Fastnachtspiele: Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten 9783110230178, 9783110230161

The volume presents the papers delivered to an international conference on late medieval carnival plays (Blaubeuren 2007

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Fastnachtspiele: Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten
 9783110230178, 9783110230161

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters
Fastnachtstheater
Aufführungsort als Kommunikationsraum
Inszenierte Politik?
Fastnachtspiele inszenieren die Reformation
Fastnachtspiele: Eine verkehrte Anschauung der Welt und der Literatur
Fastnachtsbrauch und Fastnachtsspiel im Kontext liturgischer Vorgaben
Was wir do machen, das ist schimpf
Dimensionen der Medialität
Weltliches Spiel und Lachen
vil krummer urtail
Identitätsverlust und Kontingenzerfahrung
Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel
Teuflische Macht
mit frölicher berg
Überlieferung, Edition, Interpretation
Performanz und Rezeption
Die niederländische Posse
Von der französischen Farce des Mittelalters zur Pariser Farce zwischen 1500 und 1520: Geschichte einiger Missverständnisse
Backmatter

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Fastnachtspiele

Fastnachstspiele Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten Herausgegeben von Klaus Ridder

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2009

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-11-023016-1 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Klaus Ridder: Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

ERÖFFNUNG Hansjürgen Linke: Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters . . . . . . . . . . 11

FASTNACHTSPIEL

UND

STADTPOLITIK

Klaus Ridder: Fastnachtstheater. Städtische Ordnung und fastnächtliche Verkehrung

. . . . . . . . . . . 65

Glenn Ehrstine: Aufführungsort als Kommunikationsraum. Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Heidy Greco-Kaufmann: Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele im Kontext theatraler Aktivitäten in der frühneuzeitlichen Stadt . . . . . . 99 Eckehard Simon: Fastnachtspiele inszenieren die Reformation. Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtspielzeugnissen, 1521–1525 . . . . . . . . . . . . . . .

FASTNACHTSPIEL

UND

115

FASTNACHTSBRÄUCHE

Jean-Marc Pastre´: Fastnachtspiele: Eine verkehrte Anschauung der Welt und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Dietz-Rüdiger Moser: Fastnachtsbrauch und Fastnachtsspiel im Kontext liturgischer Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Ulrich Barton: Was wir do machen, das ist schimpf. Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels

167

. . . . . . . .

VI

Inhalt

LITERARIZITÄT

UND

THEATRALITÄT

Christiane Ackermann: Dimensionen der Medialität. Die Osmanen im Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer . . . . . . . . . . .

189

Sebastian Coxon: Weltliches Spiel und Lachen. Überlegungen zur Literarizität, Theatralität und Performativität des Nürnberger Fastnachtspiels im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . .

221

Rebekka Nöcker: vil krummer urtail. Zur Darstellung von Juristen im frühen Nürnberger Fastnachtspiel . . . .

239

Werner Röcke: Identitätsverlust und Kontingenzerfahrung. Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie im Werk Jakob Ayrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

FASTNACHTSPIEL

UND GEISTLICHES

SPIEL

Gerhard Wolf: Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel. Das ›Erlauer Osterspiel‹ und die Nürnberger Arztspiele K 82 und K 6

. .

301

Ute von Bloh: Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend (K 57) . . . . .

327

Carla Dauven-van Knippenberg: mit frölicher berg. Über das Miteinander von Komik und Passion . . . . . . . . . . . .

345

EDITION

UND

KOMMENTAR

Rebekka Nöcker und Martina Schuler: Überlieferung, Edition, Interpretation. Zur Neuausgabe Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

Johannes Janota: Performanz und Rezeption. Plädoyer für ihre Berücksichtigung im Kommentar zur Edition spätmittelalterlicher Spiele. Die Nürnberger Fastnachtspiele als Beispiel

381

VII

Inhalt

KOMPARATISTISCHE ASPEKTE Bart Ramakers: Die niederländische Posse. Methoden und Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Jelle Koopmans: Von der französischen Farce des Mittelalters zur Pariser Farce zwischen 1500 und 1520: Geschichte einiger Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . .

431

ANHÄNGE Abbildungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Register der Autoren und Spieltitel Register der Sammelausgaben

449

. . . . . . . . . . . . . . . . .

463

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

465

Einleitung

Obwohl das Forschungsinteresse an der Gattung Fastnachtspiel in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist, wurde ihr seit über zehn Jahren kein eigenes Kolloquium mehr gewidmet.1 In mehrfacher Hinsicht war daher eine Tagung, die diesen Texttyp in den Mittelpunkt stellt, sinnvoll und wünschenswert. Da man sich bisher dem Phänomen Fastnacht und Fastnachtspiel auf ganz unterschiedlichen Wegen genähert hat, sollte das Internationale Kolloquium Fastnachtspiel. Weltliches Schauspiel in kulturellen Kontexten, das vom 9. bis 12. September 2007 in Blaubeuren stattfand, Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen (Germanistik, Romanistik, Niederlandistik, Theaterwissenschaft und Empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde) die Möglichkeit bieten, miteinander in einen Dialog zu treten und damit den Gegenstand Fastnachtspiel möglichst differenziert und perspektivenreich zu beleuchten. Der Schwerpunkt der Beiträge lag auf der Nürnberger Tradition, doch auch andere Spielgegenden wie der niederdeutsche Sprachbereich, die Schweiz und Tirol kamen in den Blick; darüber hinaus wurden die Fastnachtspieltraditionen dieser Gegenden mit vergleichbaren Erscheinungsformen etwa in den Niederlanden und Frankreich verglichen, um ihren Stellenwert in der gesamteuropäischen Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit genauer zu bestimmen. Im Eröffnungsvortrag ging Hansjürgen Linke (Köln) der grundlegenden Frage nach, wie Fastnachtspiele Wirklichkeit konstituieren und inszenieren (»Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters«). Die Themen der Spiele konzentrieren sich auf den religiösen und den politischgesellschaftlichen Bereich, daneben auf den städtischen Alltag sowie insbesondere auf den Komplex Liebe, Ehe und Sexualität. Der Beitrag schließt mit anregenden Reflexionen über die sprachlichen und szenischen Ausdrucksformen der Spiele, welche die Aufführungsrealität – über die wir jedoch sehr wenig wissen – bestimmt haben. Die Tagung versuchte im Weiteren, sich dem Phänomen Fastnachtspiel unter sechs Gesichtspunkten zu nähern, die auch im Blickpunkt der aktuellen Fastnachtspielforschung stehen. Fastnachtspiel und Stadtpolitik Das spätmittelalterliche Schauspiel ist immer Schauspiel der ganzen Stadt: Die gesamte Stadtbevölkerung ist, spielend oder zuschauend, daran beteiligt, und im Schau1

Vgl. Fastnachtspiel−Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten− Gegensätze. Akten des 1. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (31.3.–3.4.1991), hg. v. Max Siller, Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290); Jeux de Carnaval et Fastnachtspiele. Actes du Colloque du Centre d’Etudes de l’Universite´ de Picardie Jules Verne 14 et 15 Janvier 1994, hg. v. Danielle Buschinger u. Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (WODAN 40; Ser. 3; 23).

2

Einleitung

spiel präsentiert sich die Stadt sowohl nach innen (Schauspiel als Vermittlungsform für Regeln und Normen des städtischen Zusammenlebens) als auch nach außen (Schauspiel als ‘Aushängeschild’ für Größe und Glanz einer Stadt). Wie fügt sich das Fastnachtspiel als Inszenierung einer verkehrten Weltordnung in ein solches politischrepräsentatives Konzept von Theater ein? Man könnte sagen, die inszenierte Normverkehrung wird in politischer Intention vollzogen, indem sie die Normen negativdidaktisch vermittelt oder indem sie die Handlungen, die ein Gemeinwesen bedrohen, performativ vor Augen führt, statt sie nur auszugrenzen, und so erfahrbar und beherrschbar macht. Dem steht gegenüber, dass die Nürnberger Obrigkeit, insbesondere der Rat, ein scharfes Auge hatte auf die Fastnachtspiele und ihre Akteure und beide streng reglementierte, denn gerade die Performation der Normverkehrung birgt die Gefahr, dass die Zuschauer eben daran Gefallen finden; außerdem kann die fastnächtliche Narrenfreiheit zu Kritik an Stadtpolitik und gesellschaftlichen Zuständen genutzt werden, was z. B. Hans Rosenplüt auch getan hat. Klaus Ridder (Tübingen) zeigt an der ›Kargen Bauernhochzeit‹ (K 104) auf, wie sich das Spiel in parodistisch-verkehrender Weise mit Elementen des städtischen Ordnungsdiskurses auseinandersetzt (»Fastnachtstheater. Städtische Ordnung und fastnächtliche Verkehrung«). Das Verhältnis der Nürnberger Fastnachtspiele zum städtischen Ordnungsdiskurs ist bisher nicht ausreichend untersucht. In den Reformationsjahren nutzt man dann die unterschiedlichen Formen des Fastnachtstheaters, um in soziale und religiöse Konflikte einzugreifen. Auch diese Entwicklung ist erst ansatzweise analysiert worden. Wo keine Schauspieltexte überliefert sind (und dies ist der Normalfall), lassen sich den Ratsprotokollen und -erlassen des Stadtregiments Hinweise sowohl auf Formen wie Träger des Fastnachtstheaters (textierte und textfreie Schaustellungen) als auch auf das städtische Ordnungsdenken entnehmen. In nicht wenigen, vor allem süddeutschen Städten sind diese Quellen bisher nicht ausgewertet. Die am weitesten verbreitete Aufführungsform des Fastnachtspiels ist das Einkehrspiel. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, dass hierbei nicht, wie bei den großen öffentlichen Marktplatzaufführungen, die Zuschauer zum Theater kommen, sondern das Theater zu den Zuschauern: Das Wirtshaus bzw. die Bürgerstube verwandelt sich in eine Bühne, oder umgekehrt: die Bühne geht in der Alltagswelt auf. Schon allein durch die Aufführungssituation vermischen sich also Spiel- und Alltagswirklichkeit. Das Nürnberger Einkehrspiel ist aber nicht die einzige Aufführungsform, daneben stehen das Wagenspiel in Lübeck und das Marktspiel in der Schweiz. Anhand der von Eckehard Simon aufgearbeiteten, sekundären Aufführungszeugnisse2 geht Glenn Ehrstine (Iowa City, IA) der Frage nach, inwieweit die Aufführungsmodalitäten der verschiedenen Spieltypen unterschiedliche städtische Kommunikationsräume repräsentieren, innerhalb deren die Spiele eine jeweils spezifische politische Wirksamkeit entfalten können (»Aufführungsort als Kommunikationsraum. Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz«). 2

Vgl. Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124).

Einleitung

3

Heidy Greco-Kaufmann (Luzern) setzt in ihrem Beitrag die Luzerner Fastnachtspiele (›Narrenfresser‹ und ›Wunderdoktor‹) in Beziehung zur Vielfalt theatraler Handlungen mit brauchtümlichem, rechtlichem, religiösem und merkantilem Hintergrund und fragt nach Übereinstimmungen und Differenzen in Bezug auf politische Intentionen (»Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele im Kontext theatraler Aktivitäten in der frühneuzeitlichen Stadt«). Die Fastnachtspiele greifen einerseits bekannte Motive aus der zeitgenössischen Literatur und Bildkunst auf und orientieren sich andererseits an im städtischen Alltag vertrauten Vorgängen. Mit der Politik der städtischen Führungsschicht sind sie eng verbunden. Als Modellfall für die Beziehung von Politik und Fastnachtspiel kann das alle Spielregionen betreffende politisch-kulturelle Großereignis der Reformation dienen. Eckehard Simon (Cambridge, MA) untersucht, wie das Medium Fastnachtspiel in den ersten Jahren der Reformation (1521–1525) dazu genutzt wird, die alten kirchlichen Autoritäten zu verspotten und die lutherischen Lehren zu popularisieren (»Fastnachtspiele inszenieren die Reformation. Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtspielzeugnissen, 1521–1525«). Fastnachtspiel und Fastnachtsbräuche Theatrale Aufführungen sind nur ein Teil des fastnächtlichen Treibens, und auch die übrigen Bräuche wurden u. a. als spil bezeichnet: Tänze, Umzüge und andere Rituale. Bisweilen schließen sich Moriskentänze an die theatralen Spiele an, oder Tänze sind darin integriert. Manche Spiele integrieren Bräuche jedoch nicht nur, sondern inszenieren sie auf einer neuen Ebene, wodurch diese ihren unmittelbar-rituellen Charakter verlieren und in reflexive Distanz gerückt werden, so z. B. der Brauch des Eggenziehens. Das Fastnachtspiel literarisiert Rituale, ist jedoch auch selbst als Ritual (im Zeichen des Narren) aufgefasst worden, das durch seine zweideutig-obszöne Sprache die Exzesse der verkehrten Welt evoziert. Jean-Marc Pastre´ (Les Issambres) unternimmt den Versuch, Fastnachtspiele als Riten zu verstehen, die durch ihre irritierende Auseinandersetzung mit sonst verabscheuten und ausgegrenzten Lebensbereichen (v. a. Fäkales und Sexuelles) ganz neue Wirklichkeitserfahrungen ermöglichen (»Fastnachtspiele: Eine verkehrte Anschauung der Welt und der Literatur«). Insbesondere das ›Fastnachtspiel vom Dreck‹ (K 23) versteht Pastre´ als »eine späte Variante von Agrarmythen und -riten« (S. 146), wenngleich dieses Spiel in keinem erkennbaren Zusammenhang zu fassbaren Bräuchen oder Riten steht. Für Dietz-Rüdiger Moser (München) ist die Fastnacht als Spiegelung der civitas diaboli auf den liturgischen Kalender bezogen. Fastnachtspiele sind in dieser Sicht – von ihrer Funktion her – liturgische, also eigentlich ‘geistliche’ Spiele, in denen die abgewiesene Gegenwelt auf vielfache, drastische Weise entfaltet wird (»Fastnachtsbrauch und Fastnachtspiel im Kontext liturgischer Vorgaben«). Ulrich Barton (Tübingen) untersucht in seinem Beitrag (»Was wir do machen, das ist schimpf. Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels«) die Aussagen,

4

Einleitung

die die Nürnberger Fastnachtspiele über sich selbst, insbesondere ihre Wirkungsabsicht, machen; diese Aussagen betonen in auffälliger Weise immer wieder die Harmlosigkeit der Spiele, was als Indiz dafür gewertet werden könnte, dass die Spiele sich unter solchen Deckmänteln ganz bewusst die Ambivalenz von Komik und Theater zunutze machen wollen, um die verkehrte Welt ungezügelt Wirklichkeit werden zu lassen. Bewusst inszenierte Überblendungen von Spiel- und Publikumsrealität, von komischen Inszenierungen und gemeinschaftlichem Lachen rücken die Spiele »in die Nähe von Ritualen« (S. 182). Literarizität und Theatralität Die meisten Figuren und Motive des Fastnachtspiels wurzeln in literarischen Traditionen. So hat der Bauer, die Fastnachtsfigur par excellence, seine Vorlage weniger im zeitgenössischen Bauernstand als im dörper-Bild der Neidhart-Tradition. Andere Motivquellen sind die Lied-, Spruch- und Märendichtung, die Heldenepik, der Artusund der Antikenroman. Welche Motive und Aspekte werden ausgewählt und auf welche Weise werden sie neu kombiniert und umakzentuiert, welches ist das funktionale Spektrum ihrer Verwendung, wenn sie in die Gattung Fastnachtspiel geraten? Ein in mittelalterlicher Literatur immer wieder behandeltes Thema ist der Orient als das ganz Andere und bedrohliche Fremde. Christiane Ackermann (Tübingen) untersucht am Beispiel des Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ (K 39) sowie anhand von Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer, welche Bilder das weltliche Schauspiel vom Orient entwirft. Die Schauspiele greifen gängige Typisierungen der Osmanen auf, funktionalisieren sie allerdings in je eigener Weise. Auf der Basis historischer Kontextualisierung und unter Berücksichtigung der medialen Dimensionen der sogenannten ‘Türkendichtung’ analysiert Ackermann die spezifischen Inszenierungen ‘des Türkischen’ als ‘Außen’ und fragt nach ihrer Relevanz für eine christliche, europäische Identitätsbildung. Sie zeigt auf, dass die Stücke nicht lediglich eine Dichotomie der kulturellen Sphären auf die Bühne bringen, und legt dar, in welcher Weise die Werke Verschränkungen der Kulturen und ihrer Identitäten vornehmen (»Die Osmanen im Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer«). Sebastian Coxon (London) geht es in seinem Beitrag (»Weltliches Spiel und Lachen. Überlegungen zur Literarizität, Theatralität und Performativität des Nürnberger Fastnachtspiels im 15. Jahrhundert«) darum, neben den Formen der literarischen Inszenierung von Lachen, Gelächter und Spott Elemente der theatralischen Ebene des Lachens in den Spieltexten (implizite Regieanweisungen u. a.) aufzudecken. Literarische und theatralische Thematisierungen des Lachens sind zunächst analytisch zu unterscheiden, um eine Vorstellung von der »performative[n] Sprengkraft der Nürnberger Fastnachtspiele« zu gewinnen, »derzufolge die Zuschauer zuweilen durch gespieltes Gelächter selbst ins Lachen gebracht werden sollten« (S. 236). Anknüpfend an Formen mittelalterlicher Juristenkritik in literarischen wie außerliterarischen Quellen fragt der Aufsatz (»vil krummer urtail. Zur Darstellung von

Einleitung

5

Juristen im Nürnberger Fastnachtspiel«) von Rebekka Nöcker (Tübingen) nach der Stilisierung von Juristen im Nürnberger Fastnachtspiel. Anhand von sechs Merkmalen, die für die negative Figurenzeichnung signifikant sind, zeigt er, unter Einbeziehung der Nürnberger Rechtsorganisation, die Bedeutung dieses Figurentypus dafür auf, dass Fastnachtskomik evoziert und eine verkehrte Welt inszeniert wird. Werner Röcke (Berlin) demonstriert an einigen ‘Jahn Posset’-Spielen, wie Jacob Ayrers Auseinandersetzung mit den Fastnachtspielen des Hans Sachs zu einer Transformation der Gattung führt. Listige Intrigen bedrohen in Sachs’ Spielen die gesellschaftliche Ordnung, Gegenlisten heben diese Strörung jedoch auch wieder auf. In einigen von Ayrers Spielen hingegen entwickelt sich aus der Erfahrung der Überlistung existenzielle Orientierungslosigkeit und bleibender Identitätsverlust. Röcke sieht in dieser Modifikation des Fastnachtspiels einen Übergang zur Komödie (»Identitätsverlust und Kontingenzerfahrung. Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie im Werk Jakob Ayrers«). Fastnachtspiel und geistliches Spiel Die heikle Frage nach dem Verhältnis von geistlichem Schauspiel und Fastnachtspiel werfen die Beiträge von Gerhard Wolf, Ute von Bloh und Carla Dauven-van Knippenberg auf. Eine genaue Abgrenzung erscheint umso schwieriger, als es zwischen beiden Gattungen zahlreiche Überschneidungen gibt. So wurden etwa geistliche Spiele auch zur Fastnachtszeit aufgeführt, und einige Fastnachtspiele greifen ernste und auch religiöse Themen auf; manche Szenen in geistlichen Spielen, wie etwa die Salbenkrämerszene des Osterspiels, muten fastnächtlich komisch an; außerdem schöpfen beide Gattungen bisweilen aus demselben Figurenrepertoire: Salomon, Antichrist, Juden, auch Teufel, Narr und Quacksalber. Ist daher die Einteilung in geistliches und weltliches bzw. fastnächtliches Theater überhaupt nur ein literaturwissenschaftliches Konstrukt, das durch spätmittelalterlichem Verständnis angemessenere Begriffe ersetzt werden sollte?3 Inszenierungstechniken der Komik und Formen der Verschränkung gesellschaftlich wichtiger Diskurse untersucht Gerhard Wolf (Bayreuth) anhand der Salbenkrämerszenen im ›Erlauer Osterspiel‹ und in zwei Nürnberger Arztspielen (»Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel. Das ›Erlauer Osterspiel‹ und die Nürnberger Arztspiele K 82 und K 6«). Weder die Salbenkrämerszenen noch die Arztspiele lassen sich mit der häufig bemühten Kategorie der Verkehrung hinreichend beschreiben; sie scheinen im geistlichen und weltlichen Schauspiel vielmehr ein Ort zu sein, an dem soziale Konflikte und Spannungen sowie anthropologische und genderspezifische Fragen verhandelt werden können. Die Fastnachtspiele bieten eine eigene Form der Diskursivierung gesellschaftlich wichtiger Themenbereiche, die fast immer auf eine Harmonisierung der heterogenen Diskurssplitter verzichtet. 3

Eckehard Simon plädiert daher für eine Einteilung der weltlichen Schauspiele nach den »Modalitäten der Aufführung« [Anm. 1, S. 352].

6

Einleitung

Ute von Bloh (Potsdam) zeigt, wie sich der Teufel insbesondere vor dem Hintergrund des Osterspiels in der Welt der Fastnachtsfiguren ausnimmt (»Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend [K 57]«). Nur zwei Nürnberger Fastnachtspiele (K 56 und K 57) bringen das Böse in Gestalt des Teufels auf die Bühne, entfalten das Thema jedoch vor allem über die Rolle der alten, teuflischbösen Frau und die mit ihr verknüpften Szenenmuster. Im Fastnachtspiel lässt sich gegenüber den Osterspielen die Tendenz erkennen, die aus der Allgegenwart des Bösen resultierende Bedrohung zu verstärken, und zwar ohne die durch das Spiel evozierte Spannung aufzulösen: »Die Wiederholung wird so zur Wiederkehr des nicht zu bewältigenden Bösen, und die erneute Erinnerung daran [. . .] bestätigt zugleich, dass es sich um etwas Unabänderliches handelt« (S. 343). Carla Dauven-van Knippenberg (Amsterdam) fragt danach, auf welcher Ebene im ›Donaueschinger Passionsspiel‹ komisch-fastnächtliche und heilsgeschichtlich-ernste Elemente sich überlagern, gegenseitig verstärken oder abschwächen (»mit frölicher berg. Über das Miteinander von Komik und Passion«). Der Spieltext lässt zum einen eine Strategie der Rückführung des Komischen ins Erbauliche erkennen (S. 357), zum andern Formen einer subtilen Komik, die nicht auf die Evozierung ‘närrischen Lachens’ zielt (S. 360). Edition und Kommentar Mit dem anhaltenden und wachsenden literarhistorischen Interesse an Fastnachtspielen hat die editorische Erschließung des Texttyps nicht Schritt gehalten. Zwar liegen durchaus moderne Editionen vor, etwa der Sterzinger Spiele,4 doch für den allergrößten Teil der Nürnberger Stücke muss immer noch auf die Ausgabe zurückgegriffen werden, die Adelbert von Keller in den Jahren 1853 bis 1858 herausgegeben hat.5 Eine kommentierte Neuedition aller Nürnberger Fastnachtspiele wird seit Februar 2005 als DFG-Projekt an den Universitäten Trier und Tübingen erarbeitet. Die Prinzipien und Verfahrensweisen dieser Neuedition sind Gegenstand des Aufsatzes von Rebekka Nöcker und Martina Schuler (Tübingen: »Überlieferung, Edition, Interpretation. Zur Neuausgabe der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts«). Die Neuausgabe strebt zudem die Erschließung der Texte durch einen sprach-, literatur- und kulturhistorischen Kommentar an. Gerade weil Kommentierungen nicht frei davon sein können, immer auch das jeweils aktuelle Forschungsinteresse widerzuspiegeln, gilt es zu reflektieren, was ein Kommentar idealerweise leisten sollte. Mehr als früher bemüht man sich beispielsweise darum, die überlieferten Spieltexte als Spieltexte für eine Aufführung zu begreifen. Johannes Janota (Augsburg) geht in 4

5

Die Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften (1510–1535) von Vigil Raber und nach der Ausgabe Oswald Zingerles (1886), hg. v. Werner M. Bauer, Wien 1982 (Wiener Neudrucke 6). Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966.

Einleitung

7

seinem Beitrag der Frage nach, was einen Spielkommentar im Blick auf die Aufführung der Fastnachtspiele ausmacht (»Performanz und Rezeption. Plädoyer für ihre Berücksichtigung im Kommentar zur Edition spätmittelalterlicher Spiele. Die Nürnberger Fastnachtspiele als Beispiel«); er plädiert überzeugend dafür, dass die der schriftlichen Überlieferung zu entnehmenden Hinweise auf die konkrete Aufführungswirklichkeit des jeweiligen Spiels (Kostüme, Reimtechnik u. a.) in angemessener Weise im Kommentar zur Neuausgabe der Nürnberger Fastnachtspiele zur Sprache kommen. Komparatistische Aspekte Die deutschsprachigen, v. a. die Nürnberger Fastnachtspiele standen im Blickpunkt der Tagung. Um Gemeinsamkeiten und Eigenheiten von Spieltraditionen und Aufführungszusammenhängen im europäischen Kontext zu erkennen, wurden jedoch auch anderssprachige komische Bühnenstücke einbezogen. Bart Ramakers (Groningen: »Die niederländische Posse. Methoden und Effekte«) stellt die niederländische Schwanksammlung ›Trou moet blijken‹ und Jelle Koopmans (Amsterdam) zwei Sammelbände mit Pariser Farcen (›Recueil Trepperel‹ und ›Recueil de Florence‹) in den Mittelpunkt (»Von der französischen Farce des Mittelalters zur Pariser Farce zwischen 1500 und 1520: Geschichte einiger Missverständnisse«). Beide Autoren plädieren für eine enge Verzahnung von literatur- und theatergeschichtlichen, aber auch kontext- und überlieferungsgeschichtlichen Methoden und Fragestellungen. Viele der in den Vorträgen des Symposiums erörterten Fragen, die die Fastnachtspiele aufwerfen, sind immer wieder auch Gegenstand der Diskussion in der Trierer und Tübinger Arbeitsgruppe, die mit der Neuedition und Kommentierung des vorreformatorischen Nürnberger Corpus befasst sind (Projektleiter: Martin Przybilski, Klaus Ridder). Aus den Gesprächen mit den dem Projekt eng verbundenen Kollegen (Christoph Gerhardt, Paul Sappler und Burghart Wachinger) und aus den ‘Werkstattgesprächen’ mit weiteren Schauspielforschern (Johannes Janota, Hansjürgen Linke, Werner Röcke, Max Siller und Eckehard Simon) ist ein Diskussionszusammenhang erwachsen, der die Konzeption der Tagung mitbestimmt hat. Die hier diskutierten Einwendungen und Ermutigungen haben die Arbeit an der Neuedition wesentlich befördert. In diesem Kreis ist auch der Wunsch nach einer internationalen Tagung aufgekommen. Danken möchte ich zum Schluss allen voran den Referenten, Diskussionsleitern und Teilnehmern der Tagung, die sich auf die Leitfragen des Konzepts eingelassen haben. Der Dank gilt insbesondere auch der DFG, die das Kolloquium finanziell gefördert hat, und nicht zuletzt den Tübinger Mitarbeitern, die maßgeblich zum Gelingen der Tagung und des vorliegenden Sammelbandes beigetragen haben: Herrn Ulrich Barton, der schon an der Konzeption des Symposiums engagiert mitgewirkt, und Frau Slavica Stevanovic, die die Tagung mit großer Umsicht organisiert hat; Frau Christine

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Einleitung

Thumm, die die Beiträge sorgfälig eingerichtet und mit Bedacht redigiert hat, und Frau Anne Auditor, die den Band – mit Unterstützung von Paul Sappler – mit hoher Kompetenz in TUSTEP gesetzt und das Register erstellt hat.

Tübingen, im Frühjahr 2009

Klaus Ridder

ERÖFFNUNG

Hansjürgen Linke

Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters*

Wenn man an das weltliche Schauspiel des Mittelalters1 denkt, dann kommt einem die Frage nach der Art seines Verhältnisses zur Wirklichkeit sicherlich nicht gerade als Erstes in den Sinn. Seine übergroße Masse besteht nun einmal aus Fastnachtspielen, und die standen das 19. Jahrhundert hindurch und auch noch in Teilen des 20. Jahrhunderts unter dem moralisch-ästhetischen Verdikt, in ihrer Mehrheit nichts anderes als lustvoll breitgetretene Schweinereien zu sein. Zu dieser Einschätzung waren Literarhistoriker und Interpreten seinerzeit auf Grund von Beobachtungen gelangt, die sie ihrer ausschließlich dem Stofflichen der mittelalterlichen Spiele zugewandten Aufmerksamkeit verdankten und die sie, ihrer eigenen Zeit verhaftet, vom Standpunkt bürgerlicher Wohlanständigkeit her bewerteten. Seitdem hat man sie auch aus anderen, moralisch nicht anstößigen Blickwinkeln anvisiert. Auch von diesen sind einige jedoch nicht unproblematisch – z. T. ideologisch befrachtet der volkskundliche bis völkische (Stumpfl2), teilweise ahistorisch der sozialgeschichtliche (Merkel3), während andere wie der von einem zeitgebundenen Geschmacks-Vorurteil unvorbelastete literaturwissenschaftliche (der u. a. zur Gruppierung der Spiele nach ihrem Aufbau führte: Catholy,4 Simon5) und der kulturgeschichtliche (der sie als Bestandteil des in den christlichen Jahreskalender eingebundenen Gegenfestes der Fastnacht versteht: Moser6) sich als fruchtbar und erkenntnisfördernd erwiesen. Insgesamt wird das * Der Eröffnungsvortrag erscheint hier in wesentlich erweiterter und durchgehend mit Nachweisen versehener Form. 1 Ich zitiere es im Folgenden nach den beiden großen Sammelausgaben: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966. Zitiert mit Sigle K + Nr., ggf. Seiten- und Zeilenangaben; Sterzinger Spiele. Nach Aufzeichnungen des Vigil Raber, hg. v. Oswald Zingerle, 2 Bde., Wien 1886 (Wiener Neudrucke 9, 11). Zitiert mit Sigle Z + Nr., ggf. Versangaben. Alle übrige Primär- und Sekundärliteratur wird in den Anmerkungen (ggf. mit Rückverweis auf die Erstnennung) nachgewiesen. 2 Robert Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas, Berlin 1936. 3 Johannes Merkel, Form und Funktion der Komik im Nürnberger Fastnachtsspiel, Freiburg i. Br. 1971 (Studien zur deutschen Sprache und Literatur 1). 4 Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea NF 8). 5 Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124). 6 Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht−Fasching−Karneval. Das Fest der ‘Verkehrten Welt’, Graz [usw.] 1986.

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Hansjürgen Linke

literarisch-theatralische Phänomen Fastnachtspiel heute differenzierter und vielseitiger als im 19. Jahrhundert gesehen, sachlich-nüchtern und nicht mit emotionalen Geschmacksurteilen belastet. Nach der Wirklichkeitsbeziehung in den weltlichen Spielen des späten Mittelalters zu fragen, erscheint gerade, weil ihr Gros auf die oft grobe Verzerrung, wo nicht überhaupt auf die Verkehrung der Realität aus ist, durchaus sinnvoll. Es ist nicht nur legitim, sondern geradezu geboten zu untersuchen, was in den Spielen wahrgenommen, wie es wahrgenommen und wie die Wahrnehmung textlich und theatralisch umgesetzt und vermittelt wird. Es sind im Wesentlichen sieben Wirklichkeitsbereiche, denen die weltlichen deutschen Spiele des Spätmittelalters ihre Themen entnehmen: der religiöse, der öffentliche mit einem geschichtlichen und einem politisch-sozialen Feld und der private mit den Sektoren des Handels- und Arbeitslebens und des häuslichen, des Familienlebens unter den Aspekten Liebe, Sexualität, Ehe und Kindererziehung. I. Wahrnehmungs-Bereiche I.1 Der religiöse Bereich Religiöse Anschauungen reichen in alle Lebensbereiche hinein. Hier soll es zunächst nur um diejenigen gehen, welche die Religion selbst und ihre Institutionen, d. h. die Kirche und die von ihr geregelten Glaubensvollzüge betreffen. Der Blick der weltlichen Spiele darauf ist durchweg kritisch. Dass dies schon lange vor Luther so ist, überrascht nicht; reicht doch die religiöse Unruhe, die nicht Deutschland allein, sondern den Kontinent überhaupt erfasst hat, bereits ins ausgehende 14. und ins 15. Jahrhundert zurück – Stichworte etwa John Wycliffe (vor 1330–1384) und die Lollarden sowie Jan Hus (um 1370 [?]–1415) und die Böhmischen Brüder. Der allenthalben sich regende geistige Aufbruch zu neuen religiösen Horizonten, die nicht wie die traditionellen zu kirchlichen Institutionen und Hierarchien erstarrt waren, schlug gelegentlich in sozialrevolutionäre Bewegungen bis hin zur Schwarmgeisterei um. Will-Erich Peuckert hat deswegen das 15. Jahrhundert im Untertitel zu seinem Buch ‘Die große Wende’7 als »das apokalyptische Saeculum« bezeichnet. Der Gegensatz zwischen der christlichen Religion und nichtchristlichen Glaubenslehren ist nur vergleichsweise selten Gegenstand von Fastnachtspielen. Vor allem hat ihn Hans Folz in Nürnberg in drei Spielen thematisiert, von denen K 1 ›Die alt und neu ee‹ signiert ist, während K 20 ›Die Juden und der Antichrist‹ (Schreibertitel ›Ein Spil von dem Herzogen von Burgund‹) und K 106 ›Kaiser Constantinus‹ ihm nur zugeschrieben werden.8 Anscheinend ebenfalls in Nürnberg wurde mit ›Des Entkrist 7

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Will-Erich Peuckert, Die grosse Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther, unveränd. Nachdr. der Ausg. Hamburg 1948, Bd. 1 u. 2, Darmstadt 1966 (Billige Wissenschaftliche Reihe). Die Zuschreibung von K 20 erfolgte durch Victor Michels, Studien über die ältesten deutschen Fastnachtspiele, Strassburg 1896, S. 214, 239f. (Quellen und Forschungen zur Sprach-

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Vasnacht‹9 im 15. Jahrhundert ein ursprünglich alemannisches, höchstwahrscheinlich Zürcher Spiel bereits aus dem 14. Jahrhundert zum Fastnachtspiel umgearbeitet. In den Spielen dieser Gruppe werden die nichtchristlichen Religionen mitunter in einen Topf geworfen und ihre Vertreter pauschal und damit unscharf als Heiden verstanden, so dass nicht immer eindeutig ist, ob es sich bei ihnen nun um Anhänger der jüdischen, muslimischen oder antiken Religion handelt10 oder aber diese Religionen sogar miteinander vermengt werden. So lässt Hans Folz in dem ihm zugeschriebenen Fastnachtspiel K 106 ›Kaiser Constantinus‹ die Kaiserinmutter Ellena ahistorisch einen rabi (passim) gegen ihren vom jüdischen glauben (S. 796,10) zum Christentum übergetretenen Sohn als Disputanten antreten. Offenkundig verdrängt hier der lokal genährte antisemitische Affekt des Autors und seiner Umwelt die historische Wahrheit. Obgleich er den Talmud – von ihm abschätzig als das schentlich puch Talmut bezeichnet11 – und mit dem Targum (K 1, S. 4,32) die Bezeugung der geläufigsten rabbinischen Bibelauslegung kennt,12 nimmt er die Juden und ihre Religion doch nur durch die Brille des christlichen Vorurteils wahr. Er bedient die gängigen Klischees, wenn er ihnen außer Spiel- und Vergnügungssucht mit Faulheit (also acedia), Unmäßigkeit im Essen (also gula), Wucher (also avaritia), ira und invidia in der spezifischen Form von Christenhass und -neid13 und Ressentiment gegen die Christen wegen ihrer Dominanz (K 20, S. 171,29–172,9) eine ganze Reihe von Gravamina anlastet, die nach christlichem Verständnis Todsünden sind, ihnen angeblich religiös gebotene tägliche Verfluchung der Christen unterstellt (K 1, S. 17,18–26) und sie endlich schwerer Verbrechen beschuldigt: des Güter- und Vermögensraubs an Christen (K 20, S. 180,4), deren vorsätzlicher gesundheitlicher Schädigung durch ärztliche Falschbehandlung

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und Culturgeschichte der germanischen Völker 77). Die Zuschreibung von K 106 sicherte Helmut Lomnitzer, Das Verhältnis des Fastnachtspiels vom ›Kaiser Constantinus‹ zum Reimpaarspruch ›Christ und Jude‹ von Hans Folz, ZfdA 92 (1963), S. 277–291. K 68: Maßgeblich ediert und untersucht von Friederike Christ-Kutter, Frühe Schweizerspiele, Bern 1963 (Altdeutsche Übungstexte 19). Text: S. 41–61, Untersuchung: S. 30–40, bes. S. 32–34. Vgl. die Inhaltsangabe des Lübecker Spiels von 1469 ›van twen konygen, de eyne was kersten und de andere was heyden, und de kersten koningk de behelt den strit‹. Die Lübecker Spiele hier und inskünftig zitiert nach Simon [Anm. 5], S. 394–417, hier S. 401 (Nr. 212). K 1, S. 2,34; S. 22,20. Zu Folzens Hebräischkenntnissen und ihrer möglicherweise mündlichen Übermittlung durch einen Juden siehe Moriz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des 14. und 15. Jahrhunderts, 2. Aufl., Amsterdam 1966 [11888 Wien: Holder] (Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der Neuzeit 3), S. 204–206. – Vgl. ferner auch Martin Przybilski, Zu den Hebräischkenntnissen des Nürnberger Fastnachtspieldichters Hans Folz, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 233 (1996), S. 323– 326, und Winfried Frey, Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters, Aschkenas, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 2 (1992), S. 49–71, hier bes. S. 62–71. K 1, S. 32,3–9; vgl. S. 16,19–27. K 20, S. 180,2/3.

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(K 20, S. 180,5/6) und vor allem des Raubs und der rituellen Tötung christlicher Kinder, deren Blut anschließend von den Juden getrunken wird.14 Die dergestalt verzerrt dargestellten Juden werden auf vielfache Weise herabgesetzt: als drifach hurnkinder beschimpft,15 zu Tier- und sogar Teufelsverwandten herabgewürdigt (K 1, S. 19,7–20,15) und aufs unflätigste lächerlich gemacht – teils verbal durch ihre eigene Geschichtserzählung davon, wie sie im gelobten Land auf der Flucht beinahe im Urin der hinter ihnen her brunzenden Riesin ertrunken seien (K 1, S. 21,3–16), teils dramatisch dadurch, dass sie auf der Bühne unter die Sau gelegt und vom Narrenpaar unter gemeinsten Reden entblößt und ausgeplündert werden (K 20, S. 185,29–188,26). So menschlich zutiefst erniedrigt und den blutrünstig-unflätigen Straffantasien von Christen und – angeblich – selbst Heiden ausgesetzt (K 20, S. 181,13–185,5), werden sie schließlich religiös dadurch erledigt, dass sie wie in den geistlichen Spielen – dem lateinischen Tegernseer ›Ludus de Antichristo‹ aus der Zeit zwischen 1160 und 118616 und dem volkssprachigen Antichristspiel, das dem 1517 aufgeführten ›Churer Weltgerichtspiel‹ angefügt ist17 – entweder in gutem Glauben auf den Antichrist als den falschen Messias hereinfallen18 oder aber sogar gestehen müssen, dessen Erscheinen arglistig selbst vorgetäuscht zu haben (K 20, S. 179,23– 180,27). Jedoch werden auch die Christen – und zwar Laien wie Geistliche – und ihr religiöses Verhalten in manchen Fastnachtspielen recht kritisch gesehen. In den Lübecker Spielen, die eine erzieherische, auf den bürgerschaftlichen Zusammenhang zielende Neigung und demgemäß eine stärker positiv gestimmte Grundhaltung haben als die oberdeutschen, werden mehrfach die Tugenden19 thematisiert, sowohl ethische wie Rechtschaffenheit20 und Wahrhaftigkeit21 als auch politische und soziale wie Herr14

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K 1, S. 4,17/18; K 20, S. 180,7–12. – In diesem Zusammenhang ist auch der von jüdischen (nicht heidnischen) Ärzten gemachte Behandlungsvorschlag zu erwähnen, den vom Aussatz befallenen Kaiser Constantinus durch ein Bad im Blute von 3000 eigens dazu getöteten unschuldigen Kindern (keüsch und rein) zu heilen, den der Patient allerdings ablehnt (K 106, S. 797,9–13). K 1, S. 27,32/33; S. 28,9–29,31. Ludus de Antichristo, hg. v. Gisela Vollmann-Profe, Bd. 1 u. 2, Lauterburg 1981 (Litterae 82.I.II.), hier Bd. 2, V. 300a–328. Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe, hg. v. Hansjürgen Linke, Bd. I u. II.1/2, Tübingen/Basel 2002, hier S. 696/697, V. 1371a–1417. K 20, S. 171,27–176,30. ›Des Entkrist Vasnacht‹, in: Christ-Kutter [Anm. 9], V. 160–190. 1439: ›De viff dogede‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 181); 1483: ›wor de rechte adel inne is, also entliken in den dogeden‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 225). 1484: ›van der rechtverdicheyt‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 226). Da einzig in diesem Falle nicht nur der Titel, sondern auch der Text erhalten ist (wenngleich in bearbeiteter Form), lässt sich aus dem jeweiligen Kontext bestimmen, dass mit dem Ausdruck rechtverdicheyt sowohl die allgemein individuelle Rechtschaffenheit als auch die spezielle Herrschertugend der Gerechtigkeit gemeint ist. 1486: ›van der warheyt‹, wo se in der werlde alderwegen vorstoth unde vorschaven ward unde doch noch int ende wedder hoch vorhaven unde gheeret ward, deme se grote rikedage unde ghelukke thobrachte (Simon [Anm. 5], Nr. 227).

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scher-22 und Bürgertugenden.23 Gleichwohl können auch diese Spiele ihre Augen nicht vor dem Zeiten- und Wertewandel24 verschließen und kommen nicht umhin zu bemerken, dass die ideellen Werte von den materiellen bedrängt werden,25 weil sich rücksichtslos egoistisches,26 nur auf den eigenen Vorteil bedachtes27 und um die dazu gebrauchten Mittel wenig bekümmertes Handeln und Verhalten28 gegen die Ersteren durchsetzt. Auch in den Lübecker Spielen wird deswegen Glaubensverlust29 und in dessen Folge auch Liebeseinbuße festgestellt.30 In dem Nürnberger Fastnachtspiel K 2 ›Der falsche Pilger‹ treibt ein Betrüger Missbrauch mit dem kirchlichen Institut der Pilgerreise, indem er vorgibt, auf einer Wallfahrt nach Aachen gleich zweimal unter die Räuber gefallen und von ihnen ausgeplündert worden zu sein. Auf die christliche Tugend der caritas spekulierend, appelliert er an das Mitleid der Anwesenden, ihn mit Kleidern und Geld neu auszustatten. Einer unter diesen entlarvt ihn jedoch als jemanden, der all das Seine im Glücksspiel und mit Huren durchgebracht hat. Weil er seine Spielschulden nicht bezahlen konnte, haben ihm seine Kumpane erst die Kleider gepfändet und zu guter Letzt ihn selbst in den Nürnberger Fischbach geworfen. Ein gutes Dutzend Fastnachtspiele ist der komische Reflex einer in Wahrheit lebensbedrohenden Sache: des Teufelsglaubens und insonderheit des Hexenwahns der Zeit. Hauptperson ist in ihnen – allein oder mit gleichgearteten Gevatterinnen – ein hexenhaft böses altes Weib, öfter zugleich kupplerisch und zauberkundig.31 Ohne zu zagen nimmt sie es selbst mit dem Teufel oder sogar mit der ganzen Hölle auf und behält schließlich die Oberhand. In unterschiedliche Handlungen eingekleidet, sind die entsprechenden Spiele im Grunde dramatische Metaphern für die Sentenz: ‘Ein böses altes Weib ist schlimmer als der Teufel’ bzw. ‘schlimmer als die Hölle’. Zwar findet man dergleichen auch in den Lübecker Spielen;32 aber ihre Mehrzahl stammt doch aus Tirol (siehe Anm. 31), wo die Figur mit der Karriere junge Hure – 22

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1481: ›van dren dogeden‹: Dat erste, dat men dencke, ende mot de last dregen, ock scal me[n] woldaet nicht vorgeten (vgl. 1497: ›van der undancknamicheyt‹, Simon [Anm. 5], Nr. 239), unde dat ock wies rat better is wen grote starcke (Simon [Anm. 5], Nr. 223). 1489: ›dree puncte holden eyn lant yn eyn gud bestant, als wol vorseen, underschet unde truwe‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 230). 1492: ›van der endracht‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 233). 1493: ›tys vorkert, dat plach syn‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 234). 1495: ›de leve vorwynte alle dynck, der weddersprek der penynck‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 236). 1497: ›van der undancknamicheyt‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 239). Vgl. dagegen 1481: [. . .] ock scal me[n] woldaet nicht vorgeten [. . .] (Simon [Anm. 5], Nr. 223). 1487: ›en iderman in synen sack‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 228). 1499: ›van droegherie unde wockerie‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 244). 1496: ›de love wort gesocht unde nycht gefunden‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 237). 1515: ›de love wort in allem state ghesocht unde nicht ghefunden‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 282). 1482: ›van der leve‹, wo de nemant rechte foren konde, behalven ene juncfruwe, de was ghenomet de love. De vorde se rechte na uthwisunge des spels (Simon [Anm. 5], Nr. 224). K 19, 56, 57. In abgeblasster Form tritt die Figur in einer Nebenrolle als streitbare Mutter auf, die ihre mannbare Tochter an den – unwilligen – Mann bringen möchte: Z 5, 8. 1462: ›van deme olden wive, de den duvel banth‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 205) und 1470: ›van

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alte Kupplerin und Zauberin, die als Teufelsdienerin das Geschäft der amor inordinata in ihren verschiedenen Formen lebenslang besorgt hat, regelmäßig auch in den großen geistlichen Spielen, und dort natürlich unter den Verdammten, auftritt: in Lienhard Pfarrkirchers ›Sterzinger Passion‹ (1486), in der ›Haller Passion‹ (1511), in der ›großen Bozner Passion‹ und in der Bozner ›Raber-Passion‹ (beide 1514) sowie in der ›Brixner Passion‹ (1551).33 Diese gehäufte Erscheinung in Tirol ist kein Zufall. Hier hatte ein Innsbrucker Hexenprozess 1485 dem Dominikaner Heinrich Institoris den Anlass zur Abfassung des berüchtigten ›Malleus maleficarum‹ (‘Hexenhammer’) gegeben,34 der, 1487 in Straßburg (oder Speyer) gedruckt, bis 1669 immerhin 28 weitere Druckauflagen erlebte und dessen 3. Teil bis eben ins ausgehende 17. Jahrhundert als Strafcodex der Gerichtspraxis bei Hexenprozessen in ganz Mitteleuropa diente. Die einschlägigen Fastnachtspiele sind vor diesem Zeithintergrund zu sehen. In ihnen wurde wahrlich mit Entsetzen Scherz getrieben – ein illustratives Beispiel für meine an anderer Stelle35 getroffene Feststellung, dass es für die Zeit eher auf den Aspekt als auf die Substanz einer Sache angekommen ist, ob sie ein Spiel als geistliches oder als weltliches eingestuft hat. Die Wahrnehmung der christlichen Geistlichkeit ist in den Fastnachtspielen facettenreich aufgespalten. Die in den Spielen von ›Rumpold und Mareth‹ während eines Deflorationsprozesses dem Vater des beklagten Rumpold in den Mund gelegte, angeblich unter dem Volk verbreitete Ansicht, die Richter des geistlichen Gerichts seien bestechlich, wird von diesen in allen vier Versionen durch Rede und Tat grob und empört zurechtgerückt.36 Ihre Rechtlichkeit wird nirgends in Zweifel gezogen. Demgegenüber herrscht gleich nach der Reformation (und wohl nicht erst dann) im Fastnachtspiel ›Die zwen Stenndt‹ (Z 25) unter den Tiroler Bauern eine rebellische Stimmung, die sich vor allem aus dem Müßiggang und angeblichen Wohlleben der als allzu zahlreich und drohnenhaft empfundenen Bettelordens-Brüder nährt (Z 25, V. 295–373). Die niederen Kleriker erscheinen allgemein als von der Libido beherrscht und bereit, zumindest den Zölibat, mitunter in Tateinheit damit auch das 6. Gebot (‘Du

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den dren getruwen‹, de ene wolde starven vor de anderen. Unde ock van eynem olden wive unde van de duvele, de fochten tosamde umme eyne schat, de begraven was. Unde dat olde wiff vorwan den duvel unde sloch en unde banth en sere (Simon [Anm. 5], Nr. 213). Dazu außerhalb Tirols auch im mischsprachigen ›Wiener (bairischen) Passionsspielfragment‹ (Anfang 14. Jh.), das auf einer rheinfränkischen Vorstufe beruht. – Einzelbelege siehe Hansjürgen Linke, Verantwortung. Ein zentrales Thema im mittelalterlichen deutschen Drama, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 139–165, hier S. 155, Anm. 91–94. Die Mitwirkung des Inquisitor-Kollegen Jacob Sprenger daran ist umstritten, siehe 2VL Bd. 4, 1983, Sp. 408–415, bes. Sp. 410. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskriterien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75–126, hier S. 112. ›Rumpold und Mareth‹ I-IV: K 130, Nachlese S. 256,21–257,12; K 115, S. 1000,15–1001,9; Z 1, V. 303–324; Z 8, V. 468–493. Vgl. auch die versuchte Bestechung des als Richter angerufenen Königs in K 8b, S. 78,34–79,1.

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sollst nicht ehebrechen!’), zu übertreten.37 Das ausführlichste Beispiel dafür stellt das in zwei Handschriften überlieferte Tiroler Fastnachtspiel ›Die zwen Stenndt‹ auf die Stubenbühne, das bald nach der Reformation entstanden ist.38 Der Sohn des Dorfrichters, Martine, der in Wien vor dem Burgtor bei einer anrüchigen Bygein, hieß vrich (V. 472), [. . .] In fudibus [. . .] plui quam In theologicalibus (V. 479/480) studiert und so sein mütterliches Erbteil nahezu zur Gänze durchgebracht hat (V. 433), ist von der dortigen Universität als Baccalaureus heimgekehrt und steht nun vor der Wahl, ob er geistlich werden oder weltlich bleiben solle. In seiner Ungewissheit, den Zölibat einhalten zu können (V. 544/545), ermuntert ihn der Dorfpfarrer, der ihn gern zu seinem Nachfolger aufbauen möchte, seinen Zweifel auf die leichte Schulter zu nehmen – Si non caite, tamen caute (V. 548) –, und malt ihm anhand seines eigenen Beispiels ein verlockendes Bild sexueller Freizügigkeit aus, wie sie ihm die (Ein-)Ehe niemals zu bieten vermöchte. Er habe im Jahr sechs oder sieben Köchinnen; sobald ihm eine nicht mehr gefalle, lege er sich eben zu einer anderen (V. 550–554). Über die Durchführung dieses Themas vielseitig hinausgehend, fängt das Spiel im Gefühl der Bedrohung durch die andauernde Türkengefahr, im Nachhall der Tiroler Bauernunruhen von 1525, in der religiös-rebellischen Stimmung der Bauern (Z 25, V. 295–373), in der sozialrevolutionären Aufmüpfigkeit des Freyhart (eines entlaufenen Mönchs), in den Klagen der gedrückten niederen gegen die im Wohlleben schwelgende hohe Geistlichkeit und im Hader zwischen Klerus und weltlicher Macht die Atmosphäre einer religiös und politisch unruhigen Zeit ein. Die Kritik der aufmüpfigen Bauern entzündet sich besonders am Ablasshandel (V. 227/228) und an der Anhäufung weltlicher Güter und weltlichen Besitzes durch die Kirche überhaupt, speziell aber der Klöster (V. 212–227), trifft dann aber auch Kirche und Papst ganz allgemein (V. 148– 173) und wird schließlich vom Freyhart aus lutherischer Perspektive mit der Forderung nach Glaubensvermittlung sola scriptura verschärft (V. 174–187). Bei der Darstellung des höheren und vollends des hohen Klerus in den Fastnachtspielen treten ihre geistlich-kirchlichen Funktionen gänzlich hinter ihrem weltlichen Verhalten zurück. Beide werden als verweltlicht gezeichnet: dem Wohlleben hingegeben,39 mit Silber und Gold bestechlich40 und durch Simonie korrumpiert.41 Die 37

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In K 57 ›Gescheiterte Teufelskuppelei‹ ist ein einfacher Pfaffe, in K 37 ›Domherr und Kupplerin‹ sogar der Siegler (Notar) des Bischofs von Bamberg zu beidem ohne weiteres bereit, auch wenn das in beiden Fällen dann nicht zustande kommt. In ›Des Entkrist Vasnacht‹ (ed. Christ-Kutter [Anm. 9]) rät der Kaplan seinem Bischof, als Gegenleistung für die Anerkennung des Antichrist als Messias die Aufhebung des Zölibats zu fordern (V. 389–396). Z 25. – Entgegen anderslautenden Überlegungen, die ich an früherer Stelle angestellt hatte (Hansjürgen Linke, Die beiden Fassungen des Tiroler Fastnachtspiels ›Die zwen Stenndt‹, in: Daphnis 14 [1985], S. 178–218, hier S. 212–217), dürfte sich die Aufführungs-Datierung Actum 25 am Ende der Hs. A auf Fastnachtsdienstag, den 25. Februar 1533 beziehen. Der Abt in K 22 ›Kaiser und Abt‹ (S. 200,10/11) und in ›Des Entkrist Vasnacht‹ ebenfalls der Abt Gödlein Waltschlawch mitsamt seinem Konvent (Christ-Kutter [Anm. 9], V. 406– 427) und dem Bischof Gugelweyt von Luzern (ebd. V. 363) huldigen der Völlerei mit Essen und Trinken. Vgl. die Klagen über Müßiggang und Wohlleben der Mönche in Z 25 ›Die zwen Stenndt‹ (V. 295–373). ›Des Entkrist Vasnacht‹ (Christ-Kutter [Anm. 9], V. 370). K 39 ›Des Türken Fastnachtspiel‹, S. 294,7/8.

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Pfaffen sitzen realiter und metaphorisch auf einem hohen Ross,42 die Bischöfe treten statt in geistlichem Ornat als Kriegsleute gerüstet auf,43 weil sie als Territorialfürsten machtpolitisch in die Welthändel verstrickt44 und darüber und wegen der daraus erwachsenden Rivalitäten zu Räubern geworden sind,45 die ihre eigenen Untertanen aussaugen und mit Raub und Brand unterdrücken,46 um dergestalt auf Kosten der anvertrauten Herde ihren partikularen Egoismus gewalttätig ausleben zu können.47 Bei einem derartigen Zustand der Christenheit ist es nicht weiter erstaunlich, wenn in dem Rosenplüt zugeschriebenen Stück K 39 ›Des Türken Fastnachtspiel‹ dem Papst und den Bischöfen religiöses Versagen vorgeworfen wird (S. 294,3/4) und in dem ebenfalls Rosenplüt oder einer Rosenplüt-Schule zugerechneten Spiel K 78 ›Klerus und Adel‹ unterschiedslos geistliche und weltliche Obrigkeiten der Kritik unterzogen werden: Der pabst, der kaiser [. . .] Darzue der künig und der cardinal, Fürsten, pischoffen und grafen auf dem sal, Darzu ritter und auch knecht [.] (S. 642,7–10).

Sie alle haben sich versammelt, um die mannigfach gestörte Ordnung im Reich (und in der Kirche) wiederherzustellen. Das ‘Volk’ misstraut jedoch – wie sich später im Spiel zeigt: zu Recht – der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit beider Obrigkeiten und bleibt ihrem Unterfangen gegenüber skeptisch: [. . .] die innhalten das recht, Die wollen hie all sach schlecht machen. Geschicht das, so müg wir alle wol lachen (S. 642,11–13).

I.2 Öffentliches Leben I.2.1 Der politisch-staatliche Bereich Der weltliche Adel vom Kaiser herab bis zum Ritter wird in den Fastnachtspielen einer Kritik ausgesetzt, in der zwei Momente, ein gesellschaftliches und ein ökonomisches, untrennbar miteinander verknüpft sind. Beide, Kaiser und Adel, leben wirtschaftlich von der Substanz: Sie versetzen Burgen, Städte und Ländereien.48 Wenn der Adel die Ressourcen, deren er sich so begeben hat, nicht wieder einlösen kann, greift er zur Gewalt.49 Fürsten, Grafen und Ritter, die eigentlich die öffentliche Sicherheit gewährleisten und für die Wahrung der staatlichen Ordnung sorgen sollten (K 51, 42 43 44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 296,17/18. K 78 ›Klerus und Adel‹, S. 643,12/13. Ebd., S. 643,24–27. Ebd., S. 645,5–8. Ebd., S. 643,5–8. Ebd., S. 642,16–21. Ebd., S. 646,28. ›Des Entkrist Vasnacht‹, Christ-Kutter [Anm. 9], V. 245/246. K 51, S. 381,9/10; K 78, S. 646,30/31.

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S. 381,3–6), vermehren im Gegenteil Unfrieden und Chaos im Reich (K 78, S. 645,28– 646,1). Die Territorialfürsten betreiben skrupellos partikularistische Machtpolitik.50 Mit Raub und Brand, Folter und Mord51 überziehen sie nicht allein die unterdrückte Bevölkerung, sondern scheuen auch vor Willkür gegenüber Adelsgenossen und widerrechtlicher Usurpation ihres Landes nicht zurück (K 78, S. 644,2326) und üben endlich unter Umgehung des Kaisers ebenso selbstherrlich wie gewalttätig Selbstjustiz (K 78, S. 645,5–22). Dass es den Ritter ohne Furcht und Tadel, so, wie er sein und handeln soll, noch gibt, weiß man zwar in den weltlichen Spielen;52 aber er tritt in ihnen nicht auf.53 Allerdings ist auch sein Zerrbild, jener verluderte Typ, der seine Bauern aussaugt oder als Raubritter die Kaufleute auf der Straße ausplündert (K 51, S. 380,31–381,2), zwar gekannt, tritt aber auf der Stubenbühne nicht in Erscheinung. Der Ritterstand gilt in den Texten vielmehr als dermaßen obsolet, dass man über seine einzelnen Vertreter nur noch lachen kann. Als in dem Rosenplüt zugeschriebenen Spiel K 75 ›Die feigen Ritter‹ der (griechische) Kaiser die Einsatzwilligkeit und Tüchtigkeit seiner Ritter auf die Probe stellt, ist nur ein einziger aus der ganzen Schar bereit, mit ihm gemeinsam Leib und Leben einzusetzen.54 Die anderen gebrauchen teils unterschiedliche Ausflüchte, um sich nicht an der Front geschweige denn gar an der Spitze des Heeres exponieren zu müssen.55 In dem ebenfalls Rosenplüt zugeschriebenen Reihenspiel K 47 ›Wie man Ritter wird‹ werden die Vertreter dieses Standes gleich auf doppelte Weise als Maulhelden bloßgestellt. Neun Ritter passieren Revue und geben jeweils an, welchen Qualitäten sie ihre Ritterwürde verdanken. Einerseits sind das überhaupt keine militärischen, sondern gesellige Fähigkeiten wie Frauendienst, Singen, Tanzen und Springen, allenfalls sportliche wie Ringen, Fechten und im Passgang Reiten, und endlich ästhetische Vorzüge wie Fülle und Schönheit goldgelockten Haares; andererseits können selbst diese fragwürdigen Qualifikationen unter Vorwänden meist nicht unter Beweis gestellt werden – das kostbare Lockenhaar muss vor der Witterung unter einem Hut geschützt werden, der Sänger ist heiser, der Ringer hat sich den Rücken verrenkt, der Springer das Bein verletzt, von den zwei 50 51 52 53

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K 22, S. 199,1–201,17; K 78, S. 644,13–20,23–26; S. 645,5–22. K 22, S. 199,8–11; K 78, S. 644,14–18. K 75, S. 638,24–32; S. 639,9–19. Der Ritter Degenhart als Ratgeber des Kaisers in ›Des Entkrist Vasnacht‹ (Christ-Kutter [Anm. 9], V. 282–292) ist die – einzige – Ausnahme, welche die Regel bestätigt. K 75, S. 638,24–32. Die Rede steht in Kellers Ausgabe unter der falschen Rollenbezeichnung DER KAISER. Doch ist dieser lt. Z. 31/32 eindeutig das angeredete Gegenüber des Sprechers, der also entweder ein achter Ritter oder mit dem ersten identisch sein muss. Der vierte Ritter schützt Höflichkeit vor: er müsse doch dem Kaiser den Vortritt lassen (S. 637,19–24); der sechste und siebente möchten den Train bewachen (S. 638,9–14,18–22); der dritte gibt sich zwar bereitwillig, stellt aber drei unerfüllbare Bedingungen (S. 637,9–15: [1.] nicht an der Spitze gehen, [2.] lebend davonkommen, [3.] unverletzt bleiben); der fünfte gesteht offen ein, lieber fliehen zu wollen (S. 637,25–33) und der zweite entzieht sich seiner öffentlichen Verantwortung durch Rückzug in sein Privatleben, das ihm jetzt schon mehr biete, als er durch die Teilnahme an einem Krieg gewinnen könnte (S. 636,30–637,1).

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Hansjürgen Linke

Fechtern hat sich der eine die Hand übergriffen, und der andere trägt den Arm in der Binde –, so dass es vollends zweifelhaft bleibt, ob die behaupteten Qualitäten überhaupt vorhanden sind. Bei der kritischen Darstellung der in politischer, sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Beziehung tadelnswürdigen Zustände in Reich und Kirche wendet ›Des Türken Fastnachtspiel‹ (K 39)56 bereits einen Kunstgriff an, der erst mehr als zwei Jahrhunderte später durch Montesquieus ›Lettres persanes‹ (1721) von der französischen Aufklärung ausgehend in der abendländischen Literatur in Übung kommt: das Heimische durch die Augen und aus der Perspektive des Fremden zu sehen. Es macht sich dazu einen aktuellen und bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts (nämlich bis zur zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683) aktuell bleibenden historischen Vorgang zunutze. Seit dem Fall Konstantinopels (29. Mai 1453) – auf den im Stück angespielt wird (K 39, S. 299,15) – und damit mit dem Ende des oströmischen Reiches setzt mit Heftigkeit die Westexpansion des osmanischen Reiches ein. Unter Sultan Mohammed II. dem Eroberer (1451–1481) und seinen Nachfolgern, insbesondere unter Sultan Suleiman II. dem Großen (1520–1566), dringt es auf dem Balkan unaufhaltsam vor. Von der Schlacht bei Varna (1444) bis 1459 wird Serbien völlig unterworfen; Bosnien wird 1463 osmanische Provinz – und bleibt es bis 1878! Die Steiermark wird 1471– 1480 von türkischen Raubzügen heimgesucht. Die erste Türkenbelagerung Wiens erfolgt 1529. In dieser Situation fällt dem Reich geschichtlich die Aufgabe zu, das christliche Abendland gegen den Islam zu verteidigen; es ist bei seiner inneren Verfassung dazu jedoch kaum imstande. Die Türkengefahr wird in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fastnachtspielen als Strafe für das staatlich-politische und das kirchlichreligiöse Versagen der Christen verstanden,57 dem die Zwietracht zwischen geistlichem und weltlichem Regiment noch zugunsten der Türken Vorschub leistet (Z 25, V. 228–235). Der Türkenherrscher selbst wird als Reformator der Christen und Instrument der Züchtigung durch Gott gesehen (K 39, S. 297,2–4). Aus diesem Grunde werden die Zustände im heidnisch-türkischen Reich denen im christlich-deutschen gegenübergestellt. Dabei wird die Situation im osmanischen Reich dargestellt als ein Leben in Frieden (S. 288,10) und Steuerfreiheit (S. 288,12). Das Erstere entspricht der historischen Realität, das Letztere keineswegs.58 Das ist ein Hinweis darauf, dass die literarische Darstellung der Verhältnisse im osmanischen 56

57 58

Hierzu besonders Glenn Ehrstine, Fastnachtsrhetorik. Adelskritik und Alterität in ›Des Turken Vasnachtspil‹, Werkstatt Geschichte 37 (2004), S. 7–23. K 1, S. 18,15–21; Z 25, V. 193–201. Auf historische Richtigkeit kommt es in diesem Zusammenhang aber auch nicht an. Dass die Nürnberger Spielverfasser die geschichtliche Wirklichkeit der Türkenherrschaft besser kennen, als sie sie hier darstellen, zeigt in Folzens Spiel ›Die alt und neu ee‹ (K 1) die Rede des christlichen Theologen zu seinem rabbinischen Disputationspartner, in der er ihn an den – nicht allein materiellen – Ruin der unter Türkenherrschaft lebenden Juden erinnert (K 1, S. 18,22–31). Wenn das Leben unter den Osmanen in K 39 anders gezeichnet wird, so heißt das nur, dass der Verfasser mit dieser Darstellung eine bestimmte Absicht verfolgt.

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Reich eine Projektion von Wünschen ist, die in der eigenen Lebenswirklichkeit unerfüllt geblieben sind. Das ist aber kein utopischer, sondern ein satirischer Zug: Das Daheim Entbehrte und Vermisste wird ausgerechnet beim an sich – nämlich religiös – verachteten Gegner gefunden, und dort noch dazu in musterhafter Form. Die heimischen Zustände bieten dazu ein negatives Gegenbild. Durch die Augen des Großtürken gesehen herrscht im deutschen Reich – das hier immer stellvertretend für das gesamte christliche Abendland steht – eine Atmosphäre allgemeiner leiblicher und materieller Gefährdung. Sie kommt speziell in der Unsicherheit der Verkehrswege und der damit gegebenen Bedrohung der Bewegungs- und Handelsfreiheit zum Ausdruck: Sich claget der paur und der kaufman, Die mugent keinen frid nit han Bei nacht, bei tag, auf wasser, auf lant (K 39, S. 288,15–17).

Verantwortlich für diesen unheilen Zustand ist die bis zur Perversion getriebene politische, soziale, wirtschaftliche und moralische Unordnung im Reich: Wann das der reich dem armen leugt Und der weis dem narren das guot abtreugt Und der voll den leren nit will speisen Und die glerten und auch gschriftweisen Den leien böse ebenpild vor tragen Und der vater über das kint wirt clagen Und der herr kein frid schickt dem paursman, So hebt der Kristen unglück an (K 39, S. 293,10–17).

Der Großtürke versucht die so diagnostizierte Situation für seine expansiven Absichten fruchtbar zu machen. Aus diesem Grunde erscheint er in der Freien Reichsstadt. Für die geforderte politische Unterwerfung der Christen bietet er eine dreifache Gegenleistung an: (1) wirtschaftlich-materiell die Wahrung des Besitzstandes, (2) innenpolitisch-rechtlich die Wiederherstellung und dauerhafte Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und (3) religiös Glaubensfreiheit und Freiheit der Religionsausübung.59 [Der Herolt und des Großtürken Wapentrager:] So ferr wer sich an in ergeit Und in hier schweren wil und hulden, So wil er ein solchs von in dulden, Das si bei irm gelauben bleiben Mit all iren kinden und weiben, Die will er pei irem gut laßen Und machen frid auf allen straßen (K 39, S. 289,12–18).

Dieses Anerbieten des türkischen Herrschers entkräftet die religiösen Befürchtungen und erweckt Hoffnung auf Wiederherstellung der politisch-sozialen Ordnung, der 59

Das ist kein propagandistischer Dummenfang, sondern entspricht dem tatsächlichen Verhalten der Osmanen. Von einzelnen Übergriffen abgesehen bleibt das griechisch-orthodoxe Christentum unter der Türkenherrschaft unangetastet weiter bestehen.

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Hansjürgen Linke

Rechtssicherheit und der ökonomischen Sicherung und Prosperität. Der Großtürke empfiehlt sich damit als einer, der leisten kann, was Kirche, Kaiser und Reich zu schaffen bisher außerstande waren. Seine Kritik aller möglichen Übelstände formuliert die Aufgaben, die eigentlich der Kirche und der weltlichen Obrigkeit zu erfüllen zufallen. Insofern sind sie auch eine mittelbare Aufforderung an diese Instanzen, sich ihrer anzunehmen. Um ihr Gewissen dafür zu schärfen, vor welchen herkulischen Herausforderungen sie ihre Augen ebenso leichtfertig wie hartnäckig verschlossen haben, lässt der Autor des Spiels die Figuren des türkischen Herrschers und seiner Räte ein bedrückend vielgesichtiges Panorama der Übelstände im Reich entrollen. In religiöser Hinsicht geißeln sie den Abfall vom christlichen Glauben (S. 294,3); in moralischer Vergehen wie Hoffart, Ehebruch (beide S. 293,23), Meineid (S. 294,1) und Untreue (S. 296,11), die weitgehend zugleich auch religiöse Verfehlungen sind; in politischer Mängel des Rechtswesens, der Staatsverwaltung, der Wirtschafts- und Finanzpolitik. An erster Stelle der gerügten Unterlassungen auf dem Gebiete des Rechtswesens steht die Vernachlässigung der Verbrechensbekämpfung durch den u. a. dafür verantwortlich gemachten Adel.60 Indem er dieser seiner Verpflichtung unvollkommen oder gar nicht nachkommt, verspielt er seine gesellschaftliche Legitimation. An zweiter Stelle folgt der Verfall der Rechtspflege (böse gericht S. 296,19) durch bestechliche (falsch) Richter (S. 296,13), die das Recht zugunsten Begüterter beugen.61 Ihm verwandt ist in der Staatsverwaltung die Korruption der Administration durch ungetreu amptleut (S. 296,13). Die Wirtschaftspolitik leidet einerseits unter dem Missbrauch des Münzregals durch die Münzherren, in dessen Folge der Geldwert verfällt (S. 296,12), andererseits im Bereich der Privatwirtschaft unter Auswüchsen des Kapitalismus in Gestalt des überhöhten und moralisch anrüchigen, weil den wirtschaftlich Schwachen aussaugenden und ruinierenden Hochzinses.62 Im Bereich der Staatsfinanzen ächzt die Bevölkerung unter übermäßiger Besteuerung und sachfremder Verwendung der Steuereinnahmen. Die Fürsten bereichern sich persönlich auf Kosten ihrer Untertanen durch beständiges Drehen an der Steuerschraube. Die Kurfürsten höchen alle jar den pauren die gült [Naturalabgaben] (S. 301,1), und die weltliche Obrigkeit schlechthin setzt ständig neu zoll und schwär dätz [drückende Verbrauchssteuern] fest, Davon man samlet haimlich schätz.63 60

61

62 63

K 39, S. 288,15–289,7: Sich claget der paur und der kaufman, Die mugent keinen frid nit han Bei nacht, bei tag, auf wasser, auf lant; Das ist dem adel ein große schant, [S. 289:] Das si ein solchs nit künnen wenden; Man solt die straßenrauber pfenden [ihres Lebens] Und an die paum mit stricken pinden [= aufhängen], So ließens auf der straß ir schinden. Man vecht ein wildes tier im wald, Man vieng ein rauber als pald, Wan man erenstlich nach im stellt. Der Vorwurf gegen den Adel lautet also auf fehlende Ernsthaftigkeit und mangelnden guten Willen bei der Verbrechensbekämpfung. K 39, S. 294,5/6: [. . .] helkuochen [= Schweigegeld zahlen] und hantsalben [= bestechen] vor gericht, Dar mit man eim armen sein recht zupricht. Ebd., S. 293,23; S. 296,15. Ebd., S. 294,9/10. Das gleiche Vorgehen tadelt der Freyhart im Tiroler Spiel ›Die zwen

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Der schwerste Versagens-Vorwurf wird im Spiel nur mittelbar und verhüllt in Gestalt einer rhetorischen Frage erhoben, die der dritte türkische Rat bei der Aufzählung der mannigfachen Missstände im Reich der gesteigerten Eindringlichkeit wegen in kurzer Folge variiert wiederholt: Wo lebt einer, der ein solchs außreut? [. . .] Wo ist einer, der das als abschnid (K 39, S. 296,14,22)?

Der vergeblich Gesuchte, dessen Schwäche und Untätigkeit dafür verantwortlich sind, dass alle aufgezählten Mängel entstehen und sich ausbreiten konnten, bleibt ungenannt, aber nicht ungekannt: Es ist der Kaiser. Weder er noch der Papst oder die Kurfürsten haben der ausgebreiteten Kritik des Großtürken und seiner Räte etwas entgegenzusetzen. Vielmehr ergehen sich ihre Boten in bloßem Geifern und in unflätigen Beschimpfungen. Diejenigen der weltlichen Obrigkeiten erschöpfen sich dabei in der Androhung physischer Martern und Strafen,64 derjenige des Papstes steht ihnen darin in nichts nach (S. 295,17–296,1), überbringt aber noch zusätzlich den in seiner vollkommenen Wirkungslosigkeit lächerlichen Kirchenbann-Fluch seines Herrn (S. 295,19). Die Androhung erniedrigender Peinigungen, die man dem Türken antun möchte, erniedrigt in Wahrheit nur ihre Erfinder. Die unappetitliche Derbheit ihrer Botschaften ist mit der in den Fastnachtspielen allgemein üblichen Lust am Unflat allein nicht hinreichend zu erklären, hat hier vielmehr auch eine dramatisch charakterisierende Funktion. Ausmaß und Intensität der Beschimpfungen sollen durch ihre volltönende Großsprecherei die tatsächliche Hilflosigkeit gegenüber dem Gegner kaschieren. Sie offenbaren gerade, wie sehr und genau sich die Oberhäupter der Christenheit von der Kritik getroffen fühlen. Die Art der Darstellung gibt Papst, Kaiser und (Kur-)Fürsten der Lächerlichkeit, ja der Verachtung als schwächliche Maulhelden preis. Unfähig, etwas gegen den Großtürken zu tun, ergehen sie sich in bloß deklamatorischen Beleidigungen. Mit den rüden Schimpftiraden der drei Boten kontrastiert das Verhalten der Abgesandten des Nürnberger Rats. Sie behandeln den Herrscher über das osmanische Reich ungeachtet seiner Glaubensgegnerschaft und seiner – ja doch nur allzu berechtigten – Kritik an den Zuständen im Reich mit dem ihm gebührenden Respekt, bieten ihm, der im Vertrauen auf das ihm vom Rat zugesicherte freie Geleit nach Nürnberg gekommen ist,65 sogar dessen Verlängerung an (S. 302,3–6) und garantieren es ihm selbstbewusst noch einmal ausdrücklich gegen jedermann, selbst gegen den Kaiser: Allerhöchster rex, allermächtigoster imperator Und aller Türken, Seraphei, heiden gubernator Und der nächst nach dem got Machmet,

64 65

Stenndt‹ (Z 25, V. 202–211); vgl. bes. V. 205/206, V. 210/211: di da rannt vnd zinß drumb nemenn ein, Dauon Sy dj arme vnderthanen beichirmen iollden, [. . .] Wenn Sy Sollen dem turggen weren, So thuen Sy das gellt mit Banggetn verzerrn. K 39, S. 297,17–23; S. 300,1–7. Ebd., S. 292,11/12; S. 301,18; S. 302,11,14.

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Hansjürgen Linke

Wer wider eur keiserliche kron thet, Er wer fürst, herr, burger oder paur, Es müst im neun mal werden zu saur. Der unser gleit an euch zertrent Und wer er kaiser zu Occident, Er wer uns nicht zu ver geseßen, Er muest ein saure suppen mit uns eßen (K 39, S. 301,12–21).

Hier wird deutlich, dass das Stück nicht nur der Rüge aktueller Übelstände im Reich dient, sondern ebenso auch der Demonstration und Verherrlichung der Souveränität und des politischen Gewichts der Reichsstadt Nürnberg.66 Für wie ernsthaft bedroht die Nürnberger die Lage des Reichs halten, geht daraus hervor, dass sie sie letztlich religiös werten. Selbst die ihnen gefährlichen Türken räumen im Spiel ein, dass die Christen bei korrekter Befolgung der biblischen Vorschriften für ein rechtes Leben unüberwindlich wären: Wann sie haben auch ein starken got; Wenn si nit prechen sein gepot, So künd in niemant an gesigen Und würden in allen streiten ob ligen (K 39, S. 292,15–18).

Die logische Folgerung daraus lautet, dass die militärischen Erfolge der Türken gegen die Christen als Anzeichen für deren unchristliche Lebensführung verstanden werden und dahingehend ausgelegt werden müssen, dass Gott seine Hand von ihnen abgezogen hat (S. 293,20/21) und den Türken nicht nur gewähren lässt, sondern sich seiner geradezu als Werkzeug bedient, mit dem er die unbotmäßigen (oder auch nur lauen) Christen züchtigt. Die Züchtigung wird als nahende Katastrophe von apokalyptischen Ausmaßen erwartet: Das will in [den Christen] got nit übersechen Und will sein zorn gen in auf schließen Mit hunger, mit sterben, mit pluotvergießen (K 39, S. 294,12–14).

Die Zerstörung der als zerfallend erlebten alten und die Aufrichtung einer noch ungekannten neuen Ordnung wird nicht allein von außen, durch den Ansturm der Türken, sondern wesentlich auch von innen erwartet: Wan eins und vier und fünf und sechs [= 1456] Ir [der Christen] datum wirt, so kumpt daus es Und straft ses zing vmb die neun stück67 66

67

Ein ganz ähnliches Selbstbewusstsein der Freien und Hansestädter, die langdauernd Probleme mit den skandinavischen, insbesondere den dänischen Herrschern und dem schleswigschen Adel hatten, spricht sich im gleichen Medium im Titel des Lübecker Fastnachtspiels ›van overdaede der forsten unde heren‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 232) aus. Gemeint sind damit die zuvor (S. 293,22–294,11) vom TÜRKISCH KEISER angeführten neun Ursachen, um deretwillen sich Gott an den Christen rächen will, nämlich Hoffart, Wucher, Ehebruch, Meineid, Glaubensabfall, Rechtsbruch durch Bestechung, Simonie, übermäßige Besteuerung aus Eigennutz, Verachtung des einfachen Volks durch die Oberschichten.

Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters

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Auch umb vil böser falscher dück, Wann das der Saturnus der höchst planet Ein in das haus des schützen get, So hilft kein verschlossen tür (K 39, S. 294,15–21).68

Hier wird – wie bereits Michels 1896 gesehen hat69 – für 1456 eine Revolution vorausgesagt, wie sie dann ein Dreivierteljahrhundert später im Bauernkrieg tatsächlich ausbrach, hier aber auf Grund der das gesamte ‘apokalyptische Jahrhundert’ durchziehenden Unruhen bereits für das Jahr nach der zu vermutenden Abfassung des Spiels vorhergesehen wird. Die astrologische Wahrsagung der Empörung der unteren gegen die oberen Schichten, die aus der Konjunktion der Planeten und Sternbilder herausgelesen wird, dient einerseits der Charakterisierung der Heiden als zeichengläubig, andererseits als kosmisches Anzeichen dafür, dass die drohende Umwälzung nicht bloß säkular, sondern von Gott zumindest geduldet, wo nicht gar gewollt ist. Als Ursachen für die gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Ordnungsstörung im Reich, die in den weltlichen Spielen so detailliert beschrieben ist, werden in ›Des Türken Fastnachtspiel‹ (K 39) vornehmlich zwei verantwortlich gemacht, eine religiöse und eine politische. In politischer Hinsicht ist daran der Partikularismus der Territorialfürsten schuld, in religiöser die Verweltlichung des Klerus, durch die zumindest dessen Spitzen wie z. B. Fürstbischöfe und Fürstäbte in die säkularen Machtstrukturen eingebunden sind. In anderen Stücken kommen zwei weitere Ursachen als ebenso schwerwiegend noch hinzu, eine ökonomische und eine soziale. Sie haben ihren Ursprung in gesellschaftlichen Entwicklungen, die beide eng miteinander verknüpft sind. I.2.2 Der ökonomisch-gesellschaftliche Bereich In der Zeit der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Spiele setzt sich die Geldwirtschaft gegenüber der Güterwirtschaft durch. Die produktiv-investive Kapitalwirtschaft verdrängt die feudale Verschwendungswirtschaft, die umso angestrengter in den Dienst an der standesgemäßen Repräsentation von Macht und gesellschaftlicher Stellung gestellt wird, je mehr beide gerade ausgehöhlt werden. In der Folge dieses wirtschaftsgeschichtlichen Vorgangs erfährt der Produktionsfaktor Arbeit gegenüber dem vom Adel nur konsumtiv – als Pfand zur Geldbeschaffung – genutzten Faktor Boden (Burgen, Städte, Länder; siehe S. 18 mit Anm. 48) merkliche Aufwertung. Das findet exemplarischen Ausdruck in der auch metaphorisch zu verstehenden Beschreibung der kurfürstlichen Pferde:

68

69

In den Zeilen 15 und 17 folge ich dem Text in den Hss. MX, der in den übrigen Hss. verlesen ist: in Z. 15 zu neun und fünf und vier und sechs statt 1456; in Z. 17 zu neue anstatt die neun. Michels [Anm. 8], S. 188: »Das heisst: es wird für das Jahr 1456 mit versteckten Worten eine Revolution in Aussicht gestellt; denn taus es [eigentlich auf dem Würfel die niedrigsten Werte 1 und 2 Augen] ist [im übertragenen Sinne] das gemeine Volk, ses zing [6 und 5 Augen auf dem Würfel die höchsten Werte] der Adel.«

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Hansjürgen Linke

Ir hohe ross send vil zuo glat, Die über tag stend vol und sat Und selten ziechend in den pflüegen (K 39, S. 300,17–19).

Dem adligen Müßiggang wird die Mühsal der (zudem ausgebeuteten) Untertanen gegenübergestellt, welche die Drohnenexistenz des gesellschaftlich weitgehend funktionslos gewordenen Adels durch ihre Arbeit überhaupt erst ermöglichen: Ir küchen sten gar vil zu veist, Dar umb der arbaiter schwitz und schweist, Sein hand oft im kot umbwelzt, Biß er ir kuchen feist und schmelzt (K 39, S. 300,13–16).

Es entspricht dem wirtschaftlich ausgerichteten neuen Denken, wenn sich der Herrscher der Türken für das freie Geleit, das ihm die Nürnberger gewährt und selbst gegenüber dem Kaiser behauptet haben, seinerseits durch Gewährung schätzbarer Handelsvorteile erkenntlich zeigt, indem er ihnen in seinem Reich ungehinderte Bewegungs- und Handelsfreiheit und möglicherweise dazu auch Abgabenfreiheit (das meint wohl Befreiung von Ein- und Ausfuhrzöllen)70 zusagt. Dem neuen Wirtschaftsdenken gegenüber beharrt der Adel auf seinem althergebrachten Repräsentationsverhalten, das sich gerade in der Fastnacht herausgefordert sieht,71 und auf der ebenfalls überkommenen feudalen Verschwendungswirtschaft, die beide als obsolet kritisiert werden. So wie er wirtschaftlich nicht vertrauenswürdig, weil nicht mehr geschäftsfähig ist – Kauft in nicht ab und leiht in nicht [. . .] Wolt ir fürpas mit frid sein,

rät in K 78 ›Klerus und Adel‹ (S. 647,2/4) der Narr den Christen –, so hat er sich gesellschaftlich überlebt, weil er die ihm aufgetragene Ordnungsfunktion nicht mehr ausübt. Die ökonomische Umorientierung, wie sie sich in der Literatur nicht nur hier in der weltlichen Dramatik, sondern gleichzeitig u. a. auch in den kleinen Verserzählungen spiegelt,72 zeitigt auch einen gesellschaftlichen Wandel. Die Gewichtsverschiebung zwischen den sozialen Gruppen führt zum Verfall und letztlich zur Auflösung des mittelalterlichen Stände-Ordo. Einige weltliche Spiele bilden diesen Prozess ab. Die Neidhartspiele haben mit der Titelfigur aus deren Liedern sowie aus ihrem Fortleben in der Neidhartlegende auch die Gegnerschaft zwischen Rittern und Bauern übernommen, behandeln sie aber nicht einfach als stoffliche Gegebenheit, sondern als Moment eines geschichtlichen Prozesses. Die pawrschafft hoch steyget Vnd ritterschafft nider seyget.73 70 71 72

73

K 39, S. 302,18–303,3, bes. S. 302,18; S. 303,2. K 51, S. 380,5–15. Vgl. dazu K 78, S. 646,24–27. Vgl. z. B. Hansjürgen Linke, Wertewandel im Widerschein kleinepischer Versdichtung des späten Mittelalters, ZfdA 135 (2006), S. 450–473. ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1655/1656. – Die Neidhartspiele hier und im Folgenden stets zitiert nach John Margetts (Hg.), Neidhartspiele, Graz 1982 (Wiener Neudrucke, [NF.] 7).

Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters

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Dessen Ursache wird einerseits im moralischen Verfall des Ritterstandes,74 andererseits in der Überhebung der Bauern75 gesehen, die zur Verletzung der Ständeordnung und dem daraus erwachsenden dauernden Unfrieden zwischen Bauern und Rittern führt.76 Die Verletzung der Standesgrenzen durch die Bauern wird im Wortsinne sichtbar darin, dass sie, von der Vätersitte abgehend,77 die Vorschriften der historischen Kleiderordnung übertreten,78 die frühere bescheidene Einfachheit von Kleidung,79 Haartracht80 sowie auch Reitzeug81 aufgeben und stattdessen in Frisur82 und Kleiderluxus83 die Edelleute nachäffen. Die Neidhartspiele sehen diese Entwicklung aus der Perspektive des Adels kritisch und bewerten die Auflösung der Ständeordnung sogar religiös: als Teufelswerk.84 Es ist Sathanas, der sich in der Teufelsversammlung des ›Großen Neidhartspiels‹ gegenüber seinem Meister Lucifer rühmt, die Bauern zur Schändung des Veilchens aufgereizt und damit den Streit mit den Rittern und deren Rache provoziert zu haben,85 und angesichts der Pantomime, in welche die Teufelsversammlung nach ihrem Abschluss ausläuft (s. u.), ist es denkbar, dass Sathanas das hier nicht nur sagt, sondern es in der Veilchen-Szene auch tatsächlich pantomimisch getan hat. Lucifer befiehlt seinen Teufeln wiederholt, die Bauern aufzuwiegeln86 und stellt ihnen dafür Belohnungen in Aussicht;87 Lasterpalch zählt vor seinem Aufbruch im einzelnen auf, wozu er die Bauern verleiten wolle,88 und das geht weit über den von Lucifer gebotenen Aufruhr gegen die Ritter hinaus, umfasst vielmehr das nahezu vollständige Inventar an Todsünden. Vom sozialen Aufstiegsstreben der Bauern verspricht sich Lucifer Gewinn für die Hölle in Gestalt der Seelen Erschlagener,89 für die er zur Sicherung seines Anspruchs als Unterpfand die linken Beine einheimst, welche die Ritter den Bauern im Kampf abgeschlagen haben.90 Am Ende der Szene schwärmen die Teufel wirklich in die Welt und unter die Bauern aus und stacheln sie pantomimisch zum Streit untereinander und mit Neidhart auf: 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

85 86 87 88 89 90

Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1653/1654. Ebd., ›Mittleres Neidhartspiel‹, V. 951. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1713–1716. Ebd., ›Mittleres Neidhartspiel‹, V. 953. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1650–1652. Ebd., ›Mittleres Neidhartspiel‹, V. 954/955. ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1658–1671. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1672–1674. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1677–1684. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1691/1692. Ebd., ›Mittleres Neidhartspiel‹, V. 956. ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1687–1690, 1693–1710. Siehe Neidharts Vorwurf gegenüber den Bauern im Mittleren Neidhartspiel (Margetts [Anm. 73]), V. 960: Ennck hat aber der Tewfl besessen. Margetts [Anm. 73], ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1744–1764. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1727–1732, 1809–1819. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1737–1739, 1798–1803, 1811–1813. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1772–1794. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1647, 1733–1735, 1815–1817. Ebd., ›Großes Neidhartspiel‹, V. 1754–1771.

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Hansjürgen Linke

Da lauffen dye teüfflen vnder den paw[r]en Vnd machen krieg vnd vnainykayt (›Großes Neidhartspiel‹, Z. 1820/1821).

Das Rosenplüt zugeschriebene Fastnachtspiel K 78 ›Klerus und Adel‹ sieht die gesellschaftsgeschichtlichen Vorgänge aus einem anderen Blickwinkel als das ›Mittlere‹ und das ›Große Neidhartspiel‹ – nicht aus dem des Adels, sondern aus dem reichsstädtischer Bürger – , und es greift überdies in Darstellung und Analyse über diejenigen der beiden Tiroler Spiele hinaus. Aus seiner Perspektive nur allzu einleuchtend, sieht es an der gesellschaftlichen Umschichtung nicht allein Ritter und Bauern, sondern wesentlich auch die Bürger beteiligt: Der paur wil als der purger gan, Der purger als der edelman (K 78, S. 646,15/16).

Naturgemäß schätzt es, vom Urteil des Adels abweichend, den sozialen Aufstiegswillen von Bauern und Bürgern auch nicht abwertend ein, sondern konstatiert zunächst einmal positiv dessen Erfolg. Bauern und Städte haben durch ihn doppelt gewonnen, sie sind reich (K 78, S. 645,24), und das bedeutet zugleich ‘wohlhabend’ u n d (dadurch) ‘mächtig’. Das freilich weckt im Adel – der, wie bereits weiter oben gezeigt, wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten ist – ökonomische Verlust-, ständische Konkurrenz- und soziale Abstiegsängste: Die paurn würden den adel vertreiben, Sie würden hinten nach so gail, Sie machten uns pürg und stet fail (K 78, S. 646,12–14).

Diese Ängste werden vom Aufstieg nicht nur des Bauern-, sondern mehr noch des Bürgerstandes und der Städte genährt (K 78, S. 645,24). Um von ihnen nicht sozial überflügelt zu werden – Das sie nit über uns kumen, wie ein Ritter formuliert (K 78, S. 646,18) –, erstrebt der Adel den unveränderten Erhalt des althergebrachten status quo einer hierarchischen Gesellschaft, also deren Stagnation: Si [die Bürger und Bauern] müßen mit uns tailen zwar Gleich heur als vor hundert jar (K 78, S. 646,19/20).

Mit aller Macht stemmt er sich gegen den ökonomisch induzierten Prozess sozialer Dynamik. Das Mittel der Wahl ist dabei das einzige, worauf er sich von alters her versteht und über das er auch heute noch verfügt: kriegerische Gewalt, und deswegen schürt er den Unfrieden im Reich: Die paurn und die stet wurden zu reich [wohlhabend u n d mächtig], Ließ wir sie sitzen fridleich (K 78, S. 645,24/25),

motiviert der Herzog seine militärische Gewalttätigkeit gegenüber Bauern und Stadt; ebenso der Ritter: Solt es alweg frid beleiben, Die paurn würden den adel vertreiben, Sie würden hinten nach so gail, Sie machten uns pürg und stet fail.

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Der paur wil als der purger gan, Der purger als der edelman. Darümb mag uns der krieg gefrumen, Das sie nit über uns kumen (K 78, S. 646,11–18).

I.2.3 Der regional- und lokalpolitische Bereich Außer den zuvor behandelten zeitgeschichtlichen Vorgängen, die das gesamte Reich angehen, beziehen einige weitere weltliche Spiele Stellung auch zu regional oder lokal begrenzten politischen Aktualitäten. Nachdem im Februar 1500 König Johann von Dänemark und sein Bruder, Herzog Friedrich I. von Schleswig, mit ihren Ritterheeren und dem angeworbenen berüchtigten Söldnerhaufen der Schwarzen Garde in Dithmarschen eingefallen waren, das Johann unrechtmäßig für sich beanspruchte, schlugen die mit Lübeck verbündeten Dithmarscher Bauern die Eindringlinge am 17. Februar auf Dusenddüwelswarf bei Hemmingstedt vernichtend.91 Nur zwei Wochen später spielten die Lübecker Zirkelbrüder zu Fastnacht (1. März) ›woe de adel vorleydet wart van den schelken ueth der garden‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 246), hatten also in nur zwei Wochen den Text verfasst, einstudiert und geprobt. Durch die Aufführung fühlte der unterlegene dänische König seinen Ruf so empfindlich geschädigt, dass er sich noch sieben Jahre später, am 6. Juni 1507, beim Lübecker Rat schriftlich darüber beschwerte (Simon [Anm. 5], Nr. 275). In der Hildesheimer Stiftsfehde (1518–1523) wurde der dem Bischof opponierende Stiftsadel, der zwar 1519 in der Schlacht bei Soltau geschlagen, aber dem Bischof nur vorübergehend unterlegen war, u. a. in dem mittelniederdeutschen Fastnachtspiel ›De Schevekloth‹92 verspottet. Das Ereignis war von derartigem lokalen Interesse, dass der Spieltext noch bis ins 17. Jahrhundert abgeschrieben wurde. Weltliche Spiele sind in aller Regel nur von einem einzigen Textzeugen überliefert. Verhältnismäßig oft trifft man noch Doppelüberlieferung an; zur so tradierten Gruppe von 18 Stücken gehören auch zwei der oben behandelten von zeitgeschichtlicher Relevanz, K 47 ›Wie man Ritter wird‹ und Z 25 ›Die zwen Stenndt‹. Darüber hinausgehende Mehrfachüberlieferung ist selten.93 Wie lebhaft das Interesse eines breiteren Publikums an den eben besprochenen zeitgeschichtlichen Fastnachtspielen war, geht daraus hervor, dass immerhin drei von ihnen zu denen gehören, die unüblich häufig überliefert sind, nämlich K 78 ›Klerus und Adel‹ (als einer von fünf Texten) in drei Textzeugen, ›De Schevekloth‹ allein in sechs94 und K 39 ›Des Türken Fastnachtspiel‹ als einziges sogar in sieben Textzeugen. Die ursprünglich wohl Zürcher politische 91 92

93

94

Simon [Anm. 5], S. 256/257, dort in Anm. 53 weitere Literatur. Wilhelm Seelmann (Hg.), Mittelniederdeutsche Fastnachtspiele, 2., umgearb. Aufl., Neumünster 1931 (Drucke des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, 1), S. 99–112. Vgl. Ulf Bichel in 2VL Bd. 8, 1992, Sp. 654/655; ergänzend Simon [Anm. 5], S. 212–222. Je fünf Spiele sind in drei und vier Handschriften, zwei in fünf und nur je eines in sechs und sieben Textzeugen überliefert. Simon [Anm. 5], S. 213/214.

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Satire ›Des Entkrist Vasnacht‹ schließlich ist von dort ins imperial interessierte Nürnberg gewandert und hier bearbeitet worden. Offenbar hat es im ausgehenden Mittelalter ein Publikum gegeben, das für die – sei es satirische, sei es ernsthaft kritische – Behandlung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorgänge und Entwicklungen der Zeitgeschichte in den weltlichen Spielen empfänglich war. I.3 Privatleben I.3.1 Selbstwahrnehmung der Fastnacht Die Masse der weltlichen, vor allem der Fastnachtspiele findet ihre Gegenstände jedoch nicht in der großen politischen Zeitgeschichte – sei es nun der abendländischen oder auch nur der regionalen –, sondern im – gewöhnlich städtischen – Alltagsleben. Der Anlass innerhalb der kirchlichen Jahresfestkreise, zu dem sie aufgeführt werden, legt es nahe, dass sich in einer Anzahl von Spielen auch die Selbstwahrnehmung der Fastnacht niederschlägt. In vier Stücken ficht die faitn die heilig frau (Z 12, V. 74) ihre Sache gegen dy fainacht den ichedlichn man (Z 12, V. 77) vor Gericht aus.95 Die Parteiung ist dabei verschieden. In dem Folzschen Spiel K 51 ist, wie auch in dem leider nur fragmentarisch auf uns gekommenen Tiroler Stück ›Vaschang‹ (Z 12), die Fastnacht die Beklagte, in den beiden Rosenplütschen Spielen K 72 und 73, die streckenweise miteinander identisch sind, umgekehrt die Fasten die Beklagte und die Fastnacht die Klägerin. Beide Kontrahenten können vor dem Gericht als Personifikationen erscheinen (K 72 u. 73); in K 51 tut das jedoch nur die verklagte Fastnacht, während die Sache der Fasten von fünf Anwälten geführt wird, welche die Gruppen des Adels, der Bürger, der Handwerker, der Bauern und der Frauen vertreten. Die Fastnacht-Feiernden sind demnach hier auf doppelte Weise differenziert gesehen: zum einen nach Geschlechtern, zum andern nach ihrer sozialen Schichtung. Hierbei ist auffällig, wie der zwischen dem Adel und den Bauern einzuordnende Stand nochmals differenziert erscheint. Er sieht sich selbst im Standesmodell nicht als eine homogene soziale Gruppe, sondern unterscheidet zwischen einer unteren Schicht – den Handwerkern – und einer gehobenen Schicht – der Bürgerschaft. Die Letztere wird nicht näher spezifiziert; sie scheint Kaufleute, ‘Gebildete’ (wie etwa Schreiber, Beamte, Advokaten, Ärzte) und das Stadtpatriziat umfasst zu haben. Die Anschuldigungen der Fastnacht gegenüber der Fasten umfassen im wesentlichen drei Klagepunkte: (1) Die Fasten habe der Fastnacht die Stimmung verdorben.96 (2) Die Fasten habe die Fastnacht vollends verdrängt97 und sie dadurch (3) materiell erheblich geschädigt,98 weil die übrig gebliebenen Speisen an Sülze, Krapfen und 95 96 97 98

K 51, K 72, K 72, K 73,

72, 73; Z 12. S. 624,10 = K 73, S. 629,19; K 72, S. 624,19–22. S. 624,8 = K 73, S. 629,19, dazu S. 629,17. S. 628,24/25 = S. 629,20/21. Vgl. K 72, S. 624,11/12.

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Hühnern in der Fastenzeit nicht verzehrt werden dürfen und also verderben müssen. Die Fastnacht klagt daher auf Schadenersatz.99 Die Gegenbeschuldigungen der Fasten gegenüber der Fastnacht bleiben in den Rosenplütschen Fastnachtspielen ziemlich allgemein.100 Im Tiroler Spiel ›Vaschang‹ (Z 12) hingegen richten sie sich dreifach spezifiziert gegen Trunkenheit mit Unfällen und Raufereien in der Folge (V. 161–163), gegen illegitime Geschlechtlichkeit, in der nicht wörtlich zu nehmenden Anklage zur Notzucht überspitzt (V. 165–170), und – am interessantesten – gegen Betrug. Der erscheint auf den ersten Blick merkwürdig: Die Fastnacht habe gedörrten Schnee für Salz verkauft (V. 155–160), das im Mittelalter bekanntlich eine Kostbarkeit war. In diesem Vorwurf kommt metaphorisch die Unechtheit, der Talmi-Charakter der Fastnachtsfreuden zum Ausdruck. Tatsächlich sind sie gar keine Freuden, haben sie nicht das Vermögen, das Leben wirklich zu würzen. Das ist die zeitübliche Diskreditierung weltlichen Vergnügens vom geistlichen Standpunkt aus, hier aber in einem weltlichen Spiel! Am ausführlichsten ins Einzelne und Besondere gehend sind die Vorwürfe, welche die fünf Anwälte in dem bereits erwähnten Folz-Stück K 51 gegen die Fastnacht erheben. Nur zu einem Teil sind sie allen von den Anwälten vertretenen sozialen Gruppen gemein, zum anderen dagegen gruppenspezifisch, und gerade diese machen das besondere Interesse an diesem Stück aus. Gewähren sie doch bei aller Vorsicht der Betrachtung Einblick in die kulturhistorische Realität der Zeit, zumal teilweise nicht allein kritisierte, sondern auch nicht tadelnswerte gesellige Vergnügungen angeführt werden. Die gesellschaftlichen, insbesondere die Tanz-Belustigungen des Adels werden kritisch gesehen, weil sie den Damen Anlass bieten, mit der Entfaltung aufwendigen Kleiderprunkes, in dem sie sich gegenseitig zu übertrumpfen trachten, ihrer Eitelkeit die Zügel schießen zu lassen (K 51, S. 380,10–15). Sie impliziert ein weiteres, ein ökonomisches Fehlverhalten: die Verschwendungssucht. Der Vorwurf, dass der Adel über seine Verhältnisse lebe, wird hier vorerst nur angedeutet und erst später in der Erwiderung der beklagten Fastnacht ausgeführt und mit einer weitreichenden generellen Adelskritik verknüpft. Ähnlich verausgaben sich den Vorbringungen ihres Anwalts zufolge die Handwerker in der Fastnachtszeit dergestalt über ihr Vermögen, dass sie beim Juden versetzen müssen und das Versetzte bis nach Ostern nicht wieder einlösen können (K 51, S. 383,21–23). Adel und Kleinbürgertum gleichen sich mithin ökonomisch in Punkto Misswirtschaft. Sie unterscheiden sich nur in den Motiven dazu: Standesrepräsentation beim Adel, unvernünftige Leichtfertigkeit der Handwerker unter dem Einfluss der allgemeinen Normen- und Satzungslockerung zur Fastnachtzeit. Demgegenüber praktizieren die jungen Bauern eine andere Form ökonomischer Verwerflichkeit: das 99

K 73, S. 628,27/28. – Nur in K 72 beklagt die Fastnacht zusätzlich zu ihrem eigenen materiellen Verlust auch noch die durch die Fasten verursachte quasi-ideelle Einbuße der Jungfern, die noch keinen Mann gefunden haben (S. 624,15/16). 100 K 72, S. 629,5; K 73, S. 631,6.

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Spiel – konkret das Brett-, Karten- und das besonders anrüchige Glücksspiel (K 51, S. 385,14/15). Den wichtigsten Klagegrund gegen die Fastnacht bietet die universale Verkehrung der normalen Welt und Lebensordnung: Der man verkert sich in ein frauen, Die frauen sich in mannes gestalt, Das junk geschaffen macht sich alt, Das forder man hin hinter kert, Das hinder teil her fur dan fert, Unters gen perg, obers gen tal, Unsinnig wirt man uber al.101

Dass die Welt so auf den Kopf gestellt wird, ist aus drei Ursachen tadelnswert: 1. an sich als Verkehrung der Ordnung, 2. wegen der Suspendierung der ratio (Unsinnig wirt man uber al), 3. wegen sittlicher, vor allem sexueller Zügellosigkeit. Es sind insbesondere der zweite und der dritte Grund, die der Fastnacht von den Anwälten der Stände vorgehalten werden. Unvernunft und ungehemmte Triebhaftigkeit führe zur Vertierung der Menschen (K 51, S. 381,14–16). Beides hat handgreifliche Folgen: materielle Verschleuderung bei den Handwerkern (K 51, S. 383,20–23), Unfälle infolge fahrlässiger Körperverletzung bei den Bürgern (K 51, S. 381 25/26), Raufhändel unter den Bauern, bei denen Sachen und Personen demoliert werden,102 und die Entfesselung schrankenloser Sexualität in allen Schichten und Gruppen.103 Dem Toben und Wüten der Narren leistet eine weitere Fastnachtssünde kräftig Vorschub: die Völlerei. Während das unmäßige Essen auf Handwerker (K 51, S. 383,12) und Bauern (K 51, S. 385,16) beschränkt ist, wird der Suff nahezu allen Gruppen (außer den Bürgern und den Frauen) vorgeworfen.104 Dabei tun sich die Extreme in der sozialen Skala besonders hervor.105

101

K 51, S. 383,5–11. Vgl. dazu die mit großer Vorsicht gegenüber allzu vieler Spekulation (siehe S. 162) zu lesenden Überlegungen von Rüdiger Krohn, Der man verkert sich in ein frauen. Rollenklischees und Komik [durchaus nicht nur (handschriftlicher Zusatz des Verfassers)] in den frühen Fastnachtspielen, in: Popular Drama in Northern Europe in the Later Middle Ages. A Symposium (Proceedings of the Eleventh International Symposium organized by the Centre for the Study of Vernacular Literature in the Middle Ages held at Odense University on 17–18 November 1986), ed. by Flemming G. Andersen [u. a.], Odense 1988, S. 134–164. 102 Ein ander sie auf dem grind umb laufen, Tisch, penk und stul get als zu haufen; Ein teil stoßen die fenster auß, Ein teil kriechen zum ofen herauß, Ir vil mit kandeln und schwerten schirmen, Pis sie ein ander pas gefirmen. (K 51, S. 385,20–25). 103 Adel (K 51, S. 380,16–21); Bürger (S. 381,28–34); Handwerker (S. 383,13–16); Bauern (S. 385,26–37); Frauen (S. 387,17–19,26/27). 104 Adligen (K 51, S. 380,18–21), Handwerkern (S. 383,12) und Bauern (S. 384,19–28; S. 385, 16–18). 105 Die Bauern lassen sich bis zum wiederholten Erbrechen immer von neuem volllaufen (K 51, S. 384,19–28), und die Adligen trinken, bis sie so völlig enthemmt sind, dass sie sogar ihre eigenen Töchter beschlafen würden (K 51, S. 380,18–21).

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Man kann sich unschwer vorstellen, dass die so vorgeblich als Gegenstand der Entrüstung ausgemalten Situationen ihrem tatsächlichen Effekt nach eine stimulierende Wirkung entfalten: Wir wolten die Fasnacht han erschreckt, So hab wirs erst recht aufgeweckt

beobachtet der Gesegner ganz richtig am Schluss von K 51 (S. 390,14/15). Die Fastnacht verteidigt sich gegen die ihr gemachten Vorwürfe nicht ungeschickt mit dem grundsätzlichen Argument, dass die Begehung ihres Festes weder durch kirchliche noch durch weltliche Obrigkeiten geboten sei: Nu wird ich doch in keinem jar Weder durch prediger noch außschreier Gepoten, als ander fest und feir, Dann was ir selbs auf mich ticht (K 51, S. 380,27–30).

Die Fastnacht ist also eine Veranstaltung einzig ihrer Ankläger selbst, d. h. sie ist mit allem, was zu ihr gehört, wie wir heute sagen würden, eine Projektion ihrer sonst unterdrückten, nicht ausgelebten Wünsche und Energien. Das bedeutet, die Erscheinungen der Fastnachtslustbarkeiten sind – u. a. – sozialpsychologisch zu erklären. Damit fallen die Klagegründe gegen die Fastnacht auf die Kläger selbst zurück. Davon ist, wie schon in den zeitkritischen Spielen (siehe S. 18 f.), der Adel besonders betroffen (K 51, S. 380,31–381,5). Maßstab der Kritik an ihm bilden die sozialen Funktionen, die er eigentlich wahrnehmen müsste: die Gewährleistung der Sicherheit im Reich außerhalb der befestigten Städte, also besonders der Schutz der Verkehrsund Handelswege und entsprechend die Ausrottung der ihre Sicherheit gefährdenden Räuber. Die Kritik am Adel erfolgt in dreifacher, nämlich gesellschaftlicher, ökonomischer und moralischer Hinsicht. Er genügt den eben genannten sozialen Anforderungen eben nicht; vielmehr ist sein öffentliches Wirken lediglich auf die standesgemäße Repräsentation reduziert (Und wollen wol zu hofe komen K 51, S. 381,2). Ökonomisch lebt er auf fremde Kosten, teils durch Ausbeutung der Untertanen (Es zalenß die unter den stroen dechen, Die armen peurlein in den dorfen K 51, S. 380,33/34), teils durch Straßenraub, gegen den er gerade schützen sollte (K 51, S. 380,35/36). Moralisch endlich wird er diskreditiert durch diejenigen seiner Angehörigen, [. . .] die iren adel schmehen Mit epruch, spil und gelt entlehen Und zalen ein auf der grüen wiesen (K 51, S. 381,8–10).

Das Bild des Adels, das auch hier wieder entworfen wird, ist das einer moralisch verkommenen und ausgehöhlten, sozial funktionslos gewordenen Kaste, die mit der Aufrechterhaltung standesgemäßer Repräsentation einen Anspruch erhebt, dem keine Leistung entspricht, die ihn erst begründen und rechtfertigen würde, und so eine Fassade aufrecht erhält, hinter der keine Realität – weder sittliche noch gesellschaftliche – mehr steht.

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Die Beendigung des Rechtsstreits zwischen Fasten und Fastnacht durch einen Spruch des angerufenen Gerichts stößt teilweise auf Schwierigkeiten. In den beiden Rosenplütschen Fastnachtspielen K 72 und 73 erklären sich nämlich die Schöffen aus kulinarischen,106 erotischen107 und kirchlichen Gründen108 für befangen.109 Das Urteil wird daher bis Ostern (K 73, S. 631,1–3) oder bis in den Mai vertagt.110 Das läuft natürlich praktisch darauf hinaus, die Fastnacht gewähren zu lassen, deren Herrschaft ohnehin an diesem Tage endet. Im Unterschied zu dieser – freilich nur äußerlichformalen – Unentschiedenheit durch Urteils-Aufschub wird im Folz-Stück K 51 die Entscheidung auch formal und ausdrücklich gefällt, und zwar zugunsten der beklagten Fastnacht. Nach klag und antwort aller tail Seit fort all vasnacht frisch und geil! Lat sie der fasten abent sein, Bringt sie die sechs wochen wider ein, Wann darumb ist es furgenumen Und ist das alt und lank herkumen. [. . .] So beleibs furpas all unser tag, Und sei hie mit die sach beschlossen (K 51, S. 389,25–30,34/35).

Die Urteilsbegründung, dass die Fastnacht die sechswöchige Fastenzeit heraufführe und in dieser alles Vorhergehende wiedergutgemacht werde, ist nur ein Vorwand. Auch das alte und lange Herkommen, auf die sie sich stützt – obwohl ein legitimer und gültiger Rechtsgrund, wie das Verfahren der Prozesseinleitung im Tiroler Fragment ›Vaschang‹ dokumentiert111 – ist nur ein Schleier, der die wahre Begründung kaum noch verhüllt. In K 72 wird sie vom vierten Ratherrn offen ausgesprochen: So muß man ieder zeit thun ir recht, Sie [Fastnacht und Fastenzeit] lassenß wol sein gen ainander schlecht (K 72, S. 626,9/10).

Das stimmt mit der Meinung vieler Ausschreier, Herolde etc. am Ein- und Ausgang von Fastnachtspielen überein,112 ist also scheinbar gar nichts Besonderes. Dennoch ist die Feststellung des Eigenrechts der Fastnacht hier in zweierlei Hinsicht bemerkens106

Verzicht auf delikate Fastnachtsspeisen wie Eier (K 73, S. 630,11) und Krapfen (K 73, S. 629,20), Widerwillen gegen die Fastenspeisen Zwiebeln, Dörrbirnen und vor allem Öl (K 73, S. 630,7/8,25–27), schließlich Übellaunigkeit deswegen, weil Vollverpflegung nur Kranken erlaubt ist (K 73, S. 630,15–19). 107 Verschiedenartige Beeinträchtigungen des Liebeslebens K 72, S. 626,33–627,4; K 73, S. 630, 25–27. 108 Unbequemlichkeiten bei der Erfüllung der Kirchenpflichten Beichten, Büßen sowie frühes Aufstehen, um Frühmesse und Predigt zu hören (K 73, S. 629,30–34). 109 Sie sind gegen die Fasten voreingenommen, weil sie Gründe haben, ihr Feind zu sein (K 73, S. 630,21), sich von ihr für geschädigt zu halten (K 73, S. 630,24,28; mittelbar K 72, S. 626,33–627,4) und sich deshalb an ihr rächen wollen (K 73, S. 629,27; 630,10). 110 K 72, S. 265,20,25,32; S. 627,19/20. 111 Z 12, V. 101–103, 120, 130, 148. 112 K 13, S. 114,15; K 16, S. 137,4; K 41, S. 319,25; K 94, S. 734,29; K 96, S. 745,23. Vgl. auch K 9, S. 91,24 und S. 92,9.

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werter als an dem halben Dutzend gleichlautender Stellen in anderen Spielen. Vom Verfahren her handelt es sich hier nicht um die bloße Meinungsäußerung eines beliebigen Ausschreiers, sondern um ein Urteil, um eine autoritative Feststellung als Resultat eines Vorgangs vergleichender Abwägung der Gründe für und gegen diese Meinung. Von der Sache her sind die Gegenstände des abwägenden Vergleichs unterschiedlicher Herkunft. Die Fasten entstammen dem kirchlichen Jahreszyklus, sind also durch geistliche Autorität gedeckt. Die Fastnacht entspringt dem Verlangen der Menschen nach weltlichem Vergnügen vor der kirchlich auferlegten geistlichen Kasteiung, ist also durch die Autorität keiner Institution legitimiert. Darauf weist sie selbst mit Nachdruck hin (s. o. S. 32f.). Von der Kirche wird sie nicht geboten, sondern als sogenannte Ventilsitte nur – und z. T. nur widerwillig – geduldet. Es ist ungewöhnlich und beachtlich, dass in den dramatischen Fastnachtsprozessen aus der Duldung ein Anspruch wird und dem kirchlich Geduldeten das gleiche Recht eingeräumt wird wie dem kirchlich Geforderten. Die Bedeutung des Urteils über die Fastnacht ist symptomatisch: Es erkennt die Ebenbürtigkeit weltlicher Ansprüche und geistlichkirchlicher an. Insofern sind die Spiele vom Prozess zwischen Fasten und Fastnacht Zeugnisse für die allmähliche Säkularisation im ausgehenden Mittelalter. Nicht allein das Eigenrecht der Fastnachtszeit, sondern auch die Aufführungswirklichkeit der Fastnachtspiele selbst wird zum Gegenstand der Spieltexte. Die Reden der beiden Einschreier gleich zur ersten Nummer der Kellerschen Sammlung, zu Hans Folzens Spiel ›Die alt und neu ee‹ (K 1) beschreiben geradezu exemplarisch die Situation beim Eintreten einer Spielrotte in die Stube einer Fastnacht feiernden Gesellschaft und die improvisierte Herrichtung einer Spielstätte. Weicht ab, tret umbe und raumet auf, Ee man euch blupfling uberlauf Und alles das durch einander rutt Und nicht darzu den wein außschut, Hebt von den penken polster und kussen, Das ir geschant werd mit den fußen, Tragt kind und wiegen als vom weg, Das nit ir ains ein ploßen leg, Ruck stül und penk als auf ein ort, Und, das dest pas werd zugehort, So stet darauf und spitzt die oren Und seit still hinden, neben und foren; Dann wer sein maul allzuvil wer peren, Must man den weg zu der tur auß leren. Des reg sich keins von seiner stat, [. . .] Ir herren, noch eins ist hie zu kunden. Ob etlich bei dem schimpf hie stunden, [S. 2] Die her weren kumen ungebeten Und uns zu nahend würden treten, Dieselben wurd ich dannen weisen, Das sie der kurzweil nit vast breisen. Darumb ge keiner zu nahet bei,

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Der nit zum spil gewidemt sei. Und hab niemant kein geschwetz da hinden, [. . .] Und das man auch die hund außjag, Das kainer an keim pein nit nag Oder mit pellen so ungestum sei, Das keiner seins worts nit hor dabei. Wann fremd und kund gesamelt sein, So sperrt zu und laßt niemant herein! Ob iemantz pulschafthalb herein kem, Der hab dabei ein kleine schem Und nem im nit zu gach der sach, Das er kein sunder aufrur mach. Seit still, was eur sei im haufen, Ee wir an ends darvon selbs laufen. DER HOFMEISTER: Nu hort, ir fremden und ir kunden, Es han hie an einander funden Das alt gesetz und auch das neu Und han gelobt bei irer treu, Was do ir ides werde fragen, Das als einander zu zu sagen (K 1, S. 1,5–19,26–2,7,11–29).

Die Feiernden sollen also der Spielrotte Platz machen, damit niemand unversehens angerempelt (S. 1,5/6) und der Wein nicht ausgeschüttet werde (S. 1,8); Stühle und Bänke soll man beiseite rücken113 und Polster und Kissen von ihnen herunternehmen (S. 1,9), damit sie nicht von den Füßen beschmutzt werden (S. 1,10), wenn die Zuschauer darauf steigen (S. 1,15), sowohl um Platz zu sparen als auch, um besser sehen zu können; Kinder und Wiegen sollen aus dem Weg geräumt (S. 1,11) und Hunde hinausgejagt werden, damit sie nicht hörbar am Knochen nagen oder so laut bellen, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen kann (S. 2,11–14); die Zuschauer sollen während der Darbietung still sein, wenn sie nicht hinausgeworfen werden wollen,114 sich nicht von der Stelle rühren (S. 1,19–21), insbesondere den Spielern nicht zu nahe auf den Leib rücken und sie dadurch behindern (S. 1,27–2,6) und sich überhaupt züchtig und anständig benehmen (S. 2,17–20). Nach diesen Vorbereitungen wird die Stube für die Dauer der Aufführung zugesperrt (S. 2,15/16) und der Gegenstand des Spiels angekündigt,115 bevor dieses nun anhebt.

113

S. 1,13. Siehe auch Z 9, V. 35/36, wo das Freiräumen der Spielfläche zusätzlich dadurch motiviert ist, dass im Tiroler Reckenspiel, das ein Rosengartenspiel ist, die Riesen Kriemhilds und die Recken Dietrichs von Bern Raum benötigen, um ihre Schwertschwünge ohne Schaden für die Umstehenden ausführen zu können. 114 K 1, S. 1,16–18; S. 2,7. 115 S. 1,23/24 und S. 2,23–29.

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I.3.2 Alltagswirklichkeit: Genre-Darstellungen Nicht von ungefähr kann man sich die Vorbereitung der Spielstätte anhand dieser Einschreier-Verse vor dem inneren Auge ausmalen. Sind sie doch nichts anderes als ein verbales Genrebild. Genrebilder aber werden in den Fastnachtspielen gern und häufig benutzt – sei es nun, dass sie wie hier mittels der Einbildungskraft der Zuschauer und Zuhörer verbal evoziert,116 sei es, dass sie vor ihren Augen dramatisch in Szene gesetzt werden.117 So bildet der Alltag des öffentlichen Lebens in Gestalt von Straßen- und Marktszenen den Gegenstand ganzer Spiele. In den beiden Stücken ›Verschiedene Gewerbe‹ I (K 50) und II (K 105) – deren Aufzeichnungen zum Teil118 oder vollständig durcheinander geraten sind (K 105) – ziehen die Angehörigen verschiedener ambulanter Gewerbe durch die (imaginierten) Straßen an den Feiernden als deren Bewohnern entlang und rufen, meist um Kundschaft werbend, ihre Tätigkeiten aus. In der Reihenfolge von K 50 sind das ein Korbflicker,119 ein Holhippen- (Waffel-) Verkäufer,120 ein Wanderkrämer und vielleicht zugleich auch Geldwechsler,121 ein bettelnder Modegeck (?),122 verschiedene Verkäufer von Speckkuchen,123 heißen Fladen124 und Kuchen,125 ein Lumpensammler126 und ein Kesselflicker,127 ein Kastrierer,128 ein Schlotfeger,129 ein Hundefänger,130 ein Hurenwirt oder Zuhälter (?),131 ein Nachtwächter,132 116

Beispielsweise wird mitten im idealistischen ›Wettstreit im Frauenpreisen‹ (K 33) als Kontrast das realistische Gegenbild einer angejahrten Hausfrau ausgemalt, welcher der Rücken vom Schüsselabwaschen, der Hals vom Spinnen und die Finger vom Garnwinden krumm geworden sind, die täglich im Bach Windeln waschen muss und im Küchenrauch blind geworden ist (K 33, S. 267,9–14). – Im ›Prozeß gegen die Fastnacht‹ (K 51) beschreibt der Anwalt der Bauern die Bauernfastnacht in einer Wirtshausstube: zunächst Glücksspiel, Fressen und Saufen; danach Prügelei, bei der Geschirr, Mobiliar und Fensterscheiben zerschlagen werden; die Gegner mit Kannen und Schwertern aufeinander losgehen und die Fliehenden zum Ofen hinauskriechen, während die Bauernmädchen in einem anderen Zimmer hinterm Ofen und auf der Bank im Dunkeln mit Bauernburschen koitieren (K 51, S. 385,14–37). 117 Über dramatische Genrebilder und -szenen – allerdings erst im 16. Jh. – siehe Hugo Beck, Die Bedeutung des Genrebegriffs für das deutsche Drama des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zu den Wechselbeziehungen zwischen Dichtung und Malerei, Berlin 1929 (Germanische Studien 66). 118 K 50 nur am Ende: S. 377,5–11 gehört hinter S. 378,1; S. 378,15–26 vor S. 378,2. 119 K 50, S. 272,16–29 = K 105, S. 789,15–24. 120 K 50, S. 373,1–10 = K 105, S. 791,18–25. 121 K 50, S. 373,11–20 = K 105, S. 791,27–792,1. 122 K 50, S. 373,21–30 = K 105, S. 792,14–21. 123 K 50, S. 373,31–374,7 = K 105, S. 792,3–12. 124 K 50, S. 374,8–19 = K 105, S. 790,28–791,5. 125 K 50, S. 374,20–31 = K 105, S. 791,7–16. 126 K 50, S. 374,32–375,8 = K 105, S. 792,23–32. 127 K 50, S. 375,11–20 = K 105, S. 793,2–11. 128 K 50, S. 375,21–30 = K 105, S. 793,33–794,7. 129 K 50, S. 375,31–376,7 = K 105, S. 789,4–13. 130 K 50, S. 376,8–17 = K 105, S. 794,9–18. 131 K 50, S. 376,18–29 = K 105, S. 793,13–22. 132 K 50, S. 376,30–377,4 = K 105, S. 793,24–31.

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ein Badediener133 und ein Zahnbrecher.134 Ihre Selbstankündigungen werden in K 50 nahezu sämtlich durch sogenannte Gewerberufe – leider ohne Aufzeichnung ihrer Melodien – eingeleitet,135 von denen uns heute allenfalls noch der Beginn des Nachtwächterliedes Nu hort und last euch sagen (K 50, S. 376,31) geläufig ist. Die Reklame-Strophen bieten nahezu ausnahmslos Gelegenheit zu skatologischen136 oder sexuellen Zoten.137 Das zeigt, dass beide Spiele keine ernstlich realistische Tendenz verfolgen, sondern bei den Genredarstellungen nur Anleihen machen, um sie als schlüpfrige Fastnachtscherze zu instrumentalisieren. Eine strukturelle Umkehrung dieser beiden Spiele, in denen die Gewerbetreibenden durch die Straßen und also an ihren potenziellen Kunden vorüberziehen, stellen die zwei Marktspiele K 49 ›Von Kuchinspeis‹ und K 35 ›Der Hasenkauf‹ dar. In ihnen bewegen sich die Käufer ähnlich wie in verschiedenen süddeutschen (alemannischen und tirolischen) geistlichen Spielen, besonders vor der Austreibung der jüdischen Händler und Wechsler aus dem Tempel,138 zu den (hier ebenfalls imaginierten) Marktständen der Verkäufer hin oder an ihnen vorbei. Dabei handeln sie in K 49 um Reis (S. 368,10–16), Feigen (S. 368,24–369,10), Rüben (S. 369,11–24), Zwiebeln (S. 369,25–370,7), Linsen (S. 370,8–17), Stör (S. 370,18–31) und Sauerkraut (S. 370,32–371,12). Die Wechselreden zwischen Anbietern und Kunden geben Anlass teils wiederum zu skatologischen Scherzen,139 teils zu gegenseitigen Wortgefechten und Beschimpfungen.140 Der amüsante ›Hasenkauf‹ (K 35) schließlich ergötzt das Publikum durch den weithin in stichomythischer Rede sich vollziehenden Handel zweier Bauern um einen Hasen. »Der eine will zu teuer verkaufen, der andere will den Preis drücken und, soweit möglich, mit schlechter und falscher Münze zahlen«,141 ohne dass beide ihre einander widerstrebenden Absichten aussprächen. Dadurch ist das Stück angefüllt vom hartnäckigen Feilschen um die Güte und Gültigkeit des Geldes, wie man es auch aus manchen geistlichen Spielen von der Auszahlung des 133

K 50, S. 377,12–25 = K 105, S. 794,20–31. K 50, S. 377,26–378,1 = K 105, S. 794,33–795,9. 135 Einschreier: [. . .] mit geschrei wir offenbern Die hendel, damit wir uns dann neren (K 50, S. 372,6/7 = K 105, S. 790,4/5). In K 50 fehlen die Rufe lediglich beim Korbflicker, beim Krämer und vielleicht auch beim Hurenwirt und beim bettelnden Modegecken; in K 105 hingegen sind sie durchweg fortgelassen. 136 K 50, S. 373,33–374,4 = K 105, S. 792,5–9; K 50, S. 374,12–15 = K 105, S. 790,30–791,1; K 50, S. 374,22–24 = K 105, S. 791,7–9; K 50, S. 375,34–376,7 = K 105, S. 789,5–13. 137 K 50, S. 372,24–26 = K 105, S. 789,20–23; K 50, S. 375,1–6 = K 105, S. 792,25–30; K 50, S. 375,12–18 = K 105, S. 793,3–9; K 50, S. 375,23–26 = K 105, S. 793,33–794,3; K 50, S. 377,16–25 = K 105, S. 794,22–31. Vgl. dazu auch K 50, S. 376,33–377,2 = K 105, S. 793, 25–29. 138 Die Belege zusammengestellt bei Linke, Unstimmige Opposition [Anm. 35], S. 87 mit Anm. 54–58. 139 K 49, S. 369,7–10. Auch S. 369,16/17,20–24. 140 K 49, S. 370,13–17; S. 370,32–371,10. 141 Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), S. 445. 134

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Verräterlohns an Judas und des Wächtersoldes an die Hüter des Hl. Grabes her kennt.142 Der Wettstreit endet mit einem Knalleffekt: Der Verkäufer gibt dem Käufer wütend eine Ohrfeige, weil dieser den Preis von 22 auf 18 Pfennige heruntergehandelt und dem Verkäufer überdies zumindest eine schlechte Münze untergeschoben hat (wenn nicht sogar noch mehr – das ist nicht genau auszumachen). In einigen anderen Spielen machen Genredarstellungen nicht die ganze Handlung aus, sondern sind als Einzelszenen in sie eingelegt, z. T. in Form Lebender Bilder. Das ist besonders in Arzt- und in Gerichtsspielen der Fall. Im Tiroler Arztspiel ›Doktors Apotheke‹ (Z 24) präsentiert so der Arzt, um potenzielle Patienten von seiner Seriosität zu überzeugen, die schriftliche Erlaubnis der lokalen Obrigkeiten, sein Gewerbe ausüben zu dürfen: algo mit gungt, wiggenn vnnd will Aines Ergamen Burgermaigter vnnd rat gambt dem lanndtrichter diger loblichn gtat Igt mir, maigter hanniman knoblach, doctor In der Ertzeneigchen gach, Main maigterschafft auf zu gchlagen vergunnt. das Sey euch allen than hie kunndt Durch brief vnd Sigl, So Ir gecht hie, In was form, magg, gstallt, warumb vnd wie Ich Sollich gchrifft vnnd furdrung han (Z 24, V. 66–75).

Im gleichen Stück steigt der Arztknecht Rubein auf ein Bänkel,143 um von dort aus für jedermann deutlich sicht- und vernehmbar sowohl die ärztliche Kunst seines Meisters als auch Zusammensetzung und Wirkkräfte von dessen Salben anzupreisen; im ebenfalls Tiroler Spiel ›Das Zahnbrechen‹ (Z 22) ist es der Quacksalber selbst (V. 41), der gleichfalls vom Bänkel144 aus professionell marktschreierisch Reklame für seine Zahnbehandlung macht: Ein heilas vnd ain kraftlog man, der Im laggt ain pegn zan riechn vnd ggchwelln In dem maul vnd gtinckhen wie aim altn gaul! ain peger zan ain peger gast (Z 22, V. 57–61)[!]

Ein genreartiges Lebendes Bild wird in der Szene des Zahnbrechens gestellt. Der bäuerliche Patient sitzt, von anderen Bauern gestützt und gehalten, auf der Bank des 142

Zusammenstellung der Belege bei Linke, Unstimmige Opposition [Anm. 35], S. 81 mit Anm. 33 und 34. 143 Z 24, V. 47, 155. 144 Z 4, V. 203; Z 22, V. 41, 44 und Z 24, V. 47, 155 sind die einzigen Zeugnisse für die Art des Auftretens des Quacksalbers und seines Gehilfen im deutschen mittelalterlichen Theater und eine der Wurzeln für den Auftrittsmodus der jüngeren Bänkelsänger lange vor ihrem historischen Erscheinen im 18. Jahrhundert. Naumann verzeichnet sie nicht, siehe Hans Naumann, Studien über den Bänkelgesang, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 33 (1920/21), S. 1–21. Wiederabgedruckt in: ders., Primitive Gemeinschaftskultur. Beiträge zur Volkskunde und Mythologie, Jena 1921, S. 168–190.

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Quacksalbers, der sich über ihn beugt und ihm mit seiner – vielleicht überdimensionierten – Zange einen – vielleicht ebenfalls überdimensionierten – kranken Zahn ausreißt (Z 22, V. 146a–161). Gleichermaßen genreartige Lebende Bilder sind die Szenen der Urteilsverkündung in den Gerichtsspielen von ›Rumpold und Mareth‹.145 Während die streitenden Parteien – Rumpold und Mareth mit ihrem jeweiligen, meist verwandtschaftlichen Anhang –, vorübergehend vom Richtertisch in den Hintergrund getreten,146 dort mit Gebärden und Geschrei derart lautstark aufeinander losgehen, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen kann, diktiert der Richter vom Trubel unberührt dem Gerichtsschreiber das Urteil: Tunc omnes persone eo magis clamant simul se invicem vituperando, ne quis proclamare [Z 8, V. 501b: clamore] et confusione possit percipere verbum. Interim officialis loquens notario scribenti quasi diceret scripturas [Z 8, V. 501e: dictaret sentenciam]. (›Rumpold und Mareth‹ II, K 115, S. 1001,19–21)147

Ein verbales Genrebild stellt die Beschreibung einer turbulenten Bauernfastnacht im Spiel vom ›Prozeß gegen die Fastnacht‹ dar (K 51, S. 385,14–36). Dagegen kommen im Tiroler Doppelspiel ›Werben um Venus‹ (hier Z 15) 16 Handwerker148 und fünf weitere Personen149 bei der Beschreibung von Hauptzügen ihrer gewöhnlichen beruflichen Verrichtungen gänzlich ohne den Rückgriff auf die Bildfantasie aus. I.3.3 Liebe, Ehe, Sexualität Für ihre Darstellungen aus dem Privatleben wählen die Spiele überwiegend Gegenstände aus dem weitgespannten Themenbereich von Liebe und Ehe. Darin ist der Geschlechtstrieb das wirkungsmächtigste Agens. Er macht in K 46 ›Der Bauer und der Bock‹ sogar den Loyalen durch die Frau seines Herrn verführbar, demonstriert in drei Aristoteles-Spielen, dass die Sinnlichkeit selbst die höchste Weisheit besiegt,150 und lässt u. a. in vier Gerichtsspielen um ›Rumpold und Mareth‹,151 in denen ein Prozess um eine Defloration und ein nicht eingehaltenes Eheversprechen geführt

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I: K 130; II: K 115; III: Z 1; IV: Z 8. K 130, S. 256,12/13; Z 1, V. 297–298a. 147 Fast wortgleich ›Rumpold und Mareth‹ IV (Z 8, V. 501 a-e). Die gegenüber K 115 besseren Lesungen oben im Text zugesetzt, die fehlerhaften hingegen weggelassen. Die Regieanweisung in deutscher Fassung in ›Rumpold und Mareth‹ I (K 130, S. 256,14/15), jedoch unvollständig und wenig anschaulich. In ›Rumpold und Mareth‹ III (Z 1) fehlt eine entsprechende Anweisung nach V. 298a gänzlich. 148 In der Reihenfolge ihres Auftretens: Erzknappe (Bergmann), Hufschmied, Rädermacher, Schuster, Schneider, Weber, Kürschner, Bäcker, Metzger, Maurer, Zimmermann, Bader, Böttcher, Sattler, Tischler, Fischer. 149 Am Anfang und Ende der Handwerkerreihe: Ritter, Kaufmann (Bürger), Landsknecht; Bauer und Schreiber. 150 K 17, 28; Z 7. 151 I: K 130; II: K 115; III: Z 1; IV: Z 8. 146

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wird, die ganze, wiederum bäuerliche Welt der Burschen und Mädchen von ihm beherrscht erscheinen. Im Wettstreit um die Gunst einer Frau wird mancher altbekannte Strauß neu ausgefochten. In Werberrevuen gewinnt gegen die Schönredner und Süßholzraspler derjenige, der auf konkrete eigene Werte (im Doppelsinne des Wortes) verweisen kann – nämlich darauf, dass seine Tasche immer voll, sein Schrein nie leer und seine Hand stets freigebig sei;152 Das überzeugt die Umworbene mehr als Jugendkraft und Schönheit der anderen Bewerber: An augen niemant mag gesehen. Wo muot und jugent ist an guot, Do hat die lieb kein hinderhuot (K 15, S. 131,18–20).

In anderen Spielen wird die alte Streitfrage, wer – unter einer hier jeweils reich orchestrierten großen Schar von Bewerbern – der bessere Liebhaber sei, der miles oder der clericus, von der umworbenen Dame stets herkömmlich zugunsten des Schreibers entschieden.153 Was die Ehe angeht, so hangen die Fastnachtspiele im Grundsatz der biblischen Auffassung an, wie sie im Gebot Gottes gegenüber Eva nach dem Sündenfall der Ureltern formuliert ist: sub viri potestate eris et ipse dominabitur tui154

und sprechen das auch mehrfach ausdrücklich aus.155 In der Praxis der Spiele wird sie jedoch nur ein einziges Mal verwirklicht: durch Alheyt am Anfang (V. 51–56, 70–81) und dann wieder am Ende (V. 438–446) des mittelniederdeutschen Spiels von der ›Zähmung einer bösen Frau‹,156 und das sicherlich nicht deswegen, weil dieser Ehezustand in der Wirklichkeit ebenso rar gewesen wäre wie in den Spielen, sondern eher deswegen, weil sich ein derartiges Idyll nicht zur dramatischen Darstellung eignet – allgemein nicht und zu Fastnacht nun schon gar nicht. Bei dieser Gelegenheit sind aggressive Auseinandersetzungen wie der beim Publikum offenbar beliebte, in Handgreiflichkeiten ausartende Ehekrieg157 oder sonstige Streitigkeiten (etwa zwischen Nachbarn) zur unterhaltsamen Belustigung besser geeignet, zumal dann, wenn sie vor Gericht ausgetragen werden. Denn mit Klage, Verteidigung oder Gegenklage und Urteil (oder auch dessen Aufschub) wohnt den dargebotenen Vorgängen eine natürliche Dramatik inne. Daraus erklärt sich der hohe 152

K 15, S. 131,5/6,8. K 70; Z 11, 15. Breslauer Herolds-Rolle, siehe Otto Günther, Ein Bruchstück aus einem unbekannten Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts, Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 26 (1925), S. 189–196. 154 Gen 3,16. Siehe auch Eph 5,22–24,33; 1 Petr 3,1. 155 Vgl. die Ehestreitspiele K 4, S. 49,27/28; Z 13, V. 163. Am ausführlichsten im mnd. Spiel von der ›Zähmung einer bösen Frau‹ in Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, hier V. 195–199. 156 Seelmann [Anm. 92], S. 51–70. 157 K 3, 4, 5, 55; K 31 ≈ Z 13; Z 17; Seelmann [Anm. 92], S. 51–70. Als Nebenthema in K 120 = Z 19. 153

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Anteil von 36 Gerichts- oder Prozessspielen158 an den deutschen Fastnachtspielen. In 16 von ihnen werden Eheprozesse verhandelt, in der Hälfte wieder von diesen geht es um Ehebruch. Die übrigen Prozessspiele behandeln bäuerliche Erbschafts- (K 8b) oder Nachbarschaftsstreitigkeiten wegen verschiedener unziemlicher Verhaltensweisen,159 ferner Klagen wegen Frauenverleumdung (K 87) oder wegen Streitigkeiten zwischen Nebenbuhlern.160 Die Eheprozesse sind durchweg wegen sexueller Unstimmigkeiten zwischen den Partnern angestrengt worden. Da gibt es Fälle grotesk-komisch übersteigerter Libido. In K 29 beklagt sich eine Frau darüber, dass ihr Mann sie mit allnächtlich achtzehnmaligem Koitieren überfordere – reklamiert aber zugleich vorsorglich, dass weniger als fünfzehnmal ihr zu wenig sei;161 in Z 17 ist es Adelheit nicht recht, dass ihr Mann Rumpold seine Leistung von anfangs sechs- auf viermal pro Nacht reduziert hat,162 und Geterl Hueberin bedauert, dass es der ihre gar nur dreimal tue (V. 280/281). Treffend wird daher in einem weiteren Spiel die sexuelle Unersättlichkeit einer jungen Frau, deren Geschlechtsteile anderwärts bisweilen mit Ausdrücken einer obszönen Topographie als bäuerliche Liegenschaften beschrieben werden,163 dem Magen eines hungrigen Wolfs verglichen (K 45, S. 346,10–16). Weiter gibt es Fälle biologischer Inkongruenz zwischen einem alten Ehemann und seiner jungen Frau,164 die von der Frustration der Letzteren165 bis hin zum Nichtvollzug der Ehe (K 27) führt. Neben dem Alters- (und damit auch dem biologischen Temperaments-) Unterschied der Eheleute trägt auch ihre physiologische Inkongruenz zur sexuellen Frustration bei: Sy hat zu weit vnd er zu klain.166

Dieses Missverhältnis gibt Anlass, einerseits die wünschbaren Ausmaße des männlichen Gliedes von unspektakulärer Normalität167 bis hin zu vermutlich bejohlten grotesken Übertreibungen – eine Spanne lang, sieben Daumen lang168 – detailliert zu spezifizieren, andererseits die entsprechenden Abmessungen der Genitalien eines alten (V. 49, 64) Ehemanns, der seiner jungen Frau nicht Genüge tun kann, in Z 23 zur allgemeinen Gaudi auf der Bühne durch zwei geschworene Hebammen feststellen und 158

Zu diesem Motiv siehe den grobgerasterten Überblick anhand einzelner, wohl für exemplarisch angesehener Texte bei Friedrich Wilhelm Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters, Jena 1930 (Deutsche Arbeiten der Universität Köln 2). 159 K 24, 69, 104; K 112 = Z 20. 160 K 18, 34, 52. 161 K 29, S. 241,16–24; S. 245,11–14. 162 V. 305/306,311. 163 K 58, S. 517,2–16; Z 8, V. 740–742, 745–752, 754–757. 164 K 27, 102; Z 6, 23. 165 K 102; Z 23. 166 Z 23, V. 12, vgl. V. 301, 334; 145, 241. 167 Einen Finger lang und einen Daumen dick: K 97, S. 750,3. 168 Eine Spanne – d. h. normalerweise die Distanz zwischen Daumen und Spitze des kleinen (hie und da auch des Mittel-)Fingers – misst landschaftlich verschieden zwischen 22 und 28 cm. Sieben Daumen bezeichnen eine Länge von 42 cm und mehr.

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attestieren zu lassen (V. 179–230). Umgekehrt wird in K 66 vor der Heirat die Ehefähigkeit einer Braut von Mönch Berchtolt durch Inaugenscheinnahme und Tastuntersuchung ihrer Genitalien credenzt, d. h. festgestellt und beglaubigt (S. 573,1–12). Das Gegenstück zur Gebrechlichkeit des betagten Ehemanns einer jungen Frau bildet der junge Ehemann einer gleichfalls jungen Frau, der es aus sexueller Naivität nicht versteht, ihren nachthunger zu stillen.169 Der unersättlichen steht in den Spielen schließlich die geschlechtlich unlustige Ehefrau gegenüber. Mit allerlei Ausflüchten entzieht sie sich dem Ehemann170 und treibt ihn auf diese Weise dazu, die Befriedigung seiner Geschlechtslust außer Haus zu suchen. Selbstverständlich darf man von den Eheprozess-Spielen ungeachtet ihrer Häufigkeit nicht auf die Ehewirklichkeit der Zeit zurückschließen. Was in ihnen dargestellt wird, sind ja gerade Abweichungen von der Norm, und zudem karnevalesk überspitzte.171 Das Ausmaß der komischen Unterhaltung bemisst sich gerade an der Größe der Distanz zum Normalen, das im Bewusstsein des Publikums unausgesprochen als Maßstab fungiert, an dem die Abweichung gemessen wird. Das Vergnügen an ihr hat so zugleich eine – gewiss nicht bewusst angestrebte – Nebenwirkung: Es dient der stillschweigenden Normenvergewisserung im Publikum. Im Aufbau ähneln den Prozessspielen die sechs Spiele der Rat-Erfragungen.172 In zweien von ihnen werden die gestellten Fragen von einem regelrechten Gericht beantwortet,173 in K 97 von einer Versammlung von zehn Ratherren unter Vorsitz des Bürgermeisters,174 der aber auch als Richter bezeichnet wird (S. 747,16), in K 96 von den Repräsentanten der sieben freien Künste: Priscian (Grammatik), Aristoteles (Logik), Euklid (Geometrie), Cicero (Rhetorik), Boe¨thius (Musik), Pythagoras (Arithmetik), Ptolemäus (Astronomie). In zwei weiteren Stücken wird sogar ein Urteil gefällt: in Z 5 die von der Virgo und ihrer Mutter angestrebte Heirat mit einem Juvenis zum Verdruss der beiden Frauen um ein Jahr verschoben (V. 285–302); in K 97 die Streitfrage, wer zuerst heiraten darf – die nach Männerfleisch gierende dralle, aber zu ihrem Bedauern noch jungfräuliche Tochter oder die zwar verwitwete, aber nicht minder lebenshungrige Mutter –, mit der weit überwiegenden Mehrheit von 8 : 2 Stimmen175 zugunsten der Tochter entschieden. Die dem Gericht in K 41 und dessen 169

K 10, 40, 42, 61; Z 2. K 45, S. 346,23–28; K 61, S. 541,24–542,3; K 80, S. 661,8–12; K 108, S. 852,9–18; Z 2, V. 77–105. 171 Die Norm selbst blitzt ganz vereinzelt in den Spielen auf, wenn in Z 11 einmal Gleichheit, hier Standesgleichheit, der Partner angezeigt erscheint (V. 185/186), oder in Z 3 die eheliche Geburt über die rechtliche Legitimation zur Nachfolge in der Herrschaft des verstorbenen Vaters entscheidet. Der ehelich geborene Sohn erweist seine Echtheit und damit zugleich den Vorrang vor seinen beiden außerehelichen Halbbrüdern dadurch, dass es ihm unmöglich ist, dem Leichnam seines Vaters einen Pfeil ins Herz zu schießen; lieber verzichtet er auf sein Erbe – immerhin das Königreich Baiern – ganz ähnlich wie vor Salomos Gericht die echte Mutter auf ihr Kind lieber verzichtet, als es zerteilen zu lassen. 172 K 25, 41, 84, 96, 97; Z 5. 173 Z 5 und K 41, im letzteren ist es – ohne Not – sogar ein geistliches Gericht. 174 S. 746,9,14,29; S. 750,14. 175 Von den sechs Ratherren stimmen nur der dritte und der sechste zugunsten der Mutter, alle übrigen für die Tochter. 170

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Tiroler Bearbeitung Z 5 vorgelegte Frage, wann ein Mann heiraten solle, d. h. welche Voraussetzungen er erfüllen müsse, damit er reif und fähig für die Ehe sei, wird teils ganz unkomisch lebensklug,176 teils physiologisch mit der Erreichung der Geschlechtsreife und Zeugungsfähigkeit beantwortet. In allen drei Stücken wie auch in K 25 wird das Frage-und-Antwort-Spiel zum Anlass für sexuelle Anspielungen177 oder zur Ausbreitung von sexuellen Metaphern genommen.178 Ein gänzlich anderes Frauenbild setzt dem das Stück K 84 entgegen, in dem Antworten auf die Frage gesucht und gegeben werden, Durch was sach es zu mag gan, Das man die frauen liebet so sere Für gut, für sterk, für kunst, für ere (K 84, S. 692,17–19).

Die Antworten umfassen eine ganze Skala auch sozialer (hohe Abkunft und guter Ruf) und materieller Ursachen (Reichtum), vor allem aber biologischer (Jugend), ästhetischer (Schönheit und Eleganz) und charakterlicher Eigenschaften wie Sanftmut und Anschmiegsamkeit. Doch gründet die erfragte Tatsache letztlich in einer eben nicht weiter hinterfragbaren Naturgegebenheit. II. Wahrnehmungs-Formen Unter den Wahrnehmungsformen rangiert die Personendarstellung an vornehmster Stelle. Die Figuren der weltlichen Spiele sind nicht als Individuen, sondern als Typen gesehen. Ihr Gros wird gebildet vom bösen Weib (in unterschiedlichen Ausformungen), vom marktschreierischen Wanderarzt und vom immer wieder aufgebotenen Bauern. Daneben treten am Rande auf der treue Diener (K 57, S. 503,28–34) und die treue Dienerin (K 57, S. 502,28–503,9) im Gegensatz zur durchtriebenen Magd (K 37, S. 280,15–32) und der kluge Narr, der weiser ist als Aristoteles (K 17, S. 152,3–29). Den Platz der nur ein einziges Mal vorkommenden milites gloriosi nehmen meist mit ihrer Potenz prahlende Bauern (z. B. K 28) – ich on schwert und meßer kan streiten (K 45, S. 344,27) – und, in den vier Prozessspielen von ›Rumpold und Mareth‹, die arroganten, eitlen und großsprecherischen Procuratoren (Anwälte) ein,179 die überdies ihre Konkurrenz auf der Bühne in Form von Kollegenneid und Juristengezänk austragen. 176

Erst nach beruflicher Ausbildung und nach Erwerbung von Lebens- und Welterfahrung (u. a. fern von zuhause) und nur, wenn ein untadeliger Ruf und die Bereitschaft zu ehelicher Treue vorhanden seien. 177 K 41, S. 316,21–317,4 = Z 5, V. 273–278; K 41, S. 317,5–13 = Z 5, V. 243–250; K 41, S. 317,14–22. 178 K 25, S. 225,15; S. 226,5–12; K 97, S. 747,11,15,32; S. 748,2–5,14/15,22–25; S. 749,16– 19,23–28,31/32; S. 750,2/3,8,10,23. 179 K 130 (I); K 115 (II); Z 1 (III); Z 8 (IV). – K 130, S. 246,14–21 = K 115, S. 988,1–8 = Z 1, V. 16b–20 = Z 8, V. 141a–145. K 130, S. 253,16–21 = K 115, S. 998,19–22 = Z 1, V. 228a– 231 = Z 8, V. 417a–420. K 130, S. 253,24–254,11 = K 115, S. 996,9–27 = Z 1, V. 232a–242 = Z 8, V. 360a–374. K 115, S. 1003,12–26 = Z 8, V. 547a–561. K 130, S. 254,19–255,12 = K 115, S. 1004,14–1005,3,23–28 = Z 1, V. 248–270 = Z 8, V. 582–601,613a–619. K 115, S. 1005,9–21 = Z 8, V. 601a–613.

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Die böse Frau – gewöhnlich zänkisch und gewalttätig,180 mitunter auch genusssüchtig181 und eitel182 – gibt es gleich in mehreren Varianten. Schon als Braut benimmt sie sich so widerspenstig, dass der Bräutigam für immer Reißaus nimmt (K 7, S. 73,1– 23). Als böse Ehefrau183 kujoniert sie nicht nur ihren Mann, sondern agiert auch als Typ der bösen Schwiegermutter, die ihre Tochter gegen den Mann aufhetzt und sie zu Ungehorsam und Eitelkeit verleitet.184 Darüber hinaus betätigt sich die böse Alte als Kupplerin185 und Zauberin186 und erweist sich in dieser Funktion nicht nur als Bundesgenossin und Agentin der Hölle (K 57, S. 501,5–11), sondern auch als sogar schlimmer denn sie und den Teufeln überlegen, die sie im Verein mit mehreren Genossinnen in die Flucht prügelt.187 Der Arzt der Fastnachtspiele ist als Typ und mit allem seinem Drum und Dran der aus den Salbenkrämer-Szenen des geistlichen Dramas ausgewanderte quacksalbernde Scharlatan.188 Zum erwähnten Drum und Dran gehören in Tirol die Arztdiener189 und in allen Arztspielen überhaupt natürlich die vielen Medikamente und ihre oftmals obszöne Indikation: gegen Impotenz,190 gegen verlorene Jungfernschaft,191 für Haarwuchs auf den weiblichen Genitalien (Z 24, V. 473–476) und gegen sexuelle Übererregung, Erektion und Brunst beider Geschlechter.192 Neben dem männlichen Geni180

K 3, S. 45,10–27; K 4, S. 48,8–11, S. 50,1–51,20; K 7, S. 73,1–23; K 56, S. 485,20–486,3, S. 489,1–490,23. Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, V. 210–224, 363–374, 387–390. 181 K 56, S. 485,25, S. 486,7–488,20, S. 496,1–3. Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, V. 117–121, vgl. V. 154. 182 Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, V. 127–133, vgl. V. 169, 180–190. 183 K 3, S. 44,19–34; K 4, S. 48,8–11. Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, V. 40–47, 99–123, auch V. 144–239. 184 K 3, S. 44,19–34. Seelmann [Anm. 92], S. 51–70, V. 89–92, 124–137. 185 K 19, 37, 57. 186 K 57, S. 497,22–25. – Die anfangs keifende, später als Schwiegermutter liebreich säuselnde Mutter der Braut in den Spielen um ›Rumpold und Mareth‹ I-IV erweckt zumindest für Rumpolds Vater glaubhaft den Eindruck, zaubern zu können, als sie dem heiratsunwilligen Rumpold droht, ihm einen Schadenszauber anzuhexen: I (K 130, S. 249,28–33), III (Z 1, V. 109–125), IV (Z 8, V. 272–283). 187 K 57, S. 505,19/20, S. 507,20–510,8. 188 Zu diesem Säkularisierungsvorgang siehe Linke, Unstimmige Opposition [Anm. 35], S. 100– 102. – Allerdings heißt der Quacksalber so wie im geistlichen Drama Ipocras/Ypocras einzig im Tiroler Spiel Z 4; in den übrigen Tiroler Stücken führt die immer gleiche Figur den Namen Doctor Knoflach/Knoblach (Z 6, 1. und 2. Titel; Z 24, V. 3), Hänniman Knoblach (Z 24, V. 69) oder einfach Hännimann (Z 21, 1. und 2. Titel). In der Nürnberger Gruppe der Arztspiele vollends ist er in Anspielung auf das Apothekergewicht Uncian genannt (K 48, S. 365,3 u. ö.) und Vivian/Viviam (K 6, S. 59,4; K 82, S. 679,13), was vermutlich auf die frühe Verlesung von Uncian durch einen Kopisten zurückgeht. 189 Wie im geistlichen Spiel Rubein (Z 4, 21, 24) und Pusterbalckh (Z 4) geheißen, davon abweichend in Z 6 Pernfleckh, Gumprecht und Smitzinghicken. In Z 19 und 22 gibt es keinen Arztknecht. In der Nürnberger Gruppe der Arztspiele taucht die Figur nur in zweien von ihnen auf; dort heißt sie Augustin (K 48, S. 366,27; K 82, S. 684,32). 190 Z 24, V. 468–472, 550, 627–638. 191 K 82, S. 680,19–20 = Z 21, V. 51–54; Z 4, V. 292–299; Z 24, V. 198–206, 589. 192 Z 4, V. 302/303; Z 24, V. 210–216, 272–275, 417/418, 510–512, 462–464.

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tale – das als heilende wurz umschrieben ist, die weiblichen Patienten zum Auflegen auf den Bauch oder zum Einführen verordnet wird193 – gibt es in den fastnächtlichen Arztspielen über die Heilmittel in den Salbenkrämerspielen der geistlichen Dramatik hinaus komische Salben – z. B. gegen das Schnarchen (Z 24, V. 539–542), für den Erwerb von Klugheit und Eloquenz (Z 24, V. 294–298) oder dagegen, dass einen die Hunde anbellen (Z 24, V. 494) – und auch magische Mittel wie etwa eine Salbe zur Geisterabwehr (Z 24, V. 439–442). Die Ingredienzien der feilgebotenen Arzneimittel entstammen vielfach der Dreckapotheke. Sehr häufig ist skatologische Zusammensetzung unter Beimischung von Kot und Darmwinden (Z 24, V. 426), Exkrementen eines wilden Stiers (Z 24, V. 374) oder einer jährigen Kuh,194 Ziegenbohnen,195 Rossäpfeln (Z 24, V. 448), dem Kot eines alten Wolfs,196 Affenkot (Z 24, V. 317) und Taubendreck,197 dazu auch Altweiber-Harn (Z 24, V. 485). Alle diese Medikamente sind nicht nur zur äußerlichen, sondern auch zur innerlichen Anwendung bestimmt und werden z. T. sogar oral verabfolgt. Wieweit es sich hierbei nur um deftigen Unflat oder nicht vielleicht auch wenigstens teilweise um tatsächliche Mittel der zeitgenössischen Volksmedizin handelt, harrt noch einer genaueren Untersuchung. Es könnte sein, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Scherz mehrfach nach beiden Seiten hin überschritten wird. Das Fehlen eines Realkommentars zu den Spielen macht sich hier besonders empfindlich bemerkbar. Deswegen lässt sich die Frage nach der Komik und eventuell auch ihrer Eigenart in diesem Bereich noch nicht angemessen beantworten. Außerordentlich beliebt sind Heilmittel von spielerisch-fantastischer Zusammensetzung. Da gibt es abstrus-lächerliche Ingredienzien wie Heringsgräten (Z 24, V. 451), eine Eselsrippe,198 den Huf eines Schimmels (Z 24, V. 410), zwei Stückchen Holzkohle eines verbrannten Waldes199 und allerlei Filz verschiedener Provenienz.200 Ingredienzien von nahezu substanzloser Winzigkeit stehen in komischem Widerspruch zur behaupteten ungeheuren Wirkung, z. B. Hennentritt (Z 24, V. 284), Mückenhirn (K 6, S. 60,29) oder Mückenmilz (K 48, S. 367,12) und Bremsenfett.201 Eine Vielzahl von Medikamenten enthält vollends unkörperliche ‘Substanzen’: akustische Erscheinungen – wie Kartaunensaus (Z 24, V. 519), eine Flasche voll Tauern- (Z 4, V. 273) oder gar eine Gasse voll Brennerwind (Z 24, V. 281), Raben-202 und Schwabengeschrei (Z 21, V. 198), ein Fass voller Vogelsang (Z 24, V. 283), Trompetenschall (Z 24, V. 516), Waldhorndunst (Z 24, V. 517) und Glockenklang,203 den Gesang eines 193

Zum Beispiel K 98, S. 751,20–28; Z 24, V. 571–578, 649–660, 661–674. K 48, S. 367,6/7; K 101, S. 768,22; Z 6, V. 56–58. 195 Z 6, V. 87–92 = Z 24, V. 339–344. 196 Z 6, V. 94 = Z 24, V. 522. 197 Z 6, V. 97–99 = Z 24, V. 345–347. 198 K 82, S. 680,32 = Z 21, V. 62; Z 24, V. 192. 199 Z 4, V. 274; Z 24, V. 282. 200 Den Hut eines alten Pilgers (K 48, S. 367,11), einen anderen alten Filzhut (Z 24, V. 410) und einen Filz von alten Schuhen (K 48, S. 367,13). 201 K 48, S. 367,10. Vgl. außerhalb der Fastnachtspiele auch Folz [Anm. 205], V. 144. 202 Z 4, V. 272; Z. 24 V. 280. 203 K 6, S. 60,27; Z 4, V. 261; Z 24, V. 284. 194

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blinden Leiermanns (Z 4, V. 62) und das Knarzen einer alten Bank (K 6, S. 60,28) – und optische Phänomene wie Himmelsbläue204 oder den Schimmel von drei Regenbogen (Z 4, V. 276).205 Als überhaupt irreale Bestandteile von Arzneien tauchen auf Drachenblut (K 48, S. 367,10), das Blut von Kieselsteinen,206 ein Froschschwanz (K 6, S. 60,25) und der Stahl eines Bleinagels (K 6, S. 60,20). Die fantastischen Medikamente sind vielfach aus verschiedenen dieser Zutaten – winzigen bis immateriellen sowie unsinnigen – zusammengemischt. Der vordergründige Effekt ihrer ausgebreiteten Beschreibungen besteht natürlich in der Verspottung tatsächlicher Quacksalber-Arzneien als scharlatanhaft und folglich wirkungslos, wo nicht gar schädlich. Eine weitere Absicht ihrer anpreisenden Vorführung zielt auf die spielerische Verunwirklichung der Realität aus der heiteren Gelöstheit der Fastnachtslaune heraus. Bezeichnenderweise enthält eine der in Tirol importierten Arzneien als Ingrediens der von nuermberg iin vnd gedanckh (Z 4, V. 263). Unverkennbar ist die Verwandtschaft der so zusammengesetzten Medikamente mit der Lügendichtung, die auch anderwärts in den Spielen ihre Spuren hinterlassen hat. In einem der Tiroler Arztspiele (›Doktors Apotheke‹ Z 24) hat der Doctor studiert zu Wienn, da dj kue auff den Steltzen gienn (V. 5/6), in einem Nürnberger Stück kommt er gar aus dem Schlauraffen-Land (K 6, S. 58,27), und in dem Revuespiel K 9 versuchen sich die Sprecher nicht allein an Zoten, sondern auch an Lügen gegenseitig zu übertrumpfen. Da fliegt etwa eine Kuh auf einen Baum, und aus ihren Fladen erwächst ein Pferd, das Pflaumen legt (S. 93,4–8), ein Frosch frisst einen Storch,207 und vier Gänse braten einen Koch (K 9, S. 94,13/14); ähnlich jagt ein Student im Tiroler Spiel Z 18 einen Stadel um eine Gans (V. 27/28). An den letzten Beispielen ist die Absicht solcher Lügen ablesbar: Die Welt wird auf den Kopf gestellt.208 Die Aufhebung der normalen Ordnung der Dinge und der Gesetze, die sie regieren, ist die genaue Entsprechung 204

K 6, S. 60,29; Z 4, V. 275; Z 24, V. 409. Akustische und optische Phänomene als Bestandteil von Arzneien findet man in der Zeit auch in komischen Rezepten außerhalb der Fastnachtspiele und z. T. schon lange vor ihnen. Glockenklang bei Anton Birlinger, Ein scherzhaftes Recept [1422], ZfdA 15 (1872), S. 510– 512, hier S. 510. Franz Pfeiffer, Ein komisches Recept [1463], in: Germania 8 (1863), S. 63/64, hier S. 64. Hans Folz, Spottrezepte eines griechischen Arztes [1479], in: Hans Folz, Die Reimpaarsprüche, hg. v. Hanns Fischer, München 1961 (MTU 1), S. 281–286, hier V. 24: Das glunckern von einer schoffglocken. – Himmelsbläue bei Birlinger, S. 510; Pfeiffer, S. 64 und Folz, V. 64. Darüber hinaus bei Letzterem auch u. a. Nonnenfürze (V. 79), der Klang einer alten Laute (V. 31) und Neumond-Schein (V. 38). 206 K 82, S. 680,26. – In Schmalz von Kieselsteinen abgewandelt ist es auch in den in Anm. 205 genannten komischen Rezepten enthalten: Birlinger, S. 510; Pfeiffer, S. 64. Siehe dazu bereits im 14. Jh. in: Ein buch von guter Speise, hg. v. J. A. Schmeller, Stuttgart 1844, S. 19 (BLVSt 9). 207 K 9, S. 93,20. Vgl. auch K 39, S. 299,2. 208 In ›Des Türken Fastnachtspiel‹ (K 39) dient die Weltverkehrung als Metapher für die Zeitangabe ‘nie’. Der Türke werde vor dem Kaiser erst dann fliehen, wenn die Natur Kopf steht: wenn der Fuchs das Huhn, der Hund den Hasen flieht, der Einfältige den Gerissenen betrügt und die Gans den Wolf jagt (S. 298,17–299,6). Ähnlich endet die Strafe für einen Frauenverleumder in K 87 erst, wenn die Geiß einen Wolf trägt oder ein Esel sich die Säcke selber auflegt (S. 706,5/6). 205

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zum Fastnachtstreiben. Zugleich mit der Aufhebung der Erdenschwere der Dinge wird die Atmosphäre einer schwerelos schwebenden Phantasiewelt geschaffen. Die Entdinglichung der Wirklichkeit nimmt den unflätigen Medizinen etwas von ihrer zotigen Derbheit, indem sie ihre materielle Substantialität relativiert. Der Arzt, der von den sieben freien Künsten acht209 oder sogar achteinhalb kann (K 48, S. 365,12), ist ein Teil dieser verkehrten Welt. Das wird in logischer Inversion bei der Rühmung seiner Fähigkeiten durch seinen Gehilfen deutlich. Er ist der erczney ain vnglerter man (Z 4, V. 6), der es meisterhaft versteht, einem das Wohlbefinden auszutreiben: [. . .] wem zu wol wer in dem leibe, Dem kan er es maisterlich vertreiben (K 6, S. 61,3/4).

Sein Tun bewirkt entweder das Gegenteil von dem, was mit der Heilbehandlung gewollt und von ihr erwartet wird – bis hin zum letalen Ausgang210 –, oder aber es endet in einem Resultat von gewollt logischer Lächerlichkeit, das mit dem Leiden und seiner Behandlung in überhaupt keinem ursächlichen Zusammenhang steht: Er kan mit maisterliehen sachen Di plinten reden machen Und das ein stumm gesicht drat, Ist, das er vor gut augen hat.211

Mitunter wird er deshalb als ein an den Pranger gestellter und der Stadt oder des Landes verwiesener, an seiner Brandmarkung bereits äußerlich für jedermann kenntlicher Galgenstrick dargestellt (Z 4, V. 27–37), als der sonst üblicherweise sein Knecht Rubein erscheint. Die Ordination des Quacksalbers beginnt mit der Erhebung der Diagnose mittels der auch in der seriösen Medizin vorgenommenen Harnbeschau.212 Hier in den Fastnachtspielen gibt sie mehrfach Anlass zu einem obszönen Witz, mit dem die bäuerlichen Patienten als zugleich schmutzig und dumm verspottet werden. Sie haben nämlich – teils in bester Absicht, teils aus Unverstand – mehrfach Harn und Exkremente zusammen in ein und demselben Gefäß aufgefangen.213 Bei der anschließenden Heilbehandlung wird der Kranke gelegentlich rabiat traktiert und einer Rosskur unterzogen,214 wie man sie Jahrhunderte später (fälschlich) Dr. Eisenbarth zuschrieb. 209

K 82, S. 679,14 = Z 21, V. 20. Mit seiner erznei hat er ertot munch und pfaffen, [. . .] Wer do ist gesunt, den macht er sich. [. . .] Auch macht er die geraden lam, [. . .] Er kann die gesehenten plint machen Und den gesunten vertreiben das lachen, Einen hat er pracht von dem leben, Darüber sult ir brief und sigel sehen (K 6, S. 59,1,3,6,8–11). – Vgl. K 82, S. 679,20–26 = Z 21, V. 26–36; Z 4, V. 11/12,47–52; Z 24, V. 90–94. 211 K 82, S. 679,15–18; vgl. Z 21, V. 21–24. 212 K 6, S. 62,21–63,27; K 48, S. 365,22–366,25; K 82, S. 683,33–684,17 = Z 21, V. 164a– 180; K 85, S. 696,20–24, S. 697,10–21, S. 698,8–27; K 98, S. 753,26; Z 19, V. 81–84; Z 24, V. 752–799. 213 K 48, S. 366,8–25; K 82, S. 684,11–17 = Z 21, V. 174a–180. Vgl. auch K 6, S. 63,24–64,4 (hier aber Irrtum des Arztes). 214 K 82, S. 686,21–687,8 = Z 21, V. 233–254. 210

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Die Typenfigur, die am häufigsten in Erscheinung tritt, ist der Bauer beiderlei, überwiegend jedoch männlichen Geschlechts – in den oberdeutschen Spielen stets zotig und kotig, dumm und tölpelhaft und entsprechend von unversieglicher Geilheit; natürlich kein Abbild der Wirklichkeit, sondern ihr Zerrbild; zudem entsprungen der Fantasie von Städtern,215 die darüber Kübel voll Spott ausschütten. Demgegenüber sind Figuren, Figuren-Konstellation und Handlung in der mittelniederdeutschen ›Burenbedregerie‹216 umgekehrt. Darin sind die ahnungslosen Städter die Einfältigen und die Bauern die Pfiffigen (V. 51). Dafür, dass sie auch hier von den Städtern häufig hintergangen, übervorteilt und zum Narren gehalten werden, rächen sie sich,217 indem sie de symplen Boergers (V. 26) auf vielfältige Weise hereinlegen. Der eine veranstaltet für einen Städter – sogar einen gelehrten (V. 46/47)! – eine ganze Fuhre Holz, obwohl es vollauf genügt hätte, wenn zwei Männer es ins Haus getragen hätten (V. 38–42); der andere isst zusammen mit seiner Frau manches fette Lamm aus der ihm anvertrauten Herde und nutzt deren Wolle, macht aber seinem Grundherren weis, der Wolf habe sie geholt (V. 75–77); und beide verkaufen auf dem Markt allerlei verfälschte, z. T. sogar gesundheitsschädigende Lebensmittel: faule Eier (V. 92–97), den Speck einer finnigen Sau (V. 112/113) und eine vom Pferd totgetretene Ente, die er für einen Erpel ausgibt (V. 104–107), der eine; an Pips erkrankte Hühner (V. 108–111) und einen schon eine Woche toten Hasen, dessen Eingeweide er zur Täuschung mit Hühnerblut bestrichen hat, für frisch geschlachtet der andere (V. 98–103). Der erste resümiert schadenfroh: Wen de Boe rgers vaken wue gten, wat ge eten, De gpige gcholde en wol vordreten (V. 115/116).

Das alles erfährt das Publikum in einer ruhigen, der Wirklichkeit angenäherten genrehaften Szene. Zwei Bauern haben sich am Markttag im Wirtshaus getroffen. Während einer von ihnen darauf wartet, dass das Fastelabendbier auf seinen Wagen geladen wird, das er für die Bauern seines Dorfes eingekauft hat (V. 28, 176), unterhalten sie sich beim Bier zum einen eben darüber, wie sie die Städter übertölpelt haben, und danach zum anderen über die von ihnen in der Natur beobachteten Anzeichen des baldigen Sommerbeginns – Ringeltauben, die auf dem Kirchdach gurren (V. 158/159), Krähen, die um den Glockenturm fliegen, und Sperlinge, die unter dem Hecken-

215

Beweisend sind hier das Rosenplütsche Fastnachtspiel K 82 aus Nürnberg und die ihm nah verwandte Tiroler Bearbeitung Z 21. In ihnen macht einer der Bauern bei ihrer Beratschlagung, ob ein kranker Nachbar dem Wanderarzt zur Behandlung anzuvertrauen sei, den Vorschlag, zuvor dessen Heilkünste auf die Probe zu stellen, indem man ihm versuchsweise kranke Tiere zur Behandlung überlasse – ein blindes Fohlen und einen einäugigen Hund in K 82 (S. 682,17–25), eine blinde Kuh in Z 21 (V. 134–138). Das ist vom Städter her gedacht; für einen Bauern sind – auch kranke – Tiere zu wertvoll, um sie für ein derartiges Experiment zur Verfügung zu stellen. 216 Seelmann [Anm. 92], S. 71–79. 217 Truwen, men moth ie [die Städter] mit eerem egen vette begeten, Wente de Boergers luren vns buren gantz ieer. (Seelmann [Anm. 92], S. 71–79, V. 117/118).

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zaun tschilpen (V. 161–164); Ungeziefer, das unter der Dorflinde hervorzukriechen beginnt (V. 167/168) – und schließlich über Boden- und Witterungsverhältnisse und die davon abhängigen Ernteaussichten. Auch in den oberdeutschen Spielen tritt der Mensch der Welt beobachtend und fragend gegenüber, konzentriert sich mit diesen beiden Wahrnehmungs-Modi jedoch nicht auf die ihn umgebende, außermenschliche Natur, sondern auf den Menschen selbst, seine Physis, seine Psyche und sein Sozialverhalten.218 Auch zieht er aus seinen Beobachtungen nicht, wie in der ›Burenbedregerie‹, Schlüsse, die letztlich auf vorgängigen Erfahrungen beruhen; vielmehr leitet er daraus Fragen ab. Daraus erklären sich die vielen Fragepronomina in den einschlägigen Stücken.219 Die Fragen selbst sind natürlich nicht ernst gemeint, sondern dem Anlass entsprechend scherzhafter Natur. In dem Fastnachtspiel K 23, in dem die Mitspieler in der Nürnberger Tuchscherergasse220 teils fassungslos, teils ehrfürchtig staunend einen riesigen Kothaufen umstehen, wird nach der physiologischen Möglichkeit seiner Entstehung in einem Menschen gefragt (S. 214,7/8,15) und weiter danach, Wie es ist vom menschen getriben, Das im sein mistpfort ganz ist belieben.221

In K 84 wird nach der Ursache geforscht, weshalb man die Frauen mehr als Besitz, Kraft (oder Macht), Kunst und Ansehen liebt (S. 692,17–19), in K 30 (›Das Eggenziehen‹) nach den – wie sich dann zeigt: ästhetischen, moralischen und sozialen – Gründen, weshalb Mädchen über Fastnacht ohne Mann sitzen bleiben. In dem Rosenplütschen Rat-Erfragungs-Stück ›Wann man heiraten soll‹ I (K 41) und seiner Tiroler Bearbeitung (Z 5) werden die Fragen gestellt und beantwortet, wann es für einen Mann angemessen sei zu heiraten und welche physiologischen Voraussetzungen für eine Ehe er erfüllen müsse (Z 5, V. 191/192). In K 25 werden u. a. Antworten auf die 218

Die beiden Folz-Stücke ›Die alt und neu ee‹ (K 1) und ›Kaiser Constantinus‹ (K 106) stellen dabei einen Sonderfall dar. In diesen religiösen Disputationen werden auf der Basis der Vernunft (K 1, S. 24,25/26) Fragen nach Grundlagen und Einzelheiten der jüdischen wie der christlichen Religion zwischen einem Vertreter der Judenheit und einem solchen der Christenheit rational-diskursiv erörtert, etwa nach dem jüdischen Gottesbegriff und dem Verhältnis der Juden zum Christentum (K 1) oder solche nach der Trinität, der Magdgeburt und der Menschennatur des Gottessohnes und der Realpräsenz Christi in der Hostie (K 106). – Einen dritten Sonderfall bildet das Rätselspiel K 63. Mit seinen vielen Fragen (und Fragewörtern) nach was, warumb, wo, womit, wohin, welcher, mit welcher weis u. a. werden Wissensfragen eingeleitet, mit denen man direkt die kombinatorische Intelligenz des im Spiel antwortenden Freiheit/jaufkint prüft, indirekt aber auch möglicherweise wenigstens zum Teil diejenige des mitdenkenden Publikums, jedenfalls aber seine Neugier anspricht. 219 K 23, S. 214,7/8,15,17,24; K 41, S. 315,1 = Z 5, V. 109. Vgl. K 41, S. 315,7 = Z 5, V. 172, 177; K 84, S. 692,17; K 97, S. 747,14, vgl. S. 747,22. – Siehe auch K 25, S. 224,14, S. 225,4; K 30, S. 248,13,25, S. 249,6,18,30, S. 250,10,21. – Vgl. auch Anm. 218. 220 Ihre nicht weniger als dreimalige Erwähnung im Text als Ort der Handlung (K 23, S. 211,6, S. 217,5,17) könnte eine bewusste Frozzelei der örtlichen Tuchschererzunft gewesen sein. 221 K 23, S. 214,9/10. Vgl. Wie das kunter sei von im kumen (Z. 17) und Wie er das ei hab pracht zu nest (Z. 24).

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mit scherzhafter Wissbegier gestellten Fragen gegeben, weshalb beim Beischlaf die Frauen vorzugsweise den Mann tragen, obgleich er doch der stärkere ist, und woher die Sensibilität rührt, mit der ein Penis sich – wie physiologisch anschaulich beschrieben – erigiert, sobald er die Nähe einer Frau spürt. In K 97 schließlich werden auf die Entscheidungsfrage, wer zuerst heiraten dürfe, die verwitwete Mutter, die an Männerfleisch gewöhnt ist, oder die geschlechtsreife Tochter, die es mit aller Macht danach gelüstet, in einer Ratsversammlung Gründe für und gegen beide Ansprüche argumentativ gegeneinander abgewogen. III. Wahrnehmungs-Medien In den von Schnorr von Carolsfeld edierten Nürnberger Fastnachtspielen222 wird hinsichtlich ihrer Dignität zwischen Stücken mit erdichteten und solchen mit tatsächlich geschehenen und historisch beglaubigten Inhalten unterschieden. man hot vil fagnacht gpyll, die zu frewden werden ertracht. doch ertychte merlein werden gering geacht, aber warhaftig ygtory vnd ergangen gegchicht, das gind lobliche vnd maygterliche gedicht.223

Die letzteren werden höher eingeschätzt als die ersteren. Ihre Geschichtlichkeit wird allein schon durch die Schriftlichkeit der Überlieferung – die geichryft/geichrift, die geichriften224 – als verbürgt angesehen,225 so als ob Fiktionalität und schriftliche Tradierung einander ausschlössen. Deshalb gelten der sagenhafte Schönheitswettstreit der drei Göttinnen Juno, Pallas [Athene] und Venus samt dem ihn entscheidenden ParisUrteil für ebenso historisch wie das Salomonische Urteil (1 Kön 3,16–28), obwohl dieses auch in anderen Kulturen vorkommt,226 also eigentlich ein Wandermotiv ist, dessen historische Fixierung sekundär ist. Gegenüber dieser zeitgenössischen Klassifizierung erscheint es mir zweckmäßiger, die qualitative Einschätzung des stofflichen Substrats der Spiele ganz beiseite zu lassen und die darüber hinaus getroffene Unterscheidung anhand ihrer Historizität dahingehend abzuwandeln, dass nicht nach der fiktionalen oder nichtfiktionalen Natur der behandelten Gegenstände selbst, sondern nach den unterschiedlichen Medien ihrer Weitergabe gefragt wird, mittels denen sie wahrgenommen werden. Nur eine kleine Anzahl von Stücken verdankt sich dem unmittelbaren oder mittelbaren Miterleben geschichtlicher Gegenwartsrealität – lokaler und regionaler wie 222

Franz Schnorr von Carolsfeld, Vier ungedruckte Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, Archiv für Literaturgeschichte 3 (1874), S. 1–25. 223 Ebd., Nr. III V. 2–6. 224 Ebd., Nr. III V. 9; Nr. IV V. 9, 11, vgl. 289. 225 [. . .] die geichicht alio ergangen iind, noch dem vnd man das geichriben find. Schnorr von Carolsfeld [Anm. 222], Nr. II V. 241/242 = Nr. III V. 108/109. 226 Vgl. Stith Thompson, Motif-Index of Folk-Literature, Bd. IV, Bloomington 1957, S. 83: J 1171.1; Solomon’s judgment: the divided child.

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einer Phase der Hildesheimer Stiftsfehde in ›De Schevekloth‹227 oder der Selbstbehauptung der Dithmarscher Bauern gegen König Hans von Dänemark228 und abendländischer wie der Türkenbedrohung in ›Des Türken Fastnachtspiel‹ (K 39). ›Des Entkrist Vasnacht‹ (Christ-Kutter [Anm. 9], S. 41–61) wird ursprünglich dazu gehört haben. Eine Vielzahl von Spielen ist bereits literarisch vorgeformt und speist sich aus meist epischen Quellen. Für die Lübecker Titel hat das nach Walthers Vorgang229 Simon detailliert nachgewiesen.230 Bei den oberdeutschen Spielen ist von einer etwa gleich großen Anzahl von Spielen auszugehen, die auf literarische – gewöhnlich ebenfalls epische – Quellen zurückgehen.231 Die Gestaltung der höfischen Welt232 dürfte weitgehend darauf, die Wiedergabe städtischer Realität233 dagegen auf eigener Kenntnis der Autoren beruhen, während die unübersehbar quantitativ dominierende Darstellung der bäuerlichen Welt234 zwar ebenfalls in der eigenen Anschauung der Verfasser Anhalt hat, diese jedoch – mit einziger Ausnahme der realitätsangenäherten mnd. ›Burenbedregerie‹ – durchgehend tendenziös überspitzt und karikierend verzerrt. IV. Ausdrucksmittel zur Vermittlung der Wirklichkeitswahrnehmung an das Publikum IV.1 Sprachliche und literarische Ausdrucksmittel Der Blick auf die Ausdrucksmittel, deren sich die Spielverfasser bedienen, um dem Publikum ihre Sicht der Dinge zu vermitteln, eröffnet bislang noch nicht erwähnte Perspektiven. An sprachlichen Instrumenten werden in zwei Tiroler Spielen – Z 19 (›Der Durchfallkranke‹ II, Originaltitel ›Der scheissennd‹) und Z 25 (›Die zwen Stenndt‹) – Dialekt und Soziolekte eingesetzt, um die Bühnenfiguren geographisch und sozial zu lokalisieren. Max Siller hat die entsprechenden sprachlichen Verfahren in einer Reihe von Untersuchungen durchleuchtet.235 Im ›Durchfallkranken‹, dem Sil227

Seelmann [Anm. 92], S. 99–112. Lübeck 1500, siehe Simon [Anm. 5], Nr. 246. 229 Christoph Walther, Ueber die Lübecker Fastnachtspiele, NdJb 6 (1880), S. 6–31, und ders., Zu den Lübecker Fastnachtspielen, NdJb 27 (1901), S. 1–21. 230 Simon [Anm. 5], S. 243–259. Vgl. die Lübecker Spieltitel (Simon-Nummern in Klammern) von 1434 (Nr. 169), 1446 (Nr. 188), 1447 (Nr. 189), 1450 (Nr. 192), 1453 (Nr. 195), 1454 (Nr. 196), 1460 (Nr. 203), 1467 (Nr. 210), 1468 (Nr. 211), 1472? (Nr. 215), 1455 (Nr. 197), 1473 (Nr. 216), 1477 (Nr. 219). 231 Vgl. etwa K 1, 17, 21, 53, 60, 80, 81, 106, 127, 128 und Z 7. Auch K 37, 62, 78, 120; Z 4, 6, 21, 22, 24. 232 K 8b, 22, 47, 53, 57, 60, 62, 75, 78, 79, 80, 81, 100, 106, 127 und Z 3. 233 K 2, (19?), 23, 39, 49, 50, 51, (84), 95, 96, 105. 234 K 3, 4, 5, 7, 9, 10, 12, 13, 18, 24, 28, 30, 31, 35, 36, (40, 42), 43, 45, 46, 48, (53), 55, 58, 65, 66, 67, 69, 74, 82, 88, 94, 104, 109, 112, 115, 130; Z 1, 2, 8, 18, 20, 21, 22, (25). Schnorr von Carolsfeld [Anm. 222], Nr. I. 235 Max Siller, Soziolektale Phänomene im Fastnachtspiel. Computergestützte Analyse diasystematischer Varietäten in frühen dramatischen Werken, in: Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Probleme interdisziplinärer Textverarbeitung und Textbearbeitung, 228

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ler die von Hans Folz herrührende, sprachlich einfachere Nürnberger Vorlage (K 120 ›Der Durchfallkranke‹ I) gegenüberstellt, reden der Arzt und der kranke Bauer samt seiner Frau fortwährend aneinander vorbei; denn das Bauernpaar missversteht den hier an der deutsch-italienischen Sprachgrenze Deutsch nur radebrechenden italienischen Arzt – allerdings nicht so sehr wegen dessen sprachlichen Mankos, als hauptsächlich wegen der eigenen intellektuellen Einfalt, die Äquivokationen immer ganz konkret versteht, wo sie metaphorisch gemeint sind.236 Im Spiel von den ›Zwen Stenndt‹ (Z 25) unterscheiden sich die Figuren u. a. sprachlich, und zwar danach, ob sie die Sprache der Gebildeten verwenden (wie z. B. der Pfarrer) oder sich grobmundartlich äußern (wie die Bauern). Ob es eine solche sprachliche Charakterisierung der handelnden Figuren auch in anderen Tiroler und vielleicht auch in Nürnberger und niederdeutschen – Stücken gibt, ist noch gar nicht untersucht worden. Aus der Beobachtung von Dingen237 und vor allem von Menschen – ihrer Physis (K 15, S. 131,18), besonders der sexuellen,238 ihrer Psyche, ihrem Intellekt und ihrem hg. v. Anton Schwob, Karin Kranisch-Hofbauer u. Dieter Suntinger, Graz 1989, S. 263–290. – Ders., Computergestützte Analyse von Fastnachtspielen, in: Maschinelle Textverarbeitung altdeutscher Texte IV. Beiträge zum Vierten Internationalen Symposion Trier, 28. Februar bis 2. März 1988, hg. v. Kurt Gärtner, Paul Sappler u. Michael Trauth, Tübingen 1991, S. 256–266. – Ders., Deutsche mittelalterliche Literatur und Soziolinguistik, Sprachwissenschaft 16 (1991), S. 227–244. – Ders., Ausgewählte Aspekte des Fastnachtspiels im Hinblick auf die Aufführung des Sterzinger Spiels ›der scheissend‹, in: Fastnachtspiel−Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten−Gegensätze. Akten des 1. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (31.3.–3.4.1991), hg. v. Max Siller, Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290), S. 147– 159. – Ders., ‘Sociolectalization’ as a feature in different versions of medieval drama, in: Medieval Dialectology, hg. v. Jacek Fisiak, Berlin/New York 1995 (Trends in Linguistics. Studies and Monographs 79), S. 277–294. – Ders., Textkritische Paralleledition des Nürnberger Fastnachtspiels [Hans Folz], ›Ein Faßnachtspil von einem Artzt vnd einem Krancken‹ und des Sterzinger Fastnachtspiels ›der scheissend‹, in: Fastnachtspiel−Commedia dell’arte [s. o., s. t. Ausgewählte Aspekte], S. 161–198. – Alle diese Untersuchungen gehen letztlich zurück auf Sillers Innsbrucker Habilitationsschrift: Das Tiroler Fastnachtspiel ›Die zwen Stenndt‹. Textkritische Edition nach der Handschrift des Sterzinger Pfarrarchivs mit Kommentar, Untersuchungen, Verskonkordanz, Indices und vollständigem Faksimile. Bd. 1: Text, Kommentar, Untersuchungen, Facsimile. Bd. 2: Verskonkordanz und Indices (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe). Diese Arbeit ist noch nicht im Druck erschienen. 236 Beispielsweise V. 118a–119a, 120/121: Der artzt: Schagt, aichter nit Schu ieitn winndt? [Gemeint sind Darmwinde.] Das weyb: [. . .] Als vnier haus zerriiin iteät, io wais ich, das winnds gnueg drein get; oder V. 166a–168: Der artzt: [. . .] än icha mir, wo piit ier kranch? Der kranckh: gleich hie auf der daiign pannckh. 237 Die alten kessel remen gern (K 1, S. 6,20). Wer grüenes holz legt an ein feur, Das bringt im rauch gar ungeheur (K 15, S. 129,19/20). 238 Wir man haben all ein schwachs gemüet, Wann uns die wasserstang glüet (K 46, S. 354, 23/24). – [. . .] ein zeytige maid iit gar ain waglichs phand in dem haus zu phaltn lange zeit, So ir der furbitz nachnt leit. [. . .] Wann ainer gewachinen dieren iit gleich als ainer zeitign pieren; Pricht man Sy nit pey zeitn ab, So velt iy auf dleczt ielb herab Von dem paum auf die erden vnd mueis e zeit faul werdn. Alio gichicht auch ainr manpern maid, die irn magtum foder traidt, [. . .] biß das das kindt waint in der wiegn (Z 18, V. 62–64, V. 67–

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Verhalten239 sowie schließlich ihren Wertsetzungen,240 die, soweit sie materialistisch sind, teilweise kritisch gesehen werden241 – wird Erfahrungswissen gewonnen, das in Gestalt von verallgemeinernden Sentenzen, Merksätzen, sprichworthaften Redewendungen u. a. partiell die Wirklichkeitsapperzeption des Publikums normierend vorbildet oder aber auch an bereits in ihm vorhandene Lebenserfahrungen und Erfahrungsweisheiten anknüpft, indem es die Erinnerung daran wachruft. Ähnliches geschieht im mittelniederdeutschen ›Henselyn‹, in dem man ohne letzte Sicherheit die Druckfassung des sonst nur seinem Gegenstande, nicht aber dem – verlorenen – Texte nach bekannten Lübecker Fastnachtspiels von 1484 ›van der rechtverdicheyt‹242 vermutet.243 In diesem Text werden Welt- und Menschenkenntnis im eigentlichen Wortsinn er-fahren – nämlich von drei Söhnen, die ein Vater in Begleitung des titelgebenden weisen Narren Henselyn auf Suchfahrt nach ihrem Erbteil, der rechtferdicheyt, aussendet. Dieser Begriff ist mehrdeutig, kann sowohl ‘Rechtschaffenheit’ als auch ‘Gerechtigkeit’ bedeuten und bezeichnet auch im Handlungsverlauf bald die eine und bald die andere, je nachdem, welche Situation die Suchenden gerade durchlaufen und wer die jeweils Befragten sind. Am Ende ihrer natürlich vergeblichen Suchreise zum Vater zurückgekehrt, der anscheinend auf dem Sterbebett liegt, lenkt der ihren Blick auf die Verweslichkeit des Körpers: Wy syn yo vuel stynckende aesz todegen, Moten in kort uth der werlde vorswynden (XVII,18/19).

Henselyn hatte diesem Gedanken bereits vorgegriffen und ihn, von der konkreten Anschauung abstrahierend, ins Grundsätzliche gewendet, als er das Publikum indirekt dazu aufforderte, die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, den Tod und das Endgericht zu bedenken: 74,80). – Dann einer, der ein frumes weip hat Und der wil hueten frue und spat, Furcht sie got nicht und ires mannes zorn, So ist alle hut an ir verlorn (K 19, S. 163,15–18). 239 Wann großer solt umb kleine mue, Wirt oft bereuet und bringet haß (K 15, S. 129,22/23). – Wann mancher zeucht auß junk und klein Und bringt ein großen narren heim (K 59, S. 520,10/11 = K 95, S. 736,30/31). – Mancher fragt nach Sachen mit fle; Erfert er es, so tut es im we (K 19, S. 162,22/23): Erwartungsbrechung durch Diskrepanz von Erwartung und Erfüllung. 240 Der giund iit peiier den als guet (Z 21, V. 115). – Wann harrn gibt den peitn lon (Z 7, V. 233). – Kein pesser heirat wirt nit erdacht, Dann wo sich gleich und gleich zusamn macht (K 58, S. 517,21/22). Im Positiven wie im Negativen weiter expliziert S. 517,23– 518,4. 241 Wo muot und jugent ist an guot, Do hat die lieb kein hinderhuot (K 15, S. 131,19/20). – Nun ist es alles gar ain wint, Da nicht hertter pfenning sindt (K 128, S. 227,26/27). – [. . .] wer hat guot, der hat er (K 128, S. 226,22). – [. . .] durch reichtum der menich wirt zu hohen dingen erwelt. man acht wenig erberckeyt vnd tugent mer. wer vil gutz vnd geltz hat, dem thwt man ere (Schnorr von Carolsfeld [Anm. 222], Nr. II V. 144–146). – Vgl. Lübeck 1495 (Simon [Anm. 5], Nr. 236) ›de leve vorwynte alle dynck, der weddersprek der penynck‹. 242 Simon [Anm. 5], Nr. 226. 243 Darüber zusammenfassend Ulf Bichel in 2VL Bd. 3, 1981, Sp. 1012–1014 und vor allem – kritisch differenzierend – Simon [Anm. 5], S. 280–286.

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Dyt bedencke wy weynich in unsem handel, Dat graff,/ dat gerichte,/ den bitteren doth. Hir myt unse wesent kort kricht eynen wandel, Komen doch unde gan wech/ naket unde bloth (XVII,11–14).

Unter der Perspektive des Memento mori wandelt sich der Blick auf Leben und materiellen Besitz. Jetzt sind die Söhne reif zu erkennen, dass die rechtferdicheyt nicht irgendwo draußen, sondern in ihnen selbst zu suchen ist – Rechtferdicheyt is in uns sulven vorborgen (XVIII,10) – und der Vater sie ausgesandt hat, damit sie diese Erkenntnis gewinnen: Dar umme worde wy van em uth ghesent (XVIII,16). Vom Ende her stellt sich die Weltfahrt der drei Brüder also als ein in szenische Aktion umgesetzter Erkenntnisprozess dar: als Prozess der Selbstfindung durch die Weckung ihrer moralischen Persönlichkeit in der Konfrontation mit der Welt. Nach ihrem Abschluss ist der dritte sogar in der Lage anzugeben, worin die rechtferdicheyt besteht. Drei Ansprüchen muss der rechtschaffene/gerechte Mensch genügen: einem religiösen, einem persönlichen und einem sozialen: Vader,/ de Gode,/ syk sulven unde synem ghelyk Deyt, dat he yslikem plichtich is, De is in der rechtferdicheyt vorvaren unde ryck (XVII,21–XVIII,1).

Er soll tun, was er Gott, sich selbst und seinen Mitmenschen schuldig ist. Letztlich sind alle drei Anforderungen religiös begründet, auch die beiden letzten: die mitmenschliche durch den Dekalog und die persönliche durch den im Lukas-Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Lk 19,11–26) erhobenen Anspruch, mit seinen von Gott verliehenen Pfunden zu wuchern. Den Text schließt eine dreiteilige Lehrrede des Narren ab, die keinen unmittelbaren Bezug zur Handlung hat, sondern nur in nicht strukturierter Anhäufung von Einzelheiten expliziert, auf wie vielfältige Weise man vor der Forderung nach rechtferdicheyt versagen kann. Ihr erster Teil besteht aus zehn paarreimenden Vierzeilern (XIX,17–XX,22), der zweite aus 20 (XXI,1–20), der dritte aus 14 jeweils auf nur einen Reim endenden Versen und einem abschließenden paargereimten Vierzeiler (XXI,21–XXII,13). Im ersten Teil wird in oft spruchartiger Form das Missverhältnis zwischen Worten und Taten angeprangert.244 Im zweiten wird in priamelhafter Manier konstatiert, wie Ansehen und Wohlstand unter der Auswirkung von allerlei moralischen Verfehlungen245 schwinden, und im dritten in gleicher Weise aufgezählt, wann 244

Zum Beispiel: Mannich is rechtferdich men in worden, Men in den werken nicht eyn haer. (XIX, 18/19) – Der worde gheyt vele up eyn schyppund. (XX,6) – Vele loven, weynich gheven Kumpt eynem ertzegecke wol even. (XX,7/8). Schone worde sunder werke Is alse eyn tobroken herke. (XX,9/10). 245 Missachtung von Güte und Zuwendung Gottes; Gleichgültigkeit gegenüber Sünde, Schandtat und persönlichem Ansehen; körperliche Trägheit und geistige in Gestalt von mangelnder Voraussicht; verschiedenartige Rechtsverletzungen wie Wortbruch, Missachtung von Siegeln und Urkunden, d. h. verbriefter Rechte und deren Außerkraftsetzung durch Willkür und Gewalttätigkeit; Geringschätzung, ja Verachtung von Mitmenschen, Rücksichtslosigkeit ihnen gegenüber, Überforderung Abhängiger, Hartherzigkeit, besonders gegenüber Armen, Witwen und Waisen.

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jede Mühe verloren ist.246 Das geschieht u. a. in Wendungen, die sprichwörtliche Metaphern für Vergeblichkeit sind, wie ‘einen Toten zum Scheißen tragen’ (XXI,21) oder ‘Wasser in einem Sieb tragen’ (XXI,24). Die abschließenden Lehrreden Henselyns stellen eine Spielart der Priameln dar. Diese finden sich mehrfach in oberdeutschen Stücken – vorzugsweise, aber nicht ausschließlich am Ende der Handlung, zu der sie dann keinen inhaltlichen Bezug haben. Vielmehr dienen sie in dieser Position ganz allgemein der Erfassung verschiedenster Wirklichkeitsausschnitte. Formal betrachtet gibt es in den Fastnachtspielen hauptsächlich zwei Typen von Priameln. Ihrer Struktur nach lassen sie sich mit den (pseudo-)mathematischen Formeln x + y = 1 und x – y = 0 beschreiben. Dabei stehen x und y für Einzelelemente der Wirklichkeit, 1 bezeichnet eine vollständige, 0 eine nicht nur unvollkommene, sondern darüber hinaus auch wertlose, weil untaugliche Realität; das Pluszeichen + wird durch die Konjunktion ‘und’, das Minuszeichen ‘–’ durch die Präposition ‘ohne’ sprachlich konkretisiert. Diese formelhafte Abstraktion lässt gut erkennen, dass die Wirklichkeit nicht aus isoliert Daseiendem besteht, sondern erst durch deren Zusammenordnung – zunächst zu einzelnen Zusammenhängen und schließlich zu einem Netz von Zusammengehörigkeiten – konstituiert wird, als ein Gesamt oder wenigstens als ein Teilganzes, d. h. als ein in sich kohärenter Wirklichkeitsausschnitt. Die in den Priameln jeweils einander zugeordneten Komplemente gehören dem dinglichen, arbeits- und lebensweltlichen Bereich der Realität an. Die Verse konstatieren die Zusammengehörigkeit von Dingen untereinander: – Wasser und Krug (K 88, S. 714,1) – Acker und Pflug (K 88, S. 713,25) von Dingen und Menschen/Tieren in Gestalt von: – Kleidung und Träger (oder verhülltem Körperteil): – Hose und Gesäß (K 88, S. 713,28) – Prachtrobe und schöne Frau (K 88, S. 713,26) – Nahrung und Esser in Tier- und Menschenwelt: – hungrige Sau und warmer Kot (K 87, S. 708,15) – Durstige und guter Wein (K 88, S. 714,4) von Anlass, Stimmung und angemessen gestimmtem Publikum, also von Situation und situationsadäquatem Verhalten: – Fastnacht und Fröhlichkeit (K 88, S. 713,25) – Fastnacht und lustige, zum Scherzen aufgelegte Leute (K 87, S. 708,10)

246

Im Falle von Fehlverhalten verschiedenster Art: z. B. Unrecht auf Unrecht, Sünde auf Sünde häufen; Geld unbedacht und für wertlosen Genuss ausgeben; guten Rat gering schätzen; an allem etwas auszusetzen haben; üble Nachrede führen; streitsüchtig sein und daher mit vielen im Hader leben.

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von Mensch und Arbeit in Form von: – Arbeitsmitteln: – Müller und Esel (K 88, S. 714,2) – Pfaffe und Buch (K 88, S. 713,27) – Arbeitswelt: – reicher Kaufmann und einträgliches Geschäft (K 87, S. 708,12) – behender Bote und ebener Weg (K 87, S. 708,14) – Arzt und Patient247 von interagierenden Menschen: – Säuglinge und stillende Amme (K 87, S. 708,16) – Weinschenk und Prasser (= Fresser und Säufer; K 88, S. 714,3) – Musikanten und Bräute – offenkundig beim Hochzeitstanz (K 87, S. 708,16) von Menschen als Gattungswesen schlechthin (K 84, S. 694,20–22), bei denen Mann und Frau auf gleiche Weise zusammengehören wie einander ergänzende Teile in der Dingwelt, die ohne einander unbrauchbar oder allenfalls eingeschränkt brauchbar wären, so wie Gürtel und (Geld-)Tasche (K 84, S. 694,21) oder Stöpsel und Flasche (K 84, S. 694,22).

Ist die Zusammengehörigkeit dadurch gestört, dass ein zwingend erfordertes Komplement fehlt, so führt das zur Entwertung auch des vorhandenen Teils als nit ains kots ‘nicht einen Dreck’ wert (K 84, S. 695,11), weil es in seiner Isolierung funktionslos oder untauglich ist (x – y = 0). Auch das kann in der Form einer Priamel ausgedrückt werden248 im Falle von unvollkommenen Dingen: Messer ohne Scheide (K 84, S. 695,5) defekten Tieren: Schaf ohne Wolle (K 84, S. 695,9) festlichen Gelegenheiten ohne die dazu erforderliche Gestimmtheit: Fastnacht ohne Freude (K 84, S. 695,4) Menschen – ohne angemessene Kleidung: Mönch ohne Kutte (K 84, S. 695,7) – ohne Arbeitsmittel in Gestalt eines zum Tun erforderlichen Tieres: – ein itecher (K 84, S. 695,10) oder iticker (Z 1, V. 567) ohne Pferd249 – ohne alters- und geschlechtsspezifische biologische Ausstattung: – eine junge Frau ohne Brüste (K 84, S. 695,7) – ein junger Mann ohne Potenz (K 84, S. 695,8).

Außer den beiden soeben angeführten Typen von Priameln gibt es in den Fastnachtspielen noch einige andere Formen, die man unter der Bezeichnung umgekehrte Priameln zusammenfassen könnte. Ihnen allen ist gemein, dass in ihnen in Übereinstimmung mit der generellen fastnächtlichen Verkehrung der Realitäten die normale Ordnung umgekehrt wird, wenn auch auf je verschiedene Weise. Die Ordnungsstörung kann im Muster einer Verdrehung der Reihenfolge von Ursache und Folge erfasst werden. So braucht man beispielsweise niemanden ob der 247

In der fastnächtlich derben Paarung Bader und verschimmelte Arschkerbe (K 87, S. 708,13) steht die Letztere als pars pro toto für den Patienten. 248 K 84, S. 695,4–11. Vgl. Z 1, V. 561–568. 249 Unklar, ob ein berittener, mit einem Speer bewaffneter Turnierkämpfer (stecher K 84, S. 695,10) oder ein Stückknecht (iticker Z 1, V. 567), d. h. der Fuhrknecht eines schweren Geschützes bei der Artillerie (des 15.–18. Jahrhunderts), gemeint ist.

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Verwerflichkeit seines Tuns zu bedauern, der unweise den zweiten Schritt vor dem ersten tut, konkret [. . .] wer do drischet vor dem schnit Und ee will pachen, dann er knit, Und ee wil heizen, dann er feurt (K 15, S. 130,26–28),

also vor dem Mähen drischt und vor dem Teigkneten backen und vor dem Feuermachen heizen will. Ähnlich verkehrt erscheint die Welt dort, wo die Rangfolge der Geschlechter umgekehrt ist und von der Partnerin eines Tänzers in ihrer Normalität erst wiederhergestellt werden muß (K 89, S. 717,14–23), nachdem zuvor eine andere Tänzerin ihren Partner dafür getadelt hat, dass er die Welt auf den Kopf stellt, wenn er ihr den führenden Part anträgt: Hört, junger man, es hat nit fug, Das der menknecht hab den pflug Und der satel trag das pfert und das feur trag den hert Und der sak den esel trag Und der esel den müllner schlag Und der hof lig vor dem tor (K 89, S. 716,29–35).

Eine derartige Verkehrung der Ordnung, insbesondere der Naturordnung, ist eine auch außerhalb der Priameln in den Fastnachtspielen beliebte (und vermutlich vielbelachte) Vorstellung. Da betrügt ein Einfältiger einen Gerissenen (K 39, S. 299,1), jagt ein Student den Stall um eine Gans (Z 18, V. 27/28), legt ein Esel sich die Säcke selber auf (K 87, S. 706,6); eine Gans jagt (K 39, S. 299,4), eine Geiß trägt einen Wolf (K 87, S. 706,5); der Hund flieht einen Hasen (K 39, S. 298,18), der Fuchs ein Huhn (K 39, S. 298,17); ein Frosch frisst einen Storch250 und vier Gänse braten einen Koch (K 9, S. 94,13/14). In ›Des Türken Fastnachtspiel‹ dient die Aneinanderreihung solcher Umkehrungen der natürlichen Ordnung der bildhaft-anschaulichen Konkretisierung der abstrakten Zeitbestimmung ‘nie’ (K 39, S. 298,17–299,4), mit der das Illusionäre der Hoffnung auf einen Rückzug der Türken vom Balkan sinnenfällig bekräftigt werden soll. Auf vergleichbare Weise zählt der türkische Kaiser die vielfältigen Perversionen der sittlichen Ordnungen in der Christenheit als Bedingungen für die Abkehr Gottes von ihr auf, und da er sie, wie die sonst im Stück an ihr geübte Kritik beweist (siehe S. 20–23), aus gutem Grund für gegeben halten kann, prophezeit er unter eben den Bedingungen ihrer umfassenden moralischen Verkehrung, dass Gott seine Hand von der Christenheit abziehen und sie durch ihn, den Großtürken, dafür bestrafen werde: Wann das der reich dem armen leugt Und der weis dem narren das guot abtreugt Und der voll den leeren nit will speisen Und die glerten und auch gschriftweisen Den leien böse ebenpild vor tragen Und der vater über das kint wirt clagen 250

K 9, S. 93,20; K 39, S. 299,2.

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Und der herr kein frid schickt dem paursman, So hebt der Kristen Unglück an. [. . .] So wirt sich denn ir got von in wenden Und wirt si schwerlich rauben und pfenden (K 39, S. 293,10–17,20/21).

Die Komik der verkehrten Welt und ihrer Darstellungs- und Ausdrucksmittel besteht darin, dass in ihnen alles der Empirie und der Logik zuwiderläuft und sich dadurch als irreal zu erkennen gibt. Indem die Verkehrte Welt sich so selbst ad absurdum führt, bestätigt und bestärkt sie den Geltungsanspruch der normalen Welt, wie er realiter in der Wirklichkeitsapperzeption des Publikums, literarisch in der Form der Priamel erhoben wird. IV.2 Szenische Ausdrucksmittel Die Untersuchung dramatischer Werke der Vergangenheit leidet unter einem grundsätzlichen Mangel. Ihre Gegenstände realisieren sich in raumzeitlichen Abläufen. In Theateraufführungen, die ja nicht allein auf Hörbares, sondern eben auch auf konkret Sichtbares, auf die Darbietung von Körperkünsten, auf Agieren in Raum und Zeit hin angelegt sind, ist naturgemäß sehr viel mehr wahrnehmbar gewesen, als die schriftliche Fixierung bloß des Textes festhält. Die darüber hinausgehenden sinnlichen Dimensionen eines Spiels sind mit seiner Aufführungsrealität verloren – ganz zu schweigen von den Reaktionen des Publikums. Von dieser Beeinträchtigung der Erkenntnismöglichkeiten ist das weltliche, vor allem das Fastnachtspiel in noch größerem Umfange betroffen als das geistliche Spiel. Während wir von dessen Theater- und Aufführungstechniken eine Vielzahl zeitgenössischer Angaben (wenn auch immer noch lange nicht genug) haben – selten aus Berichten von Augenzeugen, meist dagegen teils aus Regieanweisungen, teils aus Handwerker- und Kaufmannsrechnungen –, wissen wir davon im Falle der weltlichen Spiele nahezu nichts. Einige Regieanweisungen in den Neidhartspielen und die früher erwähnten Hinweise auf Typendarstellungen (siehe unter II.) im personalen Bereich und auf den Aufbau genreartiger Bilder im szenischen (siehe S. 37–40) sind das einzige, was es gibt. Um sich hier wenigstens vorzustellen, welche Möglichkeiten szenischer Darstellung vorhanden waren und wie das Geschehen auf der wie auch immer gearteten Bühne abgelaufen sein könnte, muss man seine rekonstruktive theatralische Fantasie spielen lassen, soweit sie – in sehr engen Grenzen! – Anhalt im Text und in einigen Analogien zum geistlichen Theater findet. Immerhin sind Späße und Lachen erregende Aktionen mit Hilfe von Stimme, Gestik, Mimik, Maske, Kostüm, Requisiten und komischen Handlungen naturwüchsig mit den Körperkünsten verbunden. Deswegen kann man getrost davon ausgehen, dass sie nicht erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit den Lazzi der commedia dell’arte auf der Bühne heimisch geworden, sondern bereits im mittelalterlichen Theater spontan entstanden und gang und gäbe gewesen sind. Auch kann man sich unschwer vorstellen, dass des erstrebten Lacheffekts wegen dabei verwendete Requisiten ein-

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bezogen wurden wie etwa im Falle der Überdimensionierung der Zange eines Zahnbrechers und des mit ihr ausgerissenen Zahns in Z 22, die bereits früher in Erwägung gezogen wurde (siehe S. 39/40). Wir wissen, dass Frauenrollen immer von Männern gespielt wurden. Ist es da nicht denkbar, dass – beispielsweise in den verschiedenen Spielen um ›Rumpold und Mareth‹251 – an pointierter Stelle eine zarte Maid aus der Rolle fiel und im Kontrast zu ihrem femininen Äußeren plötzlich mit kräftiger Männer-, vielleicht sogar mit BassStimme sprach? Wir wissen ferner, dass Nacktheit in den Spielen nie naturalistisch dargestellt, sondern mit Hilfe von fleischfarbenen Leinentrikots, den sogenannten lybkleid oder leibgewant, simuliert wurde, im Falle von dargestellten Frauen notwendig simuliert werden musste. Lässt sich da nicht denken, dass in den drei Spielen vom Paris-Urteil252 nur Venus als untadelige Schönheit auftrat, Pallas hingegen etwa ‘Damen’-Bart und/oder behaarte Männerbeine zur Schau trug und Jupiters Gemahlin Juno durch das Leibgewand als angejahrt und fettleibig karikiert wurde – mithin antike Gottheiten nicht erst im 19. Jahrhundert von Offenbach, sondern schon im mittelalterlichen Fastnachtspiel parodiert wurden? Wenn im Tiroler ›Ypocras‹ (Z 4) Pusterbalk – ein angeblich heilungsuchender Blinder, tatsächlich jedoch Knecht und Komplize des Salbenkrämers253 – nach seiner fingierten spektakulären Heilung beim Sehtest statt eines vorgehaltenen Fingers deren drei sieht (V. 190a–192), dann ist das höchstwahrscheinlich nicht einfach witziger Unsinn. Angeregt von der mit Sexualzoten geschwängerten Atmosphäre der Fastnachtspiele muss man vielmehr davon ausgehen, dass hier eine obszöne Pointe gestisch agiert wurde: Als er dem angeblich Geheilten seinen (Zeige-)Finger vorhält, posiert der wandernde Kurpfuscher Ipocras zusammen mit seinem anderen Gehilfen Rubein für das Publikum wahrnehmbar in einer derart lasziven Stellung, dass Pusterbalk tatsächlich drei Finger sieht – weil er nämlich Ipocras und Rubein sozusagen mit Röntgenblick durch die Hosen sieht und beider Elfte Finger mitzählt. Dass diese Vorstellung nicht abwegig ist, bezeugt das Fastnachtspiel ›Die vier Ärzte‹ (K 98). Darin rühmt sich der zweite Arzt, er könne einen Blinden nicht nur wieder sehend machen, sondern darüber hinaus auch mit derart durchdringenden Röntgenaugen begaben, dass er jeder Frau in den Leib blicken und erkennen könne, ob sie mit einem Jungen oder einem Mädchen schwanger sei (K 98 S. 752,6–19). Den Einfallsreichtum von Spielern und Inszenatoren musste es besonders herausfordern, wenn Tiere auf die Bühne gebracht werden mussten. Verschiedentlich wird 251

Rumpold und Mareth I: K 130; II: K 115; III: Z 1; IV: Z 8. Schnorr von Carolsfeld [Anm. 222], Nr. II ›das fagnacht gpill Troya‹ 1463. Schnorr von Carolsfeld Nr. IV ›das fagnacht gpill mit den dreyen nacketten gottin von Troya‹ 1468, vgl. dazu V. 111, 115 sowie V. 120, 130. Lübeck 1455 ›Van Paris van Troe unde van den dren nakeden juncfruwen‹ (Simon [Anm. 5], Nr. 197). 253 In V. 135 nennt ihn Ipocras bereits seinen knecht, nach dem er Rubein ausschickt, um ihn zu holen; in V. 142a–192 jedoch mimt er einen Heilungsuchenden, dem Ipocras wieder zum Sehen verhilft, und tritt erst danach zum Dank dafür vor der Öffentlichkeit in seinen Dienst (V. 192a–198). 252

Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung im weltlichen deutschen Schauspiel des Mittelalters

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geritten. Der Antichrist in ›Des Entkrist Vasnacht‹ kommt auf einem großen Ross daher (Christ-Kutter [Anm. 9], V. 118). Im ›Mittleren Neidhartspiel‹ und in der zugehörigen Dirigierrolle, dem Tiroler Szenar, reitet der Fuhrmann, der den Bauern im Fass-Schwank das Weinfass zuführt, auf dem Zugpferd seines Gespanns.254 Im ›Großen Neidhartspiel‹ reiten Neidhart und seine Ritter vor dem Säulenschwank unerkannt den Bauern entgegen (Margetts [Anm. 73], V. 2343) und danach weiter an den Herzogshof (Ebd., V. 2496). Da die beiden Neidhartspiele im Freien aufgeführt wurden, konnte man in ihnen richtige Pferde verwenden. Allerdings wäre es auch vorstellbar (und würde den Belustigungs-Effekt erhöhen), dass man ebenso wie der oben erwähnte Entkrist entweder auf Steckenpferden ritt oder mit umgeschnallten Pferde-Attrappen einhertänzelte – etwa so, wie der englische König Heinrich II. und Thomas Becket in der Inszenierung von Jean Anouilhs ›Becket oder Die Ehre Gottes‹ im April 1963 im Münchner Residenztheater im Gespräch miteinander ritten. Eine solche Technik hätte es erlaubt, nötigenfalls auch in einem Innenraum zu spielen. Der müsste dann freilich wegen des erforderlichen Bewegungsraums für die vielen personenreichen Kämpfe und Tänze und wegen des Ensemble-Umfangs recht geräumig, keinesfalls bloß eine Stube gewesen sein. Wären doch – jeweils noch ohne die Musiker! – im Mittleren Spiel zwischen 51 und 62, im Großen gar mindestens 97 Darsteller auf der Spielfläche unterzubringen gewesen. Der Stier, den in dem Hans Folz zugeschriebenen Nürnberger Fastnachtspiel ›Kaiser Constantinus‹ (K 106) ein Rabbi durch die Einflüsterung eines Teufelsnamens tötet, sein christlicher Disputationspartner unter Anrufung der Hilfe Christi aber wieder zum Leben erweckt (S. 812,19–813,19), war mit Bestimmtheit kein lebendes Tier; vielmehr wurde statt seiner eine Attrappe von zwei Männern oder Knaben bewegt, die unter einem als Tierfell bemalten Tuch agierten. Wie sich Tötung und Wiedererweckung tatsächlich ereigneten, ist im Text nicht festgehalten. Vorstellbar aber ist, dass sich beides in dem karnevalesken Kontext auch komisch vollzog – so etwa, wie man das heute noch bei clownesken Späßen im Zirkus erleben kann: Auf die Einflüsterung des Teufelsnamens hin bricht die hintere Tierhälfte prompt zusammen, während die vordere unbeeindruckt, weil begriffsstutzig, stehen bleibt. Daraufhin langt unter dem ‘Fell’ der kollabierten hinteren Hälfte ein Arm hervor und klopft der vorderen mit der Hand auf die Schulter. Als die sich darob verwundert umschaut, bedeutet ihr der Partner, etwa durch eine Geste mit dem nach unten weisenden Daumen, zusammenzubrechen, worauf nun auch das Vorderteil in die Knie und schließlich zu Boden geht. Bei der Auferweckung könnte sich etwas Ähnliches umgekehrt vollzogen haben. Wie sich die Vorgänge der hier angeführten Beispiele tatsächlich abgespielt haben, wissen wir in keinem Falle. Die erwogenen Möglichkeiten sollten nur anschaulich vor Augen führen, dass Aufführungsrealitäten eigener Qualität und Quantität verloren gegangen sind, die vermutlich nicht unerheblich mitbedingt haben, auf welche Weise das Dargebotene vom Publikum wahrgenommen wurde. 254

Margetts [Anm. 73], V. 798–802 und Z 26, S. 259.

FASTNACHTSPIEL UND STADTPOLITIK

Klaus Ridder

Fastnachtstheater Städtische Ordnung und fastnächtliche Verkehrung

Der Gehalt der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, so die These der folgenden Ausführungen, erschöpft sich nicht in der obszönen Darstellung des Sexuellen und Skatologischen, sondern in Fastnachtspielen und weiteren Formen des städtischen Fastnachtstheaters werden Fragen der sozialen Ordnung verhandelt. Dies trifft sicher nicht auf alle vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele zu, jedoch auf eine erhebliche Anzahl. Um diese Perspektive auf die Spiele ins Blickfeld zu rücken und zu konturieren, möchte ich zunächst die Handlungsstruktur der ›Kargen Bauernhochzeit‹ (K 104)1 exemplarisch vorstellen (I.) und dieses Spiel dann in das Themen- und Typenspektrum der Nürnberger Stücke einordnen (II.). In weiteren Schritten ist nach den Formen der Auseinandersetzung mit reichsstädtischer Ordnungspolitik in den Fastnachtspielen (III.), nach dem Verhältnis von Schauspielaufführungen und Aufführungskontexten (IV., V.) sowie nach dem Zusammenhang von Reformation und städtischem Fastnachtstheater (VI.) zu fragen. In den einzelnen Abschnitten werde ich immer wieder auf die ›Karge Bauernhochzeit‹ zurückkommen, um die Ausgangsthese auch an einem konkreten Spieltext zu erläutern.2 Zunächst zum Inhalt und zur Struktur des Stücks, das zu den in der Überlieferung Hans Rosenplüt zugeschriebenen Spielen gehört. I. ›Die karge Bauernhochzeit‹ (K 104) Das Spiel beginnt mit einem Einschreier, der den Wirt und das Publikum begrüßt (Z. 1–2), das späte Erscheinen der Spieltruppe am Abend in der Wirtsstube entschuldigt und damit rechtfertigt (Z. 6–7), dass man ja zu Freunden bzw. Gleichgesinnten (Z. 9) gekommen sei; sodann kündigt er das Spielthema an: 1

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Die Zählung bezieht sich auf die Ausgabe: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966. Der Text der ›Kargen Bauernhochzeit‹ (bearbeitet von Anne Auditor) wird nach der in Tübingen und Trier entstehenden Neuausgabe zitiert; dazu Klaus Ridder, Martin Przybilski u. Martina Schuler, Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, in: Martin J. Schubert (Hg.), Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, Tübingen 2005, S. 237–256. Dem Artikel liegt ein Festvortrag zugrunde, der zur Feier anlässlich des 65. Geburtstags von Wolfgang Haubrichs gehalten wurde. Eine Fassung ohne Nachweise erscheint in den ‘Saarbrücker Universitätsreden’, eine gekürzte Version in dem Band: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter (13. Kolloquium der Akademie Friesach), hg. v. Johannes Grabmayer.

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So hoe rt, wieß vns dergangen ist Auff einer hochzeyt – mee rck den list: Guter speis vnd trank must wir enpern (Z. 12–14).

Ein Bauer wird angeklagt, während eines Hochzeitsfestes seine Gäste nicht angemessen bewirtet zu haben. Vier Kläger tragen ihre Beschwerden vor: Man habe den Bräutigam reichlich beschenkt, doch Das essen was noch vnperayt. Es hungert vnd tue rst vnder yeden; Das essen wolt noch hewt gesieden (Z. 26–28).

Dies verwundert umso mehr, als der Bräutigam ansonsten für sein Prahlen, für sein höfisches Gebaren und für sein Bemühen, sich beim Tanz besonders hervorzutun, bekannt sei; deshalb nenne man ihn ja den Seidenschwanz: e Vnd sust kan er gar hoch prankyern Vnd sich auff alle hoffart ziern. [. . .] Er hayst wol der Seydenschwancz e Vnd wolt ye sein der hubscht amm tantz (Z. 42–47).

Einer der Kläger versucht, das Verhalten des Bräutigams zu erklären: Seine Geliebte habe Freunde (Verwandte, Nachbarn) zu einem amourösen Treffen mit ihm bestellt. Diese hätten ihm dann das Pflaster – also das Mädchen – ‘angeheftet’, d. h. ihn zur Ehe mit der freizügigen Frau gezwungen. Den Bräutigam habe es besonders verdrossen, dass er dann auch noch zum Hochzeitsfest einladen musste. Die erwähnten Freunde des Mädchens werden wohl die anwesenden, Klage führenden Bauern sein. Gerade darin kann man einen besonderen Clou des Stückes sehen: Do er ve mb sein Mußkue nnen pult, Do er yr wartt zum vntern gaden, Do hae t sie heimlich dar geladen Jr peßt freunt all jn den stunden, Die ym das pflaßter ve ber punden; Vnd muß die wunden selber verstopen, Daran er vor gar lang thet noppen. e e Darumb thet yn verdriessen ser, Das er vns scholt peweisen er. Vnd het vns doch auff sein hohzeit gladen (Z. 52–61).

Ob es sich bei dem Bräutigam um einen Eheverweigerer (vgl. K 108) handelt, ist ebenso wenig deutlich wie die Semantik des Wortes Muskünne, das die Braut vermutlich in herabsetzender Weise bezeichnet (es könnte sich auch um einen Namen handeln). Der Bräutigam-Bauer legt in seiner Klageerwiderung dar, dass der Koch die unzureichende Bewirtung verschuldet habe. Des Weiteren seien die unersättliche Gier, die große Ungeduld und die beleidigenden Reden seiner Gäste während des Hochzeitsfestes die eigentlichen Ursachen für die Auseinandersetzung. Zudem nähmen sie ihm übel, dass er sein Gut nicht mit ihnen durchbringen wolle (Z. 86):

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Der koch hat mich versawmpt daran, Dem ich das als empfolhen han. Auch warn sie so freffel gest, Sy wolten newr haben das aller peßt. Vnd sie warn so vnerpiten, Das sie nit wollten warten, piß praten priten, Vnd schentten mich all zu disen stunden, e Wie man mir ain pflaster hab vberpunden, Vnd das man vor genue czet hab (Z. 73–81).

Bevor der Richter die Schöffen auffordert, ihre Strafen für das Vergehen zu formulieren, wehrt der anwesende Koch den Vorwurf gegen ihn dadurch ab, dass er zwar erlesene Speisen auftischen sollte, aber kein Geld bekommen habe, das Notwendige zu kaufen: Jch kan nichtz kawffen mit lerer hant, e So leiht mir auch kein jud on pfant (Z. 92–93).

Der erste Schöffe (Eberspis von Erleinstegen) schlägt dann drastisch-sadistische Strafen für den Bräutigam vor (Z. 109–125). Ein weiterer Schöffe (Gudelwein von Wetzendorff) ergreift allerdings Partei für den Gastgeber, indem er die unersättliche Gier und triebhafte Maßlosigkeit der Gäste hervorhebt. Wie um diese Sicht zu bestätigen, tritt ein weiterer Bauer mit der Klage auf, dass es nicht genug gegeben habe. Man hätte sich gewünscht: Er scholt vier ochsen han gesoten Vnd dartzw zehen sew geproten Vnd zway hundert hennen pereytt e Vnd vnser yedem zehen fur geleyt, Von sultzen auch ain hundert schue ssel, Das klecket kawm jn vnser drue ssell. Er hat la sieden vnd proten So gar kerklich vnd peschnoten, e Das ich nit fulln moht meinn kragen (Z. 175–183).

Der letzte Schöffe schließlich (Kelbergötz von Pirntan) schlägt als Strafe vor, den geizigen Bauern dazu zu verurteilen, für die ganze Wirtshausgesellschaft ein Festmahl auszurichten, und zwar Bis das wir allsamt wern vol (Z. 192). Dieses Mahl solle als ‘Notwein’ gelten, also als Äquivalent für den Brauch, beim Hochzeitsfest alle Gäste zum Wein einzuladen. Es wird kein Urteil gesprochen. Der Ausschreier bricht die Verhandlung mit dem Hinweis ab, dass man den Bräutigam nicht so beschämen solle. Jeder der Anwesenden hätte – in der entsprechenden Situation – an die Leimrute geraten, also zur Heirat gezwungen werden können. Der Herold schließt das Spielgeschehen mit der Bitte an den Wirt ab, die Gesellschaft am folgenden Morgen noch einmal zu verköstigen (Z. 224–231).

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II. Nürnberger Fastnachtspiele: Themen und Typen Aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind aus Nürnberg in etwa einem Dutzend Handschriften3 ca. 110–115 Fastnachtspiele überliefert. Die Anfänge der Nürnberger Tradition dürften in die ersten beiden Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Die Überlieferung setzt aber erst gegen 1455 ein und endet noch vor der Jahrhundertwende. Fast ausnahmslos sind die Spiele anonym überliefert, sie lassen sich jedoch in der Regel mit zwei Handwerkerdichtern in Verbindung bringen: mit Hans Rosenplüt und mit Hans Folz. Im 16. Jahrhundert folgt dann nach einer deutlichen Zäsur eine in vielen Aspekten abweichende zweite Nürnberger Fastnachtspieltradition mit Hans Sachs als ihrem bedeutendsten Autor.4 Fast immer geht es in den Spielen um die Bereiche des Sexuellen, Obszönen und Fäkalen. Dieses Moment ist zu einer Art Signatur für Fastnachtspiele geworden, wenngleich es vor allem die Nürnberger Stücke charakterisiert. In Fastnachtspielen werden jedoch auch religiöse Themen aufgegriffen. Hans Rosenplüt etwa hat ein Züricher geistliches Antichristspiel in ein weltliches Fastnachtspiel (›Des Entchrist Vasnacht‹, K 68) umgearbeitet.5 In jüngerer Zeit hat man deutlicher gesehen, dass zur Fastnachtszeit in vielen Städten auch geistliche Spiele aufgeführt worden sind (Antichristspiele, Dreikönigsspiele, alttestamentliche und legendennahe Stoffe). Dabei handelte es sich nicht nur um Einkehrspiele (also im Wirtshaus aufgeführte Stücke), sondern auch um Marktspiele, um repräsentative Ereignisse, die ohne die Billigung und Unterstützung der Stadtobrigkeit nicht denkbar waren. Auch die geistlichen Fast3

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Vgl. Thomas Habel, Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Stephan Füssel, Gert Hübner u. Joachim Knape (Hgg.), Artibvs. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. FS für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1994, S. 103–134. Zur Theatersituation in Nürnberg im 15. Jh. vgl. Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), S. 291–344; zum 16. Jh. (Hans Sachs) vgl. die knappe Einleitung zur Ausgabe: Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs, hg. v. Raphael Dammer u. Benedikt Jeßing, Berlin/New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 42 (276)), S. 2–25; zum 17. Jh. vgl. Markus Paul, Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 69). Zu diesem Spiel vgl. Klaus Ridder u. Ulrich Barton, Die Antichrist-Figur im mittelalterlichen Schauspiel, erscheint in: Felicitas Schmieder (Hg.), Antichrist. Eschatologische Feindtypisierungen und -identifizierungen. – Zur Problematik der Interferenzen von geistlichen und weltlichen Spielen vgl. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75–126; Ute von Bloh, Vor der Hölle. Fastnachtspiel (Keller 56)/Osterspiel/ Emmausspiel, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 233–246; Eckehard Simon, Geistliche Fastnachtspiele. Zum Grenzbereich zwischen geistlichem und weltlichem Spiel, in: Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin/New York 2007 (TMP 11), S. 18–45.

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nachtspiele bringen eine verkehrte Welt auf die Bühne; in der Gestalt des Widersachers Christi, im Antichrist, verdichtet sich diese Sicht in besonderer Weise. In der ›Kargen Bauernhochzeit‹ verweist der Koch darauf, dass ihm die Juden on pfant (Z. 93) kein Geld geliehen hätten. Er spielt damit auf die dieser Gruppe aufgezwungene Tätigkeit des Geldverleihens an, die das ganze Mittelalter hindurch Quelle antijudaistischer Ressentiments war. Antijüdische Traditionen werden in nur relativ wenigen Nürnberger Fastnachtspielen verhandelt (Rosenplüt-Korpus, K 68; Hans Folz, K 1, 20, 106). Die Vehemenz der überaus drastisch verbalisierten Judenfeindlichkeit – von Judenverhöhnung bis hin zur (Auf-)Forderung, sie aus der Stadt zu vertreiben – spiegelt jedoch den hohen Grad der Judenfeindlichkeit im spätmittelalterlichen Nürnberg wider.6 Andere Spiele behandeln explizit reichspolitische Themen. Das ›Türken Fastnachtspiel‹ (K 39) etwa stellt die desolaten Zustände im christlichen Abendland denen im heidnisch-türkischen Reich gegenüber und stilisiert den Türkenherrscher als Reformator der Christen und Gottes Züchtigungsinstrument.7 Dieses Spiel von Hans Rosenplüt steht damit am Beginn der Tradition dezidiert politischer Fastnachtspiele, die mit der Reformation besondere Bedeutung gewinnt. Die Reichspolitik interessiert in den politischen Fastnachtspielen jedoch nur insoweit, wie sie die städtische Ordnung unmittelbar tangiert. Das Spielgeschehen thematisiert beispielsweise allgemeine ständische Verfehlungen bei Kaiser, Adel, Geistlichkeit, Stadtbürgern und Handwerkern (K 51) und legt den Finger auf die Verschwendungssucht, Verschuldung und Gewalttätigkeit des Adels. Der Akzent liegt jedoch auf den daraus resultierenden verheerenden Folgen für Stadt und Land (K 39, 78).8 Insbesondere zu regional und lokal begrenzten politischen Ereignissen und Strukturen beziehen die Spiele Stellung. Die soziale und ökonomische Ordnung des städ6

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Vgl. Rudolf Endres, Sozialstruktur Nürnbergs, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.), Nürnberg. Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 194–199, hier S. 195. Zum Antijudaismus im Fastnachtspiel vgl. Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, hg. v. Klaus Ridder u. HansHugo Steinhoff, Paderborn [usw.] 1998 (Schöninghs mediävistische Editionen 4), S. 156–167 (Kommentar zum ›Juden Messias‹, K 20, bearbeitet von Martin Przybilski), hier S. 167 (Literatur). Zum ›Türkenfastnachtspiel‹ vgl. Glenn Ehrstine, Fastnachtsrhetorik. Adelskritik und Alterität in ›Des Turken Vasnachtspil‹, Werkstatt Geschichte 37 (2004), S. 7–23; sowie den Beitrag von Christiane Ackermann in diesem Band (S. 189–220). Siehe auch Brigitte Stuplich, Das ist dem adel ain große schand. Zu Rosenplüts politischen Fastnachtspielen, in: Jürgen Jaehrling, Uwe Meves u. Erika Timm (Hgg.), Röllwagenbüchlein. FS für Walter Röll zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 165–185, hier S. 176–179. Zur Gruppe der politischen Fastnachtspiele zählt Stuplich K 39, 47, 75, 78, 79, 80, 81, 100 »und mit Einschränkungen auch K 68« (S. 166, Anm. 7). Dazu Hedda Ragotzky, pulschaft und nachthunger. Zur Funktion von Liebe und Ehe im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Hans-Jürgen Bachorski (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991 (Literatur−Imagination−Realität. Anglistische, germanistische, romanische Studien 1), S. 427– 446, hier S. 445.

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tischen und ländlichen Lebens, etwa Fernhandel und regionaler Markt, geraten in den Blick (Krämer- und Jahrmarktspiele: K 35, 49, 50, 55, 105). In den Handwerker- und Marktschreierspielen wird auf dem städtischen Jahrmarkt Ware zum Verkauf angeboten, deren Qualität zweifelhaft erscheint. Diese Spiele referieren auf ein wichtiges, im Jahreslauf wiederkehrendes Ereignis von hoher sozialer Bedeutung: auf die seltenen Zusammentreffen der Bauern, Handwerker, Patrizier und Kaufleute aus Stadt und Region.9 Auch die städtische und ländliche Festkultur, insbesondere das Fastnachtsfest selbst,10 aber auch die bäuerliche Hochzeitsfeier11 hat die Autoren beschäftigt. Am häufigsten werden in den Nürnberger Spieltexten die Themen Sexualität als eheliche Pflicht bzw. als eheliches Recht sowie die Spannung zwischen Bauern und Städtern verhandelt. Vor allem die eheliche Ordnung bot ein breites Spektrum für die Anwendung des Prinzips der fastnächtlichen Verkehrung.12 Die Figur, die am häufigsten auftritt, ist der Bauer. Die Nürnberger Stücke stellen ihn – aus der Sicht der Städter – überwiegend als triebhaft und dumm, als anmaßend und ungehobelt dar. In relativ großer Zahl sind zudem Spiele erhalten, in denen inkompetente und anmaßende Ärzte zum Teil groteske Medikamente gegen reale und eingebildete Krankheiten anpreisen (K 6, 48, 82, 85, 98, 101, 120).13 Überblickt man die Themen der überlieferten Spieltexte, so kommen in fastnächtlicher Verkehrung Dinge zur Sprache, die für das städtische Zusammenleben bedeutsam waren:14 Sexualität und Körperlichkeit, Geschlechterverhältnis und Ehe, Krank9

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Vgl. Arne Holtorf, Markttag− Gerichtstag−Zinstermin. Formen von Realität im frühen Nürnberger Fastnachtsspiel, in: Klaus Grubmüller, Ernst Hellgardt, Heinrich Jellissen u. Marga Reis (Hgg.), Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprachund Literaturwissenschaft (FS Hans Fromm), Tübingen 1979, S. 428–450; siehe auch Heidy Greco-Kaufmann, Vor rechten lütten ist guot schimpfen. Der Luzerner ›Marcolfus‹ und das Schweizer Fastnachtspiel des 16. Jahrhunderts, Bern [usw.] 1994 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 19), S. 23–27. Vgl. Hagen Bastian, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983, S. 67–71. Neben der ›Kargen Bauernhochzeit‹ (K 104) sind hier beispielsweise die Spiele K 7, 58, 65, 66 zu nennen; vgl. auch den Kommentar zur ›Bauernheirat‹ von Hans Folz in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), S. 335f. – Zur Inszenierung von Bauernhochzeiten in der Fastnacht als Element von Festlichkeit noch im Barock vgl. Silvia H. Rätsch, Geselligkeit als Lebensbedürfnis. Literarische Bauernhochzeiten. Zu einer geselligen Festform des Barock, in: Wolfgang Adam (Hg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil II, Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 597–606. Vgl. dazu Ragotzky [Anm. 8], S. 443. Zum Typus des Arztspiels vgl. Wuttke [Anm. 11], S. 327f. (Kommentar zu K 85); Max Siller, Ausgewählte Aspekte des Fastnachtspiels im Hinblick auf die Aufführung des Sterzinger Spiels ›der scheissennd‹, in: Max Siller (Hg.), Fastnachtspiel−Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten−Gegensätze. Akten des 1. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (31.3.– 3.4.1991), Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290), S. 147–159. Das ganze Spektrum der Nürnberger Spieltexte kann hier nicht charakterisiert werden. Es

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heit und Medizin, ständische Ordnung und gesellschaftliche Konflikte, soziale und religiöse Ausgrenzung, regionaler Markt und (Fern-)Handel sowie Stadt- und Reichspolitik. Die Fastnachtspiele bearbeiten übergreifende kulturelle Ordnungsmodelle, vor allem aber spezifisch reichsstädtische Normen; sie verhandeln Elemente städtischer Ordnungspolitik und realer Sozialordnung. Das Moment der Verhandlung über diese Gegenstände spiegelt sich in der Inszenierungsform: Im Nürnberger Korpus dominieren deutlich die Gerichtsspiele.15 Das bevorzugte Verfahren der Auseinandersetzung mit der städtischen Ordnung ist die (parodistische) Verkehrung. III. Städtische Ordnung und fastnächtliche Verkehrung Zahlreiche Feste schaffen einerseits im sozialen Kontext der Zeit eine öffentliche Kultur; durch sie entsteht ein wesentlicher Teil der sozialen Ordnung. Die Disziplinierung der exzessiven Festgewohnheiten ist andererseits ein zentrales Anliegen der städtischen Ordnungspolitik. Theatrale Aktivitäten unterschiedlicher Art zur Fastnachtszeit sind Erscheinungsformen urbaner Festkultur,16 die als stadtgesellschaftliche Handlungen unter offizieller Kontrolle standen.17 Vor allem bei den textfreien Schau-

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finden sich beispielsweise auch solche Stücke, die ganz wesentlich aus literarischen Traditionen schöpfen, etwa Elemente des Artusstoffes oder der Dietrichepik (K 62, 80, 81) verwenden oder bestehende Bräuche in szenisches Geschehen umsetzen (z. B. ›Das Eggenziehen‹, K 30). Zum Gesamtkomplex der Motive, Stoffe und Themen der Nürnberger Spiele vgl. insbesondere Thomas Habel, Zum Motiv- und Stoff-Bestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels. Forschungsgeschichtliche, methodische und gattungsspezifische Aspekte, in: Theodor Wolpers (Hg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über ein Kolloquium der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Klasse, dritte Folge 249), S. 121– 161; ders., ‘Fastnachtspiel’, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, 1984, Sp. 891–895. In den Gerichtsspielen geht es um Schädigung/Beleidigung: K 10, 18, 24, 34, 52, 69, 104, 112; Ehe: K 27, 29, 40, 42, 61, 102; Sonstiges: K 8, 51, 72, 73, 78, 97; einzubeziehen sind auch die Spiele K 41, 87, 108 sowie Nr. III in Franz Schnorr von Carolsfeld, Vier ungedruckte Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, Archiv für Literaturgeschichte 3 (1874), S. 1– 25; vgl. dazu Holtdorf [Anm. 9], S. 434–436, sowie den Beitrag von Rebekka Nöcker in diesem Band (S. 239–283). Zum Verhältnis von Stadt und Fest siehe Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, Frankfurt a. M. 1986, insbes. S. 302–334; Ludwig Schmugge, Feste feiern wie sie fallen. Das Fest als Lebensrhythmus im Mittelalter, in: Paul Hugger (Hg.), Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Festschrift der Phil. Fakultät I der Universität Zürich zum 2000-Jahr-Jubiläum der Stadt Zürich, Stuttgart 1987, S. 61–87; Thomas Zotz, Die Stadtgesellschaft und ihre Feste, in: Detlef Altenburg, Jörg Jarnut u. Hans-Hugo Steinhoff (Hgg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1991, S. 201–213. Zur Fastnacht als Element der städtischen Festkultur vgl. Greco-Kaufmann [Anm. 9], S. 286 (weitere Literatur in Anm. 43); zum Verhältnis von Stadt und Theater vgl. die Aufsätze in dem Band: Bernhard Kirchgässer u. Hans-Peter Becht (Hgg.), Stadt und Theater, Stuttgart 1999 (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für

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stellungen an den Fastnachtstagen handelt es sich um eine Geselligkeitsform mit Öffentlichkeitscharakter. Aber auch das textbezogene Schauspiel leistete zu dieser Festzeit einen Beitrag. Die Inszenierung einer verkehrten Ordnung steht im Mittelpunkt der Fastnachtspiele, die dazu am häufigsten genutzten Verfahrensweisen sind Parodie, Satire, Hyperbolik und Formen der Sprachkomik.18 Die spielerische Verkehrung der etablierten anthropologischen, religiösen und sozialen Strukturen ist ein Akt mit zwingendem Realitätsbezug. Eine wichtige Referenzebene der verkehrten Welt des Fastnachtspiels ist die soziale Ordnung und die Ordnungspolitik der Stadtobrigkeit. Der Rat in Nürnberg – aber auch in anderen Städten – versuchte nahezu alle Bereiche des sozialen, ökonomischen und sittlichen Lebens den eigenen Interessen zu unterwerfen, vom Warenverkauf auf dem Jahrmarkt über die Prozessführung, den Besuch von Badestuben bis hin zur Hochzeitsfeier. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts wird dann auch die Aufrechterhaltung der ehelichen und religiösen Ordnung zu einer Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit. Eine Fülle von Satzungen und Reglements dokumentiert diese exzessive Ordnungspolitik, wobei sicher Differenzen zwischen Ordnungsvorstellungen und sozialer Realität gegeben waren. Sehr viele Fastnachtspiele beziehen sich implizit auf diesen Ordnungsdiskurs bzw. auf die städtische Sozialordnung,19 und zwar durchaus nicht nur im Modus der Verkehrung. Die Forschung hat diese Relationen erst punktuell analysiert. An der ›Kargen Bauernhochzeit‹ möchte ich daher diese Sicht erläutern. In dem Stück finden sich nicht wenige Elemente, die man als bewusste Verkehrung von reichsstädtischen Ordnungsvorstellungen betrachten kann. So begegnet bei-

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Stadtgeschichtsforschung 25); siehe auch den Abriss über ‘Städtische Festkultur und Theater im Mittelalter’ in: Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993, S. 15–39 sowie dies., Theater und Fest. Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters, in: Kasten u. FischerLichte [Anm. 5], S. 3–17, insbes. S. 12ff. »Satire und Parodie waren [. . .] konstitutive Elemente mittelalterlicher Feste. Der klassische Typus ist das Narrenfest, bei dem nicht nur ein Kinderbischof gewählt wurde, sondern in der Kirche auch eine Parodie auf die Messe stattfand. [. . .] Daß solcher Satire durchaus Schranken gesetzt waren, zeigen Mandate, die sich gegen die Parodie kirchlicher Zeremonien [. . .] richteten und deren Zahl gegen Ende des 15. Jahrhunderts wuchs«, Bob Scribner, Reformation, Karneval und die ‘verkehrte Welt’, in: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), hg. v. Richard van Dülmen u. Norbert Schindler, Frankfurt a. M. 1984, S. 117–152 (Text), S. 406–412 (Anm.), hier S. 134. Man hat das Anwachsen des Ordnungsschrifttums im 15. Jh. als Indiz für einen Prozess der »Ablösung von naturalen und symbolischen Ordnungen durch technisch-funktionale« Ordnungsentwürfe aufgefasst; in jedem Fall ist es Ausdruck eines »zunehmende[n] Bedürfnis[ses] nach Reglement und Zeremoniell«; Udo Friedrichs, Von der rhetorischen zur topologischen Ordnung. Der Wandel der Wissensordnungen im Übergang zur Frühen Neuzeit, in: Medienheft Dossier 22.–5. Oktober 2004, S. 9–14, hier S. 9 und S. 11; siehe auch den Überblick zur Ordnungsgesetzgebung von Neithard Bulst, Feste und Feiern unter Auflagen. Mittelalterliche Tauf-, Hochzeits- und Begräbnisordnungen in Deutschland und Frankreich, in: Altenburg, Jarnut u. Steinhoff [Anm. 16], S. 39–51. − Der Ordnungsdiskurs des vormodernen Staats knüpft dann im 16. Jh. an die Regelungen der Grundherren, Dorfgemeinden und Städte an; vgl. Richard von Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Dorf und Stadt 16.–18. Jahrhundert, München 1992, insbes. S. 231f.

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spielsweise der Motivkomplex Bauernhochzeit, Festgeschenke und Entgleisung des Hochzeitsmahls, der die ›Karge Bauernhochzeit‹ prägt, zwar auch im Schwankmäre ›Metzen Hochzit‹ und im grotesk-komischen Roman ›Der Ring‹ von Heinrich Wittenwiler.20 Der Autor des Fastnachtspiels versteht es jedoch, diese literarischen Versatzstücke neu zu funktionalisieren und ihnen neue Aktualität im Kontext reichsstädtischer Politik zu verleihen. Der Bräutigam wird angeklagt, seine Gäste während des Hochzeitsfestes nur mangelhaft bzw. gar nicht bewirtet zu haben. Zwei Momente stehen hier im Hintergrund: Zum einen war das Fastnachtsfest, das das Publikum gerade selbst feiert, ein »bevorzugter Hochzeits-Termin (nicht nur) der Nürnberger Bürger«.21 Zum anderen handelt es sich beim Hochzeitsritual nicht um ein privates, sondern um ein gesellschaftliches Ereignis, das für das soziale Beziehungssystem von erheblicher Bedeutung war.22 Der Gabentausch, das rituelle Mahl und die darauf folgenden Vergnügungen sind Gegenstände städtischer Ordnungspolitik und zugleich wichtige Elemente des Spieltextes. Hagen Bastian hat darauf hingewiesen, dass der geizige Ehemann offenbar die vom Nürnberger Rat erlassenen Hochzeitsordnungen sehr ernst, zu ernst, genommen hat. So war es zum Beispiel untersagt, anlässlich einer Hochzeit ungewöhnliche Geschenke zu machen, ein großes Festmahl auszurichten, zusammen zu baden, teure Speisen und welschen Wein zu kredenzen, also ein exzessives Hochzeitsfest zu feiern. In einer uns heute fremd anmutenden Weise versucht der Rat die Hochzeitsfeierlichkeiten zu reglementieren. Mehrere Forderungen der Kläger und Urteile der Schöffen in dem Fastnachtspiel liegen quer zu reichsstädtischen Normen. Diese Folge von Verkehrungen mündet in dem Vorschlag des letzten Schöffen, der Angeklagte möge die ganze anwesende Fastnachtsgesellschaft zu Essen und Wein bis zum Umfallen einladen; dies solle dann als ‘Notwein’ gelten: Wir schue lln yn fue rn zum wellisch wein Vnd wollen trincken vnd essen wol, Bis das wir allsampt wern vol, [. . .] e Das schol er furn notwein zaln, So woll wir dy clag lassen valln (Z. 190–200).

Natürlich war auch der ‘Notwein’, der Brauch, beim Hochzeitsfest alle Gäste zum Weintrunk zu laden, in Nürnberg untersagt. Brauch und städtische Norm stehen hier gegeneinander, das Fastnachtspiel fordert zum Normbruch auf, nicht nur spielimmanent, sondern auch in Richtung des Publikums. Allerdings erfolgt die Verführung zum Normbruch im Zeichen der Fastnacht, ist also selbst eine Erscheinungsform der verkehrten Welt. Die soziale Dimension der Aufführung ist hier unmittelbar einsichtig: 20

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Dazu Birgit Knühl, Die Komik in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ im Vergleich zu den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, Göppingen 1981 (GAG 332), S. 312f. Bastian [Anm. 10], S. 65. Vgl. Beatrix Bastl, Hochzeitsrituale. Zur Sozialanthropologie von Verhaltensweisen innerhalb des österreichischen Adels der Frühen Neuzeit, in: Adam [Anm. 11], S. 751–764, hier S. 751f.

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Das Spiel verhandelt die verkehrte Ordnung eines bäuerlichen Hochzeitsfestes und parodiert gleichzeitig Elemente der reichsstädtischen Hochzeitsordnungen.23 Die Fastnachtspiele setzen sich in parodistisch-verkehrender Weise mit dem städtischen Ordnungsdiskurs auseinander, sind jedoch gleichzeitig selbst Objekt der Überwachungspolitik. Die Schauspielambitionen der Handwerker, Krämer, jungen Patrizier und Schüler,24 von denen uns die erhaltenen Spiele und Aufführungszeugnisse eine Vorstellung vermitteln, wurden vom Nürnberger Rat argwöhnisch beobachtet und immer wieder Einschränkungen unterworfen. Jede öffentliche Aufführung musste genehmigt werden. Generell war es den Spielern verboten, Waffen oder Gesichtsmasken zu tragen und für Geld zu spielen. Auch solche »Zensurmaßnahmen des Nürnberger Rats im Bereich des Theaterwesens . . . [sind] . . . gleichsam [als] negative Ausdrucksform«25 geltender Normen zu sehen. Die Angst, dass die verkehrte Welt der Fastnacht und die reale Ordnung ineinanderfließen, dass die Grenzen zwischen beiden Bereichen nicht mehr klar unterschieden, dass das Offiziell-Geltende dauerhaft (also nicht nur für die Zeit der Fastnacht) in Frage gestellt werden könnte, ist für Nürnberg und für andere Städte gut dokumentiert. Die Politik des Rates zielt im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert jedoch nicht darauf, die verschiedenen Fastnachtsaktivitäten aus der Welt zu schaffen, sondern sie sozialer Kontrolle zu unterwerfen.26 23

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Nürnberger Hochzeitsordnungen sind abgedruckt in: Werner Schultheiß (Hg.), Satzungsbücher und Satzungen der Reichsstadt Nürnberg aus dem 14. Jahrhundert, Nürnberg 1965 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 3), S. 257–262 (zum Hochzeitsmahl S. 257; Baden, Notgeld S. 258; zu Geschenken S. 259; zur Vorschrift, Frankenwein statt ausländischen Wein zu trinken S. 269); dazu Bastian [Anm. 10], S. 64–66, Anm. mit weiteren Quellennachweisen S. 151f. Vgl. auch August Jegel, Altnürnberger Hochzeitsbrauch und Eherecht, besonders bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 44 (1953), S. 238–274, insbes. S. 256–259 (zum Hochzeitsmahl). Die Fastnachtspiele wurden nicht nur, wie lange Zeit angenommen, von Handwerkern aufgeführt, dazu Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 1 u. ö. Paul [Anm. 4], S. 79. Die Forschung hat versucht, diesen Interaktionsprozess von Fastnacht und Stadtobrigkeit mit den Konzepten des ‘Rebellionsrituals’ (Max Gluckman) oder des ‘Konfliktrituals’ (Edward Norbeck) zu fassen. Der Akzent liegt jeweils darauf, dass ritualisierte Handlungen soziale Spannungen offen zum Ausdruck bringen, diese symbolischen Handlungen jedoch ein integraler Bestandteil des Sozialsystems sind, zur Lösung sozialer Konflikte also kaum beitragen, sondern die etablierte Ordnung und Kultur eher stärken; vgl. Scribner [Anm. 18], S. 137; Peter Pfrunder, Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit. Die Berner Spiele von Niklaus Manuel, Zürich 1989, insbes. S. 249–260; Greco-Kaufmann [Anm. 9], S. 109ff. – Auf der anderen Seite rückt die Inszenierung einer verkehrten Welt soziale Konflikte in die Öffentlichkeit einer Stadtgesellschaft, stellt deren Repräsentanten in Frage, führt vielfach Ideell-Abstraktes (also religiös-spirituelle, gesellschaftlich-moralische und ästhetisch-artifizielle Werte) auf die Ebene materieller Wirklichkeit zurück. Man kann sich fragen, ob die Verkehrung und Parodie des Offiziell-Geltenden nicht längerfristig zu Autoritätsverlust des Parodierten und zu kritischer Reflexion des Verkehrten führt, und zwar selbst dann, wenn die Fastnachtsaktivitäten auf einen genau festgelegten Rahmen beschränkt

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Fastnachtspiele sind allerdings nur ein Bestandteil des städtischen Fastnachtstheaters. Man muss die weiteren Schaustellungen (Schautänze, Schauzüge, Schauturniere)27 und die Auseinandersetzung der Stadtobrigkeit damit einbeziehen, um ein Bild vom Interaktionsprozess zwischen städtischer Ordnungspolitik und fastnächtlicher Theateraktivität zu gewinnen. IV. Fastnachtstheater – mit und ohne Text Junge Patrizier veranstalteten zu Fastnacht auf dem Hauptmarkt in Nürnberg in Nachahmung adliger Traditionen Turniere, sogenannte ‘Gesellenstechen’, und fanden sich anschließend zum ‘Geschlechtertanz’ auf dem Rathaus zusammen. An beiden Ereignissen nahmen auch adlige Gäste teil.28 Eine wichtige Komponente der fastnächtlichen Aufführungen sind darüber hinaus die durch städtische Mittel unterstützten Schautänze. Zu nennen sind hier vor allem der Moriskentanz (als Mohren verkleidete Tänzer bewegen sich in grotesker Weise um eine Frau herum, die einen Apfel als Preis für den besten Tänzer darbietet), der Schwerttanz der Messerschmiede (Figurentanz der mit Schwertern verketteten Messerschmiede) und der Zämertanz der Metzger (Figurentanz der mit Lederringen [= Würsten] verketteten Metzger). Mit dem Zämertanz war der berühmte Schembartlauf verbunden, ein Schaulauf von vermummten Rotten in unterschiedlichen Kostümen. Das Gesellenstechen, die Schautänze und die Schauläufe waren Festveranstaltungen im Rampenlicht der Stadtöffentlichkeit. Der Rat stellte die großen öffentlichen Räume zur Verfügung (z. B. den Hauptmarkt), förderte diese Aktivitäten auch auf andere Weise, überwachte und reglementierte sie jedoch streng. Da die fastnächtlichen Schaustellungen ein repräsentativer Teil der öffentlichen Festkultur der Stadt waren, befasste sich der Rat intensiv damit (insbesondere offenbar mit dem Schembartlauf). Die Grenzen zwischen textfreien und textbezogenen Spielen, die an den Fastnachtstagen an verschiedenen Orten in der Stadt aufgeführt wurden, sind nicht fest: Die Ausschreier in den Fastnachtspielen fordern in den Schlussstrophen zum Tanz auf, andere Stücke stellen Tanz (K 67, 89), Turnier (K 75) oder Umzugsbräuche in den Mittelpunkt (K 30). Vieles spricht deshalb dafür, von einem erweiterten Spiel- oder Theaterbegriff auszugehen und die textbasierten Fastnachtspiele im Kontext der weiteren Fastnachtsaktivitäten in der Stadt zu verstehen. Auch in den zeitgenössischen Nürnberger Ratsverlässen, den Beschlüssen des Inneren Rats der Stadt, unterscheidet man nicht zwischen Schauspielen, Schauzügen, Schauläufen und Schautänzen, sondern für all diese Schaustellungen wird häufig der Begriff fastnachtspil verwendet.29

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bleiben. Zumindest scheint dies die Furcht der Nürnberger Stadtobrigkeit gewesen zu sein, die einer solchen Entwicklung zuvorzukommen suchte. Dazu Horst Brunner u. Erich Strasser, Volkskultur vor der Reformation, in: Pfeiffer [Anm. 6], S. 199–207, hier S. 199–201; Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 326–348. Vgl. Rudolf Endres, Turniere und Gesellenstechen in Nürnberg, in: Helmut Bräuer u. Elke Schlenkrich (Hgg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. FS für Karl Czok zum 75. Geburtstag, im Auftrag der Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig e. V., Leipzig 2001, S. 263–280. Vgl. Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 9 u. ö. Simon spricht daher vom »fastnächtlichen Stadttheater« (S. 295).

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Über die Analyse der Verordnungen, die der Rat erlässt, um die kommunale Ordnung zu wahren, lassen sich Konturen des urbanen Fastnachtstheaters und Facetten des städtischen Ordnungsdenkens in vielen Fällen überhaupt erst aufdecken. Eckehard Simon hat diese normsetzenden Quellen (Ratsprotokolle, -erlasse etc.) für eine Reihe von Städten ausgewertet. Für weitere, vor allem süddeutsche Reichsstädte, stehen solche Archivstudien zum weltlichen Schauspiel noch aus.30 Insbesondere für die Zeit der Reformation sind hier neue Erkenntnisse zu erwarten. Doch bevor ich darauf eingehe, möchte ich zunächst die Aufführung von Fastnachtspielen als Teil der Fastnachtsfeier, etwa im Wirtshaus,31 charakterisieren. V. Schauspielaufführung und Fastnachtsfeier Die Fastnachtspiele sind im Kontext der turnier-, tanz- und umzugsartigen Veranstaltungen zu sehen, sie sind eine Form des öffentlichen Schauspiels in der Stadt. Im 15. Jahrhundert existiert in Nürnberg noch kein festes Theatergebäude mit Bühne, technischer Ausrüstung und Publikumsplätzen. Die Stücke werden in Wirtsstuben und Innenhöfen einzelner Gasthöfe, »über die etwa der Goldene Stern (Sternhof) oder der sogenannte Heilsbronner Hof verfügten«,32 aufgeführt.33 Sie sind daher auch Teil der Fastnachtsfeier in diesen Räumen. Die Grenzen zwischen Fastnachtspielern und Fastnachtfeiernden sind dort tendenziell fließend. Der Aufführungsort nimmt Einfluss auf das Spielthema,34 auf das Verhältnis von Spielern und Publikum sowie auf die Form der Inszenierung. In den Redewendungen der Ein- und Ausschreier am Beginn und am Schluss der Stücke, in den »Gruß-, Heische-, Tanz- und Abschiedsformeln« an die Adresse des Wirtes und seiner Gäste ist die Aufführungsform der Spiele zu einem festen Bestandteil der Texte geworden.35 30 31

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Ebd., S. 7. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass Fastnachtspiele »Nürnberger Provenienz [. . .] nicht zum Thema des öffentlichen Schauspiels in der spätmittelalterlichen Stadt« gehören; so eine These von Ernst Schubert, Das Schauspiel in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Kirchgässer u. Becht [Anm. 17], S. 19–70, hier S. 36. Paul [Anm. 4], S. 43. Der in einigen Spielen genannte Heilsbronner Hof (z. B. K 85, S. 699,12) stand nicht unter der vollen Verfügungsgewalt des Rates, da er im Besitz des Markgrafen von Ansbach war, »der mit dem ansässigen Wirt gleichzeitig einen markgräflichen Beamten vor Ort besaß« (S. 44). Simon vermutet, dass allenfalls ›Der Juden Messias‹ (K 20) oder ›Des Entkrist Vasnacht‹ (K 68) auf dem Markt aufgeführt worden sind; Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 361. Für den 27.6.1491 bezeugt Hans Folz die Aufführung eines Fastnachtspiels zum Thema ‘Ungleiche Paare – Liebe versus Geld’ im Rathaus-Saal, womit die Nürnberger König Maximilian ehrten; vgl. Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 311, 318f., 395, 431 (Nr. 390). Dass es sich bei den Nürnberger Fastnachtspielen fast ausschließlich um Einkehrspiele handelt, ist vermutlich auch im Zusammenhang mit den obszönen, skatologischen, grotesken und normverkehrenden Tendenzen der Stücke zu sehen. Zur Interdependenz von Spielthemen, Aufführungsformen und Kommunikationsräumen in Nürnberg, Lübeck und in der Schweiz vgl. den Aufsatz von Glenn Ehrstine in diesem Band (S. 83–97). Vgl. Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 353.

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Auf die Fastnachtsfeier im Wirtshaus nehmen die Spiele jedoch nicht nur topisch zu Beginn und am Ende eines Stückes Bezug. In der ›Kargen Bauernhochzeit‹ empfiehlt der die Partei des Bräutigams vertretende Schöffe dem Wirt (um seiner Rede Nachdruck zu verleihen), einer solchen unersättlichen Hochzeitsgesellschaft keinen Einlass zu gewähren. Der Witz besteht vermutlich darin, dass ein Teil der Hochzeitsgäste, nämlich die Klage führenden Bauern, sich schon in der Wirtsstube befindet: Herr der wirt, wolt yr sein on schaden, e So schult yr die geßt nit zu tisch laden (Z. 168f.).

Zu Beginn des Spiels trägt der erste Bauer seine Klage über das karge Hochzeitsessen vor und legt dem Wirt dar, dass man heute Abend zu ihm gekommen sei, um das beim Hochzeitsfest des ‘guten Freundes’ versäumte Mahl jetzt nachzuholen. Die aktuelle Aufführungssituation und die im Spiel verhandelte Festsituation werden parallelisiert, aber auch pointiert kontrastiert, wenn der Bauer darum bittet, dass sie der Wirt nicht so lange warten lasse solle, wie es der Bräutigam getan habe: e Darumb so sey wir her zu euch kumen Als zu vnserm guten freunt frumen; Vnd wir haben vns auch des vermessen, e Wir wolln das mal heint mit euch essen. e Vnd schult vns nit als lang peyten lan, Als vns der prewtigan het gethan (Z. 29–34).

Schließlich fordert der Richter den Schöffen Eberspis von Erleinstegen auf, sein Urteil zu sprechen, ansonsten werde ihm die Magd des Wirtes, die man sich gut unter den Zuhörenden in der Gaststube vorstellen kann, den preller abhauen (vgl. auch Z. 113, 137): Ich thw dich der vrtayl fregen. Ich pewt dir hie pey deim preller, Gib vrtayl reht on als gefer e Vnd ker dich auch an kain orn krawen; e e Des wirtz mayt wurt dir sust deinn preller abhawen (Z. 104–108).

Spieler und Zuschauer kennen sich vermutlich zum allergrößten Teil, kommen aus Nürnberg oder der Umgebung, verfügen also über vergleichbares geographisches und soziales Alltagswissen. Der gemeinsame Wissenshorizont von Spielern und Publikum ermöglicht es, dass Verweise auf Regionalspezifika gewürdigt, dass Verkehrungen von stadtspezifischen Normen als solche überhaupt wahrgenommen und dass zeitbezogene Tendenzen mit lokaler Ausrichtung erkannt werden können. So tragen die Schöffen in unserem Stück sprechende Namen, die einerseits auf die Triebhaftigkeit der Bauern, andererseits auf eine Herkunft aus Ortschaften in der Umgebung Nürnbergs verweisen: Eberspis von Erleinstegen (Z. 103), Pirn Eberlein von Schnigling (Z. 127), Gudelwein von Wetzendorff (Z. 151), Kelbergötz von Pirntan (Z. 186). Durch solche lokalen Bezüge gewinnen die Spiele einen besonderen performativen Charakter. In anderen Stücken werden Nürnberger Wirtshäuser, Gassen und Bürger genannt, die für das spätmittelalterliche Nürnberger Publikum Anknüpfungspunkte an soziale Kontexte und aktuelle Ereignisse eröffnet haben. Durch diese

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Elemente wird das Publikum in das Spiel einbezogen und keine abstrakte, sondern die eigene Sache verhandelt. Wie ist ein Fastnachtspiel nun konkret aufgeführt worden? In der ›Kargen Bauernhochzeit‹ finden sich – wie in den meisten anderen Spieltexten – keine expliziten Regieanweisungen, die uns Informationen über die theatrale Umsetzung des Textes geben könnten. Aus den Rollenbezeichnungen und aus dem Spieltext lassen sich aber dennoch Aufschlüsse über die Aufführung des Spiels gewinnen.36 Daher ist deutlich, dass es sich bei den vier Klägern ebenso um Bauern handelt wie bei den vier Schöffen. Daneben treten Richter und Koch in dem Stück auf. Über die Kostümierung der Spieler schweigt der Text ebenfalls. Von der Gewandung eines Bauern kann man jedoch durch zeitgenössische ikonographische Quellen eine Vorstellung gewinnen.37 Wir wissen allerdings nicht, ob die Bauernkleidung im Fastnachtspiel zusätzlich stilisiert wurde, ob etwa der Schöffe Gundelwein von Wetzendorff nicht nur mit einem Bauernkostüm, sondern auch mit einem Krug in der Hand auftrat (der Name könnte dies nahe legen). Vorstellbar ist auch, dass eine Rolle nur durch ein markantes Requisit gekennzeichnet wurde (etwa der Koch durch Schürze oder Löffel). Da die Kostümierung zur Charakterisierung und Identifizierung der Rollen sowie in besonderer Weise zu den beabsichtigten komischen Wirkungen beitrug, kann man davon ausgehen, dass die Spieler tatsächlich kostümiert waren und die Zuschauer die Kostüme nicht nur imaginieren sollten. Wie eine Gerichtssitzung in den Fastnachtspielen inszeniert wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir wissen nichts darüber, wie der Gerichtsort gestaltet wurde, wie man Richter und Schöffen, Kläger und Beklagte im Raum anordnete, wie sich die Prozessbeteiligten während der Verhandlung bewegten und wie man die Rolle des Richters markierte (evtl. durch Körperattribute oder Amtszeichen). Der Blick auf ein ikonographisches Zeugnis, auf die Darstellung einer Gerichtssitzung aus der Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504,38 kann auch hier zumindest eine Vorstellung vermitteln (Abb. 1).39 36

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In der Handschrift M (München, BSB, Cgm 714) sind die Sprecherangaben ohne Rücksicht auf wiederholte Auftritte fortlaufend durchnummeriert; in einigen Fällen ist eine Rollenbezeichnung ergänzt (Z. 87, 102, 126, 150, 185 der Ausgabe). Beispielsweise durch Albrecht Dürers Bauerndarstellungen, vgl. die Abb. in Peter Strieder, Dürer, Königsstein im Taunus 1981, S. 152f. (›Drei Bauern im Gespräch‹, ›Das tanzende Bauernpaar‹, ›Der Bauer und seine Frau‹, ›Die Marktbauern‹). Abb. bei Wolfgang Schild, Die Halsgerichtsordnung der Stadt Volkach aus 1504, Rothenburg o. d. T. 1997 (Schriftenreihe des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg o. d. T. 2), S. 19. Das Gericht tagt hier im Freien, auf dem Marktplatz, »wo eine Bühne (‘Schranne’) errichtet war, auf der das Verfahren stattfand: der Vergleich mit einer Theateraufführung drängt sich unmittelbar auf. Die Beweisstücke der Tat (corpora delicti) wurden auf diese Bühne gelegt, allen sichtbar gemacht« (S. 16). Der Richter sitzt weder auf einem besonderen Stuhl noch erhöht, ist aber durch Stab, Beinhaltung und Beschriftung (iudex) kenntlich. Zur Problematik der Rollenmarkierung in der städtischen Rechtssprechung vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen (1350 bis 1650), in: Johannes Burkhardt u. Christine Werkstetter (Hgg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005 (Historische Zeitschrift, Beihefte NF 41), S. 461–498. Bei solchen Gegenüberstellungen von Schauspieltexten und bildlichen Darstellungen ist in

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Die Aufführung von Schauspielen, so viel abschließend zu diesem Punkt, realisiert sich im Kontext der Fastnachtsfeier im Wirtshaus. Ihre soziale Dimension besteht im gemeinsamen Handeln von Darstellern und Zuschauern, aber auch darin, dass die Inszenierung einer verkehrten Welt Elemente der etablierten Ordnung und Kultur auf eine exponierte Weise in die Öffentlichkeit einer Stadtgesellschaft bringt. Sie gibt sie nicht selten der Lächerlichkeit preis und stellt ihre Repräsentanten unter Umständen bloß. Letzteres geschieht vor allem in der Reformation. VI. Reformation und Fastnacht Eine große Anzahl der Nürnberger Fastnachtspiele behandelt sozial und politisch bedeutsame Themen. Wenn man darüber hinaus das Aktualitätsprinzip der Gattung bedenkt,40 dann wird verständlich, warum gerade Fastnachtspiele während der Reformationszeit als ein wichtiges Medium politisch-religiöser Agitation genutzt wurden.41 Durch den Glaubenskampf bekam der Gedanke der verkehrten Welt plötzlich eine ungeheure Aktualität. Fastnacht und verkehrte Welt boten sich geradezu an, um das Verhältnis zwischen evangelischer Bewegung und alter Ordnung auszudeuten. Mit Pamphilus Gegenbach in Basel (›Die .X. alter dyser welt‹, ›Nollhart‹, ›Gouchmat‹) und Niklaus Manuel in Bern (›Vom Pabst und seiner Priesterschaft‹) beginnt die Reihe der profilierten Autoren von antipäpstlichen Fastnachtspielen.42 In Nürnberg versuchte der Rat in den Reformationsjahren die Aufführung von Fastnachtspielen und Schauzügen zu verhindern, in denen der Papst oder der Klerus angegriffen wurden. Die Ordnungspolitik war durchaus erfolgreich: Reformatorische Agitationsstücke sind uns aus der Stadt nicht überliefert.43 Belegt ist jedoch, dass bereits 1522

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jedem Falle zu bedenken, dass es nicht um die historische Rekonstruktion der Aufführung durch Analogieschluss gehen kann. Ikonographische Zeugnisse können jedoch gleichwohl – im Sinne einer thesengeleiteten Rekonstruktion – eine Anschauung von dem auf der Bühne Dargestellten vermitteln; zur Aufführung von Fastnachtspielen vgl. auch den Beitrag von Johannes Janota in diesem Band (S. 381–400). – Nachweislich ist uns nur ein Bildzeugnis erhalten, das eine Fastnachtspielaufführung vorstellt, eine Federzeichnung des Zürcher Ratsherren und Chronisten Gerold Edlibach, die dieser zu einem 1476 in Zürich aufgeführten Fastnachtspiel (von Brunner de Zofingen) anfertigte (siehe Umschlagbild dieses Bandes): Acht fastnachtfeiernde Zecher wollen lieber hinter dem Ofen jagen als auf die Jagd gehen, wozu sie ein durch die Tür tretender Jäger auffordert; vgl. Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 106, S. 454f.; Abb. auch in: Max Herrmann, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 418. Zum Fastnachtspiel als Medium persönlicher Invektive vgl. Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 130f., 200f., 277f. Siehe dazu den Beitrag von Eckehard Simon in diesem Band (S. 115–135). Zu den Schweizer Spielen vgl. Greco-Kaufmann [Anm. 9]; Glenn Ehrstine, Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–1555, Leiden [usw.] 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85); Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 104–141, sowie den Beitrag von Heidy Greco-Kaufmann in diesem Band (S. 99–114). Zur Reaktion des Rates auf das Fastnachtspiel ›Das wildbad‹ (KG 21,3ff.) des Hans Sachs vgl. Horst Brunner, Hans Sachs. Über die Schwierigkeiten literarischen Schaffens in der

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eine Spieltruppe ein antipäpstliches Spiel aufführen wollte. Der Rat schritt aber sofort ein und verbot es.44 Obwohl sich Nürnberg bereits 1524 offiziell zum evangelischen Glauben bekannte, versuchte der Rat offenbar jede offene Provokation der alten Kirche zu vermeiden und Rücksicht auf mächtige Nachbarn und die Reichsinstitutionen (Kaiser) zu nehmen. Die erhaltenen reformatorischen Spieltexte und die Aufführungszeugnisse von textierten, antipäpstlichen Fastnachtspielen sind relativ gut erforscht. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die fastnächtlichen Schauzüge und die spontanen satirischparodistischen Umzüge, in denen die Repräsentanten der alten Kirche, aber auch Luther und seine Anhänger verhöhnt wurden. Aus der ersten Phase der Reformation finden sich in nicht wenigen Städten Zeugnisse dafür, dass Fastnachtsumzüge genutzt wurden, um die alten kirchlichen Autoritäten zu schmähen und die lutherischen Lehren zu popularisieren. Gelegentlich schlug dabei auch das fastnachtspil um, und aus einer gespielten Jagd auf Nonnen und Mönche durch die Straßen wurde bitterer Ernst. Der spielerische Grundzug der vorreformatorischen Fastnacht wandelte sich häufig zu aggressivem Spott. Die Räte der Städte sahen sich vielfach selbst dann veranlasst einzuschreiten, wenn sie der Reformation aufgeschlossen gegenüberstanden. Man fürchtete eine Spaltung der städtischen Kommunität, den offenen Austrag sozialer Spannungen und eine Beeinträchtigung der eigenen privilegierten Stellung in der Stadt. Fastnacht war jetzt zu einer ernsthaften Bedrohung der Ordnung geworden.45 Diese noch nicht systematisch untersuchte Entgrenzung der Fastnacht beschränkte sich allerdings auf die ersten Reformationsjahre (1521–1525). Die Räte der Städte versuchten daraufhin zum einen die Fastnachtsfeierlichkeiten zu verbieten,46 zum anderen schaffte der neue Glaube die kirchliche Fastenzeit ab, womit die Fastnacht an Legitimation verlor. Die Reformation veränderte das städtische Fastnachtstheater auf vielen Ebenen, gänzlich unterbinden konnte sie es jedoch nicht.

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Reichsstadt Nürnberg, in: Horst Brunner, Gerhardt Hirschmann u. Fritz Schnelbögl (Hgg.), Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, im Auftrag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1976, S. 1–13, hier S. 10. Dazu Simon, Die Anfänge [Anm. 4], S. 315 und den Aufsatz in diesem Band S. 115–135. – Erst ab etwa 1600 war der Nürnberger Rat bestrebt, »die Handwerker [gänzlich] von der Bühne zu verdrängen, um ihnen . . . kein größeres öffentliches Forum mehr zu geben«. Der Rat sprach jetzt den nichtprofessionellen Schauspielern und Spielleitern »die künstlerische Qualität rundweg ab« und »kritisierte auch die Inhalte und Darbietungsformen ihrer derbkomischen Stücke, in denen die Traditionen des Fastnachtspiels noch am stärksten lebendig waren«; Paul [Anm. 4], S. 591, 79. Die Theatersituation in der Stadt hatte sich im 17. Jh. vollständig geändert. Dazu Scribner [Anm. 18] und für die Schweiz Pfrunder [Anm. 26]. So beispielsweise 1526 in Ulm nach entsprechenden Vorfällen (vgl. Scribner [Anm. 18], S. 128) und 1523 in Bern (vgl. Greco-Kaufmann [Anm. 9], S. 32f.). Zu den verschiedenen Versuchen der Ulmer Stadtobrigkeit, die Bedrohung der Ordnung zur Fastnachtszeit durch Verbote einzudämmen vgl. Wolf-Henning Petershagen, Schwörpflicht und Volksvergnügen. Ein Beitrag zur Verfassungswirklichkeit und städtischen Festkultur in Ulm, Ulm 1999 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 29), S. 223–263.

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VII. Schluss In fünf Punkten möchte ich die Ausführungen abschließend resümieren: 1. Die Disziplinierung der exzessiven Festgewohnheiten ist ein zentrales Anliegen der städtischen Ordnungspolitik. Unter städtischem Ordnungsdiskurs lassen sich normsetzende, in Ordnungen zusammengefasste Regelungskomplexe (Fest-, Kleider-, Marktordnungen u. a.), die einschlägigen Beschlüsse des städtischen Rates als gesetzgebendem Gremium (Ratsprotokolle u. a.) sowie weitere normreflektierende Quellen (Chroniken u. a.) verstehen. 2. Die verschiedenen Formen des urbanen Fastnachtstheaters bringen Elemente der sozialen Ordnung im Modus der Verkehrung in die Öffentlichkeit. Der Begriff Fastnachtstheater umfasst dabei all das, was zum Fasnachtsfest öffentlich aufgeführt worden ist: textierte Fastnachtspiele und weitere Schaustellungen. Das Durchspielen einer verkehrten Welt birgt immer die Gefahr der (realen) Grenzüberschreitung. Daher gilt den theatralen Aktivitäten zur Fastnacht die besondere Aufmerksamkeit der städtischen Obrigkeit. 3. Das Verhältnis der erhaltenen Nürnberger Fastnachtspiele zum städtischen Ordnungsdiskurs ist bisher nicht ausreichend untersucht. Auf der Basis der derzeit in Trier und Tübingen entstehenden Neuedition und Kommentierung der Spieltexte können hier weiterführende Kontextanalysen angesetzt werden. 4. Wo keine Schauspieltexte überliefert sind (und dies ist nahezu der Normalfall), lassen sich den Ratsprotokollen und -erlassen des Stadtregiments Hinweise sowohl auf Formen des Fastnachtstheaters (textierte und textfreie Schaustellungen) als auch auf das städtische Ordnungsdenken entnehmen. In nicht wenigen, vor allem süddeutschen Städten, sind diese Quellen bisher nicht ausgewertet worden. 5. In den Reformationsjahren wird die verkehrte Welt der Fastnacht zum Deutungsrahmen eines gravierenden gesellschaftlichen Umbruchs. Man nutzt das Fastnachtstheater als Instrument, um in soziale und religiöse Konflikte einzugreifen. Auf der Grundlage städtischer Archivalien ist diese Entwicklung erst ansatzweise untersucht worden. Auch hier verspricht die Analyse bisher nicht systematisch untersuchter Quellenbestände (süddeutscher Reichsstädte) weiterführende Erkenntnisse.

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Aufführungsort als Kommunikationsraum Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz

Die Nürnberger Fastnachtspieltradition ist leider nicht mehr die Ausnahmeerscheinung, die sie einmal war. Zwar sind wir nach wie vor über keine vergleichbare örtliche Tradition so gut informiert, was die Spieltexte mitsamt ihren literarischen Ansprüchen betrifft: Etwa drei Viertel der erhaltenen Spiele des 15. Jahrhunderts stammen aus der Stadt an der Pegnitz,1 so dass kein anderer Ort Nürnberg den Rang in dieser Hinsicht streitig machen kann. Seit kurzem erscheint jedoch ein zweiter Aspekt der Nürnberger Tradition nicht mehr so einmalig, nämlich ihre Aufführungsart. Während man in anderen Städten Fastnachtspiele meist an öffentlichen Orten aufführte, pflegte man in Nürnberg bekanntlich das Stuben- oder Einkehrspiel, bei dem kleine Gruppen von Spielern, sogenannte Spielrotten, in Wirts- und Wohnhäuser einkehrten, um dort vor einem kleinen Kreis von Zuschauern kürzere Spiele darzubieten. Zwar kannte man auch in Tirol Einkehrspiele, aber diese sind wohl durch Nürnbergischen Einfluss entstanden, beruhen doch zwölf der 25 durch Vigil Raber aufgezeichneten Spiele auf Nürnberger Vorlagen.2 Gerade aber für die Hansestadt Lübeck, deren Wagenspiele mit ihrer meist erbaulichen Thematik auf flandrischen Einfluss zurückgingen und deswegen oft als Gegenbeispiel Nürnbergs in der Forschungsliteratur fungierten, konnte Eckehard Simon neulich einen langjährigen Einkehrspielbetrieb nachweisen.3 Lübeck besaß also am Anfang des 16. Jahrhunderts zwei nebeneinander bestehende fastnächtliche Spieltraditionen, einmal die öffentlich aufgeführten Wagenspiele der obrigkeitsnahen Zirkelgesellschaft und Kaufleutekompanie, und einmal die 182 im Amtsbuch der Greveradenkompanie festgehaltenen Stubenspiele mit meist heiterem Inhalt, die eine Reihe von Schülern, Lehrern und Handwerkern zwischen 1496 und 1532 im Clubhaus dieser Kompanie aufführte.4 Das Nebeneinander von zwei Spielbetrieben in ein und derselben Stadt gibt eine neue Perspektive frei auf die bisherige Typisierung von fastnächtlichen Spiellandschaften überhaupt, nicht nur für Nürnberg und Lübeck, sondern auch für die Schweizer Tradition mit ihren Marktspielen in Städten wie Basel, Bern und Luzern. Vor Simons Aufdeckung der Lübecker Einkehrspieltradition gab es nämlich eine meist 1

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Dieter Wuttke, Nachwort, in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), S. 441. Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), S. 165. Ebd., S. 225–290. Ebd., S. 354.

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saubere Trennung zwischen diesen drei regionalen Traditionen, geprägt durch die Gattungsbestimmungen Eckehard Catholys.5 Waren die Wagenspiele der Lübecker Zirkelgesellschaft für ihren moralisch-erbaulichen Inhalt bekannt, so galten die Schweizer Marktspiele von jeher als besonders politisch,6 während die Nürnberger Einkehrspiele Rosenplütscher und Folzscher Prägung für ihre ungehemmten sexuellen und fäkalischen Anspielungen bekannt waren und es noch sind, auch wenn die neuere Forschung diese ‘Zoten’ inzwischen anders beurteilt als die Germanisten des Wilhelminischen Zeitalters.7 Einerseits unterschied man also für diese drei Orte zwischen Spielstoffen – moralisch, politisch, anzüglich – andererseits zwischen Spieltypen – Wagenspiel, Marktspiel, Einkehrspiel – machte aber nicht den Versuch, diese Variablen strenger zu trennen. Die Frage scheint also berechtigt, ob nicht die unterschiedlichen Spielstoffe Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz, die hauptsächlich als Ausdruck regionaler Vorlieben galten, viel eher vom jeweiligen Spieltyp bzw. vom jeweiligen Aufführungsort abhingen. Das neue Lübecker Beispiel – erbauliche Stoffe für die öffentlich aufgeführten Wagenspiele, ergötzliche Stoffe für die im Privaten dargebotenen Einkehrspiele – legt nämlich die Vermutung nahe, dass die Stoffwahl eines Fastnachtspiels in erster Linie unterschiedliche Kommunikationsräume innerhalb der spätmittelalterlichen städtischen Gemeinschaft widerspiegelt. Der Aufführungsort bestimmte bekanntlich vieles beim spätmittelalterlichen Spielbetrieb, wie die Zusammensetzung des Publikums, dessen sozialen Rang und auch die Erwartungen, die das Publikum einem Spiel entgegenbrachte. Um allerdings die Rolle von Fastnachtspielaufführungen innerhalb einer spezifischen örtlichen Tradition bestimmen zu können, muss man nicht nur diese Faktoren erwägen, sondern auch die bestimmte Funktionalisierung des jeweiligen Aufführungsortes innerhalb des Gesamtangebots an fastnächtlichen Kommunikationsformen in einer Stadt berücksichtigen. Mit anderen Worten: In Lübeck gab es etablierte öffentliche wie auch private Spielmöglichkeiten bei der örtlichen Fastnachtsfeier, in Nürnberg und der Schweiz nicht. Der öffentliche Raum dieser Städte erfüllte zur Fastnacht andere kommunikative Funktionen, die die Schaffung eines eher privaten Spielrahmens in Nürnberg oder eine betont öffentliche Spieltradition in der Schweiz begünstigten. Im Folgenden möchte ich für jeden dieser Orte die regionale Fastnachtspieltradition zunächst im städtebaulichen sowie sozialen Gefüge der Stadt situieren, um dann Implikationen für die Thematik der jeweiligen Tradition zu ziehen.

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Eckehard Catholy, Fastnachtspiel, Stuttgart 1966. Johannes Janota, Mittelalterlich-frühneuzeitliche Spiele und Dramen, in: Walter Hinck (Hg.), Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, S. 26–34, hier S. 31. Vgl. z. B. die Ansicht des Nürnberger Archivars Theodor Hampe zu den Nürnberger Spielen, »in denen sich der Unflat von Jahrhunderten angehäuft findet.« Theodor Hampe, Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis 1806, Nürnberg 1900, S. 17.

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Nürnberg Betrachtet man das Gesamtrepertoire an fastnächtlichen Vergnügen im spätmittelalterlichen Nürnberg, so fällt auf, dass es bei der örtlichen Fastnachtsfeier mindestens vier weitere publikumswirksame Traditionen neben den Einkehrspielen gab. Auf dem Hauptmarkt veranstalteten junge Patrizier ein Stechturnier, das sogenannte Gesellenstechen, dem auch adlige Gäste beiwohnten, für die der Rat eine Zuschauertribüne errichten ließ. Moriskentänze gehörten mindestens viermal zum Festtreiben, so wie der Moriskentanz, den der Rat 1474 für Kaiser Friedrich III. und den jungen Maximilian aufführen ließ.8 Die Handwerker waren genauso aktiv zu Fastnacht, wie zum Beispiel beim Schwerttanz der Messerschmiede.9 Am wichtigsten für die Geschichte der Nürnberger Fastnacht ist jedoch der sogenannte Zämertanz, ein von den Metzgern veranstalteter Ringtanz, der schon 1397 in den Quellen auftaucht und den historischen Kern des bekannten Schembartlaufs bildet. Die Schembartläufer begleiteten ursprünglich die Metzger auf ihrem Weg durch die Stadt und schafften unter der zuschauenden Menge Platz, damit der Zämertanz stattfinden konnte. Daraus entwickelte sich mit der Zeit ein aufwändiger Zug, der zunehmend den Repräsentationsansprüchen des Rats genügen musste. Da die Schembartläufer die einzigen waren, die in der Regel beim Fest Masken tragen durften, war dieses Amt sehr begehrt. Junge Patrizier beanspruchten dieses Privileg zunehmend für sich, so dass die Metzger schließlich nur noch mit Genehmigung des Rats Läufer ernennen konnten. Ab 1516 subventionierte der Rat sogar für ehrbare Schembartanwärter die von den Metzgern erhobene Teilnahmegebühr. Dass der Rat bereit war, Geld beizusteuern, damit der Schembartlauf in ehrbaren Händen blieb, unterstreicht das Bemühen der städtischen Obrigkeit, diese öffentliche Veranstaltung zu Selbstinszenierungszwecken auszunützen.10 Für politischen Ausdruck sorgte bei Gelegenheit die sogenannte ‘Hölle’, ein Festwagen, der um 1478 in den Akten auftaucht. Die ‘Hölle’ konnte Fabelwesen, Wehrbauten oder närrische Themen darstellen, aber auch durch satirische Tableaux missliebige Zustände oder Personen anprangern.11 Wie nicht anders zu erwarten, stehen die repräsentativen Orte der Fastnachtsfeier in Nürnberg fest in den Händen der führenden Schichten. Gesellenstechen und Schembartlauf nehmen Markt und Straße wortwörtlich in Beschlag und sichern jungen Patriziern die führende Rolle im öffentlichen Kommunikationsraum der Stadt. Die Fastnachtspiele können sich unter diesen Bedingungen unmöglich gegen das Sozialprestige und die Raumansprüche des Schembartlaufs behaupten; kein Wunder also, 8 9

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Simon [Anm. 2], S. 327–328. Das Privileg, diesen Tanz abzuhalten, erhielten die Messerer angeblich für ihre Unterstützung des Rats beim Zünfteaufstand von 1348/49, aber Simon weist nach, dass der Schwerttanz erst ab 1474 in den Ratsverlässen erscheint. Simon [Anm. 2], S. 329. Ebd., S. 338. Die erhaltenen Schembartbücher enthalten Abbildungen der ‘Höllen’ aus mehreren Jahren zwischen 1475 und 1539. Siehe u. a. Samuel L. Sumberg, The Nuremberg Schembart Carnival, New York 1941 (Columbia University Germanic Studies, New Series 12), figures 33–55.

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wenn der Nachwuchs aus obrigkeitsnahen Familien wenig Zeit und Interesse für das Einstudieren eines Spiels übrig hatte, auch wenn es vereinzelte Belege gibt, die auf ehrbare Spielträgerschaft hinweisen.12 An den jedermann zugänglichen Orten der Gemeinde gab es für die örtlichen Fastnachtspiele buchstäblich keinen Platz. Die Ausnahmen scheinen diese Regel zu bestätigen: Die einzige in den Ratsverlässen bezeugte öffentliche Aufführung eines Fastnachtspiels fand 1517 am Fastnachtssonntag statt, also an einem Tag, an dem es nicht mit anderen Feierlichkeiten konkurrieren musste.13 Ansonsten wurden die Einkehrspiele Nürnbergs fast ausnahmslos im privaten Rahmen aufgeführt, wie die Begrüßungsreden des Einschreiers sowie die SpielrottenBelege der Ratsverlässe deutlich machen. Die Spiele waren also für ein Publikum gedacht, das die dargebotene Unterhaltung zu Hause oder allenfalls in Wirtshäusern konsumierte. Ein solches Publikum stellt natürlich andere kommunikative Erwartungen an eine Aufführung als eines auf dem Marktplatz. Politik, Sittenpflege, kurzum alles, was zur Gemeinde gehört: das ist viel eher Stoff für die öffentlichen Schaustellungen des Schembartlaufs. Die Thematik der Einkehrspiele führt notwendigerweise in familiäre Bereiche, hier ist man unter sich und benimmt sich entsprechend. Ehekrach, Seitensprünge, Quacksalber und körperliche Bedürfnisse: das sind alles Themen, die den häuslichen Alltag betreffen – kein Wunder also, dass die Nürnberger Einkehrspiele gerade diese Themen behandeln. Familienleben und Haushalt bilden außerdem einen gemeinsamen Bezugspunkt zwischen einzelnen Ständen innerhalb der städtischen Gesellschaft, d. h. die von Haus zu Haus ziehenden Spielrotten boten Stoffe an, die nicht nur Handwerker, sondern auch Patrizier genießen konnten: Die Praecursor-Reden in Spielen wie ›Der elfte Finger‹ (K 18), ›Ein Ehebruchprozess‹ (K 10) und ›Die Bauernheirat‹ (K 7), in denen der Praecursor die Zuschauer als Herren anredet, zeigen deutlich, dass auch Patrizierhäuser Ort von Einkehrspielaufführungen waren.14 Um ausnahmsweise einen zeitgenössischen Vergleich zu ziehen: In ihrer Behandlung allzu menschlicher Themen, die den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Nürnberger Ständen bedienen, fungierten die Einkehrspiele der Stadt in ähnlicher Art und Weise wie die heutige Videoausleihe von Spielfilmen: Man sucht sich eher leichtere Stoffe aus, die die Sorgen des Alltags vertreiben und für Heiterkeit innerhalb der eigenen vier Wände sorgen. Von ihrer kommunikativen Funktion her sollte man also von den Nürnberger Spielen nicht erwarten, dass sie sich allzu oft mit Politik oder Moral beschäftigen: sie dienten innerhalb des örtlichen Fastnachtbetriebs eher dem privaten Vergnügen. Das Hauptvehikel für politischen Meinungsaustausch während der Nürnberger Fastnacht war eher die zum Schembartlauf gehörende Hölle, wie das bekannte Beispiel aus dem Jahr 1539 zeigt, als man beim Festwagen Andreas Osiander, Pfarrer der Lorenzkirche, mitten unter Teufeln darstellte, was bei Neugläubigen weit über die Mauern Nürnbergs hinaus für Aufsehen sorgte und Luther zum öffentlichen Tadel reizte.15 12 13 14 15

Simon [Anm. 2], S. 304–306. Ebd., S. 311. Ebd., S. 313. Dieser Skandal galt lange Zeit als Todesstoß für die Schembarttradition in Nürnberg. Simon

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Das soll aber nicht heißen, dass es keine politischen Einkehrspiele gegeben hat. Sie waren jedoch eher die Ausnahme, und wenn es mal eins gab, dann musste es seine Wirkung anders erzielen als ein politisches Marktspiel, wie an den antijüdischen Spielen von Hans Folz ersichtlich. Folzens frühe Spiele ›Die alt und neu ee‹ (K 1) und ›Kaiser Constantinus‹ (K 106) sind durch ihre Begrüßungsreden eindeutig als Einkehrspiele markiert; der Herold von ›Kaiser Constantinus‹ redet seine Zuschauer außerdem eindeutig als herren an, was auf einen ehrbaren Zuschauerkreis hinweist.16 Beide Spiele sind als Disputationen aufgebaut und verfügen über ein erstaunlich hohes Maß an theologischer Kenntnis und rhetorischer Argumentation, was ein gebildetes Publikum voraussetzt,17 das sich ohne lärmende Ablenkung mit den vorgetragenen Streitpunkten auseinandersetzen konnte. Der Disputationsrahmen passt wunderbar auf die Bedingungen des Einkehrspiels: Die beschränkte Spielerzahl einer Rotte konnte problemlos zwei Disputationsgegner samt kleinem Anhang meistern, und das Hin und Her der Argumente lässt sich bei einer Stubenaufführung akustisch wie auch visuell gut verfolgen. Bis auf die Ochsentötung und -wiederbelebung in ›Kaiser Constantinus‹ beruhen beide Spiele hauptsächlich auf rhetorischer Sprachführung, was bei einem Marktspiel die Aufnahmefähigkeiten der Zuschauer eher strapazieren würde. Anders Folzens drittes antijüdisches Spiel, ›Der Juden Messias‹ (K 20) oder, wie es in der Kellerschen Sammlung heißt, ›Der Herzog von Burgund‹. Da hier die typische Praecursor-Rede fehlt und dazu Bühnenapparate wie ein Glücksrad oder ein feuerspeiender Drachen in den Anweisungen auftauchen, nimmt man allgemein an, dass das Spiel im Freien aufgeführt worden sein muss.18 Die augenfällige Drastik des Spiels, die im deutlichen Gegensatz zu den zwei anderen antijüdischen Spielen steht, unterstützt auch diese Annahme. Bekanntlich wird hier das spätmittelalterliche Motiv der Judensau szenisch ins Bild gesetzt, während der Juden-Messias, der sich als Antichrist entpuppt, von Vertretern der Christenheit zunächst einer Wahrheitsprobe mittödlichem Ausgang unterzogen, dann zum neuen Leben erweckt und schließlich als

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kann jedoch anhand von Belegen in den Ratsverlässen nachweisen, dass der Schembartlauf bis zum Ende des 16. Jahrhunderts weiter bestanden hat; Simon [Anm. 2], S. 342. Zu Luthers Kommentar siehe Glenn Ehrstine, Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–1555, Leiden [usw.] 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85), S. 116. ›Kaiser Constantinus‹ (K 106), in: Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 2, Stuttgart 1853 (BLVSt 29), S. 796–819; hier S. 796,1; S. 819,9. Vgl. Simon [Anm. 2], S. 313. Edith Wenzel, Do worden die Judden alle geschant. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 14), S. 208. Anders als Wenzel sehe ich keinen Gegensatz zwischen der rhetorischen Argumentation des Werks und der Praecursor-Rede, die Wenzel für lediglich »gattungstypisch« und nicht unbedingt für den Reflex einer Aufführungssituation hält. Die Tanzaufforderung am Ende des Spiels richtet sich auf ähnliche Weise nicht an das Publikum, sondern an die Personen des Spiels. Ein Spil von dem Herzogen von Burgund, in: Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts [Anm. 16], S. 169–190, hier S. 190,22.

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sinnfälliges Zeichen seiner Ohnmacht kastriert wird. Alle Juden des Spiels werden zum Schluss mit Schweinsblasen behängt und von Hunden aus der Stadt getrieben, wobei es unklar ist, ob diese letzte Erniedrigung tatsächlich auf der Bühne dargestellt wurde. Die Widerlegung der Juden, die in den anderen Spielen rein sprachlich geschieht, wird hier in einprägsame Aktion umgesetzt. Edith Wenzel charakterisiert diesen Unterschied so: »Während in seinen beiden frühen Spielen die theologischwissenschaftliche Argumentation überwiegt, spricht er [Folz] in seinen späteren Werken die Ängste und das Aggressionspotential breiterer Schichten an«.19 Auch wenn dieses Resümee für Folzens Reimpaarsprüche und Mären zutrifft, muss gerade bei den Spielen festgehalten werden, dass diese Entwicklung auch mit einem Wechsel der Aufführungssituation einhergeht: Das Einkehrspiel dient hier der Argumentation, während das öffentliche Spiel mit dem »Aggressionspotential breiterer Schichten« kalkuliert. Zusammen genommen zeigen also die drei antijüdischen Spiele von Folz, wie der Aufführungsrahmen eines Fastnachtspiels und seine kommunikativen Ziele sich gegenseitig bedingen können. Schweizer Spiele Wenden wir uns nun der Schweizer Tradition zu, und zwar den Städten Basel, Bern, Luzern und Zürich, wo die topologischen und sozialen Aspekte des öffentlichen Raums anders liegen. Die sogenannte ‘Böse Fas(t)nacht’ Basels aus dem Jahre 1376 veranschaulicht wichtige Unterschiede zwischen dem eidgenössischen und dem Nürnberger Fest. In diesem Jahr veranstaltete der österreichische Herzog Leopold III. mit seiner Gefolgschaft ein Turnier auf dem Basler Münsterplatz. Die Bürger im Publikum fühlten sich durch einen plötzlichen Vorfall provoziert – der Legende nach haben Ritter Speere unter die Zuschauer geworfen – und im Nu hatten sie sich Waffen und Rüstung aus den Zunftstuben geholt und stürmten auf den anwesenden Adel los. Die Menge tötete mehrere Adlige, bevor der Basler Rat seinen Bürgern Einhalt gebieten konnte. Auch wenn der Rat als Strafe für den Aufruhr zwölf Bürger enthaupten ließ, war der Herzog dennoch nicht zufriedengestellt und ließ die Reichsacht über die Stadt verhängen. Basel ist erst 1501 Teil der Eidgenossenschaft geworden, aber dennoch veranschaulicht dieser Vorfall durch den Vergleich mit dem alljährlichen Gesellenstechen in Nürnberg die allgemeine Schweizer Ablehnung aller Fastnachtsvergnügen, die sich an adligen Vorbildern orientierten. Die hohen Herren waren überhaupt nicht gern gesehene Gäste: Unter den weltlichen Schweizer Spielbelegen ist nur einmal ein Besuch des Hegauer Adels im benachbarten Schaffhausen bezeugt.20 Zwar erfreuten sich Schützenfeste und Schaukämpfe großer Beliebtheit, wie z. B. die Bestürmung einer Schlossattrappe zur alten Fastnacht 1552 durch die Berner Burgerschaft oder ein schimpffkrieg, den sich junge Bürger aus Luzern 1580 geliefert haben.21 Mit möchte19 20 21

Wenzel [Anm. 17], S. 264–265. Simon [Anm. 2], S. 113. Chronik aus den hinterlassenen Handschriften des Joh. Haller und Abraham Müslin von

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gern-adliger Selbstdarstellung wie beim Nürnberger Gesellstechen hatten diese Veranstaltungen aber nichts zu tun, vielmehr dienten sie als spielerische Übungsgelegenheit für den Ernstfall im Leben der schweizerischen Reisläufer. Außerdem fanden solche Wettkämpfe in der Regel außerhalb der Stadtmauern statt, denn wie die ‘Böse Fastnacht’ von Basel deutlich macht, bargen fastnächtliche Zusammenkünfte ein großes Gewaltpotenzial in sich, das den eidgenössischen Behörden über Jahre hinweg zu schaffen machte. Die Obrigkeit in den Schweizer Städten war also vielfach bemüht, die Aktivitäten größerer Volksmengen zur Fastnacht in möglichst geordnete Bahnen zu lenken. Ob es nun mit diesen obrigkeitlichen Bemühungen zusammenhängt oder nicht, es scheint so gut wie keine Fastnachtsaktivitäten in der alten Eidgenossenschaft gegeben zu haben, die den öffentlichen Raum einer Stadt regelmäßig in Beschlag nahmen wie in Nürnberg der Schembartlauf oder das Gesellenstechen, abgesehen von den Marktspielen, die uns gleich beschäftigen werden. Selbstverständlich gab es eine ganze Reihe von bekannten Fastnachtsbräuchen, die man öffentlich praktizierte, wie z. B. Heischegänge, Tänze, Eggenziehen, Vermummung, das Reichen der Fastnachtsküchli oder das Brunnenwerfen. Diese Aktivitäten beanspruchten aber keine spezifischen Örtlichkeiten innerhalb der städtischen Topographie. Die Schweizer Fastnacht war nichtsdestotrotz ein wichtiges politisches Ereignis. In fast jedem Ort der Eidgenossenschaft haben die Stadträte durch gegenseitige Einladungen in der Fastnachtszeit ihre diplomatischen Beziehungen gepflegt. Diese Treffen waren stets durch üppige Gastmähler und musikalische Unterhaltung geprägt, so zum Beispiel im Jahre 1486, als sich Abgesandte aus Schwyz in Bern und später in Solothurn einfanden. Zwei Tage vor deren Ankunft forderte der Berner Kleine Rat die Statthalter auf dem Lande auf, Fisch und Fleisch bereitzustellen, bestellte Trompeter und Pfeifer und gab Anweisungen, auch sechs personen darzu tougenlich, die schimpf und gut gesellschaft wüssen zu halten, har zu fürdern, minen herrn helfen ere und früntschafft gegen irn Eydgnossen zu handelln.22 Für die Bewirtung der Gäste gab die Stadt Solothurn 515 Pfund, sieben Schilling und sieben Pfennig aus.23 Bern und Basel nutzten bei anderer Gelegenheit die Fastnacht, um den Bündniseid zu erneuern.24 Luzern scheute 1490 keine Kosten, seine neuen Untertanen in der neu erworbenen Grafschaft Werdenberg im Oberland durch ein prächtiges Festessen und allerlei Vergnügungen an die Stadt zu binden.25 Von daher wundert es nicht, wenn auch Spieltruppen aus kleineren Orten zuweilen in Städten des alemannischen Raums gastierten,

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1550 bis 1580, hg. v. Samuel Gränicher, Zofingen 1829, S. 9–10; Heidy Greco-Kaufmann, Vor rechten lütten ist guot schimpfen. Der Luzerner ›Marcolfus‹ und das Schweizer Fastnachtspiel des 16. Jahrhunderts, Bern [usw.] 1994 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 19), S. 249. Zitiert nach Peter Pfrunder, Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit. Die Berner Spiele von Niklaus Manuel, Zürich 1989, S. 72. Ebd., S. 73. Greco-Kaufmann [Anm. 21], S. 29–30. Ebd., S. 24.

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um die Beziehungen zu den Nachbarn zu festigen, wie dies oft in Biel und Colmar geschah.26 Der einzige eidgenössische Ort, der gewisse Parallelen zu Nürnberg in Bezug auf Fastnachtsbräuche aufweist, war Zürich, wo der Rat den Metzgern aus Dankbarkeit für ihre Treue in der Zürcher Mordnacht von 1350 das besondere Recht einräumte, zur Fastnacht einen Umzug durch die Stadt zu veranstalten. Die Gewährung besonderer Freiheiten an eine Gruppe von Handwerkern für ihre Regierungstreue erinnert an die sagenhaften Ursprünge des Schwerttanzes der Messerer in Nürnberg, und beide Erzählungen entstammen eventuell der städtischen Legendenbildung. Der Umzug der Zürcher Metzger fand bis in die Reformationszeit statt, aber im Gegensatz zu Nürnberg scheinen die oberen Stände der Stadt sich nicht daran beteiligt zu haben. Der Beschreibung Heinrich Bullingers nach nannte sich der Zug Der Metzger Braut, weil die Teilnehmer am Ende die von ihnen erwählte Braut mitsamt ihrem Bräutigam nach fastnächtlicher Tradition in einen Brunnen warfen.27 Trotz alledem ist es ein bemerkenswerter Zufall, dass gerade für Zürich, wo der Umzug der Metzger den öffentlichen Raum prägt, keine fastnächtlichen Marktspiele verbürgt sind, zumindest bis 1548 nicht, als das ›Weinspiel‹ von Hans Rudolf Manuel aufgeführt wird, allerdings erst nachdem die Bibeldramen Jakob Rufs den Grundstein für eine neue Tradition öffentlicher Spiele in der Stadt gelegt haben.28 Die zwei Zürcher Spielbelege aus Simons Sammlung, beide vom Zürcher Ratsherrn Gerold Edlibach, deuten auf der einen Seite auf die Möglichkeit von Stubenspielen in der Stadt – 1476 zeichnet Edlibach eine Szene aus einem Stubenspiel von einem sonst unbekannten Brunner de Zofingen auf (vgl. das Umschlagsbild dieses Bandes) – oder auf der anderen Seite auf Schauzüge, die sich Spielthemen angeeignet haben – 1484 hält Edlibach eine ›Zehn Alter‹-Prozession von Zürcher Bürgern fest, wo er selbst den Jüngling gespielt hat.29 Beide Belege stellen zumindest theoretisch Reaktionen auf eine durch Umzüge geprägte öffentliche Fastnachtssphäre, einmal durch die Verlagerung von Spielen in den privaten Raum und einmal durch die Anpassung an eine prozessionale Aufführungsart. Die Beweislage ist hier allerdings zu dürftig, um verlässliche Schlüsse zu ziehen. Für Bern und Luzern sieht die Beweislage allerdings anders aus. In beiden Städten gab es eine langjährige Tradition von öffentlich aufgeführten Marktspielen, die die geographische Mitte dieser Orte zur Fastnachtszeit prägten. Die bezeugten Spielorte stellten innerhalb der städtischen Topographie wichtige politische und wirtschaftliche Zentren dar. In Bern stand die Bühne an der Kreuzgasse, belegt durch Stadtrechnungen aus den Jahren 1514, 1515 und vor allem 1523,30 als Niklaus Manuel seine 26 27 28

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Simon [Anm. 2], S. 120. Greco-Kaufmann [Anm. 21], S. 42. Zu Ruf siehe Jakob Ruf, ein Zürcher Stadtchirurg und Theatermacher im 16. Jahrhundert, hg. v. Hildegard Elisabeth Keller, Zürich 2006 (Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien 1). Simon [Anm. 2], S. 454–455, Nr. 518–519. Ebd., S. 373–374, Nr. 42, 42, 46. Siehe auch Adolf Fluri, Dramatische Aufführungen in Bern im 16. Jahrhundert, in: Heinrich Türler (Hg.), Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1909, Bern 1908, S. 133–59.

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bekannten reformatorischen Spiele aufführen ließ. Diese kurze Gasse verband das Rathaus mit dem Münsterplatz und führte quer über die Hauptstraße der Stadt, wo der Markt stattfand. An dieser Kreuzung stand außerdem der Gerichtsstuhl, wo der amtierende Schultheiß Recht sprach. Diese Verbindung mit dem städtischen Gerichtswesen verlieh den Spielen dort eine gewisse Autorität, und es ist unwahrscheinlich, dass Spiele dort zur Aufführung gelangen konnten, die in deutlichem Gegensatz zur Politik des Berner Rats standen. In Luzern war die Lage ähnlich. Unklar ist, ob das Spiel ›Der Kluge Knecht‹, das vermutlich um 1505 entstanden und handschriftlich aus Luzern überliefert ist,31 je zur Aufführung kam. Ab 1546 setzt jedoch eine kleine Reihe von Fastnachtspielen ein, die wohl alle am heutigen Weinmarkt aufgeführt wurden: der ›Marcolfus‹ von Zacharias Bletz, der ›Wunderdoktor‹ (1565/67), der ›Narrenfresser‹ (undatiert) und schließlich das ›Convivii Process‹ von Renward Cysat (1593).32 Der Weinmarkt, im 16. Jahrhundert als Fischmarkt bekannt, bildete den bedeutendsten Umschlagplatz für Lebensmittel im alten Luzern und fungierte auch als Ort wichtiger politischer Handlungen.33 Seit dem 14. Jahrhundert hielt die Luzerner Obrigkeit hier Gericht und hier fand auch 1332 der Bündnisschwur zwischen Luzern und den drei Schweizer Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden statt. Schließlich umrahmten die Zunfthäuser der Metzger, Gerber, Schuster, Krämer und Schützen den Platz. Diese zentralen Plätze – in Bern die Kreuzgasse, in Luzern der Weinmarkt – lagen also wie der Hauptmarkt in Nürnberg fest in den Händen der Obrigkeit. Anders als in Nürnberg war es aber gerade das Theaterspiel, das scheinbar ohne ernsthafte Konkurrenz sich dieser öffentlichen Plätze ermächtigen und zum städtischen Großereignis entwickeln konnte. Das Sozialprestige dieser Anlässe übte wie der Schembartlauf eine entsprechende Anziehungskraft auf die Stadtelite aus, so dass hier das Theater das zentrale Medium obrigkeitlicher Selbstdarstellung zur Fastnacht wurde. Bleiben die Einkehrspiele in Nürnberg trotz einzelner Ausnahmen das Produkt von Handwerkern, sind es in Bern burgerßsöne, also die Söhne ratsfähiger Familien, die die Fastnachtspiele Manuels aufführen,34 und die Spielträgerschaft durch junge Bürger setzt sich in 31

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Das Luzerner Spiel vom ›Klugen Knecht‹, hg. v. Hans Wuhrmann, in: Fünf Komödien des 16. Jahrhunderts, hg. v. Walter Haas u. Martin Stern, in Zusammenarbeit mit Robert Schläpfer u. Hans Wuhrmann, Bern/Stuttgart 1989 (Schweizer Texte 10), S. 15–52. Der ›Marcolfus‹-Text findet sich in: Die dramatischen Werke des Luzerners Zacharias Bletz, hg. v. Emil Steiner, Frauenfeld/Leipzig 1926 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben 41/42). Der ›Wunderdoktor‹ und der ›Narrenfresser‹ sind nicht ediert; siehe Renward Brandstetter, Ueber Luzerner Fastnachtspiele, ZfdPh 17 (1885), S. 421–431. Der neu entdeckte Text von ›Convivii Process‹ ist neulich von Heidy Greco-Kaufmann ediert worden: Spiegel dess vberflusses vnd missbruchs. Renward Cysats ›Convivii Process‹, komm. Erstausgabe der Tragicocomedi von 1593, Zürich 2001 (Theatrum Helveticum 8). Greco-Kaufmann [Anm. 21], S. 99. Vgl. die Titelangabe des Erstdrucks von Manuels ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹: Ein faßnacht spyl / so zuo Bern vff der hern faßnacht / inn dem M.D.XXII. iare / von burgerßsönen offentlich gemacht ist / Darinn die warheit in schimpffs wyß vom papst / vnd siner priesterschafft gemeldet würt, in: Niklaus Manuel, Werke und Briefe, hg. v. Paul Zinsli u. Thomas Hengartner, Bern 1999, S. 116.

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den späteren Bibeldramen des Berner Gerichtsschreibers Hans von Rüte fort.35 Für Luzern sind dank der Akribie von Bletz und Cysat Darstellerlisten erhalten, die die direkte Teilnahme von Stadträten an den Spielen belegen; daneben sind Darsteller aus etlichen führenden Familien vertreten, welche z. T. auch wichtige Rollen bei den Luzerner Osterspielen übernommen haben.36 Solche Marktspiele waren also in weit größerem Maße in der Lage, obrigkeitliche Interessen zu vertreten und Themen anzusprechen, die die Gemeinde als Ganzes betrafen. Gerade bei den Bemühungen schweizerischer Stadträte, die Fastnachtsbräuche ihrer Untertanen in gewaltfreie Bahnen zu lenken, waren öffentliche Schauspiele ein willkommenes Mittel zum Zweck. Die Folge für die Schweizer Spielthematik ist bekannt: Viele Stücke beziehen sich deutlich auf die aktuelle Tagespolitik, etwa das anonyme ›Gumpist oder der neue Fluss‹ von ca. 1513/14, ›Der Nollhart‹ von Pamphilus Gengenbach (1517) oder schließlich Manuels ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹ aus dem Jahre 1523. Auch scheinbar unpolemische Spiele wie der ›Marcolfus‹ aus Luzern waren nicht ganz unpolitisch, konnten sie doch ihren Zuschauern gesellschaftliche Konflikte vorspielen und durch ihr Beispiel zu einem friedvollen Ende bringen.37 Vor allem im Hinblick auf die Lübecker Tradition von Wagenspielen muss man jedoch festhalten, dass es in der Schweiz eine ähnlich starke Tradition von politischen Moralitäten gab, wie z. B. Gengenbachs ›Zehn Alter‹, Hans Rudolf Manuels ›Weinspiel‹ oder Renward Cysats ›Convivii Process‹. Der öffentliche Aufführungsraum eignete sich gleichermaßen dazu, entweder sittenregulierend oder meinungsbildend auf das örtliche Publikum einzuwirken. Es bleibt allerdings noch die Frage, wie sich solche Marktspiele von den Einkehrspielen in ihrer Einwirkung auf das Publikum unterschieden. Wie wir bei Hans Folz sahen, appellierten die antijüdischen Einkehrspiele ›Die alt und neu ee‹ und ›Kaiser Constantinus‹ an den Verstand der Zuschauer, indem sie kontrastiv die Hauptsätze der jüdischen und christlichen Theologie in fiktiven Disputationen einander gegenüberstellten. Durch den überzogenen Kontrast sollten sich die Anwesenden eindeutig zur christlichen Partei bekennen, d. h. es ging um die Erzeugung eines Wir-Gefühls unter den Zuschauern durch die Ausgrenzung gesellschaftlich Anderer. Die Schweizer Spiele erzeugen ein ähnliches Wir-Gefühl, aber sie tun dies, indem sie die fließenden Übergänge zwischen Aufführungspublikum und politischer Gemeinschaft möglichst eliminieren. Die Ineinssetzung von Theaterpublikum und politischer Versammlung ist am deutlichsten beim ›Urner Tellenspiel‹, das auf Grund der im Spiel gerühmten Schweizer Siege im Winter 1512/13 aufgeführt worden sein muss, entweder zu Neujahr oder zur Fastnacht.38 Nach Tells Meisterschuss und der anschließenden Ermor35

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Glenn Ehrstine, Theokratie und Theater. Die Indoktrination der neuen Lehre im Schauspiel, in: Andre´ Holenstein (Hg.), Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2006, S. 218–222. Greco-Kaufmann [Anm. 21], S. 243–244; Greco-Kaufmann, ›Convivii Process‹ [Anm. 32], S. 67, S. 485–489. Greco-Kaufmann [Anm. 21], S. 253–264. Simon [Anm. 2], S. 132.

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dung des Urner Landvogts versammeln sich Vertreter von Uri, Schwyz und Unterwalden, um ihr Bündnis zu geloben. Nachdem sie sich einig sind, teilen sie ihren Beschluss dem anwesenden Volk mit. Hierfür steht die folgende Bühnenanweisung: Nun gond sy zum rechten hufen des volcks, vnd redt der Thell zuo der gmeind.39 Worin genau dieser ‘Haufen des Volks’ bestand, geht aus dem Text nicht hervor; denkbar ist, dass es eine kleine Anzahl Spieler auf der Spielfläche gab, die die Menge dargestellt hat. Mit ‘rechtem Haufen’ scheint jedoch eher das Spielpublikum selbst gemeint, was bühnentechnisch wesentlich einfacher und auch wirksamer wäre. Wenn demnach bei seinem ersten Auftritt der Landvogt auch vor der gemeind spricht,40 hätte er also das Publikum direkt apostrophiert, und sein Knecht hat vermutlich ebenso bei der Verkündung des Befehls gehandelt, den Hut des Landvogts zu ehren (Z. 209–216). Nach Tells Rede gelobt die Gemeinde dann einstimmig ihre Treue: Ach Herre Gott, wie gnädigklich Hast vns erhört in dinem rych! Darumb so wend wir zuo üch stan; Nun gebend vns schnell den eyd an (Z. 461–464)!

Unvorbereitete Zuschauer hätten natürlich diese Zeilen nicht ohne vorherige Probe aufsagen können. Eine kurze Einstudierung vor dem Spiel ist an sich denkbar, doch scheint es mir wahrscheinlicher, dass sich vor der Rede einige Spieler unter das Publikum gemischt haben, die dann stellvertretend für alle Anwesenden diesen Text gesprochen haben. Selbst wenn die Bühnengemeinde von dem eigentlichen Publikum getrennt war, war es für den Tell-Spieler ein Leichtes, die Zuschauer in seine Rede mit einzubeziehen, so dass sie den Bündniseid innerlich auch mitgeleistet hätten. ›Das Spiel der alten und jungen Eidgenossen‹ von Balthasar Spross, als Stubenspiel eher eine Ausnahme in der Schweiz, lässt auf ähnliche Weise die Zuschauer an einer Tagsatzung in Beckenried teilnehmen, dem politischen Entscheidungsgremium aller eidgenössischer Orte. Auch bei Spielen wie Manuels ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹, wo keine politische Versammlung an sich inszeniert wird, bildete die Zuschauermenge mitsamt den Spielern eine Art öffentliche Interessengemeinschaft, bei der es um Meinungsaustausch und Konsensbildung ging.

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Das Urner Spiel von Wilhelm Tell, hg. v. Hans Bodmer, in: Schweizerische Schauspiele des sechszehnten Jahrhunderts, hg. v. Jakob Bächtold, Zürich 1893, vor Z. 439. Siehe außerdem Martin W. Walsh, The ›Urner Tellenspiel‹ of 1512. Strategies of Early Political Drama, Comparative Drama 34 (2000), S. 155–173, hier S. 155. Eine jüngere Ausgabe des Spiels gibt es in: Das Urner Tellenspiel, hg. v. Max Wehrli, in: Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abteilung III: Chronik und Dichtungen, Bd. 2, 1. Teil, Aarau 1952, S. 55–99. Bodmer [Anm. 39]: Yetz kumpt der Landtuogt selb dritt gen Vry zuo der gemeind vnd spricht (vor Z. 125).

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Lübeck Der Mangel an Texten aus Lübeck erschwert einen direkten Vergleich mit der Nürnberger und der Schweizer Tradition, zumal ›Das Spiel von der Rechtfertigung‹, eines von vermutlich nur zwei erhaltenen Spielen aus Lübeck, für den Druck stark überarbeitet wurde.41 Dennoch enthält das um 1485 angelegte Schafferbuch der Lübecker Zirkelgesellschaft ein Verzeichnis mit der Thematik von 76 Wagenspielen, die die Zirkler zwischen 1430 und 1515 öffentlich aufgeführt haben, so dass wir gewisse Rückschlüsse auf den Inhalt dieser Spiele ziehen können. Die Quellen für die Thematik der Lübecker Einkehrspiele fließen etwas spärlicher: Unter den 182 Spielen, die gastierende Spielrotten im Clubhaus der Greveradenkompanie zwischen 1496 und 1539 darboten, geben die bibalia der Kompanie den Inhalt von nur zwölf Spielen preis.42 Nichtsdestotrotz bestätigen diese Quellen den für Nürnberg und die Schweiz gemachten Befund: Die Spiele der Zirkelgesellschaft neigen, wie bekannt, zu erbaulichen Themen, während die bei der Greveradenkompanie aufgeführten Einkehrspiele durchaus ein Faible für Heiteres haben. Darüber hinaus lehrt uns das Lübecker Beispiel, dass beide Spieltypen unter passenden Umständen nebeneinander bestehen können. Wie in Nürnberg herrschte in Lübeck ein buntes Durcheinander an fastnächtlichen Vergnügen, die den öffentlichen Raum beansprucht haben. Auch hier gab es seit mindestens 1346 ein Stechturnier auf dem Marktplatz, das Adlige aus Stadt und Land anzog.43 Schautänze und abendliche Fackelzüge waren auch an der Tagesordnung, an denen man oft vermummt teilgenommen hat, was im Gegensatz zu Nürnberg allen fastnächtlichen Teilnehmern erlaubt war. Die Wagenspiele der Zirkelgesellschaft und Kaufleutekompanie reihten sich buchstäblich in die anderen Belustigungen ein. Den Spielbestimmungen der Gesellschaften ist zu entnehmen, dass man an drei Tagen – Sonntag, Montag und Dienstag – kurz nach Mittag losfuhr und zunächst eine Art Schaufahrt mit den Spielwagen durch die Straßen der Stadt unternahm, bevor man vermutlich am Marktplatz Halt machte und die eigentliche Inszenierung veranstaltete. Die Zirkelgesellschaft – auch Junkergesellschaft genannt – setzte sich aus meist ratsfähigen Männern zusammen und genoss ein höheres Ansehen als die Kaufleutekompanie, so dass ihre Spiele den Vorrang vor denen der Kaufleute genossen. Die Zirkler bestimmten die Fahrroute für die Spielwagen beider Gesellschaften, so dass die Kaufleute vermutlich im Schlepptau des Zirklerwagens fuhren.44 Auch wenn die Spiele zur Aufführung einen festen Ort benötigten, blieben die Wagen jederzeit beweglich und erforderten also kein Gerüst oder einen vergleichbaren Bau, der einen unverrückbaren Platz unter den Feierlichkeiten beansprucht hätte. Auf diese Weise konnten die Spiele vermutlich besser mit den anderen Vergnügen auf offener Straße konkurrieren und mussten nicht wie in Nürnberg in den Innenraum flüchten. 41 42 43 44

Simon [Anm. 2], S. 260. Ebd., S. 275–276. Eckehard Simon, Das Schauspiel der Lübecker Fastnacht, ZfdPh 116 (1997), S. 208–223. Simon [Anm. 2], S. 240–241.

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Für die Wagenspiele muss man dennoch von einem ähnlich öffentlichen Kommunikationsrahmen ausgehen wie bei den Schweizer Marktspielen. Dass man hier offensichtlich erbauliche Themen gegenüber den von den Schweizern favorisierten politischen Stoffen vorzog, hat vielleicht auf der einen Seite mit den anders gelagerten politischen Umständen der Hansestadt zu tun. Auf der anderen Seite zeigen die Zirkler-Spieldichter eine deutliche Vorliebe für literarisch vorgeprägte Stoffe fernab von der aktuellen Tagespolitik. Der Katalog der bearbeiteten Spielthemen ist lang und umschließt Sujets aus der Antike, der Heldensage, der Bibel, der Tierdichtung und auch aus Schwänken.45 Auch wenn die Spieltexte nicht erhalten sind, lassen einige Titel eindeutig eine gewisse Moral erkennen, wie das Spiel ›wo Alexsander wolde wynnen dat paradis‹ von 1473, bei dem vermutlich die überheblichen Versuche des großen Alexanders, sich durch Gewalt Eintritt in das Paradies zu verschaffen, die Demut unter den Zuschauern fördern sollten. Unter passenden Umständen war man aber auch in Lübeck für zeitkritische Themen offen. Die Zirkler führten am 1. März 1500 das Spiel ›woe de adel vorleydet wart van den schelken ueth der garden‹ (‘Wie der Adel von den Schurken der Garde fehlgeleitet wurde’) auf, das sich auf die gerade im Februar erfolgte Niederlage des dänischen Königs Johann, der mit Hilfe des berüchtigten Söldnerverbands der Schwarzen Garde seine Ansprüche auf den Freibauernstaat Ditmarschen hatte geltend machen wollen, bezieht. In der folgenden Schlacht bei Hemmingstedt vernichteten 6000 mit Lübeck verbündete Ditmarscher Bauern die Garde mitsamt der dänischschleswigischen Ritterschaft gründlich, und die Zirkler brauchten nur zwei Wochen, um diesen Sieg zur Fastnacht mit einem Wagenspiel zu feiern. Dass die Aufführung einen langanhaltenden Widerhall fand, zeigt sich sieben Jahre später in einer Beschwerde König Johanns an den Lübecker Rat, in der er sich beklagt, dass das von den Lübeckern aufgeführte Schauspiel ihm mehr Schaden zugefügt habe als die eigentliche Niederlage selbst.46 An die Schweizer Reformationsspiele erinnert außerdem ein vom Schullehrer Anton Spenke organisiertes konfessionspolemisches Stück, das den Unwillen altgläubiger Autoritäten erweckte und ihm eine öffentliche Klage einbrachte. Der Domherr Wilhem van Dalven, der die Aufsicht über die Lateinschule der Jakobi-Kirche führte, hatte von Spenkes ludum inhonestum Wind bekommen, das dieser mit Schülern einstudiert hatte, und Spenke als Martinianus beim Domkapitel angezeigt. Das Domkapitel überwies die Angelegenheit an den Stadtrat, der nicht gewillt war, die Aufführung zu verbieten, weil das Spiel in den Augen der Räte auf Wahrheit beruhte. Was danach aus der geplanten Aufführung geworden ist, darüber schweigen die Akten; Simon vermutet, dass das Stück 1524 auf dem Marktplatz aufgeführt wurde.47 Was den Einkehrspielbetrieb im Haus der Greveradenkompanie betrifft, so gelangt 1528 ein Spiel ›van de evangylly‹ zur Aufführung, und die 1532 auftretenden Spiel45 46 47

Ebd., S. 243–267. Ebd., S. 257. Ebd., S. 278.

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gruppen mit dem bischop und mit dem officiael haben womöglich auch Mitglieder der alten Kirche zur Zielscheibe des Spotts werden lassen. Kirchliche Autoritätsfiguren gehörten aber auch zum Repertoire des vorreformatorischen Fastnachtspiels, so dass diese zwei letzten Spiele auch heiteren Inhalts gewesen sein könnten. Auf alle Fälle halten sich die restlichen Einkehrspiele im Greveraden-Clubhaus erwartungsgemäß vom Ernst der Politik fern. Im Gegensatz zu den Zirklern und Kaufleuten veranstalteten die Mitglieder der Greveradenkompanie keine eigenen Spiele. Dafür gastierten jedes Jahr zu Fastnacht mehrere Spielgruppen in ihrem Haus in der vornehmen Königsstraße, die die Mitglieder der Gesellschaft mit Trinkgeldern belohnten, wie die im Greveradenbuch notierten Ausgaben belegen. Waren im Jahr 1532 nur vier Spielgruppen im Clubhaus zu Gast, so waren es 1519 sechzehn; in den übrigen Jahren liegt der Durchschnitt um sechs bis sieben Spieltruppen. Unter den Rechnungsbeträgen sind nur zwölf Spieltitel verzeichnet, doch die Mehrzahl hiervon erinnert deutlich an die Thematik von Nürnberger Spielen. Die Titelangaben sind äußerst knapp, aber auf Hochdeutsch lauten einige Titel wie folgt: ›Das alte Weib‹ (1497); ein zweites ›altes Weib‹ aus dem folgenden Jahr; ›Vom Ehestand‹ (1528); und ›Vom Gastmahl‹ (1539).48 Ob es bei diesen Spielen so derb zuging wie den Nürnberger Einkehrspielen, kann man ohne die Texte natürlich nicht sagen. Gerade aber ein Spiel wie ›van dem druntenn ars‹ (‘Vom geschwollenen Arsch’), das das Greveradenbuch für das Jahr 1498 notiert, suggeriert, dass die Lübecker sich zuweilen genauso auf ungehemmten Fastnachtsschimpf verstanden wie die Nürnberger. Schluss Der Vergleich zwischen den drei Spieltraditionen hat weitgehend bestätigt, dass die Mehrheit der Fastnachtspiele mit erbaulichem oder politischem Inhalt öffentlich zur Aufführung gelangte, während der private Aufführungsrahmen der Einkehrspiele sich eher für vergnügliche Stoffe eignete. Es gibt jedoch bei jeder Tradition genügend Ausnahmen, so dass man diese grobe Einteilung nicht zu sehr pauschalisieren sollte. Viel wichtiger ist, dass die zwei unterschiedlichen Aufführungssituationen die jeweiligen Wirkungsmittel der Spiele prägen, gerade bei den Stücken, die eine politische Wirkung erzielen. Der private Aufführungsrahmen ist Folzens ›Die alt und neu ee‹ eingeschrieben, nicht nur in strukturellen Elementen wie Begrüßungs- und Abschiedsformeln, sondern auch in seiner bemüht lehrhaften Rhetorik, die bei einem öffentlichen Stück wie ›Das Urner Tellenspiel‹ seine Wirkung verfehlt hätte. So wie die Forschung in den letzten Jahren bei der Analyse von Spielen präziser zwischen Leseund Aufführungsexemplaren unterscheidet, um den Rezipientenkreis eines Spiels genauer zu bestimmen, so muss man meines Erachtens auch bei den unterschiedlichen Aufführungsmodi der Fastnachtspiele konsequenter in Erwägung ziehen, wie ein bestimmter Spielrahmen sich auf Stoffwahl und Textgestaltung ausgewirkt hat. 48

Andere Titel wie ›myt dem husse‹ oder ›fon den forffarenhen‹ (Simon [Anm. 2], S. 275) sind schwer zu deuten. Sie könnten derben Inhalts sein oder auch nicht.

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Beim Vergleich der Fastnachtspieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz muss man schließlich auch berücksichtigen, dass die erhaltenen Spielzeugnisse aus der Schweiz wesentlich jünger sind als die der anderen zwei Städte. Dass die Schweizer Spieltexte meist politischer sind als die älteren Texte, sollte nicht unbedingt erstaunen. Wie wir für Lübeck gesehen haben, ruft die Reformation politische Fastnachtspielautoren auf den Plan, sind doch vier der fünf möglichen politischen Spiele aus Lübeck im konfessionspolemischen Kontext entstanden. Andererseits haben die sich verschärfenden konfessionellen Spannungen in Nürnberg zu einem ausdrücklichen Verbot polemischer Schriften geführt, wie Hans Sachs erfahren musste, nachdem er Verse für Andreas Osianders ›Auslegung der wunderlichen weissagung von dem papsttum‹ beigesteuert hatte.49 Gäbe es mehr Texte aus dem 16. Jahrhundert aus Nürnberg oder Lübeck, wären sie vermutlich ebenfalls etwas politischer als die älteren Spiele aus diesen Städten. Überhaupt darf man die Rolle äußerer politischer Umstände bei Erhalt und Tradierung von Spieltexten nicht außer Acht lassen. Dass man in der Schweiz geneigt war, Spieltexte aufzubewahren, die die eigene politische Regierungsform loben, sollte nicht verwundern. Die Stadträte in Lübeck und Nürnberg hatten es in der Tat schwerer, mussten sie sich doch ständig vor allzu stolzen Selbstbehauptungen hüten, die entweder den benachbarten Adel herausgefordert oder die unteren Stände der Stadt, die nicht aktiv am Stadtregiment beteiligt waren, zu sehr beleidigt hätten. Zu Recht beklagt Simon den Verlust des Spielarchivs der Zirkelgesellschaft, das wohl bei der Plünderung des Gesellschaftshauses der Zirkler durch eine aufrührerische Menge um den Kaufmann Jürgen Wullenwever zerstört worden ist.50 Bei diesem Wullenweverschen Aufstand gegen den alten Rat scheint es den Lübecker Fastnachtspieltexten zum Verhängnis geworden zu sein, dass sie als Kulturprodukt der patrizischen Zirkelgesellschaft zu obrigkeitsnah waren, um ungeschoren die Zeit um ihre Entstehung zu überleben.

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Irene Stahl, Hans Sachs (1494–1576). Eine biographische Skizze, in: Dieter Merzbacher (Hg.), 500 Jahre Hans Sachs: Handwerker, Dichter, Stadtbürger, Wiesbaden 1994, S. 25–32, hier S. 29. Simon [Anm. 2], S. 287–288.

Heidy Greco-Kaufmann

Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele im Kontext theatraler Aktivitäten in der frühneuzeitlichen Stadt

Die dezidiert didaktisch-politische Ausrichtung schweizerischer Fastnachtspiele wurde schon von der ältesten Fastnachtspielforschung betont. Dieser Befund lässt sich anhand rein (spiel-)textbezogener Zugänge aber nur unzureichend konkretisieren. Ausgehend von der Prämisse, dass die Spiele nicht zu Lektüre-, sondern primär zu Aufführungszwecken konzipiert wurden, muss nicht nur der Zusammenhang mit dem literarischen Umfeld, sondern auch derjenige mit den szenischen Vorgängen, die Alltag und Fest in der Stadt prägten, ins Blickfeld gerückt werden. Mit szenischen Vorgängen werden Komplexe von Handlungen, die spezifisch hervorgehoben und konsequenzvermindert sind, umschrieben.1 Die Hervorhebung erfolgt örtlich, gestisch, akustisch und/oder mittels dinglicher Attribute und geschieht zielgerichtet und spielerisch. Ein derart weiter Theaterbegriff, der von lebensweltnahen hervorgehobenen Handlungen bis zur hochartifiziellen Variante von inszenierten Spieltexten reicht, deckt ein äusserst breites Spektrum von Schauereignissen ab. In meiner demnächst im Druck erscheinenden Belegsammlung und Studie zum Theater und den szenischen Vorgängen in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit wurde der Versuch unternommen, die in Archivalien vorgefundenen Belege zu systematisieren.2 Das unten stehende Schema (Schema 1) beruht auf einer systematischen Erhebung von Quellen des städtischen Schrifttums (Ratsprotokolle, Mandate, Korrespondenzen, Rechnungsbücher etc.) vom Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen im frühen 14. Jahrhundert bis ca. 1600. Die Anordnung ist nach dem Theatralisierungsgrad der szenischen Vorgänge organisiert. Die Übergänge sind allerdings fließend, weitere Ringe und zusätzliche Phänomene könnten noch angefügt werden. Aus pragmatischen Gründen stehen die literarischen Schauspiele, also die szenischen Vorgänge, die man im landläufigen Sinn als ‘Theater’ bezeichnet, im Zentrum.3 Der nächste Kreis umfasst Unterhaltungskunst, 1

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Der Begriff wurde von Andreas Kotte geprägt. Für eine ausführliche Definition verweise ich auf: Andreas Kotte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln [usw.] 2005, 1. Kapitel. Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Ere Gottes, Vfferbuwung dess mentschen vnd der Statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Quellenedition und historischer Abriss, 2 Bde., Zürich 2008. Die Begriffe ‘szenischen Vorgänge’ und ‘Theater’ beziehen sich nicht auf klar unterscheidbare Phänomene, sondern tragen dem unterschiedlichen Theaterverständnis von Wissenschaftlern und Laien Rechnung. Während Forschende mit ‘weiten’, d. h. eine große Band-

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Schema 1

die durch fahrende Musikanten, Stadtspielleute, Gaukler, Komödianten, Artisten, Narren, Tierbändiger etc. geboten wird. Die weiteren Ringe beinhalten theatrale Aktivitäten, die im Rahmen des religiösen und profanen Brauchtums sowie des Rechtslebens angesiedelt sind. Szenische Vorgänge zur Fastnachtszeit Fastnächtlich-weltliche Aktivitäten wie Maskenlaufen, Verkehrungsbräuche, Auftreten von Brauchtumsfiguren, Umzüge, Einkehrspiele und dergleichen lassen sich im Spätmittelalter nicht ausschließlich an den bekannten Terminen der Vorfastenzeit beobachten, sondern generell im Winterhalbjahr. Konkrete Belege fanden sich im Zusammenhang mit Jahrmarkt und Kirchweih im Herbst, in der Adventszeit, in den so genannten Raunächten um die Weihnachtszeit, an Neujahr und am Dreikönigsfest. Das älteste Luzerner Fastnachtspiel, der auf 1505 datierte ›Kluge Knecht‹, wurde breite von Schauereignissen umfassenden Theaterbegriffen und unterschiedlichen Definitionen operieren, wird im normalen Sprachgebrauch der ‘enger’ gefasste Ausdruck ‘Theater’ verwendet. Über die Vorstellung, was ‘Theater’ ist, gehen die Meinungen stark auseinander. ‘Theater’ als Gesamtphänomen ist nicht zu erfassen, sondern immer nur unter bestimmten Aspekten zu betrachten. Vgl. Kotte [Anm. 1], S. 315.

Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele

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beispielsweise am Neujahrstag aufgeführt.4 Nach dem Tridentinum und besonders nach der Etablierung der Jesuiten in Luzern ab 1574 versuchte die Obrigkeit, das Fastnachtstreiben auf einige wenige Tage vor Beginn der Fastenzeit zu beschränken oder gar ganz zu verbieten. Die Aufführungen von literarischen Fastnachtspielen auf dem Luzerner Weinmarkt erfolgten in Übereinstimmung mit den Reformbestrebungen der katholischen Kirche und den Bemühungen des städtischen Patriziats um Sozialdisziplinierung und Verdichtung der Herrschaft.5 Verantwortlich für Spieltexte und Inszenierungen waren in Luzern immer die jeweiligen Gerichts- oder Stadtschreiber, die zugleich als Zeremonienmeister bei allen wichtigen offiziellen Anlässen fungierten (Ratseinsetzungen, Staatsempfänge, Rechtshandlungen, Strafjustiz etc.), die spilsgesellen rekrutierten sich aus den führenden Familien. Eine über Gemeinplätze hinausgehende Verortung von Spieltraditionen in historischen und gesellschaftlich-politischen Kontexten ist nur um den Preis aufwändiger Kleinarbeit zu bewerkstelligen. Im Folgenden setze ich die Luzerner Fastnachtspiele ›Narrenfresser‹ und ›Wunderdoktor‹ in Bezug zur Vielfalt theatraler Handlungen mit brauchtümlichem, rechtlichem, religiösem und merkantilem Hintergrund und frage nach Übereinstimmungen und Differenzen in Bezug auf politische Intentionen. Die Handschriften der beiden Spiele befinden sich in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern und sind abgesehen von einigen Auszügen noch unediert. Sie werden Zacharias Bletz (1511–1570) zugeschrieben, der in Luzern als Schulmeister, Gerichtsund Stadtschreiber amtete. 1545 und 1560 leitete er die Osterspiele auf dem Weinmarkt. Er ist Verfasser und Regent (Regisseur) des Fastnachtspiels ›Marcolfus‹ mit den Zwischenspielen ›Die missratenen Söhne‹ und ›Häntz und Cüni‹ (1546) sowie des Antichrist- und Weltgerichtsspiels (1549).6

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Edition des Spieltextes und Studie: Hans Wuhrmann, Das Luzerner Spiel vom ›Klugen Knecht‹, Zürich 1975. Unveränd. Abdruck des Spieltextes auch in: Fünf Komödien des 16. Jahrhunderts, hg. v. Walter Haas u. Martin Stern, in Zusammenarbeit mit Robert Schläpfer u. Hans Wuhrmann, Bern/Stuttgart 1989 (Schweizer Texte 10), S. 15–52. Vgl. Heidy Greco-Kaufmann, Vor rechten lütten ist guot schimpfen. Der Luzerner ›Marcolfus‹ und das Schweizer Fastnachtspiel des 16. Jahrhunderts, Bern [usw.] 1994 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 19), S. 257ff. Die 1546 aufgeführten Fastnachtspiele sind abgedruckt in: Emil Steiner, Die dramatischen Werke des Luzerners Zacharias Bletz. Nach der einzigen Handschrift zum erstenmal gedruckt, in: Schweizerische Lustspiele des 16. Jahrhunderts, hg. v. Emil Steiner, Frauenfeld/ Leipzig 1926 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben 41/42). Neuedition der ›missratenen Söhne‹ durch: Hans Wuhrmann, Zacharias Bletz. Die missratenen Söhne 1546. Nach der Handschrift hg., erläutert u. komm., in: Haas u. Stern, Fünf Komödien [Anm. 4], S. 183–209. Edition des Antichristspiels: Karl Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Nebst einem Abdruck des ›Luzerner Antichrist‹ von 1549, Leipzig 1906, S. 209–320. Das Weltgerichtsspiels ist nur auszugsweise bei Reuschel u. a. wiedergegeben. Es ist berücksichtigt in: Hansjürgen Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe, 3 Bde. Tübingen/Basel 2002.

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›Der Narrenfresser‹ Im Gegensatz zu den meisten anderen Luzerner Fastnachtspielen wie dem ›Klugen Knecht‹, dem ›Marcolfus‹, den ›missratenen Söhnen‹, dem ›Convivii Process‹7 etc., denen mehr oder weniger dialogisch vorgeprägte Vorlagen zugrunde liegen, handelt es sich beim ›Narrenfresser‹ um eine eigenständige, durch berühmte Werke der Narrenliteratur und durch fastnächtliches Brauchtum inspirierte Schöpfung. Das 1100 Verse umfassende anonym überlieferte Spiel wird um 1550 datiert.8 Der Aufführungstext ist aufgrund zahlreicher Streichungen, Korrekturen und teilweise oder ganz überklebten Seiten nicht genau rekonstruierbar, doch durch die vorhandenen Textteile und die gleichförmige Struktur des Spiels lässt sich der Handlungsablauf sehr gut nachvollziehen.9 Zum Inhalt: Der Narrenfresser erscheint beim Richter und bittet ihn, beim Ausrotten der Narren, die sich stark vermehrt hätten, behilflich zu sein. Da sich der Narrenfresser darauf beruft, im Dienste der Obrigkeit zu stehen, will sich der Richter dem Begehren nicht verschließen und beauftragt Heintz nar, die Narren aufzuspüren und vor Gericht zu laden. Der Gerichtsdiener rennt nun zum Schiff, in dem sich die Narren befinden. Aus Mitleid verrät Heinz nar den Plan des großen Narrenvertilgers. Die Narren, ein kunterbuntes Volk aus personifizierten Todsünden und menschlichen Schwächen, melden sich nacheinander zu Wort und lassen vernehmen, wie sie sich aus der Affäre ziehen wollen. Die meisten sind zum Widerstand entschlossen, Hochfahrt will gar den Richter und den Narrenfresser erschlagen. Auf den Vorschlag von Kolbnarr erscheinen sie aber schließlich doch vor Gericht. Dort entreißen ihnen die Gesellen des Narrenfressers trotz heftiger Gegenwehr die Kolben. Der Richter verlangt aber ein ordentliches Verfahren. In der folgenden Gerichtsverhandlung wird jedem Vorgeladenen einzeln der Prozess gemacht. Das Procedere läuft immer in gleicher Weise ab: Der Narrenfresser führt die Klage und wirft jeder Lasterallegorie – Übermuot, Buolschaft, Hochfart, Vnküscheit, Gydt, Güder, Zwytracht, Füllery usw. – ihre aus Bibel und antikem Schrifttum wohl bekannten Verfehlungen vor. Ein Angehöriger des Tribunals nimmt dazu Stellung und schlägt den Urteilsspruch vor. Durch Stimmenmehrheit werden die einzelnen Narren zum Tod durch Gefressen-Werden 7

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Heidy Greco-Kaufmann, Spiegel dess vberflusses vnd missbruchs. Renward Cysats ›Convivii Process‹. Komm. Erstausgabe der Tragicocomedi von 1593, Zürich 2001 (Theatrum Helveticum 8). Oskar Eberle weist das Spiel ohne weitere Erklärung Zacharias Bletz zu. Oskar Eberle, Theatergeschichte der innern Schweiz. Das Theater in Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug im Mittelalter und zur Zeit des Barock 1200 bis 1800, Königsberg 1929 (Königsberger deutsche Forschungen 5), S. 9. Wolfgang Michael datiert es unter Berufung auf Auskünfte der Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) Luzern auf 1550. Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern [usw.] 1989, S. 189. Teiledition und rudimentäre Beschreibung der in der ZHB Luzern aufbewahrten Handschrift (Ms. 166 fol.) durch: Renward Brandstetter, Ueber Luzerner Fastnachtspiele, in: ZfdPh 17 (1885), S. 428–429. Von der Handschrift existiert in der ZHB Luzern ein (nicht immer zuverlässiges) Typoskript: Linus Spuler, Der Narrenfresser, Meggen 1997. Untersuchungen fehlen. Eine Edition ist geplant.

Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele

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verurteilt. Der Narrenfresser kommentiert das Verdikt mit einem sinnigen Spruch und verschlingt den Todeskandidaten auf der Stelle. Einen sehr jungen Narren spuckt er aber wieder aus, weil in diesem keine relevanten Narrheiten stecken. Noch bevor er alle Narren gefressen hat, will der Narrenvertilger Abschied nehmen, da sein Magen bereits voll sei. Auf den Protest des Richters erklärt er sich aber bereit, die übrig gebliebenen Narren Güder (Verschwendung) und Tragheytt in seinem Zahn mitzuführen. In der Schlussrede wiederholt der Herold die bereits im Eingangsmonolog geäußerte Bitte, die Darbietung wohlwollend aufzunehmen und nichts weiter darin zu erkennen als ein gelechter spil.10 Die wichtigste Inspirationsquelle dieses zuo lob vnd Eer der vasnacht erdachten Spiels nennt der Herold gleich zu Beginn seiner ersten Auftrittsrede: [. . .] wan es beschach im narrenschiff / von disem spill der erst begriff.11 Die Parallelen zu Sebastian Brants 1494 im Druck erschienenen moraldidaktischen Satire ›Das Narrenschyff‹ sind in der Tat unübersehbar. Wie bei Brant sind auch die Narren des Luzerner Spiels konsequent negativ konnotiert. Sie verkörpern menschliche Laster und Torheiten und zeigen sich uneinsichtig. Ihr Aufenthaltsort ist das Narrenschiff, Symbol des orientierungslosen Dahintreibens im ‘Meer’ der Welt.12 Bletz machte sich Brants »Sicht des Welttreibens unter dem Blickwinkel der Narrheit«13 zu eigen und setzte der allgegenwärtigen Narrheit ebenfalls das Ideal der Weisheit entgegen. Der in der Vorrede des Narrenschiffs formulierten Zielsetzung – Zuo nutz vnd heylsamer ler / verma= / nung vnd ervolgung der wyßeit / ver / nunfft vnd guoter sytten [. . .] – ist auch das Luzerner Fastnachtspiel verpflichtet.14 Bletz übernahm von Brant die Struktur, die additive Behandlung der verschiedenen Laster und eiferte seinem Vorbild auch in der Verwendung des Narrenvokabulars und der Narrenmetaphorik nach. Auch für die Beschreibung der Verfehlungen, die den Fastnachtspielnarren zur Last gelegt werden, bildete Brants Kompendium der Narrheiten die wichtigste Quelle.15 10

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Zititiert nach Spuler [Anm. 9], V. 31 (Eingangsmonolog); ein jeder wijser mag woll erkennen / darff ouch nit wijters zuo erspächen / weder das diss zuo einem glechter ist bschächen, V. 1037ff. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 5f. Die Schiffssymbolik war in der Vorstellungswelt des Mittelalters sehr populär. Dem negativen Typus des Narrenschiffs, Sinnbild des Untergangs und der ewigen Verlorenheit, steht als positiver Antitypus das Schiff des Heils (Kirche) gegenüber, in dem allein Rettung und Hilfe zu finden sind. Vgl. Werner Mezger, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanz 1991 (Konstanzer Bibliothek 15), Kapitel 5, »Narrenidee als Gegenmodell zur Heilslehre«, S. 309ff. Manfred Lemmer, in: Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, hg. v. Manfred Lemmer, 3., erw. Aufl., Tübingen 1986 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF 5), S. XVIII. Der Narrenfresser will die schädlichsten Narren ausrotten, domit die wijsen mögen blijben. (zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 69); in der Schlussrede des Herolds wird die moralische Nutzanwendung explizit formuliert: hiemit het dises spil ein end / got alle bosheijt von uns wend (zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 1046f.). Ein genauer Textvergleich zwischen Brants ›Narrenschiff‹ und Bletz’ ›Narrenfresser‹ wäre bestimmt lohnenswert, sprengt aber den Rahmen dieser Arbeit.

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Einen nachhaltigen Eindruck mögen auch die künstlerisch wertvollen Illustrationen, die zum überwiegenden Teil von Albrecht Dürer stammen, auf Bletz gemacht haben. Vermutlich hatte das geübte Auge des erfahrenen Regisseurs die Bühnenwirksamkeit eines prallvoll mit Narren beladenen Schiffs sofort erkannt. An einer Stelle nimmt er sogar explizit Bezug auf den zweigeteilten Holzschnitt des Titelblatts, der in der oberen Hälfte die mit einem Karren über Land fahrenden und in der unteren die mit Schiffen im Meer treibenden Narren zeigt (Abb. 2). Beim Anblick des schwer verdaulichen stock narren16 jammert der Narrenfresser: Ich beken ietz bij minem magen / das der thüffell har het tragen / i n d e m s c h i f f o d e r u f f d e m k a r r e n / disen zechen stock narren.17 Auch der als Bote fungierende Heinz Nar bezieht sich wahrscheinlich auf die Brantsche Illustration.18 Die zentrale Figur des Fastnachtspiels, der Narrenfresser, kommt in Brants Narrenschiff aber nicht vor. Mit dem Motiv des Narrenfressens kam Bletz zweifellos durch den altgläubigen Theologen und Moralsatiriker Thomas Murner in Berührung. Seine 1515 erschienene satirische Dichtung ›Die Mühle von Schwindelsheim und Gredt Müllerins Jahrzeit‹ enthält ein Kapitel mit der Überschrift ‘Einen rohen Narren fressen’ und bildet in einer einprägsamen Holzschnittillustration einen großen Narren ab, der im Begriff ist, einen kleineren zu verschlingen (Abb. 3).19 Im Text wird der Narrenfresser allerdings als törichter Mensch geschildert, »der auf falsche Ideale fixiert ist und der durch das ständige Verspeisen weiterer Narren seine eigene Narrheit steigert.«20 In der Bletzschen Konzeption trachtet der Narrenfresser aber nicht danach, sein närrisches Wesen durch die Einverleibung von Narren zu stärken, sondern er tritt als personifizierte Strafinstanz auf, die sich dem Kampf gegen die Narrheit verschrieben hat und mit Wissen und Willen der Obrigkeit die Todesstrafe an den Narren vollzieht.21 Einige weitere Anspielungen verraten jedoch,

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Beim ‘Stocknarren’ handelt es sich um einen ‘natürlichen’ Narren, d. h. um einen Kranken, der unter geistigen und/oder körperlichen Defekten leidet. Vgl. Mezger [Anm. 12], S. 45 f. Die in der Rede des Narrenfressers geäußerte Ansicht, dass der Stocknarr vom Teufel angeschleppt wurde und dass man sich nur durch die Einnahme eines Krauts namens Gerechtigkeit vor einem ähnlichen Schicksal bewahren könne, entspricht der mittelalterlichen Auffassung vom Ursprung der geistigen oder körperlichen Behinderung. Sie wurde als Strafe Gottes angesehen und mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 915. Die Illustration des Abschnitts ‘Von alten Narren’ zeigt eine mit Haintz Nar überschriebene Narrenfigur. Heintz Nar bezeichnet bei Brant einen alten Narren, der mit einem Bein schon in der Grube steht, sich jedoch immer noch nicht lossagt von der Narrheit. Vgl. Brant [Anm. 13], S. 15. Thomas Murner, Die Mühle von Schwindelsheim und Gredt Müllerins Jahrzeit, hg. v. Gustav Bebermeyer, in: Thomas Murners Deutsche Schriften, hg. v. Franz Schultz, Bd. 4, Berlin/Leipzig 1923, S. 23ff. Mezger [Anm. 12], S. 59. Vgl. auch Mezgers Hinweise zu den Motivtraditionen, aus denen sich die Idee des ‘Narrenfressers’ entwickelt hat. Diese Umwertung der Narrenfresserfigur ist schon bei einem 1530 von Hans Sachs verfassten Gedicht zu beobachten. Vgl. Mezger [Anm. 12], S. 59.

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dass Bletz’ Fastnachtspiel – abgesehen von der unterschiedlichen Deutung der Narrenfresserfigur – zweifellos in der literarischen Tradition Murners steht. Aufschlussreich ist in dieser Beziehung die Klage des Narrenfressers über die Nutzlosigkeit des mit Schriften geführten Kampfes gegen Narren: Wiewoll die hochgelertten hend gschriben ist alles gar verborgen bliben. Es sig mit schiffen oder bschweren So hend sich dnarren nüt dauon bekehren [. . .].22

Diese Verse beinhalten eine Anspielung auf Murners 1512 erschienene ›Narrenbeschwörung‹,23 und die 1522 veröffentlichte reformationspolemische Kampfschrift ›Vom grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat‹.24 Der Bezug des ›Narrenfresser‹-Spiels zu Murners leidenschaftlichem Kampf gegen Luther und die neue Lehre lässt sich an mehreren Stellen nachweisen. So erzählt der Narrenfresser beispielsweise von einem, der Narren gesät habe, die sich dann in Sachsen und weiter in deutschen Landen verbreitet hätten.25 Das Motiv des Narrensäens findet sich zum ersten Mal im 4. Kapitel der ›Narrenbeschwörung‹, in dem Murner vom Ursprung und der explosionsartigen Vermehrung der Narrheit berichtet.26 Die vom Narrenfresser angesprochene folgenreiche Narrensaat in Sachsen ist demnach auf das Auftreten Luthers im sächsischen Wittenberg gemünzt. Dass Murner die Lehre des Reformators als schädliche, ja gar teuflische Narrheit verketzerte, geht unmissverständlich aus seinen Hetzschriften gegen den neuen Glauben hervor. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Thomas Murner von 1525 bis 1529 vorübergehend in Luzern Unterschlupf gefunden und sich maßgeblich in die religiösen und politischen Auseinandersetzungen seines Gastlandes eingemischt hatte. In der Zeit seines Wirkens im Zentrum der altgläubigen Innerschweiz profilierte er sich als Urheber und Hauptakteur von theatralen Handlungen mit konfessionellen Hintergründen. Mit seinen aufreizenden Predigten auf dem Weinmarkt, seinen hasserfüllten Pamphleten und provokativen Auftritten anlässlich von Zusammenkünften der Exponenten der verfeindeten Konfessionen schürte er die Zwistigkeiten unter den Eidgenossen, die schließlich zum Krieg führten, in dem der Reformator Zwingli auf dem Schlachtfeld den Tod fand. Murners literarisches Werk beeinflusste das Schaffen aller Luzerner Spielverfasser und Regenten, die auf dem 22 23

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Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 127ff. Thomas Murner, Die Narrenbeschwörung, hg. v. Meier Spanier, in: Thomas Murners Deutsche Schriften, hg. v. Franz Schultz, Bd. 2, Berlin/Leipzig 1926. Thomas Murner, Von dem grossen Lutherischen Narren, hg. v. Paul Merker, in: Thomas Murners Deutsche Schriften, hg. v. Franz Schultz, Bd. 9, Berlin/Leipzig 1928. Es ist dem obristen narren fürkummen / wie das dem sij gelungen / der die narren gesaijet hat / das an derselben kleinen statt / sovil narren sind gewachsen / das in allem land zuo sachsen / ouch in allem thüttschem land / vil schädlich narren sind zuohand [. . .]. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 53ff. Murner, Narrenbeschwörung [Anm. 23], S. 125. Zum Motiv des Narrensäens vgl. Mezger [Anm. 12], S. 374ff.

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Weinmarkt inszenierten (neben Zacharias Bletz vor allem den Zeitgenossen Hans Salat, aber auch den später geborenen Renward Cysat). Zwar engagierte sich Bletz nicht mit der polemischen Schärfe seines literarischen Vorbildes im Glaubenskampf, doch sowohl in seinem 1549 aufgeführten Antichristund Weltgerichtsspiel wie auch im ›Narrenfresser‹ setzte er sich entschieden für die Sache der Altgläubigen ein. In der Anweisung des Richters, dass nur die Anhänger der nüwerung vor dem Richterstuhl erscheinen sollen, wird deutlich, dass mit den Narren, die der Narrenfresser verschlingen soll, ausschließlich die Neugläubigen gemeint sind.27 Auch der Narrenfresser lässt vernehmen, dass seine Obrigkeit es von Herzen bedauere, zugelassen zu haben, dass so viele Leute Sekten nachfolgten.28 In inhaltlicher Hinsicht ließ sich Bletz zwar in entscheidender Weise durch literarische Vorbilder leiten; was die Form betrifft, ging er jedoch eigene Wege. Dass der Fastnachtspieldichter die Narrenthematik in ein Gerichtsspiel verpackte, hängt wohl in erster Linie mit seiner damaligen Tätigkeit als Gerichtsschreiber zusammen. Im Spieltext ist mehrmals die Rede von einer sowohl dem Narrenfresser wie auch dem Richter übergeordneten Instanz: unser herr der obrist nar (V. 73), wider min oberen bruch ich kein list (V. 115), ich durchzüch thütsch und weldsche land durch gwalt miner oberkeijt (V. 118f.). Aus dem Kontext ergibt sich, dass mit dieser Obrigkeit nur der städtische Rat gemeint sein kann. Der ‘oberste Narr’ wäre demnach der Schultheiß. Im ›Narrenfresser‹ inszenierte Bletz sozusagen seinen Berufsalltag im Narrengewand. Die enge Verbundenheit mit seinem Amt erklärt auch den prominenten Platz, den Gerichtsverhandlungen auch sonst in seinem dramatischen Schaffen einnehmen: neben dem ›Narrenfresser‹ kommen sie auch im ›Marcolfus‹ (das Urteil Salomons), in den ›missratenen Söhnen‹ und im Weltgerichtsspiel vor. Es ist denkbar, dass bei der Aufführung des ›Narrenfressers‹ Kollegen aus der Gerichtsstube mitwirkten. Heinz Nar, der im Spiel als Gerichtsdiener fungierte und auf Befehl des Richters mit seiner Trompete aufzublasen hatte, übte diese Funktion vermutlich auch realiter aus.29 Auffällig ist auch, dass die in der Regel neutral als ‘Richter’ oder ‘Beisitzer’ bezeichneten dramatis personae des fastnächtlichen Tribunals in zwei Fällen konkret als Hans schliffer, der erst richter30 und ratsrichter31 angesprochen werden. Hans Schliffer, der einzige, mit Namen genannte Darsteller, stand 1549 im Antichrist- und Weltgerichtsspiel als verdammter Ratsherr auf der Bühne.32 27

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Der Richter redt zuo heintzen / Heintz nun nim hin disen brieff / lass in offenlich läsen und rüeff / wellche der nüwerung hangend an / die söllend für den richtstuol stan, zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 494ff. (Lesefehler bei Spuler: fangend an statt hangend an). Der Narrenfresser erzählt, dass die Obrigkeit es leid sei, dass jetz allenthalben in offenem plan / über all nachfolgend secten, zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 122ff. Es ist anzunehmen, dass der Stadttrompeter diese Rolle innehatte. Die Bezeichnung Heintz Nar geht aber vermutlich auf Brants Narrenschiff zurück. Vgl. Anm. 18. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], Regiebemerkung nach V. 485. Ebd., Regiebemerkung nach V. 629. Reuschel [Anm. 6], S. 326.

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Obwohl wir keine weiteren Aufführungszeugnisse besitzen, ist nicht zu bezweifeln, dass das ›Narrenfresser‹-Spiel tatsächlich am end der vasnacht33 dargeboten wurde. Es ist anzunehmen, dass die Inszenierung des ›Narrenfressers‹ nach der zweitägigen Weltgerichtsaufführung von Ostern 1549 erfolgte, also frühestens an der Fastnacht 1550. Da im ›Narrenfresser‹ wie im Weltgerichtsspiel die Gerichtsthematik im Vordergrund steht und die Spiele in ihrer didaktischen und konfessionspolitischen Stoßrichtung übereinstimmen, ist davon auszugehen, dass Bletz die Bühnenanlage des Fastnachtspiels analog zu derjenigen des Antichrist- und Weltgerichtsspiels auf der östlichen Hälfte des Weinmarkts eingerichtet hatte (siehe Abb. 4). Dies würde bedeuten, dass der Richterstuhl und die Sessel des übrigen Gerichtspersonals vor dem Gerichtshaus aufgebaut waren. Das Narrenschiff hätte sich demnach in der Mitte des Platzes befunden, an der Stelle, an der im Antichrist- und Weltgerichtsspiel die Plattform des ‘Tempels’ (1. Spieltag) resp. der ‘Welt’ (2. Spieltag) gestanden hatte. Der Narrenfresser hätte dann vermutlich seinen Standort vor der Metzger-Passage gehabt, wo im Jahr zuvor die Hölle des eschatologischen Spiels installiert war. Diese Konstellation ist von ihrer Symbolik her sehr stimmig: Die weltlichen Vertreter der Gerechtigkeit fällen ihre Urteile am gleichen Ort wie der Weltenrichter im Weltgerichtsspiel, nämlich vor dem (realen) Gerichtshaus. Der Aufenthaltsort der personifizierten Laster, das Narrenschiff, befindet sich in dem Bezirk, der sich schon durch die frühere Aufführung des sündigen weltlichen Treibens (unter anderem des Antichrist!) in den Köpfen der Zuschauer verankert hatte (Abb. 5). Die Positionierung des Menschen verschlingenden Narrenfressers am ehemaligen Standort der Hölle ist ebenfalls äußerst sinnfällig. Die damit erreichte Dämonisierung des Narrenfressers steht in der Nachfolge der Auffassung Murners, der »zwischen der Narren- und Teufelssphäre eine Analogie herstellte.«34 Zu betonen ist allerdings, dass die hier versuchte Rekonstruktion der ›Narrenfresser‹-Bühne eine Hypothese darstellt. Zwar lassen sich die angesprochenen Schauplätze, Requisiten und Figuren in den (spärlichen) Regieanweisungen und implizit oder explizit in den Dialogen nachweisen, doch einige Unklarheiten bezüglich der konkreten Realisierung bleiben bestehen, insbesondere was die Figur des Narrenfressers angeht. Wie muss man sich dieses Monstrum vorstellen, das in der Lage ist, Menschen zu verschlingen? Aus dem Spieltext ergeben sich einige interessante Anhaltspunkte: Der Herold schildert ihn als ‘Grauen erregenden Mann’ der in Begleitung einer ‘passenden Schar’ daher kommt.35 Heintz Nar nennt den Narrenfresser ebenfalls einen grülich man mit einem erschreckenden Gesicht.36 Die mehrmals wiederholte 33

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In seiner Vorrede gibt der Herold diesen Aufführungszeitpunkt an. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 16. Barbara Könneker, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Wiesbaden 1966, S. 248. Wan es kumpt ein gruosam man [. . .] und mitt im ein zimliche schar. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 35ff. Der bott ist so ein grülich man / das einer ab sim gsicht erschrickt. Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 210.

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Drohung des Narrenfressers, er werde die Narren verschlucken und mit zänden [. . .] zertrucken,37 deutet darauf hin, dass dieses Monster mit einem zahnbewehrten Riesenmaul ausgestattet war. Die Übereinstimmungen mit der auf dem Weinmarkt üblichen Darstellung der Hölle sind offensichtlich: Die Narrenfresserfigur muss man sich demnach als wandelnden diabolisch-grotesken Riesenkopf mit aufklappbarem Maul und Reißzähnen vorstellen. Sein Gefolge wird aus dunklen Schreckgestalten bestanden haben; vermutlich wurden dazu die üblichen Kostüme der Bühnenteufel verwendet oder fastnächtliche Schreckmasken. Die Postierung des Narrenfressers vor der Metzgerpassage hatte den praktischen Vorteil, dass die heruntergeschluckten Narren den Magen unbemerkt nach hinten verlassen konnten. Fazit: Das Fastnachtspiel ›Der Narrenfresser‹ bezieht seine Motive aus den Narrendichtungen Brants und Murners, für die Bühnengestaltung war die Symbolik und die Anlage der religiösen Spiele, des Osterspiels und des Antichrist- und Weltgerichtsspiels, vorbildlich. Die Gerichtsszenen sind hingegen ganz der Wirklichkeit nachgebildet. Es deutet alles darauf hin, dass reale Angehörige des Gerichts die entsprechenden Rollen auch im Fastnachtspiel verkörperten und das Prozedere nach den üblichen Konventionen von Gerichtsverhandlungen ablief. In der breiten Öffentlichkeit bekannte szenische Vorgänge, die ebenfalls Eingang in das Spiel fanden, waren (Schema 2): – Das öffentliche Vorlesen des ‘Sündenregisters’ eines Bürgers, der sich in irgendeiner Weise auffällig verhalten hatte. Dieser mit viel Klamauk verbundene Brauch der Wahl eines so genannten Bürgerammanns war Bestandteil der Zeremonien anlässlich der zweimal im Jahr abgehaltenen Ratseinsetzung und des damit verbundenen Schwörzeremoniells. Zu bemerken ist dazu, dass die Stadtschreiber, in diesem Fall also Bletz, als Zeremonienmeister wirkten, den Anlass regelrecht inszenierten und unter anderem den Schwurbrief vorlasen. – Das Verkünden von Urteilssprüchen auf öffentlichen Plätzen, wobei einer oder mehrere Stadttrompeter dem Gerichtsweibel voran schritten und für akustische Aufmerksamkeit sorgten. – Mit dem Tribunal vor dem Gerichtsgebäude setzte sich die Obrigkeit in Szene und befestigte ihren Machtanspruch. Auch für solche theatral inszenierten Handlungen gibt es Beispiele in der realen Praxis. ›Wunderdoktor‹ Das ›Wunderdoktor‹-Spiel ist thematisch mit dem in Luzern aufbewahrten und vermutlich von Bletz’ Amtsvorgänger Hans Salat 1560 in Freiburg aufgeführten ›Astrologie- und Wahrsagerspiel‹ verwandt.38 Wie im Astrologie- und Wahrsagerspiel hält ein dubioser Doktor öffentlich Sprechstunde und erteilt Patienten mit fragwürdigen 37 38

Zitiert nach Spuler [Anm. 9], V. 217f. Das ›Wunderdoktor‹-Spiel ist noch unediert, auszugsweise veröffentlicht durch Renward Brandstetter, Ueber Luzerner Fastnachtspiele, ZfdPh 17 (1885), S. 421–431. Die in der

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Schema 2

Anliegen Ratschläge. Eine weiter gehende Abhängigkeit der Spieltexte ist aber nicht gegeben, Astrologie und Wahrsagekunst kommen im ›Wunderdoktor‹ nicht vor. Das unsignierte, angeblich 1565 und/oder 1567 in Luzern aufgeführte Fastnachtspiel wird Zacharias Bletz zugeschrieben.39 Wie der ›Narrenfresser‹ ist auch der ›Wunderdoktor‹ nicht einer klar identifizierbaren Vorlage zuzuweisen, sondern als genuine Schöpfung zu betrachten, die zwar Motive und Formelemente zeitgenössischer Literatur aufnimmt, jedoch in ausgeprägtem Bezug zu realen lokalen Bräuchen und Gegebenheiten steht. Als wichtige Inspirationsquelle lässt sich wiederum Sebastian Brants Narrenschiff ausmachen, das Bletz in der Schlussrede des Wurtzkrämers zitiert. Ey nun bin ich nit ein finer man / das ich so gar vill künsten kann / das ich als wytt erfaren han /

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folgenden Darstellung verwendeten Zitate sind dem Originalmanuskript entnommen (Aufbewahrungsort: ZHB Luzern, Ms. 183 fol.). Das Hans Salat zugeschriebene ›Spiel von Astrologie und Wahrsagern‹ ist abgedruckt bei: Jakob Bächtold, Quellen zu aller Praktik Großmutter, Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 208–227. Die Tatsache, dass im Manuskript je zweimal an verschiedenen Stellen das Aufführungsdatum 1565 bzw. 1567 genannt wird, ist sehr auffällig. Dass dasselbe Stück zweimal aufgeführt wurde, wäre für Luzerner Fastnachtspiele zwar ein Novum, jedoch nicht auszuschließen. Im Gegensatz zu den österlichen Staatsschauspielen hinterließen die Aufführungen von Fastnachtspielen kaum Spuren in städtischen Aufzeichnungen; die Spieltexte sind in der Regel die einzigen Zeugnisse.

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vnd mit groser arbeytt glertt han / Jm Jndia splampampen vf dem kleber mer / zuo narengonia vnd wytters mer. In einigen Formulierungen lassen sich auch Anklänge an Murners Narrendichtungen feststellen. Sowohl von der Gestalt (lockeres Handlungsgefüge, Reihenspielcharakter) wie auch vom Gehalt (Sexual- und Fäkalkomik) her lässt sich der ›Wunderdoktor‹ der Gattung der Arztspiele zuordnen, die in allen Städten mit ausgeprägter Fastnachtspieltradition vertreten ist.40 Unverkennbar ist aber auch der Einfluss der Inszenierungsart der Luzerner Weinmarktspiele: der Einzug auf den Platz, die Gestaltung der Rahmenteile, der Aufbau der Weinmarktbühne, die musikalischen Einlagen etc. Akustisch begleitet durch Trompeter ziehen die Spieler auf den Platz ein. Dem fastnächtlichen Anlass entsprechend nimmt der Narr die Funktion des Proclamators wahr, bittet um Aufmerksamkeit und kündigt die Darbietung mit einem ausführlichen Resümee an. Zwei mit Bottichen bewehrte Klatschbasen treten auf und tratschen über ihre heimlichen Liebschaften. Klaper Däsch und Rättsch Dafelen verraten sich gegenseitig ihre Tricks, mit denen sie ihre Liebhaber anlocken: am Fenster stehen, goldbestickte fatzenettli (Taschentücher) und wohlriechende Blumensträuße schenken, mit den Augen ‘winken’, Gartentüre offen lassen, in einem roten Kleid tanzen etc. Die beiden liebestollen Frauen, die durch ihr vertrauliches Gespräch SprechzimmerAtmosphäre evozieren, lassen sich über ein Thema aus, das im Laufe des Spiels immer wieder variiert wird: die Suche nach einem Geschlechtspartner und die damit verbundenen Probleme. Im Gegensatz zum Astrologie- und Wahrsagerspiel kümmert sich im ›Wunderdoktor‹ aber nicht nur ein Marktplatzheiler um die Ratsuchenden, sondern deren zwei. Die Figur des Quacksalbers ist aufgeteilt in Wurzkrämer und Docktor, die sich in ihren Funktionen trefflich ergänzen. Der Wurzkrämer, ein fahrender Arzneihändler und Chirurg aus fremden Landen, verkauft Heilmittel und Gewürze und empfiehlt sich auch für Operationen wie düpell boren vnd naren stechen und die bösen zen vs brechen.41 Der Arzt, eine Karikatur eines Buchgelehrten, fragt seine Patienten nach ihren Leiden, stellt seine Diagnose mittels Harnschau und schreibt Rezepte für Medikamente, die sein Komplize Wurzkrämer bereitstellt (Abb. 6). Die erste Patientin, Kätterli, beklagt sich über ein gros Lyden im Buch. Der Doktor nimptt ir das waser ab duotts in sin gutteren [‘Flasche’] vnd beschowetts. Er diagnostiziert das 40 wüchig wee und verweist sie an den Wurzkrämer. Kätterli gesteht, dass 40

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Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 2. Aufl., Stuttgart 1978 (RUB 9415), S. 328; Max Siller, Ausgewählte Aspekte des Fastnachtspiels im Hinblick auf die Aufführung des Sterzinger Spiels ›der scheissend‹, in: Max Siller (Hg.), Fastnachtspiel−Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten−Gegensätze. Akten des 1. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (31.3.–3.4.1991), Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290), S. 147–166. Mit düpell boren vnd narren stechen ist die Vorstellung verbunden, dass man die Torheit durch einen operativen Eingriff kurieren könne. Narren wurden oft mit einer hässlichen Hautwucherung (‘Narrenmal’) auf der Stirn dargestellt. Hieronymus Boschs um 1480 entstandenes Gemälde ›Das Steinschneiden‹ bildet eine solche Entfernung des ‘Narrensteins’ ab. Thomas Murner kündigte in seiner Schrift ›Von dem grossen Lutherischen Narren‹ an, er wolle den törichten Anhängern die närrisch fistel stechen. Vgl. Mezger [Anm. 12], S. 297.

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sie schon einmal einen ‘Wurm’ im Bauch gehabt und diesen beim Barfüßerkloster abgegeben habe.42 Vom Marktplatz-Apotheker erwartet sie nun ein Mittel, das sie von diesem Leiden befreit. Der Wurzkrämer will ihr alle möglichen Salben und Pillen andrehen, auch Wurmsamen, doch er gibt ihr zu verstehen, dass er diesen speziellen ‘Wurm’ nicht vertreiben kann. In allen anderen Fällen, die ihm vom Doktor zugewiesen werden, hält er jedoch geheimnisvolle Mixturen bereit. Dem alten Mann mit der jungen Frau verabreicht er sündhaft teure potenzsteigernde Pillen, dem jungen Mann, der aus Geldgier ein altes reiches Weib geheiratet hatte, verkauft er confect und kostbare Salben, die die zahnlose Greisin wieder in eine jugendliche Schönheit verwandeln sollen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Quacksalber und dem Heilmittelverkäufer läuft wie geschmiert: Der Doktor beurteilt die mit dem Geschlechtsleben und der Verdauung in Zusammenhang stehenden ‘Krankheiten’ und verschreibt gegen stattliches Entgelt ein Rezept, mit dem die Betroffenen beim Gewürzkrämer ihre Medizin kaufen können. Das Geschäft mit den vom Wunderdoktor verschriebenen Verjüngungssalben, Aphrodisiaka, Potenzmitteln und Pülverchen gegen unaufhörlichen Durchfall läuft ausgezeichnet und beschert dem medizinischen Zweiergespann prallvolle Geldbeutel. Die Arztvisite ist ein trefflicher Anlass, um sexuelle und skatologische Themen in echt fastnächtlicher Manier, mit derben Worten, anzüglicher Metaphorik und drastischen Gebärden, abzuhandeln. Zugleich jedoch wird vor dem hemmungslosen Ausleben der Triebe gewarnt: den junckfrowen mit den züberen der Eingangsszene wird wohl das gleiche Los beschieden sein wie dem schon zum zweiten Mal ungewollt schwangeren Kätterli. Dass die von zu großer Altersdifferenz zwischen den Partnern herrührenden negativen Folgen für das Eheleben ausführlich dargestellt werden, hängt zum einen mit der fastnächtlichen Vorliebe für Geschlechtliches zusammen, hat zum anderen aber einen realen Hintergrund: Die Fastnacht war ein beliebter Hochzeitstermin. Heiratswilligen wird im Fastnachtspiel in drastischer Weise von unpassenden Partnerschaften abgeraten. Schließlich ist die Kritik an den fahrenden Wunderdoktoren, die auf den Marktplätzen mit theatralischem Brimborium auftraten und den Gutgläubigen das Geld aus der Tasche zogen, unüberhörbar: das Quacksalber/Wurzkrämer-Duo wird als ungebildet, geldgierig und betrügerisch hingestellt. Der Kampf gegen Wanderärzte und fahrende Arzneimittelhändler (Abb. 7), die auch in Verbindung mit Komödianten auftraten oder gar als Mediziner und Lustigmacher zugleich agierten, wurde von der Luzerner Regierung mit Erbitterung geführt. Glaubt man der obrigkeitlichen Sichtweise, so sind alle Arzneien und Kuren von fahrenden Heilern eine Gefahr für Leib und Leben und nichts als Lug und Trug. Regelmäßig wurde die Bevölkerung mittels Mandaten vor den zweifelhaften Diensten der wandernden Doktoren gewarnt und dazu aufgefordert, sie aus dem Land zu verjagen. 42

Damit spielt Bletz wohl auf die Sitte an, uneheliche Kinder im Franziskanerkloster unterzubringen. In einer weiteren Textstelle erzählt Kätterli Einzelheiten über ihre erste, zehn Jahre zurückliegende Schwangerschaft: Sie habe als Dienstmagd bei Hans Arbogast in Ebikon gearbeitet, als sie am 40-wöchigen Weh erkrankt sei.

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Eine Recherche in den Luzerner Sanitätsakten und Ratsprotokollen aus dem 15. und 16. Jahrhundert förderte eine erstaunliche Vielfalt an Bezeichnungen für die verfemten Marktplatz-Heilkünstler zutage, was wiederum Rückschlüsse auf die unterschiedliche Zusammensetzung und Spezialisierung der beteiligten Personengruppen und die Vielschichtigkeit des Phänomens erlaubt. Man nennt sie: o

u

Varende schuler, zoberin, stirnenstössel, krämer vnd bulfferlütt, frömde marchäffler, landtfarer, hussierer, scharlatanen, zanbrecher, landsbetrieger, menschen verderber, welltt betrieger, frömbde vßländische arzeten, banckschry¨er, warsager, tüffelbeschwörer, versägner, kalberartzet, gütterlin schry¨er, büchßler, sälbler, winckelpropheten, wurtzkrämer, schwarzkünstler, o wurtzen trager, buchfürer, vnerfarne buren vnd küe artzt, verdorbne koufflüten, henckersbuoben, schändtliche lottersbuoben, hümpler vnd hecken ärtzt, Herr Roßartzny¨, spitzbuo ben, landtbeschysser, allte weiber, zy¨gy¨ner, landtbuben, wurmsamen vnd triax krämer, gäugler, calancker, harzwahlen, winkelarzten, versägner von lütt vnd veech.43

Am ehesten auf das Unterhaltungsgewerbe deuten die Begriffe gäugler und schändtliche lottersbuoben hin. Zwar ist auch das Bedeutungsfeld für Gaukler denkbar breit – vermummte Burschen, Artisten, Äquilibristen, Taschenspieler, fallen genauso darunter wie Komödianten und Possenreißer – doch scheint bei dieser Bezeichnung der Zusammenhang mit theatralen Aktivitäten am deutlichsten ausgedrückt. Auch die schändtlichen lottersbuoben können am ehesten mit unzüchtigem komödiantischem Gebaren in Verbindung gebracht werden. Zu betonen ist, dass diese Zusammenstellung ausschließlich die einseitige Optik der Obrigkeit und damit ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit wiedergibt. Es ist offensichtlich, dass der Luzerner Rat bei seinen Bestrebungen, ein Kontrollsystem über das Gesundheitswesen einzuführen, nicht nur aus Sorge um das leibliche und seelische Wohl der Bevölkerung handelte. Er hatte sich auch dem Schutz der Interessen der einheimischen Berufsleute verpflichtet. Die Abwehr der Jahrmarktmediziner und Spektakelmacher erfolgte zu einem guten Teil aus Konkurrenzgründen. Die Fahrenden wurden aber nicht nur von den einheimischen Krämern, Apothekern und Doktoren als Rivalen betrachtet, sondern auch von der Kirche, die ihr Monopol als Vermittlerin zum Numinosen durch Versägner und Tüffelbeschwörer gefährdet sah. Zudem wollte die weltliche Obrigkeit nur staatlich gelenkte und kontrollierte theatrale Aktionen dulden. Dass sich breite Bevölkerungskreise bei gesundheitlichen Beschwerden oder Lebensproblemen Hilfe außerhalb der institutionalisierten Formen der Heilsvermittlung holten oder sich an den Darbietungen fremder Künstler und Komödianten ergötzten, untergrub die Macht der Autoritäten. Dass die Heilung von Krankheiten und die Wirksamkeit der Medizin aber schwergewichtig mit der Persönlichkeit des Arztes und mit dem Glauben des Patienten an dessen Fähigkeiten – handwerkliche, aber auch übersinnliche – zusammenhängt, ist eine Erkenntnis, die heute wieder von Vertretern einer ganzheitlichen Medizin betont wird. So gesehen kann auch die Verbindung von Heilkunst mit komödiantisch-unterhaltsamen und magisch-suggestiven theatralen 43

Die Bezeichnungen sind verschiedenen Belegen der geplanten Quellenedition entnommen (vgl. Greco-Kaufmann [Anm. 2]).

Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele

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Praktiken durchaus zur Heilung von Krankheiten beigetragen haben und die Beliebtheit der Marktplatzmediziner erklären. Mit der Aufführung des Fastnachtspiels vom ›Wunderdoktor‹ – wie üblich durch Mitglieder führender Familien – versuchte man die obrigkeitliche Politik dem Volk in theatraler Weise nahe zu bringen: Das Vorführen der gerissenen Betrüger und ihrer unbedarften Opfer in grotesk-komischen Szenen sollte bei den Zuschauern Gelächter, Spott, Distanzierung und Überlegenheitsgefühle auslösen. Dass die entlarvenden Szenen zu einer kritischeren Beurteilung des Wirkens von Marktplatzheilern geführt hätten, darf aber bezweifelt werden. Zum x-ten Mal befahl der Rat 1590 die Wegweisung aller vrömden scharlatanen vnd vmb strychenden banckschrygern, die sich o für Artzet vssthuend, aber die lütt verderbend.44 Im Vergleich mit dem in großer Fülle vorhandenen Archivmaterial lässt sich feststellen, dass im Fastnachtspiel vom ›Wunderdoktor‹ jene szenischen Vorgänge karikierend nachgeahmt wurden, die sich bevorzugt anlässlich von Jahrmärkten, Kirchweihen und sonstigen Festen auf zentralen Plätzen abspielten. Zurückkommend auf mein Schema, lassen sich zwischen textierten Fastnachtspielen und anderen szenischen Vorgängen folgende Verbindungen feststellen:

Schema 3 44

Staatsarchiv Luzern, A 1 F 4, Schachtel 773 B (3).

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Heidy Greco-Kaufmann

Generell hat sich erwiesen, dass die Konzeption der literarischen Fastnachtspiele in Luzern aufs engste mit der Politik und Repräsentation der regierenden Schicht verbunden ist, aus der sich auch die Verfasser und Darsteller rekrutierten. Als Inspirationsquellen dienten populäre Motive aus der zeitgenössischen Literatur und Bildkunst. Für die konkreten Ausgestaltungen der Dialoge, die Bühnenanlage, Kostüme und die Inszenierungsweise orientierte man sich zum einen an bekannten Mustern der Osterspieltradition, zum andern aber an vertrauten szenischen Vorgängen, die zum Alltag und Fest der damaligen Zeit gehörten.

Eckehard Simon

Fastnachtspiele inszenieren die Reformation Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtspielzeugnissen, 1521–1525

An dem Herrenfastnacht genannten Sonntag Esto mihi 1523, dem 13. Februar, führten Berner Bürger das von dem genialen Maler Niklaus Manuel Deutsch verfasste Fastnachtspiel ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹ auf dem Marktplatz auf. Am folgenden, als alte fasnacht bekannten Sonntag Invocavit, dem 20. Februar, präsentierten die jungen Männer Manuels in den Drucken als fasnacht schimpff bezeichnetes Fastnachtspiel ›Von Papsts und Christi Gegensatz‹. Am Aschermittwoch zwischen den beiden Aufführungen trugen Berner Karnevalisten, wie der Chronist Valerius Anshelm berichtet, den ‘römischen Ablass’ durch alle gassen und verhöhnten den verhassten Ablasshandel mit dem bonenlied, das mit dem satirischen Refrain Nu gang mir us den bonen schließt.1 Mit dem ersten, von Anshelm ›Totenfresser‹ genannten umfangreichen Fastnachtspiel von 1945 Sprechversen zeichnete Niklaus Manuel, in Hellmut Thomkes Charakterisierung, »das Schaubild einer Zeitenwende [. . .], in welchem er die geschichtlichen Mächte in über 50 Sprechrollen und großartigen Massenszenen anschaulich vergegenwärtigt.«2 Mit Thomke (S. 1011f.) lässt sich ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹ in sieben Auftritte gliedern. In dem ein Drittel des Spiels umfassenden ersten Auftritt verarbeitete Manuel den 1521/22 von Pamphilus Gengenbach in Basel gedruckten dramatischen Dialog ›Disz ist ein iemerliche clag vber die Todten fresser‹.3 In Gegenwart einer aufgebahrten, von zwei klerikalen leytman beklagten Leiche sitzt der Papst in großem gepracht mit allem hoffgesindt/ pfaffen vnnd kriegsleuten4 bei einem aus Spenden für Toten- und Jahrzeitmessen finanzierten Festmahl. Im zweiten 1

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Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), Nr. 46 und S. 138. Im Folgenden zitiert: Simon mit der Zeugnisnummer. Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Hellmut Thomke, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek deutscher Klassiker 136. Bibliothek der Frühen Neuzeit 2), S. 1010. Thomke erläutert seine Ausgabe (S. 139–209) mit einem informativen Kommentar (S. 996–1042). Eine kommentierte, mit Textvarianten versehene Edition der beiden Manuelschen Fastnachtspiele legen Paul Zinsli und Thomas Hengartner in ihrer Gesamtausgabe vor: Niklaus Manuel. Werke und Briefe, Bern 1999, S. 125–180, 181–188. Ob Gengenbach diesen Dialog, wie die Forschung meint, auch verfasst hat, ist mit Kerstin Prietzel als nicht erwiesen zu bezeichnen: Pamphilus Gengenbach, Drucker zu Basel (um 1480–1525), Archiv für Geschichte des Buchwesens 52 (1999), S. 229–461, hier S. 351 f. Text in: Das Drama der Reformationszeit, hg. v. Richard Froning, Stuttgart 1894, ND Darmstadt 1964 (Deutsche Nationalliteratur 22), S. 1–10. Zinsli u. Hengartner [Anm. 2], S. 126.

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Auftritt prangert Manuel die 1505 durch Papst Julius II. aus Schweizer Söldnern gebildete Leibgarde an und verurteilt ihr liederliches Pfründenleben auf Kosten der Armen. Der dritte Auftritt vermittelt einen Eindruck vom theatralischen Aufwand der Aufführung: Von einem berittenen Boten angekündigt, sprengt ein Johanniterritter aus der von den Türken belagerten Inselburg Rhodos hoch zu Pferde herbei. Weil der Papst ihm Hilfe gegen die Türken verweigert, verflucht der Johanniterritter das Haupt der Kirche als den Antichrist. Im vierten Auftritt klagen sieben Berner Bauern über den betrügerischen Ablasshandel, womit die Inszenierung vorübergehend den Schauplatz Rom verlässt. In seinen Angriffen auf das weltliche Luxusleben und den Machtanspruch des Papstes, seiner Kardinäle und Bischöfe, auf die missbrauchten Pfründen, Seelenmessen und das Ablasswesen erweist sich Manuel mit Martin Luthers Flugschriften, besonders mit dem Pamphlet ›An den christlichen Adel deutscher Nation‹ von 1520 vertraut.5 Luther diente offenbar als Vorbild für seine Figur des Predigers Doctor Lüpold Schüchnit, der die Ablass- und Papstflüche der Berner Bauern bekräftigt. Die dem geistlichen Spiel entlehnten Apostel Petrus und Paulus, die der ersten Regieanweisung zufolge das Prunkleben des Papstes seit Spielbeginn beobachtet hatten, erkennen ihn im fünften Auftritt nicht als Nachfolger Petri und Christi Stellvertreter wieder. Im sechsten Auftritt halten der Papst und seine Kardinäle großen Kriegsrat und lassen die von Rom besoldeten Truppen, darunter schweizerische Reisläufer und deutsche Landsknechte, aufmarschieren. Den siebenten und letzten Auftritt widmet Manuel dem lutherischen Prädikanten Lüpold Schüchnit, der das Spiel mit einem Gebet beschließt. Der aus nur 214 Sprechversen bestehende fasnacht schimpff ›Von Papsts und Christi Gegensatz‹, den Manuels Ensemble nachspielartig am Sonntag Invocavit aufführte, ist als Kombination von Markt- und Umzugsspiel zu verstehen. Die beiden bibelfesten und theologisch versierten Bauern Rüde Fogelnest und Cleywe Pfluog beschreiben und erklären – vermutlich auf der Marktplatzbühne stehend – zwei Prozessionen, die von entgegengesetzten Seiten der gassen, offenbar der Kreuzgasse, auf sie zukommen. Auf der einen Seite reitet der dornengekrönte heiland der welt Jesus Christ, von Petrus und anderen Jüngern umgeben, auf einem Esel herbei, gefolgt von Armen, Kranken und Lahmen. Ihm entgegen reitet hoch zu Ross der Papst, den die Zuschauer aus den ›Totenfressern‹ kannten. Er tritt hier jedoch als geharnischter Kriegsherr auf, dem die Schweizergarde und bannertragende, pfeifende und trommelnde Truppen vieler Nationen folgen, Feldschlangen und Kanonen mitschleppend, hinter denen sich huoren vnd buoben/ vnd was zuom krieg gehört tummeln. Der streitbare Papst reitet laut Spielanweisung so richlich und hochprachtlich daher, als ob er der türkisch keiser wer.6 Mit diesem Umzugsspiel dramatisierte Manuel die Holzschnittfolge ›Passional Christi und Antichristi‹, die erste reformatorische Bilderkampfschrift, die Lucas Cranach der Ältere mit Philipp Melanchthons Hilfe im Mai 1521 nach dem Wormser Reichstag veröffentlicht hatte.

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Thomke [Anm. 2], S. 1008f. Zinsli u. Hengartner [Anm. 2], S. 183.

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Die historische Bedeutung dieser Berner Fastnachtspiele, mit denen Manuel das reformatorische »Kampfspiel« begründete,7 wird als Handbuchwissen tradiert. Peter Pfrunder zeigte, wie geschickt Manuel das fastnächtliche Prinzip ‘verkehre die Welt’ in den Dienst der Reformationspolitik stellte: Der Papst und seine Priesterschaft sind unwissende und unchristliche Narren, die Bauern erweisen sich als belesen und bibelfest.8 Als Darsteller vermochte Manuel laut Drucktitel junge Männer aus den Berner Oberschichten zu gewinnen, Söhne der rats- und regimentsfähigen Familien, die die Spielskripte lesen und einstudieren konnten.9 Manuel errichtete seine Bühne auf dem durch den Schnittpunkt der Kreuzgasse und der heutigen Gerechtigkeits- und Kramgasse gebildeten Marktplatz, wo der Richterstuhl stand. Sozialtopographisch besaß der Marktplatz in Berns öffentlichem Leben die zentrale Funktion.10 Für Manuel wird es nicht ungefährlich gewesen sein, die reformatorischen Schauspiele öffentlich auf dem Marktplatz aufführen zu lassen. 1523 war Berns regierender Kleiner Rat bestrebt, wie Glenn Ehrstine zeigt, trotz eingeführter Reformen am katholischen Glauben festzuhalten.11 Dennoch muss ein Teil des Berner Rats Manuels agitatorische Aufführungen unterstützt haben. Denn 1523 zahlte der Seckelmeister denen, so das spill in der krützgassen machten als öffentlichen Zuschuss den stattlichen Betrag von 21 Pfund.12 Im Mai 1524 veröffentlichte der Zürcher Drucker Christoph Froschauer in kurzer Folge drei Druckausgaben der beiden Fastnachtspiele, wobei er den auch in einer etwas älteren Handschrift überlieferten Spieltext ›Vom Papst und seiner Priesterschaft‹ veränderte und erweiterte. Die mit Titelholzschnitten versehenen Ausgaben Froschauers wurden bis 1558 fünfzehn Mal nachgedruckt.13 Die große Nachwirkung, auch außerhalb der Schweiz, bestätigt das Urteil des Berner Chronisten Valerius Anshelm, der um 1535 schrieb: Durch dis wunderliche und vor nie, als gotslästerliche, gedachte anschowungen ward ein o gross volk bewegt, kristliche friheit und bäbstliche knechtschaft zu bedenken und ze underscheiden. Es ist ouch in dem evangelischen handel kum ein büechle so dik getrukt und so wit gebracht worden, als diser spilen (Simon 46).

Manuels Fastnachtspiele markieren, wie unsere Handbücher zu Recht schreiben, einen Wendepunkt in der Geschichte des Fastnachtspiels als öffentliches Medium. Sie waren jedoch weder die ersten noch die einzigen Fastnachtspiele, mit denen städtische 7 8

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Ebd., S. 113. Peter Pfrunder, Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit. Die Berner Spiele von Niklaus Manuel, Zürich 1989. Ebd., S. 169–172; Zinsli u. Hengartner [Anm. 2], S. 114. Pfrunder [Anm. 8], S. 164–166, Abb. S. 163, 165; Thomke [Anm. 2], S. 1008. Glenn Ehrstine, Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–1555, Leiden [usw.] 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85), S. 33f., 83. Erst im Januar 1528 führte Bern unter der Leitung des ‘Rufers’ (Gesprächleiters) Manuel, den man in den Kleinen Rat gewählt hatte, die Reformation endgültig ein. Denne denen, so das spill in der krützgassen machten, geschänckt 21 lbs. Adolf Fluri, Dramatische Aufführungen in Bern im xvi. Jahrhundert, in: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1909, Bern 1908, S. 133–159, hier S. 135. Bei Simon [Anm. 1] nachzutragen. Zinsli u. Hengartner [Anm. 2], S. 116–124.

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Fastnachtsaktivisten gegen den Papst, den Ablasshandel, das Mönchswesen und die Machtansprüche der römischen Kirche zu Felde zogen. Dokumentarischen Zeugnissen und Chronikberichten zufolge haben Karnevalisten in acht Städten zwischen 1521 und 1525 zehn reformatorische Fastnachtspiele aufgeführt. Skripte dieser Spiele, sofern sie überhaupt verschriftlicht wurden, sind nicht überliefert. Die hohe Verlustrate ist typisch für Fastnachtspiele, wie die dokumentarische Spielforschung ermittelt hat. Im Theaterbetrieb eingesetzte Spielskripte wurden verbraucht. Sie blieben nur erhalten, wenn sie, wie in Nürnberg, für Leser aufgezeichnet wurden, wenn man Abschriften zwecks künftiger Aufführungen anfertigte oder Skripte, wie die Manuelschen Spiele, als publizistische Texte druckte. Im Folgenden rekonstruiere und kontextualisiere ich die in acht Städten attestierten reformatorischen Fastnachtspiele, soweit es die bislang ermittelten Zeugnisse ermöglichen. Waren es textierte Fastnachtspiele oder fastnächtliche Schaustücke und Stegreifspiele ohne Skript? Haben Karnevalisten die Spiele stationär auf dem Marktplatz oder in Umzügen aufgeführt? Mainz 1521 Einer spät überlieferten Spielnotiz zufolge – ›ein new spiel vom sturm der pfaffen zu Erffordt‹ (Simon 309) – dramatisierte eine Mainzer Spielbruderschaft 1521 den berüchtigten ‘Pfaffensturm’ zu Erfurt.14 Am 26. Mai 1521 unterzeichnete Kaiser Karl V. das Wormser Edikt, das Martin Luther und seine Anhänger mit der Reichsacht belegte. Als dies in Erfurt bekannt wurde, war die Empörung groß. Am 11. Juni stürmten Erfurter Studenten zunächst die Häuser der Kleriker und plünderten die von Geistlichen der Stifte St. Marien und St. Severin bewohnten Häuser. Am 12. Juni gesellten sich zum Markttag aus umliegenden Dörfern gekommene Bauern zu den Studenten und zusammen »demolierten [sie] Glasfenster und Öfen, zerfetzten Bücher und Pergament« und andere Statussymbole der privilegierten Kleriker.15 Erst am 13. Juni setzte der Rat dem Aufstand mit Waffengewalt ein Ende. Erfurt gehörte zur Diözese Mainz und das Notariat des erzbischöflichen Generalgerichts befand sich im Haus zum Weißen Rade. Dennoch zögerte der Mainzer Erzbischof Albrecht gegen den Erfurter Rat vorzugehen, weil er das Tyrannisch gemute der Erfurter nicht noch mehr aufreizen wollte.16 Dieser erste Aufstand der Lutheraner gegen den Klerus, der den Auftakt zu künftigen Klöster- und Pfaffenstürmen bildete, brachte Erfurt ins Reichsgerede. Obwohl Luther von der Wartburg aus sein Bestürzen äußerte, sahen »die Pfaffenstürmer [. . .] ihr ganzes Vorgehen legitimiert durch die lutherische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, und sie gewannen aus ihr [. . .] zum ersten Mal in der Reformation politische Konsequenzen«.17 Kurz nach den Ereignissen verfasste der offenbar dem Rat nahestehende Student Gotthard Schmalz ›Ain new Ge=/dicht wie 14

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Siehe ‘Pfaffensturm’ in Ulman Weiss, Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Weimar 1988, S. 124–132. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 131f.

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die gaystlich//ait zuo Erffordt [. . .] Gesturmbt ist worden‹, das Melchior Ramminger noch 1521 in Augsburg als Flugschrift druckte.18 Diese Flugschrift könnte die Vorlage für das new spiel der Mainzer Spielbruderschaft gewesen sein. Der Erfurter ‘Pfaffensturm’ brach, wie erwähnt, am 11. Juni 1521 aus. Wenn ihr ‘neues Spiel’ ein Fastnachtspiel gewesen ist, können es die Mainzer erst 1522 aufgeführt haben. Die neun Mainzer Spielnotizen entstammen allerdings einer heute nicht mehr auffindbaren Handschrift.19 Deshalb ist die publizistisch bedeutsame Nachricht über das Mainzer Spiel, welches den spektakulären ersten Aufstand der Lutheraner gegen die römischen Kleriker dramatisierte, nicht verifizierbar. Nürnberg 1522 In seiner Sitzung am 14. Februar 1522 erfuhr der Nürnberger Rat, dass eine Spieltruppe den Plan schmiedete, in der in zweiundeinhalb Wochen beginnenden Fastnachtszeit ein vasnacht Spil aufzuführen, worin eine Papstfigur im Chormantel prozessieren sollte, der man das päpstliche Kreuz mit drei Querstangen (ein dryfach creütz) vorzutragen gedachte. Das an der Pegnitz liegende Heilig-Geist-Spital war eine vom Rat verwaltete Stiftung für die Kranken- und Armenfürsorge, wo der Rat auf städtische Kosten zwölf Chorknaben unterrichtete.20 Die Ratsherren waren deshalb besonders verstimmt zu hören, dass der Sakristan des Heilig-Geist-Spitals den Spielern für ihren Papst einen Chormantel geliehen hatte. Der Rat verbietet das Spiel ab sofort. Einer der Ratsherrn, vermutlich der im nächsten Sitzungsverlass genannte B. Paumgartner, soll den Sakristan ‘scharfzüngig’ bestrafen und ihm befehlen, den Chormantel wieder in Gewahrsam zu nehmen.21 Der Rat war von den Vorbereitungen für ein antipäpstliches Fastnachtspiel so alarmiert, dass er den Ratsherrn Paumgartner auf der Sitzung des nächsten Tages (15. Februar) beauftragt, ‘denen mit dem Fastnachtspiel in päpstlicher Kleidung nochmals zu sagen, die Hände davon zu lassen’.22 Wir erfahren nicht, wer die Spieler waren oder ob sie mit ihrem Papstspiel von Haus zu Haus ziehen wollten, wie das für die fastnächtlichen Nürnberger Einkehrspiele gebräuchlich war. Vielleicht planten sie, ihr antipäpstliches Fastnachtspiel auf 18

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›Ein neues Gedicht, wie die Geistlichkeit zu Erfurt gestürmt worden ist‹, in: Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), Bd. 2, hg. v. Adolf Laube, Sigrid Looss, Annerose Schneider u. Helmut Claus, Vaduz 1983, S. 1316–1322. Simon [Anm. 1], S. 85–87. Ulrich Knefelkamp, Das Heilig-Geist-Spital in Nürnberg vom 14.–17. Jahrhundert. Geschichte, Struktur, Alltag, Nürnberg 1989 (Nürnberger Forschungen, Einzelarbeiten zur Nürnberger Geschichte 26). Das vasnacht Spil dar Innen ein babst in aim Chormantel get vnd im ein dryfach creütz wirdet vorgetragen, ganntz abstellen vnd dem sacristen im Spital ein strofflich red sagen daz er zu solhen spil den chormantel hat dargelihen vnd daz er den widrum zu sein handen nem (Simon 456). Denen mit dem vaßnacht spil in bäbstlicher claydung nochmalen zesagen das si solhs spils müssig sten. B. Paumgartner (Simon 457).

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einer auf dem Marktplatz zu errichtenden Pfosten- und Bretterbühne zu präsentieren, eine verbreitete Aufführungsform, die auch in Nürnberg bezeugt ist (Simon 437, 451). Das würde erklären, warum der Rat so spontan einschritt. Die Ratsherren kontrollierten den Nürnberger Hauptmarkt und beaufsichtigten die öffentlichen Veranstaltungen, die dort stattfinden durften. 1522 fühlte sich der konservative Nürnberger Rat von beiden Glaubensfaktionen bedrängt. Einerseits hatte er auf Wunsch der Lutherpartei bereits evangelische Prediger wie Andreas Osiander für die Pfarrkirchen berufen. Andererseits durfte er sein Verhältnis zum katholischen Kaiser, dem jungen Karl V., nicht gefährden, der den von päpstlichen Delegaten besuchten Reichstag in Nürnberg versammelte.23 Als Fazit halte ich fest: Ein Jahr bevor Niklaus Manuel seine antirömischen Fastnachtspiele in Bern aufführte, hatte ein unbekannter Nürnberger Dramatiker ein Fastnachtspiel verfasst, das den Papst und die römische Kirche verspottete.24 Lübeck 1524 Die tagebuchartigen Protokolle der Sitzungen des Lübecker Domkapitels, die der Dekan Johannes Brandes auf lateinisch verfasste, vermitteln einen lebendigen Eindruck von den langjährigen Streitereien zwischen der Lutherfaktion und den katholischen Kirchenherren, die 1530 zur Reformierung der Lübecker Kirchen führten.25 Von 1523/24 an häuften sich die demonstrativen Störaktionen der ‘Martinianer’ genannten Lutheranhänger: sie unterbrachen die Messe, verspotteten Priester, verunreinigten das Weihwasser, beschädigten Heiligenbilder und griffen Kleriker auf der Straße an.26 Im Januar 1524 berichtet Brandes von einem Lehrer der Jakobischule namens Anton Spenke, der als Martinianus ein offenbar die Autoritäten der römischen Kirche mokierendes Fastnachtspiel aufführen wollte. Auf der Sitzung des Domkapitels vom 14. Januar 1524 verklagt der Scholaster Wilhelm van Calven den Jakobischullehrer Spenke. Er habe ein Spiel voll ‘schändlicher und schamloser Verse’ verfasst, das er von seinen Schülern zu Fastnacht öffentlich aufführen lassen wolle (Simon 293, 1–6). Als Scholasticus führte der Domherr van Calven Aufsicht über Lübecks Kirchenschulen. Er war somit auch für die 23

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Günter Vogler, Nürnberg 1524/25. Studien zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt, Berlin 1982, S. 47–51. Wie die Nürnberger die Reformation in Schembartläufen und Fastnachtspielen inszenierten, untersuche ich ausführlicher in: Staging the Reformation in the Nuremberg Carnival, in: Topographies of the Early Modern City, hg. v. Arthur Groos u. Hans-Jochen Schiewer, Göttingen 2008 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 2), S. 87–119. Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 12: Die Protokolle des Lübecker Domkapitels 1522–1530, hg. v. Wolfgang Prange, Neumünster 1993 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 30). Wolf-Dieter Hauschild, Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten, Lübeck 1981, S. 170; s. a. Wilhelm Jannasch, Reformationsgeschichte Lübecks vom Petersablaß bis zum Augsburger Reichstag 1515–1530, Lübeck 1958 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck 16), S. 28, 369, 372.

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Lateinschule an der Jakobikirche zuständig, deren Rektoren und Lehrer er zu berufen hatte.27 Van Calven verbot Spenke und seinen Schülern, das ‘lügnerische Spiel’ (ludum inhonestum) aufzuführen. Doch anstatt sich zu fügen, habe der Lutheranhänger Spenke seinem Vorgesetzten gedroht: Wenn van Calven dieses Spiel nicht zuließe, würde er ein neues Fastnachtspiel schreiben, worin er aufzudecken gedenke, wie der Rektor der Jakobischule seine Zöglinge ‘ohne die gehörige Zucht’ (sine disciplina) erziehe. Für die öffentliche Aufführung gedenke er Darsteller zu gewinnen, die weder dem Domdekan noch dem Scholaster zu gehorchen hätten (Simon 293, 7–11). Dekan Brandes nennt den ungehorsamen Lehrer ‘den blinden Spenke’, Spenke cecus (Simon 293, 1). Er erhielt diesen Spottnamen vermutlich, weil er dicke Brillengläser trug oder – wie der altgläubige Brandes urteilen musste – ‘geistig blind’ war. Ein Blinder wäre kaum fähig gewesen, Schulknaben zu unterrichten und Spielaufführungen zu leiten. Denn Spenke war ein erfahrener Stückeschreiber und Spielleiter. Von 1519 bis 1522 hatte er die in ihrem Kompaniehaus tafelnden Greveradenbrüder mit Fastnachtspielen unterhalten (Simon 287–290). Das Kapitel beauftragt Dekan Brandes, die Klage über Spenke durch den Ratsschreiber Paul vame Velde dem Rat vorlegen zu lassen, ‘damit die Stadt’, wie Brandes notiert, ‘nicht in Aufruhr gerate’ (Simon 293, 15). Bereits am folgenden Tag lässt der Rat melden, dass er den Jakobischülern nicht verbieten wolle, die von Spenke verfassten ‘Verse’ (rithmi) aufzuführen, da sie doch unleugbar auf Wahrheit beruhten (quia veritati insistunt, que negari non potest [Simon 293, 21]). Einen Tag später, am 16. Januar, überbringt der Ratsschreiber die offizielle Entscheidung. Die Ratsherren halten Spenkes Spiel für öffentlich aufführbar. Es könne sein, dass es ‘den einen oder andere deutlich zeichne’. Aber ‘angesichts der Zeitläufte’ und um einen größeren Skandal zu verhüten, wolle der Rat nicht eingreifen (Simon 293, 22–27). Dem Ratsgutachten ist zu entnehmen, dass Spenke ein gegen die römischen Kleriker gerichtetes Fastnachtspiel verfasst hatte. Unter seiner Regie brachten es die Jakobischüler vermutlich in den Fastnachtstagen 1524 (7.– 9. Februar) zur Aufführung, vielleicht auf dem Lübecker Marktplatz.28 Stralsund 1522 und 1525 In seiner um 1550 verfassten Stralsundischen Chronik beschreibt der ehemalige Augustinermönch Johann Berckmann, der bereits 1520 zu Luther übergetreten war, einen Umzug, der am Fastnachtsdienstag 1522 in Stralsund stattgefunden hatte. Vier ‘graue Mönche’ – offenbar als Franziskanermönche verkleidete Fastnachtsaktivisten – zogen Verse deklamierend einen Pflug durch alle Straßen Stralsunds, gefolgt von ‘Mönchen’ aller Orden.29 Mit diesem Pflugziehen parodierten Stralsunder Lutheraner 27 28

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Hauschild [Anm. 26], S. 125. Weiteres bei Simon [Anm. 1], S. 276–278 und ders., Geistliche Schauspiele in Lübeck, Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 53–74, hier S. 67f. In dem [15]22 jare jm vastelauende togenn iiij grawe monneke de ploch auer de stadt jn alle stratenn; dar rimeden se vnnd werenn alle monneke vann allenn ordenn, dar woll 99 be-

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einen fastnächtlichen Rügebrauch, den Karnevalisten hauptsächlich in süddeutschen Städten inszenierten. Die beste Beschreibung gibt Hans Sachs – der, wie er behauptet, das Pflugziehen an einem Aschermittwoch in Regensburg miterlebt habe – in seinem 1532 als Flugblatt gedruckten ›Schwanck Die hausmaid im pflug‹, den Erhard Schön mit einem Holzschnitt illustrierte.30 Johlende und peitschenknallende Burschen spannen sechs junge Frauen an einen Pflug, die, wie man dem Autor erklärt, uberblieben sind, die in der faßnacht nit hand mender [‘Männer’] gnumen.31 Weil die Kirche Geschlechtsverkehr in der Fastenzeit verbot, heirateten viele junge Paare in der Fastnachtszeit. In dem Rügebrauch, den wir heute als sexistisch verurteilen würden, spannten heiratsfähige Burschen ledig gebliebene Frauen an einen schweren Ackerpflug. Die mit Pflügen, Furchenziehen und das Feld beackern evozierten sexuellen Anspielungen sind deutlich genug. Weil der Pflug aber hier nicht griff, sondern nutzlos über das städtische Straßenpflaster holperte, parodierten städtische Karnevalsaktivisten durch diesen »Unfruchtbarkeitsritus«, wie Norbert Schindler zeigt, zugleich ländliche Fruchtbarkeitsriten.32 Nach Schindler (S. 179) ist der fastnächtliche Rügebrauch des Pflugziehens erstmals in einem Innsbrucker Rechnungsbuch des Jahres 1460 nachzuweisen. Erstaunlicherweise hat ein Nürnberger Fastnachtspielautor den Brauch bereits um 1485 in einem Einkehrspiel kontrafaziert. Obwohl das Fastnachtspiel (138 Sprechverse) unter dem Titel ›Das Eggenziehen‹ (K 30) läuft, treiben ein Großbauer (mair) und seine beiden Knechte einen von sieben ‘Jungfrauen’ (sprich Gesellen) geschleppten pflug in die Stube. Die ‘Jungfern’, erklärt der Ausschreier in der groben Nürnberger Spieldiktion, hätten mit dem Pflugziehen öffentlich zu büssen, Das sie sein kumen zu iren tagen, / Fut, ars, tutten vergebens tragen.33 Auf die Frage des Bauern (Warumb zihet ir in disem pflug?, S. 248,12) schildern die sieben ‘Jungfrauen’, warum und wie ihre Verhältnisse zu Liebhabern – zumeist weil die Männer versagten – nicht zur erwünschten Heirat führten. Durch diese ‘Erklärungen’ hat der Nürnberger Stückeschreiber den Fastnachtsbrauch literarisiert.34

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schreuen werden von Franciscus Lambert, ein gallus vnnd graw monnick, docter, de denn ordenn beschreuenn heft [. . .]. Johann Berckmanns Stralsundische Chronik und die noch vorhandenen Auszüge aus alten verloren gegangenen Stralsundischen Chroniken [. . .], hg. v. Gottlieb Ch. F. Mohnike u. Ernst Heinrich Zober, Stralsund 1833, S. 33. Siehe Abb. 8 bei Norbert Schindler, ‘Heiratsmüdigkeit’ und Ehezwang. Zur populären Rügesitte des Pflug- und Blochziehens, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 175–214, 361–381, hier S. 176. Hans Sachs, ›Schwanck Die hausmaid im pflug‹, in: Hans Sachs, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 5., Reprograf. Nachdr. der Ausg. Stuttgart 1870, Hildesheim 1964 (BLVSt 106), S. 179– 183, hier S. 179, V. 18–20. Schindler [Anm. 30], S. 177, 199. Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966, Nr. 30, S. 247–251, hier S. 247,9–11. Siehe dazu Hedda Ragotzky, Die Hausmaid im Pflug. Ein fastnächtlicher Rügebrauch und seine Literarisierung, in: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Ulrike Gaebel u. Erika Kartschoke, Trier 2001 (Literatur – Imagination – Realität 28), S. 223–237.

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Weil die den Pflug schleppenden ‘Grauen Mönche’, während sie umzogen, Verse deklamierten, haben Stralsunder Lutheraner den Rügebrauch 1522 auf ähnliche Weise literarisch parodiert. Als Franziskanermönche verkleidet, verspotteten sie die durch die Reformation ‘nutzlos’ gewordenen Mönchsorden, wobei sie weibliche – in entsprechend ehelose – männliche Opfer verkehrten. Obwohl Schindler35 keine Belege aus norddeutschen Städten aufführt, war der fastnächtliche Rügebrauch in Stralsund offenbar gut bekannt. Der Dominikaner-Chronist Simon Grunau hingegen, der beschreibt, wie man Mönche 1523 in einer ungenannten preußischen Stadt an den Pflug spannte (s. u.), war mit dem Brauch nicht vertraut. Er behauptet, Martin Luther habe den reformierenden Städten diese ‘türkisch-grausame’ Strafe empfohlen: Die stedte solten frei auf sein einrathen / die munche nach Turkischer Weise in den pflug spannen.36 Das Stralsunder Pflugziehen von 1522 war Auftakt zu fastnächtlichen Störaktionen der Lutheraner, die am Montag nach Palmarum 1525 (10. April) in »Bildersturm und Kirchenbrechen« gipfelten. Wie in anderen Hansestädten beteiligten sich Stralsunder der Unterschichten, wie Handwerksgesellen, aktiv an dem ‘Pfaffensturm’, den sie als sozialen und politischen Protest gegen das Kirchenregiment auffassten. Die in der Nikolaikirche versammelte Volksmenge von eineinhalbtausend Stralsundern drang von da aus in andere Kirchen und Klöster ein. Die Randalierer zersplitterten die herabgerissenen Bilder und Skulpturen der Heiligen und plünderten Altäre und Reliquienschreine.37 Die Wut der Stralsunder Lutheraner richtete sich insbesondere gegen den Vorsteher der katholischen Kirche in Stralsund, den Oberkirchherrn Hippolyt Steinwer. 1527 und 1529 reichte Steinwer Beschwerdeschriften gegen Stralsund beim Reichskammergericht ein. Diese Klageschriften und die Aussagen der in Greifswald verhörten Zeugen vermitteln Einblicke in den Verlauf des lutherischen Aufstands von 1525. Die Lutheraner sangen by dage und nachte Spottlieder vor den Häusern der Geistlichen und tanzten dazu. Sie führten Fastnachtspil, representacion, Comedien und andere spele auf (gespeˆlet und berymet). Sie trieben katholische Geistliche in die Stadtgräben und auf die Stadtwälle und jagten sie in Netze (und in de netten jaget).38 35 36

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Schindler [Anm. 30], S. 361f. Simon Grunau’s [sic!] Preussische Chronik, hg. v. Max Perlbach, Bd. I, Leipzig 1876 [zitiert Grunau I]; Bd. II, hg. v. Max Perlbach, R. Philippi u. P. Wagner, Leipzig 1889 [Grunau II]; Bd. III, hg. v. P. Wagner, Leipzig 1896 [Grunau III] (Die Preussischen Geschichtsschreiber des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. v. Verein für Geschichte von Ostund Westpreussen I−III), hier: Grunau II, S. 664. Johannes Schildhauer, Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, Weimar 1959 (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte [. . .] des Hansischen Geschichtsvereins 2), S. 176–180. Zur Einführung der Reformation in Stralsund siehe Johannes Schildhauer, Die Stadt im 16. Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Stralsund, hg. v. Herbert Ewe, Weimar 1984, S. 108–118. Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, Die Vernehmung der vom Stralsunder Oberkirchherrn Hippolytus Steinwer gegen die Stadt Stralsund [. . .] gestellten Zeugen, welche zu Greifswald abgehört wurden im Sommer 1527, Baltische Studien 17 (1859), S. 146–154,

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Aus den Aussagen der 1527 in Greifswald verhörten Zeugen sind zusätzlich Einblicke in ein dreitägiges Umzugsspiel zu gewinnen, das Hermen Fyrow, Schulmeister der St. Nikolausschule, zu Fastnacht 1525 mit seinen Freunden aufführte, wobei sie Verse deklamierend durch die Straßen zogen. Am ersten Tag zog sich Fyrow eine Albe und einen Chormantel an, setzte sich eine dreyfeltige Krone auf den Kopf und ritt als Papst verkleidet durch die Straßen, wobei er die Zuschauer mit der linken (statt der rechten) Hand segnete (und die Benediction von sich schlug mit der lincker handt). Sein Kämmerer begleitete ihn.39 Am zweiten Tag wappnete er sich in einen Harnisch und ritt in kayserlicher gestalt durch die Straßen. Am dritten Tag erschien der Schulmeister in der Gestalt Jesu Christi, machte ‘scheinbar’ (scheinlich) die kranken gesunth, die blinden sehend und die lamen gehend. Der von einem Kannengießer gespielte heilige Petrus ging ihm zur Seite.40 Vielleicht inszenierte der Schulmeister Fyrow ein Umzugsspiel wie ›Von Papsts and Christi Gegensatz‹ , das Niklaus Manuel 1523, wie eingangs erwähnt, auf der Berner Kreuzgasse aufführen ließ. Oder vielleicht dramatisierte er Manuels Vorlage, die von Lucas Cranach 1521 veröffentlichte Bilderkampfschrift ›Passional Christi und Antichristi‹ (s. o.). Mit seinem dreitägigen Umzugsspiel verspottete der Stralsunder Schulmeister auf jeden Fall zu Fastnacht 1525 öffentlich den Papst, den Kaiser und die römische Kirche. Königsberg/Kaliningrad 1524 Von einem wunderlichen Fastnachtspiel von Luther wider den Pabst, das die Bürger 1524 unter sich machten, berichtet ein Nachtrag zu einer Abschrift der ›Preußischen Chronik‹, die Johannes Freiburg um 1550 in Königsberg verfasste. Die Königsberger Lutheraner persiflierten in dem Spiel, lustig anzusehen, die Büberei des Papstes, seiner Kardinäle und seines ganzen Anhanges. Die grauen Mönche, die Königsberger Franziskaner, beschwerten sich deshalb bei dem Herrn Hauskomenthur, bei dem auf dem Schloss residierenden Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg-Ansbach aus dem Hause Hohenzollern. Er solle das ärgerliche Spiel verbieten oder zumindest untersagen, es öffentlich zu spielen und solle die Anstifter bestrafen. Sie boten auch dem Orden viel Geld deswegen zu geben. Doch Hochmeister Albrecht ging auf die Bestechungen der Franziskaner nicht ein. Er wies ihre Proteste mit der Erklärung zurück, man könnte den Bürgern ihre gewöhnlichen Fastnachtspiele nicht verbieten.41

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hier S. 152; ders., Die Fragestücke des Hippolytus Steinwer, Oberkirchherrn zu Stralsund, abgefaßt für die Vernehmung der von der Stadt Stralsund zu ihrer Vertheidigung gestellten, und im Sommer 1529 zu Greifswalde abgehörten Zeugen, Baltische Studien 18 (1860), S. 159–186, hier S. 168. Kosegarten 1859 [Anm. 38], S. 152f., 154. Ebd. Die Bürger aber unter sich machten ein wunderliches Spiel von Luther wider den Pabst, darinnen des Pabstes, seiner Cardinäle und ganzen Anhanges Büberei genugsam angezeigt, lustig anzusehen. Die grauen Mönche aber gingen zum Herrn Hauskomthur, kläglich bit-

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In seinem Kapitel über die Einführung der Reformation in Königsberg bezeichnet Fritz Gause die Beschwerde der Franziskaner über das 1524 aufgeführte Fastnachtspiel als »die einzige schwache Regung eines Widerstandes der alten Kirche gegen die neue Lehre.« Hochmeister Albrecht schritt auch nicht ein, als die Lutheraner 1524 einige Wochen nach der Fastnachtspielveranstaltung das Franziskanerkloster stürmten und plünderten.42 Im Gegensatz zu der zum Königreich Polen gehörenden Stadt Danzig, wo – wie im Folgenden zu zeigen ist – die Reformation zu blutigen Aufständen führte, verlief die Reformierung Königsbergs relativ friedlich. Nachdem der zum Herzog erhobene Hochmeister Albrecht am 6. Juli 1525 das Reformationsmandat verkündet und am 10. Dezember 1525 eine neue Kirchenordnung veröffentlicht hatte, wurde das Herzogtum Preußen der erste lutherische Territorialstaat in Europa und Königsberg die erste lutherische Hauptstadt.43 Danzig/Gdan´sk 1522 und 1525 Die ausführlichsten Beschreibungen anti-römischer Fastnachtspiele verdanken wir einem eingeschworenen Feind Martin Luthers und der Reformation, dem Dominikanermönch Simon Grunau. In seiner ›Preußischen Chronik‹ schildert er Fastnachtspiele – ihre Handlungen augenzeugenartig skizzierend –, die lutherische Karnevalsaktivisten 1522 und 1525 in Danzig, 1522 in Elbing und 1523 in einer nicht identifizierten preußischen Stadt, vermutlich in Thorn/Torun´, aufführten. Simon Grunau wurde um 1470 in Tolkemit bei Elbing geboren, eine Stadt, die der Deutsche Orden 1466 an den König von Polen abtreten musste. Obwohl er deutscher Herkunft war und ein populäres Deutsch schreibt, gelten seine Sympathien dem polnischen König. In seiner breit angelegten, fabulierfreudigen Chronik polemisiert er bei jeder Gelegenheit gegen den Deutschen Orden und seine Hochmeister. Nach einer 1520 angetretenen Pilgerreise nach Rom hat er vorübergehend in Elbing und dann offenbar zumeist im Danziger Dominikanerkloster gelebt. Grunau schrieb seine Chronik, die erste Gesamtdarstellung der Preußischen Geschichte, zwischen 1517 und 1525, hat sie aber durch Zusätze bis zu seinem Tode (um 1530) erweitert.44

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tend, das ärgerliche Spiel abzuthun, die Anfänger desselben zu strafen, oder ja nicht öffentlich zu spielen, boten auch dem Orden viel Geld deswegen zu geben. Sie wurden aber abgewiesen, sprechend, man könnte den Bürgern ihre gewöhnlichen Fastnachtspiele nicht verbieten. Die Königsberger Chroniken aus der Zeit Herzogs Albrecht. Nach den Handschriften zum erstenmal hg. mit einer literär-historischen Einleitung v. Friedrich Adolf Meckelburg, Königsberg 1865, unveränd. Neudruck Walluf 1976, S. 164 Anm. 15; s. a. Simon 158. Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. I: Von der Gründung der Stadt bis zum letzten Kurfürsten, Köln/Graz 1965, S. 209–237, hier S. 215. Janusz Małłek, Die Sonderrolle des Herzogtums Preußen in der Geschichte des territorialen Protestantismus der Frühen Neuzeit, in: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Garber, Manfred Komorowski u. Axel E. Walter, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 56), S. 209–218, hier S. 209, 217. Kurt Forstreuter, Grunau, Simon, in: Neue Deutsche Biographie, hg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1965, S. 216.

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Die Historiker Max Perlbach, R. Philippi und P. Wagner haben Grunaus ›Preußische Chronik‹ zwischen 1876 und 1896 in drei großen Bänden herausgegeben.45 Sie hielten Grunau für unzuverlässig und ihre Anmerkungen weisen ihm hunderte von Irrtümern und Fehlern nach. Die neuere Forschung urteilt hier vorsichtiger. Als Dominikaner war Grunau mit breiten Schichten der niederen Bevölkerung vertraut und verdankt seine Schreibart der jahrhundertealten dominikanischen Volkspredigt. Er verarbeitete volkstümliche Legenden und Erzählungen. Seine Chronik gilt heute als wertvolle kulturgeschichtliche Quelle der Reformationszeit, besonders weil Grunau verlorene ältere historische Schriften exzerpierte.46 Die lutherischen Fastnachtspiele schildert er, wie zu zeigen ist, aus der Perspektive des beharrlich an der römischen Kirche festhaltenden Dominikaners. Versuche, die Reformation in Danzig einzuführen, brachten drei Machtgruppen in Konflikt miteinander. Mit etwa 40000 Einwohnern war Danzig die größte Stadt im Herrschaftsbereich des polnischen Königs. Ihren wirtschaftlichen Reichtum und ihre politische Macht verdankte die Stadt jedoch tausenden, niederdeutsch sprechenden Hansekaufleuten. Der polnische König Zygmunt I. war ein Erzfeind der Reformation und seit 1520 verbot er wiederholt und unter Androhung schwerster Strafen die Einfuhr und Verbreitung lutherischer Schriften. Danzigs Bürger und Handwerker zogen aus Luthers Lehre vom gleichberechtigten Priestertum aller Gläubigen, wie in anderen Hansestädten, demokratische Konsequenzen. Sie suchten die absoluten Machtansprüche der Ratsaristokratie zu begrenzen und Bürgervertreter in den Rat zu wählen. Diese Krisen und Konflikte bilden den Hintergrund der von Grunau beschriebenen Fastnachtspiele.47 In der heiligen fasttnachtt von 1522, berichtet Grunau, belustigten sich die Preußen mit fasttnachtspiell. Die Danziger verkleideten einen Darsteller als Luther. Ihm entgegen führten sie Papst, Bischöfe, Kardinäle, Priester und Mönche, welche die bei den Katholiken üblichen Glaubenshandlungen verrichteten. Als Luther das sah, protestierte er lautstark und fragte, ob das evangelisch sei. Sein Geschrei rief einen haufen Lutheraner herbei. Sie verbrannten Bücher, wobei sie mit Fingern auf den Papst und sein Gefolge wiesen und gegen die Geistlichen gerichtete Spottverse aufsagten.48 Das erzürnte den spielbabst, also Papst Leo X., der Luther bei (verlöschten) Kerzen und Glockengeläut exkommunizierte.49 Luther revangierte sich dementsprechend. Der spielkeiser – gemeint ist Karl V. – trat den römischen Geistlichen zur 45 46

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Siehe Grunau [Anm. 36]. Arno Mentzel-Reuters, Von der Ordenschronik zur Landesgeschichte – Die Herausbildung der altpreußischen Landeshistoriegraphie im 16. Jahrhundert, in: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit [Anm. 43], S. 581–637, hier S. 610–617. Für Einzelheiten verweise ich auf das Kapitel ‘The Reformation and the social and political movements connected with it’, in: Edmund Cies´lak u. Czeław Biernat, History of Gdan´sk, transl. Boz˙enna Blaim and George M. Hyde, Gdan´sk 1988, S. 119–130. Gemeint ist die Verbrennung der päpstlichen Rechtsbücher und der Bannandrohungsbulle durch Luther und Wittenberger Studenten am 10. Dezember 1520. Siehe Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, S. 403–406. Luther im Bann, Brecht [Anm. 48], S. 406–412.

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Seite und sprach die Reichsacht über Luther aus.50 Mehr wussten die Danziger nicht über Luthers Schicksal, weshalb die Karnevalisten – oder vielleicht der böswillige Grunau – einen sonderbaren Schlussakt erfanden. Luther wirft die Kutte ab und gesellt sich unerklärterweise zu losen stradioten, womit Zeitgenossen leichte Reitertruppen aus Albanien meinten.51 Dann kam der Teufel und führte Luther weg, vermutlich in die Hölle.52 Dieses Danziger Fastnachtspiel ist das einzige, von dem wir eine zweite Meldung besitzen. Der im entfernten Leslau residierende Bischof Matthias von Kujawien, zu dessen Diözese Danzig gehörte, amtierte 1523 als Kanzler des polnischen Königs Zygmunt I. in Krakau. Am 5. Februar 1523 berief er die Danziger Gesandten in seine Kanzlei, um sich über Danziger spiele in der fastnacht zu beschweren. Als Veranstalter nennt er eine gesellschafft Reinholdi geheißen. Damit meinte er die Reinholdsbrüder, auch Reinholdsbank genannt, eine Danziger Bruderschaft, die sich in dem neben dem Rathaus gelegenen Artushof zu versammeln pflegte. Der Danziger Artushof, der sich nach König Artus und seiner Tafelrunde nannte, war im 14. Jahrhundert erbaut worden. Zu den Reinholdsbrüdern gehörte 1522 der Augsburger Maler Michael, ein Schüler Dürers, der als einer der ersten die Fastenbestimmungen brach und öffentlich die kirchlichen Vorschriften verspottete.53 Im Artushof feierten die Reinholdsbrüder Fastnacht mit einem Tanz am Fastnachtsdienstag. Ihre Fastnachtspiele haben die Brüder jedoch vermutlich auf dem vor dem Artushof liegenden Marktplatz, dem sogenannten Langen Markt aufgeführt. Wenn Bischof Matthias sich über leichtfertige Fastnachtspiele beklagt, in denen die Brüder mönche, cardinäle, ablaßbrieffe, den geistlichen Stand und die Heiligen verspotteten, meinte er offenbar das von Grunau beschriebene Fastnachtspiel der Lutherischen secte. Er beschwert sie jedoch zusätzlich über spiele in der fastnacht, in denen sich die Reinholdsbrüder über den Rat, andere Würdenträger und sogar die Königl. Majestät lustig gemacht hätten. Offenbar führten die Reinholdsbrüder nicht nur 1522 Fastnachtspiele auf. Die Danziger Gesandten fühlten sich von den Vorwürfen des Bischofs nicht sonderlich betroffen. Die 50 51 52

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Luther und der Wormser Reichstag von 1521, Brecht [Anm. 48], S. 413–453. Thomke [Anm. 2], S. 1032. Von sonderlichem Fasttnachtspiell in Preusen. In diesem jahre machte man in des koniges stedten in der heiligen fasttnachtt solche freude. Die Dantzker machten einen munch wie Lutter, sie fuhrten ihm entgegen babstt, bischof, cardinall, pfaffen, munche und solches volckes viell. Der babst und die seinen brauchten solche stucke im spiell, wie bei den Catholischen ubelich. So balde Lutter das sahe, schrei ehr wieder solchen handell, ob das evangelisch were. Von diesem geschrei vorsamleten sich ein haufen, die vorbrandten bucher und zeigeten mitt fingern auf den babstt und die seinen, und ein jeder sagte seine reime auf die geistlichen. Dadurch wardtt der spielbabstt zornig, der bannete Lutterum, vorschoss ihn mitt lichten, vorlautte ihn mitt glocken; solches thett ihm auch Lutter hingegen. So war da ein spielkeiser, der nahm sich der geistlichen an und thett Lutterum in die achtt. Auf solches warf Lutter die kappe abe und sich zu losen stradioten gesellete; indem kam der teufell und fuhrte ihn wegk. Dies spiell war kunstlich angerichtt, auch sehr lecherlich, aber spottlich auf den babstt. Grunau II [Anm. 36], S. 646f.; Simon 76. Paul Simson, Der Artushof in Danzig und seine Brüderschaften, die Banken, Danzig 1900; Paul Simson, Geschichte der Stadt Danzig, Bd. II, 1517–1626, Danzig 1918, S. 50.

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Reinholtsbrüder seien junge Leute, erwiderten sie, denen man ihre freude und faßnachtspiele, die ja auch in Rom veranstaltet würden, gönnen müsse.54 Unter Februar 1525 beschreibt Grunau ein zweites Danziger Fastnachtspiel, Von einem fasttnachtspiell uber ihren burgemeister, das die Forschung bisher übersehen hat. Es setzt den Aufstand der Lutherfaktion voraus, der sich 1525 an der Kirchenpolitik des Rats entzündete. Nachdem sich der Rat geweigert hatte, Bürger in den Rat aufzunehmen und lutherischen Pfarrern verbot, das Evangelium zu predigen, radikalisierte sich die Lutherpartei unter Führung des Bootsmanns Hans Schulz und des Juristen Johannes Wendland, den sie zum Bürgermeister erwählte. Am 22. Januar 1525 brach der offene Aufruhr aus. Wie in Stralsund plünderten die Lutheraner Kirchen und Klöster, darunter das Dominikanerkloster, wo Simon Grunau vermutlich an seiner Chronik arbeitete. Von Februar an ließ der von Johannes Wendland geleitete neue Rat Meßgewänder und Silberschätze aus Kirchen und Klöstern einziehen.55 Diese Ereignisse dramatisierte das Danziger Fastnachtspiel von 1525. Als die fasttnachtt heran kam, schreibt Grunau, richtete man ein spiell an, in welchem ein Kaufmann den Bürgermeister Johannes Wendland spielte. Dieser nahm viel kaseln und andere clenodia aus den kirchen, exportierte sie nach Westen, wo er sie um die Hälfte ihres Wertes verkaufte, um mit dem erlösten Geld seine Schulden zu bezahlen. In dem spiele bot ein Akteur kaseln feil, der andere wollte sie ihm abkaufen. Sie gerieten jedoch in Streit und stießen die schändlichsten Flüche auf Wendland, ihren Bürgermeister aus, die, wie Grunau glossiert, von der fasttnachtt für ein evangelium gehalten wurden. Denn es war ihnen sehr unangenehm, dass sie den Kirchen und Klösten zurückerstatten sollten, was sie daraus genomen.56 Wenn Grunau zu 54

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Es wäre auch bey uns ein etzliche, nicht wüste S. Gn., was für eine gesellschafft Reinholdi geheißen, die viel unfuges triebe und spiele in der fastnacht anrichtete, auch nicht des rahts und officialis spareten, sondern einen und den andern fürnemen, auch Königl. Majestät nicht verschoneten, wie denn vor 2 Jahren geschehen, daß man etzliche mönche, cardinäle, ablaßbrieffe etc. nicht allein zu verachtung geistlichen standes und würdigkeit, sondern auch zu hohnschlagunge gottes und seiner heiligen in leichtfertigen und fastnachtspielen vorgenommen hätte. Welches alles, wie es S. Gn. achtete, ein großenteils auß der Lutherischen secte herfließe, und doch alles ungestraffet hingienge. Auf diesen Vorwurf erwiderten die Danziger: Was betreffe die Reinholtsbrüder, hat man auch glimpfflich verantwortet, also das es junge leute wären, die zu zeiten ein leichtfertiges und sonderlich in der faßnacht, zu welcher zeit alten herkommens ein jeder zu mehr freuden, auch zu zeiten zu kleiner thorheit geneiget, begiengen, wie das auch in anderen [orten] geschehen kann. Denn, wie wir berichtet, daß auch zu Rom viel dergleichen freude und faßnachtspiele in den gezeiten getrieben werden. Aus Stanislaus Bornbach, ›Historia vom Auffruhr zu Dantzig 1522–1526‹ (1587), zitiert aus Johannes Bolte, Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert, Hamburg und Leipzig 1895 (Theatergeschichtliche Forschungen 12), S. 1f.; s. a. Simon 76. Sonja Kerth, der teufel het sie verblendt. Der Danziger Aufstand 1525/26 im Spiegel zweier zeitgenössischer Dichtungen, Studia Germanica Gedanensia 9 (2001), S. 11–21, hier S. 12f.; Gottfried Schramm, Danzig, Elbing und Thorn als Beispiele städtischer Reformation (1517– 1558), in: Historia Integra. FS für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, hg. v. Hans Fenske, Wolfgang Reinhard u. Ernst Schulin, Berlin 1977, S. 125–154, hier S. 140f.; Cies´lak u. Biernat [Anm. 47], S. 125. Von einem fasttnachtspiell uber ihren burgemeister. Als die fasttnachtt heran kam, richtete

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glauben ist, hatte dieses Fastnachtspiel eine antilutherische Tendenz. Die Karnevalisten verspotteten den von Bürgermeister Wendland angestifteten ‘Kirchensturm’. Das Regiment Johannes Wendlands und des lutherischen Rates sollte nicht lange bestehen. Im April 1526 erzwangen sich der polnische König Zygmunt I. und seine Truppen Eingang in die Stadt Danzig. Zygmunt setzte 150 Führer der lutherischen Bewegung gefangen. Im Juni und Juli liess er sieben, darunter Johannes Wendland und Hans Schulz, auf dem Langen Markt hinrichten, an der Stätte also, wo die Reinholdsbrüder vermutlich ihre Fastnachtspiele aufgeführt hatten. Zygmunts neue Verfassung vom Juli 1526 setzte den alten Rat wieder ein und machte ihn unabhängig von der Bürgerschaft. Die von der Bürgerschaft erstrebte Reformierung der Kirchen war jedoch nicht aufzuhalten. »In Danzig benutzte der Rat den ihm durch Sigismunds Reformen verbrieften Anteil an der Kirchenaufsicht, um behutsam den Boden für eine Reformation zu ebnen.«57 Elbing/Elblag 1522 Grunau beschreibt das 1522 in Elbing veranstaltete Fastnachtspiel als einen Umzug, der aus drei Spielergruppen bestand. Die erste Gruppe dramatisierte den bekannten Ablassstreit von Herbst 1517 bis Sommer 1518.58 Hinter einem ‘grauen Mönch’, also einem Franziskaner, standen Teufel, die ihm einbliesen, wie er den ablass und gnadenbrief zu verkaufen hatte. Er rief wiederholt, legett [das Geld] in den kasten. Der von Luther angegriffene Johannes Tetzel, der berüchtigste vom Papst beauftragte Ablasshändler, war bekanntlich ein Dominikaner. Der Dominikaner Grunau hat ihn vielleicht absichtlich durch einen Mönch aus dem von ihm verachteten Barfüsserorden ersetzt. Als der Zug vor das rahtthauss kam – gemeint ist das am Markt liegende altstädtische Rathaus – verurteilte der spiell-Lutter den ablassprediger: man solle ihn ertränken. Der Franziskaner lief jedoch weg und deshalb vertrieben andere Karnevalisten – wenn Grunau zu trauen ist – den spiell-Lutter unter allgemeinem Gelächter. In der zweiten Gruppe jagten lüsterne Domherren Frauen nach und boten ihnen teure Pelzkleider vor ein nachttlager an. In der dritten Gruppe tummelten sich pfaffen, wobei es vermutlich die Priester mit stoltzen geberden waren, die von Knechten begleitet auf Pferden ritten oder sich an spielfrauen vergriffen, die neben ihnen auf ihren Pferdekutschen saßen. Vermummte Fastnachtsaktivisten spielten offenbar so-

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man ein spiell an, darein war ein kaufmann, der representirte die person ihres burgemeisters Weittlandtt; den dieser nahm viel kaseln und andere clenodia aus den kirchen, fuhrte sie nach westen, vorkaufft sie umb halb geldtt und es bohieltt und bezalte damitt seine schuldtt. In dem spiele hette der eine kaseln feiell, der ander woltt sie keufen. Indem wurden sie uneins, fuhrten die schendlichsten worte auf Weittlandtt, ihren burgemeister, und wardtt von der fasttnachtt vor ein evangelium gehalten; den es thett ihn sehr wehe, das sie den kirchen und klostern solten wieder geben, was sie daraus genomen etc. Grunau III [Anm. 36], S. 130. Schramm [Anm. 55], S. 141, 147; Kerth [Anm. 55], S. 13; Cies´lak u. Biernat [Anm. 47], S. 128–130. Brecht [Anm. 48], S. 173–230.

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wohl die Domherren wie die Priester, wahrscheinlich ohne dabei einstudierte Verse aufzusagen.59 Das von Grunau geschilderte Umzugsspiel ist, soweit ich sehe, das erste Anzeichen dafür, dass die Lutherfaktion in Elbing bereits 1522 aktiv war. Zu durchgreifenden Versuchen, die Elbinger Kirchen zu reformieren, kam es erst Anfang 1525. Vom Aufstand im benachbarten Danzig ermutigt, erhoben sich Handwerker und Händler vom 2. bis 6. Februar gegen den Stadtrat, setzten die meisten Räte ab und erwählten lutherisch gesinnte Mitglieder aus ihren Reihen. Im Gegensatz zu Danzig verlief diese Erhebung jedoch friedlich. Der aus Danzig berufene ehemalige Karmelitermönch Matthias Bienwald führte den lutherischen Gottesdienst ein. Wie in Danzig kam der polnische König Zygmunt I. mit seinem Heer im Frühjahr 1525 nach Elbing und setzte den gestürzten Stadtrat wieder ein, jedoch ohne die Lutheraner zu bestrafen. Unter dem Bürgermeister Jakob von Alexwangen führte der wiedereingesetzte Rat von den im August 1526 erlassenen Zygmunt-Statuten (Statuta Sigismundi) nur den Teil durch, der das Regiment des patrizischen Rats sicherte. Er ignorierte die gegen die Reformation gerichteten Bestimmungen und ließ die lutherischen Kirchenreformen bestehen, ohne öffentlich mit der römischen Kirche zu brechen. Von 1526 an erhielt der lutherische Gottesdienst in Elbing – noch früher als in Danzig – einen halböffentlichen Status.60 Preußen 1523 Unter der Überschrift Von loblichem fasttnachttspiell nach Lutterischer weise beschreibt Simon Grunau ein 1523 in einer preußischen Stadt aufgeführtes Umzugsspiel ohne den Ort zu identifizieren. Vielleicht fand die Aufführung, die Grunau selbst gesehen zu haben scheint, in der drittgrößten Stadt des polnisch-preußischen Königreichs, in Thorn/Torun´ statt. Jedenfalls handelte es sich um eine Stadt, die ihre Kirchen 1523 bereits weitgehend reformiert hatte. Denn laut Grunau haben Lutteri59

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Elbinger fasttnachtt. Die vom Elbinge machten ein ander spiell. Sie hetten ein groen munch, hinder dem stunden die teufell, die bliesen ihm ein, wie ehr den ablass und gnadenbrief vorkeufen solde, der rufte vor und vor: legett in den kasten, und solcher lecherlichen und lesterlichen narheitt viell. Als sie vor das rahtthauss kamen, da gab der spiell-Lutter das urteill uber den ablassprediger, man sollte ihn vorseuffen; aber ehr entlieff, darumb vortrieben andere den Lutter, und gieng lecherlich zu. Thumheren. In diesem spiell waren auch thumherren, die lieffen umbher und jagten weiber, bothen ihn vor ein nachttlager eine kursche vor 20 m., der ander mehr weniger, darnach es ihm ins maull kam. [. . .] In diesem spiell waren auch viell pfaffen, etliche in demutigen, etliche in stoltzen geberden, etliche mitt knechten und pferden, andere mit schonen frauen im wagen. Da war singen, lachen, schemlich greiffen, auch viell welegen und niederlegen der spielfrauen. Grunau II [Anm. 36], S. 647f.; Simon 130 (unvollständig). Marian Pawlak, Die Geschichte des Elbinger Gymnasiums in den Jahren 1535–1772, in: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit, hg. v. Sabine Beckmann u. Klaus Garber, Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 371–394, hier S. 372f.; Schramm [Anm. 55], S. 141f.

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sche pfaffen, also evangelische Pastoren, die Aufführung veranlasst und geleitet. Wie 1522 in Stralsund (s. o.) verspotteten die Lutheraner Mönche und Nonnen durch den fastnächtlichen Rügebrauch des Pflugziehens. Funf par munche – offenbar zehn als Mönche verkleidete Karnevalisten – schleppten den Pflug durch die Straßen. Die ehelosen Mönche waren, wie erwähnt, durch die Reformation doppelt ‘nutzlos’ geworden. Neu gegenüber Stralsund waren hier die vermutlich ebenfalls von Karnevalisten gespielten nonnen, die mitt kleinen kindern hinter dem Pflug herliefen. Dem Rügebrauch entsprechend haben diese ‘ledigen Frauen’ ihr ‘Feld’ durch ‘Furchenziehen’ – wie die kinder bezeugen – erfolgreich, wenn auch skandalös, beackert. Fastnachtsaktivisten verspotteten die ‘Mönche und Nonnen’ mit Liedern und Versen (auf diese man sang und reimete). Die öffentliche Anprangerung der durch die Straßen ziehenden ‘Mönche und Nonnen’ fiel jedoch hauptsächlich einem spiellprediger zu. Für diese Solorolle engagierten die Lutterischen pfaffen laut Grunau einen in Narrenreden versierten Karnevalisten (der war mitt viell schalksreden gewiegett). Dieser Narr hielt eine Spottpredigt, die Grunau in 27 Zeilen zitiert – nach reimenden oder halbreimenden Vierhebern zu urteilen – teilweise wörtlich. Vermutlich deklamierte der spiellprediger seine Spottpredigt, wenn die ‘Mönche und Nonnen’ mit ihrem Pflug an Straßenkreuzungen und Plätzen halt machten. Anfangs bittet der spiellprediger die Zuhörer, ein Ave Maria zu beten, damitt ehr die wahrheitt woll reden kundte. Unter Grunaus Regie spricht er jedoch eingangs verächtlich von Martin Luther und seinem ‘bösen Herzen’. Er habe diejenigen schändlich verraten, die, wie er, die Kutte tragen. Die Vorwürfe, die er im Folgenden gegen Mönche, Nonnen und pfaffen erhebt, entsprechen den bekannten Angriffen der Lutheraner gegen die römischen Geistlichen. Weil sie zu faul sind zu arbeiten, gehen sie ins Kloster. Sie verfluchen diejenigen, die ihnen Abgaben (zinsern) vorenthalten, obwohl sie kein Anrecht darauf haben und als wüste bachanten das Geld ohnehin vertrinken. Sonntags singen sie ihren kreutzgesang, nur um sich in die besten Mäntel kleiden zu können. Derjenige, der eine Messe singt, täte besser, das Vieh zu hüten. Unter Bannandrohung sammeln sie Gelder ein, die biedere Leute im Schweiße des Angesichts verdienten. Wenn der pfaffe [. . .] einem armen burger seine zinsern auf Wucher leiht, muss dieser ihn ein Jahr lang kostenfrei und bis zum Erbrechen reichlich verpflegen. Luther hat die Laien von den pfaffen befreit, die man alle ertränken soll. Mitt solchem war das spiell aus, mit dieser Spottpredigt beendete der spiellprediger das Fastnachtspiel, wobei die städtische obrigkeit ihn unterstützte.61 Von 61

Von loblichem fasttnachttspiell nach Lutterischer weise. [. . .] Das fasttnachttspiell gieng nach angebung der Lutterischen pfaffen also an. Es giengen funf par munche vor dem pfluge, und nonnen mitt kleinen kindern folgeten nach; auf diese man sang und reimete, und machte es gahr loblichen. So war einer bestaltt, der war mitt viell schalksreden gewiegett, der solte Lutterisch auf die munche und nonnen thun. Da schrien die Lutterischen pfaffen auf das folck, man solte stiell sein und horen die vorreterei der munche. Da schwieg man, da bahtt der spiellprediger im anfange mitt vielen hohnreden, man solte ein ave Maria sprechen, damitt ehr die wahrheitt woll reden kundte, und sprach: o gott dieser heiliger fastt-

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diesem letzten von Grunau beschriebenen Fastnachtspiel – ein den Rügebrauch des Pflugziehens parodierendes Umzugsspiel – zeichnete der Dominikaner offenbar eine Reihe von Reimpaaren auf, die der spiellprediger vorgetragen hatte. Schlussbetrachtung Zum gleichem Fastnachtstermin wie die Stralsunder – Fastnachtsdienstag und Aschermittwoch 1525 – inszenierten etzliche Bürger und Bürgerssöhne der Stadt Zwickau eine Treibjagd auf ‘Geistliche’. Sie haben etzliche Hasennetze uffm Markt allhie aufgestellt, berichtet Peter Schumann in seinen Zwickauer Annalen, do haben sich etzliche wie Munche, etzliche wie Nonnen bekleidt, die haben sie also in die Netze gejagt mit großem Geschrei, wie man sonst pflegt uff der Jagd.62 Eine Woche später machten die Zwickauer Lutheraner Ernst aus dem Spiel: sie vertrieben die Franziskaner aus der Stadt.63 Am 17. Februar 1521, Sonntag Invocavit, beschreibt Martin Luther in einem Brief an Georg Spalatin in Worms einen sonderbaren Umzug, den Wittenberger Studenten vor kurzem in der Fastnacht veranstaltet hätten. Sie trieben einen jungen Karnevalisten, der sich pompös als Papst verkleidet hatte, mit Spottliedern durch die

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nachtt, du weistt, wie das evangelium Lutteri sagett; ob ehr gleichs selbst ein munch istt und tregett die kappe, so bubett, schelckett und vorretertt ehr doch alle die, welche kappen tragen; warumb, das weiss sein bose hertz. Durch seine lehr aber sein zu schelten munche und nonnen, so sie nur umb fauler tage halben die kappen und kappitzen haben angenomen; idoch istt es in freier wilkure eines jedern, ihn zu solchen tagen zu helfen. Zu ihren zinsern dorfen sie kein recht gebrauchen, sondern jederm zu willen saufen; wer das nichtt kan oder will, der muss hohn-, spott-, fluchrede horen allzu viell. O gott Abraham, a gott Isaac, o hoher gott von Jacob, was sage ich von unsern pfaffen! den sie unsere bachanten sein, in einem geschmietzten kittell aussen landes vordiebett. Sie singen am sonntagk einen freien kreutzgesang, auf das sie im viertelljahr tragen ein hasucke vom besten gewantt. In kurtzen jahren wirdtt ehr gefirnitz, und komtt wieder her Ludwich, ehr listt eine messe; es were ihm besser, ehr hutete das viehe. Durch gutter leute schweiss und blutt vorsamlen sie sich ein geldtt; so mans so balde nicht gibtt, ehr bannett, donnertt und schillt. Die zinser ehr einem armen burger auf freundtliche bitte und wucher thutt leihen; uber das muss ehr ihn ein jahr lang fretzen, des ehr sich viell mahl thutt bospeien. So istt es jo zu ein vorreterlich ding: seinem gelde ohne schaden supponirt ehr sich sein weib oder jo sein kindtt. O gott, du es weistt, das es jo die bitter wahrheitt sei, das unsere pfaffen uns leien vorraten, [die] hatt Lutter gemachtt frei. Gott fuge es umb die marter sein, das sie im jahr alle mussen ertrenckett sein etc. In diesem predigen vorloren sich die pfaffen, wie etwan die Juden, da sie wolten die ebrecherin steinigen. Mitt solchem war das spiell aus. Der prediger beschwur es, das ehr nach seinem vorsatz, ohne niemandts anhalten, solches geredett hette. [. . .] Idoch umb ernstt willen satzte man den spiellprediger ein; ihrer viell vormeinten, das ehr viell leiden solte, aber die obrigkeit half ihm aus ohne pein. Grunau II [Anm. 36], S. 664–665; Simon 464 (unvollständig). Handschrift der Zwickauer Ratsschulbibliothek, zitiert nach Otto Clemen, Bemerkungen zu Deutschen Einblattholzschnitten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Gutenberg Jahrbuch 1933, S. 111–116, hier S. 115. Robert W. Scribner, Reformation, Karneval und die ‘verkehrte Welt’, in: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), hg. v. Richard van Dülmen u. Norbert Schindler, Frankfurt a. M. 1984, S. 117–152, 406–412, hier S. 145.

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Straßen. Als sie auf den Wittenberger Marktplatz kamen, drohten sie ihren ‘Papst’ in den Stadtbach zu werfen. Auf ähnliche Weise jagten sie als Kardinäle, Bischöfe samt ihrem Gefolge vermummte Studenten durch die Wittenberger Straßen.64 Das Zwickauer Schau-Spiel und der Wittenberger Schauzug zählen zu den vierundzwanzig karnevalesken Vorfällen, die Bob Scribner in seinem Aufsatz ›Reformation, Karneval und die ‘verkehrte Welt’‹ untersucht.65 In diesem grundlegenden Aufsatz verweist Scribner erstmals auf die wichtigen Zusammenhänge zwischen Karneval oder Fastnacht und der Reformation. Neunzehn der von ihm behandelten Vorfälle ereigneten sich in den Jahren 1520 bis 1525, eine Zeit, »in der«, wie Scribner nachweist, »die Reformation durchaus als spontane Volksbewegung gelten kann« (S. 117). Die hier rekonstruierten Fastnachtspiele bestätigen seinen Befund. In den ersten Reformationsjahren, 1521–1525, verspotteten städtische Karnevalisten den Papst und die römischen Geistlichen und manifestierten dadurch ihre Begeisterung für die lutherischen Reformen. In seinem Aufsatz erwähnt Scribner sechs der – mit Ausnahme Nürnbergs – in Chronikberichten attestierten Fastnachtspiele (Stralsund, Danzig, Elbing, Stadt in Preußen, Königsberg, S. 118f.), die der vorliegende Beitrag ausführlicher untersucht und soweit wie möglich kontextualisiert. Damit folge ich dem Wunsch des zu jung verstorbenen Historikers nach »detailliertere[n] Studien« (S. 117), welche Verbindungen zwischen der Reformation und der fastnächtlichen Volkskultur untersuchen und die Zahl der Belege vermehren. Obwohl Peter Schumann die Zwickauer Hasenjagd auf ‘Mönche’ und ‘Nonnen’ als Fastnachtspiel bezeichnet, lag der Treibjagd sicherlich kein Skript zugrunde. Auch bei den antipäpstlichen Mummereien der Wittenberger Studenten handelte es sich offenbar um einen Umzug ‘ohne Text’. Gegenüber Scribner gilt meine Aufmerksamkeit prinzipiell textierten Fastnachtspielen: ein Verfasser schrieb die Spielverse, Akteure lernten ihre ‘Sprüche’ auswendig, der Spielleiter hielt Proben ab und leitete die Aufführung. Doch auch bei den von mir rekonstruierten fastnächtlichen Spielen gibt es Fälle, wo, wie Schindler konstatiert, zwischen dem Fastnachtspiel als »festgefügte[r] literarische[r] Gattung« und »Stegreiftheater mit loser Inszenierung« nicht deutlich zu unterscheiden ist.66 Wenn sich als Mönche vermummte Stralsunder (1522) und 64

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Iuuentus nostra his diebus bacchanalibus nimis ludicre papam personatum circumuexerunt sublimen & pompaticum, tandem in foro ad torrentem proiecturis similes fugitiuum cum cardinalibus, episcopis familiisque suis in diuersas partes oppidi disperserunt & insecuti sunt, festiuo valde & arguto inuento. D. Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, Bd. 2, unveränd. Neudruck der Ausg. Weimar 1931, Weimar/Graz 1969, S. 265–269, hier S. 266. Ich zitiere die erweiterte deutsche Übersetzung in: Volkskultur [Anm. 63], hier S. 118, 120. Die englische Originalfassung, Reformation, carnival and the world turned upside-down, erschien 1978 in Social History 3, S. 303–329. Nachgedruckt in: Städtische Gesellschaft und Reformation. Kleine Schriften 2, hg. v. Ingrid Ba´tori, Stuttgart 1984 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 12), S. 234–264 und in Robert W. Scribner, Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, hier S. 71–101. Schindler [Anm. 30], S. 181.

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preußische Martinianer (1523) an den Pflug spannten, folgten sie vermutlich keinem Spielskript. Wenn es einstudierte Texte gab, waren es offenbar die Lieder und Verse, mit denen Karnevalisten die pflugziehenden ‘Mönche’ verspotteten. Obwohl Toniges Hämel, der fünfte Stralsunder Zeuge, behauptet ‘Verse gehört zu haben’ (hort reymen67) veranstaltete der Schulmeister Hermen Fyrow 1525 seine fastnächtlichen antipäpstlichen Umzüge wohl ohne einstudierten Text. Im Gegensatz zu den in Häusern gespielten Einkehrspielen des Nürnberger Typs, wurden die hier rekonstruierten Fastnachtspiele im Freien aufgeführt. Es handelte sich also um öffentliche Aufführungen, die der Rat vermutlich zu genehmigen hatte. Nach der Aufführungsform können wir zwischen Standort- und Umzugsspielen unterscheiden. Wie in Bern, präsentierten »Bürgerssöhne« Standortspiele gewöhnlich auf dem Marktplatz, wo die Stadt auf öffentliche Kosten eine Pfosten- und Bretterbühne errichten ließ. Zuschauer drängten sich um das brüge genannte Podium oder saßen auf Tribünen. Bei Umzugsspielen erhöhte sich die Zahl der Zuschauer, weil die Truppe an den auf Straßen und Plätzen versammelten Bürgern vorüberzog. Vielleicht wurden die Zuschauer dabei auch »stärker ins Geschehen einbezogen«, wie Scribner vermutet, besonders wenn sie sich dem Umzug anschlossen.68 Warum wählten junge Lutheraktivisten das Medium Fastnachtspiel, um den Papst und die römische Kirche anzugreifen und die lutherischen Reformen zu propagieren? Mit Antworten auf diese Frage beschließe ich meinen Beitrag. Was die Fastnachtszeit betrifft, finden wir generelle Antworten bei Scribner, der eine Reihe von Thesen aufstellt, warum sich Störaktionen gegen die römische Kirche zuerst und am schärfsten im Karneval manifestierten. Er fasst seine Erklärungen unter dem »einheitsstiftende[n] Thema« der »verkehrten Welt« zusammen: »Die Rolle der Jugend bestand darin, die Werte der vorangegangenen Generation umzukehren; im Spiel wurde die irdische Welt auf den Kopf gestellt, und das Rebellionsritual drehte die Strukturen von Hierarchie und Herrschaft um; Karneval bot eine Form der Kommunikation, die alternativ war zu jener etablierten Ordnung [. . .], und die rituelle Entweihung stürzte die gegebene Rangordnung geheiligter Personen und Dinge um«.69 Diese Erklärungen sind auf die hier rekonstruierten Fastnachtspiele anwendbar, die, soweit ich sehe, alle von jungen Männern aufgeführt wurden. In den Städten hatten sich geistliche und weltliche Schauspiele seit Generationen als Medien der öffentlichen Kommunikation etabliert. Das öffentliche, auf dem Marktplatz präsentierte Fastnachtspiel stand den gesellen zur Verfügung, die gegen den Papst und die römische Geistlichkeit agitieren und die lutherische Lehre verbreiten wollten. Textlose Rügebräuche wie das Pflugziehen funktionierten die Lutheranhänger um, indem sie ‘Mönche’ an den Pflug spannten, die – ehelos wie unverheiratete megde – mit der Reformation ‘nutzlos’ geworden waren. Die beliebten fastnächtlichen Mummereien und Umzüge setzten sie ein, um den Papst, seine Kar67 68 69

Kosegarten 1859 [Anm. 38], S. 154. Scribner [Anm. 63], S. 127. Ebd., S. 151.

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dinäle und Bischöfe zu verspotten. Die Zuschauer, die diese Spiele und Umzüge sahen und hörten, werden noch lange über die Vorstellungen gesprochen haben. Durch gemeinsam erlebte Aufführungen fand die antirömische Polemik Eingang in den öffentlichen Diskurs der Stadt. Die Zuschauer erzählten Freunden von ihrem Erlebnis und – wie Simon Grunaus Berichte zeigen – verbreiteten Gerüchte über das von ihnen gesehene und gehörte Spektakel. Das gilt besonders für Stadtbürger – Scribner nennt sie »simple folk« –, die reformatorische Flugschriften nicht lesen konnten. Weil Fastnachtspiele mit oder ohne Skript die komplexe Ideologie der Reformation vereinfachten, vermochten sie die lutherische Lehre zu popularisieren und dem ‘einfachen Menschen’ verständlich zu machen. Durch öffentliche Aufführungen erhielt die neue Lehre die erwünschte Breitenwirkung. »Ein wichtiges Charakteristikum des Karnevals,« konstatiert Scribner (S. 143), »besteht in seiner Art und Weise, die soziale Distanz zwischen denen, die er miteinander in Kontakt bringt, aufzuheben.« In fastnächtlichen Spielen und Mummereien vermischten sich Bürger verschiedener Schichten. Für junge Lutherenthusiasten war das »Fest der Spiele«, wie Pfrunder die Fastnacht nennt,70 der ideale Zeitpunkt, die römische Kirche zu verspotten und die lutherische Lehre zu verbreiten. Am aktivsten und erfolgreichsten waren die fastnächtlichen Lutheraner, wie dieser Beitrag zeigt, in den ersten Reformationsjahren. Der neue Glaube schaffte die Fastenzeit ab und damit gingen im Laufe der Zeit auch die Fastnacht, ihre Spiele und karnevalesken Störaktionen zu Ende. In Städten und Fürstentümern, die offiziell zum lutherischen Glauben übertraten und wo sich der Protestantismus als kirchliche Institution etablierte, haben Obrigkeit und lutherische Pastoren die Fastnachtsbräuche kritisiert und schließlich als »heidnische Unsitten« verboten. Weil Luther die Fastengebote missachtete und in den Tischreden seiner letzten Jahre fastnächtliche Ausschweifungen rügte, betrachteten seine Nachfolger Luther als Gegner der Fastnacht.71 Der Joachimsthaler Prediger und Lutherbiograph Johann Mathesius blickt entrüstet auf die Fastnachtsfestlichkeiten zurück. Luther habe das alte heuchlerische Fasten samt der Fastnacht abgeschafft. Es war ein recht Heidnisch Fest [. . .] /, moniert Mathesius, da man [. . .] die hertzen/ mit sauffen/ vnd wüstem vnd wildem schwelgen beschweret. Es waren ausgelassene Narrentage, fügt er hinzu, wo man auch allerley vnzucht triebe/ vnnd die alten Megde in pflug spannete [. . .].72 Zu Mathesius’ Zeiten scheinen lutherische Autoritäten längst vergessen zu haben, dass sich die populäre Begeisterung für lutherische Reformen und Angriffe auf die römische Kirche zuerst in fastnächtlichen Rügebräuchen wie dem Pflugziehen geäußert hatten.

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Pfrunder [Anm. 8], S. 154. Erika Kohler, Martin Luther und der Festbrauch, Köln/Graz 1959 (Mitteldeutsche Forschungen 17), S. 113; zu Luthers Aussagen über die Fastnacht, siehe S. 92–113. Zitiert nach Friedrich Sieber, Volk und volkstümliche Motivik im Festwerk des Barocks, dargestellt an Dresdner Bildquellen, Berlin 1960 (Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde 21), S. 47, 168.

FASTNACHTSPIEL UND FASTNACHTSBRÄUCHE

Jean-Marc Pastre´

Fastnachtspiele: Eine verkehrte Anschauung der Welt und der Literatur

Bekanntlich beruht ein großer Teil der Nürnberger Fastnachtspiele auf der Zweideutigkeit des Erzählten: In den meisten Fällen zielt der Doppelsinn auf den Ausdruck des Sexuellen, wobei Homosexualität, Onanie und oraler Koitus nicht ausgeschlossen sind. Hauptgegenstand meiner Studie sind jene weniger zahlreichen Spiele, in denen das Sexuale zusammen mit dem Fäkalen und auch durch Fäkalität ausgedrückt wird. Exemplarisch dafür ist K 23, das ›Spiel vom Dreck‹,1 in dem der Kot mehrmals als männliches Glied behandelt wird (z. B. S. 213,2–9,12–18). In den Arztspielen werden andererseits die neuen und fremden Sitten der Ärzte genannt, die stets mit Knaben und Knechten, d. h. anspielungsweise als Homosexuelle aufreten.2 In K 120 fungiert der Kot mal als ‘warmer Gast’, mal als geschwollenes, vom Menschen getriebenes Monstrum.3 Für die Onanie stellt sich K 23 nochmals als musterhaft heraus, wo der Kot als Kegel in die Hand genommen wird, wobei der Bauer sich die Hände beschmutzt – ein in den Spielen ständiger und öfters als sexuell zu verstehender Ausdruck (S. 212,9–14) – und sich dessen rühmt, sich selbst ohne Apotheke, d. h. hier ohne Partner, entleert und befriedigt zu haben (S. 217,24–28). Ähnlich verhält es sich mit oralem Sex: Um vom Arzt geheilt zu werden, muss der Bauer eine Wurzel in den Mund nehmen und ‘einen guten Trunk darauf tun’,4 was sonst auf allerlei Speisen hinweist, die das männliche Glied versinnbildlichen, das als solches zu schlucken ist. In K 23 wird das Motiv noch klarer ausgedrückt, diesmal durch den Kot, dessen Zipfel im Bett zu saugen ist, wobei das Exkrement zu entblößen und anzubeißen ist, was sonst auf allerlei Anspielungen auf Glied und Vorhaut hinweist.5 In den meisten Fällen wird in unseren doppeldeutigen Spielen die Sexualität durch harmlose Situationen des alltäglichen landwirtschaftlichen Lebens ausgedrückt, wie etwa mähen, schlegeln, den Esel treiben oder mit der Wasserstange gießen. Paradox klingt aber die Verbindung von Sexuellem und Fäkalem, die auf sensorieller Ebene auf antithetische Reaktionen, auf den Gegensatz zwischen Neigung und Abneigung verweist. Auf den ersten Blick dürfte das Fäkale das Sexuelle kaum bedeuten können, da beide tabu sind: Ersteres, weil man ignorieren und nicht sehen will, was hinten ist 1

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›Ein vasnachtspil vom dreck‹, in: Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–58 (BLVSt 28–30 u. 46), S. 211–218. K 6: ›Ein spil von einem arzt und einem kranken paur‹, S. 58,9–10,26; S. 59,5,16; S. 60,8; K 11: ›Aliud von frauenriemen‹, S. 107,15. K 120: ›Ein fastnachtspil von einem arzt und einem kranken‹, S. 1058,5/6. K 6, S. 64,9,29. K 23, S. 213,20–27. Siehe besonders K 14: ›Morischgentanz‹, S. 122,6,10–18; S. 124,28/29; S. 126,16–18; K 120, S. 1059,16,25–30.

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und Abscheu erregt und Letzteres, weil man das verschweigen soll, was man vorne nur zu gerne sieht. Die Gegensätzlichkeit der beiden Ebenen ist so stark, dass es wie ein sinnwidriges Vorhaben erscheinen könnte, sie beide in demselben kulturellen Erwartungshorizont zusammenstellen zu wollen, zudem sie auf zwei zeitlich entgegengesetzte Lebensalter hindeuten, auf die frühe kindliche anale und orale Phase und auf die spätere Sexualität des Erwachsenen. Genau gesehen ist die Verbindung von beiden Bereichen konsequenter und plausibler, als man denken könnte: Zunächst sind beide der Gegenstand des Verschweigens – das Individuum verdrängt des Fäkale, weil es zu abscheulich ist; die Gesellschaft der spätmittelalterlichen Stadt verdrängt das Sexuelle oder wenigstens dessen Ausdruck, weil es zu verlockend und daher zu problematisch ist. Der Unterschied zwischen beiden liegt hier im Grad der Verdrängung: Ersteres ist verpönt, Letzteres ist verboten – so kann das Fäkale die Sexualität bedeuten. Die Nähe der beiden Bereiche besteht auch darin, dass die Spiele Liebe als Gefühl außer Acht lassen: Liebe wird auf Geschlechtliches, auf einen Trieb herabgesetzt, auf ein Bedürfnis, das wie die Notdurft zu befriedigen ist. Liebesgefühl wird zum geschlechtlichen Empfinden – womöglich ohne Zeugung –, ein Ideal, dem etwa das höfisch idealisierte Bild einer Liebe ohne geschlechtliche Lust – aber mit der Zeugung von Nachfahren –, völlig entgegensteht. Die städtische Literatur der Spiele nimmt in der Tat Sexuelles und Fäkales da wieder auf, wo sie die soziale Kultur der Stadt verdrängt hatte. Auf physiologischer Ebene und als Prozesse der Entfernung vom Körper sind beide Bereiche so nah wie Ausscheidung und Erguss. Exkremente und Flüssigkeit bringen Organe und Vorgänge zusammen, die im Versteckspiel des Doppelsinns räumlich verkehrt werden, wobei vorne und hinten, oben und unten oder herein und heraus absichtlich vertauscht werden. Dazu rückt die textliche Nähe von Fäkalität und Sexualität in diesen Spielen ihr gemeinsames unreines und unsauberes Wesen ans Licht. Wird der Doppelsinn durch das Fäkale gedeutet, erscheint das Sexuelle als so schmutzig wie das Exkret, wobei Ersteres enttabuisiert, entmythisiert und daher entschärft wird. Als etwas Organisches enthüllt, gehören beide Bereiche dem physischen Leben an, das in den Spielen realistisch als unkeusch und unrein angesehen wird. Die Anund Hinnahme dieses schmutzigen Charakters des Lebens steht der Scham des Menschen entgegen, die zunächst zu bewältigen ist. Nur durch einen Schock, nur durch die Gewalt eines Stoßes, eines frontalen Angriffs gegen die Scham kann hier das Anstößige am Fäkalen und Sexualen überwältigt werden. Durch die Anhäufung von obszönen Prozessen, durch die Übertreibung des Ausdrucks – das zu grobe spinnen dieser Spiele –, auch durch die Tatsache, dass das Publikum wie etwa in K 23 gleich und unmittelbar in medias res des wie in den Neidhartspielen auf der Bühne entschleierten Exkrements versetzt wird, wird die Scham so stark und so unerwartet herausgefordert, dass sie gleich zunichte gemacht wird, was eine neue Perspektive freimacht – die einer freien Beobachtung des organischen Menschen ohne die Scham des alltäglichen Anstands. Die gefällige Beschreibung des Exkrements und die nicht weniger gefälligen Anspielungen auf die Sexualität weisen etwa auf eine doppelte, ähnlich realistische Sichtweise hin, jene der Medizin und der Kirche. Die Heraufbe-

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schwörung des unreinen fäkalen und erotischen Menschen dürfte nämlich mit dem klerikalen sermo humilis verglichen werden, mit welchem der Mensch so beschrieben wird, wie er ist, und in dem etwa Christus als erniedrigtes menschliches Wesen Schweiß und Blut von sich gibt – ein äußerst realistisches Bild, das die Künstler des ausgehenden 15. Jahrhunderts oft und gerne malten. Auch dürfte in dieser Hinsicht die hyperbolische und durchaus positive Beschreibung des Kotes in K 23 als parodistisches Gegenstück zur klerikal gefärbten Auffassung der formosa deformitas dienen, die hier heißen würde: Auch das Abscheuliche hat seine Reize – eine Auffassung, welche der höfischen, neuplatonischen Sehnsucht nach Schönheit und Reinheit drastisch widerspricht. Nachdem die Barriere der natürlichen Scham und der gesellschaftlichen Anständigkeit gesprengt worden ist, sind eine zwanglose Beschreibung des Fäkalen und freiere Anspielungen auf Sexuelles ohne Urteil und Vorurteil möglich. Die Spiele machen dann den Menschen mit seinen entfremdeten Trieben wieder vertraut und versöhnen ihn mit sich selbst. Dabei werden Bereiche beansprucht, die dem Menschen geraubt worden waren; eine Aneignung, die in den Spielen wie eine Zurückeroberung aussehen kann. Die höfische Literatur und die soziale Kultur hatten Fäkales und Sexuales an sich entfernt und voneinander getrennt; die Fiktion der Spiele bringt also das wieder zusammen, was die Stadt auseinander gebracht hatte; nicht etwa, dass die Erstere die Letztere kritisiert, bekämpft oder demontiert, beide gehören vielmehr einem kohärenten Ganzen an. Bekanntlich waren die Spiele von den städtischen Behörden genehmigt und quasi ‘kodifiziert’ als Ausnahme, welche die Regel bestätigt; die Spiele unterhöhlen die Sozialordnung der Stadt nicht – sie dienen ihr und lösen sie zeitweilig ab. Dabei werden die Spiele an den Entzifferungscode des Publikums angepasst: Wie die Rätsel – ein im Mittelalter sehr beliebtes Thema – sind die Fastnachtspiele intellektuelle Spiele, bei welchen die für uns heute schon öfters mühsame Entzifferung des vielschichtigen Doppelsinns als lectio difficilis mit dem Prinzip des trobar clus der provenzalischen Lyrik gleichgesetzt werden dürfte. Die Aneignung des natürlichen Triebs ist nämlich sprachlicher Art, wobei der maskierte Ausdruck der Sexualität der Verkleidung der Akteure und der fastnächtlichen Maskeraden genau entspricht. Braucht doch dies der Mensch, um als und wie ein anderer aufzutreten, um sagen oder zeigen zu dürfen und zu können, was er sonst nicht sagen könnte oder dürfte: Verkleidung und Doppelsinn gehen hier zusammen. Da die Spiele das Sexuale nur verhüllt ausdrücken, achten sie auch die Regel der sozialen Stadtordnung, die die Sexualität verschweigen will. Wenngleich auch anders und scheinbar nicht übereinstimmend setzen die Spiele Gewohnheiten sowohl des sozialen Lebens in der Stadt als auch des sonstigen fastnächtlichen Treibens fort. Sprachlich und ethisch ungebunden halten unsere Spiele kein Maß und keine Zucht ein. Die Befreiung von den städtischen Zwängen, die als Ventil dienen sollte, weicht nur momentan von der alltäglichen Regel ab. Diese Befreiung bildet eine Ausnahme, die stark begrenzt ist: sie dauert nicht lange; auf Sexualität darf nur indirekt angespielt werden; statt der Wirklichkeit hat das Publikum nur mit theatraler Fiktion zu tun;

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letztlich ist die Tragweite dieser Befreiung selbstbegrenzt, da die Fastnachtsnarren selber zur Zielscheibe des Spottes werden. Da die Fastnacht nicht lange dauert, drängt die Zeit – daher müssen die Spiele schnell, kurz und wuchtig vorgehen; sie haben dabei auch die Hindernisse der Scham und des Anstands zu sprengen – daher die Explosion des Ausdrucks, der grenzenlose Überschwang, das Aufwallen und Aufbrausen, das Toben und Drängen, das wirre Durcheinander der Bilder, die gleichzeitig die zügellose Phantasie der Verfasser und der Zuschauer widerspiegelt und auf die närrisch-frenetische Beweglichkeit der Umzüge und Tänze der Fastnacht verweist. Auffällig konzentrieren sich diese Bilder auf den physischen Körper. Als Naturelemente deuten Fäkales und Sexuales auf einen Naturzustand hin, der wie etwa in den Neidhartspielen vom rustikalen und schmutzigen Bauer vertreten ist. In K 23 werden dieser topischen Figur Fähigkeiten zugeschrieben, die diese zwei Bereiche ergänzen, nämlich oraler Koitus und Defäkation als Symbole der Schwängerung und des Gebärens. Das Exkrement wird nämlich nicht nur mit dem Penis, sondern auch mit einem Kind gleichgesetzt, wobei der geschwollene Bauch sowohl auf Verdauung als auch auf Schwangerschaft hindeutet (S. 214,7–215,23). Die Komponenten des Sexualen dienen dazu, die Parallelität zwischen Fäkalität und Schwangerschaft direkt oder indirekt aufzubauen. Für Koitus und Schwängerung erscheint Homosexualität als einziges und unmittelbar männliches Mittel, sich das Organ und die Position der Frau anzueignen, wobei das Phantasmatische die Realität des sexuellen Benehmens ergänzt, da Homosexualität an sich und physiologisch nichts zu tun hat mit der Ausscheidung des Exkrements und mit dem Gebären von Kindern. Um diesen Parallelismus besser aufzubauen, greifen die Spiele zu den Prozessen der Ernährung und des oralen Verkehrs. Als ein für Mann und Frau gemeinsamer Prozess besteht der Zyklus der Ernährung aus den Etappen des Einnehmens, der Verdauung und der Entleerung; im sexuellen Bereich entspricht das der Schwängerung durch Einführung des Gliedes, der Schwangerschaft und des Gebärens. Um an den Ernährungszyklus angepasst zu sein, muss aber der Erzeugungszyklus eingepasst werden; mit dem oralen Verkehr ersetzt nämlich der Mund die Vagina, wobei der Erzeugungszyklus gleichzeitig vereinfacht und besser veranschaulicht wird; statt der entgegengesetzten Richtung von Befruchtung und Gebären, d. h. eine doppelt invers orientierte Bewegung von unten nach oben und dann von oben nach unten ergibt sich eine einzige, breiter entwickelte Bewegung von oben nach unten, wobei Speisen wie Wurst und Gemüse das Glied ersetzen.6 So eingepasst kann dieser Zyklus vom Mann angeeignet werden, wobei der Kot das Kind verbildlicht. Der Vergleich von Kind und Exkrement bei der Schwangerschaft und bei der Entbindung der Frau – wie etwa in K 23 – ermöglicht den Vergleich von Exkrement und Kind, nämlich bei Darmverstopfung und Defäkation. K 23 spielt daher mit der gleichzeitigen Kombination von zwei Prozessen mit zwei Geschlechtern. So hat die phantasmatische männliche Assimilierung der Mutterschaft als einzige physisch mögliche Form die analoge Form der Defäkation. Daher ruft der 6

K 23, S. 212,29; S. 216,10; K 6, S. 60,1; K 70: ›Die vasnacht vom werben umb di jungfrau‹, S. 619,2; K 85: ›Des arzts vasnacht‹, S. 698,6/7 u. S. 699,2/3.

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Bauer in K 23 aus, er sei gleichzeitig Vater und Mutter, d. h. Befruchtender und Gebärender des Exkrements (S. 216,21–24), und daher werden in diesem Spiel Skatologie und Sexualität so eng miteinander verbunden; beide ermöglichen nämlich den Ausdruck der männlichen Fruchtbarkeit, die nur durch Defäkation vertreten werden kann. In dieser Hinsicht sind diese Spiele viel mehr als die Erfindung einer ungezügelten Phantasie. Sie spiegeln universelle Vorstellungen wider, die psychoanalytisch und ethnologisch bestätigt sind. So haben Psychoanalytiker den Begriff des Gebärneides herausgearbeitet, d. h. des männlichen Neides auf die weibliche Gebärfähigkeit sowie die damit korrespondierenden Gefühle der biologischen Unterlegenheit gegenüber der Frau. Ein distinktives Merkmal dieses Neides ist, dass das Begehren geheim und das Begehrte nicht erreichbar ist, was zu Verdrängungsmechanismen führt. Eine zentrale Rolle im patriarchal-kulturellen Umgang mit Gebärneid spielt die Aneignung des beneideten Objekts. Da eine Imitation dieses Objekts keinen vollwertigen Ersatz darstellt und auch der tatsächliche Erwerb des Objekts nicht möglich ist, zielen die meisten Formen der Aneignung auf kompensatorische Überlegenheit, die öfters in der Form der Pornographie auftritt.7 Im ethnologischen Bereich haben Claude Le´viStrauss und dessen Schülerin Nicole Belmont gezeigt, dass die Gleichsetzung von Exkrement, Penis und Kind auch universell ist;8 dabei spielt das Motiv des schwangeren Mannes eine wichtige Rolle, die in Nord- und Südamerika meistens der Kojote einnimmt, dessen Kote sich als Kinder entpuppen (S. 105–106). Daher sind in unseren Spielen viele sexuelle Anspielungen zu finden, deren Bedeutung umso klarer herauszulesen ist, als sie auf analoge Prozesse hinweisen, die von Ethnographen belegt wurden: so etwa wie die Vorstellung der Eichel und der Vorhaut als Kopf, Kahlkopf oder Hut,9 wie die Hellsichtigkeit des mit Augen versehenen Gliedes10 oder wie die medizinische und sexuelle Beschreibung von Verdauungsproblemen, die sich mit beinahe obstetrischen Anspielungen auf Entbindung decken – wie z. B. das Abfließen des Fruchtwassers11–, die an schamanistische Behandlungen der Entbindung erinnern, wo Heilpraktiker und Wunderdoktor identisch verfahren und wo der Penis als Praktiker, Forscher, Bohrender, Besieger des Monstrums oder auch noch als Klistier fungiert, was als physische Folge Entleerung und Entbindung auslöst. Nach Le´vi-Strauss hantierten dabei Schamanen als Ärzte und Psychotherapeuten mit Elementen einer realen und doch auch mythischen Anatomie.12 7

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Robert Scheuble, mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im ›Nibelungenlied‹ und in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, Frankfurt a. M. [usw.] 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 6), S. 35–40. Nicole Belmont, Les signes de la naissance, Paris 1971, S. 110. Ebd., S. 92–96; K 6, S. 64,16,23; K 14, S. 122,6,12,15. Ebd., S. 43–44, 58, 101; Claude Le´vi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1974, S. 223; ders., L’homme nu, Paris 1971, S. 360, 390; K 98: ›Die vier erzt vasnacht‹, S. 752,5–19. K 120, S. 1057,25–27. Le´vi-Strauss [Anm. 10], S. 125, 221–227, 226. Glied als Bohrender: K 70, S. 617,4/5; K 71: ›Aschermitwochvasnacht, vom Peichten‹, S. 623,2,4; K 120, S. 1057,21/22; Sieg gegen Ungeheuer: K 23, S. 214,7/8,17,32; S. 215,3,8/9; S. 216,8–14; S. 217,3/4.

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Um die Überlegenheit der Frau zu kompensieren, sind zwei Mittel vorhanden: die Frau imitieren oder ohne sie auskommen. Mit Homosexualität wird die Frau physisch durch einen Mann ersetzt; mit der Vorstellung der männlichen Fruchtbarkeit wird phantasmatisch und mit der Onanie physisch auf die Frau verzichtet. Im ersten Fall hängt zwar der Mann nicht von der Frau, aber doch von einem anderen ab, in den letzten zwei Fällen ist er dagegen ganz unabhängig. Physisch und phantasmatisch ist das alles auf die Traumvorstellung der männlichen Unabhängigkeit und Omnipotenz zurückzuführen. Hinsichtlich der männlichen Fruchtbarkeit deckt sich dieser Traum mit der Vorstellung der außerordentlichen selbständigen Erzeugung des Menschen, die mit der Geburt von Wunderkindern, in K 23 von Zwillingsexkrementen (S. 216,32), in so vielen Mythen, Riten und Märchen als universelles Motiv auftritt,13 wo das Einnehmen von Pflanzen oder Tieren die Frau befruchtet oder wo der Mann sich selbst befruchtet, indem er z. B. sein Glied ins Knie einführt oder ein Kind durch die Hüfte zeugt.14 Christlich angepasst, weist diese Vorstellung auf das adamische Alleinsein hin, als Eva aus der Rippe Adams gezeugt wurde (Gen 2,21–22), wobei Adam als Vater ohne Weib auftritt und womit die Unterlegenheit der erst später erschaffenen Frau schon angedeutet wurde. Zu bemerken ist, dass dieser adamische Zustand Scham und Sünde ausschließt: Scham, da Adam und Eva sich ihrer Nacktheit nicht bewusst sind (Gen 2,35 und 3,10–11), was an unsere Spiele erinnert, wo gezeigt und sozusagen gelehrt wird, wie Bauern ohne Scheu mit dem Exkrement hantieren lernen können; Sünde, da dieser Zustand vor dem Fall stattfindet, was wieder an die Spiele denken lässt, wo der Begriff der Sünde keinen Platz hat. Weiblos heißt hier mittelbar schuldlos. Paradoxerweise deutet die phantasmatische fäkale Erzeugung auf Reinheit hin, wobei die schmutzige und befleckende Empfängnis des Kots die unbefleckte Empfängnis Mariae verzerrt und parodiert: Dadurch unterscheidet sich der Mann von den Frauen im Allgemeinen, indem er unberührt zeugen kann. Den Frauen überlegen, muss er nämlich keinen Fremdkörper in sich dulden, keinen Eingriff von außen und keine Einmischung – ein weiteres Bild der Traumvorstellung der männlichen Unabhängigkeit und Freiheit, nämlich der des fäkalen Menschen. In K 23 ruft dieser Zustand ein Gefühl des Glücks hervor, das etwa wie die Seligpreisung der Bergpredigt klingt (Mt 5,3), wobei der Fastnachtsnarr sich tatsächlich so benimmt wie einer, der geistlich arm ist und einem Kind gleicht und der als solches Gott schauen wird (Mk 10,14–15). Mit Selbsterzeugung und Selbstbefriedigung erscheint nämlich in diesem Spiel Fäkalität als ein Zufluchtsbereich, wo der Mann sich vor der Beschwernis der Ehe und vor den Strapazen der Liebesabenteuer flüchtet und in aller Sicherheit die Körperruhe genießen kann. So bewahrt der Mann seine Integrität und bleibt Herr über das, was er produziert. In K 23 erklärt sich so der Narr bereit, um der Defäkation willen gerne auf Musik, Tanz und Frauen zu verzichten (S. 218,4–11). Sich so von der Welt abschließen, um sich auf die autonome Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen zu konzentrieren, parodiert etwa die Abgeschiedenheit des Einsiedlers, der sich 13 14

Belmont [Anm. 8], S. 154, 157. Le´vi-Strauss, L’homme nu [Anm. 10], S. 34, 58.

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einsam und einzig um das Seelenheil kümmert; als Genießer befriedigt der eine seine Begierden, der andere tötet sie als Büßer ab. So steht der skatologische Genuss der Fastnacht der eschatologischen Askese der Fastenzeit entgegen. Eine Form der Abwehr des männlichen Neides auf die weibliche Gebärfähigkeit besteht in der dichotomen Zuordnung von Weiblichkeit zu Natur und Männlichkeit zu Kultur. Mit der männlichen Assimilation der Fruchtbarkeit gehört in den Spielen der Bauer umgekehrt zur Natur: Hier vertritt nämlich nur der Bauer die fäkalische Gebärfähigkeit. Hinzukommt, dass er auch als Einziger als Koprophag auftritt. In K 23 gehen so Selbsternährung und Selbsterzeugung zusammen. Als Landwirt verbraucht der Bauer, was er selber produziert. Als Koprophag verkörpert er aber viel mehr als sein Amt, d. h. den Ackerbau: der Bauer assimiliert nämlich darin die Funktion des Nährbodens selber, der die Saat der eigenen Früchte einnimmt, sie zum Keimen bringt, um schließlich wieder Früchte zu produzieren, die wiederum Saat hervorbringen – der geschlossene und ununterbrochen wiederangefangene Zyklus von Koprophagie, Verdauung und Defäkation wiederholt in der Tat den Agrarzyklus, wobei das uralte Bild der fruchtbaren Muttererde sich ins Bild eines fruchtbaren ‘Vaterbodens’ wandelt. Die phantasmatische Vorstellung der männlichen Unabhängigkeit deckt sich also mit der Vorstellung der autarken, d. h. landwirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit: der Bauer übernimmt nämlich gleichzeitig die Gebärfähigkeit von Weib und Erde. Landwirtschaftlich betrachtet, tragen in beiden Fällen Kot und Mist parallel zur Fruchtbarkeit von Mann und Boden bei: Diese Assimilierung von Mensch und Boden weist außerdem auf die Mythen der Autochthonie hin, wo die ersten Menschen aus der Erde hervorkommen.15 Christlich aufgefasst, bezieht sich aber dieser Vorgang allein auf den Mann, da Gott in Gen 2,7 Adam aus Erde vom Acker macht und also die Erde als Gebärstoff benutzt. So hat Adam, nicht Eva, direkt mit der Erde zu tun, genau wie der Bauer, nicht das Weib, mit der Erde assimiliert wird. In alttestamentlicher Hinsicht stellt der Ackerbau den mühsamen Erwerb des Lebensunterhalts Adams nach dem Fall dar. Ohne Weib reproduziert der Bauer das Vorbild des Agrarzyklus vor dem Fall, d. h. in der ursprünglichen Zeit, wo Gras und Kraut Samen bringen, wo fruchtbare Bäume Früchte tragen, in denen ihr Same ist (Gen 1,11–12), und das noch bevor Lebewesen, d. h. Adam und die Tiere geschaffen wurden. Solche Motive, die alle auf die Schöpfungsgeschichte hinweisen, gehen als Formen des regressus ad originem auf die Quellen zurück, wobei stufenweise vom Weib zum Mann, vom Mann zum Tier und vom Tier zur Pflanzenwelt zurückgeführt wird. Wurden doch nach Gen 1,24 die Tiere wie später Adam auch von der Erde hervorgebracht. Die Assimilierung der Animalität durch den topischen Bauern der Spiele, die auf fäkaler und sexueller Ebene anhand von Vergleichen mit Fohlen, Esel, Henne oder Sau hergestellt wird, wäre demnach als voradamische Stufe des regressus zu bezeichnen, wobei nach Gen 1,22 das Motto des »Seid fruchtbar und mehret euch« zunächst für die Tiere ausgesprochen wurde. Als fäkal fruchtbarer Mann versinnbildlicht aber der Bauer nicht bloß ein Moment dieser Vorgangskette, er hat auch Anteil 15

Le´vi-Strauss, Anthropologie structurale [Anm. 10], S. 243–249.

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an der Kosmogonie, indem er wie in K 23 proteusartig als Drechsler und Tischler das Exkrement verarbeitet und in verschiedenen Verwendungszwecken, auch zum Gebären von Kindern verwandelt. Als homo faber knetet der Bauer Figuren aus Kot und fungiert bei seiner Wunschvorstellung der Omnipotenz als parodistischer Demiurg. Es ist also kein Zufall, wenn in den amerikanischen Mythen der Kojote, bei dem das Exkrement mit Penis und Kind gleichgesetzt wird, ständig als Demiurg auftritt.16 Diese Bilder gehen aber nicht nur auf die Zeit der Weltschöpfung, sondern auch auf das erste Lebensalter des Menschen zurück. Durch die Aufforderung zu sensoriellem Tasten, Schmecken und Riechen des Exkrements wird in K 23 auf das anale und orale Stadium des Kleinkindes hingewiesen, wobei der Bauer wie der Säugling diese frühe Stufe des Genusses erlebt – ein weiteres Bild des regressus, der in so vielen Mythen und Riten eine Wiedergeburt erstrebt als einziges Mittel zur Erlangung einer neuen Lebensphase, einer neuen Lebensart oder einer neuen Lebensfähigkeit.17 Die Funktion der Mythen besteht darin, die Menschen mit der Welt und mit sich selbst vertraut zu machen – ähnlich funktionieren unsere Spiele, die Unbewusstes, z. B. Gebärneid, skatologische und sexuelle Triebe zum Bewusstsein bringen. Ähnlich verfahren Mythen und Spiele auch in der Ausdrucksform: Nur maskiert enthüllen sie Inhalt und Zweck des Erzählten.18 Daher ihr gemeinsames Spiel von Verhüllung und Enthüllung: Die Spiele drücken nämlich das aus, was versteckt ist, und verstecken, was sie ausdrücken wollen. Dabei bestehen Riten in der Manipulation von Worten und Gegenständen, die einen Mythos darzustellen haben, wobei die auffällige Wiederholung des Gesagten eine bessere Aneignung anstrebt, was in den Spielen mit der Anhäufung von Bildern und in K 23 mit der vielfältigen Manipulation des Exkrements erzielt wird. Nach Le´vi-Strauss hat der Ritus nämlich die Funktion, die Kontinuität des Erlebten wiederherzustellen, die das mythische Denken mit schroffen Gegensätzen zerlegt hat.19 K 23 dürfte dann etwa als eine späte Variante von Agrarmythen und -riten aufgefasst und demnach mit Bräuchen verglichen werden, obschon dieses Spiel nicht konkret und direkt wie etwa ›Das Eggenziehen‹ (K 30) oder das verschiedentliche Einsalzen von Frauen (z. B. K 76, 77, 91) auf ein früheres Brauchtum hinweist; aber im Sinn folgt ein solches Spiel dem Prinzip eines Ritus und eines Brauches. In den Spielen deckt sich die Rückkehr zum Ursprung mit der Rückkehr zur Natur und zum Lande, d. h. zum Bauer als Sinnbild des physischen Körpers, wobei Herz und Seele nicht in Betracht gezogen werden. Diese Vereinfachung dient zum demonstrativen Ausdruck der Wiederherstellung eines früheren Naturzustandes, die aber so fiktiv ist wie sonst mythische Erzählungen. Dieses Wunschbild des physischen Körpers steht einem anderen Wunschbild, dem des sozialen Körpers entgegen, nämlich dem von Georges Duby herausgearbeiteten ideologischen Konstrukt der drei Stände, 16 17 18 19

Le´vi-Strauss, L’homme nu [Anm. 10], S. 34, 48. Mircea Eliade, Mythes, reˆves et myste`res, Paris 1957, S. 42–53. Le´vi-Strauss, Anthropologie structurale deux, Paris 1973, S. 209. Le´vi-Strauss, L’homme nu [Anm. 10], S. 603, 608.

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die in den Spielen von den Bauern, den städtischen Behörden und den Priestern oder Mönchen vertreten sind. Demnach mussten die fäkalen und sexuellen Probleme von Ärzten als Krankheiten, von Schöffen als Körperdelikte und von Priestern als Sünden behandelt werden. Nur erscheinen diese Spiele als Vexierspiegel dieser Gesellschaftsordnung, da zunächst Schöffen, Richter und Priester viel weniger auftreten als die Zentralfigur des Bauern und da die dieser Ordnung zugrunde liegende Gegenseitigkeit der Leistungen kaum funktioniert – Bauern produzieren für sich selber, Richter hüten sich vor Verurteilungen und Priester oder Mönche sieht man nie beten, da sie nur als Liebhaber auftreten. Unsere Spiele haben also die Wirklichkeit nicht widerzuspiegeln – sie unterstützen die fiktive These der Sehnsucht nach dem Organischen und Ländlichen gegenüber der ideologischen Konstruktion einer als zu streng empfundenen Sozialordnung. In vielen Mythen wird nach Le´vi-Strauss auf eine Pathologie der Kommunikation hingewiesen, die auf der Korrelation von drei Begriffen beruht, nämlich Indiskretion, Missverständnis und Vergessenheit.20 Die Strategie der Spiele besteht gerade in der Verkehrung dieser Korrelation: Indiskretion als zu offene Aussprache von dem, was verschwiegen bleiben sollte, wird hier zur Diskretion als objektive Verschweigung des Sexualen; dabei wird den des Doppelsinns wegen möglich gemachten Missverständnissen vorgebeugt, da Indizien und ‘Augenwinke’ auf das richtige Verständnis des Gesagten genügend schließen lassen21 – das Publikum war ja gewöhnt, Verhülltes richtig zu deuten. Gebärneid, anale und orale Entwicklungsstadien werden zunächst der Vergessenheit entrissen und den Zuschauern wieder zum Bewusstsein gebracht. So wird die Pathologie der Kommunikation zum richtigen Gebrauch einer wiederhergestellten Kommunikation, die Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis mit sich bringt. Bei Le´vi-Strauss deckt sich dazu auf soziologischer Ebene diese Pathologie mit einer Pathologie des Verkehrs mit Frauen; ähnlich findet in den Spielen das Sexuale einen gebührenden, der Natur des Menschen besser entsprechenden Platz, den die Stadt sozial und ideologisch versagt. Da der Ausdruck der Fäkalität und der Sexualität verpönt oder verboten ist, müssen die Spiele zu Rollen greifen, die für diese Bereiche öffentlich auftreten dürfen und die daher die Kommunikation ermöglichen. Mit der Behandlung des physischen Körpers haben die Spiele mit Organen zu tun, die sonst Ärzte betreffen. Daher sind diese Spiele meistens Arztspiele, wo Defäkation und Entbindung als parallele Prozesse behandelt werden, d. h. wo die Kur darin besteht, das herauskommen zu lassen, was sonst zu lange im Körper bleiben könnte, und im Körper das zurückzuhalten, was sonst zu schnell oder zu früh herauskommen könnte. Da Ärzte beruflich befugt sind, diese Bereiche darzustellen, dürfen sie als Figuren der Spiele realistisch und sogar naturalistisch von Anatomie sprechen; die Spiele machen sich diesen Freiheitsraum 20 21

Le´vi-Strauss, Anthropologie structurale deux [Anm. 18], S. 229–231. K 23, S. 211,7–9; S. 217,7; K 48: ›Gar ain hüpsches vasnachtspill‹, S. 366,10; K 49: ›Gar ain hüpsches vasnachtspill von kuchinspeis‹, S. 369,19; K 97: ›Der wittwen und tochter vasnacht‹, S. 749,21; K 102: ›Der neu oficial‹, S. 769,11/12; K 120, S. 1060,20/21,24/25.

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als Raum einer relativen Redefreiheit zunutze. So steht in den Spielen Medizin für Fäkalität und Obstetrik ein, die als Gegenstände der Wissenschaft gestattet sind. Ärzte treten also hier in doppelter Hinsicht als Helfer auf: Sie helfen den Bauern, die als Patienten die Hauptrolle spielen, aber auch den Schriftstellern, die deren Freiheit ausnutzen. Dazu wenden Bauern, Ärzte und Verfasser der Spiele dieselbe Denk- und Auslegungsmethode der similia similibus an, die der Gedankenverbindung und dem ständigen Wechselspiel der Bilder zugrunde liegt. Die Form der Reihenspiele weist aber diskret auf andere Ausdrucksmittel hin, die wohl der Strategie der Spiele entsprechen. Das lustige, öffentliche und gefällige Geständnis der männlichen Schwächen bei Liebesabenteuern wird nämlich manchmal wörtlich als ‘Beichte’ bezeichnet und dürfte im Allgemeinen als säkularisiertes Bekenntnis der Sünden aufgefasst werden. Dann wirken diese Reihenspiele etwa wie inszenierte Straf- und Beichtregister. Statt dem Klerus vorbehalten zu sein, der Verurteilung und Strafe auszusprechen hat, wird diese verweltlichte Form der Beichte der Fastnacht angepasst, wo nämlich Reue und Buße ausfallen. Sittenlehre und Fastnacht lösen hier Religion und Fasten ab. Möglicherweise stellte für die Kirche das Geständnis von Schwächen den ersten Schritt zur eigentlichen Beichte dar: das delectare der Fastnacht bei der Erkenntnis der närrischen Schwächen würde dann mittelbar zum docere der Fastenzeit führen, was die Frage nach der den Spielen zugrunde liegenden Strategie stellt – auch der Klerus würde nämlich maskiert vorgehen. Der Vieldeutigkeit der Spiele entspricht in der Tat die Vielfältigkeit ihrer Interpretation. Fäkalität und Sexualität werden in unseren Spielen weder rein negativ noch rein positiv dargestellt. Die Spiele lassen Fragen entstehen, die sie unbeantwortet lassen. In einem kollektiven Rätselspiel verhüllen die Autoren den Zweck der Spiele, den die Zuschauer herauszufinden haben. Hinter dem Fäkalen hatte das damalige Publikum und haben noch die heutigen Leser Sexuales und hinter deren Ausdruck die Zweckmäßigkeit der Spiele zu sehen. Die Frage aber, bis wohin die Anspielungen und die Interpretationen damals gehen konnten und heute noch gehen dürfen, bleibt ohne Antwort. Daher bleiben diese Spiele rätselhaft, wahrscheinlich aber auch weil die Natur des Menschen ein Rätsel ist und weil der Mensch sich selbst rätselhaft bleibt. Die anscheinend neutrale und objektive, aber schon suggestive Darstellung des närrischen Benehmens betrifft hier Extreme, die wie Herausforderungen wirken und das Publikum zu Reaktionen auffordern sollen, die sowohl Nachsicht als auch Strenge zulassen dürften. Diese Übertreibungen können nämlich dazu führen, entweder einen vernünftigen Teil der Sache beizubehalten oder die Sache selber mit ihrer Übertriebenheit ganz zurückzuwerfen. Als gefällige Darstellung von Narrheiten erlauben die Spiele beide Interpretationen: Die Gefälligkeit lässt zu Nachsicht neigen, die Narrheiten zu Strenge. Schon dürfte der relativen Toleranz im Ausdruck des Sexuellen eine ebenso relative Toleranz in dessen Bewertung entsprechen. Nachsicht deckt sich dann mit einer Strategie der Aussöhnung, die auf einer realistischen und resignierten Feststellung der Schwächen der Menschen beruhen würde, bei welcher eine relative Aneignung von Fäkalität und Sexualität bezweckt werden darf, mit welchen sich der Mensch abzufinden hat: Damit hat Fäkalität als weniger

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abstoßend und Sexualität als weniger anziehend zu erscheinen, und das, obschon die Erste abstoßend und die Zweite anziehend bleibt. Bei dieser pragmatischen Relativierung könnten aber Extreme wie fixe Ideen und Perversionen beim Fäkalen und Sexuellen zurückgeworfen und vom Aneignungsfeld ausgeschlossen werden. Die Spiele würden dann von Übertreibungen abraten und demnach als Warnliteratur gelten. Als Darstellung von Extremen und als Ausnahmeliteratur zeigen sie aber nie, worin die Regel, das Maß, d. h. die rechte Mitte zwischen zuviel und zuwenig bestehen sollte. Im Gegensatz zu den damaligen ›Moretus‹ (oder auch ›Facetus Moribus et vita‹ genannt), zu Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ oder zum kaum späteren ›Narrenschiff‹ Sebastian Brants verschweigen die Spiele, was hinzunehmen ist oder nicht und in was man sich schicken sollte. Eine relative Duldung und Aneignung von Fäkalität und Sexualität schließt aber ein relatives Abreden davon nicht aus. Eine auch mögliche, aber diesmal pessimistische Sehweise würde ein totales Verwerfen von beiden Bereichen bedeuten. In diesen Spielen entpuppt sich nämlich die Narrheit des Menschen nicht als flüchtiges Moment, sondern als ständiges Merkmal im Leben des Menschen. Wenn Anales, Orales und Sexuales nie ohne Exzess und Perversion auftreten können, wenn Laster dabei nicht auszurotten sind, dann sind alle drei Gegenstände pauschal zurückzuweisen – eine Ansicht, die direkt zur Ideologie der Fastenzeit führen würde, aber mit dem Unterschied, dass die Haltung der Fasten autoritär und die der Fastnacht ‘gnädig’ ist. Beiden Haltungen liegt in der Tat dieselbe Strategie des Bewusstmachens zugrunde, die darin besteht, dem Publikum die Komponenten und Grenzen von Fäkalität und Sexualität zu Bewusstsein zu bringen. Bei dieser pragmatischen Strategie lassen die Spiele dem Eigenwillen der Zuschauer freien Lauf, und zwar mit der Überzeugung, dass die Zügellosigkeit des närrischen Benehmens zu deren relativen oder totalen Ablehnung leiten sollte. Da das Publikum durch die Fiktion der Spiele seine Erfahrungen machen darf, gehen die Spiele das Wagnis ein, dass die pädagogische Wirksamkeit des Sagenlassens den Unsinn des Machenlassens vor Augen führen wird. Mit dieser kathartischen Strategie müssen aber die Spiele zunächst anziehend wirken, was die Gefälligkeit beim Vorführen des Narrentums voraussetzt: Hier geht das Publikum sozusagen in die Falle der eigenen Neigungen und Triebe, indem letztlich von diesen abgeraten wird. So kann schließlich verurteilt werden, was als geduldet zu sein erscheinen konnte. Zwar hat das Publikum die Wahl zwischen mehreren Reaktionen, nur ist die Wahl gering. Gegenstand der Spiele ist nämlich der physische Körper, wobei Herz und Seele wie ausgeklammert sind. So abgesondert und so vergrößert weil übertrieben, werden die ausgewählten Komponenten des närrischen Benehmens sozusagen einem Experiment unterzogen, in dem das menschliche Treiben wie in vitro erforscht und unter die Lupe genommen wird. Unsere Spiele sind nämlich Grenzfälle, in denen die Fragwürdigkeit von Fäkalität und Sexualität besser herausgearbeitet werden kann. Implizit, indirekt, aber trotzdem demonstrativ stellen die Spiele eine ‘These’ auf, die eine Lebensweise darstellt, die gleichzeitig als Fastnachtsverhalten und zu Studienzwecken vom übrigen normalen Leben abweicht.

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In K 23 wird mit Verhüllung und Enthüllung, mit Bewusstsein und Unbewusstsein, mit Verdrängung und Befreiung gleichsam experimentiert. Obschon gefällig dargestellt und mit ‘Dreck’ wörtlich handgreiflich gemacht, bleibt der regressus ad originem, die Rückkehr zum Analen und Oralen sowie der Wunschtraum der männlichen Gebärfähigkeit unmöglich. Vergangenes ist unwiederbringbar, Geschlechtsunterschiede sind unüberbrückbar. Die Spiele geben keine Antwort auf die Fragen, die ihre Fragwürdigkeit aufwirft, auch vermitteln sie nicht zwischen Natur und Kultur, zwischen Land und Stadt, zwischen Regel und Ausnahme und noch weniger zwischen Fastnacht und Fastenzeit. Den Spielen haftet Gegensätzlichkeit an, und die theatralische Konfrontierung ihrer Oppositionen kann nur die Form einer disputatio haben. Der Lage des Menschen haftet nämlich Unzufriedenheit beim Bewusstsein seiner Grenzen an: Der Mann kann weder wieder jung noch zum Weib werden, weder wieder geboren werden noch gebären – er kann menschlich wie auch gesellschaftlich nur bleiben, wie er ist. Prinzipiell spiegelt zwar K 23 eine mögliche psychische Wiedergeburt, ein phantasmatisches Anderssein wider, das an sich den Übergangsriten der sogenannten primitiven Völker entsprechen würde – solche Riten und Fähigkeiten der heidnischen Kulturen gelten aber nicht mehr. Die topischen Bauern der Fiktion schauen in der Tat sehnsuchtsvoll und närrisch in Vergangenes, weil die Städter sich mit der sozial bedingten Gegenwart nicht abfinden. Den Unzufriedenen bieten dann die Spiele eine einzige reale Alternative, die der Fastenzeit an. Statt eines regressus schlagen die Fasten die eschatologische Perspektive eines christlichen progressus vor, der in die Zukunft der österlichen Wiedergeburt schaut. Statt zum physischen Körper zurückkehren zu wollen, sehnt sich der Fastende nach der Glorie des auferstandenen Körpers. Fastnacht und Fastenzeit sind im Grunde ähnliche Momente der Unterbrechung des jährlichen Zeitablaufs, wo über den Zweck des Lebens nachgedacht und Abstand vom Alltag genommen werden kann und soll. In der topischen Darstellungsweise der Spiele vertritt die Fastnacht das Land des Bauern und die Fastenzeit die civitas dei; die deutsche Stadt liegt zwischen beiden und verkörpert einen mangelhaften Kompromiss, der für ihren Alltag eine relative Aneignung und ein relatives Abraten assoziiert, ohne aber die Perspektive einer völligen Entsagung auszuschließen. Obwohl unähnlich, gehören ja Fastnacht und Fastenzeit in denselben christlichen Rahmen, in dem die Fastnacht zeitlich und räumlich streng begrenzt bleibt, aber doch mittelbar, demonstrativ, maskiert und wie a contrario einer gemeinsamen, aber vielseitigen Strategie angehört.

Dietz-Rüdiger Moser

Fastnachtsbrauch und Fastnachtsspiel im Kontext liturgischer Vorgaben1

1. In seinem Standardwerk über ‘Das Drama des Mittelalters’ unterscheidet Wolfgang F. Michael für diese Epoche drei Arten von Dramen: das geistliche Drama, das weltliche Volksdrama und das Humanistendrama.2 Das Fastnachtsspiel3 wird von ihm, in Übereinstimmung mit einer langen Tradition dieser Sichtweise,4 als »weltliches Schauspiel« gesehen und der zweiten Gruppe zugeordnet. Es scheint, dass bei dieser Einschätzung von Anbeginn an konfessionelle Gesichtspunkte eine bestimmende Rolle gespielt haben. Es waren überwiegend protestantische Autoren, die den Gegensatz ‘geistlich – weltlich’ auf die verschiedenen dramatischen Gattungen bezogen und dabei so verfuhren, dass sie die sogenannten Mysterienspiele als ‘geistlich’, die Fastnachtsspiele dagegen als ‘weltlich’ apostrophierten. Ein treffendes Beispiel hierfür bietet der einschlägige Artikel ‘Fastnachtsspiele’ der ‘Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste’ von Ersch und Gruber, verfasst von O[tto] Gruber 1845, in dem die Fastnachtsspiele als »weltliche Belustigungen« bezeichnet werden, die das gleiche gewesen seien, »was die sogenannten Mysterien den kirchlichen Feierlich1

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Der vorliegende Beitrag setzt Überlegungen fort, die den Verfasser lange beschäftigt haben, siehe Fastnacht und Fastnachtspiel. Zur Säkularisierung geistlicher Volksschauspiele bei Hans Sachs und ihrer Vorgeschichte, in: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976 (Nürnberger Forschungen 19), Nürnberg 1976, S. 182–218. Sie wurden durch weitere Aufsätze ergänzt, deren Ergebnisse in die folgenden Monographien eingingen: Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der ‘verkehrten Welt’, Graz/Wien/Köln 1986; Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf, Graz/Wien/Köln 1993; Maskeraden auf Schlitten. Studentische Faschingsschlittaden im Zeitalter der Aufklärung, München 1988. Vgl. Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama des Mittelalters, Berlin/New York 1971 (Grundriß der Germanischen Philologie 20), S. IX–XI. Was die Schreibweise ‘Fastnachtspiel’ oder ‘Fastnachtsspiel’ betrifft, empfiehlt die DUDEN-Redaktion Mannheim lt. brieflicher Auskunft an den Verfasser die Beibehaltung des Fugen-s, also die Schreibweise ‘Fastnachtsspiel’; dem entsprechend wird hier und im Folgenden verfahren. Vgl. beispielsweise Thomas Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, 3., aktual. Aufl., München 2000, S. 349. Digitale Ausgabe, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters, Geschichte – Kultur – Gesellschaft, Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 88), S. 2330. – In gleichem Sinn Hedda Ragotzky, ‘Fastnachtspiel’ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin [usw.] 1997, S. 568– 572. Siehe auch Werner Röcke (mit deutlichem Anklang an Bachtin), Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur, in: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler, München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1), S. 420–445.

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keiten gewesen waren.« In den Fastnachtsspielen habe sich öfters »der Volkswitz den pfäffischen Spitzfindigkeiten gegenüber Geltung zu schaffen« gesucht, das »rein Menschliche sich von dem Drucke des als göttliche Ordnung dem Geiste aufgedrungen Spieles mönchischen Aberwitzes loszuringen« gestrebt.5 Die Opposition ist klar: Hier das rein menschliche, weltliche Lustspiel des Volkes, eben das Fastnachtsspiel, dort das von theologischen Autoritäten verantwortete und dem Volk aufgezwungene geistliche Spiel, hier also Freiheit und dort Zwang. Mit solche Vorgaben war der Boden bereitet, auf dem dann noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Michael Bachtins (unter historischen Aspekten keineswegs unproblematische) Theorie einer ‘Lachkultur des Mittelalters’ gedeihen konnte,6 deren Banne – wie jüngst der Germanist und Theologe Volkhard Wels (Potsdam) kritisch angemerkt hat7 – sich die Germanistik noch immer nicht entzogen habe. 2. Ältere und zumal katholische Autoren haben die genannte Dichotomie nicht gekannt. Der bayerische Chronist Johannes Thurmair gen. Aventinus (1474–1534) stellt vielmehr Fastnachts- und Osterspiele auf die gleiche Ebene, wenn er formuliert, vastnacht- und osterspiel und dergleichen kurzweil got zu eren seien von den Römern angenommen und gehalten worden ausz rat irer geistlichen,8 was nichts anderes heißen kann, als dass sowohl die Fastnachts- als auch die Osterspiele von der römischen Kirche eingeführt worden seien. Man hat diese Äußerung in der Forschung als »sonderbar« bezeichnet,9 ohne sie wirklich ernst zu nehmen und nachzuprüfen, weil 5

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Vgl. Johann Samuel Ersch u. Johann Gottfried Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Erste Section, 42. Theil, Leipzig 1845, S. 56–64, hier S. 56. Vgl. hierzu die in mehreren Heften der Zeitschrift Euphorion geführte Debatte um diese Theorie: Dietz-Rüdiger Moser, Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie, Euphorion 84 (1990), S. 89–111. – Dazu: Aaron J. Gurjewitsch, Bachtin und der Karneval. Zu Dietz-Rüdiger Moser, Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie, Euphorion 85 (1991), S. 423–429. – Elena Nährlich-Slatern, Eine Replik zum Aufsatz von Dietz-Rüdiger Moser, Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie, Euphorion 85 (1991), S. 409–422; und die Gegenreplik: Auf dem Weg zu neuen Mythen oder Von der Schwierigkeit, falschen Theorien abzuschwören, Euphorion 85 (1991), S. 430–437; und: Mit Pieter Brueghel in die Fastenzeit [. . .] Ein neuentdeckter Kupferstich bestätigt die rein christliche Ausrichtung seines Gemäldes vom ›Kampf zwischen Fastnacht und Fastenzeit‹ im Wiener Kunsthistorischen Museum, Euphorion 87 (1993), S. 269–285; auch in: Literatur in Bayern 31 (1993), S. 15–22. – Vgl. zu der Debatte zusammenfassend: Dietz-Rüdiger Moser, Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael Bachtins Theorie einer ‘Lachkultur des Mittelalters’, in: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag, hg. v. Angela Bader, Stuttgart 1994, S. 261–309. Vgl. Volkhard Wels, Die ›Absurda Comica‹ des Gryphius als theologisches Gleichnis, in: Chloe. Beihefte zum Daphnis (im Druck). Ms., S. 10. Für die Überlassung einer Kopie seines Textes sei Herrn Kollegen Wels herzlich gedankt. Vgl. die Nachweise aus Aventins ›Bayerischer Chronik‹ (I, 225 bis 226 und I, 325 sowie I, 503) bei Neil C. Brooks, Fastnacht- und Osterspiel, in: Modern Language Notes XXXIII (1918), S. 436–437. So Michael [Anm. 2], S. 182.

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durch sie, wenn sie sich als zutreffend herausgestellt hätte, das ganze Konstrukt der Annahme einer ‘weltlichen’ Gattung zu Fall gebracht worden wäre. Nun wird man gewiss gerne konzedieren, dass auf den ersten Blick schwer einzusehen ist, inwiefern die Fastnachtsspiele beispielsweise mit ihren bekannten, schon von Karl Goedeke beanstandeten Obszönitäten (»Jeder Sprechende ein Schwein, jeder Spruch eine Roheit, jeder Witz eine Unfläterei«10) eine kurzweil got zu eren gewesen sein könnten, doch wird sich herausstellen, dass Aventins Charakterisierung gut begründet gewesen war. Die Anspielungen auf Eindeutigkeiten aus dem Sexual- und Fäkalienbereich nennt auch in unseren Tagen Dieter Wuttke bezeichnend für den Gehalt der Fastnachtsspiele.11 Natürlich haben auch schon die Zeitgenossen Gattungsunterschiede beobachtet, aber sie sahen sie nicht in der Herkunft oder Funktion der verschiedenen Spielarten, sondern in deren Inhalt, der ja in der Tat eine prinzipielle Verschiedenheit erkennen lässt. Derselbe Aventinus, der Fastnachts- und Osterspiele als parallele Gattungen bezeichnete, setzte die Ersteren dennoch deutlich von allem anderen ab, wenn er schrieb: Alle gescheft, von got geben, die ganz natur, alles götlich verhaissen, zaichen, briefe und sacrament, auch alle gotsdienst seind auf die zehen gepot gewidembt, geordnet und gericht: wa man die zehen gepot nit helt, ist das ander lauter fasnachtspiel (das ist ‘hipocrisis’, wie es die hailig schrift im kriechischen nent), man predig, man sing, man schrei, man pfeif wie man wöll in der kirchen.

Hypokrisis bedeutet eigentlich Heuchelei, d. h. (auf das Spiel bezogen) die Vortäuschung einer eigentlich nicht vorhandenen Verhaltensweise.12 Sollte das also heißen, dass im Fastnachtsspiel etwas dargestellt wird, das so in der Wirklichkeit eigentlich nicht vorkommt bzw. nicht vorkommen sollte? Wie auch immer, will uns der Hinweis auf die Nichtbeachtung des Sittengesetzes, wie es im Dekalog ausgedrückt ist, durch das Fastnachtsspiel nicht unbegründet erscheinen, weil es sich dabei um einen übergreifenden Grundgedanken der Brauch- und Spielpraxis handelt. Man sieht das leicht an der christlichen Zahlenallegorese, wie man sie (auf älteren Grundlagen) etwa bei Petrus Bongus 1585 greifen kann.13 Denn diesem Bereich wird traditionell die Zahl Elf zugemessen, gemäß dem Satz undenarius numerus, primus transgreditur denarium, significans illos, qui transgrediuntur decalogum mandatorum (‘die Zahl Elf, die als erste die Zehnzahl überschreitet, bezeichnet diejenigen, die die zehn Gebote übertreten’). Damit ist man jedenfalls bei der Narrenzahl Elf angelangt, bei der es sich um eine alte und weitverbreitete Vorstellung sowohl der Narrenliteratur als auch der 10

11

12

13

Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, 2. ganz neu bearb. Aufl., Dresden 1884, S. 325. Vgl. Dieter Wuttke, Nachwort. Versuch einer Physiognomie der Gattung Fastnachtspiel, in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), S. 441–461, hier S. 444. Friedrich Kirchner, Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, Neubearb. v. Dr. Carl Michae¨lis, 5. Aufl., Leipzig 1907 (Philosophische Bibliothek 67), S. 266, s. v. ‘Heuchelei’. Vgl. Petrus Bongus, Mysticae numerorum significationis liber in duas divisus partes, Bergomi 1585, t. II, fol. 16.

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Fastnachtsbräuche und -spiele handelt (Abb. 8): Elf Narren finden sich auf einem Nürnberger Druck von 1530; oder man begegnet dieser Zahl im ›Gargantua‹ des Franc¸ois Rabelais von 1534, einer Art Narrendichtung, wo man im 2. Hauptstück liest, dass Gargantua elf (statt der üblichen neun) Monate im Mutterleib getragen worden war, bevor er im Narrenmonat Hornung, also im Februar, geboren wurde.14 Wie Geiler von Keysersberg in seinen Predigten zu Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ bemerkt, hält der Narr die Gebot Gottes nit.15 In dieser Hinsicht deckt sich sein Tun und Handeln mit dem von Aventinus festgestellten Inhalt der Gattung Fastnachtsspiel. Sachliche Parallelen zwischen Fastnachts- und Osterspiel, wie bei Aventinus, sind auch sonst bezeugt, wenn etwa Ende Februar 1523 »wohl auf dem Weinmarkt« im innerschweizerischen und katholisch gebliebenen Luzern, »wo auch die Osterspiele abgehalten« wurden, im Rahmen eines Fastnachtsspieles eine Abbildung des Reformators Zwingli »in effigie« verbrannt wurde – »zum Verdruß anwesender Zürcher«,16 die sich bereits von der vorreformatorischen Tradition abgewendet hatten und nun ihre religiösen Gefühle verletzt sahen.17

14

15

16

17

Vgl. Dietz-Rüdiger Moser, Elf als Zahl der Narren. Zur Funktion der Zahlenallegorese im Fastnachtsbrauch, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28 (1982/1983) (FS für Lutz Röhrich zum 60. Geburtstag), S. 346–363. – Überarbeitet auch u. d. T. Der Nar halt die Gebot Gottes nit. Zur Bedeutung der Elf als Narrenzahl und zur Funktion der Zahlenallegorese im Fastnachtsbrauch, in: Narren, Schellen und Marotten. Elf Beiträge zur Narrenidee, hg. v. Werner Mezger, 2. Aufl., Remscheid 1984 (Kulturgeschichtliche Forschungen 3), S. 135– 160. Vgl. Geiler von Keysersberg, Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narenschiff so er gepredigt hat zuo Straßburg in der hohen Stifft daselbst [. . .] 1498 [. . .] Vnd vß latin in tütsch bracht/ darin vil weißheit ist zuo lernen [. . .], Straßburg (Johann Grieninger) 1520, fol. 25 vo. Vgl. Willy Brändly, Geschichte des Protestantismus in Stadt und Land Luzern, Luzern 1956, S. 49. Zur Sache der Effigies selbst vgl. Effigies, die, lateinisch, ‘Bild’, ‘Abbild’, eingedeutscht ‘Effigie’: 1) Bezeichnung für die Vorderseite (Bildseite, Kopfseite) einer Münze oder Medaille. Gebräuchlicher als Effigies ist dafür der Terminus *Avers. – 2) Plastiken aus Wachs, Holz oder Leder, die mit der Kleidung des Toten versehen waren und bei Leichenfeiern die Stelle des Toten einnahmen (bei Trauerprozessionen und in Verbindung mit einem * Castrum Doloris). In England waren Effigies aus Holz üblich, wie mehrere in der Westminster Abbey aufbewahrte Beispiele erkennen lassen. Das erste Exemplar soll nach dem Tod Edwards II. (1327) angefertigt worden sein. Die älteste erhaltene Effigies wird auf König Edward III. (gest. 1377) bezogen. In Frankreich waren Ausführungen aus gesottenem Leder gebräuchlich, wie im Zusammenhang mit dem Tod Heinrichs V. berichtet wird, und in Italien verwendete man Puppen, versehen mit der Totenmaske aus Wachs sowie echtem Haar. Hier ist die Tradition besonders alt; so wird schon beim Tod Cäsars von einer als Effigies bezeichneten puppenartigen Gestaltung aus Wachs berichtet. Sie konnte durch einen Mechanismus so verändert werden, dass alle 23 Stichwunden sichtbar wurden. Im früheren Sprachgebrauch bedeutete ‘jemand in effigie verbrennen’, sein Abbild oder Bildnis (und damit symbolisch ihn selbst) zu vernichten. Vgl. zu diesem Thema Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildnisfunktion der Effigies, Berlin 1966.

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3. Die Auffassung, dass es sich beim Fastnachtsspiel des Spätmittelalters schlechthin um »weltliches Volksdrama« handele, betrifft jedenfalls ein (allerdings weit verbreitetes) Vorurteil. Wie schon der Name erkennen lässt, bezieht sich das Fastnachtsspiel zunächst und hauptsächlich auf die – wie sie Kurt Ruh genannt hat18 – »liturgische Zeit« der Fastnacht, die als solche spätestens seit Papst Gregor dem Großen (gestorben 604) fest im christlichen Kalender verankert ist. Diese liturgische Zeit ist insofern um Jahrhunderte älter als jede Nachricht über eine bräuchlich geübte oder mit Spielen oder gar Spieltexten verbundene Fastnachtsfeier. Es erscheint darum nicht plausibel zu argumentieren, dass die Kirche mit ihrer Liturgie auf ein vorhandenes Brauchtum reagiert und dieses sozusagen liturgisch verankert hätte, um es zu integrieren, sondern der Weg kann nur umgekehrt verlaufen sein: von der Liturgie zum Brauchtum, jedenfalls wenn man die Chronologie der Belege ernst nimmt. Insofern trifft genau zu, was Gabriele Köster soeben (2007) in einer Abhandlung über den Venezianischen Karneval zu den »Ursprüngen des Karnevals« schreibt: »Das Karnevalsfest ist abhängig vom christlichen Festkreis, wird doch mit ihm die dem Osterfest vorausgehende vierzigtägige Fastenzeit eingeleitet.«19 Worin liegt das Verdienst Gregors des Großen? Es liegt, soweit es die unter ihm zustande gekommene (oder zumindest von ihm gebilligte) liturgische Ordnung angeht, in der Festlegung der Perikopen für die einzelnen Sonn- und Festtage, d. h. der Lesungen aus Epistel und Evangelium, die keineswegs beliebig oder gar austauschbar waren – erst das Zweite Vatikanische Konzil hat mit der Einführung von drei Lesejahren (nach Matthäus, Markus und Lukas) parallele Leseordnungen eingeführt, mit dem (auch dem Außenstehenden verständlichen) Ziel, eine größere Anzahl von Bibeltexten in den Gottesdienst einzubeziehen, als es bis dahin der Fall gewesen war. Die Perikopen des alten Römischen Messbuches, die für jeden Sonntag des liturgischen Jahres im Prinzip nur eine bestimmte Textstelle aus den Evangelien bzw. den Paulus-Briefen oder aus der Offenbarung des Johannes vorsahen, bildeten sozusagen die Stützpfeiler sowohl für den Gottesdienst als auch für das spätere liturgienahe Brauchtum. Bei der Auswahl dieser Textstellen hatte sich Papst Gregor, ein großer Augustin-Kenner und -Verehrer, im Wesentlichen auf die Vorgaben aus Augustins Buch ›De civitate Dei‹ gestützt. So hatte er für den Fastnachtssonntag Quinquagesima die Evangeliumsperikope Lk 18,31ff. festgelegt und als Epistel den 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther, Kap. 13, in dem die Menschen ‘ohne Liebe’, also die Narren, den Schellen gleichgesetzt werden. Damit waren die entscheidenden Vorga18

19

Vgl. Kurt Ruh, Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, in: FS für Herbert Siebenhüner, hg. v. Erich Hubala u. Gunter Schweikhart, Würzburg 1978, S. 59–70. – Zur Fastnachtskonzeption des ›Rings‹ vgl. auch Kurt Ruh, Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt. Wittenwilers ›Ring‹, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. v. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien Berichtsbände 5), S. 344–355, hier S. 349–350. Vgl. Gabriele Köster, Der venezianische Karneval zwischen Tradition und Neubeginn, in: Rüdiger Fikentscher (Hg.), Fest- und Feiertagskulturen in Europa, Halle 2007, S. 55–78, hier S. 57.

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ben für den Inhalt (und damit das Verständnis) der Fastnachtsfeier gegeben. Denn wie eine breite Auslegungstradition bezeugt, hatte Gregor ein zentrales augustinisches Denkmodell, die Lehre von den Zwei Staaten – das seit dem Sündenfall unauflösliche Miteinander von Teufelsstaat (civitas diaboli) und Gottesstaat (civitas Dei) (Schema 2) – auf den liturgischen Kalender übertragen, und zwar die Fastnacht als Spiegelung der civitas Diaboli und die unmittelbar anschließende vorösterliche Fastenzeit als eine mehr oder minder real zu verwirklichende civitas Dei. Die Schriftstelle Lk 18,31ff. (»Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem«) legte beispielsweise, in Übereinstimmung mit einer sehr langen und alten Tradition, der spanische Bischof Joseph von Barzia und Zambrana noch 1744 zu Augsburg mit den Worten aus: Faßnacht-Zeit hat zwey Weeg, und er führte weiter aus: Was unterschiedliche Weeg gehen anheut die Kinder Gottes, und die Kinder Welt? Jene folgen Christo nach, diese der Welt. Und wo geht heute Christus hin, wohin die Welt? Christus gehet nach Jerusalem, die Welt gehet nacher Babylon. Was sagt die Welt zu ihren Kinderen? Sie ruffet mit starcker Stimm: Venite et fruamur bonis, quae sunt etc.; Kommet, laßt uns die Güter genüssen, die wir haben usw. Was sagt aber Christus zu den Seinigen? Ecce ascendimus Jerosolymam etc. Sehet! Wir gehen hinauf nach Jerusalem.20

Schema 1: Perikopenordnung zum Fastnachtssontag Quinquagesima

20

Vgl. J. de Barzia et Zambrana, Der Spanische Prediger auf Teutscher Cantzel. Das ist: Lehrund Conceptreicher Predigen Erster Theil/ Auf alle Sonntag des Jahrs. Aus dem Hochwürdigsten Herrn, Herrn Josepho [. . .] Bischoffen von Cadix, hg. v. Sebastian Baader, Augsburg 1744, im Register s. v. ‘Faßnacht’.

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Schema 2: Gottesstaat und Teufelsstaat

Bis in das 13. Jahrhundert zurück führen ganz ähnliche Predigten zum alten Fastnachtssonntag Quinquagesima, die auf das augustinische Zwei-Staaten-Modell mit seinem Gegensatz von Babylon und Jerusalem sowie die damit angesprochenen gegensätzlichen Gemeinschaften von civitas diaboli (oder civitas terrena) und civitas Dei, d. h. zwischen Unheils- und Heilsgemeinschaft, Bezug nehmen. Dabei wird selten auf die Nennung des babylonischen Königs Nebukadnezar verzichtet, der im Jahre 1529 in Gent als Karnevalsprinz begegnet und auch sonst im Fastnachtsspiel, z. B. der Jesuiten, vorkommt.21 21

Vgl. Leonardus van den Boogerd, Het Jezuitendrama in de Nederlanden, Groningen 1961,

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Als Beispiel für den Rückgriff auf das Zwei-Staaten-Modell mag der (hier ins Hochdeutsche übertragene) Abschnitt einer Franziskanerpredigt aus dem Umkreis Bertholds von Regensburg, also aus dem 13. Jahrhundert dienen: Wir lesen von einem König namens Sedechias, der zu Jerusalem lebte, bis der König Nebukadnezar kam und diese Stadt besetzte. Denn Sedechias hatte geschworen, daß er dem Nebukadnezar dienen wollte, und als er dieses Versprechen brach, kam Nebukadnezar und fing ihn und befahl, ihm die Augen auszustechen, und er führte ihn obendrein mit sich nach Babylon, gebunden und gefangen. Siehe da, du armer Sünder, also wird es auch dir geschehen, wenn du zu hoffärtig bist und dich keinem untergeben willst und nur nach deines Herzens Mutwillen lebst; siehe, da verhängt Gott über dich, daß Nebukadnezar kommt, das ist der Teufel, und dir die Augen deines Herzens aussticht, d. h. dich so blendet, daß du Gott nicht zu sehen vermagst. Und wenn es dir so geschieht, wie damals dem Sedechias, den der Herr Nebukadnezar mit sich nach Babylon entführte, dann führt dich der Teufel genauso mit sich in die bittere Hölle.22

Diese Predigt für den Fastnachtssonntag setzte das Wissen darum voraus, dass das Babylon Nebukadnezars eine civitas diaboli im Sinne Augustins gewesen sei (»Nebukadnezar [. . .] das ist der Teufel«), und dass das Wesen dieses Teufelsstaates in der Lasterhaftigkeit der Menschen fortwirke (»Wenn du zu hoffärtig bist [. . .], dann führt dich der Teufel [. . .] in die bittere Hölle«). Dass ein Franziskanerprediger seinen Augustinus präsent hatte, war an sich nichts Besonderes. Dass dieser Bezug aber am Sonntag in der Fastnacht hergestellt wurde, erscheint bezeichnend, weil damit die Charakterisierung zweier Lebensweisen verbunden war: der Lasterhaftigkeit, die sich mit den Namen Nebukadnezars und Babylons verband, und der aktiven Nächstenliebe, die sich auf das Bild Jerusalems bezog, zwei Welten also, die bei späteren Predigern ausdrücklich mit der Fastnacht und ihrem Brauch in Verbindung gebracht werden. So beginnt z. B. der Verfasser eines Plenars von 1518 die Erklärung des Evangeliums am Fastnachtssonntag, ‘Nehmet wahr, wir steigen auf gen Jerusalem’, mit einer Beschreibung der auff disen tag fallenden Neigung zu großen sünden, als zu fresserei, und zu hochmut oder hoffart, zu unkeuschheit, zu narrheit, das ist butzen oder fasznachtspiel, dadurch gottes gantz wirt vergessen, und stellt dem die Mahnung der Kirche gegenüber, das wir ablassen von der Üppigkeit diser welt. Am Beispiel des ‘Blinden am Weg’ charakterisiert er all sünder und sünderin, die verblendet werden durch vier sünden, das ist hoffart, geit(z), unkeuschheit, und Unglaube und gibt dafür Beispiele, zuerst die schon genannte Untat des Königs von Babylon: Zu dem ersten wurden dem jüdischen künig Sedechie ausgestochen seine äugen von dem künig von Babylonia, und das umb hoffart willen. Er

22

S. 233f., wo für Antwerpen 1629 das folgende Spiel verzeichnet ist: ›Balthasar, sone van Nabuchodonosor den lesten Coninck van Babylonien‹. Einen ähnlichen Titel, wohl zum gleichen Thema, verzeichnen Augustin de Backer, Carlos Sommervogel u. a. (Hgg.), Bibliothe`que de la Compagnie de Je´sus, T. 1, Bd. 1, Brüssel/Paris 1890, S. 461f., Nr. 177, für die Fastnacht 1723: »Balthasar Tragoedia exhibetur a Classis Humanitatis studiosis in Gymnasio S. J. Antverpiae, die XIX Februarii MDCCXXIII, circa tertiam ludis Bacchanalibus«. Vgl. Franz Karl Grieshaber (Hg.), Deutsche Predigten des XIII. Jahrhunderts, 2. Abt., Stuttgart 1846, S. 59f., hier vor allem S. 64f.

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führt das dann nur noch kurz weiter aus, wann ich darf es nit lang machen, so es fasznacht ist. Wann zu diser zeit sprechen die groben knollen: wir hant nit gern lang predigen, vil lieber lang bratwürst. Es lug aber ein jeglicher für sich, das er nit den abgott, das ist, die fasznacht, mer ere, dann gott unsern schöpfer. Die Fastnachtswelt bezieht sich demnach auf den Abgott, der mit dem künig von Babylonia identisch ist, während die Gotteswelt Jesus Christus betrifft, der mit den Seinen nach Jerusalem aufsteigt; das Zwei-Staaten-Modell schlägt auch hier durch, wird aufgegriffen und auf die beobachtbaren Brauch-Tatbestände übertragen.23 Genauso verfährt kurz vor 1500 der Franziskanerkonventuale Johannes Pauli, als er sich an einem Aschermittwoch rückblickend zum Gegensatz zwischen Fastnacht und Fastenzeit äußert. Er nennt zwar nur den Namen Jerusalems, stellt aber der Sache nach beide Wesensarten oder civitates einander gegenüber, wenn er schreibt: Ehe ich denn zur heutigen Epistel komme, sollt ihr wissen, liebe Kinder, daß ich gestern daheim bei den Barfüßern gesagt habe, welch großer Unterschied zwischen der vergangenen Zeit der Fastnacht und der heilsamen Zeit der Fasten besteht, ein Unterschied wie zwischen der Finsternis und dem Licht oder zwischen dem Hinab- und dem Hinaufsteigen. In der Fastnacht sind die Menschen emsig hinabgestiegen zu der Welt; die Welt ist ständig von einer Sünde in die andere gefallen. Aber jetzt, in der gnadenreichen Zeit der Fasten, sind die Tage des Heils und der Wiederversöhnung mit Gott gekommen. Und so wie wir in der Fastnacht von einer Bosheit zur nächsten geeilt und abgestiegen und in die Hölle geeilt sind, sollen wir jetzt in der heilsamen Zeit der Fasten wieder aufsteigen, ja laufen von einer Tugend zur anderen, von einem guten Werk in das andere, so lange, bis wir wieder aufsteigen und zu unserem Vaterland gelangen, dem himmlischen Jerusalem.24

Abstieg zur Hölle und Sünde in der Fastnacht, Aufstieg nach Jerusalem und zur Tugend in der Fastenzeit, – das ist das Modell, um das es geht. Man hat uns (z. B. im ‘Lexikon des Mittelalters’) entgegengehalten, dass es uns mit dieser Herleitung um eine »dezidierte interpretatio christiana« gegangen wäre, doch ist das nicht der Fall. Eine solche würde nämlich voraussetzen, dass es in diesem Umfeld vor- bzw. außerchristliche Phänomene gebe, die wir nur nachträglich (und damit methodisch fragwürdig) christlich interpretieren wollten. Diese Voraussetzung trifft aber nicht zu. Vielmehr geht es uns darum zu zeigen, wie die christlichen Voraussetzungen beschaffen waren, die das Aufkommen der Fastnacht und ihrer Bräuche und Spiele möglich machten, ja die es mit einer gewissen Notwendigkeit erforderten. Neben vielen anderen Autoren äußert sich in gleichem Sinn wie Johannes Pauli 1654 der Jesuit Matthias Faber, der auch auf den Fastnachtsbrauch selbst eingeht: Der Teufel täusche in dieser Zeit die Narren und die herumtollenden Jünger des Bacchus; er stelle ihnen alle nur denkbaren Lüste, Vorteile und Eitelkeiten vor, ohne dass sie damit etwas anderes erlangten als ein schlechtes Gewissen. Darauf nun beziehe sich, was Jesajas über das verwüstete Babylon sage, und Babylon sei ein Sinnbild der 23

24

Vgl. Vincenz Hasak, Die Himmelsstraße, oder: Die Evangelien des Jahres in Erklärungen für das christliche Volk nach deutschen Plenarien aus der Zeit 1500, Regensburg 1882, S. 144f. Vgl. Robert G. Warnock (Hg.), Die Predigten Johannes Paulis, München 1970 (MTU 26), S. 214, Z. 12–24.

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verkehrten Welt: Babylonem, mundi perversi typum esse scimus.25 Das gilt dann aber logischerweise auch umgekehrt: die verkehrte Welt wird durch Babylon versinnbildlicht, dessen Wesensart nach der genannten Auffassung in den Sünden der Menschen über die Zeiten hinweg weiterwirkt, und zwar bis zum Tage des Gerichtes. Wie gut der Jesuit Faber über den Zusammenhang zwischen dem Zwei-Staaten-Modell und den Kalenderfestzeiten der Fastnacht und der Fastenzeit Bescheid wusste, ergibt sich auch daraus, dass er eine eigene, fünfteilige Fastnachtssonntagspredigt dem Convivium Christi et Diaboli widmete und dabei die einander gegenüberstehenden Welten einlässlich beschrieb, z. B. nach dem Muster: ‘Beim Gastmahl Christi werden fromme und ehrenhafte Gespräche geführt; beim Gastmahl des Teufels herrschen Torheiten und närrische Reden vor’ usw. Die Kontinuität dieser Vorstellung über die Jahrhunderte dürfte sich kaum widerlegen lassen, wenngleich es – gerade im 17. und 18. Jahrhundert – auch Prediger gegeben hat, die mit der Tradition nicht mehr völlig vertraut waren; im 19. und 20. Jahrhundert ging die Zahl der Predigten für den Fastnachtssonntag ohnehin zurück, weil an ihre Stelle vielerorts die Verlesung der bischöflichen Fastenmandate trat und diese Mandate dann auch in die Predigtsammlungen übernommen wurden. Gut Bescheid wusste beispielsweise noch 1907 der Prediger A. Götz, der in einer Homilie zum Fastnachtssonntag an das Bild der ‘beiden Fahnen’ bei Ignatius von Loyola erinnerte und dazu meinte: »Mehr als zu einer anderen Zeit des Jahres können wir sehen, daß die Menschheit in zwei Hauptlager geteilt ist. Auf der einen Seite erhebt Satan den Ruf: ‘Kommet zu mir, ich geb euch das Glück! [. . .]’ Auf der andern Seite ertönt die milde, freundliche Einladung Christi: ‘O, laßt euch nicht täuschen von eurem schlimmsten Feinde.’ Auch an uns ergeht diese doppelte Einladung.«26 Wie diese Zeugnisse belegen, sahen die Prediger am Fastnachtssonntag das Narrenwesen als ‘babylonisch’ oder ‘teuflisch’ an und leiteten aus ihm die Lehre ab, sich mit der beginnenden Fastenzeit der ‘Jerusalem’-Gemeinschaft der Gläubigen zuzuwenden. Wieso sie dazu, gerade am Fastnachtssonntag, das Zwei-Staaten-Modell des hl. Augustinus bemühten, wird von den Autoren gewöhnlich selbst ausgeführt: Den Anlass boten die erwähnten Perikopen des Fastnachtssonntages, in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – der Text des Evangeliums »Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem« (Lk 18,31–43) mit den Abschnitten der Leidensankündigung und der Blindenheilung, wobei der letztere die Gelegenheit zur Beschreibung der ‘Blindheit’ all derer abgab, die mit diesem Blinden ‘am Weg’ saßen und wie dieser um die rechte Erkenntnis baten (Domine, ut videam! – ‘Herr, gib, dass ich sehe!’), nämlich der Sünder, die nur ihrem eigenen Vergnügen nachlebten, ohne über das Heil ihrer Seele nachzudenken. Entscheidend für die Anwendung des Zwei-Staaten-Modells war aber nicht die Nennung Jerusalems als Zielpunkt des Aufstiegs, auch wenn sich auf der 25

26

Vgl. Matthias Faber SJ, Concionum Sylva Nova in Dominicas et Festa totivs Anni, Köln 1654, S. 181ff. und 186ff., Zitat S. 181. Vgl. A. Götz, Pfarrpredigt auf den Sonntag Sexagesima, in: Der Prediger und Katechet 57 (1907), S. 85–92.

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Grundlage der entsprechenden Stellen der Apokalypse des Johannes der Hinweis auf Babylon hier leicht anschließen konnte, sondern der Zusammenhang des Evangeliums zum Fastnachtssonntag mit der für denselben Tag vorgeschriebenen Epistel, dem 13. Kapitel des ersten Korinther-Briefes, in dem Paulus den Lobpreis der caritas ausspricht: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei; deren größtes aber ist die Liebe (Nunc autem manent fides, spes, caritas; tria haec; major autem horum est caritas).« Es ist dieselbe Epistel, die eine klare Unterscheidung trifft zwischen denen, die diese Liebe besitzen, und denen, denen sie fehlt, und die zugleich jeden, der ohne diese caritas wäre, als »tönendes Erz oder klingende Schelle« charakterisiert: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, hätte aber keine Liebe, wäre ich wie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle (Si linguis hominum loquar, et angelorum, charitatem autem non habeam, factus sum velut aes sonans, aut cymbalum tinniens).« Wer Augustins Zwei-Staaten-Modell kannte, begriff ohne weiteres, dass hier Christus und all denen, die ihm beim Aufstieg nach Jerusalem folgten, die Eigenschaft der caritas zugeordnet wurde, die der Heilige als Wesensmerkmal der civitas Dei beschrieben und der er mit dem Hinweis auf die cupido-Gemeinschaft derer, die nach ihrem eigenen Willen leben, die civitas Diaboli unter dem Bild Babylons gegenübergestellt hatte. Die Prediger, die ihre Fastenpredigten auf dem Zwei-StaatenModell aufbauten, waren diejenigen, die nicht nur den vorgegebenen Evangelientext auslegten, sondern die zugleich den Überblick besaßen, Epistel und Evangelium (sowie die übrigen Teile des Messformulars) für den Sonntag Quinquagesima einerseits und die Bedeutung dieser Lesungen für die Fastnachtsfeier andererseits im Zusammenhang zu sehen; es waren die sachkundigeren Theologen. Damit ist klar, wozu die liturgische Zeit der Fastnacht diente: einer Darstellung der unheiligen babylonischen Welt, d. h. einer civitas terrena, im Gegensatz zur Fastenzeit, die ihrerseits gewissermaßen nach Jerusalem, d. h. zur Heilsgemeinschaft und damit zur Einhaltung der Gebote Gottes, im konkreten Sinn: auf Ostern, das Auferstehungsfest, hinführen sollte. Mit dieser Einsicht, dass Fastnacht und Fastenzeit auf der Grundlage des augustinischen Zwei-Staaten-Modells den Zweck erfüllen, den Gegensatz zwischen Teufels- und Gottesstaat, zwischen Unheils- und Heilsgemeinschaft, zwischen Narrentum und Weisheit deutlich zu machen, sind entscheidende Grundlagen für das Verständnis der Fastnacht, ihrer Bräuche und auch ihrer textierten Brauchspiele gewonnen.27 Man sieht, warum sich in der Fastnacht Hölle und Teufel 27

Auf der Tagung in Blaubeuren wurde diesem Ansatz von Eckehard Simon sehr entschieden widersprochen, u. a. mit dem wenig sachbezogenen Argument, dass er nur von den akademischen Schülern des Verfassers vertreten werde. Dies trifft nun allerdings nicht zu, weil beispielsweise Werner Mezger, der ihn sich zu eigen gemacht hat, keiner seiner Schüler ist, sondern aus der Tübinger Schule Hermann Bausingers stammt. Von der Sache her wäre zudem hinzuzufügen, dass bislang niemand eine andere Erklärung für das Miteinander der gegensätzlichen liturgischen Zeiten von Fastnacht und Fastenzeit angeboten hat, so dass es bis auf weiteres bei der Annahme einer Übertragung des augustinischen Zwei-StaatenModells auf den liturgischen Kalender bleiben muss. Welche Bedeutung dieses Modell auch für die Narrenschiffsidee von Sebastian Brant und Geiler von Keysersberg gehabt hat, zeigt jetzt eine Studie des Verfassers im Memoria-Band zum 550. Geburtstag Sebastian Brants, hg. v. Hans-Gert Roloff, Jean-Marie Valentin u. Volkhard Wels, Berlin 2008, S. 49–74.

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samt den von diesen geförderten Sünden oder Lastern breit entfalten dürfen, ja müssen. Man versteht, warum die Narren mit ihren Schellen auftreten (neuere Bibelübersetzungen, die aus den Schellen der Epistel z. B. ‘lärmende Pauken’ gemacht haben, beweisen damit nur ihre Unkenntnis der Tradition, denn das cymbolum tinniens der Vulgata war schon lange vor Luther, etwa bei Geiler von Keysersberg [Abb. 9], als ‘Schelle’ übersetzt worden, und kein Narr wäre so närrisch, dass er statt mit den kleinen Schellen nun heute, weil eine bestimmte Übersetzung das nahelegt, mit ‘lärmenden Pauken’ durch die Gegend liefe). Man begreift auch, warum in der Fastnacht allenthalben närrische, kurzlebige Reiche mit Prinzen und Prinzessinnen, mit Herolden und Garden errichtet wurden, nicht erst seit dem Karneval des 19. Jahrhunderts, der 1823 vom Jesuiten-Gymnasium Tricoronatum in Köln seinen Ausgang nahm und sich dann über Mainz und andere Städte hinweg weit verbreitete, sondern – von noch älteren Befunden abgesehen – schon am Collegium Romanum Hungaricum in Rom im 17. Jahrhundert, der Musterlehranstalt der Jesuiten, wo man bis heute jedes Jahr an Fastnacht einen Narren-König, den Muftik-Rex, wählt, der die Fastnachtslustbarkeiten verantwortet und dessen Herrschaft vor Anbruch des Aschermittwochs endet.28 1529 hieß in Gent der Karnevalsprinz Nabugodonozor,29 d. h. Nebukadnezar, er trug also den Namen eines der prominentesten Könige von Babylon, womit sein Narrenreich als babylonisches Reich ausgewiesen war. Man versteht von hier aus ohne weiteres, warum die Zahl Elf, wie erwähnt, die eigentliche Narrenzahl ist, weil sie jene bezeichnet, denen die Zugehörigkeit zur rechten Ordnung fehlt.30 Jedenfalls lässt sich zeigen, dass die Fastnacht insgesamt ein festes, gleichwohl ein offenes System bildet, in dem Platz für alles ist, was im Gegensatz zur rechten Ordnung steht – also auch für alles Animalische, Triebhafte und das, was man sonst gewissermaßen ‘unter die Decke’ steckt, d. h. auch für Menschenkot und Dreck, für öffentliches Beilager, für Sexualität und Sinnlichkeit, aber notabene nur, soweit und solange dies im Rahmen eines Spiels bleibt. Mit dem Hinweis auf die babylonische Welt in einem Teufelsstaat finden die Teufelsauftritte ebenso ihre Begründung wie die Höllen des spätmittelalterlichen Nürnberger ‘Schembartlaufes’, die Riesenfiguren 28

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Vgl. A. Kardinal Steinhuber, Geschichte des Collegium Germanicum Hungaricum in Rom, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1906, S. 54–58. – Ferner: Isidor Markus Emanuel, Sieben Jahre im roten Talar. Erinnerungen eines Germanikers, Speyer 1970. Vgl. Herman Pleij, Het gilde van de Blauwe Schuit. Volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen, Amsterdam 1979, S. 30. Ein anderes Fastnachtsspiel über Nebukadnezar verzeichnet Anette Köhler, Das neuzeitliche Fastnachtspiel. Versuch einer Gattungsbestimmung und -dokumentation, ungedr. MagisterArbeit München (LMU), WS 1989/90, S. 217, Nr. 598, für Salzburg 1685: Fastus Fumosus / Ad focum Babilonicum defervescens / Seu Nabuchodonosor / a somnio suo fastuose` erectus: / A Daniele Eiusque Sociis prudenter directus: A Deo tandem juste` correctus. Quem pro annuaˆ Nobilium Exercitiorum Exhibitione in Theatro Aulico / mixto Cothurno humillimis exhibuere obsequiis. / Celsissimo Et Reverendissimo / Principi / Ac Domino Domino Maximiliano / Gandolpho / Archiepiscopo / SALISBURGENSI; S. Sedis APOSTOLOCAE LEGATO, GERMANIAE PRIMATI, etc. etc. Eiusdem SUAE REVERENDISSIMAE / infimi CLIENTES Ephebi. / Die [. . .] Februarij MDC. LXXXV. // SALISBURGI, / ex Typogra´pheo Johannis Baptistae Mayr, Typographi Aulico-Academici. Perioche lat. u. dt., 15 S., Fundorte: Erzbischöfliches Archiv München und Stiftsbibliothek Michaelbeuren.

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ebenso wie der Antichrist (man vgl. K 68), (um den es etwa in Wolfach einen eigenen Konfessionsstreit gab,) die närrischen Verhaltensweisen wie die Rügegerichte in einer unheiligen Welt, und vieles mehr. 4. Soweit die Fastnachtsspiele tatsächlich an die Zeit der Fastnacht gebunden, in ihr verankert und für sie verfasst worden waren, wird man sie bei der beschriebenen Sachlage nicht, jedenfalls von ihrer Funktion her, ohne weiteres als ‘weltliche’ Spiele betrachten dürfen, sondern als liturgische, mithin (und genauer:) als geistliche Spiele ansehen müssen, die allerdings keine geistlichen, sondern weltliche Stoffe zum Thema haben. Worum es ihnen geht, lässt sich leichter erkennen, wenn man berücksichtigt, aus welchen Gründen die ‘liturgische Zeit’ der Fastnacht in den christlichen Kalender eingebaut wurde: Sie sollte (in Übereinstimmung mit den erwähnten augustinischen Denkweisen) dazu dienen, der Fastenzeit, mit der sie unlösbar verknüpft ist, eine Vorbereitungszeit vorauszustellen, in der die abgelehnte Gegenwelt zu allen eigentlich gewünschten Verhaltensweisen sichtbar entfaltet wird. Diese Aufgabe erfüllt sie noch heute, und sie wurde auch von den Fastnachtsspielen erfüllt, solange diese an die Fastnacht, die ihnen den Namen gab, von Anlass und Funktion her gebunden waren. Das änderte sich nach der Reformation und mit Hans Sachs, bei dessen späteren Spielen die Gattung zwar von der Form, aber nicht mehr von der Funktion her beibehalten wurde. Erst die Loslösung der Fastnachtsspiele von der ‘liturgischen Zeit’ der Fastnacht machte aus den liturgisch gebundenen Fastnachtsspielen ‘weltliche Schauspiele’. 5. Die von der Forschung (beispielsweise Eckehard Catholy) beschriebene Ablösung des Fastnachtsspiels durch das neuzeitliche Lustspiel betrifft aber nur die eine, und zwar im Wesentlichen die evangelisch-protestantische Seite der Angelegenheit. Denn im katholischen Einflussbereich blieb die liturgische Bindung der Gattung und mit dieser auch ihre ursprüngliche Aufgabe und Funktion bis zur Gegenwart erhalten. Es gibt Hunderte von Fastnachtsspielen aus der Zeit des 16. bis 20. Jahrhunderts, die die vorreformatorische Tradition fortsetzen. Ein erster Überblick über ‘Das neuzeitliche Fastnachtsspiel’ von Annette Köhler (Anm. 30), zeigt, dass es irrig wäre, das Fastnachtsspiel als liturgisches Drama mit der Reformation beendet zu sehen. Gerade im konfessionellen Zeitalter, d. h. im Zeitraum zwischen der Gründung des Jesuitenordens 1534 und der vorübergehenden Aufhebung der Societas Jesu 1773, mithin im Zeitalter der Gegenreformation, erlebte es eine neue Blütezeit, insbesondere an den Lateinschulen der Jesuiten und der Benediktiner – Anette Köhlers einschlägiger Katalog neuzeitlicher Fastnachtsspiele umfasst, nach einzelnen Orten (von Aachen bis Würzburg) gegliedert, 781 Nummern, die mehr als 50 gedruckten Programme allegorischer Fastnachtsschlittenfahrten der Jesuiten- und Benediktinerkollegien des 17. und 18. Jahrhunderts nicht eingerechnet.31 Die entsprechenden Fastnachtsspiele des 19. und 20. Jahrhunderts sind bislang noch nicht systematisch erfasst worden; der 31

Zu ihnen vgl. Moser, Maskeraden [Anm. 1]. – Irene Götz, Pompae Traharum. Programmatisch-allegorische Schlittenfahrten süddeutscher Jesuitenkollegiaten und Benediktinerschüler in der Zeit der Aufklärung, ungedr. Magister-Arbeit München (LMU) 1987.

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Überblick von Johannes Künzig über ‘Die alemannisch-schwäbische Fasnet’ von 1950 nennt aber, ebenfalls nach den einzelnen Orten getrennt, einige typische Titel moderner Fastnachtsspiele.32 Inhaltlich gesehen, behandeln alle diese Fastnachtsspiele, deren Titel den Bezug zur Fastnacht aufweisen müssen (z. B. Nr. 126, Ellwangen 1738: Diebus ante-Cineralibus, d. h. aufgeführt in den Tagen oder bestimmt für die Tage vor Aschermittwoch) Narreteien dieser Welt oder besser: Verhaltensweisen, die unter bestimmten Aspekten als närrisch oder falsch gelten können. Zum Teil handelte es sich um Singspiele, also um Stücke mit Musik, die den Fastnachtsopern nicht fernstehen.33 Zu den in der Fastnacht (seit Thorn 144034) immer wieder behandelten Narreteien gehört der Gedanke, dass man alte Frauen wieder jung mahlen könnte (Wolfach: ›Die Weibermühle von Trippstrill‹, nach Georg Anton Bredelin, um 1787 u. ö.; Markdorf: ›Die Altweibermühle‹, 1852 und 1922),35 als Thema zuletzt realisiert in der Fastnacht von Thaur in Tirol (siehe Abb. 11). Häufig werden auch Stücke mit zeitkritischem Bezug genannt, in der Zwischenkriegszeit (zwischen 1918 und 1939) geht es z. B. mehrfach um den Völkerbund, dessen Sitzungen man offenbar aus der Ferne gemeinhin als närrisch empfand, so etwa im schweizerischen Bassersdorf (bei Zürich), wo man in der Fastnacht (wohl der Dreißiger Jahre) ein Bühnenstück ›Der Völkerbund oder [Die] Abrüstungskonferenz‹ aufführte: Die Delegierten aller Nationen marschierten im Umzug durch das Dorf und zur Bühne beim Primarschulhaus.36 Ein ähnliches Thema betraf 1936 ein Fastnachtsspiel in Markdorf: ›Die Tagung des Völkerbundes im Schatten des Hexenturmes‹37 – um nur diese Beispiele zu nennen. 32

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Vgl. Johannes Künzig, Die alemannisch-schwäbische Fasnet, Veränd. Nachdr. der Ausg. Freiburg i. Br. 1950, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1989, passim, z. B. S. 89. Auch manche Lokalhistorien geben entsprechende Aufschlüsse, z. B. behandelt Heinrich Bettinger, Die Stockacher Fastnacht, Stockach 1930, die Jahrzehnte hindurch aufgeführten Stockacher Fastnachtsspiele. Vgl. Köhler, Das neuzeitliche Fastnachtspiel [Anm. 30], S. 80. – Zu den Fastnachtsopern vgl. Dietz-Rüdiger Moser, Oper und Karneval. Überlegungen zur Frühgeschichte der Oper, Literatur in Bayern 38 (1994), S. 2–10. Dasselbe verändert in: Vom Neuwerden des Alten, hg. v. O. Kolleritsch, Wien/Graz 1995. – S. a. FS Walter Wiora zum 90. Geburtstag (30. Dezember 1996), hg. v. Christoph-Hellmut Mahling u. Ruth Seiberts, Tutzing 1997, S. 301– 321. Thorn 1440: ›Ein Spiel, wie man alte Weiber jung machet‹, nach Simon Grunau, Preußische Chronik, hg. v. M. Perlbach, R. Philippi u. P. Wagner, Bd. 2, Leipzig 1889, S. 137 ff. Siehe Abb. 10; vgl. Künzig [Anm. 32], S. 88. Zu Bredelin: Rolf Wilhelm Brednich u. Franz Simon, Mitteleuropa, Baden. Die Altweibermühle in der Wolfacher Fastnacht, Film E 2455 des Instituts für den Wiss. Film, Göttingen 1978, Publikation von R. W. Brednich (Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen, Sektion Ethnologie, Serie 9, Nr. 3/E 2455) 1979. Ders., Art. ‘Altweibermühle’, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, Berlin 1975–1977, Sp. 441. – Ferner: Helga Pankoke (Hg.), Die Altweibermühle. Eine Anthologie, Berlin 1987. – Frank Schrader, Die Wolfacher Fasnet und ihre Gestalten. Typoskript, Wolfach 2007 (ausgezeichnet u. a. mit der Ehrenmedaille der Stadt Wolfach 2007. Im Internet zugänglich unter http://www.oberfell.com/christian/fasnetsbuch schrader.pdf, bes. S. 118ff. – zu Markdorf siehe Künzig [Anm. 32], S. 38. Vgl. im Internet: www.kultur-netz.ch/fasnacht.htm. Vgl. Künzig [Anm. 32], S. 38.

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Wir kommen damit zum Schluss und halten fest, dass wir unter Fastnachtsspielen solche Spiele verstehen wollen, die durch Anlass und Funktion an die liturgische Zeit der Fastnacht gebunden sind und die diese Bindung auch ausdrücklich – sei es durch ihre Handlung oder durch die Angaben im Titel oder zum Verlauf – zu erkennen geben. Wir kennen solche Spiele aus drei Epochen: aus dem Spätmittelalter, aus der Frühen Neuzeit und aus der Moderne. Wir halten als ihr gemeinsames Kennzeichen fest, dass es ihre Aufgabe war und über die Jahrhunderte (bei allen Unterschieden im Einzelnen) geblieben ist, die irdische (oder auch, wenn man so will: weltliche) Gesinnung von Menschen zur Schau zu stellen, die allein oder doch im Wesentlichen ihren natürlichen Trieben freien Lauf lassen und diese Triebe mehr oder minder deutlich absolut setzen. Die Fastnachtsspiele sind insofern prinzipiell ein integraler Bestandteil der Fastnacht und ihrer Bräuche, die die gleichen Zwecke erfüllen.

Ulrich Barton

Was wir do machen, das ist schimpf Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels

Nachdem Hans Folz in seinem Fastnachtspiel ›Kaiser Constantinus‹ (K 106)1 vorgeführt hat, wie das Christentum, verkörpert durch einen christlichen Gelehrten, vom Judentum, verkörpert durch einen Rabbi, einer Prüfung auf Stimmigkeit und Schlüssigkeit unterzogen wird und dabei Rede und Antwort stehen muss über so unterhaltsame Themen wie Dreifaltigkeit, Inkarnation, Jungfrauengeburt und Passion – nachdem Folz also in seinem Spiel die zentralen Fragen des Christentums behandelt hat, lässt er den Herolt das Spiel folgendermaßen beschließen: Ir herrn, teilt uns euern segen mitt Und lat euch auch versmehen nicht Die kürzweil hie und auch den schimpf! Wann wir durch freüd und durch gelimpf Zu euch her kumen sint in treuen, Ob wir euch alle möchten erfreüen, Und haben euch drüm ein geistlichs gemacht; Des pübischen wirt sünst vil verpracht; Dasselbig leg wir heür dernider. Aber hilft uns gott pis jar herwider, So wöll wir euch ein frolichs machen, Des ir villeicht pas mocht lachen (S. 819,9–20).

Folz betont zwar, dass das Spiel der Freude der Zuschauer dienen sollte, ist sich aber wohl zugleich bewusst, dass es diese Wirkung auch verfehlt haben könnte, indem er denjenigen unter den Zuschauern, denen das Spiel womöglich zu schwer und zu geistlich war, gleichsam als Trost in Aussicht stellt, nächstes Jahr ein frolichs zu bieten, über das man besser lachen könne als über das soeben gegebene – wobei Folz sich durchaus bemüht hat, die Stimmung am Ende des Spiels noch etwas zu heben, als er kurz vor Schluss noch schnell zwei Bauern auftreten ließ, die durch ihre Sprache und ihren Aufruf zum Tanz noch einmal die Kurve zur Fastnachtsstimmung kriegen sollten. Wenn sich in dieser Ausschreierrede vielleicht nicht unbedingt eine strenge Gattungsunterscheidung zwischen einem frolichen, d. h. einem Fastnachtspiel im engeren Sinne, und einem geistlichen Spiel erkennen lässt,2 so doch immerhin eine bestimmte 1

2

Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966, S. 796–819. Zu den Problemen einer solchen Unterscheidung vgl. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 75–126; Eckehard Simon, Geistliche Fastnachtspiele. Zum

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Publikumserwartung, die im Nürnberg des 15. Jahrhunderts an Spiele zur Fastnachtszeit gestellt wurde: Es bedurfte der Rechtfertigung, ja sogar der tröstenden Aussicht auf ein frolichs Spiel im nächsten Jahr, wenn man ein ernsteres, geistliches Spiel zur Aufführung bringen wollte; das Übliche und das Gewünschte war die Darstellung von etwas pübischem, wie Folz es hier nennt und wohl in den beiden Bauernfiguren am Ende des Spiels verkörpert. Diese Darstellung des pübischen habe, so legt es diese Ausschreierrede nahe, zum Zweck, die Zuschauer zum Lachen zu bringen, und daraus, dass diese Darstellung des pübischen das Übliche war in der Nürnberger Fastnacht, kann man zunächst einmal schließen, dass nach zeitgenössischem Verständnis das Nürnberger Fastnachtspiel die Funktion hatte, beim Publikum Lachen hervorzurufen. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man die Selbstaussagen vieler Spiele in Einund Ausschreierreden betrachtet: Das Spiel ›Der kurz Hannentanz‹ (K 89) formuliert zu Beginn explizit seine Intention: Her der wirt, nu hört neue mer, Warümb wir sein zu euch kumen her; Das wil ich euch erst recht verkünden. Seht, wen wir heint nit frölich fünden Und alle frölichkait wolt vermeiden, Dem müst wir das tischtuch zuschneiden (S. 718,18–23).

Das Spiel habe also die Aufgabe, frölichkait in den Zuschauern hervorzurufen; an anderen Stellen ist in diesem Zusammenhang von freud und guten mut machen die Rede,3 und meistens sind diese Aussagen verbunden mit einer Entschuldigung dafür, dass man es mit dem pübischen etwas zu weit getrieben habe; so sagt z. B. der Ausschreier im ›Spil von einem Schweher‹ (K 3): Herr wirt, ir sult uns farn lan, Hab wir unzucht bei euch getan, Das sult ir uns haben vergut, Und habt die vasnacht guten mut Und last euch trauren nit befiln! Hett wir mit unsern vasnachtspiln Euch kunnen machen freuden vil, Wer unser aller freud und will (S. 46,7–14).

An Fastnacht fröhlich zu sein, ist nicht nur erwünscht und erlaubt, sondern geradezu e vorgeschrieben, wie der Ausschreier im Spiel ›Dy syben kunst vasnacht‹4 deutlich macht: Der babst hat uns den gewalt geben, / Wen wir die faßnacht nit froelich fuenden, / e Den wolt wir pis suntag inn pan laßen kunden (V. 160–162).

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Grenzbereich zwischen geistlichem und weltlichem Spiel, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, hg. v. Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte, Berlin/New York 2007 (TMP 11), S. 18–45. Vgl. K 10, S. 97,14–17: Wir sein euch kumen zu eren, / Ob wir eur freud hie mochten meren / Und euch machen einen guten mut, / Als man dann in der vasnacht tut. Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Dieter Wuttke, 6. Aufl., Stuttgart 1998 (RUB 9415), Nr. 6, S. 34–40.

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Wenn die Spiele als ihr Ziel formulieren, Freude, Fröhlichkeit, Lachen zu verbreiten, dann verstehen sie sich sozusagen als Arm des fastnächtlichen Gesetzes, das eine ausgelassene Stimmung vorschreibt,5 und sie bewirken diese, indem sie zum Lachen reizen, also komisch sind: An den Spielern ist es, eine komische Darbietung zu geben, d. h. sich zum Narren zu machen, und an den Zuschauern, darüber zu lachen. Dementsprechend heißt es im Spiel K 9: Ein iede zeit die hat ir pflicht, Wie man sich darinn halten sol, Wenn heut gefelt es uns gar wol, Des man sich am palmtag must schemen; Darumb sult irs in gut aufnemen, Ob wir ein tail zu grob hie spinnen. Heut tut mangem weisheit zurinnen, Und der sich tut zu narren machen, Das man sein müg in schimpf lachen (S. 92,9–17).

Ist diese Aussage hier in erster Linie auf das vorgeführte Spiel bezogen, geht eine andere Stelle im selben Spiel auf das Grundsätzliche der Fastnacht: Itlicher zeit tut man ir recht. Die vasnacht hat ein solchen siten, Das groß andacht wirt vermiten, Die vasnacht kan vil narren machen Und das man irs schimpfs mug lachen. Solch narren man heut gern sicht, Der man am karfreitag gert nicht (S. 91,24–92,5).

Hier wird die ganze Fastnacht als ein (im neuzeitlichen Sinn) theatrales Spektakel aufgefasst: Die anderen machten sich alle zu Narren, und man selbst habe seinen Spaß daran, nehme also selbst nicht am närrischen Treiben teil, sondern habe eine überlegene Beobachterposition inne; in der Fastnacht werde die ganze Welt zu einer komischen Bühne voller Narrenfiguren, und ihr gegenüber befänden sich die Nichtnarren, die sich im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit an dem Schauspiel belustigten. Die Fastnachtsfreude läge hier also weniger im Treiben der Narren als vielmehr im Beobachten dieses Treibens: Vor allem der Zuschauer habe Spaß an der Fastnacht. Man bemerkt die strenge Trennung zwischen Narren und Zuschauern in dieser Fastnachtskonzeption; die Spiele als Arm des fastnächtlichen Gesetzes, als Mittel zur Erregung von Gelächter, müssten das umfassende Fastnachtstheater im Kleinen reproduzieren oder spiegeln und demnach auch die Trennung zwischen den NarrenDarstellern und den Zuschauern übernehmen. Zu dieser Ansicht wenigstens kann man kommen, wenn man sich an die unzähligen Selbstaussagen der Fastnachtspiele hält, die die Spielabsicht formulieren, freude, frölichkeit, einen guten mut zu machen und 5

Vgl. Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky, Itlicher zeit tut man ir recht. Zu Recht und Funktion der Fastnacht aus der Sicht Nürnberger Spiele des 15. Jahrhunderts, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 207–218, hier S. 209.

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Lachen hervorzurufen. Dann kann man auch von einer bloßen Unterhaltungsfunktion6 der Spiele sprechen oder, wenn man zwar diese Erklärung für zu einfach ansieht, aber nichtsdestoweniger am Lachen als der eigentlichen Wirkungsabsicht der Spiele festhalten möchte, versuchen, dem Lachen bestimmte Funktionen zuzuschreiben: Lachen etwa als abgeleitete Triebbefriedigung,7 als zeitweilige Befreiung von Normen und Zwängen8 oder als aggressives, ausgrenzendes Verlachen von Menschentypen und Menschengruppen.9 Und viele Spiele scheinen auch aufzugehen in einer bestimmten Lachwirkung oder in einer Unterhaltungsfunktion. Aber wollen wirklich alle Spiele genau das, was sie so nachdrücklich zu wollen vorgeben?10 Im Spiel ›Morischgentanz‹ (K 14) wird die Unterhaltungsfunktion von Narren sogar selbst zum Thema: Nachdem der Precursor angekündigt hat: Wir wollen ein kleine weil harren, So wert ir horen von den narren, Das euch mocht machen guten mut, Als man dann in der vasnacht tut (S. 121,8–11)

– als Ziel des Spiels also angibt, den Zuschauern guten mut zu machen –, wetteifern zehn Narren mit ihren Geschichten darum, den Apfel als Preis für die größte Narrheit zu gewinnen, und der zehnte erzählt: 6

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Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea NF 8), S. 326. Johannes Merkel, Form und Funktion der Komik im Nürnberger Fastnachtspiel, Freiburg i. Br. 1971. Rüdiger Krohn, Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts, Kronberg i. Ts. 1974 (Scriptor Hochschulschriften. Literaturwissenschaft 4). Bezüglich der späteren Nürnberger Fastnachtspiele: Hagen Bastian, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983, S. 94–113. Wer die Nürnberger Fastnachtspiele im Sinne einer Negativdidaxe deutet, wie etwa DietzRüdiger Moser (den Menschen werde vor der Fastenzeit noch einmal die Civitas Diaboli vor Augen geführt, damit sie sich abgeschreckt davon abwendeten, vgl. dazu seinen Aufsatz: Fastnacht und Fastnachtsspiel. Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand volkskundlicher und literarhistorischer Fastnachtsforschung, in: Fastnachtspiel−Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten−Gegensätze. Akten des 1. Symposiums der Sterzinger Osterspiele [31.3.– 3.4.1991], hg. v. Max Siller, Innsbruck 1992 [Schlern-Schriften 290], S. 129–147, hier S. 144f., sowie seinen Beitrag im vorliegenden Band (S. 151–165), muss eine Unterhaltungsfunktion ohnehin ablehnen; Lachen hätte dann höchstens die Funktion eines ablehnenden Verlachens der sündigen Welt. In den Selbstaussagen der Nürnberger Fastnachtspiele findet sich jedoch kein Hinweis auf eine Selbstdeutung in dieser Richtung, im Gegenteil. Die immer wiederkehrenden Selbstaussagen im Sinne von (bloßer) Unterhaltung müssten also die eigentliche, negativdidaktische Intention der Spiele verschleiern – doch zu welchem Zweck? Der umgekehrte Fall, dass eigentlich Unterhaltsames sich als Negativdidaxe ausgibt, um sich dadurch umso wilder entfalten zu können oder einen komischen Kontrast zu erzielen, ist nachvollziehbar; Beispiele dafür lassen sich etwa in der Märenliteratur finden. Anstößiges verschleiert sich durch Unanstößiges, nicht umgekehrt. Die negativdidaktische Interpretation kann sich weder auf die Selbstdeutungen der Spiele stützen noch erklären, warum diese sich nicht als Negativdidaxe, sondern als bloße Unterhaltung ausgeben.

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Mich pulet ein freuelein wolgetan, Die wolt ein solchen narren han, Der ir ein guten mut kond gemachen, Des sie allzeit mocht gelachen. Sie sprach: Nu nerrisch schimpf, Darumb so hast du mein gelimpf (S. 126,8–13).

In der Erzählung wird also die vom Precursor hergestellte Theatersituation reproduziert: Ein Narr soll einem Publikum guten mut machen; das gelingt diesem zehnten Narren, indem er vor seiner Angebeteten den eigenen Kot isst; stolz kann er daraufhin verkünden: Des lachet do der pule mein (S. 126,21), und darüber hinaus wird ihm als dem größten Narren auch noch der Apfel verliehen. Wird die Konzeption von Fastnacht als Narrenschauspiel für vermeintlich nichtnärrische Zuschauer schon durch die konkrete Spielaufführung reproduziert, so hier in diesem Spiel noch einmal durch die Erzählung, zusätzlich unterstrichen durch die Preisverleihung. Schon hier zeigt sich der überraschend hohe Grad an Reflektiertheit der Spiele. Jedoch geht die Erzählung des Narren nicht darin auf, dass dieser die komische Darbietung lieferte und die Frau sie mit Lachen quittierte. Der Precursor beschließt nämlich das Spiel mit der Ankündigung, die Truppe werde nun weiterziehen gen Poppenreut (S. 127,14), um dort die Hochzeit des Narren und der Frau zu feiern – diese ließ sich also durch das närrische Tun dazu verleiten, den Narren zu heiraten, womit sie sich selbst als Närrin erwies. Die überlegene Zuschauerposition wird also aufgehoben: Das Publikum wird selbst Teil der Narrenwelt. Eine Aufhebung der Grenze zwischen Narren- und Zuschauerebene lässt sich auch an der Erwähnung des Ortes Poppenreut erkennen: Poppenreuth ist durchaus ein realer Ort,11 ein Ort in der Wirklichkeit der Zuschauer; im Mund des zum Fastnachtspiel gehörenden Ausschreiers verwandelt er sich jedoch in einen Ort der fastnächtlichen Spielrealität und damit in einen Fastnachtsort, denn nun, im Kontext der Fastnachtspielsprache, hört man wohl im Namensbestandteil Poppen- den poppen heraus, d. h. den Großsprecher oder Schlemmer.12 Der Narr und seine Hochzeit werden durch die Schlussrede des Precursors, der ja genau die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern markiert, in die Realität der Zuschauer hereingenommen, wobei diese Realität jedoch fastnächtlich verwandelt erscheint. Man kann also genau so gut sagen, dass die Zuschauer in die Realität des Spiels hineingezogen werden. Eine solche Aufhebung der Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit wird auch der Aufführungssituation der Fastnachtspiele viel besser gerecht als die strenge Trennung von Narren und Zuschauern; schließlich bewegen sich nicht die Zuschauer zu einem festgelegten Aufführungsort, sondern die Darsteller mischen sich unter eine bereits bestehende Wirtshausgesellschaft und schaffen sich dort eine Art Bühnensituation; der reale Ort Wirtshaus wird dadurch zu einem Ort in der Spielwirklichkeit – mitsamt den sich an ihm befindenden Gästen. Diese Gäste werden hier Teil einer Realität, in der ein Narr an einem realen, 11 12

Für diesen Hinweis danke ich Rebekka Nöcker, Tübingen. Deutsches Wörterbuch, hg. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, 33 Bde., München 1991 [Nachdr. der Erstausg. Leipzig 1854–1971], im Folgenden ‘DWb’, hier Bd. 13, Sp. 2001.

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aber fastnächtlich verwandelten Ort Hochzeit mit einer Frau feiert, die sich von einer Zuschauerin in eine Närrin verwandelt hat. Eine ebensolche Verwandlung hin zur Narrheit wird ihnen, den Gästen, nahegelegt; kurz vor der Ausschreierrede nämlich sagt die Frau mit dem Apfel: Man hat das vor wol mer gehort, Das frauen die zu narren machen, Die allzeit in weisheit wachen. Die weisen in der alten e, Salomon [u]nd Aristotile, Damit Absolon und Sampson Die musten sich all teuschen lon. Das macht der frauen suße minn, Das sie beraubt werden irer sinn. Und solt ich immer ein narre wern, Noch wil ich frauen nit enpern (S. 126,28–127,2).

Mit diesen letzten Worten fällt der Darsteller offensichtlich aus seiner Frauen-Rolle heraus, was die Überblendung der Ebenen nur umso deutlicher macht. Jedenfalls gibt der Precursor daraufhin der üblichen Hoffnung Ausdruck, dass das Publikum die Darbietung im Guten aufnehme, und schiebt die Erklärung hinterher: Die vasnacht das wol machen kann, / Das nerrisch tut vil manger man (S. 127,10f.). Innerhalb des Spiels wurde die Narrheit der Figuren mit ihrer Verliebtheit, außerhalb, aus dem Mund des Precursors, wird die Darstellung dieser Narrenfiguren mit der Fastnacht erklärt. Sowohl Verliebtheit als auch Fastnacht machen Menschen zu Narren. Der Darsteller der Frau hat sich, aus seiner Rolle herausfallend, explizit zu einem ‘Liebesnarrentum’ bekannt: Lieber Narr sein, als der Liebe entbehren müssen! – ein Bekenntnis deutlich in Richtung Publikum, das sich dem, zumal in der Fastnachtszeit als bevorzugter Heiratssaison, wohl nur anschließen kann und soll. Da dieselbe Narrheit hier sowohl aus Verliebtheit als auch aus der Fastnacht begründet wurde, liegt es nun nahe, dass das Publikum mit diesem Bekenntnis zur Liebesnarrheit zugleich ein Bekenntnis zur Fastnachtsnarrheit mitvollzieht. Den Weg dazu hat das Spiel jedenfalls durch seine Reden und seine Überblendungen geöffnet. Das Spiel ›Morischgentanz‹ (K 14) macht deutlich, dass man es bei den Fastnachtspielen nicht einfach mit dem für das mittelalterliche Theater allgemein charakteristischen Fehlen einer strengen Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern zu tun hat, sondern dass diese Grenze bewusst verwischt wird, ja dass man sowohl die Grenzziehung als auch das Verwischen eigens inszeniert: Die Grenze wird zunächst einmal gezogen durch den Einschreier, der die Wirtshausgäste zur Ruhe aufruft und, wie im ›Morischgentanz‹, ein Spiel ankündigt, das ihnen guten mut machen soll; damit wird eine gewisse Bühnensituation hergestellt; außerdem verwendet schon der Einschreier nicht die Alltagssprache, sondern spricht in Reimen, womit ebenfalls die Alltagswirklichkeit gebrochen wird. Diese Grenze scheint jedoch nur dafür gezogen zu werden, damit sie umso effektvoller übertreten werden kann. James Erb13 weist an mehreren Spielen ein solches bewusst herbeigeführtes Schillern zwischen »fiction« und »reality« nach: So wird das ›Spil von den Freiheit‹ (K 63) 13

James R. Erb, Fictions, Realities and the Fifteenth-Century Nuremberg Fastnachtspiel, in:

Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels

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eröffnet durch einen Mann, der zunächst den Wirt begrüßt und dann erklärt, er sei auf der Suche nach einer meit (S. 553,4), die ihn zu sich bestellt habe, um ihr einen igel [zu] stechen (S. 553,8) – mit der üblichen Pointe: So waiß ich nichts an im zu rechen (S. 553,9). Die Spielsituation ist hier allein durch die gereimte Rede und den Wortwitz gekennzeichnet. Erb macht zudem darauf aufmerksam, dass die Form des Knittelverses selbst sich durch ihre Flexibilität bestens dafür eignet, ihre Versgestalt, ihre Literarizität zu verschleiern und zu überspielen.14 Das ›Spil der Walbruder genant‹ (K 2) wird durch die Worte des hereinkommenden Walbruders eröffnet: Got gruß euch, lieben herren mein! Habtß nit fur ubel, das ich kum herein, Und hort mein klagen von mir armen Und laßt mein not euch erparmen Und thut eur hilf mir heint zu frumen, Wann in groß armut bin ich kumen (S. 34,3–8),

dann erzählt er seine Geschichte, woraufhin ein Bauer, der sich vermutlich bis dahin unter den Zuschauern befunden hat, mit den Worten aufspringt: Hort liegen, lieben herren, heut hört, / Wie euch der mit seinem gespei betört! (S. 35,10f.) Ähnlich, vielleicht noch effektvoller, ist ›Ein schönes Spil‹ (K 31): Hier betritt ein Ehemann das Wirtshaus, setzt sich hintern tisch (S. 252,22) – nimmt also selbst die Rolle des Wirtshausgastes ein – und sagt: Ir herrn, ich kum do her zu euch, Die gemein wirtsheuser ich vast scheuch, So idermann dan laufet ein. Bei euch maint ich verholn zu sein Vor meinem weib, die mir nach schleuft (S. 252,23–27).

Er fügt sich ganz in die schon anwesende Gesellschaft ein: Wol auf, tragt uns her speis und wein! Ich wil die vasnacht bei euch sein. Bringt uns pretspil, wurfel und karten! Last uns einander zu der taschen warten, Das man auch sust vil kurzweil treib. Hinn bin ich sicher vor meim weib (S. 253,6–11).

In diesem Moment tritt seine Frau herein: Find ich dich hie, du lotter und schalk? / Das dich teufel im schandtrog walk! (S. 253,13f.) Und es scheint sich inmitten der anderen Gäste ein echter Ehestreit abzuspielen. Im ›Paurenspil mit einem posem altem Weib etc.‹ (K 4) sitzt die Ehefrau sogar schon im Wirtshaus, als der Ehemann mit seinen Freunden hereinkommt und von seinem Eheleid erzählen will. Die Situation im Spiel ›Von zweien Eleuten‹ (K 19) deutet Erb jedoch wohl nicht richtig, wenn er daraus, dass die Ehefrau ihren Mann mit Hauswirt (S. 161,6) anredet, den

14

Carnival and the Carnivalesque. The Fool, the Reformer, the Wildman, and Others in Early Modern Theatre, ed. by Konrad Eisenbichler and Wim Hüsken, Amsterdam/Atlanta 1999 (Ludus 4), S. 89–116. Ebd., S. 99.

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Schluss zieht, der Wirt selbst spiele hier mit;15 da der Ehemann seine Frau als Hausfrau anspricht (S. 161,21), bedeutet hauswirt hier vermutlich auch nichts anderes als ‘Ehemann’. Auch Erbs Interpretation der Einschreierrede des Spiels K 3816 ist zweifelhaft: Die darin enthaltene Aussage, die Truppe sei in das falsche Haus gekommen, stellt tatsächlich eine sehr schöne Überblendung von Spiel und Realität dar; Erb bezieht jedoch die darauf folgende Narrenbeschreibung auf das Publikum,17 was nicht zwingend ist, denn es liegt näher, sie auf die Narren-Darsteller der Spieltruppe zu beziehen. Aber Erbs Gedanke ist gar nicht abwegig, denn es lassen sich durchaus Beispiele dafür finden, wie die Zuschauer selbst die Narrenrolle übernehmen müssen, besonders in Narrenseil-Spielen; so sagt der Ausschreier des Spiels K 26: Ir herren, der narren wurd zu vil; Ir merkt das pest an unserm spil, Man wilß bei narren lassen bestan, Die narrenkleider tragen an,18 Und itzo der andern narren nit remen, Wir wurden manchen man sust beschemen, Der doch ganz meint in seiner geper, Das er der allerwitzigst wer (S. 233,15–22).

Diese Rede scheint genau auf jene Zuschauer abzuzielen, die das Narrentreiben im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit verlachen: Diese Zuschauerposition wird hier aufgehoben; der nichtnärrische Zuschauer ist selbst ein Narr, und damit wird den Zuschauern dieses Spiels die Narrenkappe aufgesetzt.19 Erb erklärt diese Strategie der Fastnachtspiele, bewusst die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern zu verwischen, damit, dass die Spiele in dieser Weise auf das in Nürnberg herrschende Maskenverbot reagieren: Die Bürger dürfen zwar keine realen Masken tragen, dafür werden ihnen durch die Spiele fiktive, sprachlich gestaltete Masken aufgesetzt; Erb spricht treffend von »linguistic masquerade«.20 Diese ermögliche durch ihr Spiel mit »fiction« und »reality« eine Destabilisierung von Identitäten und Denkgewohnheiten, die das Äußern von sonst Unzulässigem und von 15 16

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20

Ebd., S. 106f. Pox grint, ich mein, wir gen nit recht, / Get einher, lieben freund, und secht! / Es ist nit meier Pilzans haus. / Drett hindersich wider hinauß! / Ich sich, das wir unrecht sein gangen, / Wir wolten etwas an han gfangen, / So hat uns gleich der ritt gefuert / An end, do es sich nit gepürt. / Doch well wirß hinnen vachen an. / Frau Venus, so wellet verstan, / Wie die sint in ir lieb erdrunken, / Do von das hirn in ist gesunken, / Dardurch sie worden sint zu thoren, / Darumb si tragent eselsohren, / Gauchesfedern und narrenkappen, / Alls ir si all do um secht drappen (S. 283,5–20). Erb [Anm. 13], S. 111f. D. h. wohl bei denjenigen, die jetzt, im Spiel, als Narren verkleidet sind. Ähnlich schließt das Spiel ›Die Narren‹ (K 116): Wollauft, ir narren! Die zeit hat fuog. / Ich han ewr noch nit gefangen genuog; / Denn wenn ich mein jagen hinnen anvieng, / So weis ich nicht, wie es dem wiert ergieng, / Wann ich würd noch gar manchen narren treffen, / Der da meint, ich kü[n] doch gar nimants effen. / Es ist von hinnen nit weit ein kreiß, / Darinnen ich gar vil narren weiß (S. 1012,1–8). Erb [Anm. 13], S. 92.

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Kritik erlaube.21 Ein solches Maskenspiel bietet vielleicht noch weitere Möglichkeiten. Zunächst gilt es, sich die Logik der Maske klarzumachen: Die Maske verdeutlicht, dass der Maskenträger nicht er selbst ist, dass er eine Rolle spielt, die ihm die Maske vorgibt; die theatrale Situation, dass es sich um ein Rollenspiel, um eine ‘bloße’ Inszenierung handelt, wird durch die Maske stets bewusst gehalten. Diese Maske kann dadurch dem Maskenträger als Deckmantel dienen, indem er sich in seinem Tun stets darauf berufen kann, dass er ja nur eine Rolle spiele; er täte bestimmte Dinge gar nicht, wenn sie ihm nicht seine Rolle, seine Maske vorschriebe. Auf diese Weise kann er nun aber genau das tun, was er insgeheim tun will und ohne Maske nicht wagen würde. Die Maske, das Rollenspiel gibt ihm also die Freiheit, seine eigentlichen Wünsche gefahrlos zu verwirklichen; dann ist der Maskenträger mit seiner Maske identisch bei gleichzeitiger Inszenierung ihrer Differenz. Das wird besonders deutlich an negativ besetzten Masken oder Rollen, wie sie für die Fastnacht typisch sind: Narren, Bauern, Teufeln, Hexen, Wilden Männern usw. Da sie von vornherein negativ besetzt und allgemein abgelehnt sind, lässt sich mit ihnen umso leichter und augenfälliger die Differenz zwischen Maske und Träger inszenieren. Die Maske ermöglicht dem Träger das Ausspielen des Untersagten und offiziell Abgelehnten und hat demnach enthemmende Funktion. Wenn das Nürnberger Fastnachtspiel als »linguistic masquerade« zu verstehen ist, indem es den Zuschauern Narrenmasken aufsetzt, sie in die Inszenierung hineinzieht, dann kann es der Enthemmung des Publikums dienen, und es gibt Selbstaussagen der Fastnachtspiele, die so eine Deutung nahelegen. In der Einschreierrede zum Spiel ›Der Baurn Rugvasnacht‹ (K 69) heißt es: Nu hört, ir herrn all gemein, Da pei groß und auch clein! Die baurn haben ainn funt erdacht, Das sie uns all haben zu sammen pracht Und wölln uns ie vil witz an gewinnen; So müß wir der vasnacht helfen narrhait beginnen (S. 609,4–9).

Der Einschreier gibt vor, nicht eigentlich zur Truppe zu gehören, die aus den genannten Bauern besteht; diese hätten uns, d. h. ihn und die Zuschauer, zusammengebracht mit dem Ziel, ihnen vil witz an zu gewinnen, ‘viel von ihrem Verstand zu rauben’. Das ist aber für ihn kein Grund, den Bauern ihr Spiel zu verwehren, im Gegenteil: Der Einschreier fordert die Zuschauer dazu auf, sie gewähren zu lassen und so dazu beizutragen, dass die Fastnachtsnarrheit beginnen kann, und zwar nicht nur die Narr21

»Such is the power of representation to activate the social body, to destabilize cognitive categories, and to facilitate the communication of illicit affiliations and desires that reside at the core of carnivalesque incarnations of the theatrical enterprise. [. . .] there flourished a subtle and complex aesthetic that problematized representation and parodied its official critique. It produced a form of Carnival sociability that was both acutely self-aware and that engendered through verbal means a unique variation on the unstable and shifting discourses that characterize what we call the carnivalesque« (ebd., S. 112).

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heit der Bauern im Spiel, sondern auch die der Zuschauer; wenn diese das närrische Treiben der Bauern zulassen, bewilligen sie zugleich die dadurch erzielte Beraubung ihres Verstandes. Das Spiel der Bauern steht im Dienst der Fastnacht, und die Zuschauer dienen der Fastnacht, wenn sie bereit sind, sich vom närrischen Spiel zur Narrheit anstecken zu lassen. So bindet das Spiel Darsteller und Zuschauer zu einer Narrengemeinschaft zusammen: Es überträgt die Narrheit der Darsteller auf die Zuschauer. In der Ausschreierrede des Spiels ›Di karg Baurnhochzeit‹ (K 104) heißt es: Herr wirt, unsern schimp lat euch wol pehagen! / Het wir euch ain fuder weins mügen her tragen, / Das het wir euch gleich als gern pracht (S. 788,26–28). Natürlich dient diese Aussage in erster Linie der komischen Wirkung und nicht einer poetologischen Bestimmung des Fastnachtspiels; dass aber gerade Wein und Fastnachtspiel hier in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt werden, ist doch bezeichnend. Die Truppe hätte gern ein fuder weins mitgebracht; da es jedoch zu schwer war, brachte sie eben ein Fastnachtspiel mit – es wird nicht gesagt, dass das eine schlechtere Wahl war; es ist also ein gleichwertiges und damit vergleichbares Geschenk, vergleichbar wohl am ehesten bezüglich seiner Wirkung. Nun kann man einwenden, dass mit Wein nicht unbedingt eine enthemmende Wirkung angezeigt werden muss; vielleicht bezeichnet er einfach die freude und frölichkeit, die ja immer wieder als Wirkungsziele des Fastnachtspiels genannt werden. Das ist natürlich nicht auszuschließen und entspräche der üblichen (verharmlosenden) Selbstdeutung der Spiele; aber immerhin ist gleich von einem fuder die Rede, also einer besonders großen Menge.22 Ausschlaggebend ist jedoch, wie Wein in den Spielen sonst erscheint, meistens nämlich in Kontexten des vol werdens, der Trunkenheit.23 Im ›Spil von der Vasnacht‹ (K 51), in dem die Fastnacht selbst vor Gericht steht, wirft ihr der Anwalt des Adels vor, zu ihrer Zeit werde mancher zu eim Lotten, Der dann die eigen tochter sein Beschlief, als sie waren durch den wein Entschemt. Also hor, mein Vasnacht, Dem gleich tust du mit deiner macht (S. 380,18–22).

Fastnacht und Wein bewirken also gleichermaßen, dass die Menschen entschemt werden. Da der Wein zur Fastnacht gehört, kann die durch ihn verursachte entschemung bzw. Enthemmung ihr angelastet werden. Wein ist ein Enthemmungsmittel der Fastnacht, wie das Fastnachtspiel vielleicht ein anderes ist: Nachdem der Richter in demselben Spiel die Fastnacht freigesprochen und mit den Worten: Seit fort all vasnacht frisch und geil! (S. 389,26) die Kläger und wohl auch die Zuschauer zum Feiern der 22

23

Um genau zu sein: der größten Maßeinheit für Flüssigkeiten (vgl. DWb [Anm. 12] Bd. 4, Sp. 366f.); wörtlich: ‘eine Wagenladung voll’. Vgl. das Urteil des ersten Schöffen in ›Der Baurn Rugvasnacht‹ (K 69): das ir ieder ainn aimer weins zalen sol. / Davon werd wir alle vol (S. 610,19f.). In Hans Folz’ ›Spil, ein hochzeit zu machen‹ (K 7) ruft der Einschreier: wirt, habt ir ein guten wein, / So tragt neur her und schenkt flux ein / Und laßt uns [. . .] / [. . .] trinken, das uns die kopf krachen! (S. 67,3–6).

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Fastnacht aufgerufen hat, was sich gleich durch einen Bauern verwirklicht, der zum Tanz auffordert, – nachdem also die Fastnacht ins Recht und in die Wirklichkeit gesetzt ist, sagt der Ausschreier: Ir herrn, des schimpfs ist gleich genuk, Die narrenweis ist nit idermanns fug. Wir wolten die Fasnacht han erschreckt, So hab wirs erst recht auf geweckt (S. 390,12–15),

und daran schließt er noch fastnächtliche Ratschläge an die jungen Männer und Frauen an, und zwar solche, die den soeben vorgebrachten Anklagen durchaus entsprechen. Der Ausschreier gibt also vor, die Tatsache, dass die Fastnacht jetzt erst eigentlich ausgebrochen sei, sei eine unbeabsichtigte Folge des soeben dargestellten Geschehens. Der Witz liegt natürlich darin, dass diese Folge gerade nicht unbeabsichtigt war: Die Fastnacht wurde nur deshalb angeklagt, damit sie freigesprochen und erst eigentlich durchgesetzt werden konnte; das Thema des Spiels, der Prozess gegen die Fastnacht, war nur Maske; das Spiel tat so, als sei es ein Spiel gegen die Fastnacht, also nicht eigentlich ein Fastnachtspiel, um sich dann als genau dieses zu entpuppen. Die Aufrufe zum Feiern und zum Tanz bezeichnet der Ausschreier als ‘Aufwecken’ der Fastnacht; da diese Aufrufe typisch sind für Fastnachtspiele, kann man von diesem Spiel aus für alle Spiele mit derartigen Aufrufen festhalten, dass sie gewissermaßen die Fastnacht aufwecken wollen. Wie ein solches Aufwecken genauer zu verstehen ist, ergibt sich aus den Formulierungen, mit denen die Spiele die Fastnacht und ihre Wirkungsweise beschreiben. In der Einschreierrede des Spiels ›Ain einsalzen vasnacht‹ (K 91) heißt es: Die fasnacht wont uns noch im sinn (S. 722,6), ähnlich in der Ausschreierrede des Spiels K 16, gleichsam als Entschuldigung für die Grobheit des Spiels: iez die vasnacht ist inn leuten (S. 137,2), und, etwas ausführlicher, in der Ausschreierrede des Spiels K 41: Das künt ir euch selber wol bedeuten, / Das iezund die vasnacht ist in den leuten / Und wirkt auß in gar guten mut (S. 319,22–24). In diesen Aussagen erscheint die Fastnacht wie ein Dämon, der in die Menschen fährt und von ihrem sinn Besitz ergreift. Man hat es mit einer Besessenheit, ja mit einem regelrechten Enthusiasmus zu tun, wenn gesagt wird, dass die Fastnacht aus den von ihr Besessenen guten mut wirke: Das bedeutet, dass die Fastnacht durch die Besessenen hindurch die Fastnachtsstimmung verbreitet. Als solche Besessene beschreiben sich die Spieler selbst und entschuldigen damit ihr zügelloses Treiben. Wenn dies das Bild der Fastnacht ist, wie es die Spiele entwerfen – die Fastnacht als Dämon, der in die Menschen fährt –, und wenn die Besessenen aus ihrer Besessenheit heraus guten mut, d. h. die Fastnachtsstimmung und damit weitere Besessenheit hervorrufen, dann müssen die Besessenen, d. h. die Spieler, die sich als Fastnachtsbesessene geben, mit ihrem Tun Besitz vom sinn der Zuschauer ergreifen: Fastnacht findet laut diesen Aussagen im Kopf, im Inneren der Menschen statt. Wie gelingt es also den Spielen, die Fastnacht in die Köpfe zu bringen? Durch seine Inszenierungsform und seine bewussten Überblendungen von Spiel und Realität greift das Fastnachtspiel, wie gezeigt, schon einmal körperlich, räumlich

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auf die Welt der Zuschauer über; das allein dürfte bereits einen großen Einfluss auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Zuschauer haben. Hinzu kommt noch, dass der Großteil des in Fastnachtspielen verhandelten Geschehens rein sprachlich verfasst ist, in Form der kurzen Geschichten, die in Reihenspielen einfach erzählt werden. Der jeweilige Auftritt mag durch Gesten begleitet sein, aber das eigentliche Geschehen dabei ist sprachlich und vollzieht sich in der Vorstellung der Hörer. Es geht also darum, über diese Geschichten und Reden die Fastnacht in den Köpfen zu erzeugen, und dies wiederum bedeutet, eine ‘verkehrte’ Sicht auf die Welt herzustellen; die Verkehrung der Welt liegt hier in der Verkehrung des Blicks auf die Welt: Alles soll allein vom Körperlichen her verstanden werden; andere, etwa religiöse Hintergründe werden bewusst ausgeblendet,24 und in diesem Ausblenden, in diesem bewussten und damit stets spürbaren Blickwechsel liegt sicherlich schon eine große Lust. Die Fastnachtspiele forcieren diesen Blickwechsel und stimmen und schwören die Zuschauer ganz auf das Körperliche ein: Diese sollen die gesamte Welt, insbesondere sich selbst und ihre Mitmenschen, rein vom Körperlichen her wahrnehmen; natürlich spielen dabei das Sexuelle und das Skatologische eine besonders große Rolle als der Inbegriff des bloß Körperlichen und damit des Anstößigen und Verkehrten. Die Ehe z. B. wird rein von ihrer sexuellen Seite her verstanden: Stets ist es der nachthunger, der die Figuren zur Eheschließung treibt; auch der Ehebruch wird nur deswegen verurteilt, weil dadurch der betrogene Ehepartner sexuell zu kurz kommt; Askese ist nur Vorwand für Impotenz: Wer fastet, kann bloß nicht richtig feiern! Im Spiel K 29, einem Ehegerichtsspiel, rät der erste Schöffe, dass der Angeklagte, der seine Frau mit seinem unstillbaren nachthunger zu sehr plagt, solche Speisen essen solle, Die im der gailen ein teil vertreiben. An fleisch und aier sol er beleiben, Wann es macht plut und mert den samen Und sterkt den puls beim ars mit namen (S. 242,22–25).

Der zweite Schöffe empfiehlt zusätzlich, dass er am besten auch den Wein vermeide und nur Wasser trinke – ein weiterer Beleg für die entschemende Wirkung des Weins. Auf diese Weise werden gerade die Speisen, die man in der Fastnachtszeit isst, deutlich sexualisiert und damit eben diejenigen, die die im Wirtshaus sitzenden Zuschauer des Spiels gerade zu sich nehmen. Die Wirklichkeit der Zuschauer wird sexualisiert, bzw. diese sehen mit anderen Augen auf ihre Wirklichkeit, etwa die gerade vor ihnen stehenden Speisen und Getränke. Eine solche Sexualisierung der Alltagswirklichkeit zeigt sich auch im Spiel K 25: Hier werden als wunderbar ausgegebene Erscheinungen erklärt, die entweder schon dem Bereich des Sexuellen entnommen sind oder auf diesen hin gedeutet werden; so wird etwa das wunder (S. 225,21), dass die Kleidung von Männern unten und die von Frauen oben knopfet, mit Knoten verschnürt, ist, folgendermaßen erklärt: Wenn sie einander ligen bei / Und unden baide knopfet wärn, / Sie wurden einander fester pern25 (S. 225,26–28). Die Alltagswelt wird verwandelt, 24 25

Vgl. Linke [Anm. 2], S. 113. pern bedeutet ‘schlagen’ (DWb [Anm. 12], Bd. 1, Sp. 1501f., ‘beren’); gemeint ist wohl: ‘Sie würden einander (noch) härter zusetzen.’

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indem vernünftige, unanstößige, praktische Erklärungen für harmlos-alltägliche Phänomene bewusst ausgeblendet werden, so dass diese als wunder erscheinen müssen, die nur sexuell zu erklären seien. Die Wirklichkeit verwandelt sich und wird ungewohnt-wundersam, indem sie in einen rein sexuellen Deutungshorizont gestellt wird. Das Sexuelle ist nicht nur ständiger Bezugspunkt der Aufmerksamkeit; es wird durch die Spiele auch eigens befürwortet und gerechtfertigt. Das zeigte sich bereits im ›Morischgentanz‹ (K 14) an der Schlussaussage: ‘Lieber ein Narr sein als der Frauen entbehren müssen!’ Im Spiel ›Das Actum Vasnacht‹ (K 84) fragt der jung maister sechs alte maister, aus welchen Gründen Männer Frauen lieben. Die ersten fünf nennen z. B. Schönheit, Besitz, Abstammung als Gründe; der sechste und letzte aber führt aus: Ich setz ain sach, die es alles beschleust, Darauß die recht war lieb fleust. Es ist naturlich, das di man Große lieb zu frauen schüllen han, Wann sie all kumen von irem stammen; Darümb strickt sich26 di natürlich lieb zu sammen, Das sie ie größer lieb zu sammen haben. Kain maister sol darümb nit diefer graben (S. 694,6–13).

Dieser Grund erscheint also als der einzig wahre und umfassende; es sei demnach völlig der Natur und der Ordnung gemäß, dass Männer Frauen lieben. Der jung maister ist auch überzeugt und fasst zusammen, Das man und frauen wol zu sammen fügen, / Reht sam ain gürtel zu einer taschen / Und eben als ain zapf für ain flaschen (S. 694,20–22). Nachdem es bisher darum gegangen war, warum Männer Frauen lieben, und dies durch die natürlich lieb erklärt wurde, wird aus dieser Erkenntnis nun eine Verpflichtung für die Frauen abgeleitet: Die letzten Worte vor der Ausschreierrede kommen aus dem Mund eines der alten maister und lauten: Welche frau aber nit lieb hat zu mannen, / Die ist halt wol in des pabsts pannen (S. 694,30f.). Man gewinnt den Eindruck, das ursprüngliche Thema des Spiels: ‘Warum lieben Männer Frauen?’ sei nur Vorwand, nur Maske gewesen für sein eigentliches Anliegen, die Frauen zur Liebe zu überreden, ja zu verpflichten; und diese Verpflichtung auf Liebe, die im fastnächtlichen Rahmen natürlich in erster Linie körperliche Liebe meint, wird in der Ausschreierrede abschließend noch einmal überdeutlich: [. . .] ain vasnacht on freuden / [. . .] / Und ain junge frau on tutten / [U]nd ain junger, der nit mag nollen, / [. . .] / Die dink sint alle nit ains kots wert (S. 695,4–11). Derartige Spiele ‘wecken’ die Fastnacht zum einen dadurch, dass sie sexuelle Assoziationen wecken, zum anderen dadurch, dass sie die Zuschauer zur Liebe aufrufen, ermuntern und geradezu verpflichten.27 Es ist auch bezeichnend, dass Spiele der The26 27

Gemeint: sie? Der Ausschreier des Spiels K 33, das das ganze fastnächtliche Treiben als einen einzigen Frauendienst darstellt (vgl. S. 266,14–19: Es habe seinen Sinn und damit auch sein Ziel einzig in weibes gunst), bezeichnet und entschuldigt sich und seine Mitspieler als Gesandte der Venus: habt uns fur gut unsern tant. / Uns hat frau Fenus her gesant, / Das wir frauen

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matik ‘Jungfraueneinsalzen’, die die unverheirateten Frauen zum Heiraten ermahnen sollen, in ganz direkter Weise auf junge Frauen im Publikum Bezug nehmen; im Spiel ›Di Vasnacht vom Maigtum Einsalzen‹ (K 77) sagt der erste Sprecher: Herr wirt, ich pin darümb kumen her, / Habt ir nicht maid, die am maigthum tragen schwer [. . .]? (S. 641,4f.); kurz darauf entdeckt der zweite Sprecher eine solche Jungfrau unter den Gästen des Wirts: Herr der wirt, nu hört meine wort! / Ir habt gar ain hübsche dirn dort, / Die get an dem zersigen28 hunger (S. 641,14–16). Durch solche Worte wird die junge Frau aus dem Publikum29 – inmitten einer ausgelassenen und aufgeheizten Festgesellschaft! – zugleich zum Sexualobjekt wie (möglichen) -subjekt gemacht und zum ‘Mitspielen’ eingeladen, ja geradezu genötigt. Wenn sie sich auf die ihr zugewiesene Rolle einlässt, hat das Spiel sein Ziel erreicht: das weibliche Publikum unter dem Deckmantel des bloßen Spiels zur Liebe zu verführen.30 Der Deckmantel, die Maske, die Verstellung prägt die Gestaltung der Fastnachtspiele auf allen Ebenen, insbesondere auch auf der sprachlichen: Während das Skatologische mit Vorliebe unverhüllt ausgesprochen wird, erscheint das Sexuelle zumeist hinter der Maske der Metaphorik – nach der Maskenlogik ein Indiz dafür, dass es den Spielen noch mehr um das Sexuelle zu tun ist. Die metaphorische Verhüllung erlaubt es, das durch sie Dargestellte umso ausführlicher zu beschreiben, da man sich den Anschein gibt, als erweitere man einfach die Metaphorik und spinne die Bildlichkeit weiter, während damit, gleichsam unbeabsichtigt und unter der Hand, auch das dadurch Verhüllte umso deutlicher und nachdrücklicher ins Bewusstsein tritt. Bei der Metaphorisierung des Sexuellen in den Spielen kommt noch hinzu, dass sie, da sie ihre Bildlichkeit überwiegend aus der Alltagswelt nimmt, immer neue, bis dahin neutrale Bereiche der Wirklichkeit in die Sphäre des Sexuellen hineinzieht. Diese Tendenz entspräche der bereits genannten Sexualisierung der Alltagswelt. Man kann einwenden, dass solche Metaphernbildung auch für jede andere Form obszöner Literatur gebräuchlich ist. Fastnachtspiele zeichnen sich jedoch noch dadurch aus, dass sie Teil einer Feierwirklichkeit sind, die selbst schon im Zeichen einer Umwertung der Alltagswelt steht; in der verkehrten Welt sind alle Bereiche von sich aus schon auf das ‘Verkehrte’, das Andere ausgerichtet; wenn sie in diesem Rahmen als Metaphern für

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woll sullen sprechen / Und uns nach irem willen brechen, / So beleiben wir bei iren hulden. / Das wollen sie gern umb uns verschulden (S. 268,11–16). Die Spieltruppe gehöre also zum Gefolge der Liebesgöttin und habe durch ihre Darbietungen Anspruch auf die Liebe der Zuschauerinnen. zersig Adjektiv zu zers, ‘Penis’ (DWb [Anm. 12], Bd. 31, Sp. 753). Dass sie eine Zuschauerin ist, schließe ich aus dem Fehlen einer Sprechpartie, das jedoch auch an der Unvollständigkeit des Spiels liegen könnte; dann säße einer der Darsteller, als junge Frau verkleidet, unter den Zuschauern; das ist denkbar, aber nicht zwingend. In jedem Fall finden hier eine starke Einbeziehung des Publikums und eine offenkundige Überblendung der Wirklichkeitsebenen statt. Ganz ähnlich: ›Der Gerdraut Einsalzen, Vasnacht‹ (K 76): Herr der wirt, wie seit ir ein mann, / Das ir ain solche dirn so wol getan / So lang her habt loßen erfirn / Und ir nit gedacht ümb ain manspirn? / [. . .] Darümb mus ich sie salzen ein, / Bis ir der öker wirt gehenkt ein (S. 640,16–25).

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das Andere verwendet werden, dann bringt das die Verkehrung der Welt umso deutlicher zum Bewusstsein; die fastnächtliche Ausrichtung, Umwertung, Verwandlung aller Lebensbereiche wird durch die Metaphernbildung in augenfälliger Weise eigens vollzogen. Hier ist nun wieder auf die Komik zurückzukommen, die die Spiele ja so oft und deutlich als ihr eigentliches Wirkungsziel ausgeben. Bei all solcher Darstellung des Sexuellen und Skatologischen spielt sie die entscheidende Rolle, denn sie ist es, die die ästhetische Darstellung des Obszönen überhaupt erst erlaubt: Walter Haug weist darauf hin, dass das Obszöne durch seine Schockwirkung zwar per se jede literarische/ästhetische Stilisierung durchbreche und auf das Lebensweltliche durchschlage, dass es sich aber, wenn man es ins Komische wendet, in eine ästhetische Distanz bringen läßt, und dies insbesondere dann, wenn man mit Verschleierungen arbeitet, mit Metaphern, Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, mit Stilisierungen also, die mehr oder weniger kunstvoll auf einen Lacheffekt zielen.31

Die komische Stilisierung rückt das Obszöne in eine ästhetische Distanz, die es überhaupt erst annehmbar, ‘genießbar’ macht. Der ästhetische Genuss des komisch stilisierten Obszönen besteht dann in der Reaktion des Lachens: Im Lachen kann der Einbruch des Ausgeschlossenen, Tabuisierten in die Wirklichkeit aufgefangen und bewältigt, das Ausgeschlossene also erneut distanziert werden; doch gehört zum Lachen eine fundamentale Ambivalenz, die Haug mit Bezug auf die Komiktheorie von Joachim Ritter und Odo Marquard32 folgendermaßen darstellt: Im Lachen erledigt man das Verlachte, aber es steckt darin doch ein positives Moment. [. . .] Man bewältigt im Lachen nicht nur den Schock des Obszönen, sondern man gesteht der Sphäre, in die man dabei vorstößt, lachend ein Recht zu – ein relatives Recht gewiß, aber ein Recht eben doch im Gesamtzusammenhang des Lebens. Und wohlgemerkt: im Akt des Lachens wird die ästhetische Sphäre genauso gebrochen wie im Schock. Die komische Stilisierung des Obszönen ist zwar ein ästhetisches Phänomen, aber der Lacheffekt bricht aus dem ästhetischen Bereich aus. Er ist amoralisch und deshalb so gesund.33

Zu Komik und Lachen gehört also die Ambivalenz von distanzierender Ästhetisierung und lebensweltlicher Verwirklichung, und gerade die Ästhetisierung kann dem Obszönen zum Einbruch in die Wirklichkeit verhelfen: »Auch wo das Obszöne als Bewältigtes zugelassen ist, besteht die Möglichkeit, daß es auf seine archaische Basis durchschlägt«,34 dass also das durch die Kultur gebändigte und ins Ungültige, Un31

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Walter Haug, Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter, in: Erotik, aus dem Dreck gezogen, hg. v. Johan H. Winkelman u. Gerhard Wolf, Amsterdam/New York 2004 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 59), S. 67–90, hier S. 76f. wieder in: Walter Haug, Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften, Tübingen 2008, S. 446–464, hier S. 454; Hervorhebungen durch U. B. Joachim Ritter, Über das Lachen, in: ders., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92; Odo Marquard, Exile der Heiterkeit, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 133–151. Haug [Anm. 31], S. 77 bzw. S. 454; Hervorhebungen durch U. B. Ebd., S. 79f. bzw. S. 456.

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wirkliche abgedrängte Körperlich-Animalische über das im Lachen vollzogene Zugeständnis seines »relativen Rechts« sein absolutes Recht, seine volle Macht und Wirklichkeit zurückerobert. Genau darum nun scheint es den Fastnachtspielen zu gehen, wenn sie die Zuschauer zu Narren machen wollen: Sie bleiben nicht dabei stehen, ihnen die im Lachen gewonnene Erkenntnis zu vermitteln, dass das sonst Verdrängte auch zum Lebensganzen gehört und damit ein relatives Recht besitzt35 – dafür müssten die Zuschauer nicht zu Narren werden –, vielmehr wollen die Spiele die verkehrte Welt vollständig in der Zuschauerrealität durchsetzen und ihr das absolute Recht zusprechen. Komik ist das Mittel, die Zuschauer für die verkehrte Welt zu öffnen; im Lachen vollziehen sie das Zugeständnis ihres relativen Rechts, ein Zugeständnis, das, weil das Lachen immer auch »aus dem ästhetischen Bereich ausbricht«, nur zu leicht einem Bekenntnis zur verkehrten Welt gleichkommen kann. Ein solches gemeinschafts-36 und wirklichkeitskonstituierendes, zudem festlich gebundenes Lachen rückt die Spiele in die Nähe von Ritualen. Was Rainer Warning über die Gärtnerszene des Osterspiels sagt, kann man gut auch auf das Fastnachtspiel beziehen: »Das Publikum ist einbezogen nicht mehr im Modus kultischer Partizipation, wohl aber im Sinne der von H. R. Jauß so genannten ‘assoziativen Identifikation’. Es assoziiert sich einer Spielhandlung[,] i[nd]em es selbst eine Rolle übernimmt«.37 Die assoziative Identifikation bestimmt Jauß folgendermaßen: 35

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In einer solchen Erkenntnisvermittlung sieht Hedda Ragotzky, Der Bauer in der Narrenrolle. Zur Funktion ‘verkehrter Welt’ im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Typus und Individualität im Mittelalter, hg. v. Horst Wenzel, München 1983, S. 77–101, das Ziel der Fastnachtspiele, allerdings ohne das am Lachen und an Ritters Komiktheorie festzumachen: »Das Prinzip der Verkehrung ist [. . .] Medium von Erkenntnis, einer Erkenntnis, die so und nicht anders gewonnen werden kann. Aus der Perspektive der Verkehrung erscheinen die Erfahrungsgesetze und Normen, die die herrschende Ordnung konstituieren, in ihrem Geltungsanspruch relativiert, sie werden anschaubar aus der Distanz und können damit zum Gegenstand der Reflexion werden. Nur so verfestigen sie sich nicht zu abstrakten Setzungen, sie können befragt werden und bleiben offen für sich verändernde Ansprüche der Praxis. [. . .] Mit dem Prinzip der Verkehrung kann eine Totalität verkehrter Welt aufgebaut werden, nur so ist ein Blick auf die Gesamtheit der Dinge und Ereignisse der eigentlichen Welt möglich, nur so können sie richtig gesehen und beurteilt werden.« (S. 94f.) Ragotzky rückt das reflexive, erkenntnisförderliche Moment der Spiele sehr in den Vordergrund und sieht ihre Leistung vor allem darin, dass sie die Fastnacht literarisierten (S. 98); diese Deutung berücksichtigt zu wenig ihre Komik und deren Eigengesetzlichkeiten sowie die Zugehörigkeit der Spiele zu den übrigen Fastnachtsbräuchen und damit ihre – zumindest unterschwellige – Ritualität. Dass die Fastnachtspiele ganz besonders auf Gemeinschaftsbildung aus sind, zeigt sich schon daran, dass die Spieler sich bewusst unter eine bereits bestehende Wirtshausgemeinschaft mischen; indem sie von hier aus ein gemeinsames Gelächter erregen, machen sie diese Gemeinschaft erst zu einer eigentlich fastnächtlichen, zu einer Gemeinschaft im Zeichen des Narren; demjenigen, der nicht mitmacht bzw. mitlacht, der sich also dieser Gemeinschaft verweigert, werden Strafen vonseiten der Narren- und Lachgemeinschaft angedroht. Zum Lachen als Mittel zur Gemeinschaftsbildung vgl. Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten, Einleitung zu: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. v. dens., Berlin/New York 2005 (TMP 4), S. IX–XXXI, v. a. S. XI–XVII. Rainer Warning, Das geistliche Spiel zwischen Kerygma und Mythos, Vestigia 1 (1979),

Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels

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Unter assoziativer Identifikation soll ein ästhetisches Verhalten verstanden werden, das sich am reinsten mit der Übernahme einer Rolle in der geschlossenen Welt einer Spielhandlung verwirklicht. Spielhandlung meint hier gerade nicht die Darstellung für Zuschauer. Die assoziative Identifikation der Spielenden hebt vielmehr das Gegenüber von Darstellung und Betrachtung, Akteuren und Zuschauern auf.38

Genau diese Aufhebung des Gegenübers von Akteuren und Zuschauern scheinen ja die Fastnachtspiele durch ihre Inszenierungsform und ihre Einbeziehung des Publikums in besonders ausgeprägter Weise zu betreiben. Jauß macht, mit Bezug auf Freuds Definition des Festes als eines »gebotenen Exzesses«, auch auf die Gefahren assoziativer Identifikation aufmerksam: Das Vergnügen am Spiel kann das Publikum durch ästhetischen Genuß von Zwang und Gewohnheit seines Alltags freisetzen und es eben dadurch unmerklich dazu verführen, nolens volens durch assoziative Identifikation in Ritualhandlungen hineingezogen zu werden, die seine zunächst freie ästhetische Einstellung in die Unfreiheit kollektiver Identitäten umschlagen lassen.39

Der »ästhetische Genuß«, zu dem nach Jauß eine ästhetische Distanz und Unverbindlichkeit gehören, könnte, wie gesagt, bei den Fastnachtspielen in ihrer Komik begründet liegen. Diese können sich denn auch nicht genug damit tun, ihre komischspielerische Unverbindlichkeit hervorzukehren: Was wir do machen, das ist schimpf (K 10, S. 97,27) – solche Formulierungen spielen die Darbietung herunter zum bloßen Spaß ohne Wirklichkeitsbezug, so dass auch das darauf antwortende Lachen ganz harmlos, unverbindlich und ohne Folgen für die Wirklichkeit zu nehmen wäre: Die Zuschauer könnten sich bedenkenlos darauf einlassen. Zugleich jedoch wecken solche Beteuerungen gerade wegen ihrer Überbetonung der Unverbindlichkeit und Harmlosigkeit den Verdacht, dass es den Spielen doch um Ernsteres, um die Beeinflussung und Konstitution von Wirklichkeit geht, zumal ihre Form, die der assoziativen Identifikation, besonders leicht dahin umschlagen kann. Im ästhetisch-komischen Spiel ist das Körperlich-Animalische als Obszönes in die Unwirklichkeit des Rollenspiels (Jauß) und der komischen Stilisierung (Haug) verschoben, und aus beiden, der einen wie der anderen Unwirklichkeit heraus kann es wieder wirklich werden, indem das Rollenspiel in Identität umschlägt bzw. das Ver-

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S. 13–36, hier S. 26. Es muss jedoch betont werden, dass Warnings Deutung des Osterspiels als eines Lachrituals (am ausführlichsten dargestellt in: ders., Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, S. 115–122) in eine andere Richtung geht: Das Lachen über den Teufel bestätigt diesen zwar als reale, zum Weltganzen untrennbar zugehörige Macht, aber es fungiert damit nicht als Bekenntnis zum Teufel, sondern als Ritual zur Entlastung von Teufelsfurcht. Innerhalb der verkehrten Welt der Fastnacht, in der das Negative positiviert ist, und speziell innerhalb der Nürnberger Spiele, in denen der Teufel selten ‘leibhaftig’ vorkommt, könnte das Lachen über das Negative andere Funktionen übernehmen, zumal über Negatives, das nicht wie der Teufel gefürchtet wird. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, S. 260. Ebd.

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Ulrich Barton

lachen ein Bekenntnis zum Verlachten bedeutet. Beides kommt im Fastnachtspiel zusammen: Dieses ist ein Paradebeispiel für die assoziative Identifikation, ein Rollenspiel, bei dem es keine Zuschauer gibt, das die Inszenierung auf die gesamte Wirklichkeit ausdehnt; dieses Rollenspiel nun steht im Zeichen der verkehrten Welt: Es ist gerade das Obszöne, das hier inszeniert wird, und dazu bedarf es der Komik. Das Obszöne wird im Fastnachtspiel also in zweifacher Weise distanziert, durch Rollenspiel und durch Komik, und beide Weisen bergen die Gefahr der Aufhebung der Distanz. Man kann auch sagen, beide Weisen erleichtern in besonders hohem Maße den Zugang zum Ausgegrenzten: Denn wenn die gesamte Wirklichkeit sich in eine Inszenierung verwandelt, dann bedeutet es nur einen Perspektivenwechsel zu sagen, dass das Inszenierte die gesamte Wirklichkeit einnimmt, dass es vollständige Wirklichkeit erlangt. Ebenso beim Lachen: Wenn es als Verlachen das Obszöne distanziert, verhilft es ihm als Verlachen zugleich zu Macht und Wirklichkeit. In beiden Fällen kann die eine Perspektive der anderen zur Maske dienen und behaupten: ‘Es ist ja nur Spiel!’ bzw. ‘Es ist ja nur Spaß!’ – Was wir do machen, das ist schimpf! Die Fastnachtspiele laden die Zuschauer zum angeblich unverbindlichen Mitspielen bzw. Lachen ein; Jauß spricht von der ‘unmerklichen Verführung’ durch ästhetische Stilisierung und assoziative Identifikation. Fastnachtspiele kann man als solche Verführungs-, ja im wahrsten Sinne Be-törungsmittel verstehen: Die Zuschauer sollen be-tört, zu Narren gemacht, zur Narrheit und d. h. zu fastnächtlichem Verhalten verführt werden.40 Es ist kein Zufall, dass Rollenspiel und Komik als wesentliche Elemente zur Fastnacht gehören, denn dieses Fest ist selbst zutiefst geprägt von der gleichzeitigen Nähe und Distanz zum Anderen, Ausgeschlossenen: Es versteht und gibt sich von vornherein als Ausnahmezeit, als Inszenierung des eigentlich Ungültigen, und alle Teilnehmenden sind sich dessen bewusst; nun liegt aber genau in diesem Ausnahmestatus der Fastnacht ihre Verführungskraft: Gerade weil man um die eigentlich gültige Ordnung weiß, kann man sich bedenkenlos und scheinbar ohne Gefahr dieser zeitweiligen Unwirklichkeit hingeben, und eben diese Zeitweiligkeit, diese Limitiertheit des Festes kann die Feiernden dazu verleiten, sich die nur hier und jetzt sich bietenden und erlaubten Gelegenheiten nicht entgehen zu lassen. Die verkehrte Welt wird durchgespielt, verwirklicht, erfahrbar und damit auch genießbar gemacht.41 Hier zeigt sich die 40

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Vielleicht lässt sich eine solche be-törende Intention der Fastnachtspiele nicht verallgemeinern. Es gibt durchaus Spiele, die sich mit ihr nur schwer in Einklang bringen lassen; dazu gehören insbesondere literarisch, politisch oder religiös ambitionierte Spiele, die jedoch, im Ganzen gesehen, ohnehin eher die Ausnahme bilden. Wichtig ist, dass die be-törende Wirkung wenigstens als Möglichkeit immer im Hintergrund steht und dass die Spiele mit Darstellungsmitteln arbeiten, die ihr zumindest entgegenkommen. Der Fehler, den die negativdidaktische Interpretation der Spiele (vgl. Anm. 10) begeht, liegt darin, dass sie das Performative der Fastnacht und der Spiele ignoriert. Die Intention der Fastnacht mag noch so sehr theologisch begründet sein: In der konkreten Wirklichkeit der inszenierten verkehrten Welt oder Civitas Diaboli entfalten sich Kräfte und Eigengesetzlichkeiten, die der ursprünglichen Intention gerade zuwiderlaufen können; die Inszenierung, das Erfahrbarmachen des Negativen steht immer in der Gefahr, dass dieses gerade durch seine

Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels

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Zusammengehörigkeit und innere Verwandtschaft von Fastnacht, Theater und Lachen: Sie alle lassen sich unter bestimmten Vorbehalten auf das Negative ein, Vorbehalten, die sich immer auch als Vorwände nutzen lassen. Fastnacht ist aufs engste verbunden zum einen mit dem Lachen als der Bejahung des Anderen, Ausgegrenzten, und zum anderen mit dem Theatralen als dem Masken- und Rollenspiel, dem Als-ob. Das Fastnachtspiel stellt sich, gemäß seinem Selbstverständnis, in den Dienst der Komik, um sich deren subversives Potential zunutze zu machen, und es steigert die Theatralität der Fastnacht, indem es sie reproduziert, und damit reproduziert und erhöht es auch die der Fastnacht innewohnende Gefahr, das nur ausnahmsweise Geltengelassene zum eigentlich Gültigen, das nur Inszenierte zur Realität zu machen.

Inszenierung faszinierend und anziehend wirkt. Abgesehen davon besagt eine theologischkirchliche Begründung der Fastnacht noch gar nichts über die Funktion und Wirkung der Spiele, zumal diese, wie gesagt (Anm. 10), nicht einmal vorgeben, Negativdidaxe zu sein.

LITERARIZITÄT UND THEATRALITÄT

Christiane Ackermann

Dimensionen der Medialität Die Osmanen im Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer

I. Einleitung ›Des Turken Vasnachtspil‹ aus dem Rosenplüt-Corpus gilt als »eines der bedeutendsten Beispiele«1 seiner Gattung und als ein Spiel, dem die Forschung besonders große Aufmerksamkeit geschenkt hat.2 Ein Grund für das rege Interesse ist der kuriose Auftritt des türkischen Sultans im Stück. Dem osmanischen Herrscher kommt eine zentrale und zudem (im Vergleich mit der Literatur der Zeit im deutschsprachigen, aber auch gesamteuropäischen Raum) ungewöhnlich positive Rolle zu: Nach Nürnberg gereist, liefern sich der Sultan und seine Vertreter ein verbales Gefecht mit Boten des Papstes, des Kaisers und der Kurfürsten um die Verhältnisse im Hl. Römischen Reich einerseits und um das türkische Machtstreben andererseits, bis die Gäste aus dem Osten unter Garantie freien Geleits durch den Stadtrat schließlich wieder abziehen. Der türkische Sultan erscheint in dem Spiel als Fürsprecher der Nürnberger Bürger, der die Missstände im Reich anprangert; er nimmt somit die Position des politischen und moralischen Mahners ein. All dies mag zunächst überraschen, denn ›Des Turken Vasnachtspil‹ entstand nur wenige Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen,3 und es scheint mit seiner eigenwilligen Türkenfigur im Kontrast zur zeitgenössischen ‘Türkenliteratur’ im europäischen Raum zu stehen. Diese zeichnet i. d. R. (insbesondere in 1

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Matthias Thumser, Türkenfrage und öffentliche Meinung. Zeitgenössische Zeugnisse nach dem Fall von Konstantinopel (1453), in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, Berlin 1997 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 20), S. 59–78, hier S. 74. – Zum ›Turken Vastnachtspil‹ vgl. auch den Beitrag von Hansjürgen Linke im vorliegenden Band (S. 11–61). Brigitte Stuplich, Das ist dem adel ain große schant. Zu Rosenplüts politischen Fastnachtspielen, in: Jürgen Jaehrling, Uwe Meves u. Erika Timm (Hgg.), Röllwagenbüchlein. FS Walter Röll, Tübingen 2002, S. 165–185, hier S. 176. – Das Spiel, das sehr wahrscheinlich von Rosenplüt stammt, ist in insgesamt sieben Handschriften überliefert und damit häufiger als jedes andere der Rosenplütschen Fastnachtspiele (vgl. Ingeborg Glier, Rosenplütsche Fastnachtspiele, in: 2VL Bd. 8, 1992, Sp. 211–232, hier Sp. 228). Die Erwähnung des historischen Ereignisses lässt darauf schließen, dass das Spiel nach 1453 verfasst wurde (vgl. K 39, S. 299,15). Als terminus ante quem gilt das Jahr 1456, denn sechs von sieben Textzeugen verweisen auf dieses Datum als ein zukünftiges (vgl. K 39, S. 294,15f.). Zur Diskussion der Datierung vgl. Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea 8), S. 209, und Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition, Lübeck/Hamburg 1970, S. 67f., der 1455 als Entstehungsdatum ansetzt.

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Christiane Ackermann

Zeiten, in denen das osmanische Expansionsstreben als bedrohlich empfunden wird) kein positives Bild vom türkischen Sultan und von ‘den Türken’;4 die (bild-)textlichen Darstellungen der Osmanen und des Osmanenreiches stellen ‘die Türken’ als Schreckgestalten dar, als grausame Schlächter, die Christen pfählen und Kinder, Frauen sowie Männer schänden.5 Von solchen eindeutig negativen Darstellungen heben sich z. T. auch die Türkenfiguren im Dramenwerk des Hans Sachs und Jakob Ayrer ab. Beide Dichter nutzen, vergleichbar dem Rosenplütschen Fastnachtspiel, türkische Figuren für die Einforderung christlich-bürgerlicher Werte. Dabei kontrastieren die Werke die Sphäre des Türkischen mit jener des Christlichen und nehmen zugleich Fixierungen und Mobilisierungen des Raumes vor, die zu einer Analyse der kulturellen Konstitution, ja Produktion des Raumes6 im Zusammenhang der Wahrnehmung der osmanischen Expansion anregen. 4

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Die deutschsprachigen Quellen bezeichnen die Osmanen i. d. R. als Türken, obwohl eine Gleichsetzung nicht korrekt ist. Der synonymische Gebrauch wird hier übernommen, sofern von den türkischen Figuren in den untersuchten Quellen die Rede ist. – Die osmanistische Fachliteratur heute vermeidet den synonymischen Gebrauch von ‘Osmanen’ und ‘Türken’, während er in der Geschichtswissenschaft noch immer begegnet (vgl. Almut Höfert, Den Feind beschreiben. ‘Türkengefahr’ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600. Frankfurt a. M./New York 2003, S. 184–187). Claudius Sieber-Lehmann erklärt, dass bis »1480 [. . .] im Reichsgebiet die Texte mit propagandistischer und diskursiver Funktion [überwiegen], während informative Texte zur türkischen Lebensweise selten sind« (Claudius Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan Mehmed II. und Karl der Kühne, der »Türk im Occident«, in: Erkens, Europa [Anm. 1], S. 13–38, hier S. 18, Anm. 17). Zu einer neuen kritischen Auseinandersetzung mit der Türkenthematik in Drucken seit 1480 vgl. Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turks (1453–1517), Nieuwkoop 1967, S. 208. – Trotz der zahlreichen negativen Darstellungen ist nicht zu vergessen, dass sich das Abendland seit dem Hochmittelalter zunehmend differenziert mit dem Islam auseinandersetzte und – insbesondere in Zeiten der Stärke auf christlicher Seite – um eine sachliche Auseinandersetzung bemüht war (vgl. hierzu etwa Michael Klein, Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive. Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zur ‘Türkenfrage’ auf dem Hintergrund der osmanischen Expansion und im Kontext der reformatorischen Bewegung, Dissertation FernUniversität Hagen 2004 [Online im Internet: URL: http://deposit.fernuni-hagen.de/34/ (Stand: 19.01.09)], S. 21–66). Auch kooperierten einzelne christliche Herrscher und das Osmanische Reich. Im Blick darauf fragt Höfert kritisch, »wo im 16. Jahrhundert außer auf dem Balkan und im Mittelmeer die angeblich ›ganz Europa‹ bedrohenden Osmanen denn zu finden sind. Wo ist die Seemacht, die England angreift und sich weiter nach Skandinavien aufmacht, wo die osmanischen Landheere, die Paris, Rom, Köln oder Prag bedrohen?« (Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 4], S. 55). Vgl. dazu kritisch Klein, der bemerkt, Höfert setze damit »die Fakten absolut«. Sie sehe »in der Türkengefahr [. . .] zu stark eine rein propagandistische Konstruktion. Die Osmanische Expansion war für jene, die sie – auf dem Hintergrund eschatologischer bzw. apokalyptischer Hoffnungen und Ängste – erlebten, eine potentielle Gefahr, die nicht ausschließen ließ, dass auch Köln [. . .], ja gar sogar Schottland [. . .] gefährdet seien« (Klein, Geschichtsdenken [diese Anm.], S. 17). Vgl. grundlegend Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, sowie die raumtheoretischen Diskussionen in den Kulturwissenschaften (dazu: Sigrid Weigel, Zum ‘topographical turn’. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik Bd. 2.2 [2002], S. 151–165; Jörg Dünne, Forschungsüberblick »Raumtheorie«, online im Internet: URL: http://www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf, S. 1–

Dimensionen der Medialität

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Das Rosenplütsche Fastnachtspiel und die Dramen Sachsens und Ayrers sind als wichtiger Teil eines Prozesses von Gemeinschaftsbildung in Europa zu begreifen, der durch die Konfrontation Europas mit der osmanischen Expansion maßgeblich befördert wurde. Im Zuge der emotionalen und intellektuellen Auseinandersetzung mit den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs bildet sich »zum ersten Male in der Frühen Neuzeit so etwas wie eine literarische Öffentlichkeit«7 aus. Sie zeichnet sich ab in einem ‘literarischen Feld’,8 dessen Texte – überraschender Weise – kaum unter Berücksichtigung ihrer medialen Dimension untersucht worden sind (sie sind z. T. sogar nicht ediert bzw. nicht einmal erschlossen). Eine übergreifende systematische literatur- und kulturwissenschaftliche Analyse, die das breite literarische Feld im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit unter Berücksichtigung jeweiliger Gattungsspezifika und medialer Bedingungen in den Blick nimmt, liegt, soweit ich sehe, bisher nicht vor. Somit wäre ein methodischer Zugriff, mit dem sich die Dimension der historischen Medialität der ‘Türkendichtung’ erschließen lässt, im Hinblick auf vorhandene Ansätze der Medialitätsforschung zu konturieren.9 Dies soll im Rahmen des

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11 [Stand: 01.10.08]). Für eine Fokussierung von Raumfragen als aktuellem Paradigma der Kulturwissenschaften einerseits und der kulturerzeugenden Funktion von Theatralität andererseits vgl. Jörg Dünne, Sabine Friedrich u. Kirsten Kramer (Hgg.), Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg 2009. Zur kulturellen Bedeutung des Raumes vom Mittelalter bis zur Gegenwart vgl. Hartmut Böhme, Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, DFG-Symposion 2004, Stuttgart/Weimar 2005 (Berichtsbände Germanistische Symposien 27). Zur Bedeutung des Raumes im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. exemplarisch Christoph Dartmann, Marian Füssel u. Stefanie Rüther (Hgg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; 5); Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, Berlin 2005; Ursula Kundert, Barbara Schmid u. Regula Schmid (Hgg.), Ausmessen − Darstellen − Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2007. – Auf die Theorie und Forschung in diesem Feld kann im vorliegenden Beitrag nicht vertiefend eingegangen werden. Im Rahmen einer größeren Arbeit zum hier vorgestellten Thema wären sie entsprechend stärker einzubeziehen. Wilhelm Kühlmann, Der Poet und das Reich, in: Bodo Guthmüller u. Wilhelm Kühlmann (Hgg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 193–248, hier S. 193. Zum Begriff des ‘literarischen Feldes’ vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. In dem Werk stellt Bourdieu seinen Ansatz systematisch dar. Medialität ist hier in einem erweiterten kulturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen; der Begriff bezieht sich nicht allein auf Medien (etwa Handschrift vs. Druck) als Kommunikationsträger, sondern berücksichtigt die ‘Materialität’ sowie auch den performativen Charakter von Literatur. Vor dem Hintergrund historischer Medialität wird sie, werden Texte als ein je nach Zeit und Kultur potentiell variables »System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen« verstanden (Roland Posner, Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation. Semiotik als Propädeutik der Medienanalyse, in: Hans-Georg Bosshardt [Hg.], Perspektiven auf Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Gedenken an Hans Hörmann, Berlin/New York 1968, S. 267–313, hier S. 293f.).

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vorliegenden Beitrages exemplarisch anhand ausgewählter weltlicher Schauspiele geschehen, welche ‘den Türken’ auf die Bühne bringen.10 Im Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ und in den ‘Türkenschauspielen’ Sachsens und Ayrers ist die Gestaltung und Inszenierung des Raumes Ausdruck der den Werken inhärenten eigenen Medialität. Um diese richtig deuten zu können, ist nicht nur der historische Kontext der osmanischen Expansion einzubeziehen. Es gilt überdies deren Wahrnehmung und die geradezu multimedialen Darstellungen der Osmanen im europäischen, insbesondere deutschsprachigen Raum in den Blick zu nehmen und Kriterien für eine Untersuchung anzusetzen, welche der medialen und gattungsbedingten ‘Inszenierung’ der Türkenfiguren gerecht werden können. Es sind somit zunächst folgende Hintergründe aufzuzeigen: 1. die Darstellung der Osmanen und ihre Typisierung in der Literatur des 14. bis 16. Jahrhunderts; 2. die Bedeutung neuer medialer Aspekte für die Vermittlung der Bilder von den Osmanen. Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen und medialitätshistorischen Einbettung leiten dann folgende – auf die spezifische Medialität der Stücke abzielende – analytische Fragen die Betrachtung der dramatischen Inszenierungen der Türkenfiguren:

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Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes ist allein eine Analyse einiger weniger Beispiele möglich. Für einen Überblick über die Türkenschauspiele in Deutschland vom 15. bis zum 16. Jahrhundert vgl. Wilhelm Gerstenberg, Zur Geschichte des deutschen Türkenschauspiels, Teil I: Die Anfänge des Türkenschauspiels im 15. und 16. Jahrhundert, Meppen 1902 (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des königl. Gymnasiums zu Meppen, Ostern 1902), und (in etwas weiterer, europäischer Perspektive) Carl Göllner, Turcica. Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert, Bukarest/Baden-Baden 1978 (Bibliotheca bibliographica Aureliana 70), S. 356–367. Mit Blick auf die Bedeutsamkeit der medialen Dimension der Türkenliteratur, die eine Pluralität an, z. T. neuen, Textsorten und -gattungen sowie neuen medialen Möglichkeiten kennzeichnet (vgl. Abschnitt III des vorliegenden Beitrags), ist zu beachten, dass die Türkenthematik auch »die neue Tragödie in Deutschland« inspirierte. Sie bot neue Möglichkeiten der Visualisierung der politischen Zusammenhänge: »Mit Lochers ›Tragedia de Thurcis et Suldano‹ [1497] ist die neue Tragödie in Deutschland geboren. Sie erwächst nicht aus der Komödie, und sie ist keine reine Antikenrezeption oder exakte Nachbildung antiker Tragödien. Sie befasst sich im Gegensatz zu diesen mit politisch brisanten, hochaktuellen Themen. Sie will nicht nur Rhetorikübung sein; sie ist die Visualisierung politischer Dichtung und eine Geschichtsschreibung nach dem Schema der Tyrannentragödie. Sie deckt Mängel in der aktuellen Weltpolitik auf, lässt den Zuschauer den Handlungsbedarf scheinbar unmittelbar erfahren, stellt aber neben den ‘unvermittelten’ Blick in die Welt noch zusätzlich den kommentierenden Chor, der dem Zuschauer gleichsam von der Seite her immer wieder die Relevanz des Geschehens erklärt« (Cora Dietl, Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum [Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 37 (271)], S. 135f.).

Dimensionen der Medialität

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1. Welche (zeittypischen) Bilder von den ‘Türken’ bedienen das Rosenplütsche Fastnachtspiel und die Dramen Sachsens und Ayrers, wie gestalten und funktionalisieren die Stücke die Bilder jeweils? 2. Welche Kriterien sind im Sinne einer kulturwissenschaftlichen und medialitätsgeschichtlichen Untersuchung anzusetzen? 3. Welche Aussagen erlauben diese Kriterien über Strategien ‘theatraler’ Identitätskonstitution? Die nachfolgende Skizze der Osmanendarstellungen ist als eine Einführung zu verstehen, die grundlegende Informationen über die Anfänge der sogenannten Türkendichtung bereitstellt (II). Erst auf dieser Grundlage ist eine fundierte Analyse der Türkenfiguren im weltlichen Schauspiel, wie sie hier (mit dem genannten Fokus) vorgesehen ist, sinnvoll. Der aufgezeigte historische Horizont ermöglicht es, anhand einzelner Beispiele die Funktionalisierungen der Türkenfiguren eingehender vorzustellen (IV). Diese Funktionalisierungen sind nicht getrennt zu sehen von der Vielfältigkeit der medialen Vermittlung (auch dem jeweiligen Rezeptionskontext) der ‘Türkenliteratur’ (III). Es geht somit im Folgenden nicht allein um eine Beschreibung, ob und inwiefern die Darstellungen der Osmanen Widerspiegelungen historischer Zusammenhänge sind, oder ob die Osmanen als negativ, positiv oder ambivalent aufgefasst werden müssen. Zentral sind vielmehr Form und Wirkung medialer aber auch gattungsbedingter Vermittlung und Instrumentalisierung der Türkenfiguren. II. Die Osmanen in Zeugnissen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich sollten die mitteleuropäische Wahrnehmung des Orients nachhaltig prägen. Die Schlacht um Nikopolis 1396 beförderte in entscheidender Weise die ‘Türkenfurcht’;11 die Osmanen unter Bayezit I. waren den christlichen Kreuzfahrern im Kampf deutlich überlegen.12 Von besonderer Tragweite aber für die Wahrnehmung der Osmanen in Europa, darin ist sich die Forschung weitgehend einig, war die Einnahme Griechenlands, die in der Eroberung Konstantinopels 1453 gipfelte,13 welche das Ende des byzantinischen 11

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Vgl. Joachim Kissling, Türkenfurcht und Türkenhoffnung im 15./16. Jahrhundert. Zur Geschichte eines ‘Komplexes’, Südost-Forschung 23 (1964), S. 1–18. Vgl. einführend auch Michael Schilling, Aspekte des Türkenbildes in Literatur und Publizistik der frühen Neuzeit, in: Stefan Krimm u. Dieter Zerlin (Hgg.), Die Begegnung mit dem Islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart. Acta Hohenschwangau 1991, München 1992, S. 43–60, hier S. 43. Vgl. Schwoebel, Shadow [Anm. 5], S. 1–29; Göllner, Turcica [Anm. 10], S. 35–78; Dieter Mertens, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Wien 1991 (Münstersche Historische Forschungen 1), S. 45–90, hier S. 49; Schilling, Aspekte des Türkenbildes [Anm. 12], S. 43f.; Bodo Guthmüller u. Wilhelm Kühlmann, Vorwort, in: dies., Europa und die Türken [Anm. 7], S. 1–7, hier S. 1; Johannes Helmrath, Pius II. und die Türken, in: Guthmüller u. Kühlmann, Europa und die Türken [Anm. 7], S. 79–138;

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Reichs besiegelte.14 Ihr unaufhaltsam scheinender Siegeszug führte die Osmanen 1529 bekanntermaßen bis vor die Tore Wiens. Dieser Expansionsdrang verursachte schließlich im europäischen Raum eine nicht eben geringe Furcht vor der Großmacht. Die ‘Türkengefahr’15 wurde Thema von Dichtung und Publizistik. Eine Flut von Liedern, Flugblättern und -schriften, sogenannten ‘Türkenbüchlein’ und ‘Türkenspielen’ berichtet von der Bedrohung und inszeniert diese.16 Als frühe Lied-Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum – erst mit der Belagerung von Wien 1529 begegnet eine größere Zahl von ‘Türkenliedern’17 – können die Dichtungen Peters von Rez,

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Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 4], S. 56f. – Es versteht sich von selbst, dass die vorliegende Skizze zu der osmanischen Expansion und ihrer Darstellung in Dichtung und Publizistik nur einige zentrale Aspekte benennen kann. Die historische Einbettung ist Basis der darauf folgenden literaturwissenschaftlichen Analyse. Umfassendere Einblicke in den historischen Kontext geben die oben genannten Studien sowie zahlreiche Einführungen, Monographien und Sammelbände. Genannt seien hier nur exemplarisch: Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978; Marlene Kurz, Martin Scheutz, Karl Vocelka, u. Thomas Winkelbauer (Hgg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien 2004, Wien/München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 48); Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 2006. Für weitere Literaturhinweise vgl. Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 4], bes. S. 52, Anm. 5. Der dramatische Einschnitt, den das Jahr 1453 bedeutete, spiegelt sich auch in der Wortgeschichte wider (vgl. die zahlreichen Artikel im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., München 1991, Nachdr. der Erstausg., Leipzig 1854–1971 [dtv 5945], Bd. 3, Sp. 1848–1869, zu ‘Türke’ und verwandten Wörtern sowie u. a. die folgende Erläuterung: »seit dem fall von Konstantinopel 1453 und dem vordringen der Türken nach Mitteleuropa zu beginn des 16. jhs. gewinnen sie für die Deutschen unmittelbare bedeutung. von der ersten belagerung Wiens 1529 bis zur zweiten 1681 beherrschen sie durch den besitz Ungarns infolge der bedrohlichen nachbarschaft anschauung und denken der Deutschen besonders im politischen und religiösen bereich aufs stärkste; [. . .] ihr kultureller einflusz wirkt intensiv darüber hinaus weiter und hat sich in zahlreichen festen bezeichnungen für verschiedenste sachinhalte niedergeschlagen« [ebd., Sp. 1849]). Der Begriff findet seit Ende des 19. Jhs. Verwendung, dies insbesondere in der deutschsprachigen Regionalgeschichtsschreibung. Doch erst Schulze [Anm. 13] nutzte ihn als analytische Kategorie. In der Forschung begegnet allerdings z. T. hernach immer wieder ein undifferenzierter Gebrauch (vgl. Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 4], S. 51–56). Im Vergleich zu anderen Zeugnissen sind rein fiktionale Werke, welche die Türkenthematik verarbeiten, im 15. und 16. Jahrhundert von deutlich geringerer Zahl (vgl. auch die Einschätzung von Cornelia Kleinlogel, Exotik−Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit [1453–1800]. Frankfurt a. M./Bern/New York 1989, S. 55). Die Türkenfigur erscheint sporadisch in Fastnachtspielen und ist in Fastnachtszügen und Turnierveranstaltungen präsent, die »Aktualität aus türkisch-exotischen Kostümierungen« gewinnen. Auch manifestieren sich darin »Faszination und agitatorisch-spielhafte ‘Unschädlichmachung’ der osmanischen Bedroher« (ebd., S. 55f., Anm. 3). Zur Figur des Türken in der Fastnacht vgl. auch Werner Mezger, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Stuttgart 1991 (Konstanzer Bibliothek 19), Register s. v. ‘Türken’, bes. S. 40f. Vgl. Stefan Hohmann, Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens in der deutschsprachigen politischen Lyrik des Mittelalters, Köln 1992, S. 340–359, hier S. 340.

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Michel Beheims oder auch Balthasar Mandelreiß’ sogenannter ›Türkenschrei‹ gelten.18 Peter von Rez, der »erste Vertreter politischer Lyrik, der sich nachweisbar mit der Türkenproblematik beschäftigt«,19 hält die vernichtende Niederlage des christlichen Kreuzfahrerheeres bei Nikopolis (Schiltarn) in einem Reimpaarspruch fest.20 Beheim berichtet noch im Jahr des sogenannten Falls von Konstantinopel topisch von der Ermordung unzähliger Christen und kritisiert überdies die Herrscher im Römischen Reich.21 Der anonyme Autor des ›Türkenkalenders‹ ruft um 1454 zum Widerstand der Christen gegen die Türken auf.22 Etwa zur gleichen Zeit (1453/54) beschwört auch Balthasar Mandelreiß den Widerstand der christlichen Gemeinschaft.23 Der Schrecken angesichts der osmanischen Eroberungserfolge zwang bis zu einem gewissen Grad zur Auseinandersetzung mit der anderen Kultur, welche die Osmanen 18

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Die Forschung führt diese Beispiele als deutschsprachige Zeugnisse immer wieder an; vgl. Senol Özyurt, Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 1972 (Motive 4), S. 47–50; Ferdinand Geldner, Bemerkungen zum Text des »Türkenschreis« von Balthasar Mandelreiß, des »Türkenkalenders« (1454) und der »Ermanung . . . wider die Türken« von Niclas Wolgemut, GutenbergJahrbuch 58 (1983), S. 166–171; Eckehard Simon, Der Türke in Nürnberg. Zur Türkenpolemik nach 1453 und ›Des Turcken vasnachtspil‹, in: Internationaler Germanisten-Kongreß in Tokyo. Sektion 12: Klassik−Konstruktion und Rezeption. Sektion 13: Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse, hg. v. Yoshinori Shichiji, München 1991, S. 322–328, hier S. 322f.; Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 17], S. 340–359; Thumser, Türkenfrage und öffentliche Meinung [Anm. 1], bes. S. 59–61; Stefan Hohmann, Türkenkrieg und Friedensbund im Spiegel der politischen Lyrik. Auch ein Beitrag zur Entstehung des Europabegriffs, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.), Alterität, Stuttgart/Weimar 1998 (LiLi 110), S. 128–158, insb. S. 138–142. Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 17], S. 341. Handschriftlich überliefert in: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1113, zweiter Faszikel auf Bl. 76ra–77rb. Ediert in: Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bd. 1, Hildesheim 1966 (Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1865), S. 155–160; Ulrich Müller (Hg.), Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Bd. II: Von Heinrich von Mügeln bis Michel Beheim. Von Karl IV. bis Friedrich III., Göppingen 1974 (GAG 84), S. 59–63. Vgl. auch Isolde Neugart, Peter von Rez, in: 2VL Bd. 7, 1989, Sp. 451f. Texte in: Müller, Politische Lyrik [Anm. 20], S. 217–228, 232–256, 308–312. ›Eyn manung der cristenheit widder die durken‹, 4° 6 Bll. [Mainz, Gutenbergpresse], Ex. München, SB Rar. 1 (HC 10740). Text und Erläuterungen in: Der Türkenkalender. »Eyn manung der cristenheit widder die durken«. Mainz 1454. Das älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch. Rar. 1 der Bayerischen Staatsbibliothek, in Faksimile hg., Kommentar von Ferdinand Geldner, Wiesbaden 1975; Eckehard Simon, The Türkenkalender (1454). Attributed to Gutenberg and the Strasbourg Lunation Tracts, Cambridge, Mass. 1988. Für einen Überblick vgl. ders., ‘Türkenkalender’, in: 2VL Bd. 9, 1995, Sp. 1159–1164. Zum Türkenkalender vgl. auch unten, Anm. 50. Wol auf in gottes nam und kraft / mit sand Jorgen ritterschaft / wider die Turkenlesterei! / got der wil uns selber besen bei, / das wir si überwinden (v. 1,1–5). Zitate nach der Ausgabe: Thomas Cramer (Hg.), Die kleineren Liederdichtungen des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 276–285 (einen hilfreichen Kommentar und Erläuterungen bietet Liliencron, Die historischen Volkslieder [Anm. 20], Bd. 1, S. 460–466, Nr. 100). Zu Autor und Text vgl. Frieder Schanze, in: 2VL Bd. 5, 1985, Sp. 1200f.

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verkörperten. Diese galt es zu definieren, wobei sich ein Feindbild herausbildete, mit dem sich bestimmte Stereotypen oder Typisierungen24 verbanden: O Krichen, du wast ein edel land, die Turcken haben dich geschant, dir genomen ein grossen hort und manig mueter kind ermort, beid reich und die armen. (›Türkenschrei‹, v. 5,1–5)

Mandelreiß beschreibt (wie auch andere Autoren) die Türken als Schreckgestalten, welche die Kinder der Christen abschlachten und die Frauen schänden. Die Darstellung ist in den obigen Versen (mindestens implizit) metaphorisch auf das edel land der Krichen bezogen. Die Ermordung von Müttern erscheint als Parallele zum geschändeten Griechenland; beiden haben die Türken Gewalt angetan und sie ihrer Ehre beraubt. Die Türken haben die ‘Muttererde’ in die Knie gezwungen, ihre Kinder, d. h. die Bevölkerung, getötet.25 Sie erscheinen so als überwältigende Bedrohung des christlichen Abendlandes. Analog zu den Schreckenstaten stellt Mandelreiß das grausame Äußere der Türken vor: Auch hat man mir fürbar geseit, / ein Türck der sei lank und preit / und hat ein pöß grausam gestalt (v. 13,1–3). Die Angst vor den Osmanen führte – in Verbund mit den politischen Zielen der Kirche und ihrer Propaganda – zum Bild des kulturlosen, blutrünstigen und lüsternen Heiden. Die Schilderung von Gräueltaten ist Bestandteil der auf den Reichstagen vorgetragenen anti-osmanischen Reden. Immer wieder warnt man vor dem Dürsten der Feinde, gerade auch ihres Sultans, nach Christenblut und beklagt die Verschleppung und Versklavung von Christen, insbesondere ihrer Kinder.26 Zu berücksichtigen ist allerdings auch, was die einschlägige Forschung vielfach hervorgehoben hat, 24

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Schilling weist darauf hin, dass Kategorien wie ‘Stereotypen’ und ‘Klischees’ zur Beschreibung der in der Frühen Neuzeit ausgeprägten Türkenbilder nur behelfsweise Verwendung finden könnten, denn »mit ihren wertenden Konnotationen« entsprächen sie »den modernen Erwartungen von Individualität, Faktizität und Historizität«. Es empfehle sich daher, »die sich wiederholenden und offenbar nur bedingt wirklichkeitsgestützten Komponenten des Türkenbildes mit Kategorien wie Generalisierung, Exemplarität, Typisierung und Toposhaftigkeit zu erfassen« (Schilling, Aspekte des Türkenbildes [Anm. 12], S. 48). Das Motiv der erniedrigten Frau, welche metaphorisch für die Heimat oder Christenheit steht, findet sich auch im Schauspiel. So etwa in Ayrers Drama über die Einnahme Konstantinopels durch Mehmet II. (vgl. dazu auch Anm. 87). Ayrer nutzt es im Rahmen einer spezifischen Rauminszenierung für die Darstellung der Konfrontation von Eroberer und Eroberten. Geradezu als Allegorie der Unterworfenen erscheint die schöne und reine Griechin Hircavena. Sie muss sich dem Sultan hingeben und wird schließlich von ihm kaltblütig umgebracht. Das Verhältnis zwischen Orient und Okzident (verkörpert in Machumet und Hircavena) erscheint als Gegenüberstellung von Laster und Tugend (vgl. Schröckliche Tragedi. Vom Regiment vnnd schändlichen Sterben des türckischen Keisers Machumetis des andern dis Namens, wie er Constantinopel eingenommen vnd gantz grausam tyrannisirt, mit 27 Personen, hat fünff Actus, in: Ayrers Dramen, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Bde., Stuttgart 1865 [BLVSt], Bd. 2, S. 737–809). Vgl. Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan [Anm. 5], S. 19f.

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nämlich dass die osmanische Bedrohung zwar Anlass der Texte zu sein scheint, die Literatur aber oftmals auf die Uneinigkeit der Christen verweist und zum inneren Frieden aufruft, ja diese Aspekte ins Zentrum rückt. So ist bei Mandelreiß der eingeforderte Kampf wider die Turkenlesterei Krieg im Namen Gottes; die »Intention, eine ‘Einheitsfront’ der Christen zu statuieren, ist im Gedicht durchgängig erkennbar, festzumachen an den Pronomina uns und wir«27 (vgl. die zitierten Verse in Anm. 23). Mandelreiß’ Lied konstituiert also, wie auch andere anti-osmanische Dichtungen, nicht nur ein Feindbild, sondern visiert vor allem einen christlichen Interessensverbund an. Komplexer gestaltet Hans Rosenplüt die Thematik in seinem vogelallegorischen ›Lied von den Türken‹ (1458/59),28 das in der Handschrift D29 unmittelbar hinter K 39 steht: Man sagt, die Turken sind awßgeflogen. / Herr der adler, wartt, das ir nicht werdt betrogen, / Sie konnen vedern zeisen [‘zausen, zupfen’] (v. I,1–3).30 Der Nürnberger Handwerkerdichter nimmt die politische Situation in der Folge der Eroberung Konstantinopels zum Anlass, seinerseits zum christlichen Bündnis zu mahnen; sehr grob lässt sich diese Situation für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts so skizzieren: Trotz der Eroberung Konstantinopels und der nachfolgenden Unterwerfung der griechischen Welt durch Mehmet II., blieben die Fürsten im Römischen Reich untätig, vielmehr bekämpften sie sich untereinander. Auch Kaiser Friedrich III. reagierte nicht auf das Vorrücken der Osmanen; er war mit Streitigkeiten um seine habsburgischen Erblande befasst.31 Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Rosenplüts Lied verstehen. Der Dichter warnt hier den Adler, Kaiser Friedrich III., vor den flügge gewordenen Türken und rät hernach zur Abwehr im Verbund mit den zeislein und den meisen, d. h. mit den Bürgern und Bauern.32 Die Türken sind letztlich nur äußerer Anlass, »den Kaiser von der Notwendigkeit eines Bündnisses aller antipartikularen Kräfte: der Zentralgewalt, der Reichsstädte und der Bauern, zu überzeugen.«33 27 28

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Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 17], S. 345. Zur Datierung vgl. Jörn Reichel, Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg, Stuttgart 1985, S. 205, 226, 235 und ausführlicher zum Lied ebd., S. 205–208 sowie Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 17], S. 360–365. Überlieferung: Dresden, Sächsische Landesbibliothek, M 50 (= D), Bl. 182v–186r und Leipzig, Cod. 1590 (= L), Bl. 57v–60r. Text in: Liliencron, Die historischen Volkslieder [Anm. 20], S. 503–512; Hans Rosenplüt. Reimpaarsprüche und Lieder, hg. v. Jörn Reichel, Tübingen 1990 (ATB 105), Lied 22, S. 241–248, Kommentar S. 328–333. Vgl. Reichel, Kommentar zu Rosenplüts ›Lied von den Türken‹ [Anm. 30], S. 329. Zur Auswirkung des osmanischen Agierens seit der Mitte des 14. Jh.s auf die europäische Politik vgl. Mertens, Europäischer Friede [Anm. 13], S. 45–90. Vgl. zur Stelle und zur Vogelmetaphorik Liliencron, Die historischen Volkslieder [Anm. 20], S. 506. Reichel, Kommentar zu Rosenplüts ›Lied von den Türken‹ [Anm. 30], S. 330. Diese Vorstellung muss notwendig Wunsch bleiben, wie Reichel resümiert, wenn er feststellt, Rosenplüt entwerfe ein »restauratives Programm, das an den realen politischen Verhältnissen« vorbeigehe (ebd., S. 330).

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Allein diese wenigen Beispiele aus der Dichtung können verdeutlichen, dass die osmanische Expansion Anlass zur Reflexion über die politisch-militärische Handlungsfähigkeit im christlichen Europa gab. Auch geht aus der Türkendichtung und der Publizistik zum Thema der Wunsch nach einer Einheit des christlichen Europa hervor; es spiegelt sich in ihr die Reflexion »seiner problematischen Identität unter dem Titel des ‘nomen christianum’«.34 Weltliche Herrscher und Kirche sahen sich zum Handeln gezwungen; man suchte den populus Christianus im Kampf gegen die Türken zu vereinen,35 und der Kreuzzugsgedanke erlangte eine neue Aktualität.36 Insgesamt ist die »Europäisierung des Themas Kreuzzug im Spannungsfeld von Nationalisierung und Internationalisierung [zu beobachten]. Der einheitsstiftende Begriff Europa, der in dieser Zeit auftaucht, scheint überhaupt seine ideologische Schlagkraft aus der Konfrontation mit einem von außen eindringenden Feind zu beziehen.«37 In der Literatur zeichnen sich entsprechend Formen europäischer Identitätsbildung ab. So appelliert man immer wieder »an einen europäischen Herrscherverband«, der mit einem sich in den Dokumenten wiederholenden Länderkatalog verknüpft ist.38 Als Gegenpol innerhalb des identitätsstiftenden Diskurses, getragen durch die Reichstage, die klerikalen Nachrichtenkanäle, geistliche und weltliche Dichtung, erscheint ‘der Türke’. In diesem Rahmen entsteht ein Feindbild mit entsprechenden Typisierungen. Dazu gehören Bezeichnungen wie »Pharao, Senacherib, Holofernes, Nabuchodonosor, Goliath, Antichrist, Einwohner von Sodom und Gomorrha«.39 Die zahlreichen Holz34 35

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Guthmüller u. Kühlmann, Vorwort [Anm. 13], S. 1. Von Seiten des Papstes Nikolaus V. erfolgte mit der Kreuzzugsbulle vom 30.09.1453 eine der ersten Maßnahmen zu einem gesamtchristlichen Vorgehen gegen die Türken. Die Bulle ruft zur Einigung der christlichen Mächte und gemeinsamer militärischer Aktion auf (vgl. Hohmann, Türkenkrieg und Friedensbund [Anm. 18], S. 129). Entscheidend für das Propagieren eines Türkenkreuzzugs war Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. Er versteht Europa als Vaterland des Christentums, identifiziert beides miteinander und begreift das Vorrücken der Osmanen als Angriff gegen den eigenen, christlichen ‘Wohnsitz’. In diesem Sinne sei zum Selbstschutz rechtzeitig gegen die Türken als Bedrohung vorzugehen, d. h. diese seien zu bekämpfen, bevor sie die eigenen Grenzen überschreiten. Enea beklagt immer wieder die Uneinigkeit der Christen und fordert den Zusammenhalt der res publica Christiana. Seine Schriften zeugen davon, dass die Wahrnehmung der Osmanen von größter Relevanz für die Entwicklung eines europäisch-christlichen Selbstverständnisses ist, für die europäische Identitätsbildung und Konstitution Europas als politischer Macht (vgl. Hohmann, Türkenkrieg und Friedensbund [Anm. 18], S. 130–133). Ebd., S. 128. Im Rahmen des Regensburger Reichstags von 1454 formulierte man als Ziel, ein Heer aufzustellen, das nicht allein den Turcken widerstant, sonder sie ganz aus Europa vertreiben moge (Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5. Abt., 1. Hälfte, 1453–1454, hg. v. Helmut Weigel und Henny Grüneisen, Göttingen 1969 [Deutsche Reichstagsakten 19,1], S. 315. Beteiligen sollten sich »[a]lle christlichen Könige, die Könige von Polen (gesondert), Frankreich, Kastilien, Ungarn, Aragon, England, Portugal, Böhmen, Dänemark, Schweden und Norwegen, Navarra« (Hohmann, Türkenkrieg und Friedensbund [Anm. 18], S. 134). Unterstützung erwartete man u. a. auch von den italienischen Seefahrerstaaten, namentlich Venedig und Genua (ausführlicher dazu: ebd., S. 134f.). Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan [Anm. 5], S. 21 (mit Angaben zu den jeweiligen Quellen).

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schnitte, die vielfach als Einblattdrucke, in Flugblättern und Newen Zeitungen erschienen, bestätigen (und prägen) die Negativzeichnungen der ‘türkischen Tyrannen’.40 Angesichts des osmanischen Expansionsstrebens wie auch der Reflexion auf die eigene Zerrissenheit entwickelte sich im spätmittelalterlichen Europa »eine immer stärkere Mentalität apokalyptisch aufgeladener Ängste«.41 Eine entscheidende Zäsur stellt auch hier das Jahr 1453 dar, in dem das Ende des alten Ostroms besiegelt wurde; in allen Schichten glaubte man, das Ende der Zeiten sei gekommen. Die osmanischen Eroberer waren nicht mehr nur religiöse und politische Feinde, sondern Exponenten der Apokalypse.42 Einflussreich vertreten wurde diese Auffassung von Martin Luther, der sich der ‘Türkenthematik’ seit der Belagerung Wiens verstärkt annahm.43 Zuvor bewertete er die Türken, wie schon viele vor ihm,44 vor allem als Strafe Gottes und lehnte den Krieg gegen sie ab.45 Denn diese Strafe sei verdient, man müsse sie er40

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Vgl. beispielsweise den bekannten Holzschnitt Erhard Schöns (ca. 1530), der die Ermordung von Christen durch Türken zeigt: Zwei Erwachsene liegen tot am Boden, ein Kleinkind steckt auf einem Pfahl, ein anderes wird gerade von einem Türken gepfählt, während der zweite Türke ein drittes Kind mit dem Schwert zerteilt (siebtes Blatt der Flugblatt-Folge der Belagerer Wiens, welche Hans Guldenmundt in Nürnberg verlegte, in: Die Welt des Hans Sachs [Ausstellungskataloge der Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg 10], Kat. 41, S. 31, 49). Hans Sachs fertigte die Verse zu dem Holzschnitt an; unter der Überschrift Türckische tyranney schildert er stereotyp das brutale Vorgehen der Türken bei der Belagerung Wiens (vgl. Sämtliche Werke, hg. v. Adelbert von Keller u. Edmund Goetze, 26 Bde., Nachdruck Stuttgart 1870–1908 [BLVSt], Bd. 24, S. 23). Zur Darstellung der Türken in Flugblättern vgl. Ursula Gerber, Imago Turcica. Das Türkenbild in illustrierten Flugblättern des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Phil. Mag.-Arbeit (masch.), Wien 1993. Klein, Geschichtsdenken [Anm. 5], S. 66. Vgl. zum Thema auch Michael Wolter, Der Gegner als endzeitlicher Widersacher. Die Darstellung des Feindes in der jüdischen und christlichen Apokalyptik, in: Franz Bosbach (Hg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1992 (Bayreuther Historische Kolloquien 6), S. 23–40. »Das Vordringen der Osmanen wurde von den Zeitgenossen, und zwar in allen Schichten, als endzeitliche Krise wahrgenommen, hervorgerufen nicht nur durch die Gefahr von außen, sondern auch durch die von innen vor allem durch die Zwietracht in Reich und Kirche. Die sich nähernde Gefahr vom Südostrand des Reiches war eine Gegebenheit, die offenbar keinen Zweifel daran ließ, daß das Ende der Zeiten gekommen war« (Ulrich Andermann, Geschichtsdeutung und Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Guthmüller u. Kühlmann, Europa und die Türken [Anm. 7], S. 29–54, hier S. 50). »Waren ihm die ‘Türken’ anfangs nicht näher bestimmte eschatologische Gegner der Kirche, trat deren noch wenig klares Profil zunächst hinter die Auseinandersetzung mit dem zunehmend als antichristlich verstandenen Papsttum zurück« (Klein, Geschichtsdenken [Anm. 5], S. 99). Klein fokussiert in seiner Studie im Besonderen die apokalyptische Grundhaltung Luthers, die »erst hinsichtlich der ‘Türkenproblematik’ voll erschließbar« werde (ebd., S. 7). Zum Türkenbild Luthers vgl. auch Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546), Heidelberg 2008 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 80). Vgl. u. a. Thumser, Türkenfrage und öffentliche Meinung [Anm. 1], S. 63f. Luthers Haltung resultierte aus seiner Kritik an der Finanzierung der Türkenkriege durch die

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dulden und danach streben, sich zu bessern. Im Zuge des weiteren Vorrückens der Osmanen stimmte Luther dann andere Töne an; so verurteilt er im ›Krieg wider die Türken‹ (1529) den Angriff jener als Unrecht und zugleich als Strafe Gottes.46 In seiner ›Heerpredigt wider den Türken‹ (1529) deutet er die Ereignisse der osmanischen Expansion eschatologisch. Er versteht ‘den Türken’ als Figur des Weltendes und als Repräsentanten der weltlichen Natur des Antichristen.47 Mit seiner Auslegung der Weltalter-Prophezeiungen aus dem Buch Daniel fundiert Luther seine Deutung. Verschiedene Bibelillustrationen zeugen von einer solchen Auslegung, sie zeigen den ersten der vier apokalyptischen Reiter mit Turban.48 Die oben dargestellten Zusammenhänge lassen drei Charakteristika der ‘Türkenliteratur’ in besonderer Deutlichkeit hervortreten: Einerseits nutzten die Verfasser die beschriebene Bedrohung, um einen christlich-europäischen Frieden und Verbund zu fordern, die ‘ungeordneten’ Zustände im Römischen Reich zu kritisieren oder auch zum rechten christlichen Glauben zu mahnen. Andererseits polemisieren sie auf das Heftigste gegen den ungestalten, verworfenen Feind, stilisieren ihn zum Antichristen.49 Die wenigen genannten Beispiele deuten zugleich die Divergenz der medialen Vermittlung der anti-osmanischen Typisierungen an.

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Ablassgelder. Angesichts solcher Forderungen, so urteilt Luther, seien der Papst und die Kardinäle gieriger und blutdürstiger als die Türken (vgl. hierzu Martin Brecht, Luther und die Türken, in: Guthmüller u. Kühlmann, Europa und die Türken [Anm. 7], S. 10f.). Vgl. Martin Luther, Vom Krieg wider die Türken, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 30. Bd., 2. Abt., Weimar 1909 [Nachdruck 1964], S. 81–148. Vgl. Martin Luther, Heerpredigt wider den Türken, in: D. Martin Luthers Werke [Anm. 46], 30. Bd., 2. Abt., S. 149–197, hier S. 162. – Die Projektion des Antichrist-Motivs auf die Türken oder den Islam ist schon vor Luther gängig (vgl. Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus, Köln/Wien 1990 [Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 31], S. 18). Vgl. dazu auch Schilling, Aspekte des Türkenbildes [Anm. 12], S. 55, der auf Bibelillustrationen von Lukas Cranach d. Ä. bis Matthaeus Merian d. Ä. verweist. Ergänzend angeführt seien hier die Türkendarstellungen bei Albrecht Dürer, vgl. den Hinweis bei Andrea Pühringer, »Christen contra Heiden?« Die Darstellung von Gewalt in den Türkenkriegen, in: Kurz [usw.], Das Osmanische Reich [Anm. 13], S. 97–119, hier S. 109, Anm. 53: »Dürer beschäftigte sich öfters mit Türkenbildnissen, allerdings eher in seinem graphischen Œuvre. So etwa im Martyrium der Hl. Katharina, der Großen Kanone, dem Orientalischen Herrscher und auch in der Apokalypse. Laut Mitteilung von Prof. Dr. Andreas Tacke, Trier, [. . .] ist das Osmanenthema in Dürers Werk von kunsthistorischer Seite bislang noch nicht erschöpfend traktiert worden.« Pühringer rekurriert überdies auf Karl Vocelka, Das Türkenbild des christlichen Abendlandes in der Frühen Neuzeit, in: Österreich und die Osmanen, hg. v. Erich Zöllner u. Karl Gutkas (Schriften des Instituts für Österreichkunde 51/52), Wien 1988, S. 20–31, hier S. 25, der erläutert, dass seit dem Spätmittelalter Türken in die Darstellung biblischer Szenen oder auch von Heiligenmartyrien integriert werden. Ferner bezeichnet man die Türken als ‘wilde’, ‘unheilvolle’ oder ‘schädliche Tiere’, ‘wilde Bestien’, als ‘unersättliches, (fremden Besitz begehrendes) Ungeheuer’. Besonders beliebt ist der Vergleich mit tollwütigen Hunden (vgl. Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan [Anm. 5], S. 16–23). Zu gängigen diffamierenden Bezeichnungen vgl. auch: Özyurt, Die Türkenlieder [Anm. 18], S. 21–24.

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III. Die vielfältige mediale Vermittlung der Türkenbilder Die ‘Türkenliteratur’ umfasst eine Vielzahl heterogener Textsorten. Sie können je verschiedene mediale Charakteristika aufweisen oder diese je unterschiedlich, u. a. auch in Abhängigkeit von der Gattung, einsetzen.50 Die ‘Türkenliteratur’ weist je textsorten- und gattungstypische Funktionalisierungen der Türkenbilder auf, durch deren Darstellungen eine mediale ‘Um-Schreibung’ (vorgängiger) symbolischer und ikonischer Selbstdeutung des christlichen Abendlandes, der christlich-europäischen Kultur sowie die Ausprägung eines allgemeinen Codes, eines ‘Sprechens über’ ‘den Türken’, stattfindet. Mit der pluralen medialen Vermittlung ‘materialisieren’ sich zunehmend aber auch immer wieder neu die Imaginationen der Osmanen, an deren Fortund Festschreibung auch das Schauspiel Anteil hat. Es bietet die Möglichkeit, ein christlich-europäisches Selbstverständnis und Selbstbild sowie das Bild vom Anderen und Fremden inszenatorisch dar- und auszustellen. So nimmt es teil am identitätsstiftenden Diskurs im Kontext der osmanischen Expansion. Es arbeitet dabei selbstredend mit ganz eigenen Mitteln und verwendet diese für kritische Stellungnahmen an politischen oder lebensweltlichen Zusammenhängen. Anhand des Rosenplütschen Fastnachtspiels sowie der Türkendramen von Sachs und Ayrer lassen sich mediale Spezifika der ‘Umschreibung’ der Türken im Schauspiel aufzeigen, wobei im Folgenden insbesondere drei Aspekte fokussiert werden sollen: 1. Im Fastnachtspiel treten gattungsspezifische sprachliche Eigenheiten besonders deutlich hervor; zum einen ist der derb-obszöne, skatologische und diffamierende Wortgebrauch zu beachten, der in der Spielerfahrung von der Realität entlasten oder über diese ‘hinwegspielen’ kann. Durch die Verknüpfung der gattungstypischen Sprache und Rhetorik mit (vorgeprägten) sprachlichen Typisierungen der Osmanen gewinnen diese im Spiel eine eigene Qualität. Die dem Fastnachtspiel eigene Rhetorik und Sprache durchbricht die Bitternis vorgeführter Gewaltherrschaft auf Seiten der Türken oder der Unterlegenheit, z. T. auch Verworfenheit und Feigheit der Christen. 2. Als wichtiges Medium der Informationsvermittlung oder Propaganda fungieren in der ‘Türkenliteratur’ die Körper der dargestellten Akteure, Christen wie ‘Heiden’.

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Hinzu kommt, dass die verstärkte Wahrnehmung einer Bedrohung durch die Osmanen im 15. und 16. Jh. parallel zur Druckgeschichte und neuer (inter-)medialer Entwicklungen verläuft. Die ältesten Zeugnisse des Buchdrucks sind zugleich Zeugnisse der Auseinandersetzung Europas mit der osmanischen Machtentfaltung. Das früheste ‘Fabrikat’ der ‘schwarzen Kunst’ ist ein anlässlich des Türkenkriegs angefertigter Ablassbrief vom 22. Oktober 1454 (vgl. Ferdinand Geldner, Inkunabelkunde, Wiesbaden 1978, S. 32, 150); als das ‘älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch’ gilt der im Dezember des gleichen Jahres in Mainz erschienene, oben bereits erwähnte, sogenannte ›Türkenkalender‹, eine sechs Blätter umfassende Mainzer Flugschrift, die Eyn manung der cristenheit widder die durken sein sollte. Und schließlich gehört auch der älteste veröffentlichte Zeitungsbrief zu den Turcica (Newe zeytung von orient und auffgange, 1502).

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Körperpartien, Haltung, Gestik, Kleidung, militärische Ausstattung, Position (z. B. im Holzschnitt: berittene Türken, daneben gefangene Christen) demonstrieren, welche Partei die überlegene ist (militärisch sind dies oftmals die Osmanen, moralisch die Christen). Das körperliche Erscheinungsbild der Türken kann Unzivilisiertheit, ja Wildheit andeuten und so die Fremdheit der Invasoren markieren. Die Darstellungen zeigen die Türken aber auch in Herrscherpose und demonstrieren derart ihre Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen. Für das Schauspiel ist entsprechend nach körperlichen Erscheinungsweisen der Türkenfiguren zu fragen, zudem nach ihrem Agieren auf der Bühne und der Organisation von Körperbewegungen oder Gesten. Dies wiederum ist eng mit der sinnstiftenden Inszenierung des Raumes verbunden. 3. Der Raum, seine Gliederung, fungiert (wie auch Sprache und Körper in je eigener Weise) als Zeichenträger. Er strukturiert das Verhältnis der Parteien oder innerparteilicher Zustände. Durch die Darstellung im Raum werden Dominanzen und Formen der Überlegenheit aufgezeigt (etwa in der Art und Weise wie sich Figuren im und durch den Raum bewegen oder wie sie darin positioniert sind). Als Bedeutungsträger hängt ihre Signifikanz von den Positionen und Bewegungen im Raum wie auch ihrer lokalen Relation zueinander ab. IV. Dimensionen medialer Vermittlung: Die Rolle der Türkenfiguren im weltlichen Schauspiel 1. Rosenplüt-Corpus: ›Des Turken Vasnachtspil‹ (K 39) Die ältere Forschung sah im Rosenplütschen ›Turken Vasnachtspil‹ bisweilen eine Relativierung des zeittypischen negativen Osmanenbildes. So erklärt Göllner, das Spiel »enthalte[] soziale Kritik zum Türkenmotiv«,51 und es baue »das schematische Anti-Heidenmotiv aus Sicht des ‘armen Mannes’ restlos ab[]«.52 In der neueren Forschung weist man darauf hin, dass für die richtige Bewertung der Türkenfigur die Spezifika des Fastnachtspiels zu bedenken sind.53 So heben Simon, Stuplich und Ehrstine die Prinzipien der Fastnachtspielgattung und den »Geist des Karnevals« hervor, der den besonderen Auftritt des Sultans in Nürnberg erst ermögliche.54 Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an diese Diskussion an, die im Hinblick auf den Kontext der osmanischen Expansion und unter Berücksichtigung der genannten Kriterien der Medialität weitergeführt werden soll.

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Göllner, Turcica [Anm. 10] Bd. 3, S. 356. Ebd., S. 357; vgl. zu positiven Charakteristika des Sultans im Spiel auch Thumser, Türkenfrage und öffentliche Meinung [Anm. 1], S. 76f. Auch Thumser erinnert daran (vgl. Thumser, Türkenfrage und öffentliche Meinung [Anm. 1], S. 76). Simon, Der Türke in Nürnberg [Anm. 18], S. 325f.; Stuplich, Das ist dem adel ein große schant [Anm. 2], S. 178; Glenn Ehrstine, Fastnachtsrhetorik. Adelskritik und Alterität in Des Turken Vasnachtspil, in: Werkstatt Geschichte 37 (2004), S. 7–23, hier S. 19.

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»Von Orient, da die sun auf get«: Der Sultan als Hoffnungsträger Der Herold stellt in seiner Eröffnungsrede den türkischen Sultan vor.55 Dieser sowie sein Gefolge erscheinen als Hoffnungsträger, der Orient als ein Gebiet, in dem man unbeschwert, friedlich und zinsfrei, lebt: DES MUOS DER HEROLT SEIN UND DES TÜRKEN WAPENTRAGER

[. . .]:

Nun schweigt und hört fremde mer! Der große Türk ist kumen her, Der Kriechenlant gewunnen hat, Der ist hie mit seinem weisen rat Von Orient, da die sun auf get, Da selbst es wol und fridlich stet; Sein lant heißt die groß Turkei, Darin da sitzt man zinsfrei. (K 39, S. 288,3–12)56

Die Attribute, mit denen der Sultan versehen wird, verweisen auf seine Macht und Überlegenheit: Er ist der große Türk, der Kriechenlant gewunnen hat und mit seinem weisen rat Einzug hält. Es begegnet hier eine Idealisierung osmanischer Herrschergewalt;57 der Sultan steht für Frieden einerseits und Weisheit andererseits. Diese positive Kennzeichnung kontrastiert mit der fehlenden Ordnung im Römischen Reich, worüber dem Sultan Klagen von allen Christen zugetragen worden sind.58 Kaufleute und Bauern leiden unter der Verworfenheit und Nachlässigkeit des Adels, der auf den Straßen wie auch insgesamt nicht für Ordnung sorge; die Verse Das ist dem a d e l ein große schant, / Das si ein solchs nit künnen wenden; / Man solt die s t r a ß r a u b e r pfenden lassen offen, wer hier als Straßenräuber bezeichnet wird; gemeint könnte auch der Adel selbst sein. Die Implikation steigert die offene Kritik und verleiht ihr eine zusätzliche Schärfe. Die Zustände im Römischen Reich will der Sultan nicht dulden; wer Änderungen wünsche, so der Herold, der höre den türkischen Räten zu. Diese sprechen nun wie auch der Sultan im Folgenden die Missstände an. Die positive Einführung des Sultans und seiner Vertreter mag aus heutiger Sicht (bedenkt man die damaligen politischen Ereignisse), mit Erwartungen brechen; sie 55

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Zum Auftritt und zur Funktion des Herolds in K 39 vgl. Catholy, Das Fastnachtspiel im Spätmittelalter [Anm. 3], S. 209–212. Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965, Bd. 1, S. 288–304. Eine Neuedition des Spiels ist im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes »Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele« in Vorbereitung; vgl. dazu den Beitrag von Rebekka Nöcker und Martina Schuler im vorliegenden Band (S. 363–379). Vgl. Ehrstine, Fastnachtsrhetorik [Anm. 54], S. 22 (Anm. 50). Dem [Sultan] sind vil großer clag für komen / Von bosen Cristen und von den fromen. / Sich claget der paur und der kaufman, / Die mugent keinen frid nit han / Bei nacht, bei tag, auf wasser, auf lant; / Das ist dem adel ein große schant, / Das si ein solchs nit künnen wenden; / Man solt die straßrauber pfenden / Und an die paum mit stricken pinden, / So ließens auf der straß ir schinden (K 39, S. 288,13–289,4).

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entspricht jedoch der Wahrnehmung des Osmanischen Reichs im 15. Jahrhundert. Insofern ist die Darstellung der Türken nicht ohne weiteres als eine Verkehrung zu begreifen.59 Realitäten werden hier nicht auf den Kopf gestellt, vielmehr korrespondiert die Inszenierung der Türken mit gängigen Auffassungen der Zeit. Dies gilt es im Folgenden anhand eines genaueren Blicks auf die Äußerungen der Parteien unter Zuhilfenahme der oben angeführten Aspekte der Medialität genauer zu prüfen. Zeittypische Diffamierungen: Die Position der christlichen Obrigkeit Die Vertreter von Papst und Kaiser konfrontieren den Sultan mit diversen Vorwürfen und attackieren ihn verbal. Nacheinander sprechen niederer Adel, Boten des Papstes, des Kaisers und der Kurfürsten. Den Anfang macht ain Ritter; er beschimpft den Sultan als Betrüger, der den frumen etwas vorklaffen60 lasse und in Wirklichkeit erwarte, dass sich die Christen ihm unterwürfen. Der Sultan wolle sich im Land einnisten, die Christen ködern. Sein Gott sei der Bruder des Teufels (S. 290,13). Wer an ihn wie auch an den Sultan glaube, für den sei das Himmelreich auf immer verloren. Die Polemik entspricht der zeitgenössischen Propaganda, in welcher man die Türken mit Tieren (insbesondere Hunden) vergleicht und ihre Verwandtschaft (oder die ihres Gottes) mit dem Teufel oder Antichristen behauptet. Das ‘Nisten’, in der Rede des Ritters eindeutig abwertend gemeint, unterstreicht die niederen Absichten der Türken, die sich im Land der Christen, einem Kriechtier gleich, festzusetzen und auszubreiten gedenken.61 59

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Wenn die Rolle des Sultans überhaupt als Verkehrung zu verstehen ist, dann in dem Sinne, wie Stuplich es beschreibt: »Die Realität ist die eigentlich verkehrte Welt« und »das scheinbar Verkehrte« lässt »die eigentliche Wahrheit erkennen« (Stuplich, Das ist dem adel ein große schant [Anm. 2], S. 178). Ehrstine sieht demgegenüber in der »Alterität des Türken« eine »Grundlage für eine ganze Reihe von karnevalesken Verkehrungen« (Ehrstine, Fastnachtsrhetorik [Anm. 54], S. 19). Zur ‘verkehrten Welt’ im ›Turken Vastnachtspil‹ vgl. auch Hedda Ragotzky, Der Bauer in der Narrenrolle. Zur Funktion ‘verkehrter Welt’ im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Horst Wenzel (Hg.), Typus und Individualität im Mittelalter, München 1983 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 4), S. 77–101, hier S. 95–97 (s. auch dies., Fastnacht und Endzeit. Zur Funktion der Antichrist-Figur im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, ZfdPh 121 [2002], S. 54–71, hier S. 63); Bruno Quast, Zwischenwelten. Poetologische Überlegungen zu den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, in: Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger (Hgg.), Fremdes wahrnehmen−fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 205– 219, hier S. 218; Thomas Habel, Prototyp und Variation. Aufstieg und Fall des Antichrist in Nürnberger Bildertexten und Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, in: Theodor Wolpers (Hg.), Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs. Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1995–1998, Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl., Folge 3, Nr. 234), S. 186 Anm. 125. Von mhd. kleffen: ‘schwatzen’ (Lex, Bd. 1, Sp. 1611), hier aber wohl auch – angesichts der gängigen Diffamierung der Türken als Hunde (s. Anm. 48) – im Sinne von Hundekläffen zu verstehen (vgl. DWb, [Anm. 14], Bd. 11, Sp. 898). Assoziiert scheint damit auch der häufige Schlangenvergleich in der antitürkischen Polemik.

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Im Verlauf des Stücks werden die Reden der Reichs- und Kirchenvertreter heftiger und geraten auf eine skatologische Ebene; die klerikalen Gesandten drohen dem Sultan Strafen an, die mit einer fäkalischen Besudelung einhergehen.62 Ein Bote des Papstes unterstellt dem Türken die Absicht, die Macht der Römischen Kirche zu brechen (S. 295,16) und erklärt mit offenkundigen Metaphern (z. B. Das du fürbaß eitel eselfeigen muost eßen), dass das Kirchenoberhaupt den Türken strafen, ihm Kot zu essen und Urin zu trinken geben werde (S. 295,20–296,1). Die Drohungen zielen schließlich auf die Ermordung des Sultans. So entwirft ein kaiserlicher Bote das Bild von der Enthauptung des Türken: Dein haupt muoß dir über die swertklingen hopfen (S. 297,21). Zu guter Letzt hält ein kurfürstlicher Bote dem Sultan die Einnahme Konstantinopels vor. Die in diesem Rahmen vorgebrachten Vorwürfe – Ermordung von Priestern, von unschuldigen Bürgern und die Schändung ihrer Frauen und Töchter (S. 299,16–18) – sind bekannte Versatzstücke antitürkischer Propaganda. Angesichts der türkischen Grausamkeiten sieht sich der kurfürstliche Bote veranlasst, dem Sultan eine ‘angemessene’ Bestrafung in Aussicht zu stellen. Die expliziten Worte evozieren Bilder körperlicher Erniedrigung heftigsten Ausmaßes: DER LEST POT VON DEM FÜRSTEN: [. . .] Und wellent dich also darumb strafen, Das du ein jar in eim amaißhaufen muost schlafen Und wollen sich an deim eigen leib rechen, Daß dir die plas im ars muoß zuprechen, Und muost dein eigen har auß ropfen, Das dir die zäher über die backen abtropfen. (K 39, S. 299,10; 300,2–7)

Man könnte die skatologischen Reden, die auf Seiten der christlichen Obrigkeit dominieren, wiederum als ein Mittel der Verkehrung verstehen, insofern die Skatologie im Gegensatz zum bürgerlichen Sittenkodex steht.63 Ihn durchbrechen die Vertreter der christlichen Obrigkeit, während sich die Türken relativ gemäßigt verhalten. Doch handelt es sich hierbei um ein Ungleichgewicht, das noch nicht im Sinne einer fastnächtlichen Verkehrung zu deuten ist. Dies nicht zuletzt, da die z. T. obszönen Strafandrohungen auf die Nennung zeittypischer anti-türkischer Propaganda folgen. Dazu gehört neben dem Vorwurf der Gräueltaten beispielsweise auch die Behauptung, die Türken wollten die Christen zur Konversion zwingen, die Römische Kirche zerstören, sie seien lüsterne Vergewaltiger und Mörder. Solche Vorwürfe hinterfragt das Stück nicht, sondern es greift sie auf, um hierauf die Verunglimpfungen der Türken folgen zu lassen. Die Drohungen des Adels wirken so geradezu wie eine logische Replik auf die geschilderten türkischen Übergriffe.

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Vgl. die Bedeutung von ‘nisten under’ wie in under den muren nistent wilde tiere und wurme und slangen (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jh, hg. durch die Hist. Komm. bei der Kgl. Akad. der Wiss. Leipzig 1862ff. [Neudr. Göttingen 1961–1968], Bd. 8, S. 299,14f.; vgl. auch Lexer, Bd. 2, Sp. 86). Vgl. hierzu auch Ehrstine, Fastnachtsrhetorik [Anm. 54], S. 13. Vgl. ebd., S. 19.

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Die derben Beschimpfungen durch die Christen lassen sich eher als ein zum Lachen reizender Grobianismus verstehen, der zum einen der Gattungskonvention geschuldet ist,64 zum anderen aber auch den Strafphantasien eine komische Note verleiht und von der Bedrohung durch die Türken ablenkt, die Angst vor diesen zu kanalisieren hilft.65 Die Komik schwächt zwar in gewisser Weise die Aggressivität gegenüber den Türken ab, doch eine Verkehrung bestehender sozialer oder politischer Verhältnisse ist damit nicht verbunden.66 Zudem leitet, wie dargelegt, die Strafandrohung zur Imagination der körperlichen Versehrung der Türken an. Sie findet ihren besonders derben Ausdruck in der offenbar zur ‘Judensau’67 analog angelegten Vorstellung, der Türke werde ain prunnen trinken, der auf vier painen stet, / Der under einem kuezagel fürher get (S. 295,24–296,1).68 Auch dieses Bild dient der körperlichen Erniedrigung und der umfassenden Desavouierung der Andersgläubigen, mit welchem die antitürkische Polemik der Zeit eine drastische Fortschreibung erfährt. Glaubensfragen: Der Türke als Gottesstrafe und Reformator Die türkischen Protagonisten heben mehrfach die Festigkeit ihres Glaubens hervor und prangern demgegenüber das wenig gottgefällige Verhalten der Christen an. Der 64

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Dies gilt, auch wenn, wie Lenk bemerkt, im ›Turken Vastnachtspil‹ der gattungstypische Grobianismus zurückgenommen ist zugunsten einer spezifischen Sinngebung, wie sie in den aktuell-politischen Spielen begegnet, »die mit Ernst kritisieren«, was andere Fastnachtspiele »mit ‘Schimpf’ karikieren« (Werner Lenk, Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Theorie und zur Interpretation des Fastnachtspiels als Dichtung, Berlin 1966 [Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 33, Reihe C, Beiträge zur Literaturwissenschaft], S. 88). Davon unberührt bleibt, dass K 39 zu den ernsthaften Fastnachtspielen zu zählen ist (vgl. Thomas Habel, Fastnachtspiel, in: Enzyklopädie des Märchens, begr. v. Kurt Ranke, mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. v. Rolf Wilhelm Brednich u. a., Bd. 4, Berlin 1984, Sp. 886–900, hier Sp. 896; Hansjürgen Linke, Vom Sakrement bis zum Exkrement. Ein Überblick über Drama und Theater des deutschen Mittelalters, in: Günter Holtus [Hg.], Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters, Tübingen 1987, S. 127–164, hier S. 149; beachte weiterhin Eckehard Catholy, Fastnachtspiel, Stuttgart 1966, S. 41, 48). DuBruck verweist zu recht auf den Kontrast zwischen den absurden Strafandrohungen auf Seiten der christlichen Boten und der ernsten Kritik der Türken (vgl. Edelgard E. DuBruck, Aspects of Fifteenth-Century Society in the German Carnival Comedies. Speculum hominis, Lewiston [usw.] 1993 [Studies in German Language and Literature 13], S. 63). Sicherlich unterstützt dieser Kontrast die vermittels der Türkenfigur artikulierte soziale Kritik. Nichtsdestoweniger jedoch dienen die Strafandrohungen auch der Desavouierung der Türken. Zu dieser besonders diffamierenden Allegorie vgl. Matthias Schönleber, Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtsspielen von Hans Folz, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte−Feindbilder−Rechtfertigungen, Tübingen, 2002, S. 163–182, hier S. 163–182. Zur Analogie zwischen der ‘Türkenkuh’ im ›Turken Vasnachtspil‹ und der ‘Judensau’, wie sie beispielsweise bei Hans Folz begegnet, vgl. auch Ehrstine, Fastnachtsrhetorik [Anm. 54], S. 9f., 13f.

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Sultan erscheint geradezu als der bessere Gläubige gegenüber den Vertretern des Papstes. Allerdings erheben sich die Türken in Glaubenssachen nicht nur über die Christen, sondern äußern sich anerkennend über ihre Religion; sie weisen darauf hin, dass die Stärke des Christentums wesentlich von der Einhaltung des göttlichen Gebots abhängt (vgl. S. 292,16–18). Folgen die Christen ihren eigenen Glaubensgrundsätzen, dann sind sie unbezwingbar, und das heißt, auch von den Türken nicht zu überwinden. Dies erscheint als unhinterfragbare Tatsache, die auch außerhalb des Christentums Gültigkeit hat. Der Sultan selbst stellt fest, dass das Unglück der Christen u. a. darin begründet liege, dass die Schwachen schlecht behandelt, die Gelehrten die Laien falsch unterwiesen und die Kinder ihre Eltern nicht ehrten (S. 293,10.12 f.). Alles das werde dazu führen, dass sich der Gott der Christen von diesen abwenden und sie schwerlich rauben und pfenden werde (S. 293,20 f.).69 Teil der göttlichen Strafe sind die Osmanen, wie der Sultan selbst erklärt. Sie wollten die Christen zwar nicht töten, denn das nütze den Türken wenig. Vielmehr wolle man den Christen so lange mit weisheit und listen nachschleichen, bis sie sich den Türken als ihren Herren ergäben. Die Worte des Sultans bieten insofern der Furcht vor der türkischen Usurpation einen Nährboden; die Türken zeigen sich als janusköpfig, ihr Verhalten schwankt zwischen Diplomatie und Vereinnahmungsstreben. Die Einschätzung selbst verantworteter Stärke und Schwäche der Christen, die hier dem Sultan in den Mund gelegt wird, ist, wie oben unter Abschnitt II dargelegt, im Rahmen der Auseinandersetzung mit der osmanischen Expansion nichts Singuläres. Man verstand die Türken als Strafe Gottes. Die Bedrohung nötigte zur Reflexion auf das eigene christliche wie nationale Selbstverständnis und zu einer neuen Auseinandersetzung mit Herrschafts- und Konfliktstrukturen im eigenen Land. Dies artikuliert sich im Rosenplütschen Spiel. Die Darstellung der Türken als vorbildlicher Gläubigen rüttelt nicht an der grundsätzlichen Überlegenheit des christlichen Glaubens und der Christen an sich. Auch bleibt stets eindeutig, wer die Heiden und die Anhänger des falschen Glaubens sind; die Türken benennen sich selbst als eben solche. Zwar fungiert der Sultan als eine Art moralische Instanz; doch beruft er sich in dieser Funktion auf den christlichen Gott. Die Positionierung des Türken dient eigentlich der Festigung der christlichen Werte, die im Hl. Römischen Reich unter die Räder zu geraten drohen. Auch so wird deutlich, dass die Figur des Türken als eine äußere Instanz darauf angelegt ist, christliche Ideale und Gebote zu formulieren und ihre Einhaltung zu fordern. Zugleich verweist die Inszenierung des potentiellen Usurpators als moralischer Größe auf den eigentlichen – nämlich den inneren – Feind, auf die Gefahr, die von einem nachlässigen Umgang mit christlichen Werten ausgeht. Dies ist der eigentliche Feind der Christen, der sie schwächt und angreifbar macht.

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Insbesondere prangert er an hoffart, wuocher, eeprechen (S. 294,23), meineid, vom glauben abtreten, simonei (S. 294,1,3).

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Topographien der Identität: Innen vs. Außen Relevant für die Funktion der türkischen Figur im Stück ist die Relation zwischen dem Türkischen als einem Außen und dem Christlichen als einem Inneren. Besonders deutlich wird dies noch einmal im Ausgang des Stücks: Die Bürger zollen dem Sultan am Ende als allerhöchstem rex und allermächtigoste[m] imperator Respekt und sichern ihm freies Geleit zu. Der Sultan bedankt sich und verspricht den Bürgern im Gegenzug seinerseits Sicherheit in seinem Herrschaftsgebiet: DER TÜRKISCH KEISER:

[. . .] Auch sult ir faren sicher und frei, Als weit als alle heidenschaft sei. [. . .] Das sag wir euch, wir türkischer heiden. Nun wollauf, und laßt uns von hinnen scheiden. (K 39, S. 302,7–303,5)

Der Auszug des Kaisers scheint dem Spielverlauf des Reihenspiels geschuldet. Doch sind der Aufenthalt des Sultans innerhalb des christlichen Raumes und die Worte, die seinen Abgang begleiten, im Hinblick auf die identitätsstiftende Signifikanz der Raumkonstellation zu beachten. Von seinem Standort im ‘Inneren’ aus (dem christlichen Territorium, das als Ort der Handlung auf der Bühne oder dem ‘Schauplatz’ sichtbar gemacht wird) verspricht er den Christen, sich ohne Gefahr und frei bewegen zu können [a]ls weit als alle heidenschaft sei. In der konkreten Spielsituation ist das nicht-christliche Territorium nicht sichtbar, was der Alltagserfahrung der Rezipienten entspricht; das Osmanische Reich ist ein entfernter, unbekannter Raum, dessen potentielle Unsicherheit und Gefahr das Spiel darstellt, indem es die Turkei nur als ‘Abwesenheit’, ja als ‘Leerstelle’ präsent macht. Insgesamt weist das Spiel ein binäres Oppositionsmodell von Räumen auf, deren Grenze dazu dient, ein Ideal zu projizieren und dabei die eigene Welt zu beleuchten. Die spezifische Raumkonstellation dient der Imagination und Forderung von Sicherheit und Stabilität für die Christen im Inneren wie im Außen. Der Sultan wird als eine Instanz außerhalb des eigenen Kulturkreises in diesen hereingeholt; er bewertet als Instanz des Außen die Lage im Inneren, im Römischen Reich. Als solche zeigt er die Gründe für die Fragilität des Inneren, der christlichen Gemeinschaft, auf und weist den Weg für eine Re-Stabilisierung des christlichen, des eigenen Raumes und damit von (imaginierter und imaginärer) Geschlossenheit (der Identität und der mit ihr verbundenen Signifikanz). Für eine Kritik an den problematischen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen eignet sich die Figur des türkischen Herrschers gerade deshalb, weil sie für eine Macht steht, die von den Vertretern der Kirche und des Reichs ernst genommen werden musste. Dennoch kann von einer Anerkennung bzw. Integration des Fremdländischen und des Andersgläubigen oder gar von einer Auflösung des »schematischen Anti-Heiden Bildes«70 nicht die Rede sein. Eine empfundene Bedrohung durch 70

Göllner, Turcica, Bd. 3 [Anm. 10], S. 357.

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die Türken kommt im Spiel immer wieder zum Ausdruck. Zudem zeugen die den Türken in den Mund gelegten Reden sowie ihre Bedrohung und Verunglimpfung wiederholt von der Furcht vor der fremden Macht. Diese wird nicht durch die karnevaleske Unordnung besiegt,71 sondern vielmehr im genannten Sinne instrumentalisiert. Anti-türkische Vorurteile werden nicht relativiert, sondern forciert. Sie dienen einerseits dazu, Kritik zu üben und die christliche als die ‘richtige’ Ordnung zu behaupten und zu konsolidieren. Den Weg dorthin ebnet die polemische Idealisierung der Osmanen ebenso wie ihre (allein punktuell komische) Diffamierung. Eine vergleichbare Funktionalisierung der Türkenfigur, wie sie sich im Rosenplütschen Spiel findet, begegnet auch in Dramen Sachsens und Ayrers. Dass der Türke im Werk dieser Dichter als ein Handlungsträger auftaucht, verwundert nicht, denn angesichts der weiteren osmanischen Expansion war das Thema auch im 16. Jahrhundert in Nürnberg virulent.72 2. Hans Sachs: ›Comedi mit 9 personen, die undultig fraw Genura‹ 1548 erscheint Sachsens ›Comedi mit 9 personen, die undultig fraw Genura‹,73 eine Adaptation der neunten Novelle des zweiten Tages aus Boccaccios ›Decameron‹.74 Zu 71 72

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Vgl. Ehrstine, Fastnachtsrhetorik [Anm. 54], S. 19. Vgl. hierzu Kleinlogel, Exotik−Erotik [Anm. 16], S. 61, die auf Sachsens Reaktion auf die Inszenierung einer Türkenschlacht in Nürnberg 1535 verweist. Die Stadt feierte damit den Zug Karls V. gegen die Türken in Nordafrika. Sachs war von dem Spektakel begeistert (vgl. Sachs, Sämtliche Werke [Anm. 40], Bd. 2, S. 395–399). Comedi mit 9 personen, die undultig fraw Genura, unnd hat fünff actus, in: Sachs, Sämtliche Werke [Anm. 40], Bd. 12, S. 40–63 (im Spruchbuch steht im Titel von der vnschuldigen frawen; vgl. ebd., S. 573 zu S. 40, Z. 1). Sachsens dramatische Bearbeitung ist eng an die ›Decameron‹-Novelle angelehnt. Es finden sich jedoch auch inhaltliche Überschneidungen mit Momenten, die nur in der (erstmals um 1490 überlieferten) ›Historie von den vier Kaufleuten‹ enthalten sind, eine Variante der ‘Geschichte von der Wette’ in deutscher Sprache. Eine Diskussion der literarischen Abhängigkeiten kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht erfolgen. Verwiesen sei diesbezüglich auf die Arbeit von Kurt Mechel, Die ‘Historie von den vier Kaufmännern’ [Le Cycle de la Gaguere] und deren dramatische Bearbeitung in der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Diss. Halle 1914, S. 22–31. Mechel stellt den primären Bezug des Dramas zur ›Decameron‹-Übersetzung fest, welchen »schon die zahlreichen wörtlichen Kongruenzen dartun« (ebd., S. 22f.). Sachs setzte die Novelle bereits 1546 als Meistersang um: e Der poswicht im kasten. In des Romers gesanckweis, in: Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs. Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen, hg. v. Edmund Goetze u. Carl Drescher, Bd. 4, Halle a. S. 1903, Nr. 294, S. 87–89. Schon an dieser Bearbeitung zeigt sich, so Mechel, Sachsens Kenntnis der Historie (vgl. ebd., S. 23, 30f.). Hauptquelle Sachsens aber sei »die Decameronübersetzung [. . .]. Einzelne Züge dagegen hat er aus der Historie entlehnt. Doch hat es den Anschein, als ob er sie mehr aus der Erinnerung verwertet habe, während das Decamerone vor ihm aufgeschlagen lag« (ebd., S. 30f.). Für die nachfolgende Analyse des Dramas ist zentral, wie Sachs die Türkenthematik einbindet. Um dies herauszuarbeiten, wird im Folgenden die ›Decameron‹-Novelle in der Version Arigos zum Vergleich herangezogen. – Ob die Historie ihrerseits auf Boccaccios Novelle basiert oder auf einer italienischen anonymen Novelle des 14. Jahrhunderts, ist der Forschung zufolge nicht

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Beginn des Stücks verweist der Ehrenhold auf den hoch poet, Johannes Bocatius.75 Sachs rezipierte dessen Novellenzyklus vermittelt über die deutsche Übertragung Arigos.76 Das Drama handelt, analog zur Novelle, von Barnaba von Genua und seiner Frau Genura. Barnaba glaubt so fest an die Treue Genuras, dass er – herausgefordert durch Amprogilo von Florenz – mit eben diesem eine Wette um die Ehre seiner Frau eingeht. Durch eine List gelingt es Amprogilo, Barnaba zu täuschen und ihn von der

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eindeutig auszumachen (vgl. Kochers Forschungsreferat in ihrem Artikel zur Historie in: 2 VL, Bd. 9, 1999, Sp. 330–332, hier Sp. 331). In ihrer Studie von 2005 geht Kocher allerdings davon aus, dass die Historie ein Rezeptionszeugnis des ›Decameron‹ darstellt (vgl. Ursula Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ‘novelle’ im 15. und 16. Jahrhundert [Chloe. Beihefte zum Daphnis 38], S. 331). Kritisch zu Kochers Untersuchung Kipf: »Zur direkten Vorlage der anonymen Historie äußert sich Kocher in ihrer Dissertation nicht [. . .]. Auch wird die Frage, ob die [. . .] Historie Arigos Version der Geschichte von den Kaufleuten voraussetzt, nicht gestellt«; J. Klaus Kipf, Gattungsgeschichte wider Willen. Eine aporetische Studie zur frühen Decameron-Rezeption in Deutschland (Rezension über: Kocher, Boccaccio [diese Anm.]), in: IASLonline, 29.04.2008 [online im Internet: URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang id=1727 (Stand: 02.02.2009), Abs. 6]. In seinen ›Decameron‹-Adaptationen nennt Sachs gern Boccaccio als Gewährsmann (vgl. dazu Joachim Knape, Boccaccio und das Erzähllied bei Hans Sachs, in: Stephan Füssel [Hg.], Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit, Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. September 1994 in Nürnberg, Nürnberg 1995 [Pirckheimer-Jahrbuch 10], S. 47–81, hier S. 57). Vgl. dazu Knape, Boccaccio und das Erzähllied [Anm. 75], bes. S. 53, 58. Man schrieb die Übersetzung ursprünglich Steinhöwel zu. Davon zeugt auch die (hier zitierte) Kellersche Ausgabe: Decameron von Heinrich Steinhöwel, hg. v. Adelbert von Keller, Stuttgart 1860 (BLVSt 51), im Folgenden zitiert als ›Decameron‹. – Zahlreiche Dichtungen des Hans Sachs gehen auf das ›Decameron‹ zurück, dessen deutsche Übertragung erstmals in Ulm von Johann Zainer um 1476 gedruckt wurde. Nach diesem Erstdruck erlebte Arigos Übersetzung »im ausgehenden 15. Jahrhundert nur einen weiteren Druck und in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts lediglich zwei gekürzte Neuausgaben. Aber seit dem Straßburger Druck von 1535 bei Jacob Cammerlander wurde sie [. . .] in kurzen zeitlichen Abständen immer wieder aufgelegt (1540, 1545, 1547, 1551, 1557 und 1561)« (Dieter Kartschoke, Ritter Galmy vß Schottenland und Jörg Wickram aus Colmar, Daphnis 31 [2002], S. 469–489, hier S. 480 Anm. 46). Mit der Cammerlander-Ausgabe kam es zu einem »neuen Rezeptionsschub des Decameron, und auch Sachs entdeckte es in den 1540er Jahren wieder als Quelle zum Themenkreis Frau-Liebe-Ehe« (Knape, Boccaccio und das Erzähllied [Anm. 75], S. 58). Zu Sachsens Rezeption des ›Decameron‹ (insbesondere der deutschen Fassung Arigos) vgl. exemplarisch Julius Hartmann, Das Verhältnis von Hans Sachs zur sogenannten Steinhöwelschen Decameronübersetzung, Berlin 1912 (Acta Germanica, N. R. 2); Barbara Könneker, Hans Sachs, Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler 94), S. 43f., 46, 60, 65; Brigitte Stuplich, Zur Dramentechnik des Hans Sachs, Stuttgart/Bad Cannstadt 1998, S. 38, 90, 208– 210, 308, 340; Knape, Boccaccio und das Erzähllied [Anm. 75], S. 47–78, der auch einen Forschungsüberblick zu Sachsens ›Decameron‹-Rezeption gibt (S. 47–53); Angelika Wingen-Trennhaus, Die Quellen des Hans Sachs. Bibliotheksgeschichtliche Forschungen zum Nürnberg des 16. Jahrhunderts, in: Füssel, Hans Sachs [Anm. 75], S. 109–150, hier S. 118. Zur Forschung vgl. auch Kocher, Boccaccio [Anm. 74], S. 425–428. Sie bemerkt kritisch zur Untersuchung Hartmanns, er habe »die Sachs-Bearbeitungen sehr genau gelesen, unterscheid[e] aber kaum zwischen einzelnen Diskurstraditionen und Textsorten« (ebd., S. 426).

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Untreue seiner Frau zu überzeugen. Barnaba will Genura töten lassen, die aber flüchtet in die Türkei. Dort tritt sie, verkleidet als Mann (Sicuron), in die Dienste des Sultans. Als der Verräter Amprogilo am türkischen Hof auftaucht, gelingt es Genura, ihn zu überführen und ihren Mann, der inzwischen ebenfalls am türkischen Hof eingetroffen ist, von ihrer Unschuld zu überzeugen. Amprogilo wird vom Sultan grausam bestraft. Den Sultan gestaltet Sachs, ähnlich der ›Decameron‹-Novelle, als strengen, gerechten, der Wahrheit verpflichteten Herrscher, er setzt jedoch eigene Akzente.77 Mag die positive Gestaltung auch aus der Abhängigkeit vom Stoff resultieren, so bleibt sie mit Blick auf Sachsens frühere zahlreiche anti-türkische Dichtungen bemerkenswert, welche gebetsmühlenartig gängige Polemiken wiederholen.78 In seinem Drama streut Sachs vereinzelt Aspekte ein, wie man sie aus seinen anti-türkischen Texten oder denen anderer Verfasser kennt. So wirkt sein Sultan im Vergleich zum ›Decameron‹ bedrohlicher und gewinnt dadurch eine eigene Spannung. Im ›Decameron‹ erscheint der Sultan, gerade in seinem Verhalten gegenüber den Christen, milder und diplomatischer, was an seinem Gebaren gegenüber Sicurano und den christlichen Kaufleuten deutlich wird. Die Einbindung der Türkenthematik, die Verdichtung der geschilderten Fremde zum türkischen Handlungsraum ist eine Neuerung des Hans Sachs. Die Konturierung des türkischen Bereichs zeichnet sich beispielsweise dadurch aus, dass Genura gezielt in die Türkey flieht (S. 52, Z. 11), die dann bis zum Ende Ort der Handlung ist (wie im ›Decameron‹ findet die Begegnung mit dem Sultan in Alexandria statt, das jedoch erst im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in osmanische Hand fiel). Dadurch, dass Sachs den zweiten Teil des Plots, in dem Genura Wiedergutmachung erfährt, gänzlich in die ‘Türkei’ verlagert, setzt er die Handlungsräume stärker gegeneinander ab; der Bereich des Türkischen dient hier in deutlicherer Konturierung der Abgrenzung gegenüber dem christlichen, zeitweilig beschädigten, Handlungsraum. Die Novelle arbeitet weniger statisch. So findet dort das Erkennen Ambrogiolos als Verräter in Acri statt. Die Stadt gehört zwar zum Herrschaftsbereich des Sultans, erscheint jedoch als ‘Schmelztiegel’ verschiedener Völker und Regionen. Hier treiben insbesondere Christen Handel; dies unter der Obhut des Sultans, der dafür sorgt, dass nyemant wider recht gethon würde. Er schickt zur Sicherung Sicurano (die als Mann getarnte Geneüra), der als verweser und gubernator des Sultans mit grossem fleiß yderman seine recht thet, als dann seinem ampte zuo gepüret, vnd den kristen kaufleuten grosse freuntschaft peweiset (Decameron, S. 149). Schon die ersten Begegnungen zwischen dem Sultan und Sicurano verlaufen harmonisch: Nach ihrer Flucht hatte Geneüra als Sicurano zunächst auf einem katelanisch schiffe angeheuert und dort vorbildlichst ihren Dienst versehen, so dass sie die Gunst des Schiffsherrn gewann (vgl. Decameron, S. 148f.). In Alexandria angekommen, schickt 77

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Vgl. dazu auch Kleinlogel, Exotik−Erotik [Anm. 16], S. 62–64, die in ihrer Untersuchung allein auf den italienischen Originaltext verweist. Vgl. zusammenfassend ebd., S. 56–61 sowie exemplarisch Schilling, Aspekte des Türkenbildes [Anm. 12], S. 44–46.

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dieser dem Sultan einige Falken, die von Sicurano versorgt werden. Der Sultan erkennt dessen umfassende Geschicklichkeit, findet großes Gefallen an ihm und erbittet den jungen Mann vom Katalanen. Dieser überlässt ihn dem Sultan schweren Herzens. Ihm dient Sicurano wiederum mit größter Vorbildlichkeit und gewinnt seine genade (Decameron, S. 149). Schließlich betraut der Sultan ihn mit der Aufgabe in Acri. Im Drama Sachsens verläuft die Begegnung zwischen Sicuron und dem Sultan etwas anders: Ein Türke will den jungen Christen dem türkischen Sultan überbringen. Als dieser von dem welschen knecht hört, ist seine Neugierde geweckt; er habe schon lange keinen Christen mehr gesehen. Er fordert Auskunft über die Identität des jungen Mannes. Sicuron nennt seinen Namen und erklärt, er sei von meerraubern gefangen worden (S. 53, Z. 7).79 Der Sultan erkundigt sich noch knapp nach Sicurons gwerb (S. 53, Z. 11), bevor er kurzum entscheidet: So wirst fort unser zolner wern, / Der Christen kauflaut war beschawen (S. 53, Z. 20 f.). Man mag Sachsens Verkürzung und die Konzentration auf die Türkei als der Gattung geschuldet oder als einen Reduktionismus und eine Neigung »zur bloßen Stofflichkeit«80 begreifen. Entscheidend aber für die vorliegende Untersuchung ist, in welcher Weise Sachs das Türkische konkret als einen ‘Gegenraum’ (zum Christlichen) funktionalisiert und dessen Doppelbödigkeit herausstellt (s. u.), die in der Novelle nicht gegeben ist.81 Die binäre Opposition der Räume ist bei Sachs stärker ausgeprägt. Durch die eigene Anordnung der Handlungsräume sowie durch den gestrafften Handlungsverlauf unterstreicht das Stück, dass die Restauration der Ordnung an den ‘anderen’ Ort gekoppelt ist. Dabei ist die Türkei zunächst kaum mehr als ein Synonym für die unbekannte, ungewisse Ferne: Nun geh ich hin von ehr und gut In das ellende und armut Und mich gar in mans-kleider verker. Nach dem ich suchen will am meer, Ob ein schiffart bereitet sey, Abzufaren in die Türckey. (Sachs, Genura, S. 52, Z. 6–11)82

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Kleinlogel geht davon aus, dass es sich bei den Seeräubern um Türken handeln müsse, »was infolge von Schreckensmeldungen über türkisches Piratenunwesen im Mittelmeer und dank der bekannten Abenteuerberichte dem Sachsschen Publikum zweifellos glaubwürdig erschienen sein dürfte« (Kleinlogel, Exotik− Erotik [Anm. 16], S. 62). Ob hier eine Entführung durch Türken vorliegt, bleibt jedoch letztlich nur angedeutet; nähere Angaben dazu finden sich im Text nicht. Auch ist zu bedenken, dass es Genuras eigener Wunsch ist, in die Türkei zu reisen. Knape, Boccaccio und das Erzähllied [Anm. 75], S. 67, der (im Rahmen seiner Ausführungen zur ‘Kondensation’ als Bearbeitungsverfahren bei Hans Sachs) auf die Forschung rekurriert. Man möchte meinen, dass die Rolle des Soldan im ›Decameron‹ auch von einem christlichen Herrscher übernommen werden könnte, der mit Sorgfalt für die Einhaltung des Rechts unter den Kaufleuten sorgt. Eine solche Umbesetzung wäre für Sachsens Drama, in dem der türkische Herrscher vom Sieg über die Christen spricht (s. u.), undenkbar. Im ›Decameron‹ nennt Geneüra keinen konkreten Ort, an den sie sich begeben will. Dem

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Die Umstände, unter denen Genura an ihr Ziel gelangt (Flucht, Verkleidung als Mann, Gefangennahme durch Seeräuber) und die Attribute, mit denen sie dieses in Verbindung bringt (die ferr, ellende, armut) verleihen der türkischen Sphäre eine Aura der Furcht und des Ungewissen. Insgesamt aber erscheint der türkische Raum doppelt konnotiert, denn er wird auch zu einem Zufluchtsort stilisiert und steht im Kontrast zu dem nicht mehr sicheren Heimatland. Dieses ist gefährlicher Ort der Zwietracht, während die Ferne, die Türkei, Sicherheit verheißt. Die Ambivalenz des türkischen Handlungsraumes unterstreicht Sachs, indem er die zeittypische Vorstellung von den Türken als einer von den Christen selbst verschuldeten Gefahr einfließen und dies den Sultan selbst formulieren lässt: Man sagt, ein bott ankumen sey, Das die Christen samblen ein herr Mit harnisch, püchsen und mit weer, Uns gwaltiglichen zu bekriegen. Hoff, sie sollen wir vor gesiegen, Weil sie selber uneinig sein. (Sachs, Genura, S. 53, Z. 29–34)

Die Auffassung von einer selbstverantworteten Schwäche der Christen ist im Kontext der Auseinandersetzung mit den Osmanen gängig (vgl. Abschnitt II). Auch spiegelt sich im Stück die für die ‘Türkendichtung’ typische Thematisierung und Reflexion von Konfliktstrukturen innerhalb christlicher Herrschaftsräume. Doch markiert die Äußerung den Sultan nicht als vollkommen negativ, denn es sind die Christen, welche die Türken angreifen wollen. Die Hoffnung, den Feind zu besiegen, erscheint als eine logische Reaktion. – Sachs arbeitet also die Türkenthematik in einen vorhandenen Stoff ein; er ‘gießt’ typische Themen oder Problematisierungen der ‘Türkendichtung’ in einen vorgegebenen Handlungsrahmen und führt sie in der Form des Dramas eng (sich in diesem Rahmen ergebende Rückschlüsse leiten dann jedoch nicht etwa zu einer weltpolitischen Aussage an, wie noch zu zeigen sein wird). Dem vorgegebenen literarischen ‘Material’ verleiht Sachs neue Aktualität, und die Türkenthematik gewinnt ihrerseits (bis zu einem gewissen Grade) eine neue, eigene Qualität. Das Stück statuiert anhand des Verräters Amprogilo ein Exempel. Agieren und Schicksal der Figur zeigen, welche Gefahr von einem unsittlichen Verhalten im eigenen, christlichen, Raum ausgeht. Ein solches kann dazu führen, dass die Christen, wie Genura, darin selbst nicht mehr sicher sind. Sachs versieht diese Problematik mit einem Ausrufungszeichen, indem er die Lösung des Konflikts vollständig in die Türkei verlagert und den Sultan zum einen als Bedrohung für die Christen und zum anderen nicht nur als Richter, sondern auch als Mahner der christlichen Obrigkeit inszeniert (eine signifikante Abweichung gegenüber der Novelle). Sachs führt die Problematik als eine der christlichen Gemeinschaft vor, deren Stabilität es zu sichern und vor innerer Brüchigkeit und damit Anfälligkeit für äußere Gefahren zu bewahren gilt. Knecht Barnabas erklärt sie, dass sie so ferre auß disen landen gen vnd zichen wille, das weder du noch Barnaba noch lebendig mensche auß diser gegent nymmer mere icht von mir vernemen sol (Decameron, S. 145).

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Der türckisch keiser stellt die richtige Ordnung wieder her, wenn er Genura, die sich ihm schließlich offenbart, aufträgt, ihre Frauenkleider anzulegen, und die Strafe für Amprogilo festlegt. Auch im ›Decameron‹ ist der Sultan Strafender, doch kennzeichnet die Figur nicht eine solche Spannung wie den nach dem zeittypischen Türkenbild ‘modellierten’ Herrscher des Hans Sachs; Arigos Sultan ist ausschließlich positiv und artikuliert nicht den Willen, die Christen niederzukämpfen. Zu beachten sind diesbezüglich auch die Urteile des Sultans, die Sachs erweitert. So wird die Schindung Amprogilos en detail geschildert:83 Der Soldan nimbt den stab unnd spricht: Amprogilo, du ehren-dieb, Das strenge urteil ich dir gib, Das man nacket abziehen soll Dich, dir dein haut abschneiden soll Und darnach dich mit hönig salben An deinem leibe allenthalben Und also dann vor unserm sal Mit ketten binden an ein pfal, Das die hornneussel, bin und websen Dir abfressen nasen, mund und lebsen Und das gantz fleisch von deinem leib, Das allein das gebein da bleib, Mit solcher langer bein und queel Von dir treiben dein arme seel Zu einer straff der ubelthat, Die sich auff dich erfunden hat. (Sachs, Genura, S. 59, Z. 27-S. 60, Z. 7)

Der türkische Sultan agiert also auch bei Sachs als ein gerechter Herrscher, dem als solchem die oberste Gerichtsgewalt obliegt. Die Erweiterung der Strafschilderung könnte allerdings zeitgenössischen Vorstellungen geschuldet sein, nach denen die Türken ihre Gegner auf besonders grausame Weise töteten.84 Zudem ist die Forderung des Sultans, das alt weib, das Amprogilo beim Betrug unterstütze, ertränken zu lassen, eine Zutat Sachsens. Auch die Formulierung dessen und die Beschreibung zur Ausführung der Strafe in einem Brief an die christliche Obrigkeit ist neu. Mit all dem unterstreicht Sachs die Autorität des Türken, die ihm selbst gegenüber den christlichen Herrschern zukommt. Vermittelt über das Türkische als ein Äußeres demonstriert Sachs also eine Restauration der Integrität des christlichen Handlungsraumes. Zu 83

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Vgl. dazu Mechel, Die ‘Historie von den vier Kaufmännern’ [Anm. 74], S. 28: »Die Strafe des Bösewichts wird gegenüber der Vorlage verschärft. Ihm wird die Haut abgezogen, bevor die andere Prozedur vorgenommen wird. Wenn diese Haut dann auf die Bühne gebracht wird, so soll durch dies sinnfällige Moment die Strafe des Betrügers, die auf der Bühne nicht vor sich gehen kann, dem Zuschauer doch recht nachdrücklich zu Gemüte geführt werden.« Die Strafe selbst ist nicht für die Türken spezifisch. Sie wurde im Mittelalter für Diebstahl erteilt, wie aus den Statuten des Deutschen Ordens hervorgeht (vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtseigentümer, 2 Bde., 4. Aufl. Leipzig 1899, Nachdruck Darmstadt 1989 [Erstausgabe 1828], Bd. 2, S. 286f.).

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diesem Zweck macht er den Türken zum Anwalt der Betrogenen und zum Kritiker maroder Zustände bei den Christen. Er stilisiert den türkischen Sultan als eine gänzlich äußere Autorität, die aufgrund eben dieser äußerlichen Position um so nachhaltiger die Wiederherstellung der christlichen Ordnung einklagen kann. Offenkundig ist damit Sachsens Sultan jenem des Rosenplütschen Spiels vergleichbar. Doch werden hier die Räume in ganz anderer Weise ins Verhältnis gesetzt. Im Fastnachtspiel kritisiert der Türke buchstäblich von innen heraus das Christentum, im Sachsschen Drama sorgt die Figur vom türkischen Territorium aus für Gerechtigkeit. Diese Raumgestaltung wird durch die zeichenhafte Funktion des Körpers unterstützt: Signifikant sind insbesondere die abgezogene Haut Amprogilos und die Geste des Sultans, der dem versöhnten Paar die Haut mit auf den Weg gibt: Der Soldan spricht: Barnaba, nimb die haut alda Und führ sie mit gehn Genua, Das darbey sech dein obrigkeit, Das der Soldan straff die boßheit. (Sachs, Genura, S. 61, Z. 14–18)85

Körper und Geste funktionieren regelrecht symmetrisch zur Anordnung der inszenierten Räume des Außen und des Innen; sie unterstützen deren Funktion, da sie die Eliminierung der Lüge, der inneren Brüchigkeit, im Außerhalb vergegenständlichen: Die abgezogenen Haut Amprogilos demonstriert, dass der Lüge ‘das Fell über die Ohren gezogen’ wurde und materialisiert den Triumph über den Störfaktor im christlichen Raum. Die Geste, mit welcher der Sultan dem Paar das Zeichen der ‘ent-hüllten’ Lüge übergibt, damit sie es in ihr Heimatland mitnehmen und ihrer Obrigkeit zeigen, akzentuiert die gegeneinander gesetzten Handlungsräume. Zugleich unterstreicht die Geste die Funktion des Türkischen als Äußerliches, das dazu dient, eine innere Integrität wieder herzustellen. Diese Integrität wiederum verkörpert zusätzlich der Ehebund zwischen Genura und Barnaba, der am Ende ebenso wieder intakt ist wie die Harmonie im christlichen Gebiet. Und so muss die abgezogene H a u t a l s F r a g m e n t gegenüber dem g a n z h e i t l i c h e n K ö r p e r des Paares begriffen werden. Die neue Zusammenführung der Ehepartner ist selbst Zeichen der narrativ und performativ hergestellten Geschlossenheit des Stücks wie auch des erneuerten christlichen Gemeinschaftsverbundes.86 Zu bedenken bleibt, dass Sachs seine ‘Dramatisierung’ des Stoffes unter Einbindung der Türkenfigur mit all den Aussagen, die hieraus abzuleiten sind, im Epilog auf das alltägliche Leben herunterbricht; er projiziert das, was er anhand der ‘Dramatisierung’ der Räume vorführte, auf die konkrete Lebenswelt und will es als Hand85 86

Vgl. hierzu auch Kleinlogel, Exotik−Erotik [Anm. 16], S. 63. Auch Genuras Körper ist Zeichen dieser neuen Geschlossenheit des Sinns: Das Cross-Dressing verweist auf die gesellschaftlichen wie individuellen Zustände; war die Verkleidung als Mann Zeichen der gestörten Ordnung, so demonstriert die ‘Rückverwandlung’ zur Frau die Re-Konstruktion der ‘richtigen’ Verhältnisse, zu denen, nach der Logik des Stücks (wie auch der Novelle), die heterosexuelle Paarbildung gehört.

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lungsanweisung verstanden wissen. Damit wird die binäre Raumkonstruktion im bürgerlichen Mikrokosmos zusammengebunden. In seiner Mitte steht der zur Ordnung rufende Hans Sachs, der in seiner mahnenden Pose ein wenig an den Recht sprechenden türkischen Sultan erinnert, gerade wenn er sich an die Obrigkeit wendet und sie auffordert, Zu handthaben gemeinen nutz, Dem unschuldig halt trewen schutz Und straff den bösen hie auff erdt! Derhalben sie denn tregt das schwerd, Dardurch ihr lob und preiß erwachs Sampt gmeinen nutz, das wünscht Hans Sachs. (Sachs, Genura, S. 62, Z. 33–38)

3. Jakob Ayrer: ›Comedi von dem getreuen Ramo‹ Der Nürnberger Prokurator und kaiserliche Notar Jakob Ayrer, der z. T. an Sachsens Dramen und Fastnachtspiele anknüpft, gestaltet seinerseits die Türkenthematik dramatisch aus.87 In der ›Comedi von dem getreuen Ramo‹ (Opus Theatricum; posthum 1610) nutzt Ayrer zeittypische Türkenbilder zur moralischen Didaxe, wobei er den Topos vom Türken als Inbegriff der Wollust aufgreift. Ein von ihr gesteuertes Handeln wird im Eingang des Stücks in der Manier fastnächtlicher Verkehrung zum Vorbild erhoben: Lucifer, Sathanas vnd Asmotheus, drey Teuffel, gehn mit einander ein. Lucifer sagt: Ich meint zwar nicht, das in der Höll Wer ein solchs gethös vnd geschöll, Als wie dise Leüt anfangen. Bin schir mit schrecken herein gangen. Sollen das wolzogen Christen sein? O dem Teuffl zu in dHöll hinein! Wir wollen gern eurer Jugent Etwas anzeigen von Ehr vnd tugent, Das sie sich solten halten darnach. Ein histori in Persischer sprach [. . .] Geht von eim Türckischen Soldan, Der nam in bösen verdacht sein Sohn, Weil jhn sein Gemahl vnd ein Raht Vnwahrhafftig verlogen hat, 87

Comedi von dem getreuen Ramo deß Soldans von Babilonien Sohn, wie es jhme mit seiner falschen Stieffmutter ergangen, in: Ayrers Dramen [Anm. 25], Bd. 3, S. 1855–1925. – Das Opus Theatricum enthält zahlreiche Fastnachtspiele (36 Fastnacht- oder Possenspiele) und insgesamt drei türkische Dramen, darunter auch das in Anm. 25 erwähnte Drama über die Einnahme Konstantinopels, das in der Nürnberger Zeit Ayrers entstand und in dem der Dichter den Stoff von der Griechin Irene verarbeitet, der schon Gegenstand eines Hans Sachs zugeschriebenen Meisterliedes war.

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Das er jhn auß dem Land vertrieb. Der falsch Raht hett die Keiserin lieb Vnd trieb mit jhr groß sündt vnd schandt. (Ayrer, ›Ramus‹, S. 1855, Z. 6–26)88

Ausgang der Handlung ist das bekannte Motiv der unersättlichen Frau: Die Sultanin Detrometa, die sich von ihrem Mann nicht hinreichend sexuell befriedigt fühlt, frönt ihrer Lust mit Malefictus, einem Raht des Sultans. Angesichts ihrer in der Ehe unerfüllten sexuellen Bedürfnisse erklärt Detrometa in einem Monolog die Vorzüge der bürgerlichen Ehe (vgl. S. 1857, Z. 15–22); sie bedauert die Zwänge, denen eine adlige Frau unterliegt, und die damit verbundenen Entbehrungen (vgl. S. 1857, Z. 23-S. 1858, Z. 11). Die bürgerliche Ehe halte gegenüber jener im Fürstn vnd Hohen stand große Vorteile bereit. Sie selbst müsse bei ihrem Mann vil nachthunger leiden (S. 1858, Z. 2). Einen Höhepunkt erreicht die Darstellung der Lüsternheit in Detrometas Rede an Malefictus. In ihrer freundlich-zärtlichen Begrüßung bezeichnet sie den Liebhaber u. a. als ihren Liebstöckel und holterdrüssel (S. 1912, Z. 34), womit sie verblümt ihre sexuellen Wünsche formuliert. Nach dem Muster des Fastnachtspiels zielt die Darstellung ihres ungezügelten sexuellen Verlangens zusammen mit dem Kontrast von harmloser Terminologie und drastisch obszönem Inhalt auf einen komischen Effekt.89 Der Topos vom wollüstigen Türken bietet im Drama die Möglichkeit, Sexuelles zur Anschauung zu bringen; die Tradition des Fastnachtspiels ebnet den Weg ihrer obszönen Überzeichnung. Auch Ayrer greift das Bild des unerbittlich grausamen Sultans auf. Der türkische Herrscher zeigt sich hier ungeachtet seiner Rolle eines betrogenen Ehemannes als hart Urteilender, der selbst vor der Hinrichtung seines Sohnes Ramus nicht zurückschreckt. Dieser hat die Buhlschaft der Sultanin beobachtet und wird daher von ihr verleumdet. Sie behauptet, er habe sie vmb vnzucht angesprochen, woraufhin der Sultan seinem Sohn den Kopf abschlagen lassen will (vgl. S. 1863, Z. 19–23). Man kann ihn jedoch noch zu einer milderen Strafe bewegen, und er verweist Ramus lediglich des Landes. Während dieser hier noch als Opfer erscheint und am Beginn des Stücks als lasterfrei charakterisiert wird, als voller Ehr vnd Tugent (S. 1865, 10 f.), entpuppt er sich alsbald seinerseits als eine fragwürdige Figur: Um sich zu rächen, bedient sich Ramus durchaus tugendloser Mittel. Er schließt einen Pakt mit dem Teufel Asmotheus, einem Kumpanen Lucifers, der auf Hurerei spezialisiert ist und Ramus nur allzu gern unterstützt: Solchen Leüten dien ich gar gern, Die mit hurn vnd Buben vmbgehn, Denn solcher vnzucht thu ich beystehn. (Ayrer, ›Ramus‹, S. 1872, Z. 10–21)

88 89

Vgl. zur Stelle auch Kleinlogel, Exotik−Erotik [Anm. 16], S. 71. Vgl. hierzu auch ebd., S. 77f.

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Ramus’ Vergeltungsweise macht deutlich, dass die Lüsternheit das allbeherrschende Laster ist; er schleicht sich in die Kammer der drei Töchter des Malefictus und vergewaltigt sie (vgl. S. 1894). Die älteste Tochter, Leandra, erklärt daraufhin die schwerwiegenden gesellschaftlichen Konsequenzen, die ein Bekanntwerden dieser Schande für sie und ihre Schwestern hätte. Eine Heirat sei für sie kaum noch möglich. Ramus ist also nicht bloß der hintergangene Sohn, der für Gerechtigkeit und Wahrheit einsteht, wie es am Beginn des Stückes erscheint. Dass nun auch er als eigentlich positive Figur derart fragwürdig agiert, demonstriert, dass die Türken nach eigenen Wertmaßstäben handeln; der türkische Handlungsraum scheint insgesamt von Lasterhaftigkeit durchdrungen zu sein. Jedoch geht es letztlich im Stück nicht lediglich um die Verworfenheit der Türken. Vielmehr werden anhand des türkischen Handlungsraumes bürgerliche Werte vorgeführt, vor allem das bürgerliche Ehekonzept.90 Trotz der fastnächtlichen, komischen Verkehrungen, in denen die Wollust zum herrschenden Prinzip erhoben wird, steht am Ende unzweifelhaft die Verwerflichkeit lustbestimmten Handelns fest. Die Sultanin und ihr Liebhaber werden bestraft, während Leandra und Ramus heiraten. Das Stück beschließt auch hier der Ehrnholt, der vor der Geilheit und Falschheit der ehebrecherischen Frau warnt, die einen Unschuldigen ins Unglück stürzt. Festzuhalten bleibt, dass Ayrer eine christlich-bürgerliche Normendebatte auf einen ausgelagerten Handlungsraum (auf einen Raum jenseits der christlichen Sphäre) überträgt, um die Problematik einer Nichteinhaltung bestimmter Werte zu distanzieren und zu beleuchten. So wird die Normenverhandlung gewissermaßen in doppelter Weise auf die Bühne gebracht: zum einen als inszeniertes Stück, das die Handlung um Ehebruch, Lust und sexuelle Frustration, Gewalt der Obrigkeit und die Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen vorführt; zum andern als Projektion, insofern die Verhandlung der Normen auf einen anderen Kulturkreis, nämlich den türkischen, projiziert wird. Auf einer weiteren Ebene aber lässt sich das Stück auch lesen als lustvolle Ausgestaltung der Vorstellung vom Türken als Inbegriff des Triebhaften.91 So gesehen, dient hier die Figur des Türken dazu, anders als im Rosenplütschen Spiel oder auch im Drama des Hans Sachs, eine sexuelle Lust zur Schau zu stellen, sich davon (unter Identifikation mit dem vorgestellten Tugend- und Wertesystem) zu distanzieren und simultan an der Lust zu partizipieren.

90 91

Vgl. ebd., S. 76. Kleinlogel betont die Darstellung von Affekten in einzelnen Szenen. Sie seien »Auslöser der tragischen Entwicklung« und Ayrer antizipiere »damit die für die Türkentragödien des 17. Jahrhunderts bestimmende Verlagerung der osmanischen Motivik in den Konflikt der Leidenschaften« (ebd., S. 96).

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V. Fazit Die vorgestellten Schauspiele nehmen teil an der Erstellung des Türkenbildes als eines Konglomerats verschiedener Typisierungen und Vorurteile. Sie tragen dabei zur Identitätsbildung und (imaginären) [Re-]Konstruktion eines christlichen Interessenverbundes bei. Gemeinsam ist den Werken ein Aufgreifen von zeittypischen ‘Türkenbildern’. Diese dienen offenkundig dazu, Ängste zu artikulieren und den äußeren Feind zu definieren, gewissermaßen das Unbekannte, die fremde Kultur, greifbar zu machen (auch zu personalisieren) und in Abgrenzung dazu einen Bereich christlicher Gemeinschaft abzuzirkeln, dessen Einheit zu fordern und darin herrschende Missstände zu kritisieren. Ungeachtet grundsätzlicher Gemeinsamkeiten der Stücke, ist die je unterschiedliche, nicht zuletzt auch gattungsbedingte, Einbindung der Türkenfigur zu beachten: So arbeiten die anti-türkischen Stereotypen im Rosenplütschen Fastnachtspiel dem Moment der Verkehrung entgegen, da sie letztlich eher linear auf die Ordnung des Alltäglichen verweisen und gängige Bewertungen der Türken aufrufen. Das Stück übersetzt mit den Türken verbundene Furcht, Ablehnung und Abscheu in die Fastnachtsrhetorik und überbietet damit sogar z. T. die gängige anti-islamische Polemik. Dagegen ermöglichen im Drama Ayrers die gängigen Typisierungen der Türken komische Verkehrungen (etwa wenn die vorgeführten ‘Sittenwidrigkeiten’ zum Vorbild erhoben werden). Vermittels dieser wird der bürgerlich-christliche Sittenkodex zurechtgerückt. Insbesondere die je spezifische Inszenierung des Raumes zeigt, dass die Spiele zwar mit einem binären Oppositionsmodell arbeiten, dessen Konstituenten aber je unterschiedlich anordnen. Ein zentrales Merkmal des mittelalterlichen/frühneuzeitlichen ‘Türkenschauspiels’ besteht in seiner ideologischen Konstruktion eines Außerhalb, das zugleich potentieller Zufluchtsort sein kann im Falle der inneren Entfremdung. Im Rosenplütschen Spiel bleibt dieser ‘Fluchtpunkt’ imaginiertes Konstrukt, während Sachs ihn in seiner ›Genura‹ zum Ort der Handlung macht. In beiden Stücken steht die Türkenfigur für einen festen Pol, dessen Auftauchen auf eine innere Unordnung des Christentums verweist. Dabei bleibt eine türkische Identität unhinterfragt, sie wird vielmehr als stabil gegenüber der eigenen fragilen Identität vorgeführt. Anders verfährt Ayrer mit seiner Überblendung der Räume: Er zeigt die Brüchigkeit einer Gesellschaft anhand der Fokussierung allein des türkischen Raumes, innerhalb dessen aber christlich-bürgerliche Werte durchdekliniert werden (dies ist völlig unabhängig davon, ob solche auch für das reale Osmanische Reich anzunehmen sind). Die diskutierten Schauspiele setzen also bezüglich der Funktionalisierung der Türkenfigur durchaus je eigene Akzente, und es erscheint lohnend, diese mit Charakteristika anderer Türkenschauspiele zu vergleichen und vertiefend zu untersuchen, welche Rolle die spezifische Medialität des Theaters in den verschiedenen Inszenierungen der Osmanen spielt. Von Interesse wäre dann auch, was hier nur andeutungs-

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weise nachvollzogen werden konnte, nämlich die Frage, wie sich die plurale Medialität der ‘Türkenliteratur’ in das Medium Theater einschreibt und welche Bedeutung den »dispositiven Strukturen« anderer »Medien als ‘Form’«92 hier beigemessen werden muss.

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Jörg Dünne u. Kirsten Kramer, Einleitung. Theatralität und Räumlichkeit, in: Dünne, Friedrich u. Kramer, Theatralität und Räumlichkeit [Anm. 6], S. 15–32, hier S. 17. Die Autoren nehmen Bezug auf die an Luhmann anschließenden Ausführungen Joachim Paechs zum Intermedialitätsbegriff (vgl. Joachim Paech, Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen, in: Jörg Helbig [Hg.], Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, S. 14–30).

Sebastian Coxon

Weltliches Spiel und Lachen Überlegungen zur Literarizität, Theatralität und Performativität des Nürnberger Fastnachtspiels im 15. Jahrhundert

Fragt man nach dem historischen Stellenwert von Lachen, lässt man sich auf ein schwieriges Spiel mit anthropologischen Universalien und soziokulturellen Variablen ein. Dass man dies immer wieder versucht hat, hängt von der Überzeugung ab, dass sich dadurch Einsichten in soziale Prozesse und kollektive Einstellungen, in kulturelle Praktiken und Handlungsmöglichkeiten, in Mentalitäten und Wissensordnungen vergangener Gesellschaften gewinnen lassen. Als Kronzeuge spätmittelalterlicher Lachkulturen, gleichzeitig aber auch als Paradebeispiel für grundlegende methodologische Probleme bei der vormodernen Quellenbasis, kann die volkssprachige Literatur gelten, wie sich gerade in der germanistischen Mediävistik der letzten zwei oder drei Jahrzehnte herauskristallisiert hat. Denn literarische Traditionen im Mittelalter, die als Hauptziel Rezipientengelächter oder die Herausbildung von Lachgemeinschaften hatten,1 sind ebenso wenig von der Hand zu weisen wie die ärgerliche Tatsache, dass dies oft nur, wenn überhaupt, im literarischen Text selbst belegt wird. Greift man jedoch auf textinternes Lachen zurück, das zuweilen auf höchst reflektierte Weise dargestellt wird, bleibt nach wie vor der Vorbehalt bestehen, dass solche Inszenierungen zumindest teilweise vom unmittelbaren literarischen Kontext gesteuert werden.2 Um das Ineinandergreifen literarischer Komik, Rezeption und spätmittelalterlicher Lachkultur etwas präziser zu erfassen, wird in der Forschung zunehmend auf die Begriffe ‘Performanz’ und ‘Performativität’ rekurriert.3 Aus dieser theoretischen Ecke sozusagen wird einerseits die komische Funktionalität volkssprachiger Texte vor allem im Zusammenhang ihres mündlichen Vortrags verstanden, obwohl streng genommen auch privates Lesen als performativer Akt minderen Grades einzustufen ist. Andererseits wird die vom modernen Rezipienten vielleicht kaum noch vermutete Leistungsfähigkeit literarischer Inszenierungen im Mittelalter herausgestellt, die zum Beispiel diejenigen Emotionen im Rezipientenkreis zu bewirken vermögen, wovon sie handeln.4 Lässt sich auf diese Weise aber Erzählliteratur für die Erforschung 1

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Vgl. Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten (Hgg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2005 (TMP 4). Ferner zu dieser Problematik vgl. Sebastian Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales 1350–1525, London 2008, S. 7–11, 58–82. Programmatisch dazu: Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke, Hans Rudolf Velten u. Frank Wittchow, Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit, Paragrana 10 (2001), S. 157–190. Vgl. auch Hans Rudolf Velten, Performativität. Ältere deutsche Literatur, in: Claudia Ben-

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spätmittelalterlicher Lachkultur ertragreich machen, dann scheint es durchaus angebracht, auch mittelalterliche Dramentexte unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, die, an Aufführungsformen unterschiedlicher Theatralität und Ritualität gebunden, mit einem wohl wesentlich größeren Ausmaß an Performativität in Beziehung zu setzen sind.5 Was das weltliche Spiel betrifft, stellen die Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts eine unverwechselbare Erscheinungsform spätmittelalterlichen Theaters dar, die aufgrund ihrer drastischen Komik bzw. ihrer unverblümten Scherz- und Spottreden für unser Verständnis (süddeutscher) städtischer Lachkultur unentbehrlich ist. So lässt sich etwa der Überschrift der ›Zwölf buhlerischen Bauern‹ (K 43) entnehmen – Gar ain vast spotisch pauren spill gar // kurczweyllig zuo lesen sagt yetlicher was // jm o auff der pulschafft gegent ist –,6 wie fastnächtliche Unterhaltung von einer Reihe narrenhafter, sich der allgemeinen Verspottung ausliefernder Selbstdarstellungen versprochen wird.7 Sowohl die festlichen Umstände, unter denen diese Spiele aufgeführt wurden, als auch der textinterne Akzent in den Einschreier- und Ausschreierreden auf Heiterkeit und geselliges Beisammensein haben dazu geführt, dass literatur- und kulturwissenschaftliche Interpretationen dieser Stücke lautstarkes Rezipientengelächter voraussetzen oder in ihre jeweilige Argumentation ausdrücklich einbauen. Abgesehen von einigen wenigen Spielen aus dem Umkreis des Hans Folz, in denen vor allem Judenfiguren derb-aggressiv ausgelacht, wenn nicht gar zugrunde gelacht werden sollen,8 hat daher eben das Fastnächtliche an dem Fastnachtspiel die Aufmerksamkeit der neueren Forschung auf sich gezogen. Kritisch beleuchtet werden also diejenigen Strategien, die gleichsam nach einer »Poetik der Widerläufigkeit«9 das Prinzip der Ver-

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thien u. Hans Rudolf Velten (Hgg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002, S. 217–242, hier S. 228. Vgl. zuletzt Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin 2007 (TMP 11). Text nach: Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Hellmut Thomke, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek deutscher Klassiker 136. Bibliothek der frühen Neuzeit 2), S. 45–53, hier S. 45. Falls nicht anders notiert, werden Fastnachtspiele nach der Kellerschen Ausgabe zitiert: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46). Vgl. die Überschrift eines weiteren Folzschen Spiels (›Bauernhochzeit‹ [K 7]): Gar ain vast spotische pauren hey¨rat gar // kurczwey¨lig zuo lesen jn der vasnacht // zuo prauchen; Text zitiert nach: Thomke [Anm. 6], S. 33–41, hier S. 33. Vgl. Matthias Schönleber, der juden schant wart offenbar. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtspielen von Hans Folz, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 163–182 (S. 173–181). Bruno Quast, Zwischenwelten. Poetologische Überlegungen zu den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, in: Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger [unter Mitarbeit von Alexandra Stein] (Hgg.), Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 1997, S. 205–219, hier S. 209. Vgl. auch Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky, Itlicher zeit tut man ir recht. Zu Recht und Funktion der Fastnacht aus der Sicht Nürnberger Spiele des 15. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung.

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kehrung in Spielwort und Spielhandlung umsetzen, um ein identifikatorisches gruppenstiftendes Gelächter auszulösen. Dabei scheint die körperbezogene Thematik vieler dieser Nürnberger Spiele, die immer wieder einer (kurzfristigen) »Positivierung des Gemeinen und Niedrigen« die Bahn freimachen,10 anspruchsvollere Karnevalisierungen keineswegs zu verbieten, wie etwa die theatralische Verwischung der Grenzen zwischen Spiel- und Alltagswelt.11 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit Fastnachtspielgelächter in den Spielen selbst zur Kenntnis genommen bzw. sprachlich evoziert und beschrieben wird. Am ausführlichsten hat sich bisher Jean-Marc Pastre´ damit beschäftigt, der mit körperlichem Wohlbefinden sowie heiterer sozialer Interaktion konnotiertes (vertextetes) lachen als Indiz dafür auffasst, dass diese Spiele in einer festlichen Stimmung wohlwollenden gegenseitigen Verlachens aufgeführt wurden – von Freunden vor Freunden sozusagen.12 Ergänzungsbedürftig scheint mir aber dieser Ansatz in zweierlei Hinsicht. Erstens: Es ist mit aller methodologischen Konsequenz in Erwägung zu ziehen, dass wir es hier mit der literarischen Inszenierung von Lachen, Gelächter und Spott in Spieltexten zu tun haben, die in einem Spannungsverhältnis zu ihrer historisch verbürgten Existenz als zu Fastnacht aufgeführten Einkehrspielen stehen.13 D. h. auch wenn man zum Teil über vorsichtige Vermutungen nicht hinaus kommen wird, soll der methodische Zugang für die einschlägigen Textstellen insofern differenziert werden, dass

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Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 207–218. Vgl. Werner Röcke, Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur, in: ders. u. Marina Münkler (Hgg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München/Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 420–445, hier S. 423. James R. Erb, Fictions, Realities and the Fifteenth-Century Nuremberg Fastnachtspiel, in: Konrad Eisenbichler u. Wim Hüsken (Hgg.), Carnival and the Carnivalesque. The Fool, the Reformer, the Wildman, and Others in Early Modern Theatre, Amsterdam/Atlanta 1999 (Ludus 4), S. 89–116. Jean-Marc Pastre´, Le rire dans les jeux de Carnaval allemands, in: The´re`se Bouche´ u. He´le`ne Charpentier (Hgg.), Le rire au moyen aˆge dans la litterature et dans les arts. Actes du colloque international des 17, 18 et 19 novembre 1988, Bordeaux 1990, S. 237–246; ders., Rire de soi, faire rire de soi et faire rire des autres dans les Jeux allemands de Carnaval au XVe sie`cle, in: Adrian P. Tudor u. Alan Hindley (Hgg.), Grant rise´e? The Medieval Comic Presence. La Pre´sence comique me´die´vale. Essays in Memory of Brian J. Levy, Turnhout 2006 (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 11), S. 265–277. Hinweise auf einzelne Belege finden sich aber schon in: Karl R. Kremer, Das Lachen in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters, unveröffentlichte Doktorarbeit, Bonn 1961, passim. Zur Aufführung der Nürnberger Fastnachtspiele vgl. Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), S. 291–348; zum Status ihrer schriftlichen Überlieferung siehe: Thomas Habel, Zum Motiv- und Stoff-Bestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels. Forschungsgeschichte, methodische und gattungsspezifische Aspekte, in: Theodor Wolpers (Hg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-Hist. Klasse. Dritte Folge, Bd. 249), S. 121–161, hier vor allem S. 146.

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nicht nur deren Literarizität (I), sondern auch deren potentielle Theatralität (II) und Performativität (III) deutlicher herausgestellt werden. Zweitens: Pastre´s Vorstellung eines einheitlichen Fastnachtspielgelächters ist zu problematisieren, indem etwas strenger zwischen Spielern und Zuschauern, zwischen ihren jeweiligen Rollen und Interessen unterschieden wird.14 Die in der Forschung zum geistlichen Spiel viel beschworene »Kontingenz der jeweiligen (Aufführungs-)Wirklichkeit«15 darf nicht ohne weiteres aus unseren Überlegungen ausgeschlossen werden, denn auch Nürnberger Einkehrspiele waren – im Prinzip zumindest – den Gefahren einer unsicheren Rezeption ausgesetzt. Es soll also ferner ermittelt werden, ob nicht auch die Unkontrollierbarkeit des Zuschauergelächters anlässlich eines Fastnachtspiels in den Spieltexten thematisiert wird. I. Literarisches lachen Die Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts erheben unterschiedliche literarische Ansprüche; sie setzen unterschiedliche Grade »syntagmatischer Aufmerksamkeitsaktivität« bei ihren Rezipienten voraus.16 Im Folgenden gilt es also nicht nur nachzuprüfen, was ‘Lachen’ an Konnotationen in diesen Spieltexten auszulösen vermag, sondern auch wie diese literarisch funktionalisiert werden. Auf lexikalischer Ebene lässt sich mhd. lachen zunächst in einer Reihe von relativ schlichten rhetorischen Formulierungen belegen, die mit Synonymen und Antonymen, Überbietung und Gegensätzlichkeit, vor allem im Bezug auf den Gegenpol des Weinens operieren. Abgesehen davon, dass die Prägnanz solcher zugespitzten Formulierungen traditionsbildend gewirkt haben mag, deutet sie auch auf den Status solcher Verse als witzige bzw. komisch-dumme Rede hin. In der ›Harndiagnose‹ (K 85) schließt also der Hausknecht seinen Bericht über die peinliche Lage der Hausmagd, die sich von ihm hat verführen lassen, mit der lapidaren Bemerkung ab: Nu waint sie, des sie selber oft hat gelachtt (V. 90).17 In der ›Büßerrevue‹ (K 92) werden dieselben Begriffe unter mehreren analogen Gegensätzen gekoppelt, wenn sich einer der narrenhaften Büßer zur bewussten Störung eines normgerechten Gleichgewichts zwischen Gemüt und Körper bekennt: Wenn das ich schlofen solt, so wacht ich, / Wenn ich wainen solt, so lacht ich (S. 725,15–16).18 In ›Des Türken Fastnachtspiel‹ (K 39) schließlich, als der redege14 15

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Vgl. auch Simon [Anm. 13], S. 322. Gerhard Wolf, Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung. Bedingungen und Funktion der ‘performance’ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), ‘Aufführung’ und ‘Schrift’ in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 381–405, hier S. 383. Hans Ulrich Gumbrecht, Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit, in: FS Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992, Bd. II, S. 827–848, hier S. 844. Text zitiert nach: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), Nr. 2, S. 8–12. Vgl. auch (K 116) ›Die Narren‹ S. 1009,27–28. Gleichzeitiges Weinen und Lachen wird

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wandte Ratgeber des türkischen Kaisers sich über den römischen Kaiser lustig macht, bedient er sich einer immer länger werdenden Reihe solcher Vergleiche, die den Handlungszusammenhang der Rede zu zerstören droht.19 Auf nicht untypische Weise scheint damit die Lust an überzogener Wortkomik und Spottrede die Oberhand zu gewinnen, was dieses Spiel wieder in die Nähe der Rosenplütschen Reihenspiele rücken lässt. Allein schon aus diesen wenigen Beispielen geht hervor, wie eng Lachen mit Körperlichkeit assoziiert wird: sei es in der Verbindung mit der ungehemmt anmutenden Lachform des kitterns;20 sei es in der Gleichsetzung von lachen und Freude,21 bzw. sinnlichem und sexuellem Vergnügen. Überhaupt spielt Lachen eine nicht unbeträchtliche Rolle in der Darstellung von Frauen und erotischen bzw. derb-sexuellen Begegnungen mit Frauen, wie mehrere Reden aus den ›Zwölf buhlerischen Bauern‹ (K 43) verdeutlichen, und zwar unabhängig davon, ob mit dem Erfolg geprahlt oder von schändlichem Misserfolg berichtet wird.22 Allerdings kann mhd. lachen gerade im Bezug auf Frauen und als topischer Bestandteil von Beschreibungen des außerordentlichen schönen Gesichts Lächeln bezeichnen. Diesen Topos, der wohl seit der höfischen Literatur des hohen Mittelalters zum literarischen Allgemeingut gehörte, belegt etwa das sechste Frauenlob im ›Wettstreit im Frauenlob‹ (K 33), in dem mundlein, zenlein weiß und grublein das als zu einer visuellen Erscheinung gehörige lachen in der primären Bedeutung eines nicht-akustischen Lächelns bestätigen.23 Wie man es vielleicht erwarten würde, fehlt es auch nicht an eher zynischen Auslegungen solches Lächelns (an-lachen; an-schmutzen), die dessen erotische Kraft, Lüsternheit und Manipulierbarkeit betonen.24 Zur parodistischen Wendung dieses Motivs im Nürnberger

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andernorts als zynischer Gemeinplatz der Frauenfeindlichkeit anzitiert: Sie wayn mit augen und mit mund / Und lachen in ires hertzen grund ([K 60] ›Von König Salomon und Markolf‹ V. 215–216; Text zitiert nach: Wuttke [Anm. 17], Nr. 9, S. 57–81). Sag deinem keiser dem öbersten haubt, / Im sei recht und unrecht erlaubt; / Wöll er haglen, so wöll wir schauren; / Will er denn wainen, so well wir trauren, / Will er dann saurn, so well wir pittern, / Will er dann lachen, so well wir kittern (S. 298,4–9). Vgl. (K 42) ›Das Chorgericht I‹ S. 328,13; siehe auch Kremer [Anm. 12], S. 42–43. Zum Lachen als Ausdruck einer eher geistigen (höfischen?) Freude, vgl. (K 33) ›Wettstreit im Frauenlob‹ S. 266,15; (K 40) ›Das Hofgericht vom Ehebruch‹ V. 73–77 (Text zitiert nach: Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, hg. v. Klaus Ridder u. Hans-Hugo Steinhoff, Paderborn 1998 [Schöninghs Mediävistische Editionen 4], Nr. 3, S. 49–57). So hept sy¨ ain lachen vnd kütren an / Vnd weyst mich seyberlich hindan (V. 145–146); Vnd jn mein aller grösten nötten / Stundt die verhey¨t huor vnd kuttert stet / Als der sy¨ mit willen gekuczelt hett (V. 48–50). Die ein liplichs antlitz hat, / Ir mundlein stets zu lachen stat, / Darauß ir zenlein weiß her glitzen / Und grublein auf iren wangen sitzen / Und ir ir kin ist wol gespalten (S. 265,22–26). Vgl. auch (K 97) ›Die Witwe und ihre Tochter‹ S. 749,7–8; (K 100) ›Das Fest des Königs von England‹ V. 95–99 (Text zitiert nach: Thomke [Anm. 6], S. 13–19). (K 11) ›Frauenpreis‹: Und wem mein lachen wirt zu tail, / Der maint, er hab geluck und hail (S. 103,27–28); vgl. auch (K 13) ›Buhlerrevue‹ S. 118,23–24; (K 16) ›Wettstreit in der Liebe‹ S. 133,16–18; (K 18) ›Der elfte Finger‹ S. 156,34; (K 26) ›Das Narrenseil‹ S. 233,1–2; (K 32) ›Liebesnarren vor Venus‹ V. 76–78 (Text zitiert nach: Wuttke [Anm. 17], Nr. 10, S. 82–90); (K 37) ›Domherr und Kupplerin‹ S. 277,21; (K 68) ›Des Entchrist Vasnacht‹

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Fastnachtspiel gehört ihre verzerrende Nachahmung im bäuerlichen Milieu. In Folzens ›Die Bauernhochzeit‹ (K 7) weiß also auch die künftige Braut, wie sie ihre eigene Schönheit preisen soll: Vnd so ich ainen an will schmuczen, So laß ich fein mein meulin wandren Von ainem oren piß zuo dem andren Vnd scheint mir jnwendig so liecht, Als der jn ain ruo ssigs arsloch sicht (V. 150–154).

In seiner unausweichlichen Körperlichkeit fungiert natürlich auch (lautes) Lachen, analog zu farzen und scheißen, als aufschlussreicher Bezugspunkt bei der literarischen Inszenierung von Figuren, Situationen und Handlungen, die dem Fastnachtspiel von Anfang an zukommen. Es lässt sich etwa die Quacksalberei eines mörderisch schlechten Arztes kaum besser zusammenfassen, allerdings in der Form einer ironischen Lobrede, als dass dieser in der Lage sei, gesunden Menschen das Lachen zu vertreiben.25 Ähnliches lässt sich wieder bei der Figurengestaltung von Bauern auffinden. In ›Vom Werben um die Jungfrau‹ (K 70) erhofft sich ein verliebter Bauer heiteres, bejahendes Lachen von der umworbenen Jungfrau, als er sein, nach eigenen Begriffen, glänzendes Angebot an bäuerlichen Speisen macht: Ich gib euch darzu milch und schotten / Und air und kes, des möcht ir gelachen (S. 614,16–17). Schemagemäss wird er aber schroff abgewiesen: du pist rußig und schwarz; / Umb dich so geb ich nit ain farz (S. 614,24–25); nicht Lachen als Zeichen der Zuneigung handelt er sich also ein, sondern Spott. Bauerngelächter selbst kommt in Folzens ›Bauernhochzeit‹ (K 7) zur Darstellung, und zwar als sich der Brautvater daran erinnert, wie seine Tochter die Hühner auf seinem Hof ungewollt aufgeschreckt hat.26 Ausschlaggebend hier ist nicht nur der skatologische Kontext – beim Kehren des Hofes entfährt der Tochter ein ungeheurer schiß (V. 103) – sondern auch die komisch-hyperbolische, geradezu physiologische Beschreibung seines dadurch entstandenen Gelächters: Jch hab mir jr doch wol gelacht, / Das mirß hercz in der plasen kracht (V. 109–110). In beiderlei Hinsicht wird also die Gegenwelt der Bauern in ihrer übertriebenen Körperlichkeit bestätigt. Dieses heraufbeschworene Bauerngelächter ist typisch für diese Spiele, insofern als es auf Kosten einer anderen Figur entsteht. Auffällig häufig werden in diesen Spiel-

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S. 594,27 (Frau[?] Welt); (K 112) ›Ein Bauerngericht‹ S. 960,7. Als Belege für das Lächeln bzw. Gelächter von Männern im sexuellen Kontext, vgl. (K 17) ›Das Aristotelesspiel‹, S. 142,23; (K 61) ›Zeugenaussagen in einem Fall von Untreue‹ S. 543,11–12, 544,8–9; (K 102) ›Die verklagten Ehemänner‹ S. 769,25–27. (K 6) ›Der Quacksalber mit den zwei Knechten‹: Er kan die gesehenten plint machen / Und den gesunten vertreiben das lachen (S. 59,8–9); Den kan er mit gesunt machen, / Das er nit vil mer mag lachen (S. 60,31–32). Schemagerecht kann eine Konstatierung fehlenden Lachens auch auf Schmerzen hinweisen, vgl. (K 20) ›Der Herzog von Burgund‹ (V. 530–533; Text zitiert nach: Ridder u. Steinhoff [Anm. 21], Nr. 7, S. 85–108). Ja, wan sy¨ mir den hoff y¨e kert, / So tätt sy¨ freilich offt ain schiß, / Als der ain ochssen hawt zuo riß, / Vnd macht ain gstober vnderen hennen / Das sy¨ zuo hinterst flugen an tennen / Vnd ainen schrecken auff sich numen / Als weren sechs aren vndter sy¨ kumen (V. 102–108).

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texten Szenarien mehr oder minder ehrabträglichen Verlachens evoziert und durch die Formel spotten und lachen konkretisiert. In sogenannten Gerichtsspielen etwa wird mehrmals auf kollektives Gelächter als gemeinschaftliches Strafritual angespielt, wie in (K 88) ›Ein Ehebrecher vor Gericht‹: Einer der einem sein eeweib versert, / Den sol man zu einem esell machen, / Das sein dy lewt spotten vnd lachen (V. 87–89).27 Bis hin zu den verschiedensten komisch gebrochenen Ehrenstrafen wird also (spielerisch) gedroht,28 wobei das Begriffspaar spotten und lachen wohl auf die Gesamtheit dieses Strafverfahrens verweist, da diese komplementären Begriffe sich jeweils auf Sprachliches (spotten) und Körperlich-akustisches (lachen) beziehen.29 Der Unterhaltungswert solcher Szenarien liegt anscheinend in der Annahme, dass derjenige, der verspottet oder verlacht werden soll, dieses auch verdient hat; d. h. einem solchen bestrafenden Gelächter lässt sich ganz bestimmt nicht Aggressivität absprechen, aber im Grunde genommen bezeichnet es die Wiederherstellung von Ordnung, bzw. die Aufrechterhaltung konventioneller sozialer Normen, und ist daher nicht mit der sprichwörtlichen Schadenfreude des Teufels zu verwechseln: Wer veintschafft zwischen eelewten macht, / Desselben der tewffel in sein fawst lacht ([K 19] ›Eheliche Verdächtigungen‹ V. 49–50).30 Die literarische Thematisierung des Verlachens erreicht einen Höhepunkt im ›Aristotelesspiel‹ (K 17), wo die drei Phasen der Rachehandlung – hier ist es die Frau eines gewissen Königs Soldan, die sich auf bekannte Weise an dem weisen Meister rächen will – durch Hinweise auf Spott und Gelächter markiert werden: als die Königin dem König ihr Vorhaben entdeckt: Und wil in bringen hie zu spot, / Wie vil er weisheit in im hot (S. 148,26–27);31 als der König selber dem Artistoteles ihren Erfolg bestätigen kann: Ein weip macht euch zu einem torn, / Hat zu eim esel euch gemacht, / Das man eur pillich spot und lacht (S. 150,21– 23); und schließlich, in einer Art Nachspiel, als der Hofnarr einer Närrin versichert, er sei zu vernünftig, um denselben Fehler zu machen: Ein weip hat in [Aristoteles] zu gespot gemacht; / Darumb man sein oft spot und lacht (S. 152,24–25). Als zukünftiges, gegenwärtiges und vergangenes Geschehen innerhalb der Spielwelt erhält die kollektive Verspottung des Aristoteles also eine eindeutig zentrale strukturelle Bedeutung. Herr meister Aristotiles (S. 142,6), der sich als spöttisch überlegener Einzelner aus der Gesellschaft scheinbar zurückziehen will, wird selber durch Spott und Gelächter in die Hofwelt wieder aufgenommen.32 27

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Text zitiert nach: Ridder u. Steinhoff, [Anm. 21], Nr. 4, S. 59–63. Vgl. auch (K 87) ›Frauenverleumder vor Gericht‹ S. 706,19–21; (K 102) ›Die verklagten Ehemänner‹ S. 770,4–6. Vgl. (K 18) ›Der elfte Finger‹: Welcher mer tut ein solchen schaden, / Den sol mann auß einer misthul paden, / Das ander zehen sich daran stoßen / Und furpas eim sein pulen laßen (S. 157,24–27). Zur expliziten Bezeichnung von Spott als sprachlichem Phänomen, vgl. (K 11) ›Frauenpreis‹: Sol ich mich denn nicht ziren schon, / Am tanz muß ich do hinden stan, / So werden sprechen dan die leut: ‘Nu sehet, wie steht die Mußgeut!’ / Den spot den muß ich do aufnemen, / Des sich dann mein man müst schemen (S. 107,21–26). Text zitiert nach: Ridder u. Steinhoff [Anm. 21], Nr. 5, S. 65–74. Vgl. auch (K 38) ›Frau Venus Urteil‹ S. 286,5–6; (K 55) ›Der törichte Tausch‹ S. 480,29. Vgl. die besorgte Antwort des Königs: Du magst dich selbs zu gespot wol bringen (S. 148,32; siehe auch S. 149,3). Dies wird vor allem durch die versöhnlichen Worte König Soldans bestätigt: Kein man auf

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Rede und Handlung werden anders aufeinander abgestimmt, wenn Figuren auftreten und vorgeben, selber schon verlacht und/oder verspottet gewesen zu sein. Des lachet do der pule mein (S. 126,21) gibt etwa der zehnte Narr im ›Moriskentanz‹ (K 14) stolz an, als er erklärt, wie er – eulenspiegelartig – einen Narrenwettkampf gewonnen habe;33 und in den ›Geharnischten‹ (K 99) erzählt der zweite aus sechzehn Sprechern von einem eher unglücklichen Zwischenfall, der über unfreundliche Worte und den Austausch beleidigender Gesten – lachen und schmutzen erscheinen dabei als Provokationen, auf die der Sprecher mit einer obszönen Gebärde repliziert – zu einem handfesten Konflikt auszuarten droht.34 Solche Sprecher fungieren als Ich-Erzähler, die eine Erzählung im Kleinen zum Besten geben;35 und der narrative Raum, der sich dadurch eröffnet, besteht aus komischen Handlungssequenzen, die ihrerseits eine weitere Reflexionsstufe zu Themen wie Körper und Lust, Ehre und Spott, Narrheit und Lachen zur Verfügung stellen. Auf diese Weise entlarven sich Figuren, die kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn sie von selber begangenen Torheiten oder erlittener Schmach reden, als echte Fastnachtsnarren, als Verkörperungen einer verkehrten Welt, in der Ehrlosigkeit gefeiert wird und ehrabträgliches Lachen zur geselligen Unterhaltung festlich verwandelt sein kann.36 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass solche Reden dem ideologischen Programm der Fastnacht zunächst ‘nur’ literarischen Ausdruck verleihen. Die erfolgreiche Verwirklichung eines solchen Programms während eines Fastnachtspiels hing nicht zuletzt auch von mehreren außertextlichen und aufführungsbedingten Faktoren ab.

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erd so wild nie kam, / Er ward von zarten frauen zam; / [. . .] / Wem do sin ror nit auf tet stan, / Ich sprich, er wer kein rechter man (S. 151,16–21). Vgl. ›Ulenspiegel‹ H24: wie Ulenspiegel des Künigs von Poln Schalcknarren mitt grober Schalckheit uberwand (Text zitiert nach: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, hg. v. Wolfgang Lindow, Stuttgart 1966 [RUB 1687], S. 71). Nun ains nachts was ich auf der gassen umb geloffen, / Da kom ich in ainn haimlichen winkel geschloffen / Und wolt da zechen in ain volß vaß; / Da sah ich, das ain pfaff pei ir sas; / Da wolt ich da in ir naig nit zechen. / Da ward sie mir so hoch drüm zu sprechen, / Das ich gieng ungesegent auß. / Da sahen sie paide oben rauß. / Der pfaff ward lachen, da ward sie schmutzen, / Da lies ich sie unten in meinn spiegel gutzen, / Da sprachens, sie woltens den leuten sagen, / Die müsten mich pis vasnacht inn seutümpfel tragen (S. 754,22–755,7). Vgl. auch ›Ulenspiegel‹ H66. Vgl. Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea NF 8), S. 158–162. Zum narrenhaften Ich-Erzählen im Spätmittelalter, vgl. zuletzt Sebastian Coxon, Gelächter und Gesundheit. Humanistische Thematik im ›Quacksalber‹ des Hans Folz?, in: Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer u. Stefanie Schmitt (Hgg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, Tübingen 2008, S. 386–339.

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II. Theatralisches lachen Theatralisch sind diese Fastnachtspiele, um die von Erika Fischer-Lichte identifizierten minimalen Voraussetzungen anzuzitieren, da sie Handlungen bzw. Redehandlungen darbieten, in denen mehrere Personen andere Figurentypen verkörpern, während ein Publikum zuschaut.37 Vor diesem Hintergrund werden also diejenigen Textstellen zu profilieren sein, an denen die Rede von Lachen – also Lachen als linguistisches Zeichen – die körperlich-akustische Aufführung von Lachen – Lachen als paralinguistisches Zeichen – vorauszusetzen oder zu implizieren scheint.38 Greifbare Ergebnisse versprechen vor allem Regie- oder Spielanweisungen, die sich auf Figurengelächter beziehen.39 Umso bedauerlicher ist es, dass solcher Nebentext beim überwiegenden Mehrteil dieser Nürnberger Spiele nur spärlich und formelhaft verkürzt überliefert wird. Ob das Fehlen dieser Textebene dem Literarisierungsprozess zum Opfer gefallen ist, sei dahingestellt. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass bei Aufführungen von Fastnachtspielen das Gelächter der Sprecher so selbstverständlich war, etwa am Anfang und/oder am Schluss jeder Rede, dass es im Regelfall keiner expliziten Erwähnung bedurfte. Eine einzige Ausnahme befindet sich allerdings gegen Ende des ›König Salomon und Markolf‹ (K 60) von Hans Folz. Als Markolf der Wunsch gestattet wird, er dürfe selber den Baum auswählen, an dem er aufgeknüpft werden soll, treten vier Bauern auf, um das Geschehen zu kommentieren (V. 351–403).40 Wie die jeweiligen Regieanweisungen festlegen, sollen die grundverschiedenen Perspektiven dieser Sprecher durch Stimme und Gebaren unmittelbar vor Augen geführt werden: Ein paur greynt den reymen (V. 350a); Der ander paur und lacht den reymen (V. 356a); Der dritt paur singt das lyed von Markolffo (V. 364a); Der vierd paur flucht den reymen (V. 383a). Als »eine Parodie auf die Äußerungsformen der vier Temperamente« hat Dieter Wuttke das Versatzstück als Ganzes treffend beschrieben.41 Nach spätmittelalterlichem diätetischem und medizinischem Wissen wird also der zweite Bauer, der Sanguiniker, durch ein Lachen gekennzeichnet.42 Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, 37

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Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. I: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983, S. 7–20. Zur mittelalterlichen Theatralität im Allgemeinen vgl. Jan-Dirk Müller, Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel, in: Ziegeler [Anm. 9], S. 113–133; Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (MTU 125), S. 12–13. Zur Terminologie vgl. Fischer-Lichte [Anm. 37], S. 31–47; Hans-Werner Ludwig, ‘This Terrible Deformity of Laughter’. Vom Theater der Grausamkeit (Artaud) zum Theater der Katastrophe (Barker), in: Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig (Hgg.), Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, Tübingen 1996, S. 341–374, hier S. 342– 345. Wolf [Anm. 15]: »In den Regieanweisungen wird das Spiel als Spiel kenntlich gemacht« (S. 389). Wuttke [Anm. 17], S. 77–79. Zur strukturellen Bedeutung dieser Szene vgl. Catholy [Anm. 35], S. 108–114. Wuttke [Anm. 17], S. 77, Anm. zu V. 350a. Vgl. Heinz-Günter Schmitz, Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der

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wie die folgende (vertextete) Rede des zweiten Bauern dieses theatralische Lachen in seiner Tonart und Funktion als einen signalartigen Angriff auf den ersten Bauern konkretisiert – Secht, lieben freund, dem gotzen zu! / Er lut und heult sam ein ku (V. 357–358) –, ein Verlachen also, mit dem sich die Zuschauer offenbar zu identifizieren hatten. Falls dieses Spiel jemals in dieser Form aufgeführt wurde, deutet jedoch nicht nur die Spielanweisung darauf hin, dass in dieser Szene ein Spieler in der Rolle eines Bauern aufzulachen hatte. Der cholerische Bauer schimpft selber in seiner (direkten) Rede darüber:43 Hort, lieben freund, hie dises wunder! Wer sach und hort je wilder kunder? Der lacht, der grejnt, der dritt der hennt. Hat euch der teufel all auff gelennt (V. 384–387)?

Damit stoßen wir auf eine weitere Textstelle, die von großem methodologischem Interesse ist, da sie verdeutlicht, wie der Haupttext es bisweilen auch erlaubt, Auftreten und Gesten der Spieler – einschließlich deren Gelächter – wahrzunehmen.44 In der modernen Theaterwissenschaft bzw. der deutschen Anglistik sind diejenigen Verse (oder Zeilen) im Dramenhaupttext, in denen ausagiertes Lachen im Schauspiel sprachlich und mittels direkter Rede konstatiert oder kommentiert wird, als »implizite Spielanweisungen« oder »Spiegelstellen« bezeichnet worden.45 Zum Glück sind es also nicht nur die Dramen Becketts oder Shakespeares, die solche ‘Spiegelstellen’ aufweisen, sondern auch die Nürnberger Fastnachtspiele, allerdings in einem sehr viel bescheidenerem Maße. Neben ›König Salomon und Markolf‹ sei etwa auf die deftigen Schlussreden in ›Die drei Brüder und das Erbe‹ (K 8) verwiesen, als der älteste Bruder sich demonstrativ dazu entschließt, seine Brüder auszulachen: Es wer halt eur wol gut zu lachen (S. 87,28), und kurz darauf der jüngste Bruder sich beim König darüber beklagt: Hör, lieber herr, hör, wie uns der dankt / Mit lachen, spotten und honischen worten (S. 88,2–3). Schwieriger zu beurteilen sind dagegen jene Stellen, an denen etwa Angst vor bevorstehendem Spott und Gelächter bekundet wird, der befürchtete Spott sogleich einsetzt, aber ohne dass das dazu gehörende Gelächter sprachlich konstatiert wäre, wie zum Beispiel in der ›Krone‹ (K 80) oder dem ›Lu-

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Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken Reihe B, 2), S. 91–183. Vgl. auch die Hinweise auf das Lachen des zweiten Bauern in Versen 395 und 399. Vgl. den analogen Versuch, Signalwörter für Handgesten im geistlichen Spiel aufzudecken, bei: Anke Roeder, Die Gebärde im Drama des Mittelalters. Osterfeiern. Osterspiele, München 1974 (MTU 49), S. 179–181. Vgl. Manfred Pfister, ‘An Argument of Laughter’. Lachkultur und Theater im England der Frühen Neuzeit, in: Fietz, Fichte u. Ludwig [Anm. 38], S. 203–227; ders., Beckett, Barker, and other Grim Laughers, in: Manfred Pfister (Hg.), A History of English Laughter. Laughter from Beowulf to Beckett and Beyond, Amsterdam 2002 (IFAVL 57), S. 175–189. Allgemeine Hinweise auf sogenannte indirekte Bühnenanweisungen finden sich allerdings schon in der älteren Forschung; vgl. Siegfried Mauermann, Die Bühnenanweisungen im deutschen Drama bis 1700, Berlin 1911 (Palaestra 102), S. 2; Catholy [Anm. 35], S. 180.

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neten Mantel‹ (K 81).46 Eine zweite Gruppe von eher uneindeutigen Belegen stellen vereinzelte Äußerungen im Haupttext dar, in denen Sprecher ihre eigene und manchmal auch zwanghafte Lust zum Lachen artikulieren:47 Sag fort, sein ist vast gut zu lachen. (K 1 ›Die Disputation‹ S. 21,16) Nu hort zu, ich muß des lachen (K 11 ›Frauenpreis‹ S. 105,11) Was sol ich thun, dan das ich lach? (K 22 ›Kaiser und Abt‹ S. 208,7)

Im Gegensatz zu den impliziten Spielanweisungen des vierten Bauern in Folzens ›König Salomon und Markolf‹ blieben diese Aussagen sinnvoll, auch wenn man das jeweils in Aussicht gestellte Gelächter nicht akustisch-körperlich umsetzen würde. Dabei liegt es auf der Hand, wie leicht sie sich mit ausagiertem Auflachen verbinden lassen würden. Insofern stellen sie eher Lücken dar, die durch Spielergelächter theatralisch zu füllen wären. Es spricht auch die Stellung dieser Äußerungen am Anfang oder am Ende der jeweiligen Rede dafür, dass man sich einen solchen Lachgestus als akustisches Mittel gedacht hat, mit dessen Hilfe der Redefluss bzw. die Abfolge von Reden sinnvoll interpunktiert werden konnte.48 Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob vergangenes, d. h. vor allem im Spiel erzähltes Lachen auf diese Weise hätte realisiert werden können. Im Hinblick auf die äußerst derbe Bauernwelt in Folzens ›Bauernhochzeit‹, zum Beispiel, wäre es kaum verwunderlich, wenn ein Spieler das komisch überzogene Gelächter, über das der Brautvater selber berichtet (Jch hab mir jr doch wol gelacht / Das mirß hercz in der plasen kracht V. 109–110) durch einen ungehemmten Lachanfall in dem Hier und Nun der Aufführung präsent gemacht hätte.49 Falls solche für die Tradition der Nürnberger Einkehrspiele charakteristischen Figurenreden nicht nur einen Raum der narrativen Reflexivität eröffnen sollten, sondern, in welcher verkürzten Form auch immer, durch gleichzeitige Gesten und Grimassen der Mitspieler körperlich umgesetzt wurden,50 dann läge es nahe, auch relativ ausführlich erzähltes Gelächter, wie wir es – eulenspiegelartig – aus dem ›Moriskentanz‹ (K 14) und den ›Geharnischten‹ (K 99) kennen, als wichtige Momente potentieller Theatralität zu betrachten.

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Vgl. ›Krone‹ S. 656,23; S. 659,19–20; ›Luneten Mantel‹ S. 671,3–4; S. 673,29–30; S. 676,16. Als Gegenbeispiel sei auf ein thematisiertes Nichtlachen in ›Der Bauern Rügefastnacht‹ (K 69) verwiesen: Mainst, ich müg mir ains solchen lachen? (S. 610,5). Zur Interpunktionsfunktion von Lachen in der Alltagsrede, vgl. Robert R. Provine, Laughter. A Scientific Investigation, London 2000, S. 36–39. Auch dieser Hinweis auf das eigene Gelächter (V. 109–110) führt den Schluss der ganzen Rede (V. 93–111) herbei. Zum »mimischen Verkörperungsdrang« bei dieser Spieltradition vgl. Catholy [Anm. 35], S. 162.

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III. Performatives lachen Unter dem Begriff der Performativität soll schließlich auch auf die unbestimmte Größe des Zuschauergelächters eingegangen werden, nicht zuletzt weil der dramaturgische Allgemeinsatz, dass »je lauter auf der Bühne gelacht wird, die Heiterkeit im Publikum umso geringer wird«,51 nicht ohne weiteres auf vormoderne theatralische Aufführungen anzuwenden ist, bei denen Spieler und Zuschauer sich oft in unmittelbarer räumlicher und körperlicher Nähe befanden.52 Ein hohes Maß an Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten scheint insbesondere für die Nürnberger Einkehrspiele zu gelten. Alles andere als abwegig ist folglich die Vermutung, dass (literarische) Thematisierung und (theatralische) Inszenierung von Lachen im Spiel ein entsprechendes Zuschauergelächter hervorrufen konnten oder von diesem begleitet wurden.53 Nur: wir dürfen uns nicht vorstellen, dass dieser Prozess immer ohne Risiken oder Probleme ablief. Um einen solchen Erfolg bei der Aufführung eines Fastnachtspiels zu erzielen, mussten zuerst wohl gewisse Bedingungen erfüllt werden. Im Grunde genommen lässt sich das gespenstische Phänomen performativen Gelächters so verstehen, dass lachende bzw. von Lachen erzählende Spieler die Zuschauer dazu bewogen haben, mit sich und auf Kosten einer anderen Spielfigur oder über sich selbst zu lachen. Falls dieses oder jenes Zuschauergelächter in der festlichen Fastnachtstimmung aufgehoben werden und das heißt vor allem folgenlos bleiben sollte, musste also zwischen Spieler (und dessen realer sozialer Identität als ehrlichem Bürger) und Spielerrolle (etwa als ehrlosem Narren) streng unterschieden werden, so dass angesichts der komischen Selbstdarstellungen im Reihenspiel, wo ein Sprecher nach dem anderen sich der Lächerlichkeit preisgab, mit dem Spieler über die von ihm verkörperte Spielerrolle gelacht wurde. Mit Rücksicht auf die durchgängige Aufführungspraxis der Nürnberger Fastnachtspiele lässt sich dieses Prinzip in erster Linie bei Frauenreden wahrscheinlich machen, in denen körperliche Merkmale und Gesten – wie eben Lachen und Lächeln, die sich auf der Stelle realisieren ließen – thematisiert werden. Die Diskrepanz zwischen männlichem Spieler und Frauenrolle war in solchen Reden grundsätzlich gegeben, was sich vermutlich dazu anbot, theatralisch und fastnächtlich ausgekostet zu werden.54 In diesem Zusammenhang wird im Übrigen klar, dass nicht nur die derb-komische Selbstbeschreibung der Braut in Folzens ›Bauernhochzeit‹ Zuschauergelächter ausgelöst haben dürfte, sondern auch Aussagen über eher normgerechtes schönes Lächeln (siehe ›Wettstreit im Frauenlob‹ [K 33], ›Die Witwe und ihre Tochter‹ [K 97]), dessen komische Sprengkraft auf bloß literarischer Ebene kaum wahrzunehmen ist. 51

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Walter Haug, Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters, Wolfram-Studien 7 (1982), S. 8–31, hier S. 15. Vgl. Gumbrecht [Anm. 16], S. 835–840. Vgl. Pastre´, Le rire [Anm. 12]: »Il est ainsi tout naturel que le rire suscite´ par les Jeux soit de meˆme nature que le rire dont parlent d’expe´riences les personnages campe´s par les acteurs« (S. 242). Vgl. auch Catholy [Anm. 35], S. 237–238.

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Ein solches Übereinkommen zwischen Spielern und Zuschauern kommt einem Vertrag gleich,55 der abgeschlossen werden musste, wenn jenen die Aufführung ohne tatsächlichen Ehrverlust gelingen sollte. Vermutlich wurde dieser Vertrag nicht nur stillschweigend vorausgesetzt, sondern oft symbolisch, wenn nicht sogar sprachlich verhandelt, als die Spielertruppe eintrat, um Gesellschaft mit Wirt, Gästen und Hausgesinde aufzunehmen, und als sie sich von ihnen wieder verabschiedete.56 Gemeinschaftsstiftend wirken vor allem die normativen Einschreier- bzw. Ausschreierreden fast aller unserer Spieltexte, die durch Begrüßungs- und Abschiedsformeln, Entschuldigungen,57 festliche Motivik58 und Provokationen59 gekennzeichnet sind. Wohlgemerkt: Diese Äußerungen als rhetorische Gemeinplätze zu identifizieren, verringert keineswegs die Bedeutung ihrer performativen Funktionalität, denn was uns heutzutage als bloße Formelhaftigkeit erscheint, hat wohl in der Aufführungssituation für Verbindlichkeit gesorgt. Das Ideal der Freundschaft, das in so vielen dieser Reden zur Sprache kommt, dient etwa dazu, die narrenhafte Aufführung im Rahmen ansonsten durchaus ehrbarer sozialer Verhältnisse zu situieren: Wir suchen neur daheim die frumen / Und darzu unser allerpest freunt ([K 10] ›Ein Ehebruch-Prozeß‹ S. 97,11– 12).60 Nur Freunde werden es der Truppe nicht übelnehmen, wenn die ‘Schimpfe’ gelegentlich zu grob ausfallen;61 nur unter Freunden kann im Anschluss an ein Fastnachtspiel von der Bewahrung von Ehre gesprochen werden: Gut freund thu wir daheimen suchen, Das wir kurzweil mit in geruchen. Ir habt erzeigt uns gar vil eren; 55

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Man könnte ebenso gut von einer »Kollusion« sprechen; vgl. Christel Meier, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Werte im vormodernen Theater. Eine Einführung, in: Christel Meier, Heinz Meyer u. Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496: 4), S. 7–22, hier S. 9. Grundsätzlich dazu: Catholy [Anm. 35], S. 205–228; ders., Fastnachtspiel, Stuttgart 1966, S. 21–26; Pastre´, Le rire [Anm. 12], S. 242–243. Vgl. aber auch Erb [Anm. 11], passim. (K 14) ›Moriskentanz‹: Herr wirt, ir tugenthafter man, / Ir sult uns nicht verubel han, / Das wir herkumen ungeladen! (S. 121,4–6). (K 70) ›Vom Werben um die Jungfrau‹: Die genad des heiligen Frankenwein / Die schol mit uns allen sein, / So uns gar ser dürst, / Darzu prot und lang würst! (S. 613,4–7). (K 109) ›Bauernrevue‹: Hort, ir herren, es wil sich machen; / Mir wil das unter loch krachen. / Nu wolauf, darvon, was euer ist! / Ich muß palde hinauß auf den mist; / Das macht der prei und die ruben. / Gebt end, das ich nicht scheiß in die stuben! (S. 860,5–10). Vgl. auch (K 13) ›Buhlerrevue‹ S. 114,8–9; (K 16) ›Wettstreit in der Liebe‹ S. 136,26; (K 18) ›Der elfte Finger‹ S. 154,6; (K 26) ›Das Narrenseil‹ S. 233,24; (K 34) ›Prozeß zweier Buhler‹ S. 269,4; (K 69) ›Der Bauern Rügefastnacht‹ S. 612,21; (K 104) ›Die karge Bauernhochzeit‹ S. 782,10. (K 4) ›Das böse Weib‹: Hab wir unzucht bei euch getan, / Das sult ir uns haben vergut, / Wann man itzo gern nerrisch tut / Zu vasnacht mit mangerlei schimpf. / Herr wirt, habt uns fur kein ungelimpf / Unser grobhait und nerrisch parn! (S. 52,21–26); vgl. auch (K 29) ›Die Unersättlichen‹ S. 246,14–16; (K 41) ›Wann man heiraten soll‹ S. 319,16–21; (K 74) ›Liebhabervasnacht‹ S. 634,21–22.

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Gott woll euch eur gut und ere gemeren. (K 17 ›Das Aristotelesspiel‹ S. 153,19–22)

Gerade vor diesem Hintergrund lässt sich die Aussagekraft witziger Ausschreierreden besser nachvollziehen, die auf die Unehrlichkeit der Spieler (in ihren fiktionalen Rollen) anspielen, wie in (K 50) ›Handwerker‹, wo die Zuschauer vor den Diebsgriffen der Gäste gewarnt werden.62 Der diesen Fastnachtspielen zugrundeliegende Fiktionalitätskontrakt erlaubt es also den Teilnehmenden, von normgerechtem Verhalten abzuweichen, ohne dieses aber ernsthaft (und auf Dauer) in Frage zu stellen. Zum Schluss von ›Frau Venus Urteil‹ (K 38) wird etwa den Spielern fröhlich vor Augen gehalten, wie man sich auch andernorts über ihre Narrheit lustig machen wird: Libe folg, du wirst wunder hören, / Wie unser ieder man wirt lachen (S. 287,15–16). Wichtigster Ausdruck für das Einverständnis zwischen Spielern und Zuschauern stellt jedoch gemeinsames Gelächter dar. Der in der frühen Druck-Überlieferung überarbeitete Titel von Folzens ›Bauernhochzeit‹ spiegelt dies wider;63 und mehrere Ein- und Ausschreierreden weisen ausdrücklich darauf hin:64 Heut tut mangem weisheit zurinnen, Und der sich tut zu narren machen, Das man sein müg in schimpf lachen. (K 9 ›Lügenmärchen und Prahlreden‹ S. 92,15–17) Wenn alle, die heint zu euch gen, Die wollen mit euch schimpfen und lachen. (K 42 ›Das Chorgericht I‹ S. 329,8–9)

Offensichtlich soll dieses Gelächter wohlwollend und in der Erkenntnis gegründet sein, dass komische narrenhafte Selbstdarstellung außerhalb fastnächtlicher Festlichkeiten keine Gültigkeit mehr besitzt.65 Performativ wirkt diese Thematisierung im Spieltext sogar, wenn sie witzig und humorvoll ausgeführt wird. In der Eingangsrede 62

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Ir herren, ir habt uns wol vernomen, / Und heist uns neur nit wider kumen, / Wann man mocht leicht scherz mit uns treiben. / Wir werden uber nacht do beleiben. / Das ist das pest, ir laßt uns farn / Und tut euch mit erbern gesten bewarn; / Und hutt euch vor alten groschen all! / Und ob eur eim ein guldin enpfall, / Der heb in behendigklich wider auf, / Das wir nit alle platzen darauf. / Und ob iemant kem, der nach uns wurd fragen, / So sprecht, ir wißt nichts hubsch von uns zu sagen (S. 378,3–14). Vgl. auch (K 28) ›Bäuerliche Großsprecher‹ S. 240,33; (K 64) ›Faule Pfaffenknechte‹ S. 566,12–18; (K 104) ›Die karge Bauernhochzeit‹ S. 788,15–22. Ein hübsch faßtnachspil / von einer gar pewrischen pawrn heyrat / seer kurczweylig vnd gut zu lachen (Druck ‘o’; vgl. die Abbildung bei Wuttke [Anm. 17], S. 41). Vgl. auch (K 46) ›Der Bauer und der Bock‹ S. 358,3–5; (K 67) ›Der alte Hahnentanz‹ S. 591,32–33; (K 106) ›Kaiser Constantinus‹ S. 819,9–20. Vgl. (K 102) ›Die verklagten Ehemänner‹: Herr der wirt, nu gebt uns gute nacht! / Ob wirs zu grob heten gemacht, / So schült irs für ainn schimpf versteen; / Wann alle, die heint zu euch geen, / Die wollen mit euch schimpfen und lachen. / Di vasnacht manchen narrn kan machen, / Das er in töreter weis umb geet. / Wann ir das selber wol versteet, / Das man iezunt zu vasnacht frölicher ist, / Denn am carfreitag, so mann passian list. / Und wen wir heint nit frölich fünden, / Den wolt wir pis sunntag inn pan laßen verkünden (S. 772,28–773,5).

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der ›Kargen Bauernhochzeit‹ (K 104) zum Beispiel wird Zuschauergelächter auf die waishait der Spieler in ihrer Rolle als Bauern ironisch bezogen: Unser gut freunt wir da haimen suchen, / Das wir euch frölich möhten machen, / Das ir möht unser waishait lachen (S. 782,10–12). Je närrischer und je grober der Auftritt der ‘Bauern’, desto absurder wird diese Äußerung gewirkt haben. Die Zuschauer werden also angewiesen, wie sie auf das Spiel zu reagieren haben, aber auf eine Art und Weise, die Theorie sozusagen in Praxis umschlagen lässt, d. h. es soll bei dieser Anspielung auf Gelächter auch unmittelbar gelacht werden.66 Aufschlussreich sind ferner diejenigen aufführungsbezogenen Äußerungen, die nicht davor zurückschrecken, Zuschauerverhalten anders zu konnotieren, wenn nicht sogar zu problematisieren, etwa zum Schluss des ›Ungetüms‹ (K 23): Herr wirt, ir sult vns urlaubs gunnen, Wann wir hewr ye nit pessers kunnen, Dan das man etwas newß muß machen, Das sein die leut mugen gelachen, So man des alten nymer lacht (V. 249–253).67

In diesen um die Gunst der Zuschauer werbenden Abschiedsversen wird die Leistung der Spielerrotte kontextualisiert und zugleich auch völlig anders reflektiert. Denn der durch ein mögliches Nichtlachen des Publikums konkretisierte Druck, jedes Jahr etwas Neues zu erfinden, deutet ansatzweise auf eine Konkurrenzsituation hin, die sich kaum mit unbekümmerter festlicher Heiterkeit vereinbaren lässt.68 Bezeichnenderweise wird der Begriff spotten in Reden wieder herausgestellt, die das Scheitern des Kontrakts zwischen Rotte und Zuschauern scherzhaft in Erwägung ziehen, wie am Anfang von ›Mädchen und Burschen II‹ (K 95): Nu schweigt und hört uns junge rott! Ich verpeut, das unser niemant spott. Doch wer der narrnweis thut recht, Der ist ain guter vasnachtknecht, Es sei von mannen oder von weiben. Doch wer auß uns gespött wil treiben, Dem sag ich das und wil im nit feln, Dem wolt wir ain schachtel mit convect steln (S. 735,3–10).

Wenn richtiges Zuschauerverhalten darin besteht, der narrnweis recht zu tun, also Spieler und Narrenrolle auseinanderzuhalten, dann bedeutet gespött genau das Gegenteil und kann sogar, in diesem Kontext, als Gegenbegriff zur fastnächtlichen Definition des identifikatorischen Gelächters verstanden werden.69 Dass in solchen (im 66

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Vgl. auch (K 58) ›Der Ehevertrag‹ S. 512,19–20 (höfliche Bauern); (K 78) ›Klerus und Adel‹ S. 642,11–13 (gerechte Obrigkeiten). Text zitiert nach: Ridder u. Steinhoff [Anm. 21], Nr. 6, S. 75–83. Zur Konkurrenzsituation bei Festlichkeiten in der spätmittelalterlichen Stadtkultur vgl. Gerard Nijsten, Feasts and Public Spectacle. Late Medieval Drama and Performance in the Low Countries, in: Alan E. Knight (Hg.), The Stage as Mirror. Civic Theatre in Late Medieval Europe, Cambridge 1997, S. 107–143, hier S. 133–134. Vgl. (K 9) ›Lügenmärchen und Prahlreden‹: Die vasnacht kan vil narren machen / Und das man irs schimpfs mug lachen (S. 92,2–3).

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Sinne einer captatio benevolentiae) rhetorischen Reden das negative Bild einer spöttischen Zuschauerreaktion scherzhaft-aggressiv abgelehnt wird,70 tut ihrem Belegwert keinen Abbruch. Spannungen und Probleme bei der Rezeption von Fastnachtspielen waren durchaus vorstellbar: man hat mindestens von der Angst gewusst, dass im Verlauf einer Aufführung nicht jede dabei entstehende Lachgemeinschaft die Spielerrotte unbedingt einschließen würde. In den hier vorgeführten Textinterpretationen – unter den Stichworten Literarizität, Theatralität und Performativität – wurden Aspekte zwangsmäßig getrennt, die zusammengehören und die in den Spieltexten selbst sich teilweise auch überlagern: Das Auflachen des sanguinischen Bauern in der ›Bauernhochzeit‹ (K 7) von Hans Folz, zum Beispiel, ist sowohl literarisch als auch theatralisch und performativ bedeutsam. Dabei ging es in erster Linie darum, eine analytische Methode zu entwickeln, anhand derer die Darstellung von Lachen und Gelächter in Spieltexten beschrieben werden könnte, die sowohl der Spiel- als auch der Text-Dimension gerecht wird. Spieltexte, so hat es sich herausgestellt, weisen Spuren von einer theatralischen Lachebene auf, die in Erzähltexten gar nicht vorhanden sein kann, da sie mittels sogenannter impliziter Spielanweisungen in der Figurenrede kommuniziert wird. Erst wenn eine solche theatralische Inszenierung von Lachen zur Kenntnis genommen wird, lässt sich (über jegliche literarische Thematisierung hinaus) die performative Sprengkraft der Nürnberger Fastnachtspiele erahnen, derzufolge die Zuschauer zuweilen durch gespieltes Gelächter selbst ins Lachen gebracht werden sollten.71 Und das bedeutet, dass diese komische Aufführungstradition vom Ansteckungsprinzip menschlichen Gelächters zu profitieren versuchte. Das Ideal einer Spieler und Zuschauer umfassenden Lachgemeinschaft, das von den Spieltexten selbst gefördert wird, soll uns aber nicht vom Vorhandensein komisch gebrochener Gegenbilder ablenken, die eine von der Spielerrotte nicht gewollte Zuschauerreaktion (gespött) als Aufführungsrisiko heraufbeschwören. Damit erfassen 70

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Vgl. auch (K 21) ›Nürnberger (Kleines) Neidhartspiel‹: Ob das iemant verdrißen wil, / Der schließ taschen und peutel sein, / Das im niemant greife darein. / Doch get daher ein erbergs geslecht. / Wer seinen spot nit lassen mecht, / Der wurd gar pald von uns geschlagen, / Das man in must von uns hie tragen (S. 191,6–12). Ein anderer (humorloserer) Ton charakterisiert die Einschreierrede in (K 6) ›Der Quacksalber mit den zwei Knechten‹: Got gruß euch, ir herren uberal / Und alle, die do sitzen in disem sal. / Hie kumen zu euch, ob got wil, frum leut, als ir secht; / Sie hoffen, sie werden von euch nicht versmeht, / Und in nicht fur ubel haben, / Dann es sein werlich gut knaben, / In sunderlicher freuntschaft kumen sie her / Und verkunden euch neue mer (S. 58,4–11). Als (späterer) Beleg für das vormoderne Bewusstsein solches performativen Gelächters im theatralischen Kontext, vgl. Hamlets abschätzendes Urteil über disziplinlose Spieler: And let those that play your clowns speak no more than is set down for them – for there be of them that will themselves laugh, to set on some quantity of barren spectators to laugh too, though in the meantime some necessary question of the play be then to be considered. That’s villainous, and shows a most pitiful ambition in the fool that uses it (›Hamlet‹ III, 2, 37–45; Text zitiert nach: Hamlet, hg. v. Harold Jenkins, London 1982 [The Arden Shakespeare]).

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wir ein Bewusstsein für Rezeptionskontroverse, das sich durchaus mit der Problematisierung von Zuschauerverhalten im Umfeld geistlicher Spiele vergleichen lässt.72 Denn abgesehen von archivalischen und historiographischen Zeugnissen, nach denen etwa die Zuschauer von Passionsspielen ‘falsch’ – also dem Spielgeschehen nicht gemäß – gelacht haben sollen,73 sind mehrere Prekursorreden aus geistlichen Spielen bekannt, die, um Nachsicht bittend, falls etwa die Spieler während der Aufführung sich versprechen sollten, Spott und schadenfrohes Gelächter zu verbannen versuchen.74 Gerade dieser Gemeinplatz geistlichen Theaters scheint in einem Nürnberger Fastnachtspiel parodistisch verzerrt zu werden: Darumb dorft ir nit furpas fregen, / Dan horet zu an spot und lachen, / Ob man die stollen zu grob wurd machen ([K 25] ›Frag und Antwort‹ S. 224,9–11). Aber der Reiz solcher Witze bestand wahrscheinlich eben darin, dass nicht einmal bei der Aufführung von Fastnachtspielen die Gefahren des Spottens und ehrabträglichen Verlachens ganz aus der Welt zu schaffen waren. Man könnte sogar meinen, dass aus der Perspektive der städtischen Obrigkeiten die theatralische Inszenierung von (ehrloser) Narrheit als eine besonders heikle Angelegenheit zu gelten hatte, da sie leicht in ernsthaftere Verspottung und Beleidigung umkippen konnte. Dies belegt nicht zuletzt ein auf den 28. Februar 1494 datierbaren Nürnberger Ratsverlass, nach dem ein gewisser Wolf Ketzel und Oswald Krell mit Haft und Geldstrafe bestraft werden sollen: darumb das sie Hannsen Zamasser mit einem faßnacht Spil als ein narren gehondt haben.75 Wenn man nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Spiele »als Medium der kollektiven Aushandlung von zentralen Aspekten symbolischer und sozialer Ordnung in den Städten der Vormoderne« betrachten darf,76 so konstituieren die Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahr72

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Dazu vor allem: Rüdiger Schnell, Geistliches Spiel und Lachen. Überlegungen zu einer Ästhetik der Komik im Mittelalter, in: Anja Grebe u. Nikolaus Staubach (Hgg.), Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005 (Tradition−Reform−Innovation 9), S. 76–93. Vgl. Ruth Evans, When a body meets a body. Fergus and Mary in the York Cycle, New Medieval Literatures 1 (1997), S. 193–212, hier S. 199–200; Jan-Dirk Müller, Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter, in: Gerhard Neumann u. Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 53–77, hier S. 70–75. Vgl. etwa das ›Sterzinger Passionsspiel‹: Darumb seydt petrüebt hewt in got / Und treybt daraus nit schimph noch spot, / Als man manigen groben menschen vindt: / Alspald er enphindt, / Das ainer in ainem reim misredt, / So treybt er dar aus sein gespött / Und lacht der figur gar (V. 1223–1229; Text zitiert nach: Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, hg. v. Joseph E. Wackernell, Graz 1897 [Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs 1], S. 1–177). Der vollständige Text lautet: Es ist bey einem erbern Rat erteilt, Wolff Ketzel unnd den Oßwalt, der geselschafft von Rafenspurg diener, yr yden ein monat uff ein versperten thurn zu straffen, den halben teyl mit dem leyb zu verpringen, aber den anndern halben teyl mag ir yder mit dem geltt darauff gesetzt ablosen, darumb das sie Hannsen Zamasser mit einem faßnacht Spil als ein narren gehondt haben (zitiert nach: Simon [Anm. 13], S. 436 [Nr. 412; vgl. auch 408–411, 413–417]). Zum historischen Hintergrund vgl. auch Simon [Anm. 13], S. 305–306, 317–318. Kasten [Anm. 5], S. IX. Vgl. auch Meier [Anm. 55]: »Auf der unteren komplexen Ebene der

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Sebastian Coxon

hunderts einen fiktiven Erfahrungsraum, in dem individuelles Lachen und kollektives Gelächter, und insbesondere die Prozesse von Verlachen und Verlachtwerden, fast uneingeschränkt ausagiert und ausgekostet werden konnten. Unter dem Vorzeichen der verkehrten Welt wurde dabei die Gültigkeit mehrerer grundsätzlicher sozialer Mechanismen und Verhaltensmuster aufrechterhalten: Verhaltensmuster, die dennoch dem zeitgenössischen Bewusstsein so unauslöschlich eingeprägt waren, dass deren festliche Verwandlung wohl nicht bei jeder Aufführung spannungslos und konfliktfrei abgelaufen sein wird.

Handlungsstruktur der Dramen lassen sich Handlungselemente isolieren, die als Einheiten symbolischer Kommunikation und Wertevermittlung fungieren. Es sind dies die zahlreichen typischen Interaktionen, die in Imitation und Analogie zu lebensweltlichen Kommunikationsakten ausgebildet werden« (S. 20).

Rebekka Nöcker

vil krummer urtail Zur Darstellung von Juristen im frühen Nürnberger Fastnachtspiel

1. Juristenkritik im Fastnachtspiel – ein Textbeispiel zur Einführung Innerhalb der ausgestalteten oder angedeuteten Gerichtsszenen und -prozesse in der Literatur des Mittelalters1 hat das Fastnachtspiel um den Rechtsstreit zwischen Rum1

Einen Überblick zum Thema Literatur und Recht bieten die beiden aufschlussreichen Artikel von Ruth Schmidt-Wiegand im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. HRG, hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann unter philologischer Mitarb. v. Ruth SchmidtWiegand, mitbegründet v. Wolfgang Stammler, 5 Bde., Berlin 1971–1998, im Folgenden ‘1HRG’; 2., völlig neu überarb. und erw. Aufl. hg. v. Albrecht Cordes, Heiner Lück u. Dieter Werkmüller unter philologischer Mitarb. v. Ruth Schmidt-Wiegand, im Folgenden ‘2HRG’, bisher erschienen Bd. 1, Lf. 1–5, Berlin 2004–2007: Als Ergänzung zu dem aus rechtsgeschichtlicher Perspektive verfassten Artikel dies., Recht und Dichtung, in: 1HRG Bd. 4, 1990, Sp. 232–249, bes. Sp. 237–239, versteht sich der stärker literaturwissenschaftlich orientierte Artikel dies., Dichtung und Recht, in: 2HRG, Bd. 1, Sp. 1034–1043. – Von der Forschung zu Rechtsdarstellungen in der Literatur des Mittelalters haben vornehmlich ältere Arbeiten Gerichtsszenen und Prozessformen in den Blick genommen; bei dem Versuch, anhand ausgewählter Beispiele Überblicksdarstellungen zu geben, beziehen sie Fastnachtspiele nur punktuell ein: Erich Klibansky, Gerichtsszene und Prozessform in erzählenden deutschen Dichtungen des 12.–14. Jahrhunderts, Berlin 1925 (Germanische Studien 40); Friedrich Wilhelm Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters, 2. unveränd. Aufl., Darmstadt 1969 [repogr. Nachdr. der 1. Aufl. Jena 1930 (Deutsche Arbeiten der Universität Köln 2)]; Hans Fehr, Das Recht in der Dichtung, Bern [1931] (Kunst und Recht 2). Vgl. ferner auch Friedrich Rosenthal, Der Gerichtsaal auf der Bühne, Der Gral 26 (1932), S. 42–46; Ruth Schmidt-Wiegand, Prozessdrama, in: 1HRG, Bd. 4, 1990, Sp. 42–47, bes. S. 43f. – Demgegenüber widmet sich die neuere mediävistische Forschung verstärkt Einzelaspekten des Themas und bezieht neben Rechtsbräuchen und -motiven auch poetologische und kulturhistorische Implikationen mit in die Betrachtung ein, z. B.: Danielle Buschinger (Hg.), Le droit et sa perception dans la litte´rature et les mentalite´s me´die´vales, Göppingen 1993 (GAG 551); Wolfgang Sellert, List, Moral und Recht – Isoldes Eid, in: Vielfalt und Einheit in der Rechtsgeschichte (FS Elmar Wadle), Köln [usw.] 2004 (Annales Universitatis Saraviensis: Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung 136), S. 55–74; Volker Mertens, Recht und Abenteuer – Das Recht auf Abenteuer. Poetik des Rechts im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, in: Andreas Fijal, HansJörg Leuchte u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Juristen werdent herren uˆf erden. Recht – Geschichte – Philologie. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Friedrich Ebel, Göttingen 2006, S. 189–210. – Mit Blick auf die Literatur der (frühen) Neuzeit nimmt in der jüngeren Zeit vermehrt auch die europäische rechts-, literatur- und sozialwissenschaftliche Forschung an dem ursprünglich amerikanischen Diskurs ‘law and literature’ teil; vgl. zu diesem grundlegend Richard A. Posner, Law and Literature. A Misunderstood Relation, 3. Aufl. Cambridge 2002, bes. S. 9–14 (aus rechtswissenschaftlicher Perspektive); Theodore Ziolkowski, The Mirror of Justice. Literary Reflections of Legal Crisis, 2. Aufl., Princeton 2003 (aus

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pold und Mareth nicht zuletzt deshalb das Interesse der Forschung gefunden, weil die spezifische Darstellung der Formen spätmittelalterlicher Gerichtspraxis, welche das Spiel besonders klar konturiert, zugleich als Kritik an denselben zu verstehen ist.2 Bekanntermaßen klagt das Bauernmädchen Mareth vor Gericht das Eheversprechen ein, das ihr der Jungbauer Rumpold gegeben hat. Wie es ein ordnungsgemäß durch-

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literaturwissenschaftlicher Perspektive); im Überblick Edward Schramm, Law and Literature, Juristische Arbeitsblätter 39 (2007), S. 581–585. In Ergänzung dazu sei aus der umfangreichen Forschungsliteratur folgende Auswahl angeführt: die Bände der Reihe ‘Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 6: Recht in der Kunst’; Heinz Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, Baden-Baden 1990; Ulrich Mölk (Hg.), Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Kolloquium der Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Februar 1995, Göttingen 1996; Eberhard Schmidhäuser, Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt, 2. überarb. Aufl., München 1996; David Stechern, Das Recht in den Romanen von Sir Walter Scott, Münster [usw.] 2003 (Münsteraner Studien zur Rechtsvergleichung 101); Michael Kilian (Hg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudentia literarisch. Von Woyzeck bis Weimar, von Hoffmann bis Luhmann, Berlin 2006; Gert Hofmann (Hg.), Figures of law. Studies in the Interference of Law and Literature, Tübingen [usw.] 2007 (Edition Kairos 3), S. 21–32. Das Spiel ›Rumpold und Mareth‹, das zusammen mit dem von Niklaus Manuel verfassten Berner Spiel ›Elsli Tragdenknaben‹ (Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 [BLVSt 28–30 u. 46], Neudruck Darmstadt 1965–1966), im Folgenden ‘K’, hier Nr. 110; zum Spiel vgl. aus rechtsgeschichtlicher Perspektive Heinrich Richard Schmidt, Elsli Tragdenknaben. Niklaus Manuels Ansicht des geistlichen Gerichts, in: Andreas Blauert u. Gerd Schwerhoff [Hgg.], Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000 [Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 1], S. 583–602) und dessen Bearbeitung ›Elsabe Knaben‹ zu den Spielen von der ‘actio de sponsu’ gehört, liegt in vier Bearbeitungen vor: K 115; K 130; Sterzinger Spiele, nach Aufzeichnungen des Vigil Raber hg. v. Oswald Zingerle, 2 Bde., Wien 1886 (Wiener Neudrucke 9 u. 11), im Folgenden ‘Z’, hier Bd. 1, Nr. 1 u. Nr. 8 (= Nr. V,1 u. Nr. V,3 der kommentierten Neuausgabe: Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften [1510–1535] von Vigil Raber und nach der Ausgabe Oswald Zingerles [1886], hg. v. Werner M. Bauer, Wien 1982 [Wiener Neudrucke 6], im Folgenden ‘B’, hier S. 295–316 [Text] mit S. 514–516 [Kommentar] u. S. 328–357 [Text] mit S. 517f. [Kommentar]). – Textgeschichtliche Abhängigkeit und Bearbeitungstendenzen untersuchen Victor Michels, Studien über die ältesten deutschen Fastnachtspiele, Straßburg 1896, S. 67–74, 245–248; Adolf Kaiser, Die Fastnachtspiele von der actio de sponsu. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Fastnachtspiels, Göttingen 1899; Harwick W. Arch, Die Sterzinger Fastnachtspiele Vigil Rabers, Diss. masch. Innsbruck 1948, S. 40–50; Hans Günter Sachs, Die deutschen Fastnachtspiele von den Anfängen bis zu Jakob Ayrer, Diss. masch. Tübingen 1957, S. 44–46; Anton Schwob, Die zeremonielle Entweihung formaler und sprachlicher Rituale in einer spätmittelalterlichen Urkundenparodie. Zu Vigil Rabers Consistory Rumpoldi II, in: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters, Greifswald 1989 (Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Deutsche Literatur des Mittelalters 5), S. 113–128; Ingmar ten Venne, Erfahrungen mittelalterlicher Rechtspraxis im Nürnberger Fastnachtspiel, in: Buschinger [Anm. 1], S. 195–210; Dieter Trauden, ». . . daz man dier die recht nit prech . . .«. Die Bearbeitungen des Fastnachtspiels vom ‘Rumpolt und Mareth’, in: Mittelalterliches Schauspiel (FS Hansjürgen Linke), Amsterdam 1994 (ABäG 38–39), S. 349–375.

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geführtes Gerichtsverfahren erfordert, erbitten sich beide Parteien zu Beginn vom Offizial, dem Richter eines geistlichen Gerichts, die Erlaubnis, einen gerichtlichen Vertreter wählen zu dürfen. Der gleichermaßen formelhaft stattgegebenen Bitte folgt die Verhandlung der beiden Parteien mit ihrem jeweiligen Fürsprecher über die vorab zu zahlende Draufgabe, die zum Zeichen des Vertragsabschlusses geleistet und mit dem anwaltlichen Honorar verrechnet wurde.3 In der Fassung des südtiroler Spielleiters Vigil Raber aus dem Jahr 1511 (Wuttke Nr. 11)4 basiert die Vereinbarung zwischen Rumpold und seinem Prokurator auf der Übereinkunft, dass ‘schnelles’ Geld guetn radt ermöglicht (V. 160f.): R u m p o l t respondit Herr, ich kan nit latein. Erlaubpt mir ainen vorsprech, Der mich an meinem widersacher recht. O f f i c i a l i s ad illum Ja, den tuen ych dier erlaubm, Magstu nur ain auffklaubm. P r i m u s p r o c u r a t o r ad Rumpolt Ich will dein troier redner sein, Gib mir nur den lonne mein, Und main, ich well das recht gebinnen, Oder ich sey dan nit pei pesinnen. N o t a r i u s ad Rumpolt Zell auff so pehendt Vier grosschn an missewendt! So hastu ain gebissn vorsprech, Das man dier die recht nit prech. R u m p o l t dat pecuniam dicens Set hin, das gelt gib ich euch dradt, Gebt mir nur ain guetn radt (V. 147–161).

Die Versicherung des Anwalts, den Streitfall gewinnen zu können, sofern nur das Honorar bezahlt bzw. dessen Vorleistung getätigt werde (V. 152–155), wiederholt sich in der Verständigung Mareths mit ihrem Fürsprecher (V. 180f.): M a r e t h dicit Ich mues auch ain vorsprech habm, Hiet ich nur ain getreuen knaben. 3

4

Das essentielle Verhältnis der juristischen Details des Spiels zum Ablauf eines kanonischen Zivilprozesses im Mittelalter (siehe dazu 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1555f.) ist beschrieben bei Trauden [Anm. 2], S. 354; ten Venne [Anm. 2], bes. S. 196–204. Zur Parodie der abschließenden Heiratsurkunde siehe Schwob [Anm. 2]. Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 6. Aufl., Stuttgart 1998 (RUB 9415), im Folgenden ‘Wuttke’, hier Nr. 11 (= Z 8; B V,3), S. 91–130.

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S e c u n d u s p r o c u r a t o r ad illam Leich mir her sechczg pfenning. Ich hoff, dier soll mit mir gelingen. M a r e t h dat pecuniam dicens Seth hin, das gelt soltz nit saumen! Thuet mir nur recht auff gamenn, Das wir den knecht verschtricken Und in dem recht woll verzbicken (V. 178–185).

Mareths Absicht ist offensichtlich. Ihr ist daran gelegen, mit anwaltlicher Hilfe die Gegenpartei zu verzbicken (V. 185), sie festzunageln. Bei der Festlegung der Honorarhöhe zeigt ihre Ermunterung, am Geld solle eine anwaltliche Bemühung um die Niederlage Rumpolds nicht scheitern (V. 182–184), die Spielregeln auf: Gegen entsprechende Bezahlung ist ein gerichtlicher Vertreter bereit, Methoden anzuwenden, die die Gegenpartei verschtricken (V. 184), sie in etwas verwickeln. Ein von Gerechtigkeit geleitetes Erkenntnisinteresse spielt dabei keine Rolle; es zählen allein der zu verbuchende Sieg vor Gericht und der dafür gezahlte Lohn. Im Verlauf der gerichtlichen Auseinandersetzung bemängelt dann auch der Vater des angeklagten Rumpold die Profitgier der beiden Prokuratoren: P a t e r R u m p o l d i dicit ad circumstantes demonstrans procuratores Secht, dye daygen ton sich kriegn, Das sy uns umb das gelt petriegn, Und wan sy uns dy peytll schellen, So werden sy dan guet gesellen (V. 376–379).

Dass sich die beiden Anwälte vor Gericht bekämpfen, habe nur das eine Ziel, die Mandanten um ihr Geld zu betrügen (V. 376f.). Tatsächlich sei die gerichtliche Auseinandersetzung für die Anwälte Mittel zum Zweck, in gemeinsamer Sache ihren Mandanten das Geld aus der Tasche zu ziehen (V. 378f.). Kritisiert Rumpolds Vater hier die gerichtliche Praxis, sich von Berufsjuristen vertreten zu lassen, die gleichbedeutend damit sei, deren durch Habgier motivierter Streitsucht ausgeliefert zu sein,5 so unternimmt er seinerseits, nachdem Rumpold den zuvor abgestrittenen Beischlaf mit Mareth selbst verraten hat (V. 417), den Versuch, den Richter zu bestechen (bes. V. 469–471, 482): P a t e r ad officialem O lieber herr, mocht es gesein, Geren geb ich euch zechn guldein, Das mein sun mocht ledig werdn Und ausß dem rechtn kem mit ern. e Ey, das er da von kam Und ain ander weib nae m, Wan das ist ain poe sß geschlecht.

5

Vgl. ten Venne [Anm. 2], S. 200.

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Gebt daruber pann und ae cht! Also hoe rt ich all mein tag, Das gelt und gab vill vermag In dem rechtn und an dem ring, Das oft ainem woll geling, Der halt sunst hiet verlorn, Dem wirt der pest tayll erckhorn. Darumb wolt ich euch die hand schmieren, e Das er kham von diser diern (V. 468–483).

Rumpolds Vater beruft sich auf die allgemeine Bekanntheit der Aussage (V. 476), dass Angehörige des Gerichts leicht zu schmieren (V. 482) seien, und verweist auf die offensichtlich verbreitete Auffassung von der Korrumpierbarkeit derjenigen Personen, die dem Berufsfeld Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit angegliedert sind (V. 476– 481).6 Der Offizial, der sich vollkommen integer zeigt, weist jedoch die unterstellte Bereitschaft zur Rechtsbeugung rigoros zurück.7 Dieter Trauden hat auf die idealisierende Zeichnung des Gerichtspersonals, insbesondere des Offizials, im Spiel hingewiesen, gegenüber der die Darstellung der beiden Parteien und ihrer Advokaten als die »einer moralisch offenbar keineswegs unbescholtenen Klägerpartei, der bauernschlauen Partei des Beklagten, der sich um seine Verpflichtungen drücken will, und der ebenso rabulistisch-trickreichen wie geldverliebten Anwälte« (S. 359) erscheint.8 Die Vermutung ergänzend, dass die negative Figurenzeichnung »aus den Erfahrungen der Zeit« (S. 360) schöpfe, möchte der vorliegende Beitrag mit Blick auf das frühe Nürnberger Fastnachtspiel, d. h. mit Blick auf das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, aufzeigen, dass die negative Darstellung des Rechtspersonals nicht zuletzt im Kontext einer etablierten, teils gelehrten Tradition mittelalterlicher (auch literarisierter) Juristenkritik angesiedelt ist. Kritik an Juristen erweist sich – so die These – als konstitutiv gerade für die Gruppe der 25 Gerichtsspiele des frühen Nürnberger Fastnachtspielcorpus.9 Indem die Spiele mit Prozessstruktur in ganz eigener Umsetzung an Formen 6

7

8 9

Zur verbreiteten Korrumpierbarkeit der geistlichen Rechtsprechung im Mittelalter siehe Justus Halshagen, Zur Charakteristik der geistlichen Gerichtsbarkeit vornehmlich im späteren Mittelalter, ZRG.KA 6 (1916), S. 205–292. Vgl. die Redepartie des Offizials, V. 484–497, der die Korruptionsabsicht in eine scharfe Zurechtweisung umpolt, indem er der sprichwörtlichen Redensart euch die hand schmieren (V. 482; Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bde., 5. Aufl., Freiburg i. Br. [usw.], hier Bd. 2, S. 648) mit dem Wortspiel Schmier an galgn, das ist mein radt! (V. 484) begegnet. Dadurch, dass der Offizial in seiner Entrüstung den Vorwurf der Korrumpierbarkeit von sich weist und versichert, dass die recht gerechtikait (V. 497) Grundlage seiner Rechtsprechung sei, ruft er allerdings auch gängige Vorwürfe gegen das Richteramt auf: rechte recht verckeren (V. 487), rechte recht zuprechn (V. 492), ain valsch urtl sprechn (V. 493). Vgl. auch Trauden [Anm. 2], S. 357 Anm. 45. Vgl. ebd., S. 359f. K 8, 10, 18, 24, 27, 29, 34, 40, 41, 42, 51, 52, 61, 69, 72, 73, 78, 87, 88, 97, 102, 104, 108, 112 und Spiel Nr. III in Franz Schnorr von Carolsfeld, Vier ungedruckte Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, Archiv für Literaturgeschichte 3 (1874), S. 1–25. Eine Gerichtsszene ist ferner integriert in K 67 (vgl. S. 589,30–591,22). Nicht zum Nürnberger Corpus gehören die

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konventioneller Juristenkritik anknüpfen, entwerfen sie vermittels eines festen Repertoires klar umrissener Figurenmerkmale einen negativ markierten Juristentypus. Zu ihm sollen hier diejenigen Spielfiguren im Nürnberger Fastnachtspiel gerechnet werden, die dem Bereich der Rechtsorganisation und Rechtsprechung angehören, im Einzelnen die Figur des Richters, des Schöffen, des Gerichtsbüttels, des Fürsprechers sowie des gelehrten Juristen. Nachgegangen werden soll der Frage nach der Funktionalisierung des – wie sich zeigen lässt, fastnachtspieltypisch arrangierten – Juristenbildes für das Verhältnis von Struktur und Inhalt der Spiele, für das Evozieren von Fastnachtskomik, für die Inszenierung der sog. ‘verkehrten Welt’ und – über formale und inhaltliche Gattungsaspekte hinaus – nach seiner möglichen Funktionalisierung für die Festlegung der Position einer Gesellschaft im Hinblick auf ihr Rechtswesen, das insbesondere im Bereich spätmittelalterlicher städtischer Administration und Politik wesentlich von rechtsgelehrten Berufsjuristen mitgetragen wurde.10 Der Beitrag stellt daher zunächst das Phänomen der sog. Juristenkritik des 12. bis 14. Jahrhunderts dar, das sich in Deutschland bis ins 16. Jahrhundert und unter ver-

10

Gerichtsspiele K 54, 115, 130 sowie aus der Sterzinger Spieltradition Z 1, 2, 5, 8, 12, 20, 23. – Neben den in Anm. 2 genannten Studien zu den Spielen von der ‘actio de sponsu’ sind Fastnachtspiele mit Prozessform Gegenstand der Betrachtung bei Karl Meyer, Fastnachtspiel und Fastnachtscherz im 15. und 16. Jahrhundert, Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte 3 (1896), S. 161–181, hier S. 167, 169; Michels [Anm. 2], S. 194–202; Strothmann [Anm. 1], S. 6–11; Fehr [Anm. 1], S. 292–302; Arch [Anm. 2], S. 51–60, 84–89; Sachs [Anm. 2], S. 44–46, 49f., zum Nürnberger Corpus S. 91f.; Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea NF 8), S. 198–205; Ingeborg Glier, Personifikationen im deutschen Fastnachtsspiel des Spätmittelalters, DVjs 39 (1965), S. 542–587, hier S. 557–566; Arne Holtorf, Markttag – Gerichtstag – Zinstermin. Formen von Realität im frühen Nürnberger Fastnachtsspiel, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprachund Literaturwissenschaft (FS Hans Fromm), Tübingen 1979, S. 428–450, hier S. 430f., 434f., 444f.; Hagen Bastian, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983, S. 81–87; Hedda Ragotzky, pulschaft und nachthunger. Zur Funktion von Liebe und Ehe im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Hans-Jürgen Bachorski (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991 (LIR 1), S. 427–446, hier S. 438–443; Elisabeth Keller, Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz, Frankfurt a. M. 1992 (Europäische Hochschulschriften 1; 1325), S. 81–96. Dazu siehe Eberhard Isenmann, Aufgaben und Leistungen gelehrter Juristen im spätmittelalterlichen Deutschland, Orbis Ivris Romani 10 (2005), S. 41–65; ders., Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: Franz-Josef Arlinghaus, Ingrid Baumgärtner, Vincenzo Colli, Susanne Lepsius u. Thomas Wetzstein (Hgg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Mittelalters, Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung 23), S. 305–417; ders., Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen für deutsche Städte im Spätmittelalter, in: Jacques Chiffoleau, Claude Gauvard u. Andrea Zorzi (Hgg.), Pratiques sociales et politiques judiciaires dans les villes de l’Occident a` la fin du Moyen ˆ ge. Les textes recueillis dans cet ouvrage forment les actes du colloque re´uni a` Avignon du A 29 novembre au 1. de´cembre 2001, Rome 2007 (Collection de l’E´cole franc¸aise de Rome 385), S. 243–322.

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änderten Bedingungen auch darüber hinaus fortsetzt (2.). Eine Beispielanalyse zu sechs signifikanten Merkmalen dieses literarischen Typus soll dann demonstrieren, inwiefern das mit der Juristenkritik verbundene und durch sie geprägte Bild des Juristen für die literarische Zeichnung der dem Rechtswesen angehörenden Figuren des Nürnberger Fastnahtspiels ‘leitend’ ist; dabei erweist es sich als unbedingt erforderlich, die Darstellung der juristischen Figuren nicht unabhängig von der Struktur des Gerichtsspiels zu betrachten (3.). In einem weiteren Schritt werden Merkmale der Nürnberger Rechtsorganisation, an die die Spiele gelegentlich anknüpfen, in die Analyse einbezogen (4.) und abschließend mögliche Gründe für die im Fastnachtspiel so spezifische Darstellung der im genannten weiten Sinne als Juristen zu begreifenden Figuren aufgezeigt (5.). 2. Mittelalterliche Juristenkritik Die folgenden Ausführungen zur mittelalterlichen Juristenkritik, welche Ergebnisse der rechtshistorischen Forschung referieren,11 lassen den mittelalterlichen Rückgriff auf Vorwürfe gegen Juristen der römischen Republik, die die antike Literatur bereit11

Vgl. die einschlägigen Beiträge von James A. Brundage, The Ethics of the Legal Profession. Medieval Canonists and Their Client, in: ders., The Profession and Practice of Medieval Canon Law, Aldershot 2004 (Variorum collected studies series, CS797), Nr. II; Michael Stolleis, Juristenbeschimpfung, oder: Juristen, böse Christen, in: Politik – Bildung – Religion (FS Hans Maier), Paderborn [usw.] 1996; Claudio Solvia, Juristen – Christen – Listen, in: Harro von Senger (Hg.), Die List, Frankfurt a. M. 1999, S. 263–280; James A. Brundage: Vultures, Whores, and Hypocrites. Images of Lawyers in Medieval Literature, The Roman Legal Tradition 1 (2002), S. 56–103 (zahlreiche Textbeispiele). – Der Herausbildung juristisch-ethischer Standards widmen sich in diesem Zusammenhang Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtsgelehrten. Justiz in früheren Zeiten, Düsseldorf [usw.] 1969 [Photomech. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1900]; Courtney Kenny, Bonus iurista malus christa, The Law quarterly review 19 (1903), S. 326–334; Eduard Meynal, Remarques sur la re´action populaire contre l’invasion du droit romain en France aux XIIe et XIIIe sie`cles, Romanische Forschungen 23 (1907), S. 557–585; Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 3: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, München 1931 (Handbuch der Altertumswissenschaften 9,2,3), S. 910–936; Erich Genzmer, Hugo von Trimberg und die Juristen, in: L’europa e il diritto romano, studi in memoria Paolo Koschaker, Vol. 1, Milano 1954, S. 290–336; Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 3. unverb. Aufl., München 1958, S. 141–164; John W. Baldwin, Critics of the legal profession. Peter the Chanter an his circle, Monumenta Iuris Canonici 1 (1965), S. 249–259; Reiner Hausherr, Eine Warnung vor dem Studium von zivilem und kanonischem Recht in der Bible moralise´e, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975), S. 390–404; Derek van de Merwe, Making light of heavy weather. Franc¸ois Rabelais’s ‘deconstruction’ of scholastic legal science, in: Antonio Garcı´a y Garcı´a u. Peter Weimar (Hgg.), Miscellanea Domenico Maffei dicata. Historia – Ius – Studium, Goldbach 1995, S. 541–556; Robert Gramsch, Nikolaus von Bibra und Heinrich von Kirchberg. Juristenschelte und Juristenleben im 13. Jahrhundert, Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56 (2002), S. 133– 168; ferner von James A. Brundage im zu Beginn der Anmerkung genannten Sammelband die Beiträge Nr. I (The Rise of Professional Canonists and Development of the Ius Commune), Nr. III (The Ethics of Advocacy. Confidentiality and Conflict of Interest in Medieval Canon Law), Nr. VI (The Monk as Lawyer), Nr. VII (Teaching Canon Law).

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stellt,12 ebenso außer Acht wie patristische Literatur oder karolingische Texte und beschränken sich auf die im 11. und 12. Jahrhundert neu einsetzenden Entwicklungen der Rechtsstudien. Mit der Gründung der mittelalterlichen Rechtsschulen und der seit Mitte des 12. Jahrhunderts eingerichteten juristischen Fakultäten an den Universitäten Bologna, Paris und Oxford etablieren sich systematische Lehre und regelhafte Anwendung des kanonischen, dann auch des römischen Rechts. Nahezu zeitgleich setzt eine negative Darstellung der Juristen in mittellateinischen und volkssprachigen französischen,13 später auch englischen14 und deutschen15 literarischen sowie außerliterarischen Quellen ein, die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts weit verbreitet bleibt. Immer wieder findet sich das in seiner Summe so facettenreich wie typenhaft gezeichnete Bild des ‘blutsaugenden’, heuchlerischen, frevelhaften, zwielichtigen und hinterlistigen, zugleich stolzen und arroganten Juristen: Er drückt die Armen nieder, lebt von dem Unglück seiner Opfer, verleitet seine Klienten zu Meineid und betreibt Prozessverschleppung mit dem unlauteren Ziel, Richter und Gegenpartei zu zermürben. Nicht zuletzt durch die Vagantenlyrik, man denke an die ›Carmina Burana‹, sind der bestechliche Richter und der habgierige Advokat literarische Topoi geworden.16 Wenngleich ein tatsächliches moralisch-ethisches Fehlverhalten mittelalterlicher Juristen durchaus dokumentiert ist, ist es jedoch nicht ausschließlich die Ursache für die mit Leidenschaft und Verbitterung geführte Schelte, mit der Zeitgenossen den Berufsstand des Juristen ihrer vernichtenden Kritik unterzogen. Denn gerade die normative Prägung ethischer Maßstäbe war das entscheidende Merkmal für den Prozess der Professionalisierung dieses Berufsstandes und für die professionelle Disziplin bei Gericht.17 Für die Juristenkritik des 12. bis 14. Jahrhunderts werden vielmehr die folgenden zwei Hauptgründe genannt: Der erste Grund liegt wohl in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzenden neuen Konkurrenz zwischen Theologie und Rechtswissenschaft, vor allem der Wissenschaft des Zivilrechts. Die geistliche Führungselite der Zeit hatte per se nichts gegen das Studium des römischen Rechts einzuwenden. Es galt jedoch, die eigenen Reihen gegen drohende häretische Machtentwicklung im Süden Frankreichs zu wappnen, und dies mit einem Bildungsprogramm, das ausschließlich die theologische Ausbildung im Blick hatte, zu der sehr 12 13 14 15

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Dazu Brundage, Vultures [Anm. 11], S. 57–66. Beispiele bei Meynal [Anm. 11]. Beispiele bei Brundage, Vultures [Anm. 11], S. 74. Umfassend tritt Juristenkritik in volkssprachiger deutscher Literatur zuerst im 1300 fertiggestellten ›Renner‹ Hugos von Trimberg auf (siehe unten). Einzelne Aspekte, etwa die Klage über die geldintensive Praxis, sich in Rechtssachen von Advokaten vertreten lassen zu müssen, finden sich des Öfteren in der Kleinepik des 14. und 15. Jahrhunderts, beispielsweise um 1400 bei Heinrich Kaufringer (Heinrich Kaufringer. Werke, hg. v. Paul Sappler, Bd. 1, Tübingen 1972, S. 218–223, Nr. 20: ›Der bezahlte Anwalt‹), vgl. ten Venne [Anm. 2], S. 200. Vgl. Manitius [Anm. 11], S. 927–936. Vgl. Brundage, Vultures [Anm. 11], S. 81 Anm. 114 (weitere Literatur).

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wohl das kanonische, nicht aber das Zivilrecht gehörte, das seinerseits die volle Aufmerksamkeit der Studenten verlangte und theologische Studien ins Hintertreffen geraten ließ. Ziel musste es sein, die Bildung der Theologen und Prediger zu fördern und also die Attraktivität der Theologie zu erhöhen, indem die Kurie das Studium des Zivilrechts gerade in Paris, dem theologischen Wissenszentrum der Zeit, untersagte. Die Kritik richtete sich daher gegen jene, die der Lehre und dem Studium der Theologie schadeten, und so insbesondere gegen die Kleriker-Juristen, die sich, nachdem sie eine theologische Grundausbildung genossen hatten, vielfach den scientiae lucrativae, den als gewinnbringend geltenden Wissenschaften der Medizin und des Zivilrechts, zuwandten.18 Funktionalisiert worden ist die Juristenschelte darüber hinaus durch die Zirkelbildung päpstlicher Gegner für die Kritik am Papstanspruch; zu nennen wäre z. B. Kritik im Rahmen der Kirchenreform oder ausgehend vom Kreis um Petrus Cantor und seinem Reformprogramm zu dem im kanonischen Recht so grundlegenden Ehehindernis des Verwandtschaftsgrades;19 funktionalisiert worden ist sie später ferner durch den Geltungsanspruch der Humanisten (z. B. Petrarca, Rabelais).20 Der zweite Grund für die mittelalterliche Juristenkritik besteht vor allem in dem gesellschaftlichen Wandel des 13. und 14. Jahrhunderts: Mittelalterliche Juristenschelte resultiert wohl aus der stark ausgeprägten Wettbewerbssituation, der sich diejenigen ausgesetzt sahen, die mit der vergleichsweise rasch ansteigenden Anzahl juristisch gut ausgebildeter Absolventen um Positionen und Macht im kirchlichen und weltlichen Verwaltungsapparat bzw. um deren Sicherung konkurrieren mussten. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Juristen, denen als sozialen Aufsteigern der Zugang zur gesellschaftlichen, klerikalen oder intellektuellen Elite gelang, ohne dass sie den bislang gültigen Selektionskriterien wie gesellschaftlichem oder klerikalem Prestige genügten. Das Stereotyp des verschlagenen, habgierigen, korrupten, maß- und treulosen Richters, Advokaten oder Rechtsgelehrten und die damit verbundene Juristenschelte halten sich über 200 Jahre lang von der Gründung mittelalterlicher Rechtsschulen bis ins 14. Jahrhundert. Ein Resultat der als Verwissenschaftlichungsprozess gedeuteten Rezeption des Zivilrechts ist die bildungspolitisch gewollte, aber auch durchaus affektgeleitete, durch irrationale Polemik einzelner evozierte Juristenkritik. Die soziale Irritation, die die gelehrten Rechtspraktiker und ihre neuen Methoden hervorgerufen hatten, schwindet im Wesentlichen im fortschreitenden 14. Jahrhundert infolge der sich verändernden sozialen Bedingungen, so dass Juristen weitgehend nicht mehr Gegenstand der literarischen Polemik sind. Im deutschsprachigen Raum finden sich Belege für die Juristenschelte allerdings bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Exemplarisch erwähnt sei das Sprichwort ‘Juristen, böse Christen’, das beispielsweise Luther mehrfach in seinen Tischreden verwendet.21 Den deutschen Erstbeleg des 18 19 20 21

Vgl. Genzmer [Anm. 11], S. 302–307; Hausherr [Anm. 11]. Vgl. Baldwin, Critics [Anm. 11]. Vgl. van de Merwe [Anm. 11]; Ziolkowski [Anm. 1], S. 98–129. Zur Verwendung des Sprichworts (vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begr. v. Samuel Singer, hg. vom

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Sprichworts bietet Hugo von Trimberg. In seinem 1300 fertiggestellten ›Renner‹22 widmet er über 500 Verse (V. 8275–8800) einer Beschreibung des Juristenstandes, in der sich zahlreiche der genannten stereotypen Züge wiederfinden.23 In Anlehnung an Judas, der Jesus für 30 Silberlinge verrät, bezeichnet Hugo Juristen, die für Geld die Wahrheit verraten, als judisten, und das Sprichwort lautet bei ihm [. . .] an boesen kristen, / die da geheizen sind judisten (V. 8391 f.) bzw. Boese judisten, boese kristen (V. 8654). Mit Blick auf den Wortlaut gilt es für den ersten Beleg hervorzuheben, dass drei der vier ›Renner‹-Handschriften statt judisten die Lesart juristen bezeugen.24 Auch für das Wort jurist selbst bietet nach dem gegenwärtigen Forschungsstand der ›Renner‹ den Erstbeleg. Hugos Ausführungen zufolge bezeichnet es um 1300 eine Person, die römisches oder kanonisches Recht bei einem etablierten Rechtsgelehrten oder an einer universitären Juristenfakultät studiert hat und die als Anwalt Klienten gerichtlich vertritt, als Rechtsgelehrter selbst Recht an den Rechtsschulen und -fakultäten unterrichtet oder Funktionsstellen bekleidet, in deren Rahmen rechtskundige Kenntnisse für die Ausübung des Tätigkeitsfeldes unverzichtbar sind.25 Dass die Juristenkritik im deutschsprachigen Raum bis ins 16. Jahrhundert und darüber hinaus fortbesteht, hat seinen Grund in der verzögert einsetzenden Frührezeption des römisch-mittelalterlichen Rechts nördlich der Alpen. Seit den Universitätsgründungen von Prag, Heidelberg, Wien und Köln im 14. und 15. Jahrhundert steigt zudem eine insbesondere von Rechtsgelehrten konstituierte neue Leistungselite auf, die eine zuvor nicht existente soziale Gruppierung, einen sozialen ‘Typus’ bildet, dem sich über Funktionsstellen im städtisch-patrizischen, adeligen oder auch kirchlichen Dienst ein eigenes Karrieresystem erschließt.26 Nähe zu Macht und Geld, Verwaltung exklusiven Wissens, Beherrschen eines unverständlichen Fachjargons in

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Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, 13 Bde. u. Quellenverzeichnis, Berlin [usw.] 1995–2002, im Folgenden ‘TPMA’, hier Bd. 6 s. v. JURIST 1. Juristen sind schlechte Christen) siehe Robert von Stintzing, Das Sprichwort ‘Juristen böse Christen’ in seinen geschichtlichen Bedeutungen. Rede gehalten beim Antritt des Rectorates der Universität Bonn am 18. October 1875, Bonn 1875; Maximilian Herberger, Juristen, böse Christen, in: 1HRG [Anm. 1], Bd. 2, 1978, Sp. 482f.; Stolleis [Anm. 11], bes. S. 163; Solvia [Anm. 11], bes. S. 263f. Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. v. Gustav Ehrismann, 4 Bde., Berlin 1970–1971 (Deutsche Neudrucke: Reihe Texte des Mittelalters) [Photomech. Nachdr. der Ausg. Tübingen 1908–1911]. Vgl. dazu ausführlich Genzmer [Anm. 11], S. 307–323. Zur Stelle siehe ebd., S. 307f. Vgl. ebd., S. 319. Die veränderte Situation beschreibt der Rechtshistoriker Michael Stolleis [Anm. 11] wie folgt: »‘Rechtsgelehrsamkeit’ wird ein begehrtes Qualifikationsmerkmal. In der tief verunsicherten spätmittelalterlichen Gesellschaft, in der es einen starken Reformbedarf im weltlichen und geistlichen Bereich gab, vermittelte Rechtskenntnis den Zugang zum notwendigen Ordnungswissen und zu den gerichtlichen Verfahren der Streitschlichtung, die nun das Fehdewesen ersetzen sollten. Der Aufstieg dieser neuen Leistungselite weckte entsprechende Widerstände. Die bisherigen Funktionsträger wurden verdrängt, soweit nicht Aufgabenvermehrung und Steigerung der Komplexität der neuen Aufgaben den Konkurrenzdruck milderten. Indem die Juristen traditionelle Streitschlichtungsverfahren veränderten und das gesprochene Wort durch das schriftliche (bald auch gedruckte) Wort ersetzten, veränderten sie

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Wort und Schrift, berufsbedingtes Handeln wider die christlichen Tugenden – all dies förderte eine feindliche Einstellung gegenüber Juristen vor allem bei denjenigen, die nicht durch Besitz oder Bildung die veränderten Bedingungen mittrugen oder von ihnen profitierten. Aber auch aus den eigenen Reihen erfolgte im 15. und 16. Jahrhundert scharfer Tadel. Rechtsgelehrte der Zeit (z. B. Sebastian Brant) verurteilten die Halb- oder Ungelehrtheit nicht weniger Universitätsabgänger, die trotz ihrer nur bescheidenen Rechtskentnisse einen Wirkungskreis in kleinen Städten oder Territorien fanden.27 Infolge der Reformation, die die Geltung des kanonischen Rechts in Frage stellte, erreichten die Vorwürfe insbesondere die Klerikerjuristen: Statt Nachsicht und christliche Nächstenliebe walten zu lassen, würden sie den Regeln der neuen Rechtskultur, und das heißt Höchstbezahlung gegen juristisches Spezialwissen, folgen und insgesamt die ‘Verrechtlichung des Glaubens’ betreiben.28 3. Juristen im frühen Nürnberger Fastnachtspiel Vor dem skizzierten historischen Hintergrund ist jede literarisch überformte Juristenkritik zu sehen und muss auch die literaturwissenschaftliche Analyse derjenigen Personen im Fastnachtspiel perspektiviert werden, die dem Gerichtswesen angehören.29 Unmittelbar geäußerte Kritik an Juristen, wie sie das Eingangsbeispiel ›Rumpold und Mareth‹ bietet, ist in den Nürnberger Fastnachtspielen fast nicht anzutreffen.30 Hier ist es vielmehr die Interaktion mit anderen Spielfiguren, durch die sich Figuren des

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auch die alten sozialen Muster. Wo ein Handschlag, eine rechtssymbolische Handlung vor Zeugen nicht mehr genügen sollte, um das gute Recht zu beweisen, bereitete sich Mißtrauen aus« (S. 164). Stolleis ergänzt: »Daß überall da, wo wir die sprachliche Chiffre ‘frühe Neuzeit’ ansetzen, um den Übergang in einen neuen gesellschaftlichen Aggregatzustand zu bezeichnen, auch die Juristen auftreten, macht die Verquickung von psychischer Irritation durch das ‘Neue’, Verunsicherung durch Statusverlust und das Bedauern über den Untergang der guten alten Sitten so plausibel. Die Juristen werden als Träger des Fortschritts erfahren, und das bedeutet eben auch als Zerstörer alter, christlicher Lebensformen. Statt Wahrheit und Treue stehen nun papierne Verträge, Schuldscheine und Protokolle, an die Stelle von ‘ein Mann ein Wort’ tritt der auszulegende lateinische Text« (S. 165). Vgl. Solvia [Anm. 11], S. 266f.; Ziolkowski [Anm. 1], S. 98–129. Vgl. Stolleis [Anm. 11], S. 164; Solvia [Anm. 11], S. 267. Abgesehen von Beschäftigungen mit dem Fastnachtspieltypus des Gerichtsspiels, die auf wichtigen Überlegungen zu Gruppenbildung, Spielstruktur und Rechtshintergrund basieren (vgl. die in Anm. 2 u. 9 genannte Literatur), hat sich die Forschung der Literarisierung der Juristenfigur im Nürnberger Fastnachtspiel bislang nicht gewidmet. Lediglich in dem von Hans Folz verfassten Spiel ›Die Fastnacht vor Gericht‹ (K 51) findet sich Juristenschelte explizit; sie wird hier für Adelskritik instrumentalisiert: Die Behauptung, dass einem Anwalt die gerichtliche Verteidigung des zahlungskräftigen Adels nicht schwer fallen dürfe, wird angesichts des Umstandes, dass das Honorar aus der Unterdrückung der Landsassen und Plünderung reisender Kaufleute stammt (vgl. S. 380,32–381,11), zum schweren Vorwurf; vgl. auch Wolfgang Spiewok, Das deutsche Fastnachtspiel. Ursprung, Funktionen, Aufführungspraxis, 2., überarb. und erw. Aufl., Greifswald 1997, S. 25; Rüdiger Krohn, Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts, Kronberg i. Ts. 1974 (Scriptor Hochschulschriften. Literaturwissenschaft 4), S. 96–101. Auch weitere Male ist der unsichere Landfrieden Anlass

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Rechtsbereiches deutlich als Vertreter des so gescholtenen Berufsstandes präsentieren – innerhalb des Fastnachtspiel-Genres heißt dies: durch die Inhalte, die Aussageintention und den Duktus ihrer Redepartien. Aufschluss darüber können das gewählte Prozessverfahren geben, die verkündeten Schöffenvoten, die Art des richterlichen Urteils und nicht zuletzt die jeweils konkrete persönliche Motivation, die Schöffen oder Richter zu einem Urteil veranlasst. Das in den Nürnberger Gerichtsspielen überwiegend negativ entworfene Profil der juristisch tätigen Personen lässt sich mithilfe eines Katalogs von sechs Merkmalen beschreiben, welche sich als konstitutiv für das Auftreten der Personen aus dem Rechts- und Gerichtsbereich erweisen. Bei der Frage nach der A r t d e r S t r e i t f ä l l e ist zunächst der Zusammenhang mit der inhaltlich-thematischen wie strukturellen Konzeption der Nürnberger Fastnachtspiele mit Prozessform von Bedeutung. Kennzeichnend ist für sie weniger eine vollständig ausgestaltete Gerichtsverhandlung als vielmehr die Andeutung des Prozessverlaufs durch den häufigen regelhaften Gebrauch juristischer Termini und fester rechtssprachlicher Wendungen insbesondere des Gerichtswesens31 sowie durch fakul-

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zur Juristenkritik: Im Spiel ›Der Bauern Rügefastnacht‹ (K 69) ist er Mittel der impliziten Kritik an der Straffindung der Schöffen, deren Fresssucht größer als gebotene Sorgen um die Bedrohung der öffentlichen Ordnung durch räuberische Reiterbanden ist (vgl. S. 610,26–30). Zum Landfrieden als historischem Bezug des Gerichtsspiels ›Klerus und Adel‹ (K 78), das den Adel und adeligen Klerus als Träger des Rechts einführt, um dezidiert Gesellschaftskritik zu üben, siehe ten Venne [Anm. 2], S. 205–207; Brigitte Stuplich, Das ist dem adel ein große schant. Zu Rosenplüts politischen Fastnachtspielen, in: Röllwagenbüchlein (FS Walther Röll), Tübingen 2002, S. 165–185, hier S. 172–176. – Explizite Kritik an gerichtlichen Personen äußert auch das nicht zum Nürnberger Corpus gehörende Spiel ›Der kluge Knecht‹ (K 107; kein Fastnachtspiel, wohl Neujahrsspiel mit Prozessstruktur), in dem der Exclamator in einer laudatio temporis acti beklagt, dass der einst gültige Grundsatz, demzufolge Ehrerwerb mehr als materieller Besitz galt (S. 820,18f.), sich in sein Gegenteil verkehrt habe und stattdessen nun guot der Indikator für eer sei (S. 820,21f.,24f.). Als Vertreter einer solchen Handlungsethik werden geistliche und weltliche Stände genannt (S. 821,1–17), darunter die Obrig- und Gerichtsbarkeit: Ratsherr, Richter, Advokat, Fürsprecher, Redner, Amtsleute (S. 821,6–8). Nachstehend aufgeführte Belege bieten eine Auswahl. Die Verhandlung betreffend: ein reht besitzen (‘ein Gericht [ab]halten’, z. B. K 41, S. 314,6), verhörn (K 102, S. 769,5), für faßen (‘zur Verhandlung vornehmen’, z. B. K 42, S. 328,26), einschreiben (‘[auf einen Termin hin] gerichtlich eintragen’, z. B. K 42, S. 328,23), laden (‘gerichtlich vorladen’, K 108, S. 851,13), furpot (‘Vorladung’, K 51, S. 379,7); die Rechtssache, den Streitfall betreffend: sach (z. B. K 87, S. 704,10); die Klage betreffend: clage (z. B. K 42, S. 321,1), cleglich clagen (z. B. K 67, S. 590,8,19; K 78, S. 644,23; K 104, S. 787,9; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, bisher erschienen: 10 Bde., Bd. 1–5 hg. v. der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, ab Bd. 6 hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Weimar 1932–2001, im Folgenden ‘DRW’, hier Bd. 7, Sp. 1043); den Gegenstand der Klage betreffend: gebrechen (K 87, S. 704,14), schaden (K 72, S. 624,9); die durch den Beklagten erhobene Verteidigungsrede bzw. Gegenklage betreffend: antwurt (z. B. K 42, S. 321,1), widerred (K 10, S. 98,20), nachklag (K 42, S. 325,13), verantwurten (z. B. K 42, S. 321,10); das Urteil betreffend: ain unterscheid geben (K 97, S. 747,21); ain urtail fellen (z. B. K 41, S. 317,15); das Unrecht betreffend: schuld (z. B. K 88, S. 709,7; Wuttke Nr. 1 [= K 73], V. 9), pruch (‘Mangel in der

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tativ gewählte gerichtstypische Elemente, wie z. B. die Parteien von Kläger (anklager, klager) und Prozessgegner (antwurter, widersach) samt Zeugen (zeug), die Funktionsträger Richter (richter, official), Gerichtsdiener (püttel), Anwalt (fürsprech, anwalt), Schöffe (schopff, urtheiler), Ratsherr (ratherr) und Bürgermeister (burgermaister) mit ihren jeweiligen Aufgaben der Moderation, Anwaltschaft und Urteilsfindung und nicht zuletzt den Ort der Gerichtsschranke (K 87, S. 707,30 = K 88, S. 713,15). Das Grundschema der Gerichtsspiele lässt sich am Spiel ›Prozess zweier Buhler‹ (K 34) demonstrieren: Das Stück umfasst neben den beiden rahmenden Elementen, der Herold- und der Ausschreierstrophe, lediglich drei Redepartien (anklager, antworter, richter), in denen auf Klage und Gegenklage das Urteil erfolgt. Diese Minimalform lässt sich einerseits durch beliebige Wiederholung der Strophentrias erweitern, so sind etwa im Spiel ›Vier Bauern vor Gericht‹ (K 24; Wuttke Nr. 4) vier solcher Fälle hintereinander geschaltet. Variable Ergänzung erfährt sie andererseits durch die verschiedenen gerichtlichen Personen: Häufig besteht ein Spiel, wie beispielsweise ›Der Bauern Rügefastnacht‹ (K 69), aus den Reden des Klägers und des Beklagten bzw. des juristischen Vertreters, den verschiedenen Schöffenvoten oder dem Richterspruch.32 Erst inhaltliche Details legen die jeweilige Binnenstruktur der Gerichtsspiele fest. Gegenstand der Verhandlung sind durchweg einfachere Strafsachen, Beleidigungen, Raufereien, normwidrige Verhaltensweisen und Verstöße gegen die gemeinschaftliche Ordnung; sie werden durch eheliche Auseinandersetzungen ergänzt. Im Anschluss an die Gliederung Arne Holtorfs lassen sich drei Gruppen unterscheiden.33 Nach Art der Streitfälle ergeben sich die beiden Gruppen ‘Anklage wegen Schädigung oder Beleidigung’ (I: K 10, 18, 24, 34, 52, 69, 104, 112) und ‘Eheliche Auseinandersetzungen’ (II: K 27, 29, 40, 42, 61, 102).34 Eine dritte Gruppe umfasst diejenigen Spiele, in denen die Gerichtsverhandlung den strukturellen Rahmen für einen außerhalb der ‘üblichen’ Rechtsprechung angesiedelten Diskurs vorgibt, z. B. den Kampf der Personifikationen von Fastnacht und Fastenzeit vor Gericht (III: K 8, 51, 72, 73, 78, 97).

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Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung’, z. B. K 42, S. 324,9; vgl. DRW, Bd. 2, Sp. 523– 527), Ob iemant zu kurz wer geschehen (K 87, S. 704,5); die sühnende Leistung gegenüber den Verletzten betreffend: der puß/der straf/dem wandel verfallen (K 18, S. 155,5; K 87, S. 705,12; S. 707,8; K 88, S. 710,3; S. 713,9); sonst: zugehören (‘einem rechtlichen Anspruch unterliegen’, z. B. K 102, S. 770,26), glimpfen (‘rechtlich begründen, vertreten’, K 102, S. 788,6; vgl. DRW, Bd. 4, Sp. 947). Nicht selten wird der Richter von den Parteien und den Schöffen angeredet, ohne dass er selbst zu Wort kommt, z. B. in K 69 (S. 609,15; S. 610,22,32; S. 611,26; vgl. auch S. 609,13). In der konkreten Aufführung konnte die stumme Richterrolle, musste aber nicht zwingend besetzt sein. Vgl. Holtorf [Anm. 9], S. 434f., und ferner ten Venne [Anm. 2], S. 203. Überschneidungen sind bei den vielfältigen Inhalts- und Themenbereichen der Fastnachtspiele selbstverständlich. Besonders eignet sich die Gerichtsform dazu, den Aspekt »Sexualität als eheliches Recht bzw. eheliche Pflicht« (Ragotzky [Anm. 9], S. 438) zu verhandeln, welcher die Spiele mit Ehe-Thematik dominiert. Die Ehe-Gerichtsspiele betrachten Glier [Anm. 9]; Bastian [Anm. 9]; Ragotzky [Anm. 9]; Keller [Anm. 9].

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Prozessstruktur, gerichtliches Personal, Art der Fälle, Verwendung der Rechtssprache oder die Eingangssituation der Spielhandlung, die ausdrücklich als Gerichtsverhandlung eingeführt wird,35 erfordern es darüber hinaus unbedingt, die Spiele K 87, 88 und 108 auch dann mit zu den Gerichtsspielen zu rechnen, wenn in ihnen der verfahrenstechnische Ablauf eines Gerichtsprozesses nicht immer im Vordergrund der Spielstruktur steht.36 Dies gilt in besonderer Weise für Spiel K 108, in dem sich die überwiegend ohne Redeeinleitung überlieferten Redepartien37 erst aus Kenntnis von Grundstruktur sowie Rollenrepertoire und Auftrittsabfolge der Figuren in den übrigen Gerichtsspielen den verschiedenen gerichtlichen Personen zuordnen lassen. Ferner ist Spiel K 41 einzubeziehen, das sich mit seinem Thema der Ehetauglichkeit durchaus zu Gruppe II stellen lässt: Wie in K 97 geht es in ihm nicht um die Entscheidung eines Rechtsstreits im üblichen Sinn, sondern um die Bewertung eines Sachverhalts durch Erteilen von Ratschlägen (hier: Eheunterweisung). Nicht zuletzt ist in Anbetracht des Stoffes das Spiel vom salomonischen Urteil (Schnorr von Carolsfeld [Anm. 9], Nr. III) mit zu den Gerichtsspielen zu zählen. Aufgrund seiner genuin klar vorgegebenen Struktur erweist sich das Nürnberger Gerichtsspiel als offen gegenüber der Verhandlung verschiedenster Fälle, sofern diese ein wie auch immer geartetes Konfliktpotenzial in sich tragen. Dies erklärt, weshalb groteske Rechtssachen, etwa wer von Mutter oder Tochter zuerst heiraten darf (K 97), neben Erbstreitigkeiten (K 8) oder Nachbarschaftszänkereien (K 24, 69, 104, 112) verhandelt werden, welche relativ nah an der alltagsweltlichen Realität angesiedelt gewesen sein dürften. Orientiert sich die Art der Fälle mit Ehebruchsthematik oder Anklage wegen Beleidigung oder Schädigung noch an real möglichen gerichtlichen Auseinandersetzungen, so folgt die Darstellung der Vergehen hingegen in gewohnt fastnachtspieltypischer Manier: Konstitutiv ist für die Gerichtsspiele die komische Entfaltung der häufig absurden Klagegründe und Gegenvorwürfe selbst, die mit obszöner Metaphorik und entgleisender Derbheit einhergeht, so die Klage eines Bauern, ein Nachbar habe in seinem Acker die Notdurft verrichtet, bevor seine Frau darin 35

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Von Einschreier oder Büttel ausgerufen wird das Gericht in K 8, S. 75,8f.; K 10, S. 98,5–8; K 18, S. 154,20–23; Wuttke Nr. 4, V. 6–8; K 27, S. 233,5f.; K 29, S. 241,6–11; K 34, S. 269,6–9; K 40, S. 305,5–10; K 41, S. 314,5–11; K 42, S. 320,4–15; K 51, S. 379,5–12; K 52, S. 391,6–11; K 61, S. 541,6; K 69, S. 609,10f.; K 72, S. 624,7–8; K 87, S. 704,3–9; K 88, S. 709,5–15; K 97, S. 746,3–11; K 102, S. 769,4–16; K 112, S. 956,5–10. Gelegentlich zeigen dabei nur wenige rechtssprachliche Wendungen (wie z. B. das recht innhalten und all sach schlecht machen; K 78, S. 642,11f.) oder juristische Termini (bischof von Babenberk [ihm obliegt die geistliche Rechtsprechung] K 42, S. 320,7 und klagt S. 320,10; clag Wuttke Nr. 1 [= K 73], V. 2 und schult V. 9), gleichsam Signalwörtern, die Gerichtssituation an bzw. deuten auf sie voraus. Anders Holtorf [Anm. 9], S. 435f. Anm. 11, der diese Spiele in die Gruppenbildung nicht einbezieht, »da sie sich in ihrem Ablauf vom Prozessschema zu sehr lösen«. Das Spiel ist nur in Hs. D (Dresden, Sächsische Landesbibl., Mscr. M 50) bezeugt. Zum Vorkommen der Redeeinleitungen dort vgl. Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik), Lübeck/Hamburg 1970 (Germanische Studien 240), S. 27–33, bes. S. 27f.

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Rüben jätete (K 69), oder der Vorwurf eines Mannes, ein anderer habe seiner Frau beim Tanz seinen Penis (fisel) in die Hand gegeben (K 24). Bereits Friedrich Wilhelm Strothmann betonte in seiner Untersuchung zur ‘Gerichtsverhandlung als literarische[m] Motiv’, dass man »in einer ganzen Reihe von Spielen auf ‘Rechtsfälle’ stößt, die sich in keine juristische Kategorie einordnen lassen.«38 Seine Begründung lautet: »Die Gerichtsstücke unter den Fastnachtspielen wenden sich nicht an das Rechtsgefühl der Zuschauer, sie wenden sich an ihre Fastnachtstimmung« (ebd.). In der Regel ist die Inszenierung des Streitfalls daher auch auf das gattungsspezifische Sprechen über obszöne und fäkale Aspekte ausgerichtet. Indem dies und die Belanglosigkeit der Klagen, die die Schöffen oder der Richter gelegentlich bemängeln,39 in komischem Gegensatz zu der Würde ihres Amtes und ihrer intellektuellen Rangstufe stehen, erscheinen die Juristen und insgesamt das Gerichtswesen der Lächerlichkeit preisgegeben. Ferner trägt die A r t d e r e r t e i l t e n S c h ö f f e n v o t e n zur negativen Zeichnung des Juristenbildes bei. Das Spektrum der Strafandrohungen ist mustergültig dem Stück ›Frauenverleumder vor Gericht‹ (K 87) zu entnehmen. Als Strafen werden zum einen Elemente der tatsächlichen Strafpraxis genannt, zu denen z. B. Ehrenstrafen wie das öffentliche Zur-Schau-Stellen durch Scheren (S. 705,25) oder das Schupfen (ins Wasser tauchen; S. 706,33) sowie auf Verstümmelung zielende Körperstrafen wie die Kastration (S. 707,6f.,25f.) und auch Folterstrafen wie der Schlafentzug (S. 706,29) gehören. Zum anderen werden fiktive grotesk-übertriebene Strafen teils ungeheuerlicher Tortur vorgeschlagen, unter denen solche mit zeitlicher Staffelung wie 30 Jahre gegen die Heiden kämpfen, 20 Jahre auf den Knien rutschen, 10 Jahre im Pflug ziehen (S. 707,14–16) zu den milderen gehören.40 Im Vordergrund aber stehen überspitzte Urteilsvorschläge: neben solchen obszönen und skatologischen Inhalts (vgl. bes. K 18, 40, 87, 88, 104, 112) die in die Fastnachtszeit weisende Aufforderung zu Völlerei (s. u.). Insofern trifft auch hier das für die Art der verhandelten Fälle Gesagte zu: Ihren Reiz und komischen Effekt gewinnen die Spiele aus den zentralen Variations- und Überbietungsmechanismen gerade der häufig drakonischen Strafvorschläge.41 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Schöffen nicht nur zahlreiche Elemente tatsächlicher mittelalterlicher Strafpraxis aufgreifen, sondern souveränrechtssprachliche Termini verwenden,42 deren ironische Umbrechung in den Spielen beim Rezipienten die Kenntnis ihres regelhaften Gebrauchs voraussetzt. Der 38 39 40

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Strothmann [Anm. 1], S. 7. Vgl. K 52, S. 392,12–15; K 69, S. 610,12–15; S. 612,2–4; Wuttke Nr. 4 (K 24), V. 25–28. Auch diese Phantasiestrafen beziehen sich in karikierender Absicht gelegentlich auf die mittelalterliche Strafpraxis bzw. das Fastnachtsbrauchtum. Beispielsweise verbergen sich hinter der aufgeführten Strafen-Trias aus K 87 das Motiv des Kreuzzugs als Buße (S. 707,14) und die Bußübung, auf den Knien zu rutschen (S. 707,15; zu denken ist auch an die Strafpilgerfahrt), ferner wohl der Rügebrauch des Eggenziehens, sonst nur eine gebräuchliche Schmähung ‘sitzengebliebener’ Mädchen (S. 707,16). Beispielhaft umgesetzt ist dies im Stück ›Das Hofgericht vom Ehebruch‹ (K 40). Vgl. auch Bastian [Anm. 9], S. 158 Anm. 81.

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gekonnte Umgang der Juristenfigur mit solchen Realitätsbezügen erlaubt ihr einerseits ihre Lust an der drastischen Übertreibung, erhöht andererseits aber das komische Missverhältnis zu den unerwarteten Wendungen der Spiele in Form des milden Urteils oder seiner Vertagung (s. u.), welche Richter und Schöffen in ihrer Autorität und samt ihrer Terminologie als umso ‘närrischer’ erscheinen lassen. Ein weiteres Merkmal für die Darstellung gerichtlicher Personen konstituiert sich in der extremen Neigung des Richters und der Schöffen zur V ö l l e r e i . Sie bestimmt nicht selten die Art der Straffindung. Im Gerichtsspiel ›Vier Bauern vor Gericht‹ (K 24; Wuttke Nr. 4) beschließt der Praecursor seine Aufforderung an die Anwesenden, dem Richter einen Streitfall vorzutragen, mit einer konkreten Anweisung zur Art der Urteilsfindung, welche darauf abzielen möge, dass der Richter vol werde. Indem diese Vorgabe ganz eigene Absichten des Richters verfolgt, unterläuft sie in komischer Weise den zugleich erhobenen ethischen Anspruch, recht urteil zu fällen: Precursor [. . .] Wer do hat zu clagen, der mach sich her! Recht urteil man hie fellen sol, Darvon der richter auch wirt vol (Wuttke Nr. 4, V. 6–8).

Damit deutet die Einschreierstrophe voraus auf Art und Ausmaß der Strafe, die der Richter auferlegen wird: In der Absicht, sich satt essen und über den Durst trinken zu wollen (vol werden), verhängt er ausnahmslos in jedem der vier vorgebrachten Streitfälle die Naturalbuße. Den Parteien des ersten Streitfalls ordnet er an, je zwei Viertel Wein zum gemeinsamen Frühstück zu bringen:43 D e r r i c h t e r dicit Mich wundert, das ir groben affen Vor dem rechten mugt so unutz klaffen; Und schonet ich frummer leut nit daran, Ich wolts euch nymmer faren lan. Darumb so merckt die urteil mein, Das igklicher zwei virtl guten wein Morn uns zum anpiß bringen sol, Das wir alsant davon werden vol (V. 25–32).

In den übrigen Streitfällen werden jeweils beide Parteien dazu verurteilt, das Mahl des Richters mit zwei großen Wecken, zwei Braten und Gebäck zu vervollständigen.44 Mit Arne Holtorf lässt sich somit für dieses Spiel (wie auch für andere) feststellen: »In 43

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Ganz ähnlich legt der Richter in dem kurzen Spiel ›Prozess zweier Buhler‹ (K 34) den Streit mit einem Vergleich in Form einer Weinbuße bei, die er von jeder Partei verlangt, vgl. S. 270,1–3. Wuttke Nr. 4, V. 49–56, 73–80, 97–104. – Das Motiv der rechtmäßig verhängten Naturalbuße liegt auch dem Spiel ›Der Bauern Rügefastnacht‹ (K 69) zugrunde. In jedem der beiden dort verhandelten Streitfälle wird entschieden, dass der Verurteilte die Mitglieder des Gerichts mit Getränken und Speisen zu versorgen habe (S. 610,10–30; S. 611,26–612,11): Im ersten Streitfall wird die Weinbuße verhängt und außerdem angekündigt, dass das Gericht am nächsten Schlachtfest teilnehmen werde. Auch im zweiten Streitfall ist die Gefräßigkeit der Schöffen ausschlaggebend dafür, die Naturalbuße (u. a. Braten vom Schwein) vorzu-

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allen Fällen wird also nicht nur der Beklagte verurteilt, sondern auch der Kläger dafür, daß er den Fall dem Gericht überhaupt vorgelegt hat.«45 Wie erwähnt, beklagen sich Schöffen und Richter gelegentlich sogar über die Unerheblichkeit der Klagegründe, sie nehmen sie dann aber als durchaus willkommenen Anlass für Naturalbußen. Die gerichtliche Lösung, auf Kosten des Angeklagten essen und trinken zu können, bis allsampt wern vol (K 104, S. 787,29), verleitet sogar zu der Empfehlung, die Klage fallen zu lassen.46 Im von Hans Folz verfassten Spiel ›Ein Bauerngericht‹ (K 112), in dem nacheinander drei Streitfälle zwischen Bauern verhandelt werden, ermahnt der Richter die Schöffen bei jedem Fall erneut, kurzen Prozess zu machen. Nachdem die Bauern jeweils Klage und Verteidigung vorgetragen haben, zeigt er deutlich sein Desinteresse am Prozessverlauf und zugleich sein dringendes Bedürfnis, sich möglichst bald ins Wirtshaus begeben zu können. So verhängt bei jedem der drei verhandelten Fälle einer der beisitzenden Schöffen, die nun vollständig die Rechtsprechung vom Richter übernommen haben, kurzerhand die Naturalbuße: Fall 1: DER RICHTER: Ir schöpfen, urteilt umb die sach, Das man das recht dest kürzer mach! (S. 957,6–8) DER ANDER SCHOPF:

Ir herrn, das wer ein leckerei. Ein anders ich urtheil darbei, Wo wir zu negst an einer zech sein, Das sie ein weck vnd vier maß wein Pringen und mit uns drein zechen. Ich weiß kein pesser recht zu sprechen (S. 957,16–22).

Fall 2: DER RICHTER: Ir schöpfen, richt die sach pald auß, Das man dem wirt schier laß sein haus. (S. 958,2–4) EIN ANDER SCHOPF: [. . .] Und urtheil, so uns eins ser dürst, Das sie und [!]47 baid schicken ir würst,

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schlagen. Wörtliche und argumentative Parallelen des Stücks zum Spiel ›Vier Bauern vor Gericht‹ (K 24; Wuttke Nr. 4) zeigen, wie populär die Vorstellung eines Fress- und Saufgelages gewesen sein muss: K 69, S. 610,17–20 ∼ Wuttke Nr. 4, V. 34–37; K 69, S. 612,10f. ∼ Wuttke Nr. 4, V. 101f. Holtorf [Anm. 9], S. 430. So sprich ich das zum urtail mein, / Wir schülln in fürn zum wellisch wein / Und wollen trinken und essen wol, / Bis das wir allsampt wern vol, / Das wirß mohten ubern rigel deuen. / [. . .] / So woll wir di clag laßen valln (K 104, S. 787,26–788,2). Der einzige Textzeuge des Spiels, der Druck f (Nürnberg, Johannes Stuchs, um 1520; VD16

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Und pring ieder ein schweinen praten, Do well wir guets zun sachen rathen (S. 958,10–16).

Fall 3: DER RICHTER: Ir schöpfen, secht die sach recht an! Mich dürstet: machts kurz! Last uns gan! DER URTHEILER: [. . .] ich urtheil umb die stöß, Das man sich morn zu samen gnöß Umb zwei zum Halbwachsen hin auf, Do selbst man disen krieg versauf. Do solt ir zwen bezalen das trinken, So lang piß wir an penken hinken (S. 958,31–959,12).

Sauf- und Fresslust von Richter und Schöffen, die den Zustand des Erbrechens48 und völliger Sinnesbetäubung49 anstreben, sind eng verknüpft mit dem Rechtsbrauch des Buße-Vertrinkens.50 Es war weit verbreiteter Usus, eingehende Naturalbußen nach Abschluss der Gerichtsverhandlung unter Einbezug aller Beteiligten gemeinschaftlich zu verzehren. Der Umtrunk, an dem neben den Gerichtspersonen auch die beiden Parteien teilnahmen, darunter auch der Verurteilte, stellte eine Art Versöhnungsgeste dar. Eng verwandt war damit der Nießnutz von Richtern und Schöffen an den eingegangenen Naturalbußen. Die stark hyperbolische Umsetzung beider Rechtsbräuche im Fastnachtspiel eignet sich besonders für die fastnacht(spiel)typische ausmalende Darstellung der Völlerei, die einen lustvollen Kontrapunkt zur entbehrungsreichen Fastenzeit setzt. Ein weiteres Merkmal der Gerichtsspiele ist die spezifische B e s e t z u n g d e s S c h ö f f e n a m t s , welches in ihnen am häufigsten der Laienschöffe, daneben auch das Mitglied des städtischen Rates (ratherr)51 ausüben. Im Stück ›Wann man heiraten soll‹ (K 41) tritt zudem der akademisch ausgebildete Jurist in beratender Funktion auf. Hier spricht der Richter die beisitzenden Rechtsgelehrten dezidiert als juristen an und fordert sie auf, ihre Gelehrtheit in ihre Ratgeberrolle einfließen zu lassen;52 einer der Überlieferungszeugen des Spiels, Hs. G, weist dann auch unmissverständlich die konsequent verwendete Rollenbezeichnung doctor auf,53 im 14. und 15. Jahrhundert die

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F 1770; Ex.: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Yp 7091 R), überliefert vns (Bl. 3r). [. . .] ubern rigel deuen [. . .]; vgl. Anm. 46. So wöll wir niht geen dervon, / Unz ainer den andern nit kennen kan (K 69, S. 611,32f.). Zum Folgenden vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 578; 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, Sp. 795– 797. Siehe auch Holtorf [Anm. 9], S. 430f. mit Anm. 5 u. 6 (weitere Literatur); Bastian [Anm. 9], S. 86 mit S. 162 Anm. 108 u. 109. Nachweise in Anm. 152. Ich frag euch alhie, ir juristen, / Das ir mit euren sin und listen / Ain urtail sprecht [. . .] (K 41, S. 315,4–6). Hs. G (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 18.12 Aug. 4o), deren einzelne Faszikel ursprünglich

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Bezeichnung schlechthin für den in einem oder in beiden Rechten, d. h. im kanonischen und im Zivilrecht, promovierten Rechtsgelehrten.54 Das Spiel ›Das Hofgericht vom Ehebruch‹ (K 40) verwendet den Doktorgrad ebenfalls gemäß seiner konventionellen Bedeutung als Ausweis der Gelehrtheit; sie berechtigt den Schöffen doctor Strützel (S. 306,18) dazu, zuerst das Urteil zu finden.55 Zu der mit der autoritativen Intellektualität verbundenen parodistischen Intention56 gehört, dass her doctor Strützel57 einem Schöffengremium angehört, dessen Mitglieder mit Eigennamen aus dem Bildbereich des Bäuerlichen oder Obszönen benannt werden: Besonders trägt die Diskrepanz zwischen Namen und Amt zur Komik bei, wenn in diesem Spiel Schöffen namens Her Götz Mauzenpart und her Lutz Kerbenfeger (S. 306,22) bzw. Her Ott Molkenpauch und her Diez Kalbseuter (S. 306,24) den weisen mannen wol gelert eines gehobenen Hofgerichts zugerechnet werden (S. 305,5f.). Sonst häufig namenlos – was den stereotypen Charakter der Urteilsvorschläge unterstreicht –, erweisen sich die Schöffen in denjenigen Spielen, in denen eine Namensbezeichnung erfolgt (K 10, 18, 40, 104), als ‘bäuerisch’: Sie heißen z. B. Frettendrüssel zu der Reut (K 18, S. 158,7) oder Eberspis von Erleinstegen (K 104, S. 785,7).58 In diesem Zusammen-

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von Nürnberger Berufsschreibern angefertigt worden sind, ist vor 1494 entstanden (vgl. Simon [Anm. 37], S. 20f., 107–118; Thomas Habel, Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Artibvs [FS Dieter Wuttke], Wiesbaden 1994, S. 103–134, hier S. 119–126). Die Hs. stammt mithin aus einer Zeit, in der sich die beratende Funktion promovierter Juristen in Nürnberg bereits gänzlich etabliert hatte und für die Rechts- und Verwaltungsorganisation des Rates, in welchen aus Machterhaltungsgründen nur nicht promovierte Mitglieder aufgenommen wurden, eine unverzichtbare Stütze bildete (vgl. dazu unten Abschnitt 4.). Es bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass die Abschrift von Spiel K 41 in Hs. G von der Hand des Augsburger Kaufmanns Claus Spaun stammt. Vgl. Laetitia Boehm, Akademische Grade, in: 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, Sp. 111–126, bes. Sp. 111–116. Her doctor Strützel und her Lülhart, / Facht am ersten an! Ir seit am pesten gelart (S. 306,18f.). Zur Gelehrtenparodie im Fastnachtspiel siehe Klaus Ridder, Der Gelehrte als Narr. Das Lachen über Artes und Wissen im Fastnachtspiel, in: Ursula Schaefer (Hg.), Artes im Mittelalter, Berlin 1999, S. 391–409, bes. S. 405–408. Von den bei Ridder entwickelten Kategorien der Verzerrung des Gelehrtenideals trifft auf den Juristen als literarischen Typus des Fastnachtspiels die Kategorie »Gelehrtheit und mangelnde berufliche Kompetenz« (S. 394) zu. Nach Wilhelm Arndt, Die Personennamen der deutschen Schauspiele des Mittelalters, Hildesheim 1977 (Germanistische Abhandlungen 23) [Nachdr. der Ausg. Breslau 1904], S. 75, bezeichnet Strützel »wohl einen Feinschmecker, der stets ‘Brot aus feinem Mehl’ (= strützel) isst«. In K 24 (Wuttke Nr. 4, V. 73) ist es als Schimpfwort verwendet. Zu der mit dem Namen verbundenen sexuellen Andeutung vgl. auch Bastian [Anm. 9], S. 16 mit S. 121 Anm. 23. Allgemein zu den komischen Namen im Fastnachtspiel siehe Arndt [Anm. 57], S. 64–196; Birgit Knühl, Die Komik in Heinrich Wittenwilers ‘Ring’ im Vergleich zu den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, Göppingen 1981 (GAG 332), S. 193–196.

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hang desavouieren daher auch die Namen der Schöffen ihre Träger und geben sie gerade in Anbetracht ihrer juristischen Autorität der Lächerlichkeit preis. Somit hat die komische Namensgebung vor allem zur Folge, dass die Drastik der Schöffenvoten, deren Hyperbolik ohnehin offenkundig ist, ironisch gebrochen wird. Die Norm für das ethische Ve r h a l t e n d e s R i c h t e r s u n d d e r S c h ö f f e n ist in den Gerichtsspielen klar umrissen.59 Das ethische Verhalten eines Richters60 wird auf gerechte Urteilsfindung (entscheiden rechtlich und eben), prinzipielle Anhörung beider Parteien (munt wider munt) sowie Urteilsverkündung, der Anklage und Verteidigung gleichberechtigt zugrunde liegen (nach anklage und nach antwurt geben61), festgelegt62 und basiert auf Weisheit und Verständigkeit63 oder auf erworbener Gelehrtheit.64 Als Leiter des von ihm vertretenen Gerichts ist der Richter grundsätzlich dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass eine Sache mit warheit, d. h. ‘in rechtlich gebührender Weise’ bzw. ‘durch ein Rechtsverfahren’, vorgetragen wird,65 der Klägerpartei zum Recht zu verhelfen66 sowie die Prozessdauer nicht über Gebühr auszuweiten.67 Vor der Folie dieses juristisch-ethischen Anspruchs erweist sich jedoch die Richterfigur mit ihrer Lust zur Völlerei und ihrer Unlust am regelgerechten Prozessverlauf als geradezu niveaulos. Daneben gibt es durchaus Spiele, die den Richter insofern positiv zeichnen, als er moderierende Funktion übernimmt und seiner Verpflichtung nachkommt, ein abschließendes Urteil zu verkünden: In der Regel fällt dabei das Urteil gegenüber den rigorosen Schöffenvoten und der Schwere der Klage59

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Nicht nur in Bezug auf die Richter und Schöffen, auch in Bezug auf die Parteien bilden die Gerichtsspiele (real bestehende) ethische Standards ab: Ihnen ist z. B. Wahrheit geboten (K 10, S. 98,29; K 42, S. 322,18; K 102, S. 769,12), dagegen untersagt, sich selbst das Urteil zu sprechen (K 8, S. 79,31f.; vgl. auch Anm. 133). Allg. dazu siehe Heinemann [Anm. 11]. Vgl. die Formel ferner in K 10, S. 98,21f.; K 18, S. 158,13f.; K 27, S. 233,7–9; K 42, S. 321,1f.; K 51, S. 389,25,33; K 52, S. 392,12; K 72, S. 626,12. [. . .] / Ob iemant an eren wer beschwert / Oder was er het für zu clagen, / Das sol er dem richter hie furtragen. / Wann er dann munt hört wider munt, / Es sei man, frawen, fremd oder kunt, / So sol er den entscheiden rechtlich und eben / Nach anklage und nach antwort geben (K 40, S. 305,8–14). Vgl. ferner Wuttke Nr. 4 (= K 24), V. 7 (siehe aber V. 8); K 18, S. 154,23. Zum Beispiel: Herr richter, pflegt weisheit mit witzen (K 10, S. 98,6). Vgl. ferner K 18, S. 154,20f.; K 40, S. 305,6f.; K 41, S. 314,5; Wuttke Nr. 1 (= K 73), V. 37. Herr der richter weis und wol gelart (K 87, S. 704,12). Daher hat der Kläger dem Richter zu verstehen zu geben, dass er seine Sache rechtmäßig vorträgt, z. B.: Der sol es dem richter für tragen / Mit solcher form, das er verstee, / Das er mit warhait ümb gee (K 88, S. 709,9–10 ∼ K 102, S. 769,10–12); vgl. ferner K 41, S. 314,8 f. Zum Rechtsterminus mit warheit vgl. Deutsches Wörterbuch, hg. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, 33 Bde., München 1991 [Nachdr. der Erstausg. Leipzig 1854–1971], im Folgenden ‘DWb’, hier Bd. 27, Sp. 897f. Zum Beispiel: Hört das der richter an seiner clag / So hilft er im, als ferr er mag (K 88, S. 709,12f. ∼ K 102, S. 769,13f.). Vgl. ferner K 10, S. 98,30; K 41, S. 314,10f. – Zur strafbaren Rechtsverweigerung durch Richter und Gericht siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 415–417. Und richtet recht in kurzer zeit, / Seint doch der gewalt an euch leit (K 78, S. 643,1f.).

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gründe (z. B. Ehebruch) über Gebühr milde aus und gibt das Bestreben des Richters zu erkennen, den Streit zu schlichten und die Parteien – teils mittels Vergleichs – miteinander zu versöhnen (K 34, 40, 52, 61).68 Aber auch hier tritt der Richter in seiner Rechtsprechung unselbständig bzw. unangemessen auf. Wenn er im Stück ›Das Hofgericht‹ (K 40) statt den wegen Ehebruchs angeklagten Ehemann zu strafen, als das recht hie laut (S. 312,6), in seinem Urteil dem Grundsatz Die grösteu puoß ist nimmer thuon (S. 312,5)69 folgt, so lässt er zwar gemäß richterlicher Weisheit Gnade vor Recht ergehen (vgl. S. 311,20), gewährt genau genommen aber nur völlig autoritätslos die Bitte des Beklagten, ihm eben diese günstige Strafe aufzuerlegen (S. 311,20–25).70 Im Spiel ›Das Chorgericht I‹ (K 42), das in drei Fällen ebenfalls Ehebruch verhandelt, folgen die Richtersprüche den Regeln der verkehrten Ordnung insofern, als der Richter ein Urteil – in Form einer aussöhnenden rituellen Ehebestätigung – nur in dem Fall verhängt, in dem sich der Klagegrund als gegenstandslos erweist (S. 327,24–328,20), während er in den Fällen, in denen Klage und Gegenklage möglicherweise begründet sind, die Urteilsverkündung kurzerhand vertagt (S. 328,22–329,3). Zu den idealen Eigenschaften der Schöffen gehören gleichermaßen juristische Kenntnis,71 unvoreingenommene Beachtung beider Parteien72 und wohlüberlegte Urteilsfindung.73 Kennzeichnend für das Schöffenethos sind vor allem die zahlreichen nahezu topischen richterlichen Ermahnungen zur Gerechtigkeit. Im Spiel ›Ein Ehebruch-Prozess‹ (K 10),74 in dem ein Bauer seinen Knecht des Beischlafs mit seiner Frau bezichtigt, erfolgt eingangs die richterliche Warnung an die Schöffen vor Begünstigung einer Partei (S. 98,25f.): DER RICHTER SPRICHT ZUN SCHÖPFEN:

Ir schopfen, sitzt und merkt, was ich sag, Hort die widerred auf die klag! Die klag und antwort merkt gar eben Und tut ein rechtes urteil geben Oder man schneidt euch auß eur niern Und gibt sie der schon hausdiern. Tailt nicht nach gunst und lieb allein, Als lieb euch doch eur niern sein. 68

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Dieses richterliche Bestreben kumuliert in der Formel fride und suon machen (K 40, S. 311,23; S. 312,4; auch K 19, S. 166,27). Auch S. 311,22; vgl. ferner K 19, S. 166,26. Zum Sprichwort vgl. TPMA [Anm. 21], Bd. 2 s. v. BUSSE 1.4.4. Die beste Busse besteht darin, nicht mehr zu sündigen. Darauf deuten die wörtlichen Wiederholungen in der Richterrede hin (S. 311,22 f. = S. 312,4f.). Zur Interpretation des Spiels vgl. Bastian [Anm. 9], S. 81–84; Keller [Anm. 9], S. 91–93; anders Ragotzky [Anm. 9], S. 440f. Zum Beispiel: Wer zu dem rechten weiß und kan, / Der sei zu schopfen hie gepeten, / Urteil, als ie die weisen teten (K 52, S. 391,9–11). Zum Beispiel: K 10, S. 98,19f. (vgl. den nachstehenden Textabdruck); vgl. ferner K 72, S. 626,12. Zum Beispiel: Daruemb veellt yr ain urtayl recht und wolbedacht! (Wuttke Nr. 1 [= K 73], V. 46). Eine Analyse des Spiels bietet Krohn [Anm. 30], S. 224–227.

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Was ist dein klag, Fritz Weinschlunt? Das thu uns hie mit worten kunt Und leg dein spruch warlichen dar! Man sol dir do rechts helfen zwar (S. 98,18–30).

Im Falle eines unrechtmäßig vorgeschlagenen Urteils droht Sanktion – in fastnachttypischem Stil in Form von Kastration. Hierdurch wird der zunächst erweckte Eindruck, es handele sich bei der vom Richter geäußerten Ermahnung um eine ernsthaft und regelgerecht erfolgende Wahrnehmung seiner Amtspflichten,75 in sein Gegenteil verkehrt; dies umso mehr, als der Richter im späteren Prozessverlauf bei der Aufforderung an jeden einzelnen Schöffen, er möge nun sein Urteil sprechen, erneut droht, bei unrechtmäßiger Urteilsfindung die Hoden (niern) ausschneiden zu lassen (S. 98,22f.).76 Die nur vordergründig ernst gemeinte Ermahnung entpuppt sich als willkommener Anlass, einer Gewaltvorstellung durch ihre wiederholte Einbindung ein Witzmoment beizugeben, das während des gesamten Prozessverlaufs nicht zuletzt dadurch präsent gehalten wird, dass einer der Schöffen, welche ausnahmslos Kastration, Extraktion oder Schändung der Genitalien als Urteil für den Ehebrecher vorschlagen,77 seinerseits urteilt, dem Ehebrecher die niern auszuschneiden und sie ihm gebraten vorzusetzen.78 Indem Kastration als Strafmaß für den Angeklagten eingeführt79 und als Strafandrohung für die Schöffen im Falle der Vernachlässigung ihrer Pflichten festgesetzt wird und insgesamt das zentrale Moment bildet, auf das hin nahezu jede Redepartie zuläuft, bietet das Spiel K 10 nichts anderes als die Möglichkeit zur immer wieder neuen Verbalisierung des Kastrations- bzw. Extraktionsgedankens verbunden mit der weiteren Möglichkeit, vermittels Sprache das Spektrum einschlägiger Penis-Metaphern lustvoll zu entfalten. 75

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An die Wahrnehmung dieser richterlichen Pflicht appelliert zuvor bereits einer der Gerichtsbüttel, welcher dem Richter den Rechtsfall vorträgt: Herr richter, pflegt weisheit mit witzen / Und heißt eur schopfen zu euch sitzen, / Und das man recht urteil hie sprech (S. 98,6–8). Die [!] Rubengrebel von Erlestegen, / Ich thu dich des rechten fregen / Und thu ein rechtes urteil probiern, / Das du behalten mugst dein niern (S. 99,32–100,2); vgl. ferner S. 100,14–20. Gemäß fastnachtspieltypischer Obszönität geht damit die Entfaltung metaphorischer Vorstellungen einher, den Penis verschiedenartig als Werkzeug zu nutzen: beispielsweise als rurstecken einer Mühle, als seupesen für Schweinemist, als nagel an der Schließvorrichtung einer Tür, vgl. S. 100,10–13; S. 101,3–7,15–18,27–29. Allgemein zur Verwendung von Penis-Metaphern im Nürnberger Fastnachtspiel siehe Johannes Müller, Schwert und Scheide. Der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Bern [usw.] 1988 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 2), S. 82–87. Vgl. S. 100,21–31. Im Spiel setzt bereits eingangs der Büttel die Schändung der Genitalien als Strafmaß fest: Darumb so ist im (sc. dem Angeklagten) furgepoten / Bei solcher puß und bei den knoten, / Die im zwischen nabel und knie hangen / An seiner langen wasserstangen (S. 98,14–17). Neben den Schöffen nimmt auch der Kläger darauf Bezug (vgl. S. 99,11–16; Keller [Anm. 2] Bd. 1, S. 99, erwägt zu Recht, dass es sich bei diesen Versen um die Rede des Richters handelt). Allgemein zum Motiv der Kastration als Strafmaßes für Ehebruch siehe Susan Tuchel, Kastration im Mittelalter, Düsseldorf 1998 (Studia humaniora 30), bes. S. 104f. Beispielhaft durchgeführt ist dies im Spiel K 18, das seinen Titel nach dem Strafmaß, dem Abhauen des Penis (vgl. S. 155,5–8), erhalten hat: Ein spil von dem einliften finger (S. 154,1).

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Weitere Stücke des Fastnachtspielcorpus belegen, dass die Verknüpfung der richterlichen Ermahnung mit der Androhung obszöner Gewalt in einem Gerichtsspiel mit Ehethematik erwartbar ist. Im Spiel ›Die karge Bauernhochzeit‹ (K 104), in dem mehrere Bauern einen weiteren anklagen, auf seiner Hochzeit nicht für die Bewirtung der Gäste gesorgt zu haben, und u. a. offen legen, dass er von seiner Braut mit einem Trick zur Heirat gezwungen worden ist (S. 783,24–31), ermahnt zunächst auch hier wieder der Richter den ersten Schöffen zum einen, ohne Hinterlist zu urteilen (Gib urtail reht on als gefer), und zum anderen, sich nicht von Schmeicheleien (ornkrauen) beeindrucken zu lassen. Im Falle, dass sich der Schöffe dennoch beeinflussen lässt, droht hier ebenfalls die Penis-Extraktion: DER ACHTT, RICHTER:

Hör, Eberspis von Erleinstegen, Ich thu dich der urtail fregen. Ich peut dir hie pei deim preller, Gib urtail reht on als gefer Und keer dich auch an kain ornkrauen! Des wirts mait würt dir süst deinn preller ab hauen (S. 785,6–12).

Auch dem zweiten Schöffen empfiehlt der Richter unter Androhung, die Genitalien zu schänden, sich nicht von Gunst oder Missgunst leiten zu lassen (S. 786,3f.); dabei fällt die analoge Struktur auf: DER ZEHENT, RICHTER: Von Schnigling Pirn Eberlein, Nu setz auch reht di urtail dein! Das peut ich dir pei deiner stauden, Die dich gar oft und dick macht schnauden, Und urtail recht on neid und gunst, Es muß sunst dein stauden in der kue prunst (S. 785,30–786,4).80

Die Häufigkeit, mit der in den Fastnachtspielen die Figur des Richters die anwesenden Schöffen an eine gerechte und wohlbedachte Urteilsfindung erinnert, lässt beim Rezipienten den Eindruck entstehen, es gebe grundsätzlich Anlass, die Parteilichkeit der Schöffen anzunehmen. Nicht nur wird der Verdacht erweckt, eine vorurteilsfreie, an der gültigen Rechtsprechung ausgerichtete Urteilsfindung stehe prinzipiell in Zweifel. Falls dies bereits die Überzeugung des Rezipienten ist, so erhält sie dadurch vergewissernde Bestätigung, dass ein Schöffe im Spiel ›Die Unersättlichen‹ (K 29) selbst darauf hinweist, dass die Urteilssprüche unrecht (krumm)81 ausfallen: 80

81

Vgl. ähnlich die an einen weiteren Schöffen gerichtete Rede des Richters: [. . .] / Ich man dich pei deim frechen, / Das du scholt ain rehtß urtail sprechen (S. 786,25f.). Die in den Sprechpartien des Richters evozierte Metaphorik bleibt dadurch präsent und wird zugleich verstärkt, dass die Schöffen in ihren Voten einleitend auf sie Bezug nehmen: Ich ding wandel und reht, herr der richter, / Dem meinem unredenten preller. / Ob ich in versaumpt mit worten, / So legt in neur gefangen in der maid pforten! / Er hat sich allweg geflissen, / Das er manche dirn hat peschissen. / So setz ich das zu eim urtail, / [. . .] (S. 785,14–20); vgl. ferner S. 786,6–10. Zur Wortbedeutung vgl. DRW [Anm. 31] Bd. 8, Sp. 14 (diese Textstelle).

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Darumb wir fast die kopf zuprechen Und hie vil krummer urtail sprechen (S. 245,22f.).

Darüber hinaus geben die angeführten Beispiele deutlich zu erkennen, dass die Funktion der richterlichen Ermahnung vor allem anderen darin besteht, obszöne (Gewalt-) Vorstellungen vermittels sexueller Metaphorik zur Sprache zu bringen; nicht zuletzt aus diesem Moment heraus resultiert die Notwendigkeit der Richter-Appelle. Die Reduktion juristischer Kompetenz auf ihre Verknüpfung mit Sexualität und Obszönität gibt einen der Mechanismen zu erkennen, vermittels deren Juristenkritik im Rahmen des Fastnachtspiels literarisch wirksam wird: Der Typus des Juristen eignet sich für die literarische Parodie gerade deshalb, weil sich über ihn bequem der Konnex von Wissen bzw. Autorität einerseits und Sexualität andererseits herstellen lässt.82 Die persönliche Motivation der Schöffen wiederum beeinflusst entscheidend die Urteilsfindung im ›Prozess zwischen Fastnacht und Fastenzeit‹ (K 73; Wuttke Nr. 1). Im Stück klagt die personifizierte Fastnacht die ebenfalls personifizierte Fastenzeit an, ihr großen Schaden zugefügt zu haben, da zu Beginn der Fastenzeit reichlich Sülze, Krapfen und Huhn übriggeblieben seien, die man bei einem Fortdauern der Fastnachtstage hätte essen können. Die Fastenzeit weist den Vorwurf zurück mit der Gegenklage, die Fastnacht habe die Menschen toll gemacht; ein Andauern dieses närrischen Zustandes das ganze Jahr hindurch werde die Menschen um Haut und Haar bringen (V. 39–45). Obwohl der Richter hier ebenfalls die Schöffen auffordert, ihr Urteil über diesen Streitfall recht und wolbedacht (V. 46) zu fällen, hegen die voreingenommenen Schöffen grossen has (V. 74) gegenüber der Fastenzeit, da sie sich nun nicht mehr dem Fastnachtsvergnügen hingeben könnten, sondern beichten und die Frühmesse besuchen müssten. Statt der Verpflichtung nachzukommen, Rechtsprechung ihrer ureigenen Funktion gemäß auszuführen, nach der gerade Recht die Rache ersetzen soll, dominiert bei den Schöffen der Wunsch, an der Fastenzeit Rache zu nehmen (bes. V. 48, 65): D e r e r s t s c h oe p f f Was rechtz schol ich darue mb sprechen? Ich wolt mich selber gern an der Faßten rechen. Ich thar nu nymer nach den krapffen gan Und muß nun sein ain gaystlich man. e e Sy nott mich, das ich muß peichten und pussen e e Und unter dy antlas gen mit meinn fussen Und muß des morgens frue auff stee n Und zu frue meß und zu predig gee n. Dasselb thut mir nit sanfft und wol. Darue mb eur jeder gedencken schol, Wie wir finden einen sin, Das die Faßt von uns mue st weichen hin.

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Den Zusammenhang des ganz ähnlich gelagerten Aspekts »Verschränkung von Gelehrsamkeit und Sexualität« mit parodistischer Intention zeigt für das Fastnachtspiel Ridder [Anm. 56], S. 405 (Zitat ebd.), auf.

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D e r a n d e r s c h oe p f f Ich wolt auch gern gedencken, Wie wir dy Faßtt moe chten versencken. Ir speis ist mir doch gar unmer, Zwyfel, huczel und oe l machtt mir meyn glyder swer. Darue mb so thar ich kain urtayl sprechen, Ich wolt mich selber gern an ir rechen, Das ich nit ayr thar essen zu disen zeyten Und muß auf dy Ostern peyten (Wuttke Nr. 1, V. 47–66).

Wie der zweite Schöffe, der infolge der Fastenspeisen angeblich zu matt ist, um ein Urteil zu sprechen, sehen sich auch die übrigen Schöffen aufgrund absurder Ausreden nicht in der Lage, ein Urteil zu fällen. Mehrfach entziehen sie sich der Verantwortung, unvoreingenommen, wie es ihnen zukäme, ein Urteil zu finden, und reichen stattdessen diese Aufgabe an den nächsten weiter (V. 73f.; 80–82). Der letzte Schöffe, der zugleich Ausschreierfunktion übernimmt, schlägt in Erwartung der verheißungsvollen Osterzeit sogar vor, die Verhandlung bis dahin zu vertagen – offensichtlich die einzige Lösung für das Problem der »unmögliche[n] Entscheidung gegen die Fastenzeit«:83 e e Der funfft schopf e Nu horet zu, was ich euch sag! Wir wollen auff schyeben dise clag, Bis uns die Ostern her wider kumen, Die gibt uns, was uns dy Vaßt hat genumen. [. . .] (V. 83–94)

Die Funktion der richterlichen Ermahnungen ist damit offensichtlich: Zum einen und wesentlich geben sie das juristisch-ethische Niveau zu erkennen, aufgrund dessen die Schöffen angehalten sind, gerecht, unparteiisch, wohlbedacht und ohne Hinterlist zu urteilen und sich dabei weder von Gunst oder Missgunst noch von Schmeicheleien leiten zu lassen. Da die Art der Straffindung deutlich macht, dass den Vorgaben des Richters in der Regel nicht Folge geleistet wird, dienen diese der Figurenzeichnung des nicht neutralen, weil beeinflussbaren und parteinehmenden Schöffen. Zum anderen sind die richterlichen Appelle Mittel, die Figurenzeichnung selbst wiederum mit den metaphorischen Möglichkeiten fastnächtlicher Obszönität zu verknüpfen und die Art der angedrohten Sanktion bei Nichtbefolgen des Schöffenethos als Gelegenheit zu derbem Witz zu nutzen. Im Fastnachtspiel erscheinen somit Schöffen als Personen, die trotz eingehender richterlicher Ermahnung zur unvoreingenommenen und sorgfältig abgewogenen Urteilsempfehlung aus überwiegend rein persönlichen Motiven –

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Glier [Anm. 9], S. 561. Die Interpretation des Spiels in Bezug auf die Abhängigkeit seiner Aufführungssituation vom Kirchenjahr diskutieren dies., S. 558–561; Krohn [Anm. 30], S. 102–105; Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky, Itlicher zeit tut man ir recht. Zu Recht und Funktion der Fastnacht aus der Sicht Nürnberger Spiele des 15. Jahrhunderts, in: HansJoachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 207–218, hier S. 212–218.

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Hass, Rache, Fresslust – urteilen bzw. eben nicht urteilen oder gar den Strafvollzug ohne vorheriges richterliches Urteil empfehlen.84 Das zuletzt behandelte Textbeispiel führt ein weiteres Merkmal der negativen Darstellung gerichtlicher Personen vor Augen: die F o r m e n d e r g e r i c h t l i c h e n P r o z e s s f ü h r u n g ,85 im Einzelnen das Aufschieben des Urteils und den kurzen Prozess. Im eingangs vorgestellten Gerichtsspiel ›Rumpold und Mareth‹ (Wuttke Nr. 11) bittet Rumpolds Verteidiger nach Anhörung der Klage, gemäß gerichtlicher Praxis die Klageschrift (libell) ausgehändigt zu bekommen, um mittels gleichartiger Verteidigung(sschrift) den Prozess an einem anderen Tag fortzusetzen (V. 217): P r i m u s p r o c u r a t o r ad officialem Wirdiger herr, glert und weis, Ir vernempt die sach mit fleis Und merckht auch woll die ancklag. Nu pit ich umb ainen andern tag; Ein libell soll man uns geben, So mugen wir rechte antburt gebn (V. 214–219).

Der Richter lehnt jedoch einen förmlichen, in seinen Einzelterminen schriftlich dokumentierten und daher mitunter langwierigen Prozessverlauf86 mit dem Hinweis auf die Mittellosigkeit der beiden Parteien ab, welche ein solch kostspieliges Verfahren nicht tragen könnten: O f f i c i a l i s dicit Das las ich nit an gen, Dan es wurd zu vill gsten; Das vermechtn nit die armen leut. [. . .] (V. 220–227)

Obwohl das geplante Vorgehen des Verteidigers Rumpolds das Regelsystem des italienisch-kanonischen Gerichtsprozesses genau einhält, erwecken die Worte des Richters den Eindruck, Rumpolds Verteidiger beabsichtige aus taktischen Gründen, den Prozess zu verschleppen. Demgegenüber scheint im Großteil der Nürnberger Gerichtsspiele der prinzipiell mangelnde Wille zu herrschen, die Urteilsfindung abzuschließen und den Prozess überhaupt zu seinem Ende zu bringen. Im Spiel ›Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit‹ (K 72) sehen sich die Schöffen, hier allesamt Ratsherren, fadenscheinigen Gründen zufolge nicht in der Lage, ein Urteil zu sprechen. Einige schlagen daher ganz konkret vor, die Entscheidung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zu verschieben.

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Den sol man an alles urteil strafen (K 18, S. 157,35). Wohl nicht gemeint ist hier die vereinfachte Verfahrensform des ‘Richtens ohne Urteil’, in dem das richterliche Ge- oder Verbot ohne Mitwirkung der Schöffen erfolgte, vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1032f. Allgemein dazu siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1551–1563. Vgl. dazu auch Trauden [Anm. 2], S. 335. Allgemein zur Prozessverschleppung (v. a. infolge stattgegebener Fristverlängerungsanträge) siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 64–70.

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Der erste Ratsherr verweigert deshalb ein Urteil, weil es ihm als ungerecht erscheint, dass notwendigerweise eine Partei unterliegt: DER ERST RATHERR: Ich hab die Fasnacht und die Fast wol vernumen, Wie sie paide für recht sein kumen. Wir künnen in hart sprechen ain recht, Das sie paide bedunkt schlecht. Es muß ie ir ains unterligen. Mich dunkt das pest der urteil iezund geswigen. Ich scheub die urtail sechs wochen, Die weil wirt manchem ai sein kopf zuprochen (S. 625,13–21).

Berücksichtigt man, dass es sich bei Vers 625,21 um eine Anspielung auf den Verstoß gegen das Fastengebot handeln kann – Eier sind in der Fastenzeit verboten87 –, so lässt sich der Zeitraum von sechs Wochen, um welchen die Urteilsfindung verschoben werden soll (S. 625,20), auf die Dauer der Fastenzeit beziehen,88 und das Motiv des Urteilaufschiebens in diesem Fall eng an die Fastnachtsthematik binden. Nicht weniger frappierend ist der Grund, den der zweite Ratsherr für seinen Vorschlag, das Urteil aufzuschieben, benennt: Statt den Prozess zu einem Ende zu bringen, empfiehlt er, den kulinarischen Annehmlichkeiten eines Schlachtfestes zu frönen: DER ANDER RATHERR: Ich sprich es wol auf meinen ait, Und wer es aller werlt lait, Man schol disem rechten ainn schub geben, Das wirt peden tail eben; Dann an der flaischgassen wirt schier ain groß plutvergießen, Des wöll wir, ob got wil, all wol genießen (S. 625,22–28).

Auch der dritte Ratsherr sieht für sich im Verschieben des Urteils die einzige Möglichkeit, dem Rat seines Vaters nachzukommen, stets alles zum Besten zu wenden (S. 625,31). Mit dem Monat Mai und seiner fruchtbringenden Eigenschaft wählt dieser Ratsherr als neuen Entscheidungstermin ebenfalls einen Zeitpunkt, an dem der Antagonismus der Extreme Überfluss und Entbehrung zwischen Fastnacht und Fastenzeit seine Aktualität verloren haben und gerade nicht mehr zur Disposition stehen wird:89

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Vgl. Werner Mezger, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanz 1991 (Konstanzer Bibliothek 5), S. 16, zum Spiel K 72 S. 469. Zur möglichen »Aufführungszeit« des Spiels vgl. Glier [Anm. 9], S. 559 mit Anm. 59. Glier begründet die Unmöglichkeit, den Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit durch ein Urteil beizulegen, mit Bezug auf das Kirchenjahr: »[. . .] der Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit ist ja aus der Perspektive eines Kirchenjahres schon von vornherein entschieden, muß aber – im Ablauf der Jahre betrachtet – immer unentschieden bleiben« (S. 559). Vgl. in diesem Spiel ferner S. 626,12–18; S. 627,19f.

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Rebekka Nöcker DER DRIT RATHERR: Mich begund mein vater ie zu leern, Ich scholt alle dink zum pesten keern: So woll wir schieben dise dink, Unz ain frucht die andern prinkt, Und wollen darümb nit vast streiten, Wir wöllen des meien damit erpeiten (S. 625,29–626,3).

Die Komik dieses Gerichtsspiels wird vor allem dadurch evoziert, dass die Verweigerung des Rechtsentscheids in offensichtlicher Diskrepanz zu dem eingangs vorgetragenen Wunsch der Klägerpartei danach steht, dass der Prozess zu einem Abschluss gebracht wird (ain entlich reht besitzen; S. 624,7).90 Im Spiel ›Die verklagten Ehemänner‹ (K 102), in dem drei Frauen ihre Ehemänner des nächtlichen Fortbleibens anklagen, wählt der Richter selbst die Lösung, das Urteil aufzuschieben. Statt nach der erfolgten Anhörung von Rede und Gegenrede – Schöffen treten nicht auf – ein Urteil zu verkünden, beraumt er einen vierzehntägigen Aufschub an, innerhalb dessen das Urteil gefunden werden soll. Dabei stellt er den Frauen in Aussicht, an dem späteren Termin erneut ihre Klage vortragen zu können: DER OFFICIAL: [. . .] Das hat man alls ins rehtpuch geschrieben. Darümb so merkt, was ich euch sag! Von heut über vierzehen tag So kumpt herwider mit euren sprüchen! Die weil so wirt man die urtail süchen, So schült ir eur clag denn wider für tragen, Die ir zu den mannen habt zu clagen. [. . .] (S. 772,18–24)

In Bezug auf die (Ehe-)Gerichtsspiele91 ist der Grund für die Vertagung, durch die der Ehebruch als Vergehen des Mannes letztlich bagatellisiert werde, und für das milde Urteil, das dazu diene, den ehelichen Frieden wiederherzustellen, in Folgendem gesehen worden: Die Spiele präsentierten Ehebruch, hinsichtlich dessen seit dem 14. Jahrhundert Männer und Frauen in der weltlichen Gerichtsbarkeit gleichgestellt waren,92 gerade nicht als strafwürdiges Vergehen, sondern rekurrierten in seiner Bewertung auf ältere Rechtsnormen, die Ehebruch nur als Vergehen der Ehefrau kennen.93 Vor diesem Hintergrund wird die Funktion der Gerichtsspiele mit Ehethematik einerseits 90

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Auf dieselbe Weise und mit weitgehend analogem Wortlaut wird die komische Wirkung des oben behandelten Spiels K 73 erzielt, in dem das Judikat entgegen der vom Richter geäußerten Aufforderung, den Prozess zu Ende zu bringen, aufgeschoben wird: Wir schueln pflegen guter wiczen / Und sueln ir ain entlich recht besiczen; / Wann sie clagt, die Faßtt hab sie verdrungen, [. . .] (Wuttke Nr. 1 [= K 73], V. 37–39). Vgl. Bastian [Anm. 9]; Ragotzky [Anm. 9]; Keller [Anm. 9]. Vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 837f. Vgl. auch Bastian [Anm. 9], S. 84; Keller [Anm. 9], S. 93. Vgl. Bastian [Anm. 9], S. 84; Keller [Anm. 9], S. 92f.

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damit erklärt, dass sie das Lachen der fastnächtlichen Männergesellschaft über die betrogene Frau ermöglichen würden, hinter dem der Protest gegen die Begrenzung männlicher Vorrechte und zugleich der Wunsch nach Restitution alter Rechtsnormen zum Vorschein komme, was auf die Rechtfertigung außerehelicher sexueller Beziehungen ziele.94 Andererseits ist die These aufgestellt worden, dass die Spiele weniger die Ehe als Institution diskutieren, sondern das mit der ehelichen Gemeinschaft einhergehende Recht auf den Körper des anderen demonstrieren.95 Das Motiv des Urteil-Aufschiebens96 wird, verbunden mit der Appellation als beliebtem Mittel, Prozesse zu verschleppen,97 nicht zuletzt auch genutzt, um aus der Spielwirklichkeit in die Wirklichkeit des Fastnachtgeschehens zurückzuführen bzw. diese üblicherweise von der Ausschreierstrophe übernommene Funktion vorzubereiten. Diesen Mechanismus kann das bereits erörterte Spiel ›Ein Ehebruch-Prozess‹ (K 10) demonstrieren: DER RICHTER SPRICHT:

Hort auf, kein urteil gebt heut mer! Der Molkenfraß von dannen ker! Das recht wil ich verrer schieben. Sein appellacion hat man eingeschrieben An das hofgericht zum ploben stern, Do wil er euch sein des rechten gern. Oder wolt ir sein nicht erwinden, So wil er sich auf dem seumarkt lassen finden, Bei Kutrolfs truhen unter den dechern, Do sein gar gut fursprechen; Doselbst der Molkenfroß will rechten, Wann er bei in was erst nechten (S. 102,1–13).

Der Richter, der die Urteilsfindung der Schöffen abrupt abbricht (S. 102,2), unterlässt es, über den angeklagten Bauern Molkenfraß einen Schuldspruch zu verkünden. Stattdessen beabsichtigt er, nicht nur den Prozess bis auf unbestimmte Zeit (verrer) aus-

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Vgl. Bastian [Anm. 9], S. 87. Vgl. Ragotzky [Anm. 9], S. 443. Vgl. im Spielcorpus z. B. die Wendungen ‘das Urteil schieben’ oder ‘die Sache schieben’ (DWb [Anm. 65], Bd. 14, Sp. 2670; DRW [Anm. 31] Bd. 1, Sp. 935f.; 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 430): z. B. Doch schol das urtail sein geschoben (K 104, S. 785,26); Geschoben hat man all eur sach (K 78, S. 647,16); Das recht wil ich verrer schieben (K 10, S. 102,4); vgl. ferner: Und laßt die urteil itzo anstan (K 8, S. 87,15); Die sach ist itzund angestellt (K 18, S. 159,15). Das Aufschieben des Urteils kann mit der (strafbaren) Rechtsverweigerung von Seiten des Richters oder der Urteilsfinder einhergehen, ferner damit, dass das Unvermögen der Schöffen zu einem Urteilsvorschlag den Rechtszug erfordert oder dass das Verfahren bis zu einem Urteil eines höheren Gerichts ausgesetzt wird, vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 415, 430–443; Bd. 5, 1998, Sp. 621; Röhrich [Anm. 7] Bd. 1, S. 141. Zur Appellation siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 196–200, u. 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, Sp. 268–271; zu der durch sie bedingten Prozessverschleppung siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1556.

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zusetzen (S. 102,4), sondern auch die Anfechtung des Urteils dem hofgericht zum ploben stern (S. 102,5f.) zu überantworten, womit er sie mit anderen Worten in ein Wirtshaus verlagert, bei dem es sich wohl um eine Anspielung auf eine Nürnberger Lokalität handelt, die unter diesem Namen belegt ist.98 Falls jemandem – statt im Wirtshaus zu zechen – dennoch daran gelegen sei, den Prozess fortzusetzen, der möge Molkenfraß auf dem Schweinemarkt suchen, wo er prozessieren und gleich mehrere Fürsprecher, die sich an dem Inhalt bestimmter Trinkgefäße gütlich tun, aufbieten werde (S. 102,8–12). Die Wendung hofgericht zum ploben stern verknüpft gleichsam antithetisch die höfisch-adelige Sphäre mit der Szenerie eines Wirtshauses. Dies allein genügt dem komischen Effekt. Er verstärkt sich, wenn man berücksichtigt, dass sich in Nürnberg das königliche Hofgericht die Appellation zumindest vorbehalten hatte, wiewohl seit Mitte des 15. Jahrhunderts in der Regel der Rat der Stadt Berufungsinstanz war.99 Die Wendung leitet zugleich zur Ausschreierstrophe über, die ihrerseits ankündigt, dass die Spieltruppe weiterziehen wird.100 Der regelmäßigen Bereitschaft des Richters und der Schöffen, das Urteil aufzuschieben und die Entscheidung zu vertagen oder einem anderen Gericht zu übertragen, geht gelegentlich die demonstrativ geäußerte, jedoch völlig inkonsequent verfolgte Absicht voraus, einen kurzen Prozessverlauf anzustreben. Dabei ist ihr nicht immer eindeutig zu entnehmen, ob der sprichwörtliche kurze Prozess, d. h. die Entscheidung in einem Schnellverfahren,101 anvisiert wird, oder ob es sich um die in spätmittelalterlichen Prozessformen nicht ungewöhnliche Mahnung zur Kürze handelt, die angesichts drohender langwieriger Verhandlungsführung nicht selten erforderlich war. Nicht zuletzt aus der Widersprüchlichkeit beider Momente – Absicht zur Kürze und Prozessverschleppung – resultiert die Komik des Gerichtsspiels ›Das un98

Unter dem Namen ‘Zum blauen Stern’ (vgl. auch K 98, S. 753,22) scheint es in Nürnberg eine Wirtschaft gegeben zu haben; der Hausname ist 1490 belegt, vgl. Michael Diefenbacher u. Rudolf Endres (Hgg.), Stadtlexikon Nürnberg, 2., verb. Aufl., Nürnberg 2000, S. 1041. Zur Stelle siehe auch Krohn [Anm. 30], S. 226f. 99 Vgl. Horst Espig, Das Nürnberger Bauerngericht. Eine Darstellung seiner Geschichte und seiner Organisation, Würzburg 1937, S. 37; Rudolf Schielein, Die Entwicklung der Gerichtsverfassung in der Reichsstadt Nürnberg vor allem vom 15. bis 18. Jahrhundert, Diss. masch. Erlangen 1952, S. 22, 43. 100 Die spielbeschließende und zugleich zur Wirklichkeit des Fastnachtgeschehens überleitende Funktion des Urteilaufschiebens ist häufiger anzutreffen: Die (fiktive) Verlagerung des Prozessortes in ein Wirtshaus findet sich ferner in K 42 (vgl. S. 328,22–26; zur Stelle Catholy [Anm. 9], S. 199); in K 18 setzt der letzte Schöffe mit Ausschreiergestus fest, dass das Urteil ein Jahr lang, nämlich bis die Spieltruppe (zur Fastnacht) zurückkehren wird, aufgeschoben ist (vgl. S. 159,13–28; zur Stelle Catholy [Anm. 9], S. 201); Doch schol das urteil sein geschoben (S. 785,26) lautet eines der Schöffenvoten in K 104, und der Ausschreier fordert unter der Begründung, dass die Spieltruppe weiterziehen muss, dazu auf, die Gerichtsverhandlung abzubrechen (vgl. S. 788,15–24); vgl. ähnlich auch die Konzeption des Spielschlusses in K 67 (S. 591,20–33) und K 78 (S. 647,16–21). 101 Als Abweichung vom gängigen Prozessverlauf bezweckte es der summarische Prozess, einer Prozessverschleppung entgegenzuwirken, vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 5, 1998, Sp. 79f.; ferner Bd. 2, 1987, 1319f.; Bd. 4, 1990, Sp. 56f.

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gleiche Paar‹ (K 27). In ihm klagt ein Ehemann seine Frau vor Gericht an, ihn getäuscht zu haben: Das brave Mädchen, das er geheiratet hat, habe sich bald als rechter Schalk entpuppt. Wenn der Praecursor zu Prozessbeginn ganz unverblümt die Absicht des Gerichts mitteilt, kurzen Prozess machen zu wollen,102 so steht dies in komischem Gegensatz zu der später folgenden, eine Prozessverschleppung bedeutenden Urteilsverschiebung; a posteriori scheint hier beiden Formen der Prozessführung die Absicht zur Arbeitsvermeidung gemeinsam. Nachdem der Ehemann seine Klage vorgebracht hat und gleich mehrere Fürsprecher die nicht anwesende Ehefrau verteidigt haben, entschließt sich der Richter dazu, einen neuen Verhandlungstermin anzusetzen, um sie selbst zu Wort kommen zu lassen: DER RICHTER DICIT: Ich urteil hie und sprich zu recht: Sol ich die sach nu machen schlecht, So muß ich horen munt gen munt. Darumb thu man dem weib auch kunt, Das sie uber acht tag kumen baid! So geit man ir irs kriegs bescheid. Als ich verste ir baider mut, Ich forcht, die e thu nimmer gut (S. 236,22–30).

Der Richter bestellt die Frau zusammen mit ihrem Mann zur persönlichen Anhörung auf acht Tage später ein, um im Anschluss daran das Urteil fällen zu wollen – eine gerechte Maßnahme, so scheint es angesichts der zur Begründung vorgebrachten Rechtsformel munt gen munt.103 Unter dem Vorzeichen der zu Verhandlungsbeginn verkündeten Absicht, kurzen Prozess machen zu wollen, erhält die Begründung jedoch wenig uneigennützigen Charakter.104 Gelegentlich unterbleibt das Motiv des Urteil-Aufschiebens aber auch deshalb, weil das Spiel bereits mit der Reaktion des Klägers eine konterkarierende Wendung erfährt (K 40, 87, 88). Torpediert wird die Darstellung des handlungsunwilligen Juristen in diesen Fällen insofern, als die unerwartete Reaktion des Klägers oder Beklagten nicht nur das Unvermögen seiner Urteilsfindung und -verkündung, sondern auch seine völlige Handlungsunfähigkeit herausstellt. Tatsächlich geht es in diesen Spielen der Partei des Klägers bzw. Beklagten gar nicht um eine juristische Lösung des Problems. 102

Tret her, laßt horen euer sach, / Das man das recht dest kurzer mach! (S. 234,10f.). Auch K 40, S. 305,11 (vgl. Anm. 62). Mit munt im Sinne von ‘Aussage vor Gericht’ bezeichnet die Rechtsformel munt gegen munt bzw. munt wider munt in Zusammenhang mit gerichtlichen Vorladungen die persönliche Anwesenheit, vgl. DRW [Anm. 31] Bd. 9, Sp. 966f. 104 Im oben behandelten Spiel K 112 fordert der Richter selbst ganz unverhohlen zur Prozessverkürzung auf (S. 957,7f.) bzw. ermahnt, von Sauflust getrieben, die Schöffen zur Eile (S. 958,3f.; S. 958,32–959,1). Sowohl auf den Prozessverlauf als auch auf die Dauer der Aufführung kann die Wendung kurzer machen dagegen bezogen sein, wenn der Richter im Spiel K 51 seinem Urteil den folgenden Vorsatz anschließt: [. . .] Und sei hie mit die sach beschlossen. / Ob iemant wer gewest verdrossen, / Der wolls uns nit zum ergsten sachen. / Wir wollens zum nechsten kurzer machen (S. 389,35–390,1). 103

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Statt dessen nimmt sie die Rechtsprechung selbst in die Hand oder strebt jenseits davon ein günstiges Prozessergebnis an, so die Pseudostrafe (K 40: Der wegen Ehebruchs Angeklagte gibt dem Richter unter dem Anschein, das Strafrecht zu wahren, ein gegenüber der ihm rechtmäßig zustehenden rigorosen Strafe mildes Urteil vor), ferner das Recht auf Wiedervergeltung (K 88: Unter Nichtbeachtung der Schöffenurteile spricht sich ein Bauer, der den Ehebruch seiner Frau vor Gericht bringt, selbst das Recht auf Wiedervergeltung zu) sowie die Gelegenheit zu sexuellem Verkehr (K 87: Die klagenden Frauen bieten sich zum Dank dafür, dass das Strafmaß für Frauenverleumder diskutiert worden ist, dem Richter und den Schöffen an). In den Gerichtsspielen hinterlässt die allzu schnelle Bereitwilligkeit, den Prozess auszusetzen oder zu vertagen, besonders dann einen unbefriedigenden Eindruck, wenn nach wildem Schlagabtausch der Parteien die scheinbar auf den Kumulationspunkt der Urteilsverkündung hin aufgebaute Spannung sich dadurch ins Nichts auflöst, dass das Urteil nicht getroffen oder verschoben, jedenfalls offen gelassen wird. Im Genre des Fastnachtspiels und seiner Logik der verkehrten Welt erweist sich jedoch die Frage, welcher Partei das Recht zugesprochen wird, als ebenso unerheblich wie das Ausfallen des Schuldspruchs selbst. Zu ermitteln, welche Partei im Recht ist, oder Gerechtigkeit walten zu lassen, sind irrelevante Größen. Im Zentrum der Spiele stehen vielmehr die in aller Deutlichkeit dargebotenen grotesken Vorwürfe und Gegenvorwürfe der Parteien – bei denen eine gerechte Entscheidung ohnehin kaum möglich wäre –, die Mechanismen ihres Schlagabtausches sowie die auf Überbietung oder Variation und in ihrer drastischen Übertreibung und obszönen Derbheit auf den komischen Effekt hin angelegten Schöffenurteile:105 Wenn die Schöffen beispielsweise bei jedem Fall erneut die Naturalbuße verhängen oder ihre Unlust zur Urteilsfindung zu erkennen geben, dient das Moment der Wiederholung nicht zuletzt auch dazu, die Lächerlichkeit, der sie durch das Missverhältnis zur Würde ihres Amtes preisgegeben sind, zu steigern. Insofern gilt es, die These Eckehard Catholys zu modifizieren, der zufolge die Struktur der Gerichtsspiele allein auf den genretypischen Prinzip des offenen Schlusses ausgerichtet sei:106 Die »Entscheidungslosigkeit der Spiele« (S. 198) zeige mit aller Deutlichkeit, dass es sich um »ein bewußtes Formelement« (ebd.) handele, das gegen das auf eine Entscheidung zusteuernde Ver105

Mit Blick auf K 88 formuliert Strothmann [Anm. 1]: »Die starke Betonung der Schöffenverfassung ist leicht zu erklären: Neun Schöffen bedeuten ebenso viele Gelegenheiten zur Anbringung eines derben Scherzes [. . .] Unser Fastnachtspiel ist aber gerade darauf angewiesen, dass immer ein Schöffenspruch einen anderen an Witz überbietet [. . .] in der Aufzählung von zehn verschiedenen Strafen für Ehebrecher liegt ja gerade der Zweck des Spiels« (S. 8). Ähnlich bewertet Sachs [Anm. 2] die Funktion der Fälle und Voten: »Es geht dabei [sc. in den Gerichtsspielen] nie um Entscheidungen über Schuld oder Unschuld, es kommt zu keinem Prozess, denn das Gericht dient einzig dazu, im Tatbestand und in den Urteilssprüchen eine möglichst große Zahl von Zoten und grotesken Strafandrohungen unterzubringen« (S. 91). 106 Vgl. die Überlegungen zum offenen Schluss der Gerichtsszenen bei Catholy [Anm. 9], S. 198–205, und im Anschluss daran bei Krohn [Anm. 30], S. 101f. mit Anm. 96. Vgl. auch bereits Michels [Anm. 9], S. 198 Anm. 1.

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fahren gesetzt sei, welches jedem Prozess wesensmäßig anhaftet.107 Das Motiv des Urteil-Aufschiebens und die Entscheidungsunwilligkeit der Schöffen seien Mittel zum Zweck, einem »formale[n] Grundsatz« zu entsprechen, nach dem das Spiel über seinen offenen Schluss als Teil des größeren Spiels der Fastnachtswirklichkeit begreifbar gemacht werde.108 Der ausschließlich mit Blick auf strukturelle Aspekte erfolgten Bestimmung des Motivs ist der Befund entgegenzusetzen, dass die Schöffen selbst das juristische Mittel des Aufschubs für ihre Zwecke instrumentalisieren, indem sie unter fadenscheinigen Ausreden Gründe vorbringen, die den Prozess verschleppen helfen sollen, oder indem sie den Vertagungsvorschlag in zielgerichteter Absicht, z. B. im Hinblick auf das Buße-Vertrinken, formulieren. In seiner gerade auch inhaltlichen wie komischen Leistung, die über eine durchaus unverkennbare strukturelle Funktion hinausgeht, erweist sich das Motiv als geradezu konstitutiv für die Art der Urteilsvorschläge eines ganzen Spiels (K 72). Hier wie in weiteren Spielen, in denen das Moment der Gerichtsvertagung nicht lediglich den Spielschluss bildet oder dazu dient, diesen vorzubereiten, sondern in denen es die Grundlage der Urteilsfindung zahlreicher Schöffenvoten und damit auch das komische Potenzial eines Spiels bildet, lässt sich die Verwendung des Motivs als Möglichkeit verstehen, Vertreter des Gerichtswesens, neben dem Richter in erster Linie die Schöffen, in ihrer Kompetenz in Frage zu stellen und ihr Unvermögen zu demonstrieren. Das Motiv trägt wesentlich dazu bei, die beteiligten Schöffen und den Richter als träge, entscheidungsunfähig und willkürlich im Umgang mit den Parteien erscheinen zu lassen. Dies gelingt umso mehr durch die ironische Brechung, die dadurch entsteht, dass zu Spielbeginn ganz regelgerecht und einvernehmlich die Praxis, ain entlich reht machen zu wollen, als die akzeptierte Prozessform ausgerufen wird. 4. Elemente spätmittelalterlicher Rechtsorganisation im frühen Nürnberger Fastnachtspiel Die Darstellung des Rechtssystems und des Gerichtswesens, wie sie im Fastnachtspiel entworfen wird, lässt bei aller komischen Überzeichnung und allem nur bloßen Andeuten von Gerichtssituation und Prozessverlauf dennoch »erstaunliche Realitätsbezüge«109 hinsichtlich der Gegebenheiten des 15. Jahrhunderts erkennen. Beispielsweise findet sich die recht genaue Unterscheidung zwischen den verschiedenen Ge107

Vgl. Catholy [Anm. 9], S. 199. Catholy führt ferner aus: »Die offene Form des Reihenspiels würde empfindlich in Frage gestellt, wenn ein zugespitztes und endgültiges Urteil den Schluß eines solchen Stücks bildete« (S. 198). 108 Vgl. ebd., S. 202f. Glier [Anm. 9], S. 565 Anm. 70, hat deutlich gemacht, dass »Catholys generelle Behauptung«, dass kein einziges Gerichtsspiel seine Handlung bis zur Urteilsverkündung durchführt (vgl. Catholy [Anm. 9], S. 198, 202, siehe aber einschränkend S. 205 mit zwei Beispielen), »zumindest einzuschränken sei.« Ein Urteilsspruch erfolgt z. B. in K 34, 40, 52. Mit Ausnahme des Spiels ›Tanawäschel‹ (K 54) »[geht sonst keines] bis zur Konsequenz der Ausführung oder gar Hinrichtung« (Glier [Anm. 9], S. 565). 109 Holtorf [Anm. 9], S. 431. Vgl. auch Bastian [Anm. 9], S. 83; ten Venne [Anm. 2], S. 208.

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richtsformen und ihren Zuständigkeiten: Auch wenn die Gerichtsbarkeit in den meisten Spielen nicht näher bestimmt ist, deutet die Art der verhandelten Fälle überwiegend auf das gaistlich recht, das Chorgericht, hin, das zuallererst für den kanonischen Zivilprozess zuständig war und vor dem vornehmlich Ehe- und Familienangelegenheiten verhandelt wurden.110 Daneben nennen die Gerichtsspiele das Hofgericht, das höchste landesherrliche Gericht, das aber auch das Rechtsorgan der niederen Gerichtsbarkeit in der Grundherrschaft bezeichnete,111 ferner das Landgericht als das für eine Grafschaft zuständige Hochgericht112 sowie das Bauern- oder Rügegericht, das im grundherrlichen Auftrag einfachere Vergehen bäuerlicher Hintersassen ahndete.113 Die sich in die Reihen- bzw. Handlungsspielstruktur ideal einpassende Verhandlung mehrerer Streitfälle nacheinander war zudem Usus spätmittelalterlicher Niedergerichte. Für die Übernahme des gerichtstypischen Reglements in die Spiele hat die Forschung die Reminiszenz einer streng gehandhabten Regelung in Erwägung gezogen, der zufolge einfache Verfahrensfehler zu Prozessverlust führen konnten.114 So bittet im Spiel ›Frauenverleumder vor Gericht‹ (K 87) die Klägerpartei, ein Frauenkollektiv, den Richter vorschriftsmäßig um Erlaubnis, einen Fürsprecher wählen zu dürfen, der ihre Sache vor Gericht vorträgt.115 Seinen Grund hat dies wohl nicht zuletzt in der 110

Ein geistliches Gericht wird in den Spielen K 41 (ein gaistlich recht S. 314,6), K 87 (ein geistlich gericht S. 704,4; Hs. Kb [Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 76.3. Aug. 2o], vgl. Keller [Anm. 2], Bd. 3, S. 1520), K 102 (gaistlich recht S. 769,8) gehalten; entsprechend leitet auch der official als Vorsitzender eines geistlichen Gerichts die Verhandlung (K 42, 102). Im Spiel K 97, das in einem weiteren Sinne Ehethematik verhandelt, werden der Urteilsfindung die kanonischen Gesetzessammlungen bzw. die diesbezügliche rechtskommentierende Literatur zugrunde gelegt (In gaistlichen rechten man das list S. 749,12). Vgl. auch K 108, S. 853,22. – Zum Chorgericht vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1556f.; ten Venne [Anm. 2], S. 204. Ehe und Familie unterlagen im Mittelalter der geistlichen Jurisdiktion, vgl. Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 2: Das Kirchenrecht der abendländischen Christenheit 1055 bis 1517, 2., erw. Aufl., Wien [usw.] 1962, S. 302–337, 361–364; 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 837; 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, Sp. 1214f. 111 K 10, S. 102,6 (hofgericht zum ploben stern). Obwohl in K 40 [. . .] ritter und [. . .] knecht (S. 306,5) das Schöffenamt bekleiden, bezeichnet hier hofgericht (S. 305,6) nach Art des Streitfalls wohl ein Niedergericht. Um ein landesherrliches Hofgericht, an dem der König qua Amt Gerichtsherr seiner Untertanen ist, handelt es sich bei Spiel K 8 vom Erbstreit dreier Brüder. – Zum Hofgericht vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 2, 1978, Sp. 206–209. 112 Im Nürnberger Fastnachtspielcorpus ist die Bezeichnung lankgericht (K 88, S. 709,5) bezeugt, bei der es sich wohl um eine Parodie auf ‘Landgericht’ handelt, welche auf die Länge spätmittelalterlicher Rechtsverfahren anspielt. – Zum Landgericht vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 2, 1978, Sp. 1495–1501. 113 Vgl. K 112, S. 956,1 (pawrngericht); K 69, S. 609,1 (Der baurn rugvasnacht). – Zum Rügegericht vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1201–1205, zum Bauerngericht vgl. ebd. Bd. 1, 1971, Sp. 321, u. 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 470f., 1129. 114 Zu Rechtsformalismus und Formstrenge vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1163–1168, 1333. 115 S. 704,10–23 (hier ist der Rechtsbrauch vertreten, den Fürsprecher unmittelbar aus der Schöffenbank zu wählen). Das Spiel K 54 macht die Gewährung des Fürsprechers selbst zum Thema (S. 473,24–475,16). – Zum gerichtlichen Usus siehe 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1335–1337, vgl. auch Klibansky [Anm. 1], S. 46.

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verminderten Rechtsfähigkeit der Frau, die einen gerichtlichen Vertreter erforderte.116 Auf der älteren Praxis, der zufolge Frauen selbst nicht vor Gericht erschienen, beruht vielleicht auch das oben besprochene Spiel K 27, in dem mehrere Verteidiger für die nicht anwesende Ehefrau die Rede führen; der Richter fordert allerdings ihre Anwesenheit vor Gericht, um munt gen munt hören zu können. Nicht ohne formelle Aufforderung durch den Richter erfolgen zudem Klage117 und Verteidigung118 wie häufig die Urteilsfindung der Schöffen,119 welche zudem ihre Voten in rechtssprachliche Formeln einkleiden.120 Auch darüber hinaus geben die Spiele Bestimmungen des germanischen bzw. deutschen Prozessrechts zu erkennen, etwa, dass die Erhebung einer Klage ausschließlich vom Verletzten erfolgen konnte,121 dass das Urteil durch den Richter ‘erfragt’122 und ‘auf den/bei dem Eid’ gefunden123 wurde oder dass der Fürsprecher Recht verlangt zugunsten dessen, den er vertritt (wandel dingen).124 Stets entspricht das entworfene Gerichtsverfahren dem germanisch-fränkischen Prozess: Die Urteilsfindung erfolgt durch die Schöffen, von denen der Richter das Urteil ‘erfragt’ und es abschließend verkündet.125 Dabei musste das Urteil ausschließlich im Sitzen gefunden und verkündet werden.126 Mit dem Verlauf eines römisch-kanoni116

Vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 48f. Vgl. z. B. K 10, S. 98,27–30. Den Aufruf, die Klage vorzubringen, übernimmt in den Spielen gelegentlich auch der Büttel oder eine andere gerichtliche Person (z. B. K 18, S. 155,2–12). Sehr häufig aber ist der Aufruf in die Einschreierrede eingebunden, um in die Gerichtssituation einzuleiten (K 69, S. 609,12f.) oder als sog. ‘gesprochene Regieanweisung’ (dazu Linke, Die Gratwanderung des Spieleditors, in: Rolf Bergmann u. Kurt Gärtner [Hgg.], Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 16.–29. Juni. Plenumsreferate, unter Mitw. v. Volker Mertens, Ulrich Müller u. Anton Schwob, Tübingen 1993, S. 137–155, hier S. 138) zu fungieren (z. B. Nu tret her, wer hab zu clagen! K 18, S. 155,3; ferner K 54, S. 469,3; K 97, S. 746,12; Wuttke Nr. 4 [= K 24], V. 6). 118 Zum Beispiel K 61, S. 541,20f.; K 87, S. 704,14; K 104, S. 784,5–8; K 108, S. 852,2. Vgl. ferner K 97, S. 746,9. 119 Zum Beispiel K 61, S. 542,17f.; K 87, S. 705,20; K 88, S. 710,5–15. 120 Zum Beispiel K 69, S. 610,22, 611,26; K 72, S. 625,23; K 87, S. 705,31; S. 707,2. 121 Zum Beispiel K 40, S. 305,8–10; K 69, S. 609,10f.; K 87, S. 704,4f.; K 88, S. 709,7–9, K 97, S. 746,4–11; K 102, S. 769,9f.; K 112, S. 956,6–9. – Vgl. dazu 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1203. 122 Ich thu dich der urtail fregen (K 104, S. 785,8), vgl. z. B. auch K 10, S. 99,32; K 40, S. 306,6,17; K 41, S. 315,4f. – Vgl. dazu Klibansky [Anm. 1], S. 48f. 123 Zur Formel vgl. ebd., S. 48–50; DRW [Anm. 31] Bd. 1, Sp. 1495; Bd. 2, Sp. 1304. Einschränkend bleibt darauf hinzuweisen, dass es sich bei den betreffenden Belegen auch um bloße Beteuerungsformeln (DRW [Anm. 31] Bd. 2, Sp. 1306) handeln kann: Das ist das pest auf meinen ait (K 29, S. 245,20); Ich sprich es wol auf meinen ait (K 72, S. 625,23), vgl. auch K 67, S. 590,1. 124 Vgl. Klibansky [Anm. 1], S. 47; DRW [Anm. 31] 2, Sp. 952, 956. Im Nürnberger Fastnachtspiel wird die Formel in fastnächtlicher Obszönität von Schöffen zugunsten ihres prellers bzw. ihrer stauden angewandt, vgl. K 104, S. 785,14f.; S. 786,5f. 125 Vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1033–1040. 126 Vgl. z. B. das Stück ›Ein Ehebruch-Prozess‹ (K 10), in dem der Richter der Aufforderung des Gerichtsbüttels, den Schöffen anzuordnen, sich zu setzen (S. 98,6–8; vgl. Anm. 76), zu Beginn der Verhandlung nachkommt (Ir schopfen, sitzt und merkt, was ich sag; S. 98,19). Vgl. 117

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schen Zivilprozesses korrespondiert hingegen die dort übliche Vereidigung beider Parteien im Spiel ›Zeugenaussagen in einem Fall von Untreue‹ (K 61).127 In den Nürnberger Gerichtsspielen scheinen die Prozessstufen nur sehr unkonturiert auf; das ihnen zugrunde liegende Verfahren ist wohl das von ‘Klage’, ‘Antwort’, ‘Gegenrede’ und ‘Nachrede’.128 Hier gibt der Beklagte die Streiteinlassung insofern zu erkennen, als er erklärt, die vorgebrachte Klage verantwurten zu wollen.129 Relativ verfahrensgetreu ist dagegen im Sterzinger Fastnachtspiel von Rumpold und Mareth die litis contestatio ausgeführt,130 in der der Kläger seine zuvor schriftlich vorgebrachte Klage wiederholt, welche der Beklagte bestreiten muss, um seine Bereitschaft zum Rechtsstreit formal zu erklären.131 Die Spiele spiegeln in der Art ihrer Prozessstruktur nicht nur verschiedene mittelalterliche Rechtsbräuche wider, sie formulieren Rechtsgrundsätze, teils mithilfe etablierter Rechtssprichwörter, auch ganz explizit – beispielsweise das Recht auf Gehör, demzufolge in einem ordentlichen Verfahren beide Parteien angehört werden sollen, bevor ein Urteil gefällt wird,132 ferner, dass es nicht rechtmäßig ist, sich selbst sein Urteil zu sprechen,133 oder auch, dass die größte Strafe darin besteht, nicht mehr zu ferner K 18, S. 154,20 (Richter und schopfen, ir solt sitzen). – Zu dem Rechtsritual, das Privileg der Hoheit und »Ausdruck der erhöhten Stellung [. . .] in der Gerichtsgemeinde« ist, vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1679–1682, Zitat Sp. 1679. 127 S. 542,8–16. Im geistlichen Prozessverfahren wurde der Wahrheits- bzw. der Gefährdeeid geleistet, vgl. Trauden [Anm. 2], S. 355. Der Form nach findet er sich in K 61 wieder. 128 Allgemein zum Prozessverlauf am Nürnberger Stadtgericht, der auf diesen vier Stufen basiert, vgl. Isenmann, Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 325. 129 Zum Beispiel: Herr, so verantwort ich die klag (K 61, S. 541,22). 130 Vgl. dazu Kaiser [Anm. 2], S. 18; Trauden [Anm. 2], S. 355. 131 Vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 1, 1971, Sp. 1555f. 132 Vgl. TPMA [Anm. 21], Bd. 2 s. v. EIN 2.1.2.1 Eines Mannes Rede ist keine (eine halbe) Rede; Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.), Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon, München 1996, S. 235f.; 2HRG [Anm. 1], Bd. 1, Sp. 327–331. Argumentativ eingebunden ist das Rechtssprichwort zum Rechtsgrundsatz des sog. rechtlichen Gehörs (dazu 1 HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 253–258, bes. S. 253) im Spiel ›Drei Eheverweigerer‹ (K 108) in die Rede des Richters, der im Anschluss an die Klage die Angeklagten auffordert, nun ihrerseits Stellung zu nehmen: Und tut euer antwurt, wie im sei! / Wann eins mans rede ist ein halb (S. 852,1f.). Vgl. auch Wuttke Nr. 11, V. 177 (Et altera pars audiatur!). – Wie andere Rathäuser auch (vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 327), wies das Nürnberger Rathaus eine Inschrift mit dem Sprichwort auf (für diesen Hinweis danke ich Martina Schuler). Ein im sog. großen Rathaussaal angebrachtes Bronzerelief aus dem 16. Jh. zeigte den Wortlaut Eins manns red ist eine halbe red, / Man soll die teyl verhören bed, vgl. Ernst Mummenhoff, Das Rathaus zu Nürnberg. Mit Abbildungen nach alten Originalen, Maßaufnahmen etc., sowie nach A. von Essenweins Entwürfen von Heinrich Walraff, Nürnberg 1891, S. 37 u. S. 47, Abb. 21. Ferner belegt ein Schreiben des Markgrafen Albrecht Achilles, dass bereits vor dem ersten Markgrafenkrieg 1449/50 eine ähnlich lautende Inschrift vorhanden war: Eins manns rede, ein halbe rede, / man soll sie verhören bede, vgl. ebd., S. 37. 133 Vgl. TPMA [Anm. 21], Bd. 9 s. v. RICHTEN 12.6. Man kann (soll) nicht sein eigener Richter sein; Schmidt-Wiegand [Anm. 132], S. 207, bes. S. 279. Zur Vorstellung, dass das selbstgesprochene Urteil auch und gerade dann bindend ist, wenn man sich dadurch selbst ins Verderben redet, vgl. Röhrich [Anm. 7], Bd. 5, S. 1663f.; 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990,

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sündigen.134 Der argumentative Rückgriff auf etablierte Rechtsregeln dient zum einen dazu, der Spielhandlung eine Prozessstruktur zu unterlegen bzw. diese stärker zu konturieren; zum anderen wird mit ihnen der normative Maßstab für eine rechtliche Entscheidung formuliert. Angesichts eines solch demonstrativ benannten ethischen Anspruchs erscheint dann die Art der Urteilsfindung in ihrer fastnachtspieltypischen Absurdität fragwürdig. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Spiele insbesondere Elemente der Nürnberger Rechtsorganisation135 aufgreifen. In Zusammenhang mit den Rechtsbräuchen der Naturalbuße und des gemeinschaftlichen Vertrinkens von Bußgeldern ist es von Bedeutung, dass im späten 15. Jahrhundert die Niedergerichte angewiesen wurden, Letzteres zu unterlassen. Für Nürnberg ist eine solche Aufforderung noch aus dem 16. Jahrhundert überliefert,136 weshalb davon auszugehen ist, dass der Rechtsbrauch zur Entstehungszeit der Nürnberger Fastnachtspiele noch gängig war. Darüber hinaus nehmen die Textstellen, die Bamberg als Gerichtsort für Ehesachen bzw. den Bamberger Bischof als seinen Gerichtsherrn nennen,137 Bezug darauf, dass Nürnberg dem Bistum Bamberg inkorporiert und bis zur Reformation somit in allen Angelegenheiten des geistlichen Rechts, welches weite Teile des Privatrechts betraf,138 dem Bamberger Bischof unterstellt war, dem die geistlichen Jurisdiktion in seinem Bistum oblag.139 Eheangelegenheiten, insbesondere Prozesse wegen Ehebruchs und -versprechens – dies sind die vorherrschenden Klagegründe der Ehegerichtsspiele – wurden demnach vor der Bamberger Domdekantei ausgetragen.140 Falls ain neues werk (S. 320,8), mit dem der Bamberger Bischof im Spiel ›Das Chorgericht I‹ (K 42) in Verbindung gebracht wird,141 keine allgemeine Umschreibung für ‘etwas Neues’ meint, liegt evtl. S. 1612; Bd. 5, Sp. 610. – Unter Berufung auf diese Rechtsregel ermahnt im Spiel ›Die drei Brüder und das Erbe‹ (K 8) der rechtsprechende König den Ältesten dreier streitender Brüder, der ein ihm selbst genehmes Urteil empfiehlt, indem er sich auf das Erbfolgeprinzip der Primogenitur beruft (S. 79,15–29): Hore, freunt, es ist damit nit slecht, / Das du dir selber urteil sprichst (S. 79,31f.). Anders als diesem Bruder, der immerhin eine Lösung vorschlägt, gelingt es dem König und seinen Ratgebern allerdings nicht, überhaupt ein Urteil zu finden. 134 Die Spiele zitierten das Sprichwort mehrfach, vgl. Anm. 69. 135 Zu dieser vgl. Schielein [Anm. 99]. 136 Vgl. Alfred Graf, Die soziale und wirtschaftliche Lage der Bauern im Nürnberger Gebiet zur Zeit des Bauernkrieges, Erlangen 1908, S. 17; Bastian [Anm. 9], S. 162 Anm. 109. 137 Den Gerichtsort Bamberg nennen die Spiele K 42 und 102: Unser her der bischof von Babenberk / [. . .] / Und fragen umb söllich eeprecher (K 42, S. 320,7–16); Der ander hat einer die ee geredt, / Dorumb man in gein Bamberg ledt (K 102, S. 851,12f.). Der Vollständigkeit halber sei auf das Spiel K 37 hingewiesen, in dem ein Bamberger Domherr im Auftrag des Bamberger Bischofs handelt (bes. S. 277,7f.). Vgl. auch Bastian [Anm. 9], S. 86. 138 Vgl. dazu Isenmann, Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 322f. 139 Vgl. Heinrich Straub, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Domdekans im alten Bistum Bamberg von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, München 1957 (Münchener theologische Studien, 3. Kanonistische Abteilung 9); Bastian [Anm. 9], S. 83 mit S. 159f. Anm. 90 u. 91. 140 Die Häufigkeit dieser Fälle betont Straub [Anm. 139], S. 209f. 141 Unser her der bischof von Babenberk / Hat angefangen ain neues werk (S. 320,7f.).

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eine Anspielung auf die 1447 in Aussicht stehende, 1463 durchgeführte Reformation des geistlichen Gerichts in Bamberg vor, bei welcher der Nürnberger Rat zu intervenieren suchte;142 damit wäre zugleich ein Anhaltspunkt für die Datierung des Spiels gegeben. Ferner lassen sich die institutionell verschiedenen Gerichte der Stadt143 – wenn auch nicht notwendig und ausschließlich – Nürnberger Spezifika zuordnen. Vor dem Hintergrund, dass Quellen für das Nürnberger Landgericht die Bezeichnung Hofgericht belegen,144 ist anzunehmen, dass wahrscheinlich auch das hofgericht im Spiel ›Das Hofgericht vom Ehebruch‹ (K 40) diese Gerichtsform meint.145 Die in den Spielen K 69 und K 112 entworfene Gerichtssituation vor einem Rüge- bzw. Bauerngericht146 lässt sich im Kontext der Reichsstadt dem 1335 eingerichteten städtischen Bauerngericht zuordnen.147 Dieses niedere Gericht, vor dem auch zur rug gebrachte Vergehen der Hintersassen von Nürnberger Patriziern und Grundherren auf dem Lande verhandelt wurden, tagte jeweils samstags unter der Leitung des Stadtrichters im Nürnberger Rathaus und rekrutierte seine Gerichtsschöffen vielfach aus den Reihen ambitionierter Nürnberger Patriziersöhne, denen diese Institution eine willkommene Profilierungsmöglichkeit bot. Durch die Schöffentätigkeit sollte sich der Nachwuchs der Ratsherren für Aufgaben an höheren Gerichten, etwa dem Stadtgericht, an dem Angehörige des Großen Rates das Schöffenamt bekleideten, oder gar im Rat selbst qualifizieren. Das bedeutete aber auch, dass es den Söhnen der Patrizier zu Beginn ihrer Schöffentätigkeit an jeglichem juristischen Fachwissen mangelte. Diesen Laienschöffen, nicht dem anwesenden Richter, der ausschließlich moderierende Funktion hatte, fiel ungeachtet ihrer fehlenden Bildung die Aufgabe zu, das Urteil zu beschließen; eine solche Verteilung der Kompetenzen zwischen Richter und Schöffen findet sich in den meisten Gerichtsspielen wieder. Zudem ist vielleicht die stark variierende Anzahl von zwei bis hin zu elf auftretenden Schöffen im Fastnachtspiel neben dem Umstand, dass sie durch die beliebig verkürz- und erweiterbare Reihenspielform bedingt ist, auch darauf zurückzuführen, dass der Umfang eines Schöffengremiums im 15. Jahrhundert noch nicht festgelegt war.148 Möglicherweise handelt es sich bei der 142

Vgl. Isenmann, Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 322. Zur Bamberger Gerichtsreformation siehe Straub [Anm. 139], bes. S. 8–49. 143 Einen Überblick bietet Wolfgang Leiser, Nürnbergs Rechtsleben, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.), Nürnberg. Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 171–176, hier S. 171f. Vgl. auch Paul Sander, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440, Leipzig 1902, S. 200–210; Schielein [Anm. 99]. 144 Vgl. DRW [Anm. 31] Bd. 5, Sp. 1220. 145 Vgl. S. 305,6. Vgl. auch Anm. 111. 146 In beiden Spielen, in denen die Spielüberschriften die Gerichtsform mitteilen (Der baurn rugvasnacht K 69, S. 609,1; Ein fasnachtspil von eimen pawrngericht K 112, S. 956,1), ist die Gerichtssituation allerdings nicht näher bestimmt, »lediglich das Bauernmilieu [. . .] faßbar« (ten Venne [Anm. 2], S. 204). 147 Zum Nürnberger Bauerngericht vgl. Espig [Anm. 99]; Schielein [Anm. 99], S. 114–118. Zum Folgenden vgl. ferner Diefenbacher u. Endres [Anm. 98], S. 104; Isenmann, Aufgaben [Anm. 10], S. 47. 148 Vgl. 1HRG [Anm. 1], Bd. 4, 1990, Sp. 1465.

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Verhandlung im Spiel ›Die Witwe und ihre Tochter‹ (K 97), die als Ratssitzung gestaltet ist (ainn rat besitzen; S. 746,3–11), dem Richter die Bezeichnung burgermaister149 und den Urteilsfindern die Bezeichnung ratherr150 zuweist, um eine Anspielung auf die Zusammensetzung des Nürnberger Ratsgerichts, das sich aus den Mitgliedern des Inneren Rates (sogenannte Alte und Junge Bürgermeister) konstituierte und der Anlage nach der Ratssitzung als Form der Zusammenkunft eines Gremiums mit Aufgaben der Verwaltung und Politik nahe stand. Im Rat führten je ein Junger und ein Alter Bürgermeister für die Dauer von vier Wochen die Amtsgeschäfte. Der Junge Bürgermeister, dem schiedsrichterliche Tätigkeit oblag, bekleidete das eigentliche Bürgermeisteramt, das für verschiedene Rechtsprobleme der Nürnberger Bürger zuständig war; der Alte Bürgermeister führte den Vorsitz des Ratsgerichts, während die übrigen Ratsherren das Schöffenkolleg bildeten.151 Auf diesen Umstand sind in den Gerichtsspielen wahrscheinlich diejenigen Redeeinleitungen zurückzuführen, denen zufolge das Schöffenamt mit Ratsherren besetzt ist.152 Im eben genannten Stück K 97 bezieht sich die Anweisung, dass der Kläger hie kainn fürsprechen weln (S. 746,9) darf, sondern die Sache selber mit worten ercler (S. 746,10), möglicherweise auf die Regelung, in welcher das machtorientierte Streben des Rates nach Eigenständigkeit im Rechtswesen zum Ausdruck kommt, nämlich dass bei einem Prozess, der unmittelbar vor dem Nürnberger Stadtrat geführt wurde, eine anwaltliche Vertretung ausgeschlossen war153 – anders als bei einem Prozess vor dem Nürnberger Stadtgericht, das gerichtliche Vertreter zuließ.154 Die Nürnberger Rechtsorganisation des 15. Jahrhunderts,155 die seit 1427 vollständig in den Händen des Rates lag,156 genügte nicht mehr den Anforderungen der spät149

So in der Einschreierstrophe (S. 746,8) und als Anrede in den Hinwendungen der Parteien an den Bürgermeister (S. 746,14,28). Seine gerichtliche Funktion gibt die Rollenbezeichnung (richter S. 747,16) zu erkennen. 150 S. 747,25,43 usw. 151 Vgl. Schielein [Anm. 99], S. 23f., 54; Diefenbacher u. Endres [Anm. 98], S. 505f., 946; Isenmann, Aufgaben [Anm. 10], S. 47; ders., Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 307–310. 152 K 41 (Hs. M = München, BSB, Cgm 714; vgl. die Lesarten bei Keller [Anm. 2], Bd. 1, S. 315–319), K 72 (S. 625,13,22,29 usw.), K 88 (S. 710,16), K 97 (vgl. Anm. 150). 153 Es war lediglich Ratsmitgliedern gestattet, die Fürsprache der Parteien zu übernehmen, vgl. Sander [Anm. 143], S. 205; Schielein [Anm. 99], S. 23f.; ten Venne [Anm. 2] sieht in der Textstelle »eine Kritik an der Praxis des fürsprechen« (S. 205) gegeben, »die gekoppelt ist mit der Hervorhebung eigenständiger städtischer Gerichtsbarkeit« (ebd.). Insgesamt warnt er jedoch davor, »allzu direkte Realitätsbezüge daraus abzuleiten« (ebd.). 154 Vgl. Isenmann, Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 309 Anm. 13. 155 Zum Folgenden vgl. Hermann Knapp, Das alte Nürnberger Kriminalverfahren bis zur Einführung der Karolina, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 12 (1892), S. 200–276; Leiser [Anm. 143], S. 174–185; Werner Schultheiß, Geschichte des Nürnberger Ortsrechtes, Nürnberg 1972, bes. S. 6–24; Dietmar Willoweit, Juristen im mittelalterlichen Franken. Ausbreitung und Profil einer neuen Elite, in: Christoph Schwinges (Hg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 1996 (ZHF Beiheft 18), S. 225–267, bes. S. 258–263 (mit wichtiger Literatur); Isenmann, Gelehrte Juristen [Anm. 10], S. 305–328. 156 Zu dieser Entwicklung vgl. Schielein [Anm. 99], S. 9–21.

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mittelalterlichen Gesellschaft. Ursprünglich am ›Schwabenspiegel‹ ausgerichtet, wies das Rechtssystem durch Zunahme der Vorschriften während des 14. Jahrhunderts eine unübersichtliche, teils sich widersprechende Gesetzesregelung auf. Juristischer Willkür wurde auf dieser Basis nicht zuletzt auch deshalb Vorschub geleistet, weil die Rechtsprechung unerfahrenen Laien oblag. In den Nürnberger Akten finden sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Feststellungen über die Weitschweifigkeit der Prokuratoren in Wort und Schrift und über die unnötige Länge der Verhandlung. Verbunden waren damit mahnende Vorschriften zum Prozessablauf; sie betrafen vor allem die Verhandlungskürze sowie den inhaltlich von rechtlichen Unerheblichkeiten belasteten Schriftverkehr und enthielten den Aufruf, von der Irritation der Gerichtsschöffen abzusehen. Umso mehr fielen diese Missstände mit der seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmenden Rezeption des römischen Rechts ins Gewicht. Diese erforderte formalisierte Prozessabläufe und vor allem kompetente Beratung des Rates durch Berufsjuristen, die den diplomatischen Verkehr mit anderen Städten, Landesherren oder kirchlichen Vertretern übernahmen. Die ausstehende Formalisierung wurde unter Einbezug einer Kommission, die sich aus Ratsmitgliedern und juristisch kundigen Stadtbeamten zusammensetzte, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts durch die ›Nürnberger Reformation‹ (1479) erreicht; sie stellte eine grundlegende Überarbeitung des Nürnberger Bürgerrechts nun auch teilweise auf Basis des römischen Rechts dar. Rechtsgelehrte finden sich im Dienst des Nürnberger Rates seit Mitte des 14. Jahrhunderts, verstärkt seit dem 15. Jahrhundert. Zunehmend, seit der Nürnberger Reformation regelmäßig, saßen diese städtischen Berufsjuristen dem Stadtgericht wie auch dem Bauerngericht in rechtsberatender Funktion bei, um – ohne urteilsgültige Stimme – den rechtmäßigen Ablauf des nun stark formalisierten Gerichtsprozesses zu gewährleisten. Insbesondere die Ratskonsulenten, häufig rechtsgelehrte Doktoren, genossen hohes Ansehen und hatten keinen geringen Einfluss auf die Angelegenheiten des Rates. Dessen Mitglieder verfügten zwar nicht selten aufgrund auswärtiger Studien über teils hohe juristische Kenntnisse, sie durften jedoch, wie es das bekannte Beispiel des Patriziers Willibald Pirckheimer belegt, die juristische Ausbildung nicht vollständig abschließen, da ihnen die Promotion den Zugang zum Rat verwehrt hätte. Die Aufgabe der Konsulenten war es, den Bereich schriftlicher Dokumente zu überwachen, Urteilsvorschläge zu konkreten Rechtsfragen zu geben und darüber hinaus Rechtsgutachten, etwa in Appellationsfällen, die sich der Rat als oberste Gerichtsinstanz (Oberhof) vorbehielt, zu erstellen. Auf diesen Berufsstand ist wohl der Überlieferungsbefund des Spiels ›Wann man heiraten soll‹ (K 41) zu beziehen, in dem sich, wie aufgezeigt, die Gerichtssitzung als Ratgebersituation gestaltet und den beisitzenden juristen jeweils der Titel doctor (Hs. G) zugewiesen wird. 5. Resümee Bei den Nürnberger Fastnachtspielen gibt das häufige Einkleiden eines Spiels in eine Gerichtsszene zu erkennen, dass sich erstens die allgemeine Struktur gerichtlicher

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Prozessform und zweitens die Juristenfigur, die literarisch vergleichsweise wenig Vorprägung erfahren hat, jedoch als Spielfigur fest im Fastnachtspiel etabliert ist, in spezifischer Weise für die K o n s t i t u i e r u n g f a s t n a c h t s p i e l t y p i s c h e r G a t t u n g s e l e m e n t e eignen: In Bezug auf die Spielstruktur lässt sich feststellen, dass die dialogische Situation der Gerichtsverhandlung, in der sich Kläger und Beklagter gegenüber stehen, in der Fürsprecher den Inhalts- und Themenbereich festlegen und zu der Schöffen nacheinander Stellung nehmen, einen idealen Rahmen bieten, um einen Teil der Bandbreite zwischenmenschlicher Konflikte thematisch darzulegen, anschaulich in der Interaktion der Spielfiguren vorzuführen und mehr oder weniger eingehend zu verhandeln. Aufgrund seiner Ausrichtung am Prozessverlauf eignet sich das Gerichtsspiel für die Inszenierung mehrerer Fälle nacheinander: In der konkreten Aufführungssituation ermöglicht die Reihung abgeschlossener Binneneinheiten eine nach aktuellem Anlass beliebig verkürz- oder erweiterbare Spielvariante, wobei das Moment der Wiederholung die Gelegenheit bietet, die verschiedenen Fälle eines Spiels und ebenso die häufig revueartig aneinandergereihten Schöffenvoten auf den gattungskonstituierenden komischen Effekt der Steigerung von Groteske und Derbheit hin anzulegen. Sehr viel stärker als die Urteilsverkündung stehen daher die Klage, die Verteidigung und die Urteilsfindung im Zentrum der Gerichtsspiele; dabei hebt die literarische Ausgestaltung dieser Prozessphasen ganz darauf ab, das Absurde und Obszöne bis hin ins Drakonische lustvoll auszumalen. Die auf diese Weise angezielte groteske Diskrepanz zwischen juristischer Autorität und laienhaftem Unvermögen verstärkt sich, wenn zu Beginn der Spiele die Verhandlung durchaus ernsthaft einsetzt und formale Verfahrensvorschriften recht genau eingehalten werden, bevor der Prozessverlauf mit der Darlegung eines absurden Streitfalls und ebensolcher Urteilsvorschläge seine paradoxe Wendung nimmt. Gerade indem das Absurde und Groteske ernsthaft verhandelt werden, entsteht die Komik der Gerichtsspiele, deren Funktion es literatursoziologischer Auffassung zufolge ist, durch die Inszenierung einer ‘bedrohten’ sozialen Ordnung ‘rituelles’ Lachen mit affirmativer oder subversiver Wirkung zu evozieren.157 Den strukturellen Rahmen, den Prozessverlauf, der nur selten einem endgültigen Urteil entgegenstrebt, zu einem Abschluss zu bringen, gelingt dann durch die strukturelle wie inhaltliche Lösung, das Urteil aufzuschieben bzw. die Klage vorläufig fallen zu lassen, – dies nicht zuletzt gerade dadurch, dass der fiktionale Charakter der Vertagungsformeln deutlich gemacht oder die Spielwirklichkeit in die Situation des Fastnachtstreibens zurückgeführt wird. Mit Blick auf die Literarisierung der Juristenfigur ließ sich zeigen, dass im Nürnberger Fastnachtspiel gängige negative Vorstellungen von Juristeneigenschaften wie Parteinahme und Eigennutz der Schöffen, Willkür und Desinteresse des Richters, 157

Zur Funktion ‘karnevalesker Spielformen’ vgl. den kurzen Überblick von Werner Röcke, Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur, in: ders. u. Marina Münkler (Hgg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München/Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 420–445 (Text), S. 662–665 (Anmerkungen), hier S. 422f.

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Nießnutz der gerichtlichen Personen und insgesamt Missbrauch der Amtsgewalt ihren Niederschlag finden. Die spezifische Darstellung des Juristen ist einerseits mit einem Witzmoment verknüpft, das auf Obszönität und Gewalt basiert. Andererseits ist sie durch einen häufig desavouierenden, karikierenden und polemisierenden Duktus gekennzeichnet; dieser wird durch den – gerade in der sprachlichen Ausdrucksform der Spiele zu Tage tretenden, daher teils auch komischen – Widerspruch von ethischem juristischem Anspruch und der Ignoranz juristischen Handelns hervorgerufen. Indem die Streitfälle und Schöffenvoten auf das metaphorische Sprechen über Sexuelles und Fäkales, auf das obszöne Ausmalen des Kastrations- und Schändungsgedankens und auf die lustvolle Darstellung der Völlerei ausgerichtet sind, lassen sich Juristenbild und Gerichtsthematik insofern in die Zeit der Fastnacht einbetten, als die Inszenierung von Derbheit, Grobianik und Maßlosigkeit immer wieder neu daran erinnert, dass im Anschluss an die Fastnacht die entbehrungsreiche Fastenzeit einsetzt, welche zügellose Entgleisungen nicht gestattet. Einen Indikator für die Publikumswirksamkeit der genannten Vorstellungen bildet die Mehrfachüberlieferung gerade der Gerichtsspiele, darunter in erster Linie Spiele mit Ehebruchthematik oder ehelichen Auseinandersetzungen.158 In diesem Sinne wird aus dem negativen, durch konventionelle Juristenkritik vorgeprägten Leit-‘Bild’ des Juristen eine positive Leit-‘Figur’ für das P r i n z i p d e r f a s t n ä c h t l i c h e n Ve r k e h r u n g . Juristenkritik erfolgt im Fastnachtspiel in der Regel nicht unmittelbar in Form direkter Aussagen über Eigenschaften und Verhaltensweisen dieses Personenkreises. Sie erfolgt auch nicht auf der Ebene der Topik um ihrer selbst willen. Vielmehr werden einige der mit der traditionellen Juristenschelte transportierten Eigenschaften aufgegriffen und für die Ständekritik genutzt oder aber – gattungsgemäß – für die Inszenierung der verkehrten Welt funktionalisiert. Letzteres erfolgt nach dem Prinzip, ein im Sinne der sich regelhaft konstituierenden ‘realen’ Welt negatives Leit-‘Bild’ umzuwerten in eine im Rahmen der ‘fiktional’ verkehrten Weltordnung positive Leit-‘Figur’. Dies ist in zweifacher Hinsicht zu perspektivieren: Erstens gibt die Gerichtsverhandlung, für die die Figur des Juristen – sei es als Richter, als Laienschöffe oder als gelehrter Jurist im engen Sinne – konstitutives Strukturelement ist, den dramaturgischen Rahmen vor; Vertreter des Rechtsbereichs sind somit leitend im Sinne der strukturellen Konzeption eines Gerichtsspiels. Dies gilt in besonderer Weise für die Schöffenrollen, von deren Urteilsempfehlungen die Spielpointe wesentlich abhängt. Zweitens erfordert die Darstellung der verkehrten Welt, in der die andere, fastnächtlich verkehrte Ordnung die relevante Orientierungsgröße für Verhaltensnormen bildet und die zugehörigen eigengesetzlichen Handlungsmuster generiert, solche Figuren, die eben jene – gegenüber der außerfastnächtlichen Ordnung verbotenen, innerhalb der Fastnachtswelt gebotenen – Handlungsmuster repräsentieren. Stellvertretend für die Verkehrung der geltenden Ordnung wird im Mi158

Damit heben sich die Gerichtsspiele von dem Großteil der Fastnachtspiele ab, der ansonsten einfach überliefert ist: Fünffach bezeugt ist K 41, vierfach bezeugt sind K 40 u. 42, dreifach K 78, 87 u. 102, die übrigen Gerichtsspiele zwei- bzw. einfach.

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krokosmos der Gerichtswelt die Verkehrung der Rechtsordnung durchgespielt: Habgier statt Gerechtigkeit, Völlerei statt Verpflichtung zur Wahrheit, Unterdrückung der sozial Niedrigstehenden statt christlicher Nächstenliebe, Bestechlichkeit statt Aufrichtigkeit. Zur Verkehrung gehört dabei gerade auch, dass eine normative Ahndung des Rechtsbruchs durch das kodifizierte Recht nicht möglich ist.159 Literarische Umsetzung erfährt dies durch das Motiv des Urteil-Aufschiebens oder durch einen Prozessverlauf, der deshalb eine konterkarierende Wendung nimmt, weil die unerwartete Reaktion des Klägers bzw. des Angeklagten die überspitzten Schöffenvoten allesamt haltlos werden lässt. Insofern lässt sich das negative Leitbild des Juristen als positive Leitfigur im Sinne fastnächtlicher Verkehrung begreifen. Dabei nutzt das literarische Genre Fastnachtspiel den mit negativen Assoziationen verknüpften Juristentypus für die Inszenierung des Normverstoßes, nicht ohne zugleich hierauf ausgerichtete neue Facetten dieses Leitbildes zu schaffen. Die Anspielungen auf einzelne Aspekte der Rechtsorganisation, die in ihrer Funktion, das Bild des Juristen zu konturieren, weit über eine nur beigefügte Ausschmückung hinausgehen, spiegeln die Relevanz des Aktualitätsbezuges für die Konstitution dieser Leitfigur wider.160 Im Rahmen einer Analyse solcher Fastnachtspiele, die aufgrund ihrer speziellen Struktur, Inhalte, Rollen und Sprache unverkennbar Realitätsbezüge besitzen, liegt es nahe, nach ihrem S i t z i m L e b e n zu fragen.161 Versucht man, in der Forschung zum Gerichtsspiel Hinweise auf eine mögliche Funktion der Juristenzeichnung jenseits von inhaltlich-strukturellen Aspekten und fastnächtlicher Normverkehrung zu finden, so begegnet man einerseits der Annahme Adolf Kaisers, die Fassungen des Eingangsbeispiels ›Rumpolt und Mareth‹ könnten als Lehrmittel für Rechtsstudenten über den korrekten Prozessablauf fungieren,162 und andererseits der Warnung Friedrich Wilhelm Strothmanns, angesichts der Fastnachtspiele »ja nicht auf ein juristisches Interesse der Zeit«163 zu schließen. Eine didaktische Aussage der Spiele liegt zunächst 159

Vgl. Und kont niemant nit richten sie [sc. die pauren] (K 8, S. 87,18). Dieser Aspekt unterscheidet die Juristenfigur von solchen Leitfiguren, die gerade durch die Wechselwirkung von Historizität und Aktualität ihren Status gewinnen, etwa die Figur Karls des Großen (historisch) oder die des Königs Artus (literarisch). Darin mag auch ein Grund dafür liegen, dass die Figur des ratgebenden bzw. urteilsfindenden Schöffen außerhalb der Gattung Fastnachtspiel nicht in vergleichbarer Intensität zur literarischen Ausgestaltung gekommen ist. 161 Die Forderung, »ein näheres Verständnis des literarischen Phänomens ‘frühes Fastnachtspiel’« dadurch zu erzielen, dass »neben dem besonderen Kontext der spätmittelalterlichen städtischen Fastnacht auch die allgemeinen Voraussetzungen des sozialen und literarischen Lebens in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation zur Kenntnis genommen werden«, formuliert Thomas Habel, Zum Motiv- und Stoff-Bestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels. Forschungsgeschichtliche, methodische und gattungsspezifische Aspekte, in: Theodor Wolpers (Hg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse. Dritte Folge, 249), S. 121– 161, hier S. 161. 162 Vgl. Kaiser [Anm. 2], S. 48f. 163 Strothmann [Anm. 1], S. 12. 160

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nahe; in der parodistischen Darstellung jedoch eine Warnung davor, Streitfälle vor Gericht auszutragen, sehen zu wollen, erscheint angesichts der Vielschichtigkeit der aufgezeigten Mechanismen als zu kurz gegriffen. Zweifelsohne lassen sich die Spiele als Parodie auf das Rechtssystem des 15. Jahrhunderts im Allgemeinen und aufgrund gelegentlicher Anspielungen auf Besonderheiten der Nürnberger Rechtsorganisation als Parodie auf das Rechtswesen der Reichsstadt lesen: Sie parodieren die Gerichtssitzung bzw. das Gericht selbst, indem sie launenhafte Rechtsprechung, juristische Willkür, Desinteresse an der Beendigung eines Prozesses, Kürze der Verhandlung, informelle Absprachen, Hab- und Profitgier zur Darstellung bringen und die Vertreter eines derart konstituierten Gerichtswesens – Richter, Schöffen, Fürsprecher, Gerichtsdiener – der Lächerlichkeit preisgeben. Damit bewegen sich die Spiele ganz im Rahmen der konventionellen Juristenschelte. Die Annahme, dass im Aufzeigen der Missstände im spätmittelalterlichen Gerichtswesen der Grund für die häufige Wahl der Gerichtssituation als äußeren Rahmens für die Spielhandlung und für die negative Darstellung ihres Figurenrepertoires liegt, führt jedoch aus zwei Gründen zu keiner zufriedenstellenden Erklärung: Erstens macht die Lösung, den Prozess mit dem Aussetzen des Urteils zu beenden, deutlich, dass es in den Spielen gar nicht darum geht, eine gerichtliche Lösung zu finden. Das vermehrte Auftreten dieses Motivs und die Nachhaltigkeit, mit der es in seinen Varianten immer wieder neu ausgestaltet wird, ist zwar nur hinreichend zu verstehen, wenn es vor dem Hintergrund der nicht seltenen Verschleppungspraxis des spätmittelalterlichen Gerichtswesens gesehen wird. Jedoch lässt sich die häufige Verwendung des Motivs nicht nur auf struktureller Ebene als Spielschluss, sondern vor allem inhaltlich als ‘verkehrtes’ Mittel der Urteilsfindung wohl erst damit erklären, dass offenbar die Darlegung der Streitfälle und der Schöffenvoten von sehr viel höherem Interesse als die Art des gerichtlichen Urteils ist. Insofern das Motiv zu dieser Akzentsetzung beträgt, bietet es sich mittelbar einerseits für die desavouierende Figurenzeichnung und andererseits für die diskursive Wertung bestimmter Rechtsthemen (z. B. Ehe) geradezu an. Sehr viel weniger geht es darum, die defizitäre Art der juristischen Lösung anzuprangern. Zweitens und vor allem muss das Problem benannt werden, dass im Allgemeinen wohl nicht zwischen Hyperbolik und faktischem Fehlverhalten unterschieden werden kann; dies betrifft sowohl den tatsächlichen Rechtshintergrund als auch die literarische Verarbeitung von Rechtsstrukturen und insgesamt das Verhältnis beider zueinander.164 Die Fastnachtspiele verzichten keineswegs auf ernsthafte Bezüge zum zeitgenössischen Rechtswesen und enthalten alles Andere als nur beiläufige Spiegelungen der Rechtswirklichkeit.165 Wenn auch literarisch überformt, scheint die Skizzierung 164

Allgemein zur »Frage nach der Zuverlässigkeit der D[ichtung] als Rechtserkenntnisquelle« vgl. Schmidt-Wiegand, Recht und Dichtung [Anm. 1], Sp. 240–242; dies.: Dichtung und Recht [Anm. 1], Sp. 1038–1041, bes. Sp. 1038f. 165 Diese Ansicht vertreten ferner die in Anm. 109 genannten Beiträge. Literatur zu der davon abweichenden Forschungsmeinung, »[r]echtshistorisch [seien] diese ‘literarischen’ Prozesse wenig aufschlussreich« (Glier [Anm. 9], S. 558), nennt Bastian [Anm. 9], S. 159 Anm. 88.

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der Prozessform und des Gerichtswesens, welche für die Kritik an Juristen allein schon aus Gründen der Festlegung von Ort und Handlung erforderlich ist, deshalb notwendig Elemente des Rechtswesens und -lebens abzubilden, weil diese sich zielgerichtet für die hyperbolische Zeichnung der Jurisprudenz nutzen lassen. Im Fastnachtspiel zielt die Parodie des Rechtswesens jedoch nicht so sehr auf das Aufzeigen der Missstände ab, sondern dient den Mechanismen der Komik: Rechtsbräuche und Strafpraxis bilden ebenso wie die Rechtssprache die grundlegenden Stützen des spätmittelalterlichen städtischen Rechtswesens und tragen als solche zur Ordnung der Stadtgesellschaft bei. Daher demonstrieren die Spiele ein sicheres Beherrschen der juristischen Terminologie und lehnen sich deshalb absichtsvoll an die zeitgenössische Rechtspraxis an, um eben diese Stützen des Rechtswesens in Kontrast zum Drastischen und Obszönen ironisch zu verfremden. Insofern beispielsweise Dispute zwischen Hintersassen oder Ehesachen als Gegenstand realer juristischer Verfahren verhandelt werden, ist dies der Hintergrund, vor dem die Gerichtsspiele zu sehen sind. Weniger zentral ist dabei allerdings die rechtliche Verhandlung der Verfehlungen selbst. Anknüpfend an soziale Komponenten der Ehe und des nachbarschaftlichen Miteinanders bildet der Rechtsrahmen vielmehr die geeignete Folie für das komische (eigentliche oder uneigentliche) Sprechen über dieselben. Voraussetzung dafür, dass der daraus resultierende komische Effekt voll zur Wirkung kommt, wird eine entsprechende Rechtskenntnis der Rezipienten sein. Obwohl die detaillierte Rechtskenntnis der Bevölkerung sicherlich zweifelhaft ist, kann die These Ruth Schmidt-Wiegands weiterführen, der zufolge die Dichtung mit Rechtsthematik deshalb an Anziehungsund Überzeugungskraft gewann, weil »doch alle Angehörigen eines Kulturraumes [. . .] in ihrem Leben laufend mit dem Recht in Berührung [kamen].«166 Aufgrund des Öffentlichkeitscharakters der mittelalterlichen Gerichtspraxis und aufgrund der hohen sozialen Relevanz, die Rechtsbräuche und -normen für die Ordnung der städtischen Gesellschaft besaßen, ist daher von einem Publikum der Fastnachtspiele auszugehen, das die Abbildung des Rechtswesens und der Prozesssprache gerade in ihrer komischen Verzerrung nachvollziehen konnte und auch aktuelle Bezüge erkannte. Bedenkt man, dass die Spielorte vorherrschend die Häuser der Nürnberger Bürger und Patrizier waren, so gilt dies in erster Linie für das Nürnberger Stadtpublikum, dessen berufliche, etwa kaufmännische, wie auch gesellschaftliche Agitationen allgemein der streng geregelten städtischen Rechtsordnung unterworfen waren.

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Schmidt-Wiegand, Dichtung und Recht [Anm. 1], Sp. 236.

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Identitätsverlust und Kontingenzerfahrung Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie im Werk Jakob Ayrers

Jakob Ayrers Fastnachtspiele sind in der Germanistik nicht sehr geschätzt. Zwar erkennt man den Fleiß dieses erst im späten 16. Jahrhundert höchst produktiven Autors an – Ayrer hat insgesamt 109 Theaterstücke geschrieben, von denen aber nur 36 Fastnachtspiele und 33 Tragödien oder Komödien gedruckt vorliegen –, doch gilt er als minderes Talent, das bestenfalls nachgeahmt, dabei aber seine Vorlagen ‘vergröbert’ und ‘verroht’ habe. Die Liste der Vorwürfe gegen Ayrer ist lang und vor allem – was ich besonders bemerkenswert finde – keineswegs nur ästhetischer, sondern auch persönlicher Natur. Ihm fehle jeder »dramatische Nerv«, schreibt noch Willi Fleming, immerhin in der ‘Neuen Deutschen Biographie’, und seine dramatische Produktion stehe neben der historischen Entwicklung »als persönliches Kuriosum ohne Auswirkung«.1 Zwar nennt ihn nur die ältere Forschung im Vergleich mit seinem Zeitgenossen Shakespeare einen »naiven Stümper«,2 doch auch Wohlmeinende können ihm schließlich trotz »aller guten Laune« nur eine eher problematische Lust an »grellen Bühneneffekten« und an »Derbgemeintem« attestieren, das nicht weiter ernstzunehmen sei.3 Zwei literatur- und theatergeschichtlich relevante Leistungen allerdings werden Ayrer zugestanden. Zum einen habe er das Werk des Hans Sachs fortgesetzt, und wo er ein gewisses dramatisches Niveau erreiche, sei das eben dieser Anlehnung an Sachs geschuldet, so dass – wie noch Eckehard Catholy in seinem Fastnachtspiel-Bändchen schreibt – das über Hans Sachs’ Fastnachtspiele Ausgeführte auch für Ayrer gelte.4 Zum anderen ist schon seit der Wiederentdeckung Ayrers durch Ludwig Tieck im frühen 19. Jahrhundert gesehen worden, dass Ayrer von englischen Spieltruppen, die 1593 wohl auch nach Nürnberg kamen, beeinflusst worden ist und die Form des Singspiels sowie eine komische Figur, die er als Jan/John Posset bezeichnet, aus dem Repertoire der englischen Komödianten übernommen hat.5 1

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Willi Fleming, Jakob Ayrer, in: Neue deutsche Biographie (NDB), Bd. 1, Berlin 1953, S. 472f. Fritz Holleck-Weithmann, Zur Quellenfrage von Shakespeares Lustspiel ›Much ado about nothing‹, Heidelberg 1902, zitiert nach: Hans Bertram Bock, Jakob Ayrer 1543–1605, in: Fränkische Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen mit 255 Abbildungen, hg. v. Wolfgang Buhl, Nürnberg 1971, S. 285. Gero von Wilpert, Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte, 3. Aufl., Stuttgart 1988, S. 36–37, hier S. 36. Eckehard Catholy, Fastnachtspiel, Stuttgart 1966, S. 63. Ebd., S. 62f.

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Doch, was sagen diese beiden Punkte über die poetischen Leistungen des Jakob Ayrer und wie hängen die angebliche Imitation des Hans Sachs und die Kenntnisnahme englischer Spielformen zusammen, wenn sie denn überhaupt aufeinander zu beziehen sind? Catholy jedenfalls schließt jeden Einfluss der englischen Komödianten auf Ayrers Fastnachtspiele aus: auch die Einführung der ‘Clownsfigur’ des John Posset ändere den Spieltyp weder inhaltlich noch formal. Vielmehr bleibe die Entwicklung des Fastnachtspiels bei Ayrer von der Komödie getrennt, eine »allmähliche[n] Vermischung mit neuen Dramenformen oder anderen literarischen Gattungen« sei ausgeschlossen.6 Ich möchte im Folgenden versuchen, beide Positionen Catholys, dass Ayrers Fastnachtspielen keinerlei Eigenständigkeit zukomme, sondern sie lediglich fortsetzten und letztendlich in leerem Formalismus enden ließen, was Hans Sachs etabliert habe, und dass von einer Vermischung mit anderen Dramenformen bei ihm keine Rede sein könne, zu hinterfragen. Dabei sehe ich den poetologischen Witz der Spiele Ayrers – so meine Ausgangsthese – gerade darin, dass sie erstens den Spieltyp Hans Sachs’ zwar fortsetzen, ihn dabei aber auch entscheidend verändern; dass sie ihn zitieren, zugleich aber auch seiner wichtigsten Voraussetzungen berauben. Und dass sie damit zweitens in einen höchst produktiven Dialog mit dem Spieltyp der antiken Komödie, insbesondere des Plautus, eintreten, dabei aber das Fastnachtspiel erheblich verändert wird. Wichtig scheint mir, Ayrer als Figur des Übergangs, sein Werk als Transformation vorgängiger Spieltypen, nicht als deren mechanische Reproduktion zu sehen.7 Jakob Ayrer war im Hinblick auf Fastnachtspiele und Komödien von einer schier unerschöpflichen Produktivität. Natürlich hat er dabei auch Massenware produziert, die lediglich die Stereotypen der Fastnachtspieltradition bedient, ohne aus ihnen noch irgendeinen ästhetischen Funken schlagen zu können. Gleichwohl würde man, wollte man sich auf diese Feststellung beschränken, der intrikaten Widerständigkeit zumindest eines bestimmten Typs seiner Fastnachtspiele nicht gerecht, die für meine Frage nach der poetischen Leistung des Jakob Ayrer aber besonders wichtig sind und die ich deshalb im Folgenden in den Mittelpunkt stellen möchte: die Spiele um den komischen, etwas beschränkten, häufig in größte Konfusionen geratenden Diener John Posset oder einfach engelländischen Jann, den Ayrer 1592, gespielt von Thomas Sackville, wohl in Nürnberg kennengelernt hatte und der im 17. Jahrhundert unter verschiedenen Namen und in den unterschiedlichsten Kostümen als Hans Wurst, als Harlekin oder Pickelhering (ab 1615) zur komischen Figur schlechthin wurde.8 Ist 6 7

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Ebd., S. 63. Ähnliche Überlegungen habe ich bereits auf einer im Rahmen der Bayreuther Festspiele 2007 veranstalteten Tagung anlässlich der Neuinszenierung von Wagners ›Meistersinger von Nürnberg‹ durch Katharina Wagner vorgetragen (Werner Röcke, Entgrenzung des Karnevalesken. Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie bei Hans Sachs und Jakob Ayrer, in: Sebastian Reus, Clemens Risi u. Robert Sollich (Hgg.), Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung [Internationales Symposion der Bayreuther Festspiele und der Freien Universität Berlin], Bayreuth 2008). Vgl. dazu Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italie-

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diese Neuerung, die Ayrer im Personal des Fastnachtspiels vollzog, literatur- und theatergeschichtlich also durchaus von erheblicher Wirkung, so sind seine Spiele gleichwohl – da stimme ich Catholy zu – in Aufbau und Motivik auf den ersten Blick eher traditionell. Ayrer bedient den vertrauten Motiv- und Szenenapparat des Handlungsspiels, mit dem auch Sachs schon gearbeitet hatte: So z. B. ist Jann Diener eines alten Mannes, der eine junge Frau geheiratet hat, von ihr betrogen wird und das mithilfe seines Dieners zu verhindern sucht; bekanntlich eines der beliebtesten Motive des Fastnachtspiels.9 Oder aber Jann seinerseits ist den raffinierten Inszenierungen der betrügerischen Ehefrau nicht gewachsen und muss sich ihren listigen Intrigen geschlagen geben.10 Jann ist aber auch – in Ausführung seines Dienstes – ein Künstler des Wörtlichnehmens, was schon Hans Sachs keineswegs nur an Ulenspiegel-Adaptationen erprobt hat.11 Er bedient die misogynen Topoi des übelen wıˆp,12 des Geschlechterkampfs um die Macht im Haus u. ä.,13 die zwar nicht nur im Fastnachtspiel, aber gerade eben auch hier ausgebildet worden sind. Alle diese (und andere) Topoi des Fastnachtspiels sind auch für die Jann-Posset-Spiele konstitutiv. Ayrer bewegt sich im Motivfeld des Fastnachtspiels, wie wir es vor allem von Hans Sachs kennen, wie ein Fisch im Wasser, wiederholt es und variiert es. Zugleich aber – und dieser Punkt scheint mir für die dramen- und theatergeschichtliche Bedeutung von Ayrers Spielen besonders wichtig zu sein – ist die Art und Weise ihres literarischen Gebrauchs bei Ayrer bemerkenswert. Denn Ayrers Jann-Posset-Spiele bieten nicht nur einen weiteren Beleg für die Verwendung dieser Topoi; sie werden nicht nur zitiert, sondern generieren in dem Maße, wie sie noch einmal durchgespielt werden, auch ungeplante, zufällige, kontingente Entwicklungen, die nur noch mit Mühe in das Sinnschema des traditionellen Fastnachtspiels zurückzubinden sind. Eben das aber ist – zumindest nach meiner Textkenntnis – bei Hans Sachs nicht der Fall. Auch seine Fastnachtspiele inszenieren die ‘verkehrte Welt’ von Ehebruch und Gewalt, Inversion der häuslichen oder ständischen Ordnung; von listig-raffinierter Übervorteilung und Vertrauensbruch; die Infragestellung kollektiver Regeln und

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nische Komödie, Stuttgart 1965, S. 81f.; Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, 2. Aufl., Tübingen/Basel 1999, S. 74ff. und Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1993, S. 527. Jakob Ayrer, ›Ein Fassnachtspil, der verlohren Engellendisch Jahnn Posset, mit vier Personen‹, in: Ayrers Dramen, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 5, Stuttgart 1865 (BLVSt 80), S. 2907–2927. Der Text des Spiels ist auch abgedruckt in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 6. Aufl., Stuttgart 1998 (RUB 9415), Nr. 19, S. 262–287. Siehe Anm. 9. Jakob Ayrer, ›Fassnachtspil von dem engelländischen Jann Posset, wie er sich in seinem dienst verhalten mit acht Personen‹, in: Ayrers Dramen [Anm. 9], S. 2869–2905. Die Schreibweise Jann oder Jahnn wechselt bei Ayrer. Vgl. dazu die Belegsammlung in: Franz Brietzmann, Die böse Frau in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 1912 (Palaestra XLII). Ausführlicher dazu vgl. Werner Röcke, Ehekrieg und Affentanz. Rituale der Gewalt und Gewaltvermeidung in der Komischen Literatur des späten Mittelalters, Historische Anthropologie. Kultur−Gesellschaft−Alltag 10 (2002), S. 354–373.

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Bräuche, bieten zugleich aber die Möglichkeit ihrer Restitution und Bestätigung. Dabei scheint mir der performative Aspekt von Sachs’ Fastnachtspielen besonders wichtig zu sein: Sie spielen Verkehrungen der sozialen, moralischen und geschlechtlichen Ordnung durch, bieten im Vollzug des Spiels aber auch praktische Problemlösungen, die dazu beitragen sollen, den Bestand von Ehe und Familie – der ‘Oikonomia christiana’ –, von Stadt und Gemeinwesen – der ‘Politia’ – zu sichern.14 Zwar spricht Sachs nicht von Sicherheit; allerdings zielen die meisten der von uns heute gern belächelten Schlussverse und Selbstvorstellungen seiner Fastnachtspiele (Auf das daran kein unrat wachs / wuenscht euch zu gueter nacht Hans Sachs)15 o. ä. auf ein gutes Ende, auf eine wiedergefundene Harmonie von Ehemann und Ehefrau, die sich gerade noch geprügelt haben;16 auf ein Einverständnis über die Regeln und Normen des Gemeinwesens. In der Fastnacht- und Fastnachtspielforschung war lange umstritten, ob Fastnacht oder Karneval des 15./16. Jahrhunderts als Befreiung von moralischen und sozialen Zwängen17 oder aber als Negativdidaxe zum Zweck religiöser Ermahnung und Erbauung18 zu lesen sei. An die Stelle dieser – wie ich meine, nicht sehr fruchtbaren 14

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Zur Reflexion historischer, sozialer und kultureller Veränderungen in Hans Sachs’ literarischem Werk vgl. die wichtige Arbeit von Maria E. Müller, Der Poet der Moralität. Untersuchungen zum Werk von Hans Sachs, Bern/Frankfurt a. M. 1985 und Werner Röcke, Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur, in: ders. und Marina Münkler (Hgg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München/Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 420–445, insbes. S. 434–439. Hans Sachs, ›Ein fasnacht spil mit fünf personen (Der schwanger Pawer)‹, in: Dreizehn Fastnachtspiele aus den Jahren 1539–1550 von Hans Sachs, hg. v. Edmund Goetze, 2. neu durchges. Aufl. besorgt von Ruth Schmidt-Wiegand, Halle a. S. 1957 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Nr. 31/32), S. 70–81, hier S. 81, V. 313– 314. Hans Sachs, ›Das Kälberbrüten‹ (= Faßnacht spiel mit 3 Personen: Das Kelberbruten), in: Wuttke [Anm. 9], Nr. 12, S. 131–147. Ausführlich dazu Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, hg. u. mit einem Vorwort vers. v. Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. dazu auch die historisch sehr informative Studie von Norbert Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 121–174. Schindler sieht das »Wesen« des Karnevals darin, »daß er alle Dinge auf den Kopf stellt«. Darüber hinaus aber ist der Karneval »nicht nur die Unordnung, die der Ordnung des gewöhnlichen Lebens gegenübersteht, sondern beide zusammen machen erst die ganze Ordnung aus. Er inszeniert die jeweils andere Seite der Dinge, aus deren Ausschluß sie sich bestimmen, und macht so die Gegensatzpaare sichtbar, zwischen deren Polen sich Alltagserfahrung konstituiert: hoch und niedrig, arm und reich, groß und klein, schön und häßlich, jung und alt, aber auch Mann und Frau, Winter und Sommer, Himmel und Hölle etc.« (S. 135). Aus diesem Grund sei eine Interpretation der Karnevalssymbolik »nur von den ihr zugrunde liegenden Gegensätzen bzw. Paradoxien her sinnvoll« (S. 348). Vor allem Dietz-Rüdiger Moser hat in zahlreichen Untersuchungen versucht, Vergnügungen und Verkehrungen der Fastnacht als Teil kirchlicher Paränese und d. h. des göttlichen Heils-

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Opposition – ist inzwischen zumindest in der Sachs-Forschung die Einsicht getreten, dass die karnevaleske Kultur des Spätmittelalters deswegen besonders interessant ist, weil in ihren Spielformen Brüche und Spannungen, Veränderungen und neue Perspektiven gesellschaftlicher Ordnung, aber auch deren Lösung sichtbar werden, die für den Bestand der städtischen Gemeinden, so auch Nürnbergs, von größter Bedeutung sind.19 Sachs’ Fastnachtspiele also, so möchte ich zusammenfassend formulieren, bieten Transgressionen und erneute Restitutionen der Normen der familiären und sozialen Ordnung. Sie setzen Brüche und Verwerfungen, die für den Bestand der Stadt gefährlich werden können, in Szene, um – zumindest im Spiel – ihre Lösung praktisch zu vollziehen. Sachs also geht es um die Sicherheit der sozialen, moralischen und habituellen Ordnung der Stadt; er will aber auch Wege aufzeigen, wie sie zu gewinnen ist. Dazu bedient er sich in seinen Fastnachtspielen verschiedener Mittel. Eines dieser Mittel – und nur darum geht es mir im Folgenden – ist die listige Intrige, die kluge Übervorteilung, mittels derer einer Störung der ehelichen, familiären oder sozialen Ordnung begegnet wird. Dabei liegt der Witz (oder die Dialektik) der List darin, dass sie zunächst einmal die Störung der Ordnung sogar noch verstärkt, dann allerdings maßgeblich dazu beiträgt, dass sie wiederhergestellt werden kann. In einigen von Jakob Ayrers Spielen hingegen – und eben darin sehe ich trotz aller strukturellen Analogie zu Sachs zugleich den faszinierenden Kontrapunkt zu ihm – ist genau dies nicht der Fall, sondern führt gerade dieses Bemühen um Sicherheit durch List und Intrige zu Unsicherheit und Kontingenz und darüber hinaus sogar zu einer grundlegenden Modifikation, ja Transformation der Gattung ‘Fastnachtspiel’ selbst. Ich halte diese Dissoziation von Absicht und Konsequenz, von listiger Sicherung der Ordnung und ihrer Verkehrung in Unsicherheit und Kontingenz für einen der interessantesten Punkte in Ayrers Fastnachtspielen in der Tradition des Hans Sachs. Denn List will Gewissheit schaffen. Sie vertraut auf die intellektuelle Kompetenz des Listigen, die Zukunft zu planen und geht davon aus, dass dies auch gelingen wird. Natürlich weiß man von den Unwägbarkeiten der Zukunft. Gleichwohl ist man davon überzeugt, sie durch Planung und Kalkulation, durch Klugheit und individuelle Kompetenz zu meistern. Das ist auch in Ayrers Spielen nicht anders. Zugleich aber wird diese Grundfigur karnevalesker List und Sicherung sozialen Friedens in dem Maße, wie sie von Ayrer gebraucht wird, bei ihm auch verändert: Die Sicherung der Zukunft produziert dann größte Ungewissheit; die Inszenierung von Gewissheit mündet in Kontingenz und damit in das Gegenteil dessen, was zunächst intendiert war. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt und anhand eines Fastnachtspiels von Hans Sachs exemplarisch die ‘klassische’ Struktur des Fastnachtspiels, und d. h.

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plans zu deuten. Vgl. dazu u. a. Dietz-Rüdiger Moser, Elf Thesen zur Fastnacht, Jahrbuch für Volkskunde NF 6 (1983), S. 75–77 und ders., Fastnacht und Fastnachtspiel. Zur Säkularisierung geistlicher Volksschauspiele bei Hans Sachs und ihrer Vorgeschichte, in: Horst Brunner, Gerhard Hirschmann u. Fritz Schnelbögl (Hgg.), Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur, Nürnberg 1976, S. 182–218. Ausführlicher dazu Röcke, Literarische Gegenwelten [Anm. 14], S. 420–445.

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die Sicherung ehelichen und sozialen Friedens durch listige Planung, erörtern.20 Daran anschließend werde ich anhand eines Fastnachtspiels von Jakob Ayrer ebenfalls exemplarisch die Verkehrung von Sicherheit in Ungewissheit, von Gewissheit in Kontingenz erläutern,21 mithin das genaue Gegenteil dessen, was Sachs intendiert hat. Dabei scheint mir besonders bemerkenswert, dass beide Spiele dem gleichen Spieltyp, hier: die listigen Versuche einer Ehefrau, die Eifersuchtsattacken ihres Ehemanns zu unterlaufen, folgen. Oder anders formuliert: Auch Ayrer bedient sich des üblichen Spieltyps listiger Überlegenheit, schafft aber in dem Maße, wie er ihn realisiert, seine entscheidende Veränderung. Maßgeblich dafür ist seine Anlehnung an einen anderen Typ komischen Spiels, der im Mittelalter weitgehend vergessen war, im 16. Jahrhundert aber über englische Schauspieltruppen nach Nürnberg gelangte: die römischantike Komödie, vor allem des Plautus.22 1. Die Sicherung von Zukunft durch listige Vernunft In den Fastnachtspielen des Hans Sachs stellt die List eines der am häufigsten verwendeten Handlungsmuster dar: Listig ist die Ehefrau, die ihrem Mann seine krankhafte Eifersucht austreiben und auf diese Weise ihre Ehe retten will.23 Listig ist Eulenspiegel, der einem Pfarrer sein kostbares Pferd abpresst, das der Braunschweiger Herzog für sich beansprucht;24 listig sind die Bauern, die ihrem Nachbarn eine Fastnachtsteuer abnötigen, indem sie ihm einreden, er sei krank25 usf. Was aber heißt hier List? Sie dient der Erlangung eines kurzfristigen Ziels, das durch eigene Planung und Kalkulation der einzelnen Schritte dorthin erreicht werden kann. Dabei liegt die Stärke des oder der Listigen darin, dass sie die Reaktionen ihrer Kontrahenten im Vorhinein berechnen und einplanen, worauf sie dann ihrerseits wieder reagieren können. Zwar ist die List ein Spiel mit einigen Unbekannten, doch liegt die Erfolgschance umso höher, je klüger der Listige sich dabei anstellt. List also ist subjektive Leistung. Sie schafft Zukunft und gibt weitgehende Gewissheit, dass der einmal gefasste Plan auch tatsächlich realisiert wird, sofern nicht ein noch listigerer Kontrahent den eigenen Plan zunichte macht. In Hans Sachs’ Fastnachtspiel vom Eifersüchtigen,26 der sich als Priester verkleidet und seiner eigenen Frau die Beichte abnehmen will, um sie des Ehebruchs zu überführen, passiert genau dies: Die Ehefrau lässt sich auf das Spiel von List und Gegenlist ein, beichtet tatsächlich einen ganzen Ehebruchroman mit 20

21 22 23 24

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Hans Sachs, ›Der Eifersüchtige‹ (= Ein Faßnachtspiel mit 4 Personen und wird genennet der groß Eyferer, der sein Weib Beicht höret), in: Wuttke [Anm. 9], Nr. 15, S. 184–199. Ayrer, ›Ein Faßnachtspil, der verlohren Engellendisch Jann Posset‹, wie Anm. 9. Vgl. Anm. 8. Vgl. Anm. 20. Hans Sachs, ›Eulenspiegel und des Pfaffen Haushälterin‹ (= Ein fasnacht spiel mit 4 personen: Eulenspigel mit der pfaffen kellerin und dem pfert), in: Wuttke [Anm. 9], Nr. 16, S. 201–220. Hans Sachs, ›Ein fasnacht spil mit fünf personen (Der schwanger Pawer)‹, in: Dreizehn Fastnachtspiele [Anm. 15], S. 70–81. Siehe Anm. 20.

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einem anderen Pfaffen, erreicht es aber gerade dadurch, dass ihr Mann, wie geplant, reagiert, sich in Erwartung des angeblichen Liebhabers seiner Frau mit Harnisch und Schrot bewaffnet auf die Lauer legt, aber doch nur zur lächerlichen Figur wird. Denn in dem Maße, wie er dem Phantom eines Liebhabers seiner Frau hinterherjagt, wird deutlich, dass er dem listigen Plan seiner Frau nicht gewachsen ist: Sie zieht an den Fäden, die ihn in Bewegung setzen, während er noch meint, ihren Ehebruch beweisen zu können. Es gehört zu den Besonderheiten von Sachs’ Fastnachtspielen, dass er sich mit dem höhnisch schadenfrohen Gelächter über die Borniertheit der Dummen nicht begnügt, sondern Ehefrau und eifersüchtigen Ehemann wieder in Harmonie vereint. Zwar sieht sie sich von ihm und seiner Eifersucht schikaniert und gequält. Gleichwohl mündet das Spiel in die Einsicht des Eifersüchtigen in seine Fehler und in die erneute Gemeinschaft von Ehefrau und Ehemann, die durch dessen Eifersucht extrem gefährdet war. Und so beschließt der Eyferer mit dieser Einsicht das Spiel: Mein Frau, ich bitt umb gnad und gunst! Erst merck ich wol in einer sumb, Daß du bist auffrichtig und frumb. Wil dir vertrauen nun in allen, Mein Eyfersucht gar lassen fallen. Daß uns kein unrhat darauß wachß, Wünscht uns zu Nürnberg H[ans] Sachs (V. 333–339).

Die Ehe aber, davon sind Sachs, aber auch Ehe- und Gesellschaftstheoretiker der Zeit, wie z. B. die Wittenberger Reformatoren, überzeugt, ist die Grundlage von Familie, Staat und Gesellschaft. Ebenso wie Ehebruch oder Eifersucht nicht nur Ehe und Familie, sondern auch das städtische Gemeinwesen gefährden, schafft erst die Sicherung der Ehe die Gewissheit, dass Ordnung und Sicherheit der Stadt wiederhergestellt sind.27 Diese Gewissheit liegt nahezu allen Fastnachtspielen des Hans Sachs zugrunde. Das Faszinierende an den Fastnachtspielen Jakob Ayrers nun, des zweiten großen Nürnberger Fastnachtspielautors des 16. Jahrhunderts, sehe ich darin, dass sie die gleichen Spielmuster und Topoi des Fastnachtspiels wie Sachs benutzen, in ihrer Inszenierung aber zu ganz anderen Ergebnissen gelangen. Wir haben zu prüfen, ob es sich dabei um eine Zerstörung, eine Erneuerung oder aber um eine Transformation der Gattung Fastnachtspiel in einen anderen Spieltyp handelt.

27

Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass Haus und Familie (‘Oikonomia christiana’) als Mikrokosmos der Gesellschaft gedacht werden, die diesem Makrokosmos (‘Politik’) in Struktur und Herrschaftsaufbau entsprechen müssen. Beide müssen harmonieren, wenn Recht, Ordnung und Bestand des ganzen Gemeinwesens gesichert sein sollen. Ausführlicher dazu vgl. Walter Raitz, Werner Röcke u. Dieter Seitz, Konfessionalisierung der Reformation und Verkirchlichung des alltäglichen Lebens, in: Röcke u. Münkler, Die Literatur im Übergang [Anm. 14], S. 281–316, hier S. 293–298 (= »Ehe und Familie«).

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2. Die Emergenz des Zufalls aus der Planung der Zukunft. Der Übergang vom Fastnachtspiel zur Komödie Auch in Ayrers ›Fassnachtspiel, der verlohren Engellendisch Jahnn Posset‹28 geht es um List: in diesem Fall um den Versuch eines eifersüchtigen Ehemanns, dem Ehebruch seiner Frau und damit einer Verletzung seiner Ehre wirksam zu begegnen. Das Stück ist als Spiel um Sicherheit und Gewissheit, Vertrauen und Misstrauen, Wahrheit und Unwahrheit angelegt. Der alte Simplicius hat eine junge Frau geheiratet, der er – wie sich bald zeigt, zu Recht – misstraut. Als er zu einer Reise aufbrechen muss, beauftragt er Jann, dem er vertraut, seine Frau zu beaufsichtigen und niemanden einzulassen, Haus und Ehre zu schützen. Simplicius also sieht die möglichen Gefahren der Zukunft, denen er mit Vertrauen und klaren Instruktionen für Jann zu begegnen sucht. Es gehört zur Topik der Ehebruchinszenierungen in Fastnachtspiel und Schwankdichtung, dass diese Bemühungen des dummen Ehemanns um eine Sicherung seiner Ehre und seiner Ehe durch die Raffinesse und die listige Planung seiner klügeren Ehefrau konterkariert und in der Regel auch zum Scheitern gebracht werden. Beide also, Ehemann und Ehefrau, versuchen die Zukunft zu planen und zu beeinflussen. Sie wissen, dass in der Zukunft – so für den Ehemann – Gefahren, aber auch – so für die Ehefrau – Möglichkeiten zu Ehebruch und Liebesglück liegen, die es zu verhindern bzw. zu fördern gilt. Zwar erfolgt diese Planung der Zukunft durch beide Eheleute auf unterschiedliche Weise. Gemeinsam aber ist ihnen der Versuch, die Unwägbarkeiten der Zukunft in den Griff zu bekommen, sei es nun durch Vorsichtsmaßnahmen oder durch listige Planung. Dieses traditionelle Modell literarischer Ehebruchsinszenierungen nun erfährt durch die Dienerfigur des Jann Posset eine neue Perspektive. Er steht im Mittelpunkt dieser Spiele. Er ist wohl auch die Figur, die Ayrer an den englischen Komödien seiner Zeit besonders fasziniert hat. Denn Jann steht zwischen den Versuchen von Hausherr und Hausfrau, den Unwägbarkeiten der Zukunft zu begegnen. Er will beiden gehorsam sein, dabei aber auch sein eigenes Spiel spielen. Er folgt dem Gebot des Simplicius, niemanden ins Haus zu lassen, würde aber das Geld des Liebhabers (Amator), der ihn bestechen will, schon nehmen, wenn der denn welches hätte. Ebenso folgt er schließlich auch dem Gebot der Ehefrau, ihr Wein zu holen und das Haus zu verlassen, gerät dadurch aber in die schlimmsten Konfusionen. Denn Duplicia tut genau das, was bereits in ihrem Namen angelegt ist: Sie lässt den Amator in Janns Kleider schlüpfen, schickt ihn ebenfalls nach Wein, verdoppelt ihn also und schafft sich damit die Möglichkeit zu einem Rendezvous, das Simplicius verhindern wollte. Duplicia also ist eine Künstlerin listiger Planung und Verkleidung. Es ist ihr ranck (V. 244), d. h. ihre List und ihre planerische Kompetenz, die sie dazu befähigt, Liebesglück zu gestalten, gewissermaßen also ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so wie es viele listige Ehefrauen in der Novellen- und Schwankdichtung ebenso wie im Fastnachtspiel auch schon getan haben. Insofern sehe ich die Pointe von Ayrers Stück auch nicht in 28

Ayrer, ›Der verlohren Engellendisch Jahnn Posset‹ [Anm. 9], S. 2907–2927.

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Duplicias Raffinesse, sondern in deren Konsequenzen für den Diener Jann Posset. Denn für den ist dadurch eine Welt zusammengebrochen. Als er vom Weinkauf in sein – wie er sicher annimmt – Haus zurückkommt, steht er mit seiner Weinkanne schon da, so dass weder sein Hinweis auf seinen Status und seine Funktion, er sei Deß Herrn Diener, deß das Haus ist (V. 328), ihm hier irgendetwas nutzt, noch auch der Verweis auf die Weinkanne, die er schließlich noch in der Hand halte,29 oder auf den Gasthof, wo er den Wein geholt habe,30 irgendwie weiterhilft. Jann hat sowohl seinen Namen als auch seine Funktion, seine soziale und berufliche Zuordnung sowie seine Geschichte verloren. Denn vor ihm steht einer, der all das auch für sich beansprucht und es mit derselben Gewissheit vertritt. Damit aber beginnt ein Spiel der Verwirrungen und verlorenen Identität, des Zweifels an der Realität und an sich selbst, dem Jann nicht gewachsen ist: Er weint und klagt und hat sich selbst verloren: Ach, sol ich nicht mein Jammer klagn? Daß ich Jann wer, das hett ich gschworn. So seh ich wol, ich bin verlorn. Und ist ein andrer worn auß mir, Den hat die Frau nein gfuehrt mit ir, Und mich ubel geschlagen auß (V. 380–385).

Jann ist in dieser Verwirrung seiner selbst nicht zu helfen. Zwar hat er vorher schon das Publikum um Entscheidungshilfe gebeten, doch bleibt er mit dieser prinzipiellen Verunsicherung seiner Person, seiner Geschichte, seiner Identität allein. Ich kan mich selbst nicht kennen recht, [bekennt er seinem Doppelgänger Amator, W. R.] Ob ichs bin oder ob dus seist, Dieweil du eben auch Jann heist. Hast gleich eben wie ich ein kleid Und haben Wein gholt allbeid Und seind all zween deß Herren knecht. Ich bitt euch, ihr lieben leut, secht, Welcher sey der recht Jann geborn, Ob unser zween auß mir seind worn. Ich kann mich nicht besinnen schir (V. 348–357).

Dieser Jann kennt sich selbst nicht mehr. Identität kann man bekanntlich ganz unterschiedlich definieren. »Wie immer man (aber)« – schreibt Alois Hahn in seinem wichtigen Aufsatz über ‘Partizipative Identitäten’ – »soziale Identität definieren will, es bleibt unvermeidlich, daß Identität durch Fremdheit konstituiert wird. Jede Selbstbeschreibung muß Alterität in Anspruch nehmen. [Denn] wenn man sagt, was man ist, muß man dies in Abgrenzung von dem tun, was man nicht ist.«31 Jann Posset aller29

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31

Vgl. dazu den Regiehinweis: »Jann zeigt ihm [dem als Jann verkleideten Amator, W. R.] die Kandel und spricht ‘Dasselbig ihr nicht reden solt. Ich hab meiner Frauen gholt Wein.’« Ayrer, ›Der verlohren Engellendisch Jahnn Posset‹ [Anm. 9], V. 332f. Den Wein thet ich der Frauen holn, / Und zum Warzeichen bey der Cron. Ayrer, ›Der verlohren Engellendisch Jahnn Posset‹ [Anm. 9], V. 336f. Alois Hahn, Partizipative Identitäten, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a. M. 2000, S. 15.

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dings ist diese Möglichkeit genommen. Er findet keinen Fremden und keine Alterität, sondern sich selbst, kann also seine Identität nicht nur nicht gewinnen, sondern verliert sogar die Möglichkeit zur Selbstidentifikation.32 Damit aber sieht sich Jann sehr viel radikaler als alle anderen Figuren des Spiels einer Herrschaft des Zufalls, des Unkalkulierbaren und Kontingenten ausgesetzt. Zwar hat er durchaus versucht, trotz aller Loyalität zu Hausherr und Hausfrau sein eigenes Spiel zu spielen. Eben daran aber scheitert er und gerät stattdessen in einen Strudel von Ungewissheiten, in den er zunächst auch Simplicius hineinzieht. Denn als der von seiner Reise zurückkommt und sein Haus betreten will, ist dieses von Duplicia in ein Wirtshaus verwandelt worden, in welchem man ihn nicht kennt und aus dem man auch ihn vertreibt. Dramaturgisch erfolgt diese Metamorphose des Hauses durch ein einfaches Wirtshausschild, das Duplicia an ihrem Haus anbringt. Für Jann allerdings ist damit auch noch die letzte Gewissheit seiner Identität geschwunden. Denn da nun auch sein Herr Simplicius in dieses Spiel der Verwirrungen und missglückten Identifikationen hineingezogen wird, sieht er keinerlei Möglichkeit mehr, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und da er die Zeichen, in diesem Fall das Wirtshausschild, als Indikatoren von Realität nimmt, bleibt nur die Gewissheit, dass er keinerlei Gewissheit mehr hat: Mir seind da vor einem Wirthshauß, [erklärt er seinem Herrn Simplicius, W. R.] Dann es henckt je ein Zeiger rauß. Das Hauß kann warlich nicht eur sein (V. 411–413).

So bleiben ihm nur das Eingeständnis, dass er jede Orientierung und jede Möglichkeit, sich selbst wieder zu finden, verloren habe, und die ratlose Frage: O, wir seind verlorn! wir seind verlorn O lieber Herr, was fang wir an (V. 422f.)?

Zwar lösen sich die Verwirrungen und Irritationen schließlich auf; das Haus wird wieder – indem das Wirtshausschild entfernt wird – zum Haus des Simplicius; Duplicia empfängt ihren Mann, als wäre nichts gewesen; und dieser versteht endlich, dass er hintergangen worden ist, was er natürlich dem Diener Jann zur Last legt und ihn aus dem Haus jagt. Mit dem Schluss des Spiels also ist die Fastnachtspielwelt wieder in ihr Recht gesetzt: Die kluge Frau hat gewonnen, der tumbe Ehemann hat verloren, der Diener Jann muss die Zeche zahlen: Pack dich balt zu Hauß dein strassen! [ruft Simplicius Jann hinterher, W. R.] Hab einander mal besser acht! Gott geb euch alln ein gute Nacht (V. 502–504)!

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Zu den Problemen einer theoretischen Bestimmung »persönlicher Identität und Identifikation vor der Moderne« vgl. Peter von Moos, Einleitung, in: ders. (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln [usw.] 2004 (Norm und Struktur 23), S. 1–24.

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Trotz dieser Rückkehr des Spiels in den vertrauten Rahmen des Fastnachtspiels ist der Gattungsrahmen des Fastnachtspiels in seinem Verlauf gründlich verändert worden. 3. Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie Verwirrungen durch Personenverwechslungen, durch Verkleidungen und scheinbare Verdopplungen von Personen waren schon in der antiken Komödie sehr beliebt und repräsentieren zumindest im Komödienwerk von Plautus einen von vier Komödientypen.33 Am bekanntesten dürfte bis heute der ›Amphitruo‹ sein, das Spiel vom Göttervater Zeus, der die Gestalt des Amphytrion, des Gatten der Alkmene, annimmt, mit ihr Herkules zeugt und damit erhebliche Verwirrungen verursacht.34 In der Frühen Neuzeit hingegen war eine andere Plautus-Komödie noch beliebter und für die Renaissance der antiken Komödie sowie die Anfänge eines neuen Typs von Komödie von größter Bedeutung: die ›Menaechmi‹.35 Dieses Spiel von den beiden Zwillingsbrüdern, die in früher Kindheit voneinander getrennt werden, erwachsen geworden unerkannt wieder zusammentreffen und dabei eine ganze Fülle komischster Verwechslungen und Verwicklungen, Verwirrungen und Verrücktheiten bis hin zum drohenden Wahnsinn erfahren, war Ausgangspunkt und Muster eines Typs von Komödie, der das kunstvolle Spiel mit allen nur denkbaren Verwirrungen der eigenen Identität in den Mittelpunkt stellt. Identitätszweifel und Selbstverlust; der Bruch zwischen dem tatsächlich Gesehenen und dem für wahr Gehaltenen; die Ungewissheit über das eigene Selbst und die eigenen Handlungsmöglichkeiten bilden wichtige Bausteine dieses Komödientyps, der im 16. Jahrhundert, offensichtlich im Rückgriff auf die ›Menaechmi‹ des Plautus, sowohl in England als auch in Deutschland entwickelt wurde. So z. B. waren die ›Menaechmi‹ die Vorlage für Shakespeares ›Comedy of Errors‹ (um 1594).36 Doch auch schon Hans Sachs mit seiner ›Comedi Plauti, heyst Monechmo und hat 5 actus‹ (1548)37 und dann vor allem Jacob Ayrer ließen sich diesen Stoff nicht entgehen: Ayrer hat ihn seiner ›Comedia von zweyen brüdern auß Syracusa, die lang einander nicht gesehen hetten unnd aber von gestalt und person einander so ehnlich waren, das man allenthalben einen vor den anderen ansahe‹, zugrunde gelegt, die aber – anders als sein Fastnachtspiel von John Posset – merkwürdig konventionell bleibt.38 Offen33

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38

Im Anschluss an Manfred Fuhrmann, Plautus, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. IV, München 1979, Sp. 911–917. Plautus, ›Amphitruo‹, in: Plautus. Terenz. Die römische Komödie. In den Übersetzungen v. Wilhelm Binder u. Johann Jacob Christian Donner, hg. v. Walther Ludwig, München 1990, S. 45–96. Plautus, ›Menaechmi‹ (die beiden Menaechmi), in: Plautus. Terenz. [Anm. 34], S. 191–242. William Shakespeare, ›Die Komödie der Irrungen‹, in: William Shakespeare’s Dramatische Werke, hg. v. Friedrich Bodenstedt, Bd. 2, 4. Aufl., Leipzig 1880, S. 1–73. Hans Sachs, ›Ein comedi Plauti mit 10 personen, heyst Monechmo unnd hat 5 actus‹, in: Hans Sachs, Werke, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 7, Tübingen 1873 (BLVSt 115), S. 98– 123. Ayrers Dramen, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 3, Stuttgart 1865 (BLVSt 78), S. 2133–2175.

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sichtlich – so verstehe ich diesen Unterschied zwischen Ayrers Fastnachtspiel und seiner Komödienadaptation – hat die Kenntnis der englischen error-plays oder der ›Menaechmi‹-Komödie des Plautus erst in Ayrers Jann-Posset-Spielen Ansätze zu einer Transformation des Fastnachtspiels ermöglicht. Der Rückgriff auf die antike Komödie, insbesondere die ›Menaechmi‹, gern auch ‘Komödie der Irrungen’ genannt, hat Ayrer neue Perspektiven für das eigene Dramenschaffen eröffnet. Dazu noch einige abschließende Überlegungen. Plautus’ Komödie von den beiden ›Menaechmi‹ ist mehr als ein Spiel der Verwechslungen und Intrigen, der Täuschungen und Verwirrungen. Zwar ist sie all das auch, doch macht sie darüber hinaus auch eine Verunsicherung über die eigene Identität, ja eine »Identitätsgefährdung« sichtbar, die weit über den »spaßigen Klamauk« von Irrungen und Wirrungen hinausgeht. Plautus’ ›Menaechmi‹-Komödie bietet, so formuliert Manfred Brauneck, »Verwirrspiele am Rande der Katastrophe«.39 Sie beginnt mit einfachen Verwicklungen, die aus dem schlichten Umstand einer verblüffenden Ähnlichkeit der beiden Brüder resultiert, die nach langer Zeit unerkannt wieder zusammenkommen und ihre Gattinnen, Diener und Hetären in die komischsten Verwirrungen stoßen. Zugleich aber münden diese Verwirrungen in einen Strudel der Selbsttäuschungen und Selbstzweifel, der verunsicherten, ja gebrochenen Identitäten und gespielten Verrücktheit, die durchaus in der Gefahr steht, in tatsächliche Verrücktheit umzuschlagen. Zwar wird dieser »Rand der Katastrophe« bei Plautus nicht überschritten. Als Menetekel des Identitätsverlusts ist sie aber durchaus präsent, auch wenn das Spiel der Verwirrungen schließlich in der ‘Anagnorisis’, im Wiedererkennen der beiden Brüder und in der komödientypischen Lösung aller Konflikte endet. In Hans Sachs’ und auch Jakob Ayrers Bearbeitungen von Plautus’ ›Menaechmi‹-Komödie ist davon nicht viel übrig geblieben. Zum Beispiel hat Sachs sich in seiner ›Comedi Plauti heisst Monechmo‹ auf das Spiel der Verwechslungen und daraus resultierenden Verwirrungen beschränkt, wohingegen die Identitätsgefährdungen am »Rande der Katastrophe«, die Plautus so präzise herausarbeitet, bei ihm gänzlich fehlen; er konnte wohl wenig mit ihnen anfangen. Sachs geht es nicht um Probleme der Identität, sondern bestenfalls der Identifikation der beiden Menaechmi-Brüder. Er setzt in Szene, was sich zwischen ihnen an Trennungen und Verwechslungen, an Schwierigkeiten des Wiedererkennens und der Identifikation, nicht aber an Verwirrungen des Ichs und seiner Identität ergibt. Schon diese Trennungen und Verwechslungen aber hält Sachs für außerordentlich problematisch und für eine Gefahr für den Frieden von Ehe, Familie und Stadt. So ist wohl zu erklären, dass er Plautus’ verwegenes Verwirrspiel mit der Gattin und der Hetäre des einen Menaechmus, das aber auch dessen Bruder erfreut und erheitert, zum Anlass einer etwas sauertöpfischen Ehedidaxe nimmt: Das man darinn erkenne entlich, Wie gar unehrlich und so schentlich Sey einem erbaren ehman, 39

Brauneck [Anm. 8], S. 237.

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Wenn er sich als hencket an Ein ander leichtfertiges weib (S. 122).

Die Schlussmahnung an Zuschauer und Zuschauerinnen bleibt denn auch in diesem moralischen Deutungsrahmen, dem es ausschließlich um die Sicherung des ehelichfamiliären und innerstädtischen Friedens geht: Ir trew hatten in irer ehe, Kein frembde lieb annemen mehe. Ein ehelich lieb ist ausserwelt, Die gott und den menschen gefelt. Das ehlich lieb und trew auffwachs Im ehling stand, das wünscht Hanns Sachs (S. 122f.).

Jakob Ayrers Bearbeitung40 von Plautus’ Komödie steht Hans Sachs’ ›comedi‹ hinsichtlich ihrer Verharmlosung und Reduktion auf eine plakative Moral in nichts nach. Zwar erweitert er die eindeutige (und einlinige) Ehedidaxe des Hans Sachs zum Appell an sein Publikum, sich selbst aus dem Spiel das herauszuziehen, was ihm von Nutzen sein kann: Was gut ist, das behalt darauß (S. 2174, V. 28). Allerdings ändert das nichts daran, dass auch Ayrer in Plautus’ Komödie nur ein Exemplum moralischer Belehrungen, nicht aber die tiefe Verunsicherung eines Menschen zu sehen vermag, der den Boden unter den Füßen zu verlieren droht und nur mit knapper Not in dem Komödienschluss erlöst wird. Das aber ist dramen- und theatergeschichtlich insofern besonders auffällig, da Ayrer diese Dimensionen menschlicher Verwirrungen, Selbstzweifel und Identitätsbrüche in seinem Fastnachtspiel vom engelländischem Jahnn durchaus zu sehen vermag. Offensichtlich, so verstehe ich diesen widersprüchlichen Befund, bietet erst die »Dialogisierung«,41 diese – wie Greenblatt sagen würde »negotiation«42 – von Fastnachtspiel und antiker Komödie für Ayrer die Möglichkeit, das Verwirrpotential, das die Komödien des Plautus enthalten, auch tatsächlich umzusetzen, wohingegen diese Umsetzung in den Bearbeitungen der antiken Komödie – zumindest bei Sachs und Ayrer – nicht erfolgt. Natürlich sind Ayrers Fastnachtspiele mit Jann Posset keine Komödien vom Typ des Plautus oder der englischen error-plays. Einzelne Annäherungen aber zeigen sie durchaus, die gerade dem Umgang mit Unwägbarkeiten und Kontingenzen, mit Identitätszweifeln und Identitätsverlusten geschuldet sind und aus dem Gattungsspiel zwischen Fastnachtspiel und antiker Komödie erwachsen. Es ist, so 40

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Jakob Ayrer, ›Comedia von zweyen brüdern auß Syracusa, die lang einander nicht gesehen hetten unnd aber von gestalt und person einander so ehnlich waren, das man allenthalben einen vor den anderen ansahe‹, in: Ayrers Dramen [Anm. 38], S. 2133–2175. Michail Bachtin, Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner, Berlin/Weimar 1986 und Jürgen Lehmann, ‘Dialogizität’, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin [usw.] 1997, S. 356f. Vgl. dazu Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990 (engl. Original: Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley 1988).

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Werner Röcke

könnte man vielleicht sagen, die je neue Reproduktion, aber auch die Dialogisierung mit der antiken Komödie, die eine Modifikation des Fastnachtspiels erzwingt, damit aber auch sein Ende herbeiführt. Insofern haben wir es bei Ayrers Fastnachtspielen weder mit einer Zerstörung noch mit einer bloßen Reproduktion des Fastnachtspiels zu tun, sondern mit einer Transformation, die zugleich sein schleichendes Ende vorbereitet. Das Bild von einer »kreativen Zerstörung«,43 das ursprünglich aus der Ökonomie stammt, aber auch darüber hinaus anschlussfähig sein könnte, ist dafür vielleicht am ehesten angemessen. Das komische Spiel des 17. Jahrhunderts jedenfalls hat mit dem Fastnachtspiel des 16. Jahrhunderts, insbesondere des Hans Sachs und Jakob Ayrers, nicht mehr viel gemein.

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Im Anschluss an den von Joseph Alois Schumpeter für das Feld der Ökonomie geprägten Begriff (in: ders., Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942, S. 83).

FASTNACHTSPIEL UND GEISTLICHES SPIEL

Gerhard Wolf

Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel Das ›Erlauer Osterspiel‹ und die Nürnberger Arztspiele K 82 und K 6

I. Zu den wirkungsvollsten Setzungen innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft gehört bekanntlich ein Dichotomisierungsindex, in dem weltlich und geistlich, Fastnacht und Passionszeit, Spiel und Ernst, Normverkehrung und Normaffirmation, laikale Performanz und Paränese oder heidnisches Ritual und christliche Liturgie voneinander getrennt erscheinen. Daran haben auch die Diskussionen über die Berechtigung der Unterscheidung von geistlich und weltlich1 oder über die Gattungstrennung von geistlichem Spiel und weltlichem Fastnachtspiel nicht viel zu ändern vermocht.2 Zugrunde liegt dem die Vorstellung eines ‘Christlichen Mittelalters’, in dem der Überbau der Religion so dominant gewesen sei, dass sich alles menschliche Handeln aus seiner Nähe oder Ferne zur Religion bestimmen ließe. Dementsprechend wurde das Fastnachtspiel von der Forschung lange Zeit als weltlicher Kontrapunkt zu einer von Normen und Regeln geprägten christlichen Öffentlichkeit gesehen und unabhängig davon, ob man der Fastnacht selber einen paränetischen Zweck oder nur eine gesellschaftliche Ventilfunktion mit heidnischer Tradition zuschrieb,3 der ‘Sitz im 1

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Vgl. Hansjürgen Linke, Sozialisation und Vergesellschaftung im mittelalterlichen Drama und Theater, in: Christel Meier, Heinz Meyer u. Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496: 4), S. 63–92, hier S. 82. Die enge Verbindung zwischen beiden Bereichen in der mittelalterlichen Literatur behandelt der Sammelband von Christoph Huber, Burghart Wachinger u. Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur, Tübingen 2000. Grundsätzlich zu dieser Fragestellung siehe Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75–126. Die Fragwürdigkeit der Differenzierung belegt auch die Existenz geistlicher Fastnachtspiele. Zu den Aufführungsbelegen und den behandelten Stoffen siehe Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), bes. S. 99–103, S. 359–362. Vgl. dazu Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der ‘Verkehrten Welt’, Graz [usw.] 1986; ders., Fastnacht und Fastnachtsspiel. Zur Säkularisierung geistlicher Volksschauspiele bei Hans Sachs und ihrer Vorgeschichte, in: Horst Brunner, Gerhard Hirschmann u. Fritz Schnelbögl (Hgg.), Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, Nürnberg 1976 (Nürnberger Forschungen 19), S. 182–218. Eine eher säkulare Sicht auf die Fast-

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Gerhard Wolf

Leben’ der Spiele mit einer Verkehrung geltender Normen definiert. So heißt es etwa zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel, die dort zu beobachtende Inszenierungsstrategie steuere auf »totale Verkehrung zu, auf einen perspektivischen Standort, von dem aus Prinzipien und alle Ordnungen der Welt aus den Angeln gehoben werden können.«4 Eine solche These basiert stillschweigend auf der Annahme eines weitgehend von kirchlichen und weltlichen Regeln dominierten Alltags und – daraus abgeleitet – einer Suche nach Formen, diese Normen zeitweise außer Kraft zu setzen bzw. zu dekonstruieren. Zu diesem Zirkelschluss vom Text auf eine soziokulturelle Realität des Spätmittelalters haben die Fastnachtspiele mit ihren uneindeutigen Aussagen und ihrem nach allen Seiten zielenden Spott nicht wenig beigetragen: Ironie, Komik und Ridikülisierung aller Lebensbereiche in den Fastnachtspielen schienen ein Indiz für die Existenz eines solchen rigide geregelten Alltags zu sein, der in der Ausnahmesituation der Fastnacht aufgehoben wurde. Kronzeuge dieser These ist Michail Bachtin, der für das Mittelalter von der Existenz von zwei Parallelwelten, offizielles Leben und Karnevalsleben, ausgeht, wobei letzteres als groteske Umkehrung der Normen des ersteren verstanden wird.5 Mit Bachtin wird grosso modo die lebensweltliche Funktion der Fastnachtspiele als Flucht vor einer niederdrückenden Realität gesehen, in der der Einzelne neben der allfälligen Sorge um das Seelenheil vor allem bestrebt gewesen sei, nicht gegen die zahllosen religiösen und sozialen Normen zu verstoßen. Zweifellos gibt es hierfür den einen oder anderen konkreten Beleg,6 aber zum einen ist es methodologisch problematisch von meist der geistlichen Literatur entnommenen Zeugnissen auf das Lebensgefühl einer ganzen Epoche zu schließen, zum anderen ist die Vorstellung eines festen Normenkorsetts, in das der Einzelne eingeschnürt ist, oft deutlich als heuristisches Mittel zu identifizieren, um Fastnacht und Fastnachtspiele als Ausnahmesituation zu interpretieren. Die Forschung hat diese methodologische Problematik ihres eigenen Ansatzes bislang weniger betrachtet und sich viel mehr für die Wirkung der Spiele interessiert und gefragt, ob die Normverkehrung eher der Affirmation des Bestehenden oder der Subversion bzw. Kritik an der Welt diene bzw. ob nicht das Prinzip der totalen Verkehrung selbst Inhalt und Ziel der Fastnachtspiele sei. Diesen Ansatz repräsentieren etwa Hedda Ragotzky und Christa Ortmann, für die die Macht des Verkehrungsprinzips die Macht einer Grenzüberschreitung ist, die sich nicht mit dichotomischen Kategorien beschreiben lässt. Insofern entzöge sich »die

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nachtspiele vertritt hingegen Werner Mezger, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanz 1991 (Konstanzer Bibliothek 15). Zur Kritik an Moser vgl. auch Norbert Schindler, Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 122–125. Christa Ortmann u. Hedda Ragotzy, Itlicher zeit tut man ir recht. Zu Recht und Funktion der Fastnacht aus der Sicht Nürnberger Spiele des 15. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 207–218, hier S. 212. Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M. 1990, hier S. 41–44. Vgl. dazu etwa Werner Röcke, Text und Ritual. Spielformen des Performativen in der Fastnachtkultur des späten Mittelalters, Das Mittelalter 5 (2000), S. 83–100, hier S. 91–95.

Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel

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Fastnacht diesen Kategorisierungen genauso wie den Instrumentalisierungen der Negativdidaktiker, Zivilisationstheoretiker und Sozialpsychologen.«7 Indessen transportieren Verkehrungen immer das Ausgeschlossene und Verkehrte mit sich und zudem enthält jedes öffentliche Spiel einen repräsentativen und gesellschaftskonstitutiven Anteil, der sich nicht ohne weiteres mit einer totalen Verkehrung zusammenbringen lässt.8 Für das weltliche Fastnachtspiel gehe ich daher nicht generell vom Prinzip einer totalen, sondern nur von einer zielgerichteten Normverkehrung aus, die eine Anbindung an verschiedene konkrete gesellschaftliche Diskurse erlaubt. Dies hat zudem den Vorteil, dass die Gattung Fastnachtspiel geöffnet wird für Vergleiche mit spezifischen Normverkehrungen in anderen Gattungen, insbesondere im geistlichen Spiel. Die hier bestehenden Interferenzen sind schon seit langem bekannt, sie erstrecken sich nicht nur auf Salbenkauf und Jüngerwettlauf im Oster-, Passions- und Fronleichnamspiel, sondern etwa auch auf Szenen im Weihnachtsspiel9 – die Gattung ‘Spiel’ war offenbar latent für eine solche Grenzüberschreitung zwischen Heiligem und Profanem prädestiniert. Deren Funktion zu erschließen, ist jedoch keine triviale Aufgabe, denn wie stets ist zu fragen, worauf die Komik zielt und worüber das Publikum gegebenenfalls gelacht haben könnte.10 Die von der Forschung auf diese Fragen bereits gegebenen (spekulativen) Antworten sollen hier nicht um eine weitere vermehrt werden, vielmehr will ich im Vorfeld einer Antwort die Inszenierungsstrategien der Texte, die Art und Weise, wie Komik erzeugt wird, näher betrachten. Dabei gehe ich von der These aus, dass die spätmittelalterlichen Spiele – wie jede Kunst – nicht bloß genussvolle Erheiterung erzeugen, sondern eine zweite, imaginierte Realität, von der aus die erste beobachtet werden kann und es dem Rezipienten freisteht, »in welchem Sinne er die Brücke schlagen will: idealisierend, kritisch, affirmativ oder im Sinne der Entdeckung eigener Erfahrung.«11 Die Komik verhindert dabei in besonderer Weise, einen Text eindeutig affirmativ oder kritisch zu lesen; sie schärft mit der Verweigerung einer einsinnigen Lösung den Blick auf diejenigen Diskurse der Texte, die in ihrer Parallel7 8

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Ragotzky u. Ortmann [Anm. 4], S. 217. Auch Ragotzky geht davon aus, dass Verkehrung nicht ausschließlich um ihrer selbst willen dargestellt wird, sondern auch für die Deutung einer politischen Situation genutzt werden kann; vgl. Hedda Ragotzky, Der Bauer in der Narrenrolle. Zur Funktion ‘verkehrter Welt’ im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Horst Wenzel (Hg.), Typus und Funktion im Mittelalter, München 1983, S. 77–102, hier S. 95–98. Demgegenüber wird ein einheitliches Erkenntnisziel der Texte etwa bestritten von Bruno Quast, Zwischenwelten. Poetologische Überlegungen zu den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, in: Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger (Hgg.), Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 205–219. Vgl. Gerhard Wolf, O, du fröhliche! Zur Komik im Hessischen Weihnachtsspiel, in: Werner Röcke u. Helga Neumann (Hgg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn [usw.] 1999, S. 155–174. Siehe dazu Wolfgang Iser, Das Komische: ein Kipp-Phänomen, in: Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 398–402, hier bes. S. 401. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1999, S. 231.

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führung ihre Widersprüchlichkeit offenbaren und die mittels der Komik ‘bearbeitet’ werden. Untersucht werden sollen im Folgenden komische Inszenierung und inhaltliche Diskursvielfalt anhand der Salbenkrämerszene des ›Erlauer Osterspiels‹12 und zweier Nürnberger Arztspiele. Fragen der literaturgeschichtlichen Abhängigkeit zwischen beiden Texttypen sind bereits des Öfteren behandelt worden13 und werden hier vernachlässigt, da die Rekonstruktion der motivgeschichtlichen Entwicklung14 nur bedingt zur Erschließung der Inszenierungsstrategien des Komischen und seiner Funktion beiträgt. Auf die Einbeziehung des der Salbenkrämerszene des ›Erlauer Osterspiels‹ an sich näherstehenden Sterzinger Fastnachtspiels ›Ipocras‹15 verzichte ich nicht nur deswegen, weil der Sammelband einen Beitrag zum Nürnberger Fastnachtspiel leisten soll, sondern weil in den Nürnberger Arztspielen mit ihrer abbreviaturhaften Verarbeitung der im ›Erlauer Osterspiel‹ vorhandenen Motive die hier zu untersuchenden Inszenierungstechniken der Komik und die Bearbeitung gesellschaftlicher Diskurse unverstellt transparent werden. II. Nicht nur von der älteren Forschung wurden die Salbenkrämerszenen als Kontrastmedium eingestuft, mit dem der Abstand zwischen Heilsgeschichte und profaner Realität markiert werden sollte. Hansjürgen Linke, der die volkssprachigen Spiele 12

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Das ›Erlauer Osterspiel‹ wird zitiert nach der neuesten Ausgabe: Texte und Melodien der ›Erlauer Spiele‹, hg. v. Wolfgang Suppan, auf Grund einer Textübertragung von Johannes Janota, Tutzing 1990 (Musikethnologische Sammelbände 11), S. 43–115. Für Erläuterungen werden die Anmerkungen der Ausgabe Hartls herangezogen: Osterspiele, mit Einleitung und Anmerkungen auf Grund der Hs. hg. v. Eduard Hartl, Leipzig 1937, unveränd. reprograf. Nachdr. Darmstadt 1969 (Deutsche Literatur. Reihe Drama des Mittelalters 2). Zur Überlieferung siehe Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 40). Nach Bergmann war die »Spielsammlung nicht unmittelbar zur Aufführung bestimmt« (S. 108). Die ältere Forschungsdiskussion findet sich bei Alfred Bäschlin, Die altdeutschen Salbenkrämerspiele, Mulhouse 1929, S. 98–101, die jüngere in der Monographie von Johannes Streif, Das Arztspiel des vorreformatorischen Fastnachtspiels, Diss. masch. München 2000. Vgl. dazu etwa Hans Rueff, Das rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 1219. Mit Untersuchungen zur Textgeschichte des deutschen Osterspiels, Berlin 1925 (Gesellschaft der Wissenschaften, Göttingen. Abhandlungen. Phil.-hist. Klasse. NF 18,1), S. 115–126; Rolf Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters. Köln [usw.] 1970 (Kölner germanistische Studien 4), S. 25–36. Ein Beispiel dafür bietet das von Hans Rueff untersuchte Motiv der drei Marien. Vgl. dazu unten S. 309 und Anm. 33. Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften (1510–1535) von Vigil Raber und nach der Ausg. Oswald Zingerles (1886), hg. v. Werner M. Bauer, Wien 1982 (Wiener Neudrucke 6), S. 89–105.

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des Spätmittelalters in einem »Spannungsfeld zwischen dogmatischer Weltfeindlichkeit und sozialer Dynamik«16 sieht, kommt zu dem Ergebnis: »Allenthalben wird in [den geistlichen Spielen] als das höchste aller erstrebenswerten Ziele die Erlangung des ewigen Lebens und ewiger Freude propagiert, die dem mit Gott wiedervereinigten Seligen dessen immerwährender Anblick bereitet. Unter dieser Perspektive wird die diesseitige Welt [. . .] in den Salbenkrämer-‘Szenen’ der Oster-, Passions-, und Fronleichnamspiele mit der Heilswelt drastisch kontrastiert, aus der Lumpenperspektive als Unwert dargestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben.«17 Die weitere motivgeschichtliche Entwicklung der Salbenkrämerszene zum selbständigen, fastnächtlichen Arztspiel sei dann so verlaufen, dass man den »gegenbildliche[n] Bezug zur ChristusHandlung – hier Seelenarzt und Heilswelt, da kurpfuschender Leibesarzt und absichtlich entwertetes saeculum – nicht mehr wahr[nahm]«18 und sich das Motiv verselbständigen konnte. Indessen ist der literaturgeschichtliche Zusammenhang so schematisch nicht, weil sowohl die Salbenkrämerszenen wie auch die Arztspiele von einer Vielzahl von Diskursen bestimmt werden, die bei weitem nicht nur Heilsgeschichte oder weltliche ‘Kurpfuscherei’ thematisieren. Zudem ist auch im geistlichen Spiel der Gegensatz Seelenarzt/Leibesarzt nicht zwingend. Im ›Egerer Fronleichnamsspiel‹19 (V. 7864–7901) bleibt der Medicus Teil der Heilsgeschichte, der Verkauf der Salben an die Marien geht ohne jede Diskussion vonstatten, der Diener des Arztes, Rubin, der bereits im ›Innsbrucker Osterspiel‹ eine prominente, eigenständige Funktion hat, bleibt Statist. Eine ausschließliche Betonung der ‘Jammertal’-Funktion der Salbenkrämerszene20 übersieht nicht nur die inhaltliche Komplexität und den ästhetischen Aufwand, der etwa im ›Erlauer Osterspiel‹ mit dem Motiv betrieben wird. Es ist schwer vorstellbar, dass diese dilatatio materiae nur der apotropäischen Abwehr einer verkehrten Welt dienen soll, wenn gleichzeitig das Vergnügen des Publikums an den bizarren Situationen, in die die Protagonisten geraten, mit entsprechenden Inszenierungstechniken geweckt wird. Besonders im ›Erlauer Osterspiel‹ behalten – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – die Figuren selbst in der Niederlage ihre eigene Würde und Logik. Hier wird demnach ein Eigenwert menschlichen Lebens vorgeführt, welches auch in seiner Verblendung nichts von seinem Geltungsanspruch einbüßt.

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Linke, Sozialisation [Anm. 1], S. 64. Ebd., S. 64. Diese Position wird bereits in der ersten ausführlichen Arbeit zu den Salbenkrämerszenen vertreten; vgl. Bäschlin [Anm. 13], der von einem »Geiste des Verneinens« (S. 90) spricht. Linke, Sozialisation [Anm. 1], S. 82; vgl. dazu auch Eckhard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters, Tübingen 1961 (Hermaea 8), S. 59f. Egerer Fronleichnamsspiel, hg. v. Gustav Milchsack, Stuttgart 1881 (BLVSt 156), V. 7864– 7901. Vgl. Hansjürgen Linke, Zwischen Jammertal und Schlaraffenland. Verteufelung und Verunwirklichung des saeculum im geistlichen Drama des Mittelalters, ZfdA 100 (1971), S. 350– 370.

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Die Lizenz für die Einfügung von Salbenkrämerspiel oder Jüngerwettlauf in ein geistliches Osterspiel wird von der Forschung vornehmlich mit der Auslösung des im Osterritus vorgesehenen risus paschalis erklärt.21 Angesichts des kirchlichen Lachverbots erscheint der Einbruch der Heiterkeit in die Paränese zwar ungewöhnlich, aber aufgrund des notwendigen, begrenzten Ostergelächters legitimiert. Diese Erklärung überzeugt jedoch im Hinblick auf die Salbenkrämerszene im ›Erlauer Osterspiel‹ nicht mehr, weil hier die ins Komische gewendete Kreatürlichkeit des Menschen und eine groteske Alltagsrealität das Spielgeschehen auch umfangmäßig dominieren,22 das Lachen der Gemeinde quasi auf Dauer gestellt wird. Mit der Konzentration auf den allgemeinen Erklärungsansatz des Ostergelächters wurde in der Forschung auch verdrängt, dass in den komischen Szenen über höchst unterschiedliche Themen – menschliche Schwäche, Dummheit, Ehrgeiz, Bosheit, Tod – gelacht wird. Mit dem Ostergelächter wurde also nicht eine österliche Heiterkeit aufgrund der heilsgeschichtlichen Überwindung des Todes erzeugt, sondern ein Lachen des Publikums über seine eigenen Verhaltensweisen. Die Funktion des Ostergelächters ist demnach ambig, neben dem erlösenden Lachen verfolgt es auch eine paränetische Absicht, wenn es dem Publikum ‘im Halse stecken bleibt’. III. Die Salbenkrämerszene ist im deutschen Oster- und Passionsspiel weit verbreitet, bei der Einarbeitung übernahmen die Autoren oft fast wortwörtlich ihre Vorlagen.23 Das ›Erlauer Osterspiel‹ weist hier einen hohen Gemeinsamkeitsgrad mit dem ›Innsbrucker‹24 und dem ›Wiener Osterspiel‹25 auf. Mit dem ›Innsbrucker Osterspiel‹ teilt es die Helferwerbung, Salbenpreis, Nuper-veni-Lied, Länderaufzählung, paradoxes 21

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Belege für die Rechtfertigung sowie der (protestantischen) Kritik des Ostergelächters bietet Maria Caterina Jacobelli, Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen, Regensburg 1992; bes. S. 11–44; vgl. auch Werner Röcke, Ostergelächter. Körpersprache und rituelle Komik in Inszenierungen des ‘risus paschalis’, in: Klaus Ridder u. Otto Langer (Hgg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur/Body, Sign, Culture 11), S. 335–350. Nach der Ausgabe Suppan u. Janota [Anm. 12] umfasst die Salbenkrämerszene mit 885 Versen zwei Drittel des gesamten Spiels. Die genauen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Spielen sind Gegenstand der Studie von Barbara Thoran, Studien zu den österlichen Spielen des deutschen Mittelalters. Ein Beitrag zur Klärung ihrer Abhängigkeit voneinander, 2., durchges. u. erg. Aufl., Göppingen 1976 (GAG 199). Nach Steinbach [Anm. 14], S. 38 lagen dem Bearbeiter des ›Erlauer Osterspiels‹ »mehrere Fassungen vor, die er miteinander verbunden hat.« Zu den Salbenkrämerszenen im ›Erlauer Osterspiel‹ vgl. Bäschlin [Anm. 13], S. 62–68; Hartl [Anm. 12], S. 198–204. Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri (mhd./nhd.), hg., übers., mit Anm. u. einem Nachwort vers. v. Rudolf Meier, Stuttgart 1962 (RUB 8660/8661), V. 540–1074. Die Salbenkrämerszene nimmt 40 Prozent des Gesamttextes ein. Das Wiener Osterspiel, hg. v. Hans Blosen, Berlin 1979 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 33), V. 638–763.

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Meisterlob, Streit der Eheleute um den Salbenverkauf, Züchtigung der Ehefrau durch ihren Gatten, den Altersunterschied zwischen dem Ehepaar und die daraus folgende sexuelle Unbefriedigtheit der Frau sowie deren gemeinsame Flucht mit dem Diener während des Schlafes ihres Mannes. Neu oder wesentlich erweitert sind im ›Erlauer Osterspiel‹ der ökonomische und der sexuelle Diskurs (z. B. durch ein ‘arbeitsvertraglich’ gesichertes Anrecht des Rubinus auf die Medica), die Konsequenzen aus dem jetzt verdoppelten Streit der Eheleute sowie ein ‘Vor’- und ‘Nachspruch’, die beide ganz im Stil der An- bzw. Abkündigung eines fastnächtlichen ‘Einkehrspiels’ gehalten sind und von den zwei Dienern Rubinus bzw. Pusterpalkch,26 die als ‘Ausschreier’ agieren, vorgetragen werden. In der Salbenkrämerszene des ›Erlauer Osterspiels‹ wird aber nicht nur formal eine Annäherung an den Typus ‘Fastnachtspiel’ vollzogen, sondern es werden mit der Neugewichtung einzelner Diskurse vom Autor auch inhaltlich andere Akzente gesetzt. Die Salbenkrämerszene setzt im ›Erlauer Osterspiel‹ mit einer aus dem Fastnachtspiel geläufigen ‘Bauernverspottung’ (V. 57–62) sowie einem Vorspruch ein, der als prologus praeter rem fungiert (V. 63–73) und in dem die Bitte um Gehör mit einer zweiten um Nachsicht bei Reimfehlern27 kombiniert wird. Der Medicus, der danach auftritt, ist weit in der Welt herumgekommen, hat sich dabei finanziell völlig ruiniert und will sich nun in der Heimat wieder sanieren (V. 81–99). Die Anwerbung des Rubinus, der sich mit einem hypertrophen Selbstlob seiner Welterfahrung empfiehlt und damit Strategien effektiver Arbeitssuche persifliert, ist dementsprechend eine ‘Marketingmaßnahme’ – nicht die Qualität der Behandlung, sondern die Platzierung des Produkts ‘Gesundheit’ verspricht Erfolg. Rubinus verlangt und erhält seinerseits einen Diener namens Pusterpalkch (V. 106–328). Breiten erzählerischen Raum nimmt dann die Vorstellung der Medica ein, die zunächst ihrem Mann davongelaufen zu sein scheint, dann aber von Pusterpalkch unter dem Publikum gefunden wird (V. 329– 426). Die anschließende Sequenz bietet den genretypischen, paradoxen ‘Arztpreis’, mit dem vor den Behandlungskünsten des Medicus gewarnt wird, und eine komplementäre Vorstellung der Medica, die sich rühmt, verlorene Jungfernschaft wiederherstellen zu können (V. 427–680). Mit dem Auftritt der drei Marien beginnt die im ›Innsbrucker Osterspiel‹ enthaltene Abfolge von Salbenpreis und -verkauf (V. 741– 799), dem handfesten Streit zwischen Medicus und Medica (V. 800–840), der Verführung der Medica durch Rubinus (V. 841–880), ihrer gemeinsamen Flucht (V. 881– 904) und dem Abschied des Arztes (V. 907–933). Eduard Hartl hat die Differenz zwischen der heiligen Handlung von Kreuzigung und Auferstehung und den »tiefsten und unsittlichsten Niederungen einer grob sinnlichen Welt« als Grundlage einer kontrastiven Komik der Salbenkrämerszene im ›Erlauer Osterspiel‹ beschrieben.28 Diese These, die auch heute noch der Subtext vieler 26

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Tunc veniet Rubinus proclamando ludum (vor V. 56) und Et sic medicus surgens et recedat Pusterpalkch benedicens populum (vor V. 933). dar an sol uns niemant wenckchen, / ob wier an den reimen icht wenckchen (V. 71f.). Hartl [Anm. 12], S. 204.

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Interpretationen geistlicher Spiele des Mittelalters ist, berücksichtigt nicht, dass zumindest auf der Handlungsebene des ›Erlauer Osterspiels‹ das Heilige und Profane strikt getrennt bleiben. Die drei Marien gehen auf die unflätigen Bemerkungen des Rubinus gar nicht ein, sondern bleiben davon völlig unberührt. Man braucht jedoch gar nicht die Dichotomie heilig/profan bemühen, um das komische Potential des ›Erlauer Osterspiels‹ zu erschließen, vielmehr genügt der Blick auf textinterne und intertextuelle Elemente der Salbenkrämerszene.29 So entsteht ein komischer Kontrast durch das Spiel mit den Mustern der höfischen Literatur: Rubinus, der sich sonst gern der Fäkalsprache bedient, droht etwa dem Medicus mit formelhaften Wendungen aus Heldenepos30 und Minnesang.31 Der düpierte Medicus apostrophiert seinen Diener als Pittrolf (V. 913) und verweist damit auf den unrühmlichen Kampf Bitterolfs gegen Siegfried. Kontrastive Komik enthält auch das höfische ‘Ihrzen’, mit dem sich die ansonsten als triebhaft gezeichneten Figuren des Rubinus und der Medica ansprechen. Die Inszenierungstechnik des Komischen folgt hier dem üblichen intertextuellen Verfahren, das von den Mären bekannt ist: Der Autor, der damit nebenbei seine literarischen Kenntnisse unter Beweis stellt, verwendet literarische Versatzstücke und bringt sie in Gegensatz zu den Verhaltensweisen der einzelnen Figuren. Es scheint demnach nicht die Makroperspektive einer totalen Verkehrung im Zentrum zu stehen, sondern eher eine ‘innerweltliche, kleinräumige Komik’, die dem Zuhörer nicht jedes Mal den Bezug zur Heilsgeschichte abverlangt. Mit dem literarischen Diskurs öffnet sich die Salbenkrämerszene aber auch für andere, weltliche Diskurse, denn implizit wird hier über Anspruch und Wirklichkeit, über die Differenz von Norm und Normrealisierung verhandelt. Im Folgenden sollen zunächst einige dieser Diskurse im Hinblick auf die Frage untersucht werden, ob sich hier über die Komik und ihre Inszenierungsstrategien Hinweise auf die Verhandlung relevanter Themen finden lassen. Ausgangsthese ist dabei, dass die Funktion der Salbenkrämerszene im spöttischen Verlachen des Alltagslebens32 keineswegs aufgeht, sondern sich ihre Bedeutung erst erschließt, wenn man sie als Gegenstand der Parallelisierung, Perspektivierung oder ‘Verhandlung’ gesellschaftlicher Diskurse versteht. a) Religiöser Diskurs Auch wenn in der Salbenkrämerszene das Heilsgeschehen und das Profane weitgehend getrennt voneinander bleiben, findet sich doch in der Eingangsszene, in der 29

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Dies hat bereits Hartl [Anm. 12], S. 202 erkannt, die Funktion jedoch nur im Kontrast zum Heiligen gesehen. nue rütz umb mein grint nicht ze vil, / oder sich hebt ein rauffen oder ein spil / zwischen uns paiden, / unz das uns der hunger wiert schaiden (V. 158–161); vgl. Steinbach [Anm. 14], S. 37. Eine Travestie von Minnedienst und Natureingang des Minnesangs bietet die Rede des Medicus (!) an seinen Diener (V. 210–219) und ein ‘Minnelied’ des Rubinus (V. 384–398). Vgl. Bäschlin [Anm. 17], S. 90–94.

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Begegnung des Rubinus mit den drei Marien, eine Sequenz, die zum einen Komik aufgrund der sprachlichen Diskrepanz zwischen der dem liturgischen Ton des Ostertropos angenäherten Rede der drei Marien und den Fäkalausdrücken Rubinus’ erzeugt, zum anderen aber auch einen Anschluss an den theologischen Kontext bietet. Rubinus richtet seine Anrede, die zunächst mit einer lateinischen, Gelehrsamkeit vortäuschenden Unsinnsformel beginnt, an vier Frauen: R u b i n u s dicit: ‘Meus calue fier’, sprach ein ochs zu einem stier. got grüeß euch, ier frauen all vier! oder sind eur drei? ich siech, sam mier in di augen geschißen sei! ier tragt herzenswär: ich west gern, was euch wär. (›Erlauer Osterspiel‹ V. 714–720)

Das Spiel mit der unterschiedlichen Zahl der Marien kennt auch das ›Innsbrucker Osterspiel‹. Dort sieht Rubin drei Frauen, hält dies jedoch für eine Täuschung und fragt: sint vwir nicht wen dry? / ich wente, vwir schelde funffe sy!33 Der Rubinus des ›Erlauer Osterspiels‹, dem vom Arzt drei Frauen angekündigt worden sind, gibt einen konkreten Grund für seine Unsicherheit an: Es ist eine Augentrübung mit derselben Ursache wie die Trübung des Urins in der (fastnachtspieltypischen) Harnschau.34 Der theologische Hintergrund der Bemerkung sind sowohl im ›Innsbrucker Osterspiel‹ wie im ›Erlauer Osterspiel‹ die unterschiedlichen Angaben der vier Evangelien über die Zahl der bei Kreuzigung und Grabbesuch anwesenden Marien. Während in den Evangelien die Zahl der Marien zwischen eins und drei variiert, sieht Rubinus im ›Erlauer Osterspiel‹ jedoch vier, die nirgends vermerkt sind.35 Das Motiv der Augentrübung ist mit seiner einmaligen Erwähnung für den folgenden Text wieder erledigt. Komik wird demnach generiert, indem disparate oder ungeklärte Elemente eines Diskurses anzitiert werden, um so ein theologisches Thema, wie die ‘Wahrheit’ der heiligen Schrift angesichts der Widersprüche in den Evangelien ‘aufzurufen’ und für eine Diskussion des Publikums anschließbar zu machen.

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Siehe ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 24], V. 922f. Die falsche Vermutung könnte sich ergeben aus der Einbeziehung einer ‘fünften’ Maria, die im 10. Kapitel des Lukasevangeliums und im 11. Kapitel des Johannesevangeliums als Maria von Bethanien erwähnt wird. Demgegenüber erklärt Rueff [Anm. 14], S. 119, dies mit dem Eindringen eines Werbungsmotivs, das etwa aus dem ›Wiener Osterspiel‹ (V. 694–697) bekannt ist. Zur Harnschau im Arztspiel vgl. unten S. 324f. Dies könnte man so verstehen, dass er neben den drei Marien (Maria Magdalena, Maria Kleophas, die Mutter des Jakobus, Maria Salome) des Markusevangeliums (Mk 16,1–8) entweder noch die Mutter Maria dazuzählt, die im Johannesevangelium (Joh 19,25–27) bei der Kreuzigung anwesend gewesen ist, oder Maria Kleophas und die Maria, Mutter des Jakobus, als zwei Personen zählt. In den Evangelien sind die Frauen nicht eindeutig bezeichnet.

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b) Herrschaftsdiskurs Schon die Beziehungen der vier Figuren, die die Salbenkrämerszene im ›Erlauer Osterspiel‹ bestreiten (Medicus, Medica, Rubinus, Pusterbalkch), belegen, dass hier keine allgemeine Normverkehrung, sondern eine sehr spezifische Verkehrung von Herrschaftsverhältnissen verhandelt wird. Der Medicus ist derjenige, der gegenüber Rubinus und Pusterbalkch seinen Herrschaftsanspruch als ‘Arbeitgeber’, gegenüber seiner Frau seine meister-Rolle als Ehemann durchsetzen müsste, dem dies jedoch allenfalls sporadisch gelingt. Bei den Gesprächen zwischen den Figuren tritt an die Stelle einer normgemäßen, vertikalen Argumentation eine horizontale, die die gegenseitige Abhängigkeit der drei offenbart. Bisweilen wird die Norm sogar umgekehrt, wenn schon bei der Einstellungsverhandlung Rubinus dem Arzt Prügel androht (V. 158–161). Innerhalb der Erzählung entsteht hier ein Kausalnexus zu der folgenden Arzt-Diener-Beziehung: Die fehlende Reaktion des Medicus scheint Anlass dafür zu sein, dass es der Diener später an jedem Respekt fehlen lässt, wenn er ihn unverblümt simant (‘Pantoffelheld’; V. 735) nennt, als pöswicht beschimpft (V. 850) und ihm schließlich seinen Kot als Kopfkissen anbietet (leg dich auf meinn drekch, der ist waich; V. 856). Die Ehefrau gibt explizit einen Grund für ihre Missachtung der ordogemäßen Vorrangstellung ihres Ehemanns an; es ist derselbe, der auch für Rubinus’ Verachtung genannt wird: wan er ist gar ein lugner / und aller läit trugner (V. 378f.). Es ist demnach die völlige Verfehlung seiner Rolle als Arzt, Apotheker und Ehemann, die seine Autorität zerstört.36 Mangels Gegenargumente folgt einer Logik der Entstehung von Gewalt gemäß daraus der Versuch des Arztes, zumindest gegenüber seiner Frau seine bedrohte Herrschaft handfest durchzusetzen. Gegenüber seinen beiden Dienern begnügt er sich mit der Gewaltandrohung. Dies entspricht nicht nur der Tradition der Salbenkrämerszenen, in der das Abhängigkeitsverhältnis des Arztes von seinen Dienern enger gestaltet ist als das zu seiner Frau, vielmehr zeigt das ›Erlauer Osterspiel‹ mit seiner mikroskopischen Sezierung ungerechtfertigter Herrschaft, wie sehr Macht einer moralischen Grundlage bedarf. Fehlt sie wie im Fall des betrügerischen und gewalttätigen Arztes, hat dies nicht nur die Zerrüttung des Ehelebens, sondern eine völlige soziale Ausgrenzung zur Folge.37 Rubinus thematisiert diese Abhängigkeit des Herren vom öffentlichen Ansehen, wenn er den Arzt, als dieser seine Frau für die angebliche Verschleuderung der Salben verprügelt, auf die Konsequenzen für seine Autorität aufmerksam macht: lat ier euch eur weib zornig machen, / des möchten wol all läit lachen (V. 851f.). Der Arzt befindet sich hier in einer Zwickmühle, weil er unterschiedlichen äußeren Anforderungen genügen muss. Einer36

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Rubinus muss den Arzt bei der Eingangsszene erst darauf hinweisen, wie er sich mit seiner Frau wieder versöhnen kann. Dies geschieht bezeichnenderweise mit den Topoi höfischer Literatur, die damit ebenfalls in den Strudel der Verkehrung gezogen werden: Herr ier sült auf stan / und meiner fraun engegen gan; / ier sült gahen / und solt sei schoen enphahen: / nempt sei pei der cholweißen hant, / oder ier wert paid gelestert und geschamt (V. 399–404). Noch differenzierter wird die Logik ehelicher Gewalt und ihre Folgen im ›Wiener Osterspiel‹ [Anm. 25], V. 704–761 entwickelt.

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seits soll er um seines öffentlichen Ansehens willen souveräne Gelassenheit demonstrieren, andererseits gegenüber seiner Frau seinen Herrschaftsanspruch durchsetzen. Letztlich entscheidet er sich für die letztere Option, weil er ‘das längere Messer’ tragen muss: M e d i c u s ad u x o r e m : Vacum do al mala venteur! ier seit ungeheur: und erlat uns eurs challn und tuet zu di snalln, oder ich gib eu ains an das naspant mit meiner cholweißen hant. lat mich das lenger meßer tragen, oder ich gib eu ains an den chragen. (›Erlauer Osterspiel‹ V. 815–822)

Wo moralische Autorität und logische Argumentationskompetenz fehlen – so kann man aus dieser Rede des Medicus folgern – wird die ungenügende Ausfüllung der ordogemäßen Rolle durch Drohungen und Gewalt ersetzt. In einer weiteren Volte wird diese Erkenntnis der Grundlage von Gewalt nun durch Rubinus mit dem religiösen Diskurs verbunden und so eine paradoxe Situation hergestellt – der Vollzug des Heilsgeschehen erscheint vom Teufel initiiert und führt in der Alltagswelt zum Unheil. R u b i n u s dicit gaudendo: Da, da nüßel! mein herr slecht mein fraun an den drüßel duerch der dreier tempeltreten, welher teufl hat se her gepeten? pring er sei nicht schier von hinn, er geit ier sand Johans minn mit der faust an den chragen. (›Erlauer Osterspiel‹ V. 823–829)38

Der Anlass für das Fehlverhalten des Arztes sind also ausgerechnet die drei Marien, die den ‘Einbruch’ des Heiligen in das Profane markieren und jetzt als vom Teufel gesandte tempeltreten (‘Tempelrennerinnen’) bezeichnet werden. Das Heilige wird im Alltag nicht als solches erkannt, es erscheint als Ausbund der Hölle, weil es die von Menschen geschaffenen und defizienten Ordnungen unterminiert. An der Komik der Prügelszene lässt sich daher die Multiperspektivität des Textes wie in einem Prisma 38

Die Medica reagiert auf die Schläge mit dem Ausruf Ach, ach, laider! / sind das di neun chlaider, / de du mier zu den ostern hast geben? / das du phingsten nimmer müeßt geleben! (›Erlauer Osterspiel‹ [Anm. 12], V. 837–840). Dies ist nahezu identisch mit der Klage der Uxor im ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 24], V. 1017–1020. Es ist im ›Erlauer Osterspiel‹ viel weniger die allenfalls performativ wirkende Prügelszene, die die Komik auslöst, als die Behauptung des Rubinus, der die drei Marien als die Schuldigen für die Verprügelung der Frau benennt: Mit ihrer Beleidigung als ‘Tempelrennerinnen’ wird eine Bezeichnung gewählt, die einen völligen Kontrast zur Heilsgeschichte herstellt. Vgl. dazu auch ›Wiener Osterspiel‹ [Anm. 25], V. 682–685.

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beobachten. Auf der einen Seite wird durch die provokative Bezeichnung der drei Marien das Heilige verspottet, gleichzeitig weist dieser Spott aber auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zurück. Das Lachen über die Komik der Szene kann daher beim Zuschauer auch zur Erkenntnis seiner eigenen heilsgeschichtlichen Situation und einer dementsprechenden Deutung eigener Leiberfahrung führen. c) Gesundheitsdiskurs Die Komik der Salbenkrämerszene liegt typusgemäß in dem Kontrast zwischen dem profanen Heilungsversprechen der Ärzte und Apotheker und ihrer Darstellung bei der Zubereitung der Heilmittel, der Krankheitsdiagnosen und der Instrumentenweisung. So preist im ›Erlauer Osterspiel‹ der Medicus den drei Marien ein Salböl an, das [. . .] frißt den läiten di maul / und macht das frisch fleisch faul (V. 763f.), und über seine Kompetenz bei der Harnschau spricht Rubinus das Urteil mit den Worten: des ist er doch chlueg, / er säch doch chaum ein esel in einem chrueg (V. 444f.). Die Forschung hat die Funktion dieser Selbstentlarvung, die wir ebenfalls aus den Arztspielen kennen, in der Gegenüberstellung Seelenarzt Christi – weltlicher Leibesarzt gesehen,39 dabei aber nicht berücksichtigt, dass hier die heilsgeschichtliche Dimension gerade nicht entfaltet wird, vielmehr deutliche, den religiösen Kontext überschießende Elemente vorhanden sind. Dies lässt eher auf einen selbständigen Diskurs schließen, der konkrete Ängste des Publikums gegenüber der ärztlichen Kunst bedienen könnte: Die genaue Herstellung der Medikamente ist nur den Eingeweihten bekannt, sie könnten genauso gut aus mukchenmarkch [. . .], / roz, chot und nägelein (V. 629ff.) oder gar aus nunnenfürzl (V. 670) fabriziert sein. Da der Arzt und sein Diener aber umgekehrt als wahre Meister der Rhetorik präsentiert werden, fügt sich diese Form einer Arztsatire in eine geschichtliche Entwicklung, die von einer zunehmenden Theoretisierung und Spezialisierung der Medizin ihren Ausgang nimmt: Was von den Patienten nicht mehr verstanden wird, unterliegt leicht einer trivialen Deutung und dementsprechend wird auch im ›Erlauer Osterspiel‹ wie bei Hans Folz oder Sebastian Brant das Interesse des Arztes auf pure Geldgier reduziert. Deshalb ist der Gesundheitsdiskurs auch weniger mit dem religiösen, sondern viel mehr mit dem d) ökonomischen Diskurs verknüpft, der in der Salbenkrämerszene eine dominante Position einnimmt. Dieser Zusammenhang wird schon am Anfang des Spiels thematisiert, als der Arzt auf seine prekäre finanzielle Situation zu sprechen kommt, und er wird auch am Ende als entscheidender Grund für die Flucht des Arztes genannt: Weil er seine Pflicht nicht erfüllt hat, muss er die Rache seiner betrogenen Kunden fürchten. Aber nicht nur ihnen gegenüber denkt der Arzt ausschließlich in ökonomischen Kategorien: So be39

Vgl. Linke, Sozialisation [Anm. 1] u. oben S. 305.

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dauert er etwa den Verlust seines den Umsatz steigernden Dieners mehr als den seiner Frau. Auch sie argumentiert vornehmlich ökonomisch, bedient sich dabei aber einer Rationalität, die nicht in einer Normverkehrung ihre Erklärung findet. So vertritt die Medica ihre eigenen Interessen, indem sie die ihrer unmündigen Kinder mit einbezieht: Tunc m e d i c a clamans indignanter ad m e d i c u m : Woi, ier alter peghart, ich swer euch das pei meiner vart: wolt ier so ring verchauffen, ich wüerd eu wol zerauffen. gedenkcht ier nicht an eure chlaine chind, di da haim so nakchat sind, und an mich vil schönes weib? wan ier ligt pei einem stolzen leib und ier in tröstn solt, als ich oft gern wolt, so chert ier eu gegen der wend und chlagt eur lend: ier seit mier gar enwicht, wan ier mügt niderhalb der güertel nicht di salb wiert pei meinem leben nimmer umb das geld geben. (›Erlauer Osterspiel‹ V. 799–814)

Im Gegensatz zu ihrem Mann führt sich die Medica mit ihrer Argumentation selber nicht ad absurdum. So kritisiert sie den Salbenverkauf nicht aus Geiz, sondern mit Hinweis auf die Pflicht des Ehemanns und Hausvaters für den Unterhalt der gemeinsamen Kinder zu sorgen. Auch der Hinweis auf ihre eigenen Ansprüche – hier wird bezeichnenderweise eine Reminiszenz der Minneterminologie (V. 805) eingefügt – ist gerechtfertigt, weil sie selbst ebenfalls als Ehegattin vom Mann eine angemessene Versorgung erwarten darf. Der eigentliche rhetorische Höhepunkt der Argumentation der Medica ist die Vermischung des ökonomischen mit dem sexuellen Diskurs und der in den beiden Schlussversen erfolgende direkte Zusammenhang zwischen der Unlust ihres Mannes im Bett und ihrem Anspruch auf Teilhabe an ökonomischen Entscheidungen: Wenn der Medicus in seiner Rolle als Ehegatte versagt, hat dies zur Folge, dass auch die Ehefrau nicht mehr an die konventionelle Rollenverteilung gebunden ist und Ansprüche auf die Mitsprache im Bereich des dem Ehemann vorbehaltenen Geschäftsbetriebs erheben und durchsetzen kann. Ihr Anspruch auf sexuelle Befriedigung wird dabei auch als Hebel eingesetzt, um selber unmittelbaren Vorteil aus der Neuverteilung der Macht im Haus zu ziehen und materielle Kompensation in Form neuer Kleider zu erhalten.40

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Das Motiv der neuen Kleider wird dann wiederaufgenommen, wenn die Medica sich bei ihrem Mann für die empfangenen Prügel mit der Frage beschwert, ob diese die versprochenen neun kleider (V. 838) seien.

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e) Genderdiskurs Der Genderdiskurs, der ohnehin latent die Auseinandersetzung zwischen Medicus und Medica bestimmt, erhält am Ende der Salbenkrämerszene noch eine eigenständige Komponente, wenn im Anschluss an Verprügelung und Flucht der Medica die Figuren über Vor- und Nachteile der jetzt entstandenen Situation reflektieren. Gegenüber dem ›Innsbrucker Osterspiel‹, dessen Salbenkrämerszene abrupt endet,41 ist dies eine 100 Verse umfassende Zutat. Die Medica sieht sich jetzt eindeutig als Gewinnerin des Wechsels: M e d i c a iterum dicit: Nue merkcht, ier herrn wolgemuet und auch ier fraun guet: ein gueten wechsel hab ich getan, das ich ein alten man han geben umb ein jungen, der vert dort her von sprungen, mit dem ich mich tuemern wil unz an meins leibs zil; wen ich nicht enleug: er rüert es in dem zeug nach meins herzen gier; des entet nicht der alt stier. ich will auch dich gesegen nicht wan du pist mer an dem pött enwicht. (›Erlauer Osterspiel‹ V. 887–900)

Es wäre vorschnell, die Passage nur als Normverkehrung oder als bloße Misogynie zu interpretieren. Die Bedingung (Impotenz des alt stier), unter der die Trennung erfolgen kann, ist nämlich zuvor in einem ausführlichen Dialog zwischen Rubinus und der Medica erörtert worden, in dem ohne Ironie die Sexualität als entscheidend für das Funktionieren der Mann-Frau-Beziehung erscheint. Wie schon in der Kritik des Salbenverkaufs klagt die Medica jetzt selbstbewusst ein Recht ein, das auch durch das kirchliche Dogma sanktioniert ist. Die Komik resultiert nicht hieraus, sondern aus den Versprechungen eines Schlaraffenlandes durch Rubinus und dem topischen Hinweis der Medica auf die Gefahr der Verführung der Mädchen durch ihre Schullehrer.42 Da beides nicht im Zusammenhang mit der Flucht der Medica auf der Handlungsebene steht und die Argumente der Medica auf der Ebene der Sexualität nicht dementiert werden, wirken die komischen Elemente wie Beiwerk, das die Erkenntnis der Berechtigung der Argumente abmildert. Der besondere Reiz auch dieses Diskurses liegt damit in seiner heterogenen Gestalt. Einerseits trägt er zur Komik der Szene bei, andererseits werden mit ihm auch ernsthafte Werte wie die sexuellen Ansprüche der Frau diskutiert. Durch die Ambivalenz der Figuren und die Uneindeutigkeit ihrer 41 42

Vgl. ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 24], V. 1063–1070. MEDICA: Rubein, lieber puel, / nu füer mich nicht in di schuel! / der schuelmaister ist ein gräileich man, / er lernt mich des ich nie wegan: / chüm ich in das schuelhaus, / ich chum nimmer wider maid heraus (›Erlauer Osterspiel‹ [Anm. 12], V. 882–887).

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Positionen bleibt es im Wesentlichen dem Rezipienten überlassen, wie er das Spiel interpretiert. Zusammenfassend ist demnach die Funktion des Komischen in der Salbenkrämerszene des ›Erlauer Osterspiels‹ weder aus einer bloßen Unterhaltungs- noch einer totalen Verkehrungsintention abzuleiten. Vielmehr erweist sich Komik als eine Möglichkeit der Perspektivierung gesellschaftlicher Diskurse. Der ständige Wechsel zwischen inhaltlicher Diskussion bzw. der Diskursvermischung und den komischen Einschüben hält den Zuhörer immer in der latenten Erwartung des Nicht-Erwartbaren. Die Inszenierungsstrategie des Komischen steuert also nicht auf eine gezielte Verkehrung von Normen oder eine definitive Feststellung zu, sondern fungiert als eine Art ‘epischer Doppelpunkt’,43 mit dem die Ambivalenz der Aussagen unterstrichen wird. Komik eröffnet den Zugang zur Erkenntnis. Verhandelt wird dabei kein standesspezifisches Fehlverhalten, sieht man einmal von der ‘Quacksalberei’ des Medicus ab. Dessen Kampf mit seiner Ehegattin um die Vorherrschaft im Haus, seine Resignation und völliges sexuelles und ökonomisches Versagen haben eine anthropologische Dimension. Gezeigt wird, wie Menschen in ihren Alltagsängsten und -wünschen verfangen sind, sie also der Erlösung durch den Erlöser dringend bedürfen. Im Text entsteht eine Welt, in der schlechterdings alles möglich ist. Nicht nur betrügt die Ehefrau ihren Mann mindestens mit zwei Dienern und hofft auf innerweltliche ‘Erlösung’, sondern der Ehemann ist auch nicht genrehaft auf Rache und Vergeltung aus, vielmehr verzichtet er aus rationalen Gründen auf seine Frau. Die Komik entsteht aus der Parallelität verschiedener Diskurse, die sich zwar berühren, aber vom Text nicht wirklich in Verbindung miteinander gebracht werden. Die ambivalenten Effekte, die sich dabei ergeben, werden im ‘Nachspruch’ zu einer letzten Klimax geführt, wenn sich Pusterpalkch an die Zuhörer mit den Worten wendet: Ier herrn, got müeß euch gesegen; ier habt unser zwar wol gephlegen! habt ier von uns icht nuz genoemen, es mag euch wol ze reun choemen. ir habt gros geschäft mich dunkcht, wier haben euch geäfft mit unserm großn tant. wier haben noch verrer in unser land: also ge wier von dann und laß wier Marein zann! (›Erlauer Osterspiel‹ V. 933–942)

Die Grenzkreuzung zwischen Spiel und Kommentar hat irritierenderweise zur Folge, dass sowohl die Lehrhaftigkeit dieser Passage wie auch ihr Inhalt insgesamt bestritten werden. Wenn aber das Gesagte als leeres Geschwätz bezeichnet wird, obwohl darin 43

Begriff nach Hugo Kuhn, Erec, in: FS für Paul Kluckhohn u. Hermann Schneider, Tübingen 1948, S. 146, wiederabgedr. in ders., Dichtung und Welt im Mittelalter. Kleine Schriften, Bd. I, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 143.

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durchaus logische und kausal ableitbare Aussagen enthalten sind, dann stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich eine Verkehrung der Verkehrung sein oder ob nicht vielmehr der Zuhörer nochmals eigens auf die Ambivalenz und auf die vielfache Anschlussfähigkeit des Gehörten aufmerksam gemacht werden soll. Dies unterstreicht auch der merkwürdige Hinweis auf die drei weinenden Marien, die Pusterbalck sich selbst überlassen will: Das Spiel wird als solches noch einmal deutlich markiert, es ist keine performative Verkündigung der Heilsgeschichte, sondern dient dazu, einen genuinen künstlerischen Anspruch auf Verarbeitung sowohl lebensweltlicher wie religiöser Diskurse zu untermauern. Es ist deshalb kein Widerspruch, wenn im Osterspiel jetzt die Handlung mit der Grabesszene innerhalb des eigenständigen religiösen Diskurses fortgesetzt wird. IV. Die zahlreichen Motivparallelen zwischen den Arztspielen und den Salbenkrämerszenen sind von der Forschung bereits ausführlich beschrieben worden.44 Sie bestehen bei den Figuren, den verwendeten Namen, der Wirkungslosigkeit der Salben und Medikamente, der Übervorteilung der Kunden, der Werbung der Helfer seitens des Arztes, bei der ästhetischen Ausgestaltung, dem ironischen Lob des Arztes oder der Länderaufzählung.45 Die direkte Einordnung der Handlung in die Heilsgeschichte fehlt hingegen, an deren Stelle tritt das Motiv der medizinischen Heilung.46 Als Gegenspieler des Arztes fungieren im Arztspiel nicht mehr Ehefrau und Diener, sondern die Bauern, die damit zugleich eine Position besetzen, die im Osterspiel strukturell von den drei Marien ausgefüllt wird.47 44

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Vgl. Bäschlin [Anm. 13], S. 98–101 und zuletzt Streif [Anm. 13], S. 210–232; 261–281. Im Zusammenhang mit dieser Frage steht auch die Forschungskontroverse zur Existenz eines selbständigen, von Vaganten aufgeführten Krämerspiels; vgl. dazu Curt F. Bühler u. Carl Selmer, The Melk Salbenkrämerspiel. An unpublished middle high german Mercator play, Publications of the Modern Language Association of America 63 (1948), S. 21–63, hier S. 25; kritisch mit überzeugenden Argumenten hingegen Steinbach [Anm. 14], S. 29. Am engsten sind die Motivkorrespondenzen zwischen den Salbenkrämerszenen und dem Sterzinger Fastnachtspiel ›Ipocras‹ (Sterzinger Spiele [Anm. 15], S. 89–104). Gemeinsam sind hier »die Anwerbung des Dieners Rubin durch den Arzt, die Anwerbung von Unterdienern durch Rubin, die Ausrufung der Salben, eine Heilsszene, die Untreue der Arztfrau, die mit dem Diener Rubin durchbrennt, ihre Verklagung durch den anderen Diener und schließlich die Szene, in der der Arzt sein untreues Weib schlägt [. . .]« (Sterzinger Spiele [Anm. 15], S. 496). Allerdings ist der ›Ipocras‹ die Ausnahme, die meisten anderen Arztspiele und insbesondere die der Nürnberger Fastnachtspiele verzichten auf den Auftritt der Arztfrau und stellen die medizinische Heilung in den Mittelpunkt. Die literaturgenetische Entwicklung kann hier außer Betracht bleiben, denkbar ist sowohl eine Verselbständigung der Salbenkrämerszene zum weltlichen Fastnachtspiel, wie auch der Ausbau der an sich marginalen Salbenkrämerszene (vgl. Mk 16,1) durch die Einwirkung entsprechender Fastnachtspiele. Im Gegensatz zu den Salbenkrämerszenen hat eine noch am Unterhaltungspostulat orientierte Literaturwissenschaft darin einen Rückschritt von der Burleske zur Revue sehen wollen;

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Für den Typus des fastnächtlichen Arztspiels hat jüngst Johannes Streