Wissens, seines Erwerbs und seines Gebrauchs beziehen. Ziel dieses zweiten Teils der Untersuchung ist es, zu zeigen, in welcher Weise diese Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis der in öffentlichen Diskursen immer wieder benannten Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund beim Erwerb sprachlicher (grammatischer) Kompetenz in der Zweitsprache beitragen können. Ihren Ausgang nimmt diese Diskussion in Kap. 2.2.1 von einer Forschungskontroverse über den Zusammenhang der Entwicklung von sprachlicher Kompetenz in der Erstsprache und in der Zweitsprache. Ziel ist es hier zunächst, die in der Interdependenz- und Schwellenhypothese (Hypothese B l ) formulierten Annahmen über den Zusammenhang der Entwicklung sprachlicher Kompetenz in der Erstsprache und der Zweitsprache kritisch zu diskutieren und vor dem Hintergrund einschlägiger Forschung zu präzisieren, im Hinblick auf welche sprachlichen Teilkompetenzen Interdependenzen in der sprachlichen Entwicklung überhaupt erwartbar sind. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei der Entwicklung von literacy skills und im Zusammenhang damit der Entwicklung von metalinguistischen Fähigkeiten gelten. In Kap. 2.2.2 sollen die zunächst widersprüchlich erscheinenden Ergebnisse dieser Diskussion, daß - obwohl die Produktion und Rezeption von Texten auch auf morphosyntaktischem Wissen basiert - Interdependenzen zwischen der Entwicklung sprachlicher Kompe21 22

Siehe hiemi etwa Mötsch (Hrsg.) (1996). Siehe hierzu Günther/Ludwig (Hrsg.) (1994) und (1996).

19 tenz in der Erst- und in der Zweitsprache im Bereich der Entwicklung von literacy skills, nicht aber im Bereich der Entwicklung von morphosyntaktischem Wissen zu beobachten sind, in den Kontext der modernen Schriftlichkeitsforschung gestellt werden: Ausgangspunkt für die weitere Diskussion ist dabei die von Koch/Oesterreicher (1985, 1990 und 1994) in Anlehnung an Überlegungen von Ludwig Söll vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Nähediskursen und Distanzdiskursen sowie ihre Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit. Ziel der Diskussion in diesem Kapitel ist die Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung konzeptioneller Schriftlichkeit und der Entwicklung metasprachlicher und metakognitiver Fähigkeiten. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung von metasprachlicher Bewußtheit, sondern auch um die Entwicklung von metasprachlichem Wissen. Zu diesem Wissen ist auch das Wissen über Diskurs«o/7we« zu rechnen, d.h. das Wissen darüber, welche sprachlichen Mittel in einem bestimmten Kontext als angemessen gelten. Damit wird sprachliches Wissen auch als kulturelles Wissen bestimmt, die Verknüpfung sprachlicher Aneignungsprozesse mit dem kulturellen Kontext wird deutüch. In Kap. 2.2.3 soll auf der Basis der in Kap. 2.2.2 entwickelten theoretischen Grundlagen gezeigt werden, daß die mit Termini wie (doppelseitige) Halbsprachigkeit, Minderheitenzweisprachigkeit, folk bilingualism usw. beschriebenen sprachlichen Phänomene gedeutet werden können als fortgesetzte, starke Orientierung an Mustern konzeptioneller Mündlichkeit in einem zunehmend durch Muster konzeptioneller Schriftlichkeit geprägten institutionellen Kontext. In Kap. 2.3 werde ich mich mit der Frage beschäftigen, unter welchen Bedingungen die Orientierung an einer Kultur der (konzeptionellen) Mündlichkeit in der Familie die Vermittlung distanzsprachlicher Normen und Traditionen in der Sehlde negativ beeinflussen kann: Besonders soll es hier um die Frage gehen, inwiefern der Sprachunterricht und der Unterricht in anderen sprachintensiven Fächern durch eine implizite Orientierung an distanzsprachlichen Normen und Traditionen unbeabsichtigt seinen eigenen Zielsetzungen, diese Normen und Traditionen allen Schülern zu vermitteln, zuwiderhandeln kann. Dabei wird deutlich werden, daß die von Interdependenz- und Schwellenhypothese für Schüler mit Migrationshintergrund prognostizierten Probleme beim schulischen Zweitspracherwerb bei nicht ausreichend entwickelter Muttersprache allenfalls indirekt mit der Mehrsprachigkeit der Schüler in Verbindimg gebracht werden können: Kinder, die vor Schuleintritt intensiv mit konzeptioneller Schriftlichkeit in Verbindung gekommen sind, bringen z.B. unabhängig davon, ob Familien- und Schulsprache identisch sind, bessere Voraussetzungen für den schulischen Schriftspracherwerb mit. In Teil 3 der Untersuchung sollen die sprachdidaktischen Konsequenzen erörtert werden, die aus den in Teil 1 und Teil 2 der Untersuchung gewonnenen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen gezogen werden können. In der sprachdidaktischen und in der bildungspolitischen Diskussion über geeignete Modelle zur Förderung der sprachlichen Kompetenz von Schülern an Regelschulen hat in den letzten Jahren eine starke Polarisierung stattgefunden Gegenüber Versuchen einer mehrsprachigen Erziehung unter Beteiligung der Schule bestehen grundsätzlich dieselben Zweifel wie gegenüber einer mehrsprachigen Erziehung durch die Familie. Tracy (1996a: 72) weist mit Recht daraufhin, daß außerhalb eines engen Kreises von Fachleuten der Wandel von einer negativen Einstellung gegenüber einer mehrsprachigen Erziehung zu einer neutralen Einstellung noch nicht nachvollzogen worden ist. Auch Erziehung zur Mehrsprachigkeit durch die Schule gilt häufig noch als eine besondere

20 Belastung, die nur besonders sprachbegabten Schülern mit einiger Aussicht auf Erfolg zugemutet werden könne.23 Diese Annahmen sind aber nicht nur durch neue Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung, sondern auch durch die in verschiedenen mehrsprachigen Unterrichtsprogrammen in Europa und Nordamerika gewonnenen praktischen Erfahrungen zu widerlegen: Bekannt sind bei Sprachwissenschaftlern und Sprachdidaktikern in Deutschland vor allem die an vielen Schulen Kanadas eingeführten unterschiedlichen Unterrichtsmodelle, in denen Kindern aus einsprachigen Familien eine zweite Sprache durch die Verwendung dieser Sprache als Medium der Unterrichtskommunikation erfolgreich vermittelt wird 0Content and language integrated learning). In Kap. 3.2.1 sollen wesentliche Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluierung dieser Programme vorgestellt und deren Bedeutung für die Entwicklung geeigneter Modelle mehrsprachiger Erziehung speziell für Schüler mit Migrationshintergrund diskutiert werden. In Kap. 3.2.2 sollen dann mehrsprachige Unterrichtsprogramme vorgestellt werden, die in Europa für unterschiedliche Zielgruppen eingerichtet wurden. Zu diesen Programmen gehören die seit Ende der sechziger Jahre an verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I und II eingerichteten bilingualen Unterrichtsprogramme, die zunächst für monolingual deutschsprachige Kinder entwickelt wurden. Hierzu gehören weiter Schulen für autochthone sprachliche Minderheiten, die das Ziel haben, die Sprache des kulturellen Eibes zu bewahren und zugleich gute Kenntnisse in der Landessprache zu vermitteln, wie z.B. in Deutschland die Schulen für Schüler aus der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Hierzu gehören außerdem Schulen, deren Schüler aus den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU stammen, und die speziell für Kinder, deren Eltern bei europäischen Einrichtungen beschäftigt sind, eingerichtet wurden. Die Beschäftigung mit diesen und weiteren Programmen erfolgt ebenfalls mit der Zielsetzung, herauszuarbeiten, unter welchen unterschiedlichen Bedingungen eine erfolgreiche Mehrsprachigkeitserziehung möglich ist. Vor diesem Hintergrund wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Diskussion in Teil 1 und Teil 2 dann in Kap. 3.3 die Frage behandelt, welche Konsequenzen für den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen zu ziehen sind, wenn das Ziel die Vermittlung guter Fähigkeiten sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Sprachgebrauch in der Erstsprache und in einer oder mehreren weiteren Sprachen ist.

23

Wode (1995) setzt sich ausführlich mit derartigen Vorurteilen und den Problemen, die hieraus bei der Einführung mehrsprachiger Unterrichtsprogramme resultieren, auseinander.

1. Grammatik und Kognition

1.1 Einführung: Grammatikerwerb - die kognitiven Grundlagen

Als Folge erhöhter Mobilität nimmt auch in einem traditionell einsprachigen Land wie Deutschland die Zahl der Kinder zu, die in ihrer Familie außer mit Deutsch noch mit einer weiteren Sprache regelmäßig in Kontakt kommen. Dies gilt zum einen für zweisprachige Familien, in denen ein Elternteil eine andere Sprache als Deutsch als Erstsprache hat und diese in der Kommunikation mit dem Kind auch verwendet. Dies gilt zum anderen für Familien aus sprachlichen Minderheiten, in denen neben Deutsch eine weitere Sprache als Familiensprache verwendet wird. In beiden Fällen kann der Gebrauch der Sprachen ausgewogen sein, es kann aber auch der Gebrauch einer der beiden Sprachen deutlich überwiegen.1 In Deutschland und auch in anderen Ländern Europas sowie in Nordamerika sind die Ansichten über den richtigen Umgang mit diesen frühen Formen von Mehrsprachigkeit geteilt.2 Häufig findet man die Ansicht vertreten, daß die frühe Begegnung mit mehr als einer Sprache eine Abweichung vom Normalfall darstelle. Der frühe Erwerb von zwei oder mehr Sprachen erfordere eine besondere sprachliche Begabung und stelle daher in aller Regel für Kinder eine Überforderung dar. Als Resultat einer solchen Überforderung seien bei zweisprachig aufwachsenden Kindern Defizite in der sprachlichen, der allgemeinen kognitiven und der psychosozialen Entwicklung erwartbar. Bei Schülern in den ersten Grundschulklassen sei außerdem mit Defiziten im fachlichen Wissen zu rechnen.3 Die moderne Spracherwerbsforschung teilt in aller Regel derartige Einschätzungen nicht mehr. Erhält das Kind Zugang zu zwei Sprachen, überwiegt in der Umgebung des Kindes nicht deutlich der Gebrauch einer der beiden Sprachen und wird in der Umgebung des Kindes das Prinzip einer funktionalen Sprachtrennimg beachtet, dann sind dauerhafte Beeinträchtigungen der sprachlichen Entwicklung des zweisprachig aufwachsenden Kindes nicht erwartbar. Diese Einschätzung basiert nicht nur auf grundsätzlichen theoretischen Erwägungen, sondern auch auf systematischen empirischen Untersuchungen. Insbesondere wurde die These überprüft, daß Kindern in einem frühen Erweibsalter zunächst noch die Fähigkeit zur Trennung sprachlicher Systeme fehle, daß Kinder daher noch nicht fähig seien, 1

2

3

Nicht selten sind auch nach wie vor noch die Fälle, in denen in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder aus sprachliche Minderheiten bei Schuleintritt nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Eine kritische Einschätzung einer frühen Erziehung zu Mehrsprachigkeit findet man vor allem in älteren wissenschaftlichen Studien. Eine Wende in dieser überwiegend negativen Bewertung früher Mehrsprachigkeit bewirkten vor allem die kanadischen Studien, die seit Beginn der sechziger Jahre schulische Immersionsprogramme wissenschaftlich begleiteten (Baker 1993a: 108ff.). Zum Begriff Immersion siehe Kap. 3. 2. Solche Ansichten findet man zum Beispiel zitiert in Einführungen in Fragen der familiären sowie der schulischen zweisprachigen Erziehung, die sich sowohl an interessierte Laien wenden wie auch an Fachleute, die mit der Planung und Durchführung zweisprachiger Erziehungsprogramme in Vorschule, Grundschule und weiterführenden Schulen befaßt sind (Kielhöfer/Jonekeit 9 1995, Wode 1995).

22 separate sprachliche Systeme aufzubauen und daß die Fusion zweier sprachlicher Systeme im frühen Kindesalter zu einer dauerhaften Störung der sprachlichen Entwicklung führe (Koehn/Müller 1990). Eine Überprüfung dieser Hypothese ist nicht nur theoretisch von Interesse, sie hat auch praktische Konsequenzen: Eine Widerlegung dieser Hypothese macht auch Empfehlungen an bilinguale Familien hinfallig, ihre Kinder zunächst nach Möglichkeit nur einsprachig zu erziehen.4 Kontrovers diskutiert wird in der Spracherwerbsforschung auch die Hypothese, daß Kinder aus sprachlichen Minderheiten die Sprache der Mehrheit nur dann erfolgreich erwerben können, wenn sie zuvor im Gebrauch ihrer Muttersprache erfolgreich gefordert worden sind. Da unterstellt wird, daß Familien mit Migrationshintergrund aufgrund der Sprachwechselsituation zu einer solchen Förderung ihrer Kinder häufig nicht in der Lage sind, wird aus der Hypothese der Abhängigkeit des Zweitspracherwerbs von einem erfolgreich abgeschlossenen Erstspracherwerb (Interdependenz- und Schwellenhypothese) die Forderung nach einer kontinuierlichen schulischen Förderung der Erstsprache abgeleitet. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Kontroverse um ein an Berliner Grundschulen erprobtes Modell der koordinierten zweisprachigen Alphabetisierung und Erziehung türkischer Schulkinder. In einem Gutachten wird die konzeptionelle Basis dieses Schulversuchs, daß „die schulische Förderung der Muttersprache eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb der Zweitsprache ist" nachdrücklich kritisiert: Diese These stoße „in ihrer Absurdität schon dicht an die Grenze der Diskussionswürdigkeit" und stehe „in krassem Widerspruch zu all dem, was derzeit in der Psycholinguistik über spracherwerbliche Prozesse bekannt ist" (Felix 1993: 320). Die Kritik an den wissenschaftlichen Grundannahmen, die die Basis dieses Gutachtens bilden, ist nicht weniger fundamental: Die Sprachwissenschaft erscheint als eine Disziplin, die sich zur H... [Auslassung G. S.-O.] aktueller politischer Partikularinteressen machen läßt, anstatt aus der unbestreitbaren Gesellschaftlichkeit ihres Gegenstandes den Anspruch auf kontinuierliche, öffentliche und verantwortliche Mitwirkung an gesellschaftlichen Prozessen herzuleiten, wie es für Juristen, Ökonomen, Theologen

4

Im Bilingual Familiy Newsletter (1988/3: 1 ) wird zu diesem Problem aus einem Elternbrief zitiert, den das Kölner Jugendamt an mehrsprachige Familien verschickt: Wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen - was soll das Kind lernen? Beide Sprachen gleichzeitig? Oder besser eine nach der anderen? Und welche Sprache dann zuerst? Weil jede Familiensituation anders liegt, karm man keine verbindlichen Ratschläge geben. Man kann nur eins sagen. Es -wäre gut, wenn das Kind eine Sprache als sogenannte Muttersprache empfinden, das heißt, sich in einer Sprache zu Hause fühlen könnte. Der Vorteil des zweisprachigen Aufwachsens wird oft mit einer Unsicherheit in beiden Sprachen bezahlt, und wenn es irgend möglich ist, sollte man diese Entwicklung vermeiden. In den meisten Fällen wird es richtig sein, wenn das Kind mit der Sprache des Landes aufwächst, in der es lebt, in dem es aufwächst. Natürlich wird es die Landessprache später ohnehin lernen, beim Spielen mit Gleichaltrigen und in der Schule, aber es wird sie, wenn es sie nicht schon immer gesprochen hat, nicht mehr als Muttersprache erkennen. Anders sieht es wieder aus, wenn zum Beispiel der italienische Vater mit seiner deutschen Frau und seinem Kind auf jeden Fall nach Italien zurück will. Dann wird es natürlich gut sein, wenn Mutter und Kind sich frühzeitig auf die italienische Sprache einstellen. Oft wird der ausländische Vater auch den Wunsch haben, daß das Kind seine, des Vater Sprache spricht, selbst dann, wenn er sein Heimatland für immer verlassen hat. In einem solchen Fall sollte der Vater versuchen, seine verständlichen Gefühle zugunsten der Interessen seines Kindes zurückzustellen [...]. (zitiert nach Tracy 1995:7 und 1996a:70)

23 und Mediziner, ja selbst Klimaforscher und Entomologen selbstverständlich ist. Allerdings ist zuzugeben, daß aus einem Theoriegebäude heraus, daß den sprechenden Menschen biologistisch reduziert [...] eine wissenschaftlich legitimierte Einmischung in Auseinandersetzungen über den richtigen Weg, die Entwicklung von ausländischen Jugendlichen zu chronischen soziokulturellen Mängelwesen zu verhindern, schlechterdings nicht zu erwarten ist. Ich will damit sagen, daß soziales Lernen aus der Sicht dieses Ansatzes entweder systematisch ausgeblendet oder zumindest marginalisiert wird, auf keinen Fall aber theoretisch angemessen bearbeitet wird. (Gessinger 1993: 187)

In dieser Debatte bricht der in Kapitel 2 des Einleitungsteils meiner Untersuchung beschriebene Grundkonflikt zwischen kulturorientierten sprachwissenschaftlichen Theorien (,Mead-Theorien') und kognitionsorientierten sprachwissenschaftlichen Theorien (,Chomsky-Theorien') auf. Ich habe bereits in der Einleitung meiner Arbeit die Gründe dargelegt, die dagegen sprechen, nativistische Spracherwerbstheorien als biologistisch reduziert zu verwerfen. Ich habe auch daraufhingewiesen, daß es grundsätzlich möglich ist, Grundannahmen nativistischer Spracherwerbstheorien wie die Autonomiehypothese zu überprüfen. Plausibilitätsannahmen wie die, daß die „Gesellschaftlichkeit ihres Gegenstandes" nach einer gesellschafts- bzw. kulturorientierten sprachwissenschaftlichen Theorie verlange, reichen jedenfalls nicht aus, um nativistische Spracherwerbstheorien als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Erforschung von Problemen des Spracherwerbs bei ausländischen Jugendlichen in Deutschland zurückzuweisen. Um feststellen zu können, ob Interdependenz- und Schwellenhypothese in krassem Widerspruch zu Erkenntnissen der modernen Psycholinguistik stehen, muß man sich intensiver mit dem befassen, was derzeit in der Psycholinguistik über spracherwerbliche Prozesse bekannt ist. Aus den im Einleitungsteil meiner Untersuchung dargelegten Gründen werde ich mich zunächst mit dem kindlichen Grammatikerwerb beschäftigen und zwar mit der Rolle der Universalgrammatik beim Erwerb einer Einzelsprache. Es geht hier also zunächst um die Entwicklung von grammatischem Wissen als tacit knowledge. Ich gehe davon aus, daß Einwortphase und frühe Mehrwortphase im kindlichen Spracherwerb mit einem in diesem Zusammenhang von Bickerton verwendeten Ausdruck angemessen als protolanguage charakterisierbar sind. Im Alter von etwa zwei Jahren macht neurologische Reifung universalgrammatisches Wissen verfügbar. Von diesem Zeitpunkt an ist der Erwerb von grammatischen Kategorien und Regeln ein autonomer Prozeß und verläuft unabhängig von der Entwicklung anderer Bereiche der menschlichen Kognition, speziell auch unabhängig von der Entwicklung anderer Teilbereiche der sprachlichen Kompetenz: Diese Hypothese habe ich bereits im ersten Kapitel des Einleitungsteils meiner Arbeit als Hypothese A2 formuliert. In Kap. 1.2.1 werde ich zunächst die Gründe darlegen, die für die Annahme sprechen, daß der Erwerb einzelsprachlicher grammatischer Kenntnissysteme nur auf der Basis von im Organismus verankerten spezifischen Prinzipien, der Universalgrammatik (UG), möglich ist. Im Anschluß daran werde ich am Beispiel des Erwerbs von Bindungsprinzipien und Kontrollprinzip Möglichkeiten der empirischen Überprüfung der Autonomiehypothese diskutieren.5 Am Beispiel der Entwicklung der sprachtheoretischen Diskussion tun die Kontrolltheorie als syntaktische Teiltheorie und am Beispiel der Diskussion eigener und

5

Die Bindungsprinzipien regeln z.B. die Interpretation des Reflexivpronomens in Sätzen wie Die Mutter fragt ihre Tochter, ob sie¡ sich¡ um die Angelegenheit kümmern soll. Das Kontrollprinzip regelt die Interpretation des logischen Subjekts des infiniten Nebensatzes in Sätzen wie Die Mutter bittet ihre Tochter¡, (log. Subjekt)¡ sich um die Angelegenheit zu kümmern.

24 fremder empirischer Studien zum Erwerb des Kontrollprinzips wird ein gangbarer Weg zur Widerlegung der Autonomiehypothese gezeigt. Zugleich wird gezeigt, daß die Autonomiehypothese beim gegenwärtigen Kenntnisstand keineswegs als widerlegt gelten kann, sondern vielmehr als ernstzunehmende Hypothese über charakteristische Merkmale sprachlichen Wissens und seines Erwerbs gelten muß. Weitere empirische Evidenz für die Autonomiehypothese wird in den folgenden Unterkapiteln von Kap. 1.2 diskutiert. In Kap. 1.2.2 wird weiter der Frage nachgegangen, was man sich unter der Annahme von Grammatikerwerb als UG-gesteuertem Prozeß genau vorzustellen hat. Im Prinzipien- und Parametermodell, einer neueren Entwicklung innerhalb der Theorie der generativen Grammatik, wird angenommen, daß die Universalgrammatik außer einem Inventar von Kategorien, einem Strukturschema (X-bar-Schema) und der Regel ,bewege α' eine Anzahl von Prinzipien enthält, wie die bereits erwähnten Bindungsprinzipien.6 Einige dieser Prinzipien sind invariant, andere Prinzipien sind parametrisiert. Eine wesentliche Aufgabe des Spracherwerbs ist es, die parametrisierten Prinzipien auf den in der Zielsprache geltenden Wert festzulegen. Die Vorstellung von Grammatikerwerb als einem Prozeß der Parameterfixierung ist allerdings auch unter Sprachtheoretikern und Psycholinguisten, die im nativistischen Paradigma mit dem Prinzipien- und Parametermodell der GG arbeiten, keineswegs unumstritten. Diskutiert werden soll der Vorschlag von Haider (1993), die Vorstellung von Spracherwerb als einem aktiven kognitiven Vorgang der Parameterfixierung aufzugeben. Diskutiert werden soll außerdem Haiders Vorschlag, die Kerngrammatik Gl einer Sprache LI nicht als Instantiierung von UG, sondern als Produkt von UG und weiteren kognitiven Kapazitäten anzusehen und UG als kognitives Potential (als grammatischen Koprozessor) zur Berechnung der Struktur sprachlicher Äußerungen aufzufassen. Die Autonomiehypothese bietet zunächst nur eine Möglichkeit der Lösung des logischen Problems des Spracherwerbs an: Das Kind kann auf der Basis einer begrenzten Menge von Sprachdaten, zu denen es Zugang hat, seine Muttersprache erwerben, weil es angeborene Prinzipien (die UG) dazu in die Lage versetzen. Die stufenweise Entwicklung grammatischen Wissens ist mit dieser Annahme allein noch nicht zu erklären. Am Beispiel des Erwerbs von Wortstellungsregularitäten des Deutschen im Erstspracherwerb soll gezeigt werden, welchen Beitrag zur Lösimg dieses Entwicklungsproblems die Prinzipien- und Parametertheorie zu leisten vermag. Besonders soll der Frage nachgegangen werden, wie im Rahmen der Prinzipien- und Parametertheorie der zu beobachtenden interpersonalen und intrapersonalen Variation beim Erwerb von Wortstellungsregularitäten Rechnung getragen wird. Es soll gezeigt werden, daß Haiders Charakterisierung des Grammatikerwerbs als eines vom grammatischen Koprozessor unterstützten Versuch und Irrtum- Verfahrens Phänomene im kindlichen Spracherwerb erklären kann, die bei Meisel/Müller (1992) als Oszillieren zwischen Optionen von UG und bei Fritzenschaft/Gawlitzek-Maiwald/Tracy/Winkler (1990) als (vorübergehende) Verstöße gegen Optionen von UG beschrieben werden. In Kap. 1.2.3 sollen dann die Gründe diskutiert werden, die für die Annahme sprechen, daß Lerner auch im Zweitspracherwerb noch unmittelbaren Zugang zu UG haben. Clahsen/Muysken (1986 und 1989) vertreten in dieser Frage die Hypothese der fundamentalen 6

Siehe hierzu auch Pinker (1996). Zur Weiterentwicklung des Modells siehe Chomsky (1995, 1998 u. 2000a).

25 Differenz. Diese Hypothese besagt, daß zumindest ältere Lerner, d.h., Jugendliche und Erwachsene, keinen unmittelbaren Zugang mehr zu den Prinzipien von UG haben. In Kap. 1.2.3. soll gezeigt werden, welche empirische Evidenz und welche theoretischen Überlegungen gegen diese Annahme sprechen. Damit sind in Kap. 1.2 die theoretischen Grundlagen gelegt, die eine sachgerechte Antwort auf die zu Beginn dieses Einleitungskapitels formulierten Fragen erlauben: • Bedeutet die frühe Entwicklung von Zweisprachigkeit - speziell der Erwerb zweier grammatischer Systeme - grundsätzlich eine Überforderung für Kinder? Muß daher, wenn man von Einzelfallen absieht, in denen eine besondere Sprachbegabung erkennbar ist, zweisprachigen Familien generell zum Verzicht auf eine der beiden Sprachen im Umgang mit dem Kind geraten werden? • Stellt die frühe Entwicklung von Zweisprachigkeit speziell für Kinder aus Sprachminderheiten eine Überforderung dar? Ist der erfolgreiche Erwerb der Sprache der Mehrheit als Zweitsprache nur dann möglich, wenn zuvor die Minderheitensprache als Erstsprache erfolgreich erworben wurde, wenn also auch die Entwicklung der grammatischen Kompetenz in der Muttersprache zu einem gewissen Abschluß gelangt ist? Muß daher Familien aus Sprachminderheiten geraten werden, ihre Kinder zunächst ausschließlich die Minderheitensprache erlernen zu lassen und darauf zu dringen, daß auch in der Schule die Erstsprache der Kinder kontinuierlich gefördert wird? In Kap. 1.3 wird zunächst gezeigt, welche empirische Evidenz dafür spricht, daß zweisprachig aufwachsende Kinder vom Beginn der grammatischen Phase an in der Lage sind, die formalen Eigenschaften der beiden zu erwebenden sprachlichen Systeme zu erkennen und zu unterscheiden. Außerdem soll gezeigt werden, daß Kinder offenbar dazu tendieren, die Unterschiede zwischen beiden Sprachen zunächst zu minimieren: Während monolingual deutschsprachige Kinder zunächst (S)VO- und (S)OV-Strukturen verwenden, wobei eine Präferenz für (S)OV-Strukturen erkennbar ist, verwenden zweisprachig deutschfranzösische Kinder gehäuft (S)VO-Stmkturen auch im Deutschen. Zweisprachig deutschtürkische Kinder präferieren dagegen im Deutschen ebenso wie im Türkischen (S)OVStrukturen. Diese Beobachtungen sprechen aber nicht gegen die Annahme, daß zweisprachig aufwachsende Kinder fähig zur Trennung der beiden grammatischen Systeme sind und daß sich die beiden grammatischen Systeme grundsätzlich unabhängig voneinander entwickeln. Am Beispiel griechischer Kinder, die in Deutschland zweisprachig aufgewachsen sind, wird dann der Frage nachgegangen, welchen Einfluß das in der Erstsprache (LI) erworbene Wissen auf den Erwerb grammatischen Wissens in der Zweitsprache (L2) hat. Es wird gezeigt, daß der Transfer grammatischen Wissens aus der LI hier entgegen häufig geäußerten Erwartungen nur eine geringe Rolle spielt. Grundsätzlich ist zwar der Einschätzung von Gessinger (1993) zuzustimmen, daß man einen beträchtlichen Anteil der zweifellos vorhandenen Spracherwerbsprobleme von Kindern aus sprachlichen Minderheiten mit Hilfe einer Sprachtheorie, die ihr Erkenntnisinteresse auf die Erforschung der Struktur angeborener mentalen Fähigkeiten beschränkt, nicht angemessen erklären kann. Ziel von Teil 1 meiner Untersuchung ist es aber zunächst, zu zeigen, welche Einsichten in charakteristische Eigenschaften grammatischen Wissens und seines Erwerbs uns neuere Entwicklungen im Bereich der Psycholinguistik ermöglichen, deren Ziel die Erforschung der Struktur angeborener mentaler Fähigkeiten und ihrer

26 Bedeutung fur die Entwicklung der Grammatik einer oder mehrerer Einzelsprachen ist. Die mögliche praktische Relevanz dieser Erkenntnisse der modernen Psycholinguistik über spracherwerbliche Prozesse für die Entwicklung mehrsprachiger Unterrichtsmodelle wird in Teil 3 meiner Untersuchung diskutiert.

1.2 Universalgrammatik (UG) und der Erwerb der Grammatik einer Einzelsprache

1.2.1 Die Autonomiehypothese: Grammatikerwerb als autonomer Prozeß Die neuere Spracherwerbsforschung ist, wie ich in Kapitel 0.2 dargelegt habe, geprägt durch die Entwicklung der kognitiven Wissenschaften. Zu dieser Entwicklung hat die theoretische Linguistik, speziell die generative Linguistik, einen wesentlichen Beitrag geleistet. Sprachwissenschaft bzw. Linguistik7 als kognitive Wissenschaft beschäftigt sich nicht allein mit der Beobachtung und Beschreibung externer Sprachdaten. Sie interessiert sich in erster Linie für Sprache als mentales Phänomen. Sie hat das Ziel, die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, denen sprachliches Wissen, sein Erwerb und Gebrauch unterliegen. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser kognitiven Wende in der Sprachwissenschaft hat Noam Chomsky mit der Entwicklung der Theorie einer generativen Grammatik geleistet.8 Die frühen Phasen dieser Entwicklung resümiert Chomsky 1967 in drei Vorlesungen über Studien zur menschlichen Sprache, die von dem Interesse geleitet sind, Erkenntnisse über Struktur und Funktion des menschlichen Geistes (human mind) zu gewinnen.9 In der ersten dieser drei Vorlesungen befaßt sich Chomsky mit solchen Beiträgen, die in der Vergangenheit zu dieser Fragestellung geleistet wurden. Er verfolgt die Entwicklung dieser Fragestellung zurück bis ins 17. Jahrhundert auf von Descartes beeinflußte Überlegungen über Eigenschaften des menschlichen Geistes: This new principle has a ,creative aspect', which is evidenced most clearly in what we may refer to as ,the creative aspect of language use', the distinctively human ability to express new thoughts and to understand entirely new expressions of an ,instituted language', a language that is a cultural product subject to laws and principles partially unique to it and partially reflections of general 7 8

9

Ich verwende diese beiden Termini hier synonym. Als ein wesentlicher Beitrag zur kognitiven Wende in den Wissenschaften vom menschlichen Verhalten gilt die von Chomsky 1959 in der Zeitschrift Language veröffentliche Rezension von Skinners Abhandlung Verbal behavior (1957). Diese entscheidende Rolle Chomskys bei der Entwicklung der Theorie der generativen Grammatik und die Bedeutung der Theorie der generativen Grammatik fur die kognitive Wende in der Linguistik macht Jägers Bezeichnung dieser Theorie als Chomsky-Theorie (im Singular) nachvollziehbar. Falsch wäre es aber, alle im Rahmen der kognitiven Linguistik entwickelten Sprachtheorien und Spracherwerbstheorien als ChomskyTheorien (im Plural) zu bezeichnen. Wenig plausibel ist auch der Versuch von Jäger (1993a: 77ff.), alle ,Nicht-Chomsky-Theorien' unter der Bezeichnung ,Mead-Theorien' zu subsumieren. Siehe dazu auch Kapitel 0.1 und 0.2. Erstmalig veröffentlicht wurden diese an der Universität Berkeley, Kalifornien, gehaltenen Vorlesungen geringfügig überarbeitet 1968 unter dem Titel Language and mind. Ich zitiere im folgenden nach der erweiterten Auflage von 1972. Siehe jetzt auch Chomsky (2000a): Die unter dem Titel New horizons in the study of language and mind herausgegebene Aufsatzsatzsammlung zeigt, daß die Grundannahmen dieses Forschungsprogramms unverändert geblieben sind.

27 properties of mind. These laws and principles, it is maintained, are not formulatile in terms of even the most elaborate extension of the concepts proper to the analysis of behavior and interaction of physical bodies, and they are not realizable by even the most complex automaton. (Chomsky 1972: 6)

Die zweite der drei Vorlesungen dient der Beschreibung des (damals) aktuellen Forschungsstandes und die dritte Vorlesung dient der Skizzierung möglicher Forschungsperspektiven. In diesen beiden Vorlesungen wird die moderne Linguistik als ein Teilgebiet der Psychologie (Chomsky 1972: 28) bzw. als ein Teilgebiet der allgemeinen Kognitionsforschung bestimmt: It has, I believe, become quite clear that if we are ever to understand how language is used or acquired, then we must abstract for separate and independent study a cognitive system, a system of knowledge and belief, that develops in early childhood and that interacts with many other factors to determine the kinds of behavior that we observe; to introduce a technical term, we must isolate and study the system of linguistic competence that underlies behavior but that is not realized in any direct or simple way in behavior. (Chomsky 1972: 4)

Die Annahme, daß menschliches Wissen und Handeln - also auch sprachliches Handeln eine kognitive Basis hat, ist im wissenschaftlichen Diskurs inzwischen überwiegend akzeptiert. Die Vorstellung von Sprache als Verhaltensstruktur (habit structure) oder als durch ständig wiederholte Übungen antrainierte Geschicklichkeit (skill), gegen die Chomsky (1972: 47) argumentiert, findet sich fast nur noch in Alltagstheorien über Sprache.10 Kontrovers diskutiert wird aber die Frage nach dem Wesen der kognitiven Gesetzmäßigkeiten, denen die Organisation sprachlichen Wissens, seines Erwerbs und Gebrauchs unterliegt. Keine Übereinstimmung besteht bei der Beantwortung der Frage, ob systematische Zusammenhänge bestehen zwischen der syntaktischen Struktur einer Äußerung, ihrer wörtlichen Bedeutung und ihrer kommunikativ-pragmatischen Funktion. Kontrovers diskutiert wird auch die Frage, ob sich die Entwicklung sprachlichen Wissens beim Kind mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung des Kindes allein angemessen erklären läßt. Ebensowenig Übereinstimmung wurde bislang auch bei kognitiven Linguisten in der Beantwortung der Frage erzielt, ob sich die Entwicklung strukturellen Wissens beim Kind unabhängig von der kommunikativ-pragmatischen Funktion sprachlicher Äußerungen erklären läßt. Sprachtheoretiker und Spracherwerbsforscher, die ihren Forschungen die von Chomsky formulierte Theorie einer generativen Grammatik zugrunde legen, gehen von der Hypothese aus, daß weder im Hinblick auf die Organisation sprachlichen Wissens noch im Hinblick auf seinen Erwerb von einem systematischen Zusammenhang von syntaktischer Struktur, wörtlicher Bedeutung und kommunikativ-pragmatischer Funktion einer Äußerung ausgegangen werden kann. Sie vertreten vielmehr die Annahme, daß der Erwerb einzelsprachlicher grammatischer Kenntnissysteme nur auf der Basis von im Organismus verankerten spezifischen Prinzipien, der Universalgrammatik, möglich ist. Aus den angebotenen Sprachdaten (D) muß das Kind auf der Basis angeborener Prinzipien (UG) mit Hilfe einer Lernstrategie (L) die Grammatik (G) einer Einzelsprache rekonstruieren. Bierwisch (1987: 660) stellt diese Annahme mit Hilfe einer Formel dar: D [ UG, L ] G. Die Annahme, daß das Kind die Grammatik Gl der Sprache LI nicht alleine mit Hilfe allgemeiner Lernstrategien aus den zur Verfügimg stehenden sprachlichen Daten rekon-

10

Wode (21993: 48) weist in seiner Einführung in die Psycholinguistik daraufhin, daß behavioristische Lerntheorien als Grundlage für Sprech- und Sprachtherapie noch immer weit verbreitet sind.

28

sintieren kann, wird mit bestimmten Eigenschaften dieser Sprachdaten erklärt. Dieses häufig als Poverty of stimulMÍ-Argument bezeichnete Argument beinhaltet im wesentlichen drei Aspekte (Fanselow/Felix 1987a: 106ff.): • Die sprachliche Erfahrung eines Kindes ist begrenzt. Dennoch ist ein Kind in der Lage, nie zuvor gehörte Äußerungen zu verstehen oder auch selbst zu produzieren. • Das sprachliche Wissen muß also auch Regeln und grammatische Prinzipien enthalten, mit deren Hilfe das Kind derartige Äußerungen rezipieren oder selbst produzieren kann. Mit sprachlichen Regularitäten werden Kinder im Vorschul- und Grundschulalter von ihrer Umgebung aber nicht systematisch vertraut gemacht. • Das Kind wird auch bei sprachlichen Fehlern nicht systematisch korrigiert. Auch werden ihm nicht alle Fehler, die in sprachlichen Äußerungen in seiner Umgebung vorkommen, als solche bezeichnet. Das Kind kann sein sprachliches Wissen also nur auf der Basis positiver Beispiele erwerben. Diese Überlegungen führten zu der Hypothese von der Existenz eines angeborenen sprachspezifischen Prinzipiensystems, der Universalgrammatik (Bierwisch 1987: 646, Fanselow/ Felix 1987a: 126f.). Einige Kritiker dieses nativistischen Ansatzes halten dagegen besondere Eigenschaften der dem Lerner präsentierten Sprachdaten D für die entscheidende Variable im Erwerbsprozeß. Auf den Umstand, daß mit sprachlernenden Kindern, Schülern und Erwachsenen in einer an das jeweilige sprachliche Niveau der Lerner angepaßten Weise gesprochen wird, hat als erster Charles Ferguson (1964) aufmerksam gemacht. Die charakteristischen Eigenschaften dieser Lernerregister bestehen in suprasegmentalen Merkmalen, wie besonders langsamem und deutlichem Sprechen, in phonologischen, semantischen und syntaktischen Vereinfachungen sowie in besonderen Elizitier- und Korrekturtechniken. Gegen diese als Motherese- oder Instruktionshypothese bezeichneten Überlegungen lassen sich verschiedene Einwände vorbringen. So wird etwa, wie im folgenden noch gezeigt werden wird, eine weitgehende Beschränkung kompetenter Sprecher auf S-V-O-Muster in Aussagesätzen dem Lerner den Erwerb der Wortstellungsregularitäten des Deutschen nicht erleichtern, sondern erschweren. Außerdem können Vertreter der Instruktionshypothese ohne Rekurs auf ein der Universalgrammatik vergleichbares Kenntnissystem nicht plausibel erklären, welche Fähigkeiten kompetente Sprecher in die Lage versetzen könnten, das sprachliche Entwicklungsniveau des Lerners zu bestimmen und ihm die geeigneten sprachlichen Auslöser für seine weitere sprachliche Entwicklung anzubieten (Fanselow/Felix 1987a: 109). Tracy (1990) kann außerdem zeigen, daß Erwachsene sich in ihrem Instruktionsverhalten keineswegs konsistent verhalten. Nicht jeder Fehler des Kindes wird korrigiert und nicht jede Korrektur ist berechtigt. Außerdem kann ein Kind selbst bei berechtigten Korrekturen an den Reaktionen der Erwachsenen nicht unbedingt erkennen, was an der beanstandeten Äußerung fehlerhaft war. Die Frage, wieso das Kind in einer begrenzten Spanne Zeit, auf der Basis defekter Daten und ohne ausreichende negative Evidenz in der Lage ist, die Grammatik seiner Erstsprache zu erwerben, beantwortet die generative Linguistik also mit der Hypothese von den angeborenen sprachspezifischen Prinzipien, der Universalgrammatik. Ein wesentliches Problem des kindlichen Spracherwerbs, ftir das die Instruktionshypothese ebenfalls eine Lösung anzubieten versucht, ist allerdings mit dieser Hypothese noch nicht erfaßt: Der kindliche Spracherwerb vollzieht sich nicht durch den einfachen, einmaligen Übergang eines An-

29

fangszustandes in einen Endzustand, vielmehr sind eine ganze Reihe von Entwicklungsstadien beobachtbar. Eine Spracherwerbstheorie wird also nicht nur mit dem logischen Problem des Spracherwerbs, sondern auch mit dem Entwicklungsproblem konfrontiert. Einige Spracherwerbsforscher vertreten die Annahme, daß universalgrammatische Prinzipien und Kategorien dem Kind nicht von Anfang an zur Verfugung stehen, sondern daß sie nach einem bestimmten, genetisch festgelegten Entwicklungsplan heranreifen (Felix 1992: 143ff.). Diese Hypothese wird als Reifungshypothese bezeichnet. Andere Spracherwerbsforscher vertreten die Annahme, daß universalgrammatische Prinzipien und Kategorien dem Kind von Anfang an zur Verfugung stehen. Diese Hypothese wird als Kontinuitätshypothese bezeichnet.11 Die sprachliche Entwicklung wird hier mit Lernfortschritten im lexikalischen Bereich erklärt (Clahsen 1988a: 24f., 1990a: 16f.): So wird Verbzweitstellung etwa mit der Fähigkeit zur Unterscheidung von finiten und infiniten Verben in Verbindung gebracht, Verbendstellung mit dem Erwerb subordinierender Konjunktionen. In der Spracherwerbsforschung haben sich die Annahmen über charakteristische Eigenschaften der UG, der Grammatiken natürlicher Sprachen und der Lemstrategie L mit der Entwicklung der Theorie der generativen Grammatik fortentwickelt. Das Verhältnis von Sprachtheorie und Psycholinguistik wird in diesem Zusammenhang unterschiedlich beurteilt. Clahsen (1990a: 17) vertritt die Auffassung, daß neuere Entwicklungen in der Sprachtheorie, insbesondere die Konzeption des Prinzipien- und Parametermodells (Chomsky 1981),12 dazu beigetragen haben, die Möglichkeit der empirischen Überprüfung dieser Theorie mit Hilfe von psycholinguistischen Studien zum kindlichen Spracherwerb zu erweitern und so die Zusammenarbeit von Sprachtheorie und Psycholinguistik für beide Seiten fruchtbar zu machen. Skeptischer als Clahsen beurteilt Haider (1993) die Bedeutung empirischer Evidenz aus Spracherwerbsstudien fur die Entwicklung der sprachtheoretischen Diskussion. Zweifel an der Vorstellung von Spracherwerb als einem Prozeß der Parameterfixierung wurden danach kaum von Spracherwerbsforschern selbst, sondern überwiegend von Sprachtheoretikern geäußert: Die Befreiung aus dem Dilemma der unerklärlichen Wechselwirkung zwischen kognitiv opaker UG und den übergeordneten kognitiven Domänen erfordert den Verzicht auf ein aktiv parametrisiertes Modell der UG. Dies fallt leichter, wenn man eingesehen hat, daß jeder ernsthafte psycho11

12

Diese Annahme existiert in einer starken und in einer schwachen Version. In der schwachen Version wird die Möglichkeit erwogen, daß zu Beginn des Grammatikerwebs noch keine oder zumindest nicht alle funktionalen Kategorien zur Verfugung stehen. Siehe dazu auch Kapitel 1.2.2. Die Möglichkeit einer prägrammatischen Phase im Spracherwerb wird auch von Vertretern der starken Kontinuitätshypothese nicht ausgeschlossen. Die Entwicklung der Theorie der generativen Grammatik wird in Überblicksdarstellungen häufig in verschiedene Phasen eingeteilt. Als eine erste Phase wird dabei die regelorientierte Standardtheorie angesehen, wie sie etwa in Chomskys 1965 erschienenen Aspekten einer Theorie der Syntax dargelegt ist. Eine zweite Phase der theoretischen Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Herausarbeitung einer Anzahl universell gültiger, teilweise parametrisierter Prinzipien, die Chomsky (1981) in seiner Darstellung der Prinzipien- und Parametertheorie in einem System von syntaktischen Teiltheorien zusammenfaßte (Bierwisch 1992: 19). Eine dritte Phase der Entwicklung zeichnete sich mit dem Versuch ab, die Wirkung universalgrammtischer Prinzipien aus nicht-sprachspezifischen Prinzipien anderer kognitiver Subsysteme herzuleiten (Bierwisch 1992: 27). In dieser Entwicklung wird die Auffassung von UG als einem System von parametrisierten Prinzipien in Frage gestellt. Zur weiteren Entwicklung des Modells siehe auch Pinker (1996) sowie Chomsky (1995 u. 1998).

30 linguistische Versuch, die Redeweise von der Parameterfixierung im Spracherwerb zu explizieren, eher zu scheitern als zu gelingen verspricht. Dies mag der Grund sein, daß in der einschlägigen Literatur zum Spracherwerb das Funktionieren des Parameterfixierens stillschweigend vorausgesetzt wird. Die Erwerbsdaten werden vor dieser Hintergrundannahme so diskutiert, als ob bloß zur Debatte stünde, welche Wertsetzungen durch die Daten aus dem Spracherwerb reflektiert werden. Die Frage, was exakt die Auslösefaktoren sind, wie ihre epistemische Priorität gestaltet ist und wie sie mit dem zu erwerbenden Phänomen der Grammatik in Zusammenhang stehen, wird nicht gestellt. (Haider 1993: 8)

Ebenso wie Clahsen hält Habel (1993: 263) den Vorwurf einer mangelnden empirischen Fundierung der ,Chomsky-Theorien', wie sie etwa von Jäger (1993a) vorgetragen wird, grundsätzlich für eine Fehleinschätzung. Als Beispiel für das Zusammenwirken von theoretischer Linguistik und empirisch arbeitender Sprachpsychologie/Psycholinguistik im Bereich der Sprachenverbsforschung nennt er Studien zum Erwerb des AnaphernKonzeptes (Lust (ed.) 1986). (1) (2) (3) (4) (5)

Carolin, wäscht sichj die Hände. Carolin, wäscht ihr2 die Hände. Carolin, und Isabel2 helfen einander, 2. Carolin, verspricht, e], Isabel zu helfen. Isabel2 bittet Carolin,, [ e], ihr2 3 beim Händewaschen zu helfen.

Bei dem Reflexivpronomen sich in (1) und dem Reziprokpronomen einander in (3) handelt es sich um Anaphern. Sowohl das Reflexiv- als auch das Reziprokpronomen muß sich auf das Subjekt des gleichen einfachen Satzes beziehen. Das Personalpronomen ihr in (2) und (5) dagegen darf sich nicht auf das Subjekt des gleichen einfachen Satzes beziehen. Diese als Bindungsprinzipien bezeichneten Regularitäten werden in der Bindungstheorie, einer syntaktischen Teiltheorie, beschrieben.13 Die Prinzipien, denen die Interpretation der phonetisch nicht realisierten Subjekte der infiniten Nebensätze in (4) und (5) folgt, werden in einer weiteren syntaktischen Teiltheorie, der Kontrolltheorie, beschrieben.14 Studien zum Erwerb interpretativer Relationen werden aber nicht nur zur empirischen Überprüfung solcher syntaktischer Prinzipien herangezogen, sondern auch zur empirischen Überprüfung grundlegender theoretischer Annahmen wie der Autonomiehypothese (Schaner-Wolles/Haider 1987). Auf die drei grundlegenden Fragen • nach dem Verhältnis von Psycholinguistik und theoretischer Linguistik bei der Erforschung des Zusammenhangs D [ UG, L ] ->G, • nach der Möglichkeit der Überprüfung syntaktischer Prinzipien wie des Kontrollprinzips auf der Basis empirischer Untersuchungen und • nach der Möglichkeit der Überprüfung grundlegender theoretischer Annahmen wie der

13 14

Für eine exakte Formulierung der Bindungsprinzipien siehe etwa Fanselox/Felix( 1987b: 93ff.) Weitere Prinzipiensysteme werden im Prinzipien- und Parametermodell der generativen Grammatik in den folgenden vier syntaktischen Teiltheorien beschrieben: Grenzknotentheorie, Rektionstheorie, Theta-Theorie und Kasustheorie. Siehe dazu auch die einschlägigen Einführungen in die generative Grammatik (z.B. Fanselow/Felix 1987a, Vater 21996). Die KontrollÜieorie wird allerdings nicht mehr in allen diesen Darstellungen der Prinzipien- und Parametertheorie als syntaktische Teiltheorie behandelt. Auf die Gründe hierfür werde ich im folgenden eingehen.

31 Autonomiehypothese auf der Basis empirischer Untersuchungen 15 möchte ich jetzt genauer eingehen. Diese Überlegungen stützen sich auf eigene theoretische und empirische Arbeiten (Siebert-Ott 1983a, 1983b, 1985, 1992) und Rothweiler/SiebertOtt 1988) sowie auf einschlägige Literatur zu diesem Fragenkomplex. Mit der kognitiven Wende in der Linguistik vollzieht sich der Wandel von einer beschreibenden zu einer erklärenden Wissenschaft. Ziel sprachwissenschaftlicher Forschung ist jetzt nicht mehr ausschließlich die deskriptive Analyse beobachtbaren Sprachverhaltens, sondern der Versuch einer Erklärung dieses Verhaltens. Man nimmt jetzt an, daß allen Verhaltensabläufen - also auch sprachlichen Äußerungen - mentale Repräsentationen zuzuordnen sind, die ihrerseits Regeln unterliegen. Die Formulierung einer Grammatik G einer Sprache L hat das Ziel, das System aller Elemente und Kombinationsbedingungen zu erfassen, das die mentalen Repräsentationen aller möglichen akzeptablen Äußerungen in L determiniert (Bierwisch 1987: 646t, Mötsch 1992: 53f.). Die Beschreibung der mentalen Repräsentation von Äußerungen wie (6) und (7) muß erfassen können, daß ein kompetenter Sprecher des Deutschen die infiniten Komplementsätze in (6) und (7) verschieden interpretiert. (6) (7)

Die Mutter hat Carolin gebeten, ihr helfen zu wollen. Die Mutter hat Carolin versprochen, ihr helfen zu wollen.

Die Strukturdarstellung in (8), wie sie in der Standardtheorie gebräuchlich war, erfaßt diesen Unterschied noch nicht. Sie beschreibt nur die Oberflächenstruktur (S-Struktur) dieser Sätze. Satz

(8) NominalPhrase

AUXiliar

VerbalPhrase NP

S

Verb NP

Aux

VP

(6) Die Mutter

hat

Carolin

gebeten

ihr helfen zu wollen

(7) Die Mutter

hat

Carolin

versprochen

ihr helfen zu wollen

In der Standardtheorie wird der Bedeutungsunterschied zwischen den Sätzen (6) und (7) mit Strukturdarstellungen erfaßt, die zusätzliche Elemente, nämlich lexikalische NPs, in der Subjekt-Position des Komplementsatzes enthalten, vgl. (9) und (10). Die Verbindung zwischen den zugrundeliegenden Strukturen (D-Strukturen) (9) und (lo) und der S-Struktur (8) 15

Die Hypothese von der Autonomie dieser Komponente sprachlichen Wissens könnte dann als widerlegt gelten, wenn gezeigt werden könnte, daß sich alle als syntaktische Gesetzmäßigkeiten postulierten Regularitäten auf andere Gesetzmäßigkeiten zurückfuhren lassen, die in der Theorie anderen Bereichen, etwa der semantischen Komponente oder dem konzeptuellen System, zugeordnet werden. Siehe dazu auch Kapitel 2 der Einleitung meiner Untersuchung.

32 wird mit Hilfe einer Transformationsregel beschrieben, die die Subjekt-NP der eingebetteten Sätze in (9) und (10) tilgt.16 Bedingung für die Tilgung ist, daß die Subjekt-NP des eingebetteten Satzes referenzidentisch ist mit der nächsten NP des übergeordneten Satzes. Dieses Prinzip der minimalen Distanz sagt voraus, daß dreiwertige Verben in der Regel Objektkontrollverben sind, d.h. Verben bei denen die Subjekt-NP ihres Komplementsatzes referenzidentisch ist mit der Objekt-NP des unmittelbar übergeordneten Satzes. Dreiwertige Verben wie versprechen, bei denen diese Voraussage nicht zutrifft, müssen daher im Lexikon als Ausnahme markiert werden. (9)

S NP

AUX

VP NP

V

S NP

Die Mut- hat ter

Carolin

gebeten

(10) NP

Carolin

Aux

VP NP ihr

will

V helfen

S VP

AUX NP

V

S NP

Die Mut- hat ter

Carolin

versprochen die Mutter

Aux will

VP NP ihr

V helfen

In der Standardtheorie ging man also davon aus, daß die Syntaxkomponente der Grammatik G einer Sprache L außer syntaktischen Kategorien wie Ν, V usw. und Bauregeln für Phrasen und Sätze verschiedene Typen von Transformationsregeln enthält.17 Eine Revision dieser Theorie erwies sich als notwendig, weil im Rahmen der Lernbarkeitstheorie gezeigt werden konnte, daß Grammatiken, die auf der Basis der Standardtheorie formuliert wurden, sich generell als nicht lembar erwiesen (Bierwisch 1987: 652). Zu den wichtigsten Revisionen gehörte die Beschränkung der Form möglicher Transformationen auf ein allgemeines Regelformat des Typs ,bewege α'. Das bedeutete unter anderem einen Verzicht auf die Annahme strukturabhängiger Tilgungstransformationen, wie der hier beschriebenen Tilgung referenzidentischer NPs (Bierwisch 1987: 657). Konstituentenregeln des Typs VP -> V NP wurden durch ein allgemeines Regelformat XP Y ... Χ ... Ζ ersetzt. Man nahm

16

17

In manchen einführenden Darstellungen in die Standardtheorie wird Deutsch zunächst als SVOSprache behandelt. Die Stellung des Verbs im Nebensatz wird als abgeleitet angesehen (Huber/Kummer 1974: 129ff.). Auf die gängigen Annahmen über die Struktur des deutschen Satzes im Prinzipien- und Parametermodell werde ich in den beiden folgenden Kapiteln eingehen. Die Regeln für den Bau von Phrasen und Sätzen (Konstituentenregeln, Phrasenstrukturregeln) hatten das Format VP>V NP: Eine Verbalphrase besteht aus einem Verb und einer Nominalphrase.

33 jetzt an, daß Phrasen einheitlich nach einem Schema, dem X-bar-Schema, aufgebaut sind: XP

(11) Spezifizierer

Χ' χ·

Adjunkt Komplement

Xo

Phrasen werden als endozentrische Konstruktionen aufgefaßt. Ihr Bau folgt allgemeinen Prinzipien wie Der Kopf (Xo) einer Phrase steht peripher zu seinen Komplementen. Ein solches Prinzip erlaubt zwei Optionen: Der Kopf der Phrase kann seinen Komplementen vorangehen oder ihnen folgen. Das Prinzip ist also parametrisiert. Bestandteil der Universalgrammatik ist ein Inventar an lexikalischen und fiinktionalen Kategorien, das X-bar-Schema, die Regel ,bewege α ' sowie eine Anzahl von Prinzipien, die parametrisiert sein können.18 Eine wesentliche Aufgabe des Grammatikerwerbs ist es, die Parameter auf die in Sprache L gültigen Werte festzulegen. Dennoch berührt dieser Wandel in den theoretischen Auffassungen von der Standardtheorie (ST) bis zur revidierten erweiterten Standardtheorie (REST) und zur ,Prinzipien und Parameter'-Theorie die Kontrolltheorie in ihrem Kern zunächst noch nicht: An die Stelle der lexikalischen Subjekt-NP tritt in der Tiefenstruktur von Sätzen wie (6) und (7) ein leeres Element e], als ,PRO' bezeichnet. Die Interpretation dieser [ e] wird durch eine Koindizierungsregel geleistet. Durch diese Regel erhält PRO den gleichen Index wie eine NP des übergeordneten Satzes. Dies ist bei dreiwertigen Verben in der Regel wieder die Objekt-NP: „[ e] is assigned the index of the nearest controller" (Chomsky 1980: 33). Subjektkontrollverben wie versprechen erhalten auch hier einen besonderen Lexikoneintrag [+Subjektkontrolle]. Die Kontrolltheorie wird auch in der »Prinzipien und Parameter'-Theorie (Chomsky 1981) zunächst noch als eine syntaktische Teiltheorie aufgefaßt.19 Die Möglichkeit, daß Kontrolle kein syntaktisches, sondern ein semantisches Phänomen darstellt, wird von Chomsky allerdings bereits sehr früh (1972: 60f.) erörtert: Observe that I might well have been mistaken in the preceding remarks in assuming that the topics discussed belong to the syntax rather than to the semantic component of grammar, or to some domain in which semantic and syntactic rules interpenetrate. The issues are too clouded for us to be able to say that this is an empirical question; but when they are sharpened, we may find that an empirical question can be posed [...] We can expect, as research continues into problems of grammar, that the boundaries that seem clear today may shift in unpredictable ways, or that some new basis for the organization of grammar may replace the framework that now seems appropriate. 18 19

Zur Unterscheidung von lexikalischen und funktionalen Kategorien siehe Kap. 1.2.2. Daß Chomsky (1981) die Kontrolltheorie fur ergänzungs- bzw. revisionsbedürftig hält, geht aus der folgenden Formulierung hervor: „These are among the properties that will have to be accounted for by the theory of control. They suffice to indicate that this theory involves a number of different factors: structural configurations, intrinsic properties of the verb, other semantic and pragmatic considerations. Sorting these factors out and explaining the crosslinguistic differences and similarities remains an open problem. The formulation in OB [On Binding (Chomsky 1980), G.S.-O.] is at best a first approximation." (Chomsky 1981: 78f.)

34

Die Auffassung, daß es sich bei Kontrolle im Kern um ein syntaktisches Phänomen handelt, wurde inzwischen in der sprachtheoretischen Diskussion weitgehend aufgegeben. Aufgrund der Datenlage (vgl. etwa Siebert-Ott 1983b: 68fif.) gelangen auch andere Autoren in neueren Darstellungen der Prinzipien- und Parameter-Theorie zu der Auffassung, „daß es so etwas wie eine syntaktische Eigenschaft ,Kontrolle' nicht gibt" (Fanselow/Felix 1987a: 88). Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die logisch-semantischen Eigenschaften von Prädikaten bei der Bestimmung der Kontroll-Relation eine entscheidende Rolle spielen (Siebert-Ott 1983b:112ff., Fanselow/Felix 1987a: 88ff). Im Bereich der Kontrollphänomene hat also eine Grenzverschiebung zwischen syntaktischer und semantischer Komponente der Grammatik stattgefunden: Das Wissen über diese Art von interpretativen Relationen wird nicht mehr als syntaktisches Wissen charakterisiert.20 Eine Grenzverschiebung, die zeigte, daß alle wesentlichen sprachlichen Regularitäten, die man zunächst als syntaktisches Wissen beschrieben hat, angemessener als semanüsches oder pragmatisches Wissen beschrieben werden könnten, wäre gleichbedeutend mit einer Widerlegung der Hypothese von der Autonomie der syntaktischen Komponente von G. Eine solche Entwicklung ist beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aber nicht absehbar.21 Selbst fiir den Bereich der Kontrollphänomene wird auch nach dieser Grenzverschiebung noch ein nicht-trivialer Rest syntaktischer Regularitäten angenommen. Fanselow/Felix (1987a: 90) illustrieren dies an Beispielsätzen wie (12) und (13): (12) Carolin hofft, e] Isabel zu helfen. (13) Carolin hofft, daß die Mutter ihr verspricht,

e] Isabel zu helfen.

Nur in (12) besteht Referenzidentität zwischen der e] des infiniten Nebensatzes und der Subjekt-NP von hoffen. In (13) kann eine solche Koreferenzbeziehung nicht hergestellt werden. Studien zum Erwerb interpretativer Relationen, die das Ziel haben, einzelne grammatische Prinzipien, wie die Bindungsprinzipien und das Kontrollprinzip, oder grundlegende theoretische Annahmen, wie die Autonomiehypothese, empirisch zu überprüfen, müssen die hier skizzierte Entwicklung der sprachtheoretischen Diskussion berücksichtigen. Schaner-Wolles/Haider (1987) gehen bereits von der Annahme aus, daß das Prinzip der minimalen Distanz kein syntaktisches Prinzip ist, sondern eine Interpretationsstiategie, derer sich Lerner mit Englisch als erster Sprache beim Erwerb von Kontrollrelationen recht erfolgreich bedienen. Erfolgreich ist diese Interpretationsstrategie ihrer Ansicht nach deswegen, weil Englisch eine Sprache mit einer relativ festen Wortstellung ist. Da bei dreiwertigen Verben Objektkontrolle deutlich häufiger auftritt als Subjektkontrolle, sind bei einer SVO-NS^-Abfolge Objekt und e] des infiniten Nebensatzes tatsächlich benachbart. Dies gilt nicht für Sprachen wie das Deutsche, die eine freiere Wortstellung haben. Hier können auch Subjekt und [ e] des infiniten Nebensatzes benachbart sein:

20

21

Eine neuere Darstellung dieser Entwicklung von einer syntaktischen zu einer semantischpragmatisch fundierten Perspektive findet sich bei Panther (1994). Allerdings fuhrt diese Hypothese zumindest heuristisch zu einem Düemma. Wird ein dem sprachlichen Wissen zugrundeliegendes Prinzip sprachspezifisch formuliert, wird es also in seiner Gültigkeit auf eine Domäne, die menschliche Sprachfahigkeit, beschränkt, so läßt es sich auch nicht mehr durch unabhängige Evidenz bestätigen (Bierwisch 1992, Fanselow 1992).

35 (14) Carolin hat der Vater gebeten, [ e] die Torte beim Bäcker abzuholen. (15) Carolin hat der Vater versprochen, [Np e] die Torte beim Bäcker abzuholen. Schaner-Wolles/Haider (1987: 52) gehen davon aus, daß es in den den Kindern angebotenen Sprachdaten keine „bevorzugte Nachbarschaft" zwischen Objekt und Nebensatz gibt und daß sich daher eine MDP-Strategie beim Erwerb des Deutschen als erster Sprache nicht finden lassen wird. Besonders sollten Fehler bei der Interpretation von Subjektkontrollverben nicht häufiger auftreten als bei Objektkontrollverben. Daß weder diese Vermutungen über die Datenlage noch die hieraus gezogenen theoretischen Schlußfolgerungen zutreffend sind, will ich im folgenden darlegen. In einer empirischen Studie hat C.Chomsky (1969) ausgewählte Aspekte des Grammatikerwerbs bei englischen Kindern im Alter zwischen fünf und zehn Jahren untersucht. Dabei stellte sie fest, daß Kinder in einem Alter, in dem sie Strukturen wie (16) und (17) problemlos zielsprachlich korrekt interpretieren, noch erhebliche Probleme mit der Interpretation von Strukturen wie (18) und (19) haben. (16) (17) (18) (19)

John told Bill to go. John asked Bill to go. John promised Bill to go. John asked Bill where to go.

Bis zum Alter von etwa fünfeinhalb Jahren behandelten die untersuchten Kinder nicht nur teil, sondern auch promise und ask ausschließlich als Objektkontrollverben. Daß promise ein Subjektkontrollverb ist, haben alle Kinder bis zum Alter von neun Jahren gelernt. Auch im Alter von zehn Jahren beherrschen noch nicht alle Kinder das Verb ask in der Variante Subjektkontrollverb (C.Chomsky 1969: 120). Diese Beobachtungen sprechen dafür, daß Kinder, die Englisch als erste Sprache erwerben, die Subjekt-^ e] infiniter Nebensätze zunächst mit Hilfe eines Prinzips interpretieren, das Referenzidentität mit der Objekt-NP des Hauptsatzes vorhersagt. Außerdem zeigen diese Beobachtungen, daß Kinder im weiteren Erwerbsverlauf zunächst das Kontrollverhalten von Verben wie promise erwerben, die ausschließlich Subjektkontrolle erlauben. Das Kontrollverhalten von Verben wie ask, die sowohl Subjekt- als auch Objektkontrolle erlauben, bereitet im Erstspracherwerb die größten Probleme. Diese Beobachtung von C.Chomsky, daß dreiwertige Verben mit infiniten Komplementen zunächst grundsätzlich als Objektkontrollverben interpretiert werden, finden auch Sherman/Lust (1986: 302) in einer empirischen Studie zum monolingualen Erstspracherwerb englischsprachiger Kinder bestätigt. Evidenz für eine derartige Interpretationsstrategie findet sich aber - entgegen den Vermutungen von Schaner-Wolles/Haider - auch im monolingualen Erstspracherwerb deutschsprachiger Kinder. Grimm/Schöler (1975: 117ff), die fünfzehn Kinder im Alter zwischen 5;0 und 6;04 Jahren untersuchten, stellten bei diesen Kindern ebenfalls größere Schwierigkeiten bei der Interpretation von Sätzen mit Subjektkontrollverben als bei der Interpretation von Sätzen mit Objektkontrollverben fest. Zu einem anderen Ergebnis gelangten Schaner-Wolles/Haider (1987) in ihrer eigenen empirischen Studie bei achtundfünfzig Kindern im Alter zwischen 5;05 und 9; 11 Jahren. Bei der Gesamtgruppe fanden sie in 66,7 % der Fälle eine korrekte Interpretation von Satzstrukturen mit Subjektkontrollverben und in 62,2 % der Fälle bei Satzstrukturen mit Objektkontrollverben. Betrachtet man nur die Altersgruppe von 8;07 bis 9; 11 Jahren, so scheint dieser Unterschied noch deutlicher hervorzutreten: Während die Beispielsätze mit

36 Subjektkontrollverb hier zu 81,3 % korrekt interpretiert wurden, lag der Anteil der korrekten Interpretation von Beispielsätzen mit Objektkontrollverben in dieser Altersgruppe nur bei 60,0%. Diese Ergebnisse hängen offenbar mit der besonderen Zielsetzung der Untersuchung von Schaner-Wolles/Haider und den fiir diesen Untersuchungszweck konstruierten Testsätzen zusammen. Gegenstand der Untersuchung war zwar der Erwerb von Bindungsprinzipien und Kontrollprinzip; diese Untersuchung diente aber in erster Linie dem Ziel der Überprüfung der Autonomiehypothese. Dazu wurden Sätze konstruiert, in denen entweder nur ein Bindungsprinzip oder das Kontrollprinzip wirksam war, vgl. (20) - (23), und Sätze, in denen jeweils mehr als ein solches Prinzip wirksam war, vgl. (24) - (31). Bindungsprinzip A

Anaphern müssen in ihrer Rektionskategorie gebunden sein.

Bindungsprinzip Β

Pronomina müssen in ihrer Rektionskategorie frei sein

Kontrollprinzipien ,K'

(20) (21) (22) (23) (24) (25) (26) (27) (28) (29) (30) (31)

Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die

Susi stellt den Koffer neben sich. (A) Susi stellt den Koffer neben sie. (B) Susi bittet die Mutter, den Koffer zu tragen. (K) Susi verspricht der Mutter, den Koffer zu tragen. (K) Susi verspricht der Mutter, den Koffer neben sich zu stellen. (A+K) Susi bittet die Mutter, den Koffer neben sich zu stellen. (A+K) Susi verspricht der Mutter, den Koffer neben sie zu stellen. (B+K) Susi bittet die Mutter, den Koffer neben sie zu stellen. (B+K) Susi verspricht der Mutter, sich mit ihr wieder zu versöhnen. (A+B+K) Susi bittet die Mutter, sich mit ihr wieder zu versöhnen. (A+B+K) Susi verspricht der Mutter, sie mit ihr wieder zu versöhnen. (B+B+K) Susi bittet die Mutter, sie mit ihr wieder zu versöhnen. (B+B+K)

Bei den Sätzen (24) - (30) unterschieden Schaner-Wolles/Haider zwischen additiver und interaktiver Komplexität. Interaktive Komplexität hegt in (30) und (31) vor. Das zeigt ein Vergleich mit den Testsätzen (28) und (29). In (28) ist Referenzidentität zwischen dem Pronomen und dem Objekt des Hauptsatzes möglich, in (29) zwischen dem Pronomen und dem Subjekt des Hauptsatzes. Diese Lesart entfällt in (30) und (31) dann, wenn eine Koreferenzbeziehung zwischen dem ersten vorkommenden Pronomen und dem Objekt (28) oder dem Subjekt (29) des Hauptsatzes hergestellt wird. Die Interpretation des zweiten Pronomens in (30) und (31) ist also jeweils abhängig von der Interpretation des ersten Pronomens. Diese Unterscheidung von additiver und interaktiver Komplexität nutzten SchanerWolles/Haider nun zur Überprüfung der Autonomiehypothese und der Korrelationshypothese, d.h. der Hypothese, die einen direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung grammatischen Wissens und der allgemeinen kognitiven Entwicklung postuliert: Unter der Autonomiehypothese ist ein Unterschied zwischen additiver und interaktiver Komplexität zu erwarten. Der interaktiven, nicht aber der additiven, entspricht eine kognitive Komplexitätssteigerung: Bei der additiven Komplexität werden unter den vorhandenen Elementen des Systems unterschiedlich viele aktiviert. Wenn es stimmt, daß UG das System der Einzelgrammatik

37 festlegt, und wenn es stimmt, daß UG qua Spracherwerbsprogramm das sprachliche Wissen beim Spracherwerb organisiert, dann brauchen die Interaktionsformen unterschiedlicher Prinzipien nicht gelernt zu werden. Die Anzahl pro Satz wirksamer Prinzipien sollte keinen Komplexitätsfaktor für die Verarbeitung bilden: Wenn die Prinzipien in Isolation beherrscht werden, dann werden sie auch in Kombination beherrscht. [...] Wenn die Grammatik aber eine bedingte Charakterisierung eines Satzes liefert [...] wie das Beispiel der Pronominalinterpretation in Kombination mit Kontrolle zeigt, so entspricht dem sowohl unter AH wie unter KH eine Steigerung der kognitiven Komplexität. (Schaner-Wolles/Haider 1987: 51)

Zeigt sich also, daß die Anzahl der pro Satz zu aktivierenden Prinzipien für die korrekte Interpretation eine Rolle spielt, so spricht das gegen die Autonomie- und für die Korrelationshypothese. Mit Hilfe kognitiver Testverfahren wurde zunächst der Entwicklungsstand der Testpersonen bestimmt. Drei kognitive Niveaus wurden danach unterschieden und die Versuchspersonen wurden entsprechend in drei Gruppen eingeteilt. Danach wurde in einem sprachlichen Test der Anteil korrekter Interpretationen der Reflexivpronomen, Personalpronomen und der logischen Subjekte infiniter Nebensätze in den den Testpersonen vorgelegten Beispielsätzen ermittelt. Wenn man den Einfluß der Variable Lebensalter, die sowohl mit der sprachlichen als auch mit der kognitiven Entwicklung im Zusammenhang steht, ausschaltete, dann zeigte sich nach der Beobachtung von Schaner-Wolles/Haider (1987: 66ÉF.) kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Niveau der sprachlichen und dem der kognitiven Entwicklung. Die Interpretation der komplexen Beispielsätze, in denen mehr als ein Prinzip zu aktivieren war, bereitete den Versuchspersonen nur dann mehr Schwierigkeiten als die Interpretation von Sätzen, in denen nur ein Prinzip zu aktivieren war, wenn es sich um interaktive Komplexität handelte. Diese Beobachtung, daß interaktive Komplexität, nicht aber additive Komplexität das Verständnis des Satzes erschwert, ist mit der Autonomiehypothese verträglich. Die empirische Studie von Schaner-Wolles/Haider zum Erwerb interpretativer Relationen zeigt also, daß der Grad der Beherrschung interpretativer Prozesse in keinem proportionalen Zusammenhang steht mit dem nicht-sprachlichen kognitiven Niveau des Kindes. Diese Ergebnisse sprechen für die Autonomiehypothese in der allgemeinen Form, daß Grammatikerwerb zwar ein bestimmtes kognitives Niveau voraussetzt, sich oberhalb dieses Schwellenniveaus aber Unterschiede in der kognitiven Entwicklung nicht mehr auf die Entwicklung grammatischen Wissens auswirken. Allerdings ergibt die Auswertung der Reaktionen auf die Testsätze, daß die Unterscheidung von einfachen und komplexen Sätzen eine Rolle bei der korrekten Anwendung des Kontrollprinzips spielt. In der Altersstufe III (8;7 — 9; 11) wird die e] in infiniten Nebensätzen in 92,9% aller Fälle richtig interpretiert, wenn außer dem Kontrollprinzip kein weiteres Prinzip aktiviert werden muß. Müssen weitere Prinzipien aktiviert werden, sinkt die Zahl der korrekten Interpretationen bei versprechen auf 81,3% und bei bitten auf 60,0% (Schaner-Wolles/Haider 1987: 69fF.). Auch die Zahl der Fehlanwendungen der Bindungsprinzipien hegt bei bitten höher als bei versprechen, wenn zusätzlich das Kontrollprinzip aktiviert werden muß. Diese Zusammenhänge werden bei Schaner-Wolles/Haider nicht weiter diskutiert. Die Testsätze sind daher nicht geeignet zur Überprüfung der Hypothese, daß im monolingualen Erstspracherwerb im Deutschen eine Lokalitätsstrategie der Kontrollinterpretation nicht erwartbar ist. In einer Pilotstudie haben Rothweiler/Siebert-Ott (1988) den Erwerb infiniter Nebensätze im monolingualen Erstspracherwerb noch einmal untersucht. Bestandteil dieser Pilotstu-

38 die war ein Sprachproduktionstest mit zwei Kindern im Alter von 6; 10 und 7;03 Jahren. Dazu wurden neben anderem Testsätze konstruiert, die die Verben befehlen, bitten, erlauben, verbieten, vorschlagen, versprechen, drohen und sagen in Verbindung mit einem infiniten Nebensatz enthielten. Den Kindern wurden diese Testsätze vorgelesen und es wurde zu jedem Testsatz eine Frage gestellt: (32a) Der Bauer schlägt Anna vor, [ Np e] das Pony auf die Weide zu bringen. (32b) Frage: Wer bringt das Pony auf die Weide? (33 a) Der Bauer erlaubt Eva, [ e] den Traktor zu lenken. (33b) Frage: Wer lenkt den Traktor? Während der Durchführung des Tests war vor den Kindern ein Bauernhof mit Spielfiguren aufgebaut, der die in den Testsätzen benannten Objekte Traktor, Pony etc. enthielt. Außerdem waren Spielfiguren als Bauer, Bäuerin etc. eingeführt worden. Die Aufgabe bestand nicht nur darin, die Testfragen zu beantworten, sondern auch jeweils eine Spielfigur auszuwählen, die die erfragte Handlung ausführen sollte. Dieser Test wurde mit denselben Kindern im Alter von 9;07 bzw. 10;01 Jahren wiederholt. Zusätzlich wurde ein weiteres Kind (7;08) getestet. Den älteren Kindern wurden keine Spielszenen mehr angeboten, sondern es wurden ihnen nur noch die Testsätze vorgelesen (Siebert-Ott 1992). Die Auswertung der Testsätze ergab, daß alle Kinder unabhängig von ihrem Alter keine Probleme bei der korrekten Interpretation der insgesamt neunundvierzig Testsätze mit den Objektkontrollverben befehlen, erlauben, verbieten und bitten hatten. Nur in einem Fall wurde befehlen als Subjektkontrollverb interpretiert, vgl. (34). Weitere Fehler traten bei Objektkontrollverben mit infiniten Nebensätzen nicht auf. (34a) Der Knecht befiehlt dem Bauern, den Stier einzufangen. (34b) Frage: Wer soll den Stier einfangen. (34c) Antwort: Der Knecht (L., 7;03)22 Auch die Verben vorschlagen und sagen wurden in neunzehn von insgesamt einundzwanzig Testsätzen ausschließlich als Objektkontrollverben interpretiert. Erhebliche Probleme hatten die Kinder dagegen mit der Interpretation der Testsätze mit den Subjektkontrollverben versprechen und drohen. In einundzwanzig von insgesamt einundvierzig Testsätzen, also in der Hälfte aller Fälle, wurden diese Verben als Objektkontrollverben behandelt. Dabei stieg bei den beiden zweimal getesteten Kindern die Zahl der richtigen Antworten:

22

Die Fehlerursache könnte in diesem Fall im Bereich des konzeptuellen Wissens liegen. Dafür spricht, daß ein anderes Kind (C., 9; 10) auf den gleichen Testsatz nach einer Selbstkorrektur mit dem Kommentar reagierte: „Wieso kann der Knecht dem Bauer befehlen?"

39

C.I L. I 1.1 C. II L. II

versprechen (Subjektkontrolle)

drohen Subjektkontrolle

33% 33% 66% 100% 100%

50% 0% 33% 100% 33%

6;10 7;03 7:08 9;07 10;01

Beide Kinder haben beim zweiten Test bereits erkannt daß versprechen ein Subjektkontrollverb ist, eines der beiden Kinder behandelt aber drohen noch immer als Objektkontrollverb. Nur das Kind, das sowohl versprechen als auch drohen als Subjektkontrollverb behandelt, erkennt zu diesem Zeitpunkt auch schon, daß vorschlagen und sagen Verben sind, die sowohl Subjekt- als auch Objektkontrolle erlauben (Siebert-Ott 1983b: 75fF ). (35a) Eva schlägt Anna vor, [ e] die Hühner zu futtern. (35b) Frage: Wer futtert die Hühner? (35c) Antwort: Eva und Anna. (C. II, 9;07) (36a) Der Bauer sagt Tom, das Tor zu öffnen. (36b) Frage: Wer öffnet das Tor? (36c) Antwort: Können beide machen. (C. II, 9;07) Diese empirischen Befunde sprechen für eine bestimmte Entwicklungssequenz beim Erwerb der Kontrolleigenschaften von Verben auch im Deutschen: Phase I

Kontrolleigenschaften werden erworben

von

Objektkontrollverben

(OK)

Phase II

Kontrolleigenschaften werden erworben

von

Subjektkontrollverben

(SK)

Phase III

Kontrolleigenschaften von Verben, die sowohl Subjekt- als auch Objektkontrolle erlauben (SK/OK) werden erworben

Kinder, die die Kontrolleigenschaften von SK/OK-Verben beherrschen, beherrschen auch die Kontrolleigenschaften von SK-Verben und OK-Verben. Und Kinder, die die Kontrolleigenschaften von SK-Verben beherrschen, beherrschen auch die Kontrolleigenschaften von OK-Verben. Phase I haben alle Kinder zu Beginn des Tests bereits abgeschlossen. Das Kind I. (7;08) befindet sich am Beginn von Phase Π, das Kind L. (10;01) befindet sich am Ende dieser Phase. Das Kind C. (9; 10) hat Phase III erreicht. Würden Kinder sich beim Erwerb von Kontrolleigenschaften ausschließlich an der Verbbedeutung orientieren, dürften sich derartige Entwicklungssequenzen beim Erwerb von Kontrolle nicht finden: Der Erwerb der Kontrolleigenschaften von kommissiven Verben wie versprechen sollte Kindern nicht mehr Schwierigkeiten bereiten als der Erwerb der Kontrolleigenschaften direktiver Verben wie bitten. Gegen eine Erklärung, die diesen Erwerbsverlauf auf die Anwendung eines syntaktischen Prinzips zurückführt, sprechen aber

40 sprachtheoretische Überlegungen. Schaner-Wolles/Haider (1987: 52) bezeichnen das Verfahren, mit dem Kinder beim Erwerb des Englischen als Erstsprache Kontrolleigenschaften von Verben bestimmen als .Approximationsstrategie'. Pinker (1989:114) spricht von einer ,generellen Prozedur': When a complement subject of an input sentence is missing, add a rule of control to the lexical entry of the matrix verb stating that the subject of its complement is to be interpreted as being identical to the matrix object, if there exists a matrix object in the input sentence.

Kinder entwickeln diese Strategie nach Pinkers Auffassung, weil im sprachlichen Input Objektkontrolle bei dreiwertigen Verben häufiger vorkommt als Subjektkontrolle. Nur zur Identifizierung von SK-Verben und SK/OK-Verben bedürfen Kinder nach seiner Auffassung positiver semantischer Evidenz. Daß Kinder SK-Verben schneller identifizieren als SK/OK-Verben führt Pinker (1989: 121) auf das von Wexler und Culicover formulierte Uniqueness Principle zurück: Kinder nehmen zunächst an, daß für jedes Verb nur ein Kontrolltyp existiert. Diese beiden Annahmen können die Grundlage bilden für eine adäquate Beschreibung der Entwicklungssequenzen beim Erwerb der Kontrolleigenschañen von Verben im Englischen und im Deutschen. Das bedeutet, daß in dem Schema D [ UG, L ] G das Kontrollprinzip nicht Bestandteil von UG sein kann. Nimmt man an, daß das Kontrollprinzip Bestandteil der Lernstrategie L ist, kann L nicht mehr (ausschließlich) als ein auf UG bezogener Prozeß der Parameterfixierung verstanden werden. L muß vielmehr allgemeine Lernstrategien enthalten. Solche Lernstrategien werden für den frühen Erstspracherwerb auch in anderen Zusammenhängen angenommen: Um syntaktische Kategorien wie Nomen, Verb, Adjektiv usw. im sprachlichen Input zu identifizieren, bedienen sich Kinder offenbar zunächst einer Strategie, die in der Literatur als semantic bootstrapping bezeichnet wird: Eine wichtige Quelle von Informationen für das Kind ergibt sich daraus, daß es die Bedeutung von Sätzen der Erwachsenen aus dem Situations- und Handlungskontext sowie aus der Bedeutung einzelner Wörter erschließen kann. Hilfreich ist zudem, daß in dem Sprachmaterial, das dem Kind angeboten wird, enge Korrelationen zwischen semantischen Merkmalen und syntaktischen Kategorien bestehen. Physikalische Objekte werden hier vorzugsweise durch Nomen enkodiert, Handlungen und Zustände durch Verben, Definitheit durch Artikel, etc. Man stellt sich vor, daß solche engen Form-Funktionsbeziehungen dem Kind die Identifizierung der syntaktischen Kategorien in der betreffenden Einzelsprache ermöglichen. (Clahsen 1988a:35f.)

Auch wenn Kontrollprinzipien nicht Bestandteil von UG sind, können Testsätze, die diesen Prinzipien unterliegen, zur Erforschung des Zusammenhangs D -> [ UG, L ] -> G beitragen: Die Analyse empirischer Daten zum Erwerb von Kontrolle hat ergeben, daß die Lernstrategie L zumindest nicht ausschließlich als ein auf UG bezogener Prozeß der Parameterfixierung charakterisiert werden kann. Sie macht die Notwendigkeit einer weiteren Beschäftigung mit charakteristischen Eigenschaften der Lernstrategien L und mit dem Verhältnis von UG und L bei der Konstruktion von G deutlich. Auf beide Fragen werde ich in den folgenden Abschnitten von Kap. 1.2 weiter eingehen. Für die Überprüfung der Autonomiehypothese sind empirische Daten zum Erwerb von Kontrolle dagegen nicht geeignet. Die Überprüfung dieser Hypothese bei Schaner-Wolles/ Haider (1987) kann sich daher nur auf die Auswertung der Testsätze stützen, die (auch) den Bindungsprinzipien unterliegen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchimg von Schaner-Wolles/Haider werden, soweit sie die Überprüfung der Autonomiehypothese betreffen, durch diese Überlegungen aber nicht in Frage gestellt. Sie zeigen allerdings einen Weg zur

41 Widerlegung der Autonomiehypothese auf. Die Annahme, daß der Erwerb von G durch ein angeborenes spezifisches System von Prinzipien UG gesteuert wird, ist nur solange plausibel, wie UG keine leere Menge darstellt, also keine Prinzipien mehr enthält. Eine solche Annahme, die impliziert, daß z.B. auch die Bindungsprinzipien nicht Bestandteil von UG sind, ist beim gegenwärtigen Stand der sprachtheoretischen Diskussion aber nicht plausibel.

1.2.2 Erstspracherwerb: UG und das Entwicklungsproblem Im vorangehenden Kapitel habe ich mich mit Möglichkeiten der Verifizierung bzw. Falsifizierung der Autonomiehypothese befaßt. Ich habe dargelegt, warum beim gegenwärtigen Kenntnisstand die Annahme plausibel ist, daß der Erwerb des grammatischen Systems Gl einer Sprache LI sich im wesentlichen unabhängig von der allgemeinen kognitiven Entwicklung auf der Basis angeborener sprachspezifischer Prinzipien vollzieht. Diese Annahme wird in dem Schema D [ UG, L ] -> G beschrieben (Bierwisch 1987). Im Prinzipien- und Parametermodell der generativen Grammatik wird angenommen, daß die Universalgrammatik außer einem Kategorieninventar, dem X-bar-Schema und der Regel ,bewege α' eine Anzahl von Prinzipien enthält, wie zum Beispiel die im letzten Kapitel erwähnten Bindungsprinzipien. Einige dieser Prinzipien sind invariant, andere sind parametrisiert. Eine wesentliche Aufgabe des Spracherwerbs ist es, die parametrisierten Prinzipien auf den in der Zielsprache LI gültigen Wert festzulegen. Bei parametrisierten Prinzipien wird dabei in der Literatur häufig zwischen markierten und unmarkierten Werten unterschieden und es wird die Annahme vertreten, daß es für die Festlegung des unmaikierten Wertes keiner positiven Evidenz bedarf (Bierwisch 1987: 660f.).23 Wenn sich in den Daten keine hinreichende Evidenz für einen markierten Parameterwert findet, wird der Parameter automatisch auf den unmarkierten Wert festgelegt. In dem Schema D [ UG, L ] -> G beschränkt sich die Funktion der Lernstrategie L hiernach auf die Suche nach Evidenz für markierte Parameterwerte in den zur Verfügimg stehenden Daten. Damit vermittelt L den Übergang von einem sprachspezifischen kognitiven Anfangszustand UG zu einem sprachspezifischen kognitiven Endzustand Gl (Bierwisch 1987: 660). Für die Parameterwerte wird grundsätzlich verlangt, daß sie mit Hilfe außerlinguistischer Kategorien wie X geht Y voran oder X folgt auf Y bestimmbar sein müssen. Diese Forderung nach epistemologischer Priorität wird mit der Annahme begründet, daß die Feststellung von Parameterwerten mit Hilfe allgemeiner kognitiver Fertigkeiten erfolgen müsse (Schaner-Wolles/Haider 1987: 45).24 Die Vorstellung von Grammatikerwerb als einem Prozeß der Parameterfixierung ist unter Psycholinguisten, die im nativistischen Paradigma mit dem Prinzipien- und Parametermodell der generativen Grammatik arbeiten, weit verbreitet (Clahsen 1990: 14fif., Hoekstra/Schwartz 1994b: Iff., Meisel 1992b: 2f.). In neueren Arbeiten zur generativen Sprachtheorie wird sie aber durchaus auch kritisch diskutiert, weil die Annahme, daß sich eine kognitiv abgeschlossene (autonome) sprachspezifische Domäne UG in Wechselwirkung 23 24

Eine neuere Darstellung der Parametertheorie findet sich bei Bondre-Beil (1994). Aus dieser Annahme folgt auch die Einschränkung, daß der Erwerb grammatischen Wissens ,im wesentlichen' unabhängig ist von der allgemeinen kognitiven Entwicklung: Ein gewisses kognitives Niveau muß für den Beginn des Grammatikerwerbs vorausgesetzt werden.

42 mit nicht-sprachspezifischen kognitiven Domänen zu einer kognitiv abgeschlossenen sprachspezifischen Domäne G ausbildet, zu einem erklärungstheoretischen Dilemma fuhrt (Haider 1993: 8).25 Dies führt zu dem Vorschlag, die Vorstellung von Spracherwerb als einem aktiven kognitiven Vorgang der Parameterfixierung ebenso aufzugeben wie die Vorstellung, die spezifische Grammatik einer Einzelsprache sei aus der unspezifizierten kognitiven Struktur UG durch Füllung mit einzelsprachspezifischen Parameterwerten hervorgegangen (Haider 1993: 3f.). Es wird im Gegensatz dazu vorgeschlagen, die Kerngrammatik einer Sprache nicht als Instantiierung von UG, sondern als Produkt von UG und weiteren kognitiven Kapazitäten anzusehen. UG soll verstanden werden als kognitives Potential (Koprozessor) zur Berechnung der Struktur von sprachlichen Daten. Dieses besondere kognitive Potential entlastet das allgemeine kognitive System sowohl beim Spracherwerb als auch beim Sprachgebrauch: Der Koprozessor filtert somit aus dem Versuchs- und Irrtums-Modus der allgemeinen Musterverarbeitung die effektiv verarbeitbaren Strukturen heraus und ermöglicht deren Stabilisierung in einem System von Verarbeitungsroutinen, dessen stetigen Zustand wir die Kompetenz des muttersprachlichen Sprechers nennen. (Haider 1993: 14)

Der Koprozessor filtert aus den Daten die Strukturen heraus, die er verarbeiten kann. Das Berechnungspotential des Koprozessors begrenzt folglich die Menge potentieller grammatischer Strukturen. Die von UG zugelassenen Strukturen werden definiert als die Strukturen, die der Koprozessor verarbeiten kann. Eine Theorie der UG ist nach diesem Verständnis eine Theorie des Koprozessors (Haider 1993: 12). Haiders Vorschlag, auf die Vorstellung von Grammatikerwerb als einem aktiven Prozeß der Parameterfixierung zu verzichten, hat sich in der am nativistischen Paradigma orientierten Spracherwerbsforschung noch nicht durchgesetzt. Die folgenden Überlegungen haben auch das Ziel, zu zeigen, welche Vorteile Haiders Annahmen von UG als grammatischem Koprozessor gegenüber diesen Vorstellungen haben. Die Annahme von UG als grammatischem Koprozessor erfordert zunächst eine andere Deutung des Schemas D [ UG, L ] -> G: Sowohl UG als auch L sind als Berechnungspotentiale aufzufassen, UG als sprachspezifisches Berechnungspotential und L als allgemeine kognitive Lernkapazität. UG kann die Menge aller möglichen grammatischen Strukturen berechnen. Keine Grammatik einer Einzelsprache realisiert aber alle diese Möglichkeiten. Mit Hilfe von UG können alle grammatischen Äußerungen in einer Sprache LI strukturiert werden. Die Frage nach einer Ausgangsstruktur als Anfangszustand beim Erwerb einer Grammatik Gl der Sprache LI ist nach diesen Überlegungen aber nicht sinnvoll gestellt. Dies werde ich am Beispiel des Erwerbs der Wortstellungsregularitäten des Deutschen im monolingualen Erstspracherwerb zeigen. Eine gängige Annahme im Prinzipien- und Parametermodell über die Struktur des deutschen Satzes ist die folgende (Vater 2 1996: 123fi):

25

Ziel einer generativen Sprachtheorie sollte es daher sein, zu untersuchen, ob sich der Effekt der Prinzipien von UG aus allgemeinen, nicht sprachspezifischen Eigenschaften von Repräsentationssystemen wie etwa Ökonomie, Homogenität oder kategoriale Kohärenz herleiten läßt (Bierwisch 1992: 27).

43

(37)

CP e

Spec CP

IP

c° +F

Γ

Spec IP

Io +agr +....

VP

(38)

Spec VP

V

d- Vater

DP d- Zeitung

yo les-

In dieser Strukturanalyse wird die Verbalphrase nicht mehr dominiert von den Kategorien S (einfacher Satz) und S' (konjunktional eingeleiteter Satz), wie dies in der Standardtheorie angenommen wurde, vgl. (9) und (10). Die Verbalphrase wird hier dominiert von den Projektionen ftinktionaler Kategorien: Dies sind in (37) die Projektionen der funktionalen Kategorien I(NFL) und C(OMP). In INFL (=Inflection) sind die Kongruenzmerkmale AGR(eement) enthalten, außerdem enthält INFL Tempusmerkmale.26 In der Position COMP können satzeinleitende Konjunktionen (Complementizer) stehen. Wird diese Position nicht von einer satzeinleitenden Konjunktion eingenommen, erscheint in dieser Position das finite Verb. Diese Annahme (Uniformitätshypothese), die im Deutschen eine einheitliche Analyse von Haupt- und Nebensätzen erlaubt, ist allerdings nicht unumstritten (Stechow/Sternefeld 1988: 350fif.). Ich werde dennoch im folgenden zunächst von der Uniformitätshypothese als der in sprachtheoretischen und psycholinguistischen Darstellungen bevorzugten Hypothese ausgehen. Unter dieser Voraussetzung ist eine einheitliche Analyse der folgenden Sätze möglich, die unterschiedliche Wortstellungsmöglichkeiten des Deutschen repräsentieren: (39) Liest der Vater die Zeitung? (40) Hat der Vater die Zeitung gelesen? (41) Der Vater liest die Zeitung. (42) Die Zeitung liest der Vater. (43) Welche Zeitung liest der Vater? (44) Nicht in Ruhe die Zeitung lesen können! (45)Daß der Vater nicht in Ruhe die Zeitung lesen kann. (46) Ob der Vater in Ruhe die Zeitung lesen kann? (47) [ich frage mich] ob der Vater in Ruhe die Zeitung lesen kann? (48) [ich weiß] daß der Vater nicht in Ruhe die Zeitung lesen kann. 26

INFL kann außerdem auch Merkmale enthalten, die sich auf Modus und Aspekt beziehen. Hierzu und zur Möglichkeit der Aufspaltung von INFL in mehrere funktionale Köpfe siehe Meisel (1992b: 3ff.). Zum Verzicht auf die Aufspaltung von IP in AGRP, TP, etc. siehe Meisel (1994b: 118ff.).

44 In (44) verbleiben die Verben innerhalb der VP. Die Objekt-NP die Zeitung nimmt die Komplementposition innerhalb der VP ein. 27 In dieser Position erhält sie vom Verb ihren Kasus zugewiesen. Es wird hier angenommen, daß im Deutschen das Verb nach links regiert, d.h. der Kopf der VP ist rechtsperipher. Die adverbiale Bestimmung in Ruhe nimmt eine Adjunktposition ein. Die Spezifiziererposition von VP, die der Subjekt-NP vorbehalten ist, bleibt in (44) unbesetzt. In allen übrigen Beispielen wird das Verb nach dieser Analyse aus der VP herausbewegt. Es gelangt zunächst nach I o , wo es Kongruenz- und Tempusmerkmale erhält. Ist die Position C° von einer subordinierenden Konjunktion besetzt, bleibt das Verb in der I°-Position, vgl. (45) - (48). In den übrigen Fällen wird das finite Verb in die C°-Position bewegt, vgl. (39) - (43).28 Die Ableitung von Deklarativsätzen erfolgt durch die Bewegung einer Konstituente in die Spezifiziererposition von CP, vgl. (41) und (42). Auf die gleiche Weise werden auch w-Fragen abgeleitet, vgl. (43). Im Falle von Ja/Nein-Fragen bleibt die Spezifiziererposition von CP hingegen unbesetzt, vgl. (39) und (40). Den Gedanken, strukturelle Beziehungen zwischen den verschiedenen Satztypen des Deutschen herzustellen, findet man bereits in der traditionellen Einteilung des deutschen Satzes in topologische Felder (Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987: 215, Vater 2 1996: 133ff.): (49)

Vorfeld

linke Satzklammer Liest

Mittelfeld

Hat

der Vater die Zeitung gelesen?

Der Vater

liest

die Zeitung.

Die Z.

liest

der Vater.

Welche Z. liest

der Vater?

rechte Satzklammer

der Vater die Zeitung?

Nicht in Ruhe die Zeitung

lesen können!

(Ich frage mich)

ob

der Vater in Ruhe die Zeitung

lesen kann?

(Ich hoffe)

daß

der Vater in Ruhe die Zeitung

lesen kann.

Diese Einteilung in topologische Felder erlaubt bestimmte Generalisierungen über die Wortstellungsmöglichkeiten im Deutschen: Das finite Verb kann nur in der linken oder in der rechten Satzklammer stehen. In der rechten Satzklammer muß es stehen, wenn in der 27 28

Zum X-bar-Schema siehe Kap. 1.2.1 meiner Untersuchung. Dies wird durch den Finitheitsoperator [+F] in C° bewirkt.

45 linken Satzklammer eine subordinierende Konjunktion steht. Im Vorfeld, d.h. vor dem füllten Verb in der linken Satzklammer, darf in der Regel nur eine Konstituente stehen. Mit Hilfe dieses Feldermodells ist außerdem eine Klassifikation der im Deutschen möglichen Verbstellungsmuster in Verberststellung, Verbzweitstellung und Verbendstellung möglich. Bei Verberst- und Verbzweitstellung befindet sich das finite Verb in der linken Satzklammer. Bei Verbzweitstellung ist das Vorfeld besetzt, bei Verberststellung unbesetzt. In der rechten Satzklammer befindet sich das Verb bei Verbendstellung. 29 Die generative Linguistik stellt diese strukturellen Beziehungen nun mit Hilfe von Bewegungstransformationen bzw. durch die Verknüpfung verschiedener struktureller Positionen dar: Verbzweitstellung ist eine abgeleitete Stellung, sie entsteht durch Bewegung des finiten Verbs aus V o über I o nach C° bei Besetzung des Vorfeldes. Bleibt das Vorfeld in diesem Fall unbesetzt, entsteht Verberststellung. Ist die C°-Position mit einer subordinierenden Konjunktion besetzt, wird das Verb nur nach I o bewegt. Das Kind, das Deutsch in einem monolingualen Kontext als erste Sprache erwirbt, findet also in der Datenmenge D eine Vielzahl von Wortstellungsmustern vor: Insbesondere ist die Position von Subjekt-NP und Objekt-NP bezüglich des finiten Verbs nicht fixiert: Wie die Beispiele in (39) - (48) zeigen, kann die Subjekt-NP sowohl vor als auch nach dem finiten Verb stehen, ebenso kann die Objekt-NP dem finiten Verb folgen oder ihm vorangehen. Es stellt sich die Frage, wie Lerner die Aufgabe lösen, diese Datenmenge zu strukturieren. Die Autonomiehypothese bietet zunächst nur eine Erklärung für die Lösung des logischen Problems des Spracherwerbs an: Das Kind kann auf der Basis einer begrenzten Menge von Sprachdaten die Grammatik seiner Muttersprache erwerben, weil angeborene Prinzipien - die Universalgrammatik - es dazu in die Lage versetzen. Im .Prinzipien und Parameter'-Modell wird eine wesentliche Leistung des Grammatikerwerbs in der Fixierung offener Parameterwerte gesehen. Die Entwicklung grammatischen Wissens vom Anfangszustand sprachlichen Wissens zu Beginn der Konfrontation mit den sprachlichen Daten (initial state) bis zum Endzustand, der Entwicklung der grammatischen Kompetenz des erwachsenen Muttersprachlers, wird mit dem Modell D [ UG, L ] -> G allein noch nicht erklärt. Im Rahmen der .Prinzipien und Parameter'-Theorie werden zwei Möglichkeiten zur Lösung dieses Entwicklungsproblems diskutiert, die Reifungshypothese und die Kontinuitätshypothese. Die Reifungshypothese postuliert, daß die sprachliche Entwicklung sich aus biologischen Gesetzmäßigkeiten ergibt. Universelle Prinzipien stehen dem sprachlernenden Kind nicht von Anfang an zur Verfügung, sondern sie reifen nach einem bestimmten Entwicklungsplan heran. Die Kontinuitätshypothese geht dagegen davon aus, daß universalgrammatisches Wissen dem sprachlernenden Kind von Anfang an zur Verfügung steht. Dagegen verfügt das Kind zu Beginn des Spracherwerbs nicht über lexikalisches Wissen. In neueren Theorien des Lexikons, die im Rahmen der generativen Grammatik formuliert wurden, wird angenommen, daß zum lexikalischen Wissen nicht nur Wissen über Lautstruktur und Bedeutung eines Lexems, sondern auch morpho-syntaktische Informationen gehören. Es wird angenommen, daß die Satzstruktur weitgehend durch solche lexikalischen Informationen determiniert wird. 30 Die Hypothese des lexikalischen Lernens postu-

29

30

Auch im Falle von Ausklammerung, d.h. Besetzung des Nachfeldes mit einer Konstituente, wird in diesem Fall von Verbendstellung gesprochen: daß er abgeraten hat von dem Kauf. Zum Zusammenhang von Lexikon und Syntax siehe etwa Jackendoff (1994 und 1997).

46 liert, daß der Erwerb lexikalischer Elemente Auslöser für die Aktivierung universeller Prinzipien und für die Fixierung offener Parameter ist. Die grammatische Entwicklung ergibt sich demnach aus der Erweiterung des lexikalischen Wissens (Clahsen 1990a: 15ff.). Die Kontinuitätshypothese besagt nicht, daß grammatische Prinzipien bereits die EinWort-Phase des sprachlernenden Kindes bestimmen. Sie sagt nur voraus, daß alle Stadien der grammatischen Entwicklung denselben universellen Prinzipien unterliegen wie die Grammatik des kompetenten erwachsenen Sprechers. Unter dieser Voraussetzung kann die grammatische Entwicklung des Kindes mit denselben Kategorien, Prinzipien und Regeln wie die Erwachsenengrammatik angemessen beschrieben werden (Meisel 1992b: Iff.). Aus heuristischen Gründen wird die Kontinuitätshypothese daher der Reifungshypothese vorgezogen.31 Die Kontinuitätshypothese besagt aber nicht notwendig, daß Kinder in allen Phasen ihrer grammatischen Entwicklung über das gleiche strukturelle Wissen verfügen wie Erwachsene. Es ist also zu überlegen, ob es etwa sinnvoll ist, kindlichen Äußerungen aus frühen Entwicklungsphasen, vgl. (51) und (52), eine Struktur zu unterlegen, wie sie im Deutschen Sätzen der Erwachsenengrammatik unterlegt wird, vgl. (37), hier der besseren Übersicht halber noch einmal zitiert als (50). (50)

CP Spec CP

C

IP

C° Spec IP

Γ Io

VP V

Spec VP

(51) (52)

Isa

DP Teddy

Vo holen

Teddy

holen

Nur Vertreter der starken Kontinuitätshypothese gehen davon aus, daß tatsächlich alle funktionalen Projektionen zu Beginn des Grammatikerwerbs bereits verfugbar sind. Vertreter der schwachen Kontinuitätshypothese nehmen dagegen an, daß allenfalls einige, möglicherweise aber auch gar keine funktionalen Kategorien zu Beginn des Spracherwerbs zur Verfügung stehen, daß die ersten Strukturen also möglicherweise reine VP-Strukturen ohne funktionale Kategorien sind, vgl. (50'):

31

Zur Diskussion um Kontinuitätshypothese und Reifungshypothese siehe auch Verrips (1990), Clahsen (1990a) und Felix (1992) sowie die dort jeweils angegebene Literatur. Meisel (1994b: 94) nimmt an, daß neurolinguistische Reifung mit individueller Variation UG etwa ab dem Alter von 2;0 verfugbar macht. Die ersten Mehrwortäußerungen sind nach Meisel daher einer prägrammatischen Phase zuzurechnen.

47 (50')

VP

Y

Spec VP

Vo

NP

Ein solches minimalistisches Prinzip vertreten etwa Clahsen/Penke (1992), Vainikka/ Young-Scholten (1994) und Meisel (1994b). We wish to propose that adopting the Weak Continuity Approach in L2 acquisition can explain the developmental stages proposed in this paper. Under this approach, we posit what we will term 'minimal trees' to account for the development of phase structure; i.e., at any given stage of development, as few positions and projections are posited as are needed to analyze the data, and no more. If we assume that the language learner holds such a minimalist principle, then the projections and positions are only posited based on the learners analysis of the input data. In its strongest form this approach leads to the following formulation of X'-theory [...]1. a head, once identified, projected a maximal projection; 2. a complement is posited on positive evidence; and 3. a specifier position is posited based on positive evidence. The most crucial task of the language learner seems to be to identify a potential head; once a head is identified, the learner will posit argument positions (provided by X'-theory) if positive evidence is found. (Vainikka/YoungScholten 1994: 267f.) Die angenommenen Strukturen beschränken sich auf die Positionen und Projektionen, die jeweils notwendig sind, um die erhobenen Sprachdaten zu beschreiben, vgl. (50") und (50"'). (50")

VP V (51)

NP Teddy

yo holen

48 (50'")

VP V

Spec VP

(52)

Isa

NP Teddy

Vo haben

Es wird angenommen, daß zu Beginn des Grammatikerwerbs nur lexikalische Kategorien (bzw. deren kategoriale Merkmale) und X'-Prinzipien zur Verfügung stehen.32 Der Aufbau von Phrasen vollzieht sich auf der Basis positiver Evidenz: Komplement-, Adjunkt- und Spezifiziererposition sind also für den Lerner potentiell verfügbar. Sie werden tatsächlich aber erst dann eingerichtet, wenn der Lemer sie in den ihm zur Verfügung stehenden Daten entdeckt hat. Wie auf der Basis dieser Annahmen der Aufbau grammatischen Wissens im monolingualen Erstspracherwerb beschrieben werden kann, soll am Beispiel des Erwerbs der Verbstellung im Deutschen dargelegt werden. Clahsen (1986b) und Clahsen/Muysken (1986) unterscheiden auf der Basis eigener und fremder empirischer Studien fünf Entwicklungsphasen beim Erstspracherwerb mit Deutsch als einziger Sprache. Diese Entwicklungsphasen sind jeweils durch bestimmte grammatische Phänomene, wie zum Beispiel die Stellung verbaler Elemente und das Auftreten bestimmter Flexionsmorpheme, charakterisiert: • Phase I: Einwortäußerungen • Phase II: Verbale Elemente erscheinen in Zweitposition im Satz sowie in Endstellung. Dabei wird Endstellung präferiert. • Phase III: Bei den verbalen Elementen in der zweiten Position handelt es sich häufig um Modalverben, flektierte Formen von sein sowie Verben mit dem Flexionssuffix -t. Endungslose Verbstämme und infinite Verben erscheinen meist in Endstellung.33 • Phase IV: In der zweiten Position erscheinen überwiegend nur noch zielsprachlich korrekt flektierte Verben. Die Flexionsendung für die 2. Person Singular -st erscheint erstmalig und wird überwiegend korrekt gebraucht. Fehler im Gebrauch der übrigen Flexionsendungen nehmen stark ab.34 32

33

34

Zur Möglichkeit der Identifizierung syntaktischer Kategorien mit Hilfe semantischer Strategien siehe Kap. 1.2.1. Zur Möglichkeit ihrer Identifizierung aufgrund formaler Kriterien siehe Meisel (1994b: 95). Die im folgenden zitierten Satzbeispiele sind Clahsen/Muysken (1986) und Clahsen/Penke (1992) entnommen. Satzbeispiele für Phase Π und ΙΠ: (i) ich bau ein mast (ii) ich schaufei haben (iii) rausholt hier (iv) purzel papierkorb rausräum Satzbeispiele für Phase IV: (i) die schere hat Julia (ii) hab ein wurst macht

49 •

Phase V: In dieser Phase werden zum ersten Mal Nebensätze verwendet. Soweit zielsprachlich erforderlich wird in Nebensätzen stets Verbendstellung benutzt.35

Die in Phase III beobachtbare Tendenz, endungslose Verbstämme und infinite Verben ans Satzende zu stellen, interpretiert Clahsen (1988a: 61) als Festlegung des Richtungsparameters für V auf [ ]. Davon unterschieden werden muß eine weitere Position für Verben, die Zweitposition, die mit dem Merkmal [+F] versehen wird. Damit soll der Beobachtung Rechnung getragen werden, daß in dieser Phase gehäuft Modalverben, flektierte Formen von sein und Verben mit dem Suffix -t in der zweiten Position erscheinen (Clahsen 1988a: 68f.).36 Eine derartige Unterscheidung der Verben, die in Zweitposition und die in Endposition erscheinen, ist in Phase II noch nicht möglich. Unter Berücksichtigung des von Vainikka/ Young-Scholten (1994) formulierten minimalistischen Prinzips ist für Phase II (53) daher die angemessene Strukturdarstellung. Über die mit einer solchen Strukturdarstellung verbundenen Annahmen ist im folgenden noch zu diskutieren. (53)

VP Spec VP

V Vo

NP

Vo

Diese Struktur genügt zwar dem Strukturierungsprinzip für Phrasen, daß Köpfe von Phrasen peripher zu ihren Komplementen auftreten müssen. Dieses Prinzip wird im folgenden als Prinzip PI bezeichnet. Sie genügt aber nicht dem Prinzip P2, daß solche Serialisierungen für die jeweiligen Köpfe in einer Einzelsprache konstant erfolgen müssen (Haider 1993:13fif.). Solche Serialisierungen müssen allerdings nicht von Anfang an konstant erfolgen. Intraindividuelle und interindividuelle Variation im Rahmen der von UG bereitgestellten Optionen ist erwartbar und wird in empirischen Studien auch tatsächlich beobachtet. Meisel/Müller (1992: 109) und Meisel (1994b: 96) beschreiben derartige Phänomene als „oscillation between options offered by UG". Dieses Oszillieren zwischen verschiedenen von UG angebotenen Optionen zeigt sich nach Meisel/Müller (1992) auch noch in Phase III: Finite Verben in einfachen Sätzen sind nicht auf die Zweitposition beschränkt. Sie kommen, wenn auch seltener (Meisel/Müller 1992: 123),37 auch noch in Endposition vor, vgl. (54) vs. (55). (54) kaputt is der (12;04,09) (55a) (Ivar) buch buch liest (12;04,07) 35

36 37

Satzbeispiele für Phase V: (i) ich will mal sehen ob das schwarz ist (ü) guck was ich in mein tasche hab Siehe die Strukturdarstellung (57). Die von Meisel/Müller (1992) untersuchten Kinder wachsen zweisprachig auf. Zur Möglichkeit der wechselseitigen Beeinflussung sprachlicher Systeme im Erstspracherwerb siehe Kap. 1.3.

50 (55b) de da der alle is' (12;08,15) (55c) [dun] dann der kran (runter) geht (12; 10,24) (55d) die bäum kletter(t) (P 2;01,28) (55e) da (=der) so macht (P 2;02,12) (55f) ich ich wie' holt (P 2;04,21) (55g) diese da drauf is (C 2,10,00) Außerdem erwähnen Meisel/Müller (1992: 125f.) Strukturen, in denen das finite Verb doppelt vorhanden ist, vgl. (56): (56a) und macht boum macht (12;04,07) (56b) macht [s]eiße der macht (12;08,17) (56c) jetzt sagt der das sagt (12;10,24) Die von Clahsen/Penke (1992: 210) vorgeschlagene Strukturdarstellung (57), die für die Phase III nur eine mit [+F] charakterisierte Position für Verben vorsieht, die bereits im Lexikon als [+F] markiert wurden, kann dieses Oszillieren zwischen verschiedenen von UG angebotenen Optionen nicht erfassen. Zum einen fehlt hier eine Position für finite Verben in Endstellung. Und da zum anderen die mit [+F] markierten Verben nach Clahsen/Penke direkt in die entsprechend markierte Position inseriert werden, wird hier auch nicht deutlich, daß Kinder offenbar bereits in Phase III in Ansätzen die Verbzweiteigenschaften des Deutschen erfaßt haben (Meisel/Müller 1992: 115fl). Diese Zusammenhänge lassen sich hingegen mit einer Strukturdarstellung wie (58) erfassen, die zwei Positionen enthält, in die finite Verben bewegt werden können: eine linksperiphere sowie eine rechtsperiphere. (57) FP SpecFP

F +F

VP Y

Spec VP DP

Vo

51 (58) IP Γ

Spec IP Io +F +agr

V

Spec VP

(58a)

DP

Vo

lumpfen]

ausziehn38

Robert schläft

(58b)

fliegt

Schmetterling Mone

(58c)

der

(58d)

kaputt

(58e)

(Ivar)

(Ivar)

(58f)

dann

derkran

is

macht

(58g) (58h)

Io +F +agr

VP

jetzt

sagt

der

buch buch

liest runtergeht

boum

macht

das

sagt

Wie die Daten zeigen, kann auch in Phase III das Verb noch in V o bleiben, vgl. (58c). Es kann aber außerdem auch schon aus V o in die linksperiphere I°-Position bewegt werden, vgl. (58a), (58b) und (58d), oder - seltener - in die rechtsperiphere I°-Position, vgl. (58e) und (58f). In jeder dieser beiden Positionen kann das Verb Kongruenzmerkmale erhalten.39 38

39

Die Beispielsätze (58a) - (58c) stammen aus dem von Clahsen/Penke (1992) analysierten SimoneCorpus von Max Miller. Clahsen/Penke (1992: 95ff.) nehmen an, daß das Verbsuffix -t in Phase ΠΙ zunächst Transitivität kennzeichnet. Erst in Phase IV, wenn das Kind mit dem Suffix -st über das volle Flexionsparadigma verfügt, wird auch -t als Flexionssuffix analysiert. Erst dann ist es nach Clahsen/Penke gerechtfertigt, von der Existenz einer INFL-Position (beziehungsweise einer AGR-Position) auszugehen. Meisel (1994b: 120) geht dagegen davon aus, daß der Erwerb von Agreement nicht die vollständige Beherrschung aller Flexionsformen des Verbs voraussetzt. Er zeigt außerdem, daß die Beobachtung von Clahsen/Penke (1992) nicht zutreffend ist, daß -st grundsätzlich als letzte Flexionsform erworben wird (Meisel 1994b: 9). Die von Clahsen/Penke (1992: 10) vorgeschlagene Strukturdarstellung für Phase ΠΙ kann also wie in (i) dargestellt reanalysiert werden:

52 Ausnahmsweise können auch beide I°-Positionen besetzt sein, vgl. (58g) und (58h). Diese empirischen Befunde sprechen gegen die Annahme, daß bei Zweitstellung das finite Verb die linksperiphere I°-Position nur über die rechtsperiphere I°-Position erreichen kann.40 Fritzenschaft/Gawlitzek-Maiwald/Tracy/Winkler (1990: 93) und Gawlitzek-Maiwald/ Tracy/Fritzenschaft (1992: 158ÉF.) berichten aus ihren Untersuchungen zum Erwerb komplexer syntaktischer Strukturen außerdem von einem monolingual deutschsprachigen Kind, das offenbar bis in die Phase des Nebensatzerwerbs (Phase V) sowohl über eine linksköpfige als auch über eine rechtsköpfige I°-Position verfügt. Anders als Clahsen/Muysken (1986) dies nach Durchsicht empirischer Studien zum monolingualen Erstspracherwerb annehmen, gelingt also auch im monolingualen Erstspracherwerb der Erwerb der zielsprachlich korrekten Verbstellung im finiten Nebensatz nicht immer sofort fehlerlos.41 (59a) wo is mein würfel (B 2;8,28) (59b) ich auch ein bauch möchte (60a) die meeijungftau is auch wieder drin (B 3;0,19) (60b) ich dich überfahr (60c) daß du hast net die meeijungfrau (60d) er paßt auf daß keiner schummelt Zu fragen bleibt, wie dieses Oszillieren zwischen verschiedenen von UG angebotenen Optionen angemessen zu beschreiben und zu erklären ist. Fritzenschaft/GawlitzekMaiwald/TracyAVinkler (1990:80) diskutieren die Möglichkeit, daß Köpfe von Phrasen zumindest zeitweilig schwenkbar sind. Mit einer solchen Annahme lassen sich aber Strukturen mit identischen finiten Verben in Zweitposition und Endposition wie in (56) nicht angemessen darstellen. Meisel/Müller (1992: 126) halten in Übergangsphasen die Verdopplung bestimmter Strukturen wie in (53) und (58) grundsätzlich für möglich. Die Verdopplung der Kopfposition verstößt aber gegen eines der beiden universellen Serialisierungsprinzipien im Verhältnis von Köpfen und Komplementen: Die Serialisierung der Köpfe von Phrasen in Bezug auf ihre Komplemente muß einzelsprachlich konstant erfolgen (Haider 1993:13ff). Da UG mehr als eine funktionale Kopfposition zur Verfügung stellt, ziehen Meisel/Müller (1992: 126) zur Beschreibung dieser Daten eine Strukturdarstellung mit zwei IP

(i) SpecIP

Γ 1° +F +agr

40

41

Meisel/Müller (1992: 125) schlagen aus heuristischen Gründen vor, von der Existenz zweier unterschiedlicher funktionaler Köpfe auszugehen. Siehe hierzu auch die Strukturdarstellung (61). Meisel (1994b: 122fF.) schlägt als Alternative dazu vor, finite Verben in der default-Form (3.Sg.) unter V o zu generieren. Er diskutiert die Frage, ob das erste Auftreten von Kongruenzmarkierungen bereits Finitheitseffekte wie Verbbewegung auslöst oder ob zunächst von einer Phase VPintemer Kongruenz zwischen Verb und Subjekt-NP (in SpecV) ausgegangen werden kann. Die Ergebnisse der Untersuchungen von Clahsen (1988a) und Fritzenschaft u.a. 1990) zeigen, daß die solchen abweichenden Äußerungen zugrundeliegenden Strukturierungsversuche im monolingualen Erstspracherwerb nach einiger Zeit wieder aufgegeben werden.

53

unterschiedlichen funktionalen Köpfen einer Darstellung vor, in der derselbe funktionale Kopf zweimal auftaucht, vgl. (61). (61)

TP T' Spec TP

AGRP Spec AGRP

AGR' AGR 0

VP V

Spec VP DP

V 042

Eine solche Annahme ist aus heuristischen Gründen sinnvoller, als die Annahme zweier identischer I°-Positionen oder zeitweilig mobiler I°-Positionen. Außerdem benötigt man eine solche rechtsköpfige AGR°- Position in jedem Fall, wenn man, ausgehend von einer identischen Satzstruktur für Verberst-, Veibzweit- und Verbletztstellung, die weitere sprachliche Entwicklung in Phase V darstellen will. Diese Gründe kann allerdings nur der die kindlichen Äußerungen analysierende Linguist erwägen, nicht aber der die Inputdaten strukturierende Lerner. Auch die Verteilung der finiten Verben auf Zweitposition und Letztposition in den vorliegenden Daten, vgl. (55) und (56), erlauben nicht den Schluß, daß der Lerner diese beiden Positionen in Phase III unterscheidet.43 Diese Daten legen vielmehr den Schluß nahe, daß beim Grammatikerwerb zeitweilig Verstöße gegen universalgrammatische Prinzipien möglich sind: Aufgrund des Zwangs zur Festlegung des Kopfparameters [...] sollte ein Kind auch dann versuchen, eine entsprechende Entscheidung zu treffen, wenn der Input, wie im Falle des finiten Verbs im Deutschen, zu signalisieren scheint, daß keine Entscheidung möglich ist Die Daten [...] lassen vermuten, daß dieser Entscheidungsprozeß Zeit braucht und daß Kinder wenigstens zeitweise mehrere Alternativen prüfen können. Für die Spracherwerbsforschung bedeutet dies, daß selbst da, wo das X-bar-Schema einen restriktiven Bauplan für wohlgeformte Phrasen vorgibt, immer noch ein gewisser Freiraum besteht, innerhalb dessen Kinder, wenn auch nicht völlig .abwegige', so doch unterschiedliche und auch .umwegige' Entscheidungen treffen können. (Fritzenschaft/Gawlitzek-Maiwald/Tracy/Winkier 1990: 67)

Bei Kindern wie dem Kind Benny, das in einer Übergangsphase abweichend von der Zielsprache gelegentlich auch Veibzweitstellung in Nebensätzen verwendet, vgl. (62a) und (62b), muß auch für die Phase V noch eine Übergangsstruktur mit verdoppelter INFLPosition angenommen werden, vgl. (62). (62a) daß du hast (net) die meeijungfrau

42

43

Meisel/Milller (1992: 122) beziehen sich hier auf die von Pollock (1989) und Chomsky (1989) entwickelte split INFL hypothesis. Der funktionale Kopf INFL, der Tempus, Modus- und Kongruenzmerkmale enthält, wird hier aufgespalten in die zwei funktionalen Köpfe AGR (Kongruenzmerkmale) und Τ (Tempus- und Modusmerkmale). Siehe hierzu auch Meisel (1992b: 3ff). Meisel (1994b: 120) postuliert, daß weder kindliche Grammatiken noch Erwachsenengrammatiken eine AGRP enthalten. Er geht wieder von der Existenz einer einzigen funktionalen Kategorie zwischen VP und CP aus, die wiederum als IP bezeichnet wird.

54

(62b) that you haven't the mermaid CP44

(62) Spec CP

e Io

IP

I'

Spec IP Io +F +agr

Io +F +agr

VP

V

Spec VP DP

Vo

Dagegen ist eine Analyse von Äußerungen wie (62a) mit Hilfe der von Meisel/Müller vorgeschlagenen CP-Struktur nicht möglich, da auch T° jetzt auf den zielsprachlich korrekten Wert rechtsperipher festgelegt ist. Verbzweitstellung in Sprachen wie dem Deutschen wird, wie bereits dargelegt, durch die Festlegung des Finitheitsparameters auf den Wert [+F] in C° erklärt. Wird die Position C° nicht durch einen Komplementierer (daß, ob) oder eine subordinierende Konjunktion besetzt, muß das finite Verb in dieser Position erscheinen. Der Verbzweiteffekt entsteht dann durch die Besetzung des Vorfeldes, der SpecCPPosition. Im Englischen ist dieser Wert dagegen auf [+F] in I o festgelegt, wobei I o anders als im Deutschen linksperipher zu seinem Komplement steht.45 Analog zu (62b) läßt sich (62a) nun dadurch erklären, daß hier weder der Kopiparameter für I o noch der Finitheitsparameter endgültig auf ihren zielsprachlich korrekten Wert festgelegt sind. Die Festlegung offener Parameterwerte, wie z.B. des Kopf- bzw. Richtungsparameters für V und INFL, erfordert also offenbar im monolingualen Erstspracherwerb eine gewisse Spanne Zeit. (Fritzenschaft/Gawlitzek-Maiwald/Tracy/Winkler 1990: 67) erklären dies mit bestimmten Eigenschaften der Sprachdaten. Für Haider folgt dies aus Eigenschaften des grammatischen Koprozessors: Aufgrund von Prinzip P2 wird der Lemer einer Sprache und damit sein Koprozessor stets nur mit einer der möglichen Teilmengen konfrontiert, wobei jede dieser Teilmengen die Aktivierung von Prinzip PI bewirkt. Damit wird der Lerner in die Lage versetzt, die fraglichen Ausdrücke in geeigneter Weise zu strukturieren. Diese Strukturierung ist das Ergebnis eines puren Selektionsvorgangs. Unter den Strukturierungsversuchen, die der Lemer in einem Versuch-und-IrrtumVerfahren vornimmt, unterstützt der Koprozessor jene Strukturierungen, die gemäß PI und Ρ2 berechenbar sind. Diese sind damit unter den anderen Versuchen dadurch ausgezeichnet, daß ihre Verarbeitung, d.h. Repräsentation, Speicherung, Abrufbarkeit am wenigsten kognitiven Aufwand erfordert. Sie werden beibehalten und Inventar der Kemgrammatik. (Haider 1993: 15) 44

45

Die Existenz einer CP wird ebenfalls erst dann angenommen, wenn in den von den Kindern produzierten Äußerungen Evidenz dafür vorliegt, wenn sie also Komplementierer bzw. subordinierende Konjunktionen verwenden. Diese Überlegungen folgen dem minimalistischen Prinzip. Für weitere Argumente siehe Meisel/Müller (1992: 119ff.). Fritzenschaft u.a. (1990) diskutieren die Möglichkeit, daß im Deutschen I o in Verberst- und Verbzweitsätzen ebenfalls linksperipher stehen kann. Nur für Verbendsätze muß I o dann auf den Wert rechtsperipher festgelegt werden.

55 Die Erweiterung lexikalischen Wissens, die Identifizierung potentieller Köpfe von Phrasen im sprachlichen Input ermöglicht den weiteren Ausbau der Satzstruktur. Sie löst damit aber nicht zwangsläufig auch sofort die Fixierung von Parametern auf den zielsprachlich korrekten Wert aus: Die Identifizierung von Verben im Input ermöglicht den Aufbau von Verbalphrasen. In Phase II, dem Beginn der Mehrwortäußerungen, finden sich Verben aber sowohl rechts als auch links von ihren Komplementen. Erst in Phase III wird der Richtungsparameter fur V auf [yp... V] festgelegt.46 In Phase ΠΙ beginnen Kinder mit dem produktiven Gebrauch von Flexionsmorphemen für Person und Numerus beim Verb. Kongruenzmerkmale aber sind Bestandteil von INFL. Dies spricht dafür, daß Kinder in dieser Phase Merkmale des funktionalen Kopfes INFL, nämlich [+agr], identifizieren und eine IP aufbauen.47 Die Festlegung des Richtungsparameters für INFL erfolgt in dieser Phase aber noch nicht. Wenn man annimmt, daß Verberst-, Verbzweit- und Verbendsätze im Deutschen strukturell identisch sind (Uniformitätshypothese), dann kann die Festlegung des Richtungsparameters für INFL auf [jp...I] erst in Phase V mit dem Erwerb von Konjunktionen erfolgen. Der Erwerb von Konjunktionen ist nach dem Minimalitätsprinzip eine Voraussetzung für den Aufbau einer CP. Solange C° als Position für finite Verben nicht zur Verfügung steht, muß I o diese Funktion übernehmen. In Phase III und IV muß also auch die Option [ I...] zugelassen sein.48 Diese Option muß in Phase V wieder aufgegeben werden. Nimmt man an, daß Verberst- und Verbzweitsätze mit Verbendsätzen nicht strukturell identisch sind, dann kann diese Option beibehalten werden und muß in Phase V durch die Option [^...1] für Verbendsätze ergänzt werden. Dies hat auch Konsequenzen für die Festlegung des Finitheitsparameters: Werden Verberst-, Verbzweit- und Veibendsätze im Deutschen nicht als strukturell identisch angesehen, kann eine Festlegung des Finitheitsparameters auf [+F] in I o in Phase ΠΙ erfolgen. Eine Revision auf [+F] in C° in Phase V ist dann nicht erforderlich. Die hier diskutierten Daten lassen die Möglichkeit einer Entscheidung zugunsten von Uniformitätshypothese oder Differenzhypothese offen. Unabhängig davon ob Verberst-, Verbzweit- und Veibendsätze im Deutschen strukturidentisch oder strukturverschieden sind, trifft die Feststellung von Haider zu, daß aufgrund des Prinzips der konstanten Serialisierung von Köpfen der Lerner jeweils im sprachlichen Input mit Teilmengen von linksperipheren oder rechtsperipheren Köpfen konfrontiert wird. Die Differenzhypothese sagt nur voraus, daß der Lemer im Deutschen die Teilmenge Verberst- und Verbzweitsätze und die Teilmenge Verbendsätze unterscheiden muß. Jede Teilmenge erlaubt aber die Aktivierung des Prinzips PI, daß Köpfe peripher zu ihren Komplementen stehen müssen. Haiders Charakterisierung des Grammatikerwerbs als eines vom grammatischen Koprozessor unterstützten Versuch-und-Irrtum-Verfahrens kann die Phänomene im kindlichen 46

47 48

Meisel (1994b: 109) weist auf die Möglichkeit hin, daß Parametrisierung auf funktionale Köpfe beschränkt ist. In der VP-Phase könnte demnach der Richtungsparameter fur V noch nicht gesetzt werden. Das Merkmal [+t ] für Tempusmerkmale steht zunächst noch nicht zur Verfügung (Meisel 1994b). Meisel/Müller (1992) tragen diesem Umstand in Phase ΙΠ/IV durch die Annahme einer linksköpfigen TP Rechnung. Hier ist in Phase V eine entsprechende Revision erforderlich. Meisel (1994b) geht in der BP-Phase von einer linksköpfigen IP aus. Hier ist in der CP-Phase eine Revision erforderlich.

56 Spracherwerb erklären, die Meisel/Müller (1992) als Oszillieren zwischen Optionen von UG und die Fritzenschaft/Gawlitzek-Maiwald/Tracy/Winkler (1990) als Verstöße gegen Optionen von UG bezeichnen. Aus Haiders Charakterisierung des Grammaükerwerbs als eines vom grammatischen Koprozessor unterstützten Versuch-und-Irrtum-Verfahrens lassen sich außerdem einige Annahmen über charakteristische Merkmale der Entwicklung grammatischen Wissens herleiten: 1. Der Erwerb grammatischen Wissens, verstanden als Fähigkeit zur Berechnung aller durch UG zugelassenen Strukturen einer Einzelsprache, ist ein zeitaufwendiger, aktiver kognitiver Vorgang.49 2. Die Aktivierung der Prinzipien von UG ist nur bei Konfrontation mit geeigneten Daten möglich.50 3. Bei den Versuchen, sprachliche Strukturen zu berechnen, sind im Spracherwerb Fehler erwartbar.51 4. UG ermöglicht folglich das Erreichen eines stabilen Endzustandes der grammatischen Kompetenz, garantiert es aber nicht.

1.2.3 Ζweitspracherwerb: unmittelbarer Zugang zu UG? In den vorangehenden Abschnitten von Kapitel 1.2 habe ich mich bisher nur mit den Gesetzmäßigkeiten befaßt, denen der monolinguale Erstspracherwerb unterliegt. Mit der Frage, ob der Zweitspracherwerb den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgt, UG also auch für den Erwerb einer zweiten Sprache und weiterer Sprachen zur Verfügung steht, werde ich mich in den folgenden Abschnitten beschäftigen. Einige Psycholinguisten vertreten die Hypothese, daß sich kindlicher Erstspracherwerb und der Zweitspracherwerb älterer Jugendlicher und Erwachsener fundamental voneinander unterscheiden. Diese Hypothese der fundamentalen Differenz zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb wird etwa von Clahsen/Muysken (1986 und 1989) vertreten. UG steht nach Auffassung dieser Autoren also nur für eine bestimmte Phase der Entwicklung zur Verfügung: „Adults no longer have open parameters" (Clahsen/Muysken 1989: 23). Clahsen/Muysken nennen verschiedene, in der einschlägigen Literatur diskutierte Gründe für diese von ihnen angenommene Entwicklung: • UG wird behindert/überlagert durch kognitive Strategien, die älteren Lernern für den Zweitspracherwerb zur Verfügung stehen (Felix 1987, Clahsen/Muysken 1989: 23). • UG wird blockiert durch sozialpsychologische Faktoren, wie zum Beispiel eine kritische Einstellung älterer Lerner zu weiterem sprachlichen und kulturellen Lernen (Krashen 1981, Clahsen/Muysken 1986: 95). 49

50

51

Haider (1993: 11) geht davon aus, daß diese bei der Berechnung grammatischer Strukturen ablaufenden Prozesse nicht bewußt Steuer- und kontrollierbar sind, es handelt sich hierbei nach seiner Auffassung vielmehr um kognitiv opake Vorgänge. Aus 1 folgt, daß die Daten nicht nur bestimmten qualitativen, sondern auch bestimmten quantitativen Anforderungen genügen müssen. Dabei kann es, wie das im kindlichen Spracherwerb beobachtete Oszillieren zwischen Optionen von UG zeigt, zu (scheinbaren) Verstößen gegen UG-Prinzipien kommen.

57 •

UG verschwindet im Prozeß der biologischen Reifung (Clahsen/Muysken 1986: 95).

Von der Frage, wie lange UG im Spracherwerb zur Verfugung steht, muß die Frage unterschieden werden, wie oft UG im Spracherwerb zur Verfügung steht. Diese Frage stellt sich nicht, wenn man Haider (1993) folgend Gl, G2 usw. nicht als Instantiierung von UG, sondern als Produkt von UG und weiteren kognitiven Kapazitäten ansieht: Die Vorstellung, UG sei eine unspezifizierte kognitive Struktur, die gefüllt mit einzelsprachlichen Werten die Kemgrammatik ergibt, mündet in unerwünschte Konsequenzen. Beginnen wir mit der trivialen: Wäre die mentale Repräsentation der Kerngrammatik einer Sprache bloß das einzelsprachlich konkretisierte, angeborene Grammatikschema, das jeder Mensch als kognitive Komponente mitbringt, dürfte man sich wohl fragen, in wieviel Exemplaren wir es mitbringen. Chomskys Redeweise von UG als einem mentalen Organ begünstigt diesen Eindruck. Manche menschlichen Organe sind einfach oder zweifach angelegt, in seltenen, abnormalen Fällen auch dreifach, jedenfalls aber nicht beliebig vielfach. Natürliche Mehrsprachigkeit hingegen ist keine Anomalie. Jedenfalls hat es noch keinem Psycholinguisten gefallen, zu ergründen, was die organisch zulässige Höchstzahl an erwerbbaren Grammatiksystemen sei. Wenn für jede Grammatik ein mentales Organ zuständig wäre, könnte einer nicht mehr Sprachen erwerben, als er UG-Organe im Kopf hat. Diese Fragestellung scheint jedoch beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht verfolgenswert. (Haider 1993: 3f.) Die Frage, wie lange UG im Spracherwerb zur Verfügung steht, ist dagegen mit der Vorstellung von UG als grammatischem Koprozessor grundsätzlich verträglich: Die Annahme etwa, daß die Aktivitäten des grammatischen Koprozessors von anderen kognitiven Prozessen teilweise oder vollständig überlagert werden können, ist nicht von vornherein auszuschließen. Ich werde mich daher zunächst mit der Frage beschäftigen, welche empirische Evidenz dafür spricht, daß ältere Lerner beim Erwerb einer zweiten Sprache keinen direkten Zugang mehr zu UG-Prinzipien haben.52 Die Kontroverse um diese Frage geht aus von den theoretischen Folgerungen, die Clahsen/Muysken (1986) aus einer vergleichenden Analyse der Entwicklungsphasen beim Erwerb des Deutschen als Erstsprache und beim Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gezogen haben. Clahsen/Muysken (1986) unterscheiden auf der Basis eigener und fremder empirischer Studien die folgenden Phasen im Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen, die Deutsch ungesteuert erworben haben:53 • Phase I („SVO")54 :Verbale Elemente erscheinen überwiegend in Zweitposition. Deutlich präferiert werden (S)VX-Muster (Clahsen/Muysken 1989: 249).

52

53

54

Clahsen/Muysken (1989: 23) gestehen aber zu, daß Erwachsene Zugang zu den nichtparametrisierten Prinzipien von UG, wie Strukturabhängigkeit und Lokalität, haben und daß sie über ihre Erstsprache außerdem auch indirekt Zugang zu bereits parametrisierten UG-Prinzipien haben. Zu nennen sind hier in erster Linie das ,Heidelberger Projekt Pidgindeutsch', in dem der Zweitspracherwerb italienischer und spanischer Arbeitsmigranten untersucht wurde (HPD 1975) sowie das ,ZISA-Projekt', das den Zweitspracherwerb italienischer, spanischer und portugiesischer Lerner berücksichtigt (Clahsen,Meisel/Pienemann 1983). In begrenztem Umfang wurden außerdem auch empirische Daten zum Zweitspracherwerb türkischer Lemer berücksichtigt (Clahsen/ Muysken 1986: 108ÍT.). Das Alter der im ZISA-Projekt untersuchten Personen reichte von 15 bis 65 Jahren, das Alter der von Clahsen/Muysken untersuchten türkischen Jugendlichen reichte von 14 bis 16 Jahren. Clahsen/Muysken (1986: 106) formulieren bereits für diese Phase eine Phrasenstrukturregel, die eine Position für Auxiliarverben und Modalverben enthält.

58

• Phase II („ADV-Voranstellung"): Adverbiale können topikalisiert werden. Die SVAbfolge bleibt dabei zunächst erhalten. • Phase III („Nachstellung von infiniten Verbbestandteilen"): Nicht-finite Verbbestandteile (Partizipien, Infinitive und trennbare Verbpräfixe) treten nicht mehr in Zweitstellung, sondern in Endstellung auf. • Phase IV („Inversion"): Vor dem finiten Verb steht nur noch eine Konstituente. Bei Topikalisierung von Adverbien oder von Objekten folgt die Subjekt-NP jetzt im Hauptsatz auf das finite Verb. • Phase V („ADV in VP"): Adverbiale können zwischen Verben und deren Objekte treten. • Phase VI („V-Endstellung"): In Nebensätzen steht das finite Verb stets in zielsprachlich korrekter Stellung, d.h. beim Auftreten subordinierender Konjunktionen wird Verbendstellung verwendet. Diese Phasen werden in späteren Darstellungen zu vier Entwicklungsphasen zusammengefaßt (siehe etwa Clahsen 1988a, 1988b): • Phase I: Zunächst werden (S)VX-Muster deutlich präferiert. • Phase II: Elemente können in periphere Positionen gebracht werden: Konstituenten können topikalisiert werden, infinite Verben und Verbpräfixe müssen an das Satzende gestellt werden. • Phase III: Zweitstellung des fmiten Verbs wird obligatorisch: Das Subjekt kann nach dieser Analyse jetzt zwischen das finite Verb und seine Objekte treten. Auch Adverbiale können jetzt zwischen Verb und Objekte gestellt werden. • Phase IV: Die Endstellung des finiten Verbs in subordinierten Nebensätzen wird obligatorisch. Clahsen/Muysken (1986: 114) gehen davon aus, daß Strukturierungsversuche aus früheren Entwicklungsphasen im Zweitspracherwerb grundsätzlich nicht aufgegeben werden. Der Lerner unternimmt keinerlei Restrukturierungsversuche, bereits gesetzte Parameter werden nicht revidiert. Deutsch wird also in allen Phasen der Entwicklung von diesen Lernern als SVO-Sprache analysiert. Das macht in Phase III die Annahme einer Regel Subjekt-Verb,Inversion' und in Phase IV eine Regel ,Verbendstellung' für subordinierte Nebensätze erforderlich. Diese Regeln sind nach Auffassung von Clahsen/Muysken allerdings nicht als grammatische Regeln charakterisierbar, sondern müssen als allgemeine kognitive Strategien verstanden werden:55 Our conclusion then must be that acquiring German through these stages is a round about way from the point of view of grammar. By fixing on an initial assumption of SVO order, and then elaborating a series of complicated rules to patch up this hypothesis when confronted with conflicting data, the L2 learners are not only creating a rule system which is far more complicated than the native system, but also one which is not definable in linguistic theory. (Clahsen/Muysken 1986: 116)

Clahsen/Muysken (1986: 89) fassen die ihrer Ansicht nach bestehenden Unterschiede zwischen Erstspracherwerb und dem Zweitspracherwerb älterer Lerner in folgenden Punkten zusammen:

55

In früheren Arbeiten ist der Zweitspracherwerb älterer Lemer zunächst auch von Clahsen als Prozeß beschrieben worden, der grammatischen Prinzipien unterliegt (Clahsen/Meisel 1978: 3ff.)

59

• Der ESE beginnt bereits mit einer Präferenz für SOV-Muster im Deutschen - der ZSE dagegen beginnt unabhängig von der Erstsprache der Lemer mit einer klaren Präferenz für SVO-Muster im Deutschen. • Beim ESE besteht ein Zusammenhang zwischen dem Erwerb der Kongruenzmorphologie und Finitheitseffekten wie Verbzweitstellung - beim ZSE dagegen ist ein solcher Zusammenhang nicht erkennbar. • Beim ESE erfolgt der Erwerb der zielsprachlich korrekten Stellung finiter Verben in Nebensätzen problemlos - beim ZSE dagegen bereitet diese Erwerbsphase erhebliche Probleme. • Beim ESE erfolgt der Erwerb der genannten Regularitäten innerhalb einer kurzen Zeitspanne - beim ZSE dagegen ist der Erwerb der genannten Regularitäten ein zeitaufwendiger Prozeß. Aus diesen Beobachtungen ziehen die beiden Autoren den Schluß, daß der Zweitspracherwerb älterer Lerner nicht mehr universalgrammatischen Prinzipien unterliegt: Diese Lerner haben weder die Möglichkeit, offene Parameter zu fixieren, noch haben sie die Möglichkeit, bereits fixierte Parameterwerte umzubesetzen. Diese von Clahsen/Muysken vorgetragenen Annahmen werden in der neueren Forschung kritisch diskutiert. Es wird zum einen darauf hingewiesen, daß die von den beiden Autoren vorgetragenen empirischen Beobachtungen über den Zweitspracherweib türkischer Lerner keine generalisierenden Schlüsse erlauben. Anders als Clahsen/Muysken dies vermuten, kann nicht angenommen werden, daß türkische Lerner generell im Deutschen zunächst von einer (S)VX-Analyse ausgehen. Vainikka/Young-Scholten (1994) zeigen vielmehr, daß die von ihnen beobachteten türkischen Lerner zunächst (S)XV-Muster präferieren. Diese Beobachtung spricht grundsätzlich gegen die Annahme, daß sich ältere Lemer im ZSE zunächst an kanonischen Wortstellungsmustern orientieren. Aber auch Psycholinguisten, die die Datenlage nicht überprüft haben, halten den Schluß von Clahsen/Muysken, daß es eine kritische Phase im menschlichen Spracherwerb gebe und daß Spracherwerb nach dieser Phase nicht mehr in den Geltungsbereich von UG-Prinzipien falle, für voreiüg: Such a claim depends, in part, on assumptions about the nature and content of UG, and about possible rules of grammar, matters which are by no means settled and which are the subject of continuing investigation within linguistic theory, (du Plessis/Solin/Travis/White (1987:57f.)

Ich werde in den folgenden Abschnitten zunächst zeigen, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Erstspracherwerb und dem Zweitspracherwerb älterer Lemer erheblich größer sind als zunächst angenommen. Anschließend werde ich mich mit den möglichen theoretischen Konsequenzen aus diesen empirischen Beobachtungen befassen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb im Deutschen besteht darin, daß Kinder in einer frühen Mehrwortphase (Phase II) zunächst überwiegend (S)XV-Strukturen verwenden, während ältere Lemer zunächst überwiegend (S)VX-Strukturen verwenden. Clahsen/Muysken (1986: llOfif.) diskutieren die Frage, ob die Verwendung von (S)VXStrukturen bei Lemem mit romanischer Muttersprache mit dem Transfer von Parameterwerten erklärt werden kann. Denn sowohl im Italienischen als auch im Spanischen und Portugiesischen ist die VP linksköpfig: [ w V...]. Unterschiede zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb könnten hier also mit dem von Zweitsprachlernern bereits erworbenen grammatischen Wissen in der Erstsprache erklärt werden.Gegen diese Annahme spricht nach Clahsen/Muysken (1986: llOff.) die Tatsache, daß nach ihren Beobachtungen

60 auch türkische Lerner in Phase I des Zweitspracherwerbs von einer (S)VX-Struktur ausgehen. Im Türkischen aber ist die VP rechtsköpfig: [yp ...V]. Zwar räumen Clahsen/Muysken (1986: 104) ein, daß viele Äußerungen türkischer Lerner in frühen Erwerbsphasen auch als (S)XV-Muster gedeutet werden könnten. Allerdings halten sie die entsprechenden Daten nicht für zweifelfrei interpretierbar. Sätze wie (63) etwa lassen sich auch als SV-Muster mit vorangestelltem Objekt deuten: (63) meine bruder er helfen Vainikka/Young-Scholten (1994: 274) finden bei den von ihnen untersuchten türkischen Lernern aber eindeutige Evidenz für Verbendstellung. Als klare Evidenz für Verbendstellung sehen sie zum Beispiel Äußerungen an, in denen dem Verb ein Objekt unmittelbar vorangeht, vgl. (64) und (65): (64) er mit schnee spielen (65) unten ftau ganz nix deutsch sprechen Bei allen von Vainikka/Young-Scholten (1992: 300) untersuchten türkischen Lernern, die Deutsch als Zweitsprache erwarben, überwog deutlich die Verwendung rechtsköpfiger VPs. Bei koreanischen Lernern fanden Vainikka/Young-Scholten (1994: 300) diese Beobachtung bestätigt. Koreanisch hat ebenfalls eine rechtsköpfige VP. Bei koreanischen Lernern lag ebenso wie bei den türkischen Lernern der Anteil linksköpfiger VPs in den analysierten Daten unter 20%. Wenn aber Lerner mit rechtsköpfiger VP in der Muttersprache im Deutschen ebenfalls rechtsköpfige VPs verwenden und Lerner mit linksköpfiger VP in der Muttersprache zunächst linksköpfige VPs im Deutschen verwenden, so spricht dies grundsätzlich für die Möglichkeit des Transfers von Parameterwerten aus der Erstsprache in die Zweitsprache. (66)

VP Spec VP

V DP

Vo

Es besteht zwar eine deutliche Präferenz für rechtsköpfige VPs, Vainikka/Young-Scholten (1994: 282) beobachten in den Daten aber auch linksköpfige VPs. Ihr Anteil liegt unter 20%. Dies entspricht den Verhältnissen im Erstspracherwerb. Auch im Zweitspracherwerb erfolgt die Serialisierung von Köpfen und Komplementen also nicht von Anfang an konstant. Wenn die beiden Autorinnen linksköpfige VPs als frühe Evidenz für Verbbewegung interpretieren, so überzeugt dies nicht. Die Beobachtung von VO-Mustern allein kann auch im Zweitspracherwerb nicht als hinreichende Evidenz für den Erwerb einer VP dominierenden funktionalen Kategorie gewertet werden. Vainikka/Young-Scholten (1994) gehen davon aus, daß grundsätzlich auch Zweitsprachlerner ein VP-Stadium - d.h. ein Stadium, in

61 dem sie noch nicht über funktionale Kategorien verfügen - durchlaufen können: Zumindest bei einem der drei Lemer, die dieser ersten Entwicklungsphase zugeordnet werden, finden sich weder Modalverben noch Auxiliarverben. Die verwendeten Hauptverben bleiben zunächst noch unflektiert. Bei den beiden anderen Lernern finden sich erste Beispiele für Modalverben, Auxiliarverben und finite Hauptverben mit dem Suffix -t. Diese Lerner befinden sich offenbar bereits im Übergang zur nächsten Phase, dem Erwerb einer die VP dominierenden fünkionalen Kategorie. Ähnlich wie Clahsen/Penke (1992) unterscheiden Vainikka/Young-Scholten (1994) auch im Zweitspracherwerb zwischen einem FP-Stadium und einem AGRP-Stadium. Das FPStadium stellt für sie ein Zwischenstadium dar: Das Kongruenzparadigma ist noch nicht vollständig erworben, Verbanhebung erfolgt fakultativ und auch die Subjekt-NP kann noch ausgelassen werden. Meisel (1994b) dagegen unterscheidet nicht zwischen FP-Stadium und IP-Stadium und nimmt, wie in Kap. 1.2.2 dargelegt, bereits für dieses Entwicklungsstadium im Erstspracherwerb eine IP an, vgl. (58), der besseren Übersichtlichkeit wegen hier als (67) wiederholt. (67) IP Spec IP

Γ Io +agr +....

Io +agr +....

VP

Spec VP

Y

DP

Vo

Clahsen/Penke und Vainikka/Young-Scholten werten erst den vollständigen Erwerb des Kongruenzparadigmas als Beweis für den Erwerb der funktionalen Kategorie AGR.56 Für Meisel zeigt dagegen bereits der produktive, korrekte Gebrauch flektierter Verbformen, daß Kinder die abstrakte grammatische Relation erfaßt haben und kodieren können: My assumption here is that if the verb agrees with the subject correctly in form and if the respective verb form is used productively, one can argue that the children are able to encode an abstract grammatical relation by means of agreement markers. (Meisel 1994b: 99)

Meisel (1994b) geht, wie in Kap. 1.2.2 dargelegt, davon aus, daß eine Agreement-Relation als Relation zwischen Spezifizierer und Kopf auch innerhalb von VP bestehen kann. Das Vorkommen des Flexionssuffixes -t allein stellt daher für ihn noch keine hinreichende Evidenz für den Erwerb einer funktionalen, VP-dominierenden Kategorie dar. Von Finitheitseffekten wie Verbanhebung kann man seiner Auffassung nach erst dann ausgehen, 56

Kriterien für den Erwerb von Agreement sind für Vainikka/Young-Scholten (1994: 270) der korrekte Gebrauch des Flexionssuffixes beim angehobenen Verb in wenigstens 60% der Fälle. Außerdem müssen sich in den Daten wenigstens je zwei korrekte Beispiele für vier der fünf Kongruenzsuffixe im Deutschen finden lassen.

62 wenn außer wenigstens noch ein weiteres Flexionssuffix produktiv gebraucht wird. Anders als Vainikka/Young-Scholten (1994: 279) berücksichtigt Meisel (1994b: 98) hierbei auch den Gebrauch von Modalverben und Auxiliarverben. Unterscheidet man beim Zweitspracherwerb ebenso wie beim Erstspracherwerb nach diesen Kriterien nur zwischen VP-Stadium, vgl. (66), und IP-Stadium, vgl. (67), dann stellt sich auch die Frage nach den Auslösern für den Übergang vom VP-Stadium zum IPStadium neu. Die Identifizierung von Flexionssuffixen im Input bereitet älteren Lernern offenbar erheblich größere Mühe als Kindern. Dies hängt nach Auffassung von Vainikka/ Young-Scholten (1994:297) aber nicht mit den morpho-syntaktischen Eigenschaften von Flexionssuffixen, sondern mit deren phonologischen Eigenschaften zusammen: Affixe haben ein geringeres metrisches Gewicht als frei vorkommende Morpheme. Vainikka/ Young-Scholten halten daher vor allem die flektierten Formen der Kopula sein {bin, bist, ist usw.) für die lexikalischen Elemente, die den Ubergang vom VP-Stadium zum IP-Stadium auslösen können. Der Zweitspracherwerb folgt im Deutschen also im wesentlichen denselben Entwicklungsmustern wie der Erstspracherwerb. Nach einer Entwicklungsphase ohne funktionale Projektionen wird zunächst eine funktionale Projektion IP aufgebaut, ehe in einem abschließenden Entwicklungsschritt eine weitere funktionale Projektion CP ergänzt wird:57 The pattern between the first and second language development of phrase structure provides evidence against the position that adults have no access to the parameters of UG, or that they only have indirect access through the parameter setting of their first language. (Vainikka/YoungScholten 1994:295)

Wie im Erstspracherwerb beobachten Vainikka/Young-Scholten (1994) auch beim Zweitspracherwerb einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Zunahme von VerbAnhebung, dem zunehmend korrekten Gebrauch von Kongruenzsuffixen und dem Rückgang der Zahl ausgelassener Subjekte. Anders als Kinder heben ältere Lerner allerdings häufig Verben mit dem Default-Suffix -η an.58 Dies wird, wie bereits dargelegt, darauf zurückgeführt, daß ältere Lerner offenbar erhebliche Probleme damit haben, Kongruenzsuffixe im Input zu identifizieren. Die Annahme von Vainikka/Young-Scholten (1994: 295), daß Kinder anders als ältere Lerner bereits im IP-Stadium von einer rechtsköpfigen IP ausgehen, trifft, wie in Kap. 1.2.2 dargelegt, hingegen nicht zu. Die Unterschiede zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb sind also erheblich geringer als angenommen. Die von Clahsen/Muysken (1986 und 1989) vertretene Hypothese, daß sich Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb in wesentlichen Aspekten unterscheiden, ist in dieser Form nicht haltbar. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Hypothese der fundamentalen Differenz die Prinzipien, denen der Zweitspracherwerb unterliegt, angemessen beschreibt. Es muß viel57

58

Bei den fortgeschrittensten Lernem, die von Vainikka/Young-Scholten (1994: 312, Fn. 40) untersucht wurden, gibt es bereits erste Anzeichen für den Beginn des CP-Stadiums. Zwei Lemer benutzen wei'/-Sätze, ein anderer Lemer benutzt wewn-Sätze. In diesen Nebensätzen wird stets Verbzweitstellung verwendet. Andererseits finden sich auch finite Verben in Endposition. In welchem Umfang kongruenzmarkierte Verben bei türkischen Lemem in einer Position rechts von ihren Komplementen verbleiben, geht aus der Darstellung von Vainikka/Young-Scholten (1994) allerdings nicht hervor. Zu vergleichbaren Beobachtungen im monolingualen Erstspracherwerb und zu den theoretischen Folgerungen aus diesen Beobachtungen siehe Kap. 1.2.2.

63 mehr davon ausgegangen werden, daß auch der Zweitspracherwerb UG-Prinzipien unterliegt. Das bedeutet, daß auch die von Clahsen/Muysken (1986 und 1989) vorgelegte Interpretation der empirischen Daten aus dem Zweitspracherwerb von Lernern mit romanischer Muttersprache unzutreffend ist. Es ist davon auszugehen, daß diese Lerner zunächst den Richtungsparameter für V aus ihren Muttersprachen auf das Deutsche übertragen. Auch im IP-Stadium regiert V zunächst nach links, vgl. (68a) und (68b):59 (68) IP XP

IP Γ

Spec IP Io +agr +....

+agr +.... V

Spec VP

(68a)

(68b)

mit mein bruder

j060

VP

der

wollt

mich in packstube

ich

habe

sieben monat

Vo haben

gewohnt61

Anders als bei Lernern mit türkischer Muttersprache ist also bei Lernern mit romanischer Muttersprache im IP-Stadium eine Reanalyse der VP-Struktur erforderlich (du Plessis/ Solin/Travis/White 1987:67f., Schwartz/Tomaselli 1991: 261). In Phase Π erfolgt die Topikalisierung von Phrasen noch durch EP-Adjunktion. Es wird von Lernern mit romanischer Muttersprache offenbar zunächst zwischen einer A'-Position für topikalisierte Konstituenten und einer A-Position für die Subjekt-NP unterschieden.62 Diese Unterscheidung wird in Phase ΠΙ aufgegeben. Die Position Specl wird jetzt als APosition und zugleich als A'-Position gedeutet. Wird eine andere Konstituente als die Sub-

59

60 61 62

Für ein VP-Stadium gibt es in den von Clahsen/Muysken diskutierten Daten keine eindeutigen Hinweise. Sätze wie ( i ) und (ii), die charakteristisch für Phase I sind, lassen sich sowohl als VPs wie auch als IPs analysieren, wenn man davon ausgeht, daß die Anhebung von Verben mit dem Default-Suffix -η charakteristisch für den Zweitspracherwerb älterer Lemer ist. Um ein VPStadium nachzuweisen, muß man Lemer finden, in deren Daten sich zunächst weder der produktive Gebrauch von Kongruenzsuffixen noch der Gebrauch von Modalverben und Auxiliarverben nachweisen läßt. (i) ich studieren in Porto (ii) ein herr verkaufen blumen (Clahsen 1988a: 249) Zur Möglichkeit einer doppelköpfigen I o siehe auch Kap. 1.2.2. Diese Daten stammen aus dem ZISA-Projekt (Clahsen 1988a: 250). Zur Unterscheidung von A-Position und A'-Position siehe etwa Haegeman (1991:76).

64 jekt-NP topikalisiert, muß die Subjekt-NP demzufolge in SpecV bleiben.63 Dieser Zusammenhang wird von Clahsen/Muysken (1986) als ,Inversion' bezeichnet. Ebenso wie beim Erstspracherwerb und beim Zweitspracherwerb von Lernern mit türkischer Muttersprache wird auch bei Lernern mit romanischer Muttersprache in Phase IV eine Reanalyse der Struktur von IP notwendig: Um die zielsprachlich korrekte Verbstellung im Nebensatz zu gewährleisten, muß IP als kopffinal reanalysiert werden (Schwartz/Tomaselli 1991:263ff.), vgl. (69): (69)

CP Spec CP

C IP

C° +F Spec IP

Γ Io +F +agr

VP

Spec VP

ν DP

Vo

Anders als im Erstspracherwerb verläuft diese Reanalyse allerdings nicht immer ohne Probleme. Bei den im ZISA-Projekt untersuchten Lernern mit romanischer Muttersprache wurde auch im CP-Stadium zunächst noch der Gebrauch von Nebensätzen mit Verbzweitstellung in Fällen beobachtet, wo zielsprachlich Verbendstellung erforderlich gewesen wäre.64 Gegen die Annahme, daß Parameterwerte beim Erwerb eines grammatischen Systems umbesetzt werden können, werden aber noch weitere Einwände vorgebracht. Die Annahme, daß Parameterwerte beim Erwerb eines grammatischen Systems revidierbar sind, führt nämlich zu einem Problem, das in der Literatur als Pendulum-Problem diskutiert wird: Given the fact that the data the child is exposed to are sometimes contradictory, s/he could switch parameter values an infinite number of times and as a consequence never settle on the correct value. This clearly raises a fundamental theoretical problem [...] What is needed then is a constraint which requires that parameters cannot be reset during language development. (Müller 1994: 236)

Das Pendulum-Problem läßt sich aber auch lösen, wenn man die Vorstellung von Spracherwerb als einem aktiven kognitiven Vorgang der Parameterfixierung aufgibt, wie Haider (1993) dies in seiner Theorie der Universalgrammtik als einer Theorie des grammatischen Koprozessors vorschlägt: Die Funktion des grammatischen Koprozessors (UG) besteht darin, „aus dem Versuchsund Irrtums-Modus der allgemeinen Musterverarbeitung" (L) die Strukturen herauszufil63 64

Siehe hierzu auch Meisel/Müller (1992: 127). Die Daten von Vainikka/Young-Scholten (1992) lassen für den Zweitspracherwerb türkischer Lemer derartige Schlüsse nicht zu, da das CP-Stadium nicht systematisch untersucht wurde.

65 tern, die er verarbeiten kann. Dies ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozeß von einer gewissen Dauer: Der Koprozessor filtert somit aus dem Versuchs- und Irrtums-Modus der allgemeinen Musterverarbeitung die effektiv verarbeitbaren Strukturen heraus und ermöglicht deren Stabilisierung in einem System von Verarbeitungsroutinen, dessen stetigen Zustand wir die Kompetenz des muttersprachlichen Sprechers nennen. (Haider 1993: 14)

Grundsätzlich ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der grammatische Koprozessor im sprachlichen Input (D) auf Daten trifft, die sich im Rahmen der von UG vorgegebenen Optionen auf unterschiedliche Weise strukturieren lassen. Das ist für das Deutsche am Beispiel der Verbstellung gezeigt worden: Es besteht hier sowohl die Option, die IP als linksköpfig zu strukturieren, als auch die Option, die IP als rechtsköpfig zu strukturieren. Theoretisch können Lerner hier beide Optionen, allerdings jeweils begrenzt auf eine Teilmenge der Daten beibehalten. Sie können aber auch die Option, daß IP im Deutschen unter bestimmten Bedingungen linksköpfig ist, wieder aufgeben. Beide Möglichkeiten haben, wie gezeigt wurde, Konsequenzen für die Strukturierung von CP. Zumindest im Erstspracherwerb wird aber immer ein stetiger Zustand erreicht. Lerner pendeln bei der Strukturierung von Datenmengen nicht ständig zwischen verschiedenen Optionen von UG. Sie produzieren also zum Beispiel nicht über einen längeren Zeitraum Hauptsätze, die entweder eine linksköpfige oder eine rechtsköpfige IP haben können. Beim Herausfiltern verarbeitbarer Strukturen folgt der Koprozessor offenbar auch allgemeinen, nicht-sprachspezifischen Prinzipien, wie dem Ökonomieprinzip.65 Diese Annahme gilt grundsätzlich auch für den Zweitspracherwerb.

1.3 Frühe Mehrsprachigkeit - ein grundsätzliches Problem?

Ein Ziel des vorangehenden Kapitels 1.2 meiner Untersuchung war, zu zeigen, daß die sprachspezifischen kognitiven Kapazitäten des Menschen grundsätzlich den erfolgreichen Erwerb von mehr als einem grammatischen System erlauben. Das andere Ziel war es, zu zeigen, daß zumindest beim gegenwärtigen Kenntnisstand keine hinreichenden Gründe vorliegen, anzunehmen, daß diese sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten im Prozeß der biologischen Reifung verlorengehen oder daß sie durch externe Faktoren, wie zum Beispiel sozialpsychologische Faktoren, dauerhaft blockiert werden. Diese Erkenntnisse der kognitiven Linguistik stehen im Widerspruch zu Ansichten über Mehrsprachigkeit, insbesondere über die frühe Entwicklung von Mehrsprachigkeit, die nicht nur von Laien, sondern zum Teil auch von Fachleuten noch immer vertreten werden: 65

Nach Haider folgt der Koprozessor dem Prinzip, den kognitiven Aufwand bei der Berechnung von Strukturen so gering wie möglich zu halten: „Unter den Strukturierungsversuchen, die der Lerner in einem Versuch-und-Irrtum-Verfahren vornimmt, unterstützt der Koprozessor jene Strukturierungen, die gemäß PI und P2 berechenbar sind. Diese sind damit unter den anderen Versuchen dadurch ausgezeichnet, daß ihre Verarbeitung, d.h. Repräsentation, Speicherung, Abrufbarkeit, am wenigsten kognitiven Aufwand erfordert. Sie werden beibehalten und Inventar der Kerngrammatik" (Haider 1993: 15). Restrukturierungsprozesse, wie die Reanalyse von IP im CP-Stadium als kopffinal, sind ebenfalls mit Hilfe dieses Prinzips erklärbar.

66 • Der Normalfall ist, daß ein Kind einsprachig aufwächst. • Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit erfordert daher sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen und Erwachsenen eine besondere sprachliche Begabung. • Fehlt diese sprachliche Begabung, so stellt der kognitive Aufwand bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit für den Lerner eine Überforderung dar. • Diese Überforderung führt bei Vorschulkindern zu Defiziten sowohl in der sprachlichen als auch in der allgemeinen kognitiven und psychosozialen Entwicklung. • Bei Schulkindern ist außerdem der allgemeine Schulerfolg gefährdet. Erwähnt findet man solche Einschätzungen der möglichen Folgen der (frühen) Entwicklung von Mehrsprachigkeit sowohl in Arbeiten, die sich an interessierte Laien wenden (Kielhöfer/Jonekeit91995: 9f.), als auch in Arbeiten, die sich in erster Linie an ein Fachpublikum wenden (Baker 1993a: 107ff. u. 132ff„ Koehn/Müller 1990: 49ff, Wode 1995: 13fif.). Geteilt werden diese Einschätzungen in der hier zitierten Literatur nicht, vielmehr werden sie als Vorurteile gewertet. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Vorurteilen wird aber für notwendig gehalten, da sie offenbar nach wie vor die Entscheidungsfindung von Bildungspolitikern, Pädagogen und Eltern bei der Wahl einsprachiger oder mehrsprachiger Erziehungs- und Unterrichtsmodelle nachhaltig beeinflussen. Außerdem wird auch bei Baker (1993a), Koehn/Müller (1990) und Wode (1995) eingeräumt, daß die Entwicklung von Mehrsprachigkeit im Kindesalter zwar grundsätzlich keine Überforderung darstellt, daß der Erfolg einer solchen mehrsprachigen Erziehung aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Unumstritten ist, daß zu diesen Voraussetzungen ein hinreichendes und ausgewogenes Sprachangebot gehört (Koehn/Müller 1990: 33). Es besteht auch Einigkeit darüber, daß sich funktionale Sprachtrennung, wie die Befolgung des auf Ronjat zurückgehenden Prinzips une personne - une langue, positiv auf die sprachliche Entwicklung von mehrsprachig aufwachsenden Kindern auswirkt (Koehn/Müller 1990: 5Iff., Meisel 1989: 17Í). Außerdem wird die Frage diskutiert, ob der Zeitpunkt, zu dem die Begegnung mit der zweiten Sprache einsetzt, für die erfolgreiche Entwicklung von Mehrsprachigkeit eine Rolle spielt. Einige Autoren halten die Konfrontation mit mehr als einer Sprache im Erstspracherwerb grundsätzlich für bedenklich. Andere Autoren vertreten darüber hinaus die Ansicht, daß auch ein früher Beginn des Zweitspracherwerbs zumindest für Kinder aus sprachlichen Minoritäten ein grundsätzliches Problem darstellt. Ich werde mich in diesem Kapitel vorwiegend mit in der einschlägigen Forschung diskutierten Problemen des bilingualen Erstspracherwerbs befassen. Von den in der Forschung in diesem Zusammenhang diskutierten Problemen des frühen Zweitspracherwerbs sollen hier zunächst nur die besprochen werden, die den Grammatikerwerb als autonomen kognitiven Prozeß betreffen. Von bilingualem Erstspracherwerb werde ich dann sprechen, wenn der natürliche Erwerb zweier Sprachen vor dem Alter von 3;0 Jahren einsetzt. Diese zeitliche Begrenzung ist nicht unumstritten. Sie wird zum Beispiel in dem Projekt „Deutsch und Französisch doppelter Erstspracherwerb" (DUFDE) zur Abgrenzung von bilingualem Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb verwendet (Koehn/Müller 1990: 49). Auch Klein (1984: 27) setzt die Grenze zwischen bilingualem Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb beim Alter von 3 - 4 Jahren. Wode (21993: 201fí) dagegen vertritt die Ansicht, daß bereits dann nicht mehr von bilingualem Erstspracherwerb gesprochen werden kann, wenn ein Kind zu Beginn des zweiten Lebensjahres erstmals Kontakt zur zweiten Sprache hat.

67 Von frühem Zweitspracherwerb werde ich sprechen, wenn der Kontakt zur Zweitsprache spätestens bis zum Beginn der Schulzeit eingesetzt hat, wenn die Zweitsprache also als Spielsprache oder als Lernsprache verwendet wird, ohne daß bereits ein systematischer Fremdsprachenunterricht erfolgt. Früher Zweitspracherwerb umfaßt demnach die Altersspanne von 3;0 bis etwa 8;0 Jahren. Die sprachlichen Voraussetzungen für bilingualen Erstspracherwerb werden in der Regel durch eine mehrsprachige Familiensituation geschaffen. Sie sind bereits in älteren Fallstudien sorgfaltig dokumentiert (Ronjat 1913, Leopold 1939 - 1949) und werden in Forschungsprojekten seit geraumer Zeit systematisch untersucht (Meisel (ed.) 1990, 1992a, 1994a). Aber auch die sprachlichen Voraussetzungen für frühen Zweitspracherwerb können durch eine mehrsprachige Familiensituation geschaffen werden, wenn sich die Kommunikation mit dem Kind zunächst auf eine der in der Familie gesprochenen Sprachen beschränkt und der Gebrauch einer weiteren Sprache erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung einsetzt. Die sprachlichen Voraussetzungen für frühen Zweitspracherwerb werden aber häufiger durch eine mehrsprachige Umgebungssituation geschaffen, wenn das Kind außerhalb der Familie eine andere Sprache als Spiel- oder Lernsprache verwendet. Dies ist oft bei Kindern von Zuwanderern der Fall: Die Erstsprache der Kinder ist die als Familiensprache verwendete Muttersprache der Eltern, Zweitsprache ist die als Spiel- und Lernsprache verwendete Sprache der Gesellschaft des Einwanderungslandes. Auch diese Formen des Spracherwerbs, insbesondere die mit einer domänenspezifischen Sprachwahl verknüpften Probleme der Entwicklung von Mehrsprachigkeit, sind in der Forschung ausfuhrlich dokumentiert.66 Die Verwendung einer Fremdsprache als Spiel- und Lernsprache wird gelegentlich auch systematisch genutzt, um Kindern, die in einer einsprachigen Umgebung aufwachsen, bereits von einem frühen Alter an den Erwerb einer zweiten Sprache zu ermöglichen. Dies trifft etwa auf die in Kanada seit Ende der sechziger Jahre erprobten early immersionProgramme zu (Wode 1995: 61).67 Als erfolgversprechend gelten diese Programme in der Regel bei Schülern, die einer zahlenmäßig starken Sprachgruppe angehören und der Mittelschicht entstammen. Als ungeeignet werden diese Programme dagegen häufig für Schüler aus bestimmten sprachlichen Minderheiten angesehen (Wode 1995: 87f.). Insbesondere Kinder von Einwanderern und Arbeitsmigranten sollen in derartigen Programmen häufig keine ausgewogene Mehrsprachigkeit entwickeln.68 Wode (1995: 87f.) vertritt die Ansicht, daß die Ursache für diese Entwicklung nicht in grundsätzlichen Defiziten in den kognitiven Fähigkeiten dieser Kinder zu suchen ist. Die These, daß der Mißerfolg von Kindern aus sprachlichen Minderheiten bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit nicht in grundsätzlichen Defiziten in den allgemeinen oder sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten erklärt werden kann, wird im Hinblick auf den Grammatikerwerb auch durch die Ergebnisse der Diskussion in Kap. 1.2 bestätigt. Als wesentli66

67 68

Siehe hierzu etwa die Überblicksdarstellungen von Appel/Muysken (1987), Baker (1993a) und Hamers/Blanc (1989). Den frühen Zweitspracherwerb türkischer Migrantenkinder in Deutschland untersucht zum Beispiel Röhr-Sendlmeier (1985). Resultate des frühen Zweitspracherwerbs griechischer Migrantenkinder in Deutschland werden bei Kuhs (1989) untersucht. Siehe hierzu Kap. 3.2.1. Bei Kindern aus eingesessenen (autochthonen) sprachlichen Minderheiten erweisen sich diese Programme dagegen häufig als durchaus erfolgreich. Siehe hierzu Kap. 3.2.3.

68 che Ursache für den geringen Erfolg von Schülern aus sprachlichen Minderheiten bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit sieht Wode (1995: 88) „Besonderheiten des soziokulturellen Hintergrundes" und Besonderheiten der „sprachlichen sowie sonstiger Vorerfahrungen für den Einstieg in die Schulzeit" an: Insbesondere bei Kindern von Arbeitsmigranten können Besonderheiten des soziokulturellen Hintergrundes dazu führen, daß sich die sprachlichen Vorerfahrungen in der Erstsprache auf den Kontakt mit nur wenigen sprachlichen Registern beschränken. Als Ursache für diesen Umstand sieht Wode (1995: 144f.) in Übereinstimmung mit der einschlägigen sprachsoziologischen Forschung den domänenspezifischen Gebrauch der Minoritätensprache durch die erwachsenen Kontaktpersonen der Kinder an. Für diese Kinder wird daher häufig eine kontinuierliche Förderung der Muttersprache sowie ein möglichst später Beginn des Kontakts mit der Zweitsprache empfohlen. Da solche Überlegungen nicht nur den Erwerb grammatischen Wissens im engeren Sinn betreffen, werden sie erst Gegenstand der Diskussion in Teil 2 sowie in Teil 3 meiner Untersuchung sein. Gegen den frühen Gebrauch zweier Sprachen werden aber nicht nur bei Kindern aus sprachlichen Minderheiten Bedenken vorgetragen. Die Einwände gegen eine mehrsprachige Erziehung für Kinder bis zum Alter von 3;0 Jahren, also gegen bilingualen Erstspracherwerb, sind vielmehr grundsätzlicher Art: Immer wieder wird behauptet, daß der frühe Erwerb zweier Sprachen einerseits die kognitive Entwicklung des Kleinkindes behindere, andererseits auch die sprachliche Entwicklung selbst negativ beeinflusse. Es wird behauptet, daß der bilinguale Spracherwerb Verzögerungen unterliegt und daß Schwierigkeiten bei der Trennung der zielsprachlichen Systeme dazu führen, daß keines der beiden Systeme adäquat erworben werden kann. In diesem Zusammenhang wird häufig von Semilingualismus gesprochen. (Koehn/Müller 1990: 49)

Die in solcher oder ähnlicher Argumentation vorgetragenen Bedenken werden mit der Annahme begründet, daß bei simultan oder früh einsetzendem sukzessivem Beginn des Erwerbs zweier Sprachen die zwei noch labilen grammatischen Kenntnissysteme vom Lerner nicht hinreichend getrennt werden können und daß dies zu dauerhaften Störungen bei der Entwicklung der beiden grammatischen Kenntnissysteme führen kann. Daraus wird der Schluß gezogen, daß der Erwerb eines zweiten grammatischen Systems erst dann einsetzen sollte, wenn der Erwerb von wesentlichen Aspekten des grammatischen Systems der Erstsprache abgeschlossen ist. Kinder verfügten, so wird angenommen, zu Beginn des Erstspracherwerbs grundsätzlich noch nicht über die Fähigkeit zur Trennung sprachlicher Systeme. Kinder, die von frühestem Alter an mit mehr als einem grammatischen System konfrontiert werden, durchliefen in ihrer grammatischen Entwicklung daher zunächst eine Phase der Fusion. Wenn es ihnen auch bald gelinge, die beiden Sprachen auf lexikalischer Ebene zu trennen, so verwendeten sie doch über einen längeren Zeitraum zunächst nur ein syntaktisches System. Dies könne dazu fuhren, daß keines der beiden grammatischen Systeme adäquat erworben werde. Diese Gefahr der Entwicklung von Semilingualismus sei, so wird angenommen, bei bilingual aufwachsenden Kindern besonders groß (Koehn/Müller 1990: 49ff.). Die These, daß bilingualer Erstspracherweib zunächst grundsätzlich mit einer Phase der Fusion der grammatischen Systeme beginnt (Kielhöfer/Jonekeit 91995, Taeschner 1983,

69

Volterra/Taeschner 1978)69 wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Hamburg in mehreren Untersuchungen ausfuhrlich diskutiert. Diese Untersuchungen zeigen, daß bilingual aufwachsende Kinder grundsätzlich vom Beginn des Grammatikerwerbs an in der Lage sind, charakteristische Eigenschaften der beiden grammatischen Systeme zu erkennen und zu unterscheiden (Meisel 1986, 1989). Neuere Untersuchungen zeigen aber auch, daß diese Kinder opt for identical values of the parameters either as a result of some kind of transfer from one language to the other, or in order to minimize the differences between the two languages, at least as long as the resulting properties of the grammar seem to cover the empirical facts. (Meisel/Miiller 1992: 129)

Wie läßt sich nun entscheiden, ob bilingual aufwachsende Kinder grundsätzlich eine Phase der Fusion mit den angedeuteten negativen Folgen für ihre sprachliche Entwicklung durchlaufen? Klare Beispiele für die Fähigkeit zur Trennung grammatischer Systeme lassen sich in den Bereichen finden, in denen sich nicht nur die zielsprachlichen Systeme unterscheiden, sondern in denen sich zusätzlich auch die Entwicklung des grammatischen Wissens monolingualer Kinder unterscheidet. Nach Meisel (1986 und 1989) erfüllt zum Beispiel die Sprachenkombination Deutsch-Französisch im bilingualen Erstspracherwerb diese Bedingungen. Französisch verfügt über eine relativ feste SVO-Ordnung; zumindest im gesprochenen Französisch kommt Inversion nur selten vor. Anders als im Deutschen sind VP und EP linksköpfig, der Finitheitsoperator [+F] befindet sich in I o und nicht in C° und SpecIP ist keine A'-Position. Voranstellung erfolgt im Französischen durch IP-Adjunktion:

69

Nach Meisel (1989: 14) gehen Volterra/Taeschner (1978) davon aus, daß sich die sprachliche Entwicklung mehrsprachiger Kinder grundsätzlich in drei Phasen vollzieht: Zunächst verfügen die Kinder nur über ein lexikalisches System, das Wörter beider Sprachen umfaßt. In einer zweiten Phase unterscheiden sie die beiden lexikalischen Systeme, verwenden aber für beide Sprachen ein gemeinsames syntaktisches System. Erst in einer späteren Phase sind sie auch fähig, die beiden syntaktischen Systeme voneinander zu trennen. Ahnlich wie Volterra/Taeschner interpretieren auch Kielhöfer/Jonekeit (91995) die sprachliche Entwicklung der beiden von ihnen beobachteten bilingual aufwachsenden Kinder: „In der frühesten Phase der Sprachentwicklung bis ca 2;6 Jahren mischen die beiden Kinder die Sprachen ganz naiv [...] Offensichtlich werden beide Sprachen noch nicht voneinander geschieden. Es sieht so axis, als ob beide Kinder zunächst für beide Sprachen ein einheitliches System suchen oder annehmen. Mit wachsendem Bewußtsein der Zweisprachigkeit unterbleiben naive Sprachmischungen." (Kielhöfer/Jonekeit 91995: 72)

70 (70)

CP Spec CP

C C°

IP Spec IP

Γ Io +F

VP

Y

Spec VP DP

Vo

Während monolingual deutschsprachige Kinder schon früh die für das Deutsche charakteristische SOV-Ordnung bevorzugen, befolgen monolingual ftanzösischsprachige Kinder, wie zu erwarten, in ihren sprachlichen Äußerungen eine SVO-Ordnung. Daneben sind bei monolingual französischsprachigen Kindern schon früh gehäuft Strukturen mit rechtsverlagertem Subjekt zu beobachten (Clark 1985: 709Í, Meisel 1989: 27).70 Die Hypothese, daß mehrsprachig aufwachsende Kinder auch unter guten Sprachlernbedingungen in beiden Sprachen zunächst Schwierigkeiten haben, simultan zwei separate (autonome) zielsprachliche Systeme aufzubauen, kann als widerlegt gelten, wenn gezeigt werden kann, daß bei bilingual aufwachsenden Kindern jeweils die gleichen Erwerbssequenzen beim Grammatikerwerb zu beobachten sind wie bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Tatsächlich lassen sich bei bilingual deutsch-französisch aufwachsenden Kindern (s)VOS-Strukturen beschränkt auf Äußerungen in französischer Sprache und SOVStrukturen beschränkt auf Äußerungen in deutscher Sprache beobachten. Die Strukturmuster kommen beide aber seltener vor als bei monolingualen Kindern. Dominant sind in frühen Erwerbsphasen in beiden Sprachen SVO-Muster (Koehn/Müller 1990: 53). Dies spricht für die These, daß mehrsprachig aufwachsende Kinder grundsätzlich zur Trennung der grammatischen Systeme in der Lage sind, daß sie aber dazu tendieren, die grammatischen Unterschiede zwischen den Systemen so gering wie möglich zu halten. Es ist also nicht der Fall, daß bilingual deutsch-französisch aufwachsende Kinder in der VP-Phase nur über eine gemeinsame Struktur wie (71) für ihre Äußerungen in deutscher und französischer Sprache verfugen.

70

Die pronominale Kopie wird in Strukturen mit rechtsverlageitem Subjekt zunächst ausgelassen.

71 (71)

VP Spec VP

V' Vo

NP

Es ist vielmehr davon auszugehen, daß bilinguale Kinder ebenso wie monolinguale Kinder im Deutschen zwischen Strukturen wie (71) und (72) oszillieren können (Meisel 1994b: 96). (72)

VP Spec VP

V NP

Vo

Dieses Oszillieren zwischen verschiedenen Parameterwerten im VP-Stadium wird, wie in Kap. 1.2.2 dargelegt, zum einen mit charakteristischen Eigenschaften des zielsprachlichen Systems und zum anderen mit charakteristischen Beschränkungen für Parametrisierung erklärt: Ghavidel (1995) hat festgestellt, daß bei Kindern, die mit Deutsch und Türkisch zweisprachig aufwachsen, in frühen Phasen des Zweitspracherwerbs im Deutschen gehäuft SOV-Strukturen auftreten. Diese SOV-Strukturen sind auch nicht auf infinite Verben beschränkt. Bei den im von Meisel geleiteten Forschungsprojekt beobachteten deutsch-französisch bilingualen Kindern dagegen beschränkte sich der Gebrauch von OV-Strukturen im Deutschen zunächst weitgehend auf infinite Verben (Koehn/Müller 1990: 52, Müller 1990: 140, Meisel/Müller 1992: 123f.). Finite Verben in Endposition sind in der VP- und der EP-Phase bei diesen Kindern ebenso wie bei monolingualen Kindern selten zu beobachten. Die in solchen Phasen der Unbestimmtheit beobachtbaren Präferenzen mehrsprachiger Kinder für linksköpfige oder rechtsköpfige VPs und IPs im Deutschen resultieren also offenbar nicht nur aus Besonderheiten des zielsprachlichen Systems und charakteristischen Beschränkungen für Parameterfixierung, sondern auch aus charakteristischen Eigenschaften des anderen grammatischen Systems, das das zweisprachige Kind außerdem erworben hat: Anders als das Französische verfugt das Türkische ebenso wie das Deutsche sowohl über eine rechtsköpfige VP als auch über eine rechtsköpfige IP. Wenn deutsch-türkisch zweisprachige Kinder im Deutschen rechtsköpfige VPs bevorzugen und deutsch-französisch zweisprachige Kinder im Deutschen zunächst linksköpfige VPs bevorzugen, so spricht dies für die These von Meisel/Müller (1992), daß zweisprachige Kinder generell dazu tendieren, die Unterschiede zwischen den zu erwerbenden gram-

72 matischen Systemen zu minimieren, soweit die empirischen Fakten, mit denen sie konfrontiert werden, dies zulassen. Für das IP-Stadium kann man bei deutsch-französisch zweisprachigen Kindern weitgehend identische Strukturen für beide Sprachen annehmen, vgl. (73) und (74): (73) Deutsch IP Spec IP

Γ Io

VP V

Spec VP

Vo

DP (74) Französisch

IP Γ

Spec IP Io

VP V

Spec VP Vo

DP

Allerdings unterscheiden sich im Deutschen und Französischen jeweils die SpecIPPositionen voneinander. Im Französischen ist die SpecIP-Position als A-Position der Subjekt-NP vorbehalten. Die Topikalisierung anderer Konstituenten erfolgt durch IPAdjunktion. Für das Deutsche muß man dagegen annehmen, daß Kinder, die noch nicht das CP-Stadium erreicht haben, die SpecIP-Position zunächst sowohl als A-Position wie auch als A'-Position interpretieren. Die Topikalisierung von Objekten und Adverbialen resultiert im Französischen also in OSV- bzw. AdvSV(0)-Strukturen und im Deutschen in OVSbzw. AdvVS(0)-Strukturen.71 Die Untersuchung kindlicher Äußerungen mit topikalisierten Konstituenten ist daher besonders aufschlußreich für die Entscheidung der Frage, ob und ggf. wann bilingual aufwachsende Kinder in der Lage sind, die grammatischen Systeme beider Sprachen voneinander zu trennen. Die beiden von Meisel (1986, 1989) untersuchten Kinder verwendeten im Deutschen zielsprachlich korrekt bei der Topikalisierung von Objekten und Adverbialen Verbzweitstellung. AdvSV(0)- und OSV-Strukturen kamen im Deutschen bei beiden Kindern nicht vor. Umgekehrt behielt das Kind, das im Beobachtungszeitraum im Französischen bereits Adverbiale topikalisierte, hier die SV(0)-Abfolge bei (Meisel 1989: 27): In other words, whenever they front a constituent in German, the verb appears in second position whereas in French the verb remains in third position [...] I therefore I want to claim that this is

71

Siehe hierzu auch Kap. 1.2.3.

73 strong evidence in support of the hypothesis that bilingual children are, in fact, able to differentiate between two languages. (Meisel 1989:27.)

Bei anderen in diesem Projekt untersuchten deutsch-französisch bilingualen Kindern war die Trennung zwischen den beiden grammatischen Systemen weniger klar. Eines der von Müller (1990) untersuchten Kinder benutzte XVS- und XSV-Muster im Deutschen im Verhältnis von 81% : 19%, das andere Kind sogar im Verhältnis 60% : 40 % (Müller 1990:148). Das zuletzt erwähnte Kind entschied sich außerdem in der CP-Phase nach einer bis zum Alter von 2; 11 Jahren andauernden Phase, in der auch Nebensätze mit Verbendstellung zu beobachten sind, für die Option [+F] in I o ( Meisel 1986: 143, Meisel/Müller 1992: 130ff.) Die Tatsache, daß auch monolingual deutschsprachige Kinder gelegentlich XSVStnikturen verwenden, sowie die Tatsache, daß diese Kinder auch in manchen Fällen die Option [+F] in I o prüfen, spricht nach Meisel/Müller (1992: 13Off.) gegen die Annahme, daß man diese Phänomene bei bilingualen Kindern als Transfer interpretieren kann. Allerdings erfolgt, wie Clahsen/Muysken (1986) bei einer Durchsicht der für das Deutsche verfügbaren Studien festgestellt haben, der Erwerb der Stellung des finiten Verbs im Nebensatz bei monolingual deutschsprachigen Kindern zumeist fehlerfrei. Fälle, in denen monolinguale Kinder neben der Option [+F] in C° auch die Option [+F] in I o prüfen, sind bislang kaum dokumentiert.72 Da solche Phänomene dagegen bei bilingual aufwachsenden Kindern gelegentlich gehäuft und über einen längeren Zeitraum auftreten, muß man davon ausgehen, daß identische Parameterwerte für die beiden grammatischen Systeme gelegentlich auch dann gewählt werden, wenn dies durch die empirischen Fakten in einer der beiden Sprachen nicht gedeckt ist. In diesem Fall ist es berechtigt von (negativem) Transfer zu sprechen. Die Untersuchungen von Meisel u.a. hatten aber auch nicht das Ziel, nachzuweisen, daß Fusion und Mixing bei bilingual aufwachsenden Kindern nicht vorkommt, sondern daß zweisprachig aufwachsende Kinder grundsätzlich in der Lage sind, separate grammatische Kompetenzen aufzubauen.73 Diese Fähigkeit entwickeln bilinguale Kinder offenbar sehr früh. Konstruktionen mit topikalisierten Adverbialen sind bereits in einer frühen Mehrwortphase beobachtbar. Topikalisierung von Adverbialen führt auch in dieser frühen Phase nicht zu abweichender Wortstellung (Meisel 1989: 27f.). Dies ist nicht nur ein Indikator dafür, daß die hier beobachteten Kinder fähig zur Trennung grammatischer Systeme sind, sondern daß sie grundsätzlich fähig sind zur Trennung formaler und funktionaler Aspekte von Sprache. Diese Kinder kodieren ihre sprachlichen Äußerungen nicht mehr mit Hilfe semantisch-pragmatischer Prinzipien. Sie haben das prägrammatische Stadium der frühen Mehrwortphase bereits abgeschlossen. Dies spricht dafür, daß Spracherwerb nicht als allmählicher Prozeß der Grammatikalisierung aufgefaßt werden kann und daß die Fähigkeit zur Ausnutzung von Form-Funktion-Beziehungen nicht der entscheidende Faktor im kindlichen Grammatikerwerb sein kann. Die Überlegungen von Meisel (1986, 1989) stützen also die Hypothese B2, daß sich der Erwerb grammatischen Wissens in beiden Sprachen bei zweisprachig aufwachsenden Kindern grundsätzlich unabhängig voneinander vollziehen kann. Die Überlegungen von Meisel 72 73

Siehe hierzu Kap. 1.2.2. Auch Mixing setzt nach der Definition von Meisel (1989 :36f.) die grundsätzliche Fähigkeit zur Trennung grammatischer Systeme voraus.

74 (1986,1989) liefern auch weitere Argumente für die Autonomiehypothese (Hypothese A2). Wenn zweisprachig aufwachsende Kinder also deutliche Schwierigkeiten mit der Trennung grammatischer Systeme haben, so kann dies nicht darauf zurückgeführt werden, daß die sprachspezifischen kognitiven Fähigkeiten der Kinder noch nicht hinreichend entwickelt sind. Fusion und Mischung grammatischer Systeme sind vielmehr eine Folge ungünstiger äußerer Erwerbsbedingungen: [...] mixing is most likely to occur if (a) one of the two languages is very dominant in the child's competence, and if (b) the adults in the child's environment mix or switch quite freely in their own speech. As McLaughlin (1984:95) phrases it: ,interference can be held to a minimum if the domains are clearly defined and if the two languages are maintained somewhat in balance.' (Meisel 89: 14)

Sind die Erwerbsbedingungen ungünstig, dominiert eine Sprache und wird in der Umgebung des Kindes nicht das Prinzip einer funktionalen Trennung beider Sprachen beachtet, dann sind negative Auswirkungen auch auf die Entwicklung grammatischen Wissens nicht auszuschließen. Kielhöfer/Jonekeit (91995: 70ff.) untersuchten in einer Fallstudie bei zwei deutschfranzösisch bilingual aufwachsenden Kindern Art und Ausmaß von Sprachmischung und Transfer. In der Umgebung der beiden Kinder wurde das Prinzip der funktionalen Sprachtrennung beachtet. Allerdings überwog der Gebrauch des Deutschen zeitweilig in der Umgebung der Kinder. Beim Transfer grammatischer Regeln beobachteten Kielhöfer/Jonekeit (91995: 82f.) drei Phasen: • Phase I: Grammatische Eigenschaften der beiden Sprachen werden erkannt und unterschieden. So wird im Französischen die VP als linksköpfig und im Deutschen als rechtsköpfig behandelt. Beobachtbar sind Äußerungen wie (75) neben Äußerungen wie (76). • Phase II: Es kommt zu einem Transfer grammatischer Regeln aus der stärkeren Sprache in die schwächere Sprache. Zu beobachten sind jetzt Äußerungen wie (77) aber nicht Äußerungen wie (78). • Phase III: Transfer unterbleibt. Es kommt in der Folge zu einer Stabilisierung beider Sprachen „auf hohem Niveau" (Kielhöfer/Jonekeit 91995: 69). (75) Jens a cherché le camion. (76) Jens hat den Laster gesucht. (77) *Jens a le camion cherché. (78) (Jens hat gesucht den Lastwagen.) Auch bei Vorliegen relativ günstiger Erwerbsbedingungen im frühen Zweitspracherwerb kann das Vorkommen von Sprachmischung und Transfer also nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Das gelegentliche Vorkommen von Sprachmischung und Transfer hat in diesem Fall aber keine dauerhaften negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der beiden grammatischen Kenntnissysteme. Diese Annahme bestätigen auch die übrigen hier erwähnten empirischen Studien zum bilingualen Erstspracherwerb. Diese Annahme, daß Sprachmischimg und Transfer keine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der grammatischen Kenntnissysteme hat, gilt aber nicht notwendig auch für Kinder, die unter weniger günstigen Bedingungen im frühen Alter eine zweite Sprache zu erwerben beginnen. Ungünstige Erwerbsbedingungen werden in der Literatur in der Regel bei Kindern aus Sprachminderheiten unterstellt (Appel/Muysken 1987: 82ff., Baker

75 1993a: 94ff., Wode 1995:141ff.). Dies gilt insbesondere für solche Kinder, die bereits im Einwanderungsland geboren oder aber in einem frühen Alter dorthin migriert sind. Es wird angenommen, daß diese Kinder häufig sowohl die Familiensprache als auch die Umgebungssprache auf der Basis eines eingeschränkten Sprachangebots erwerben müssen (Baur/Meder 1989:119ff„ Glück 1985:38ff„ Steinmüllerl989:142ff.). Es wird aber auch darauf hingewiesen, daß sich die unzweifelhaft vorhandenen Sprachprobleme von Kindern aus Sprachminderheiten häufig nicht in der mündlichen Alltagskommunikation, sondern erst in der fachbezogenen Unterrichtskommunikation bemerkbar machten (Baker 1993a: 138ff., Wode 1995: 132ff), daß es sich also gar nicht um Probleme bei der Aneignung des grammatischen Systems der Zweitsprache handele. Auf die Frage, ob Unterschiede in der in der Zweitsprache entwickelten Kompetenz, die bei der Bearbeitung institutionenspezifischer sprachlicher Aufgabenstellungen bei Schülern mit Migrationshintergrund deutlich werden, in erster Linie auf die mangelnde Fähigkeit zur Trennung der grammatischen Systeme der Erst- und der Zweitsprache zurückzuführen sind oder auf den unvollständigen Erwerb des grammatischen Systems der Zweitsprache schließen lassen, möchte ich im folgenden genauer eingehen. Dazu habe ich ein Korpus von deutschen Texten deutsch-griechisch zweisprachiger Kinder ausgewertet, das im Rahmen einer Untersuchung zur Rolle sozialpsychologischer Faktoren im Zweitspracherwerb von Katharina Kuhs erstellt wurde.74 Erhoben wurden diese Texte bei 66 griechischen Kindern im Alter von neun bis zehn Jahren. Die Kinder besuchten alle die vierte Grundschulklasse in Form einer nationalen Regelklasse für griechische Schüler an Grundschulen im Raum Ludwigshafen. Unterrichtssprache war für diese Kinder Griechisch, zusätzlich erhielten die Kinder zwischen vier und acht Wochenstunden Deutschunterricht. Die Kinder lebten überwiegend seit ihrer frühesten Kindheit in Deutschland oder waren bereits hier geboren. Die Väter der Kinder waren überwiegend als Industriearbeiter bei in Ludwigshafen ansässigen Firmen tätig, die Mütter waren zumeist nicht berufstätig. Den Kindern wurde die Aufgabe gestellt, jeweils zwei Texte in deutscher und in griechischer Sprache zu vorgegebenen Themen zu verfassen. Die Themen waren so gewählt, daß sich entweder eine enge Verbindung zur griechischen Herkunftskültur oder zu Griechenland oder aber eine Verbindung zum Alltag der Kinder in Deutschland herstellen ließ. Die Texte wurden von den Schülern während der Unterrichtszeit verfaßt. Für die Abfassung jedes Textes stand den Schülern jeweils eine Schulstunde zur Verfügung (Kuhs 1989: 63f.). Für die Zwecke der Untersuchimg wurden aus dem Gesamtkorpus mit Hilfe einer Zufallsstichprobe die Texte von 18 Kindern ausgewählt.75 Für die folgende Analyse habe ich die in deutscher Sprache verfaßten Texte von sechzehn der bei Kuhs (1989) untersuchten Kinder zunächst im Hinblick auf grammatische Auffälligkeiten ausgewertet, die auf mangelnde Sprachtrennung schließen lassen. Die Texte von sieben dieser Kinder wurden von Kuhs (1989: 129f.) als syntaktisch einfach oder eher

74

75

Ich möchte Katharina Kuhs an dieser Stelle noch einmal danken, daß sie mir die in ihrer Untersuchung ausgeweiteten Texte sowie die im Zusammenhang damit erhobenen Informationen zum soziokulturellen Umfeld der Kinder für die Zwecke meiner Untersuchung zur Verfügung gestellt hat. Von einigen Kindern liegen mir weitere Texte vor, die ich ebenfalls in die Analyse einbeziehen werde.

76 einfach mit Simplifizierungstendenzen und Abweichungen charakterisiert.76 Eines dieser Kinder wird von Kuhs (1989: 225) ausdrücklich als doppelseitig halbsprachig im schriftsprachlichen Bereich bezeichnet. Die Texte von weiteren sieben Kindern wurden eingestuft als syntaktisch expansiv und variationsreich ohne oder allenfalls mit geringen Simplifizierungstendenzen und Abweichungen (Kuhs 1989:129). (79) O Pavlos diavasi simera ena vivlio. (= Paul liest heute einBuch) (80) O Pavlos echi diavasi simera ena vivlio. (= Paul hat gelesen heute ein Buch) 77 (81) Xero, pos o Pavlos diavasi simera ena vivlio. (= Ich weiß, daß ...) (82) Simera o Pavlos diavasi ena vivlio. (= Heute Paul liest ein Buch) (83) Simera diavasi o Pavlos ena vivlio. (= Heute liest Paul ein Buch). (84) Ena vivlio diavasi o Pavlos simera. (= Ein Buch liest Paul heute). Anders als im Deutschen sind VP und IP im Griechischen linksköpfig, vgl. (79) - (81).78 Die Voranstellung von Adverbialen erfolgt bei Normalbetonung durch IP-Adjunktion, vgl. (82): Bei Hervorhebung dagegen stehen Adverbiale sowie Objekte in der Topic-Position, vgl. (83) und (84): Für das Griechische können daher die folgenden Strukturen angenommen werden: (85) Griechisch

IP AdvP

IP Γ

Spec IP Io

VP V

Spec VP

V

AdvP (79) (82)

76

77

78

Simera3

0 Pavlosi

diavasi2

ti

o Pavlosi

diavasi2

ti

t3

Vo t2

DP ena vivlio

t2

ena vivlio

Auf die von Kuhs als Simplifizierungstendenzen charakterisierten syntaktischen Phänomene komme ich am Ende dieses Kapitels zurück. Die Übertragung soll die Wortstellung beim Gebrauch des Perfekts im Griechischen wiedergeben. Eine angemessene Übersetzung von Paul hat heute ein Buch gelesen wäre O Pavlos diavasse (Aorist) simera ena vivlio. Für ihre Hilfe bei der Übersetzung der griechischen Beispielsätze möchte ich Jolanda Vassiliou, M.A., danken. Siehe hierzu die Diagramme in (85) und (86).

77

(86)

CP

C

Spec CP C°

IP Spec IP

Γ Io

VP

V

Spec VP AdvP

V

o Pavlos,

diavasi2

t,

simera

h

DP ena vivlio

V (81)

pos

o

(82)

Simeraj diavasi2

o PavloSj

h

t,

Í3

h

ena vivlio

(83)

diavasi2

o Pavlos,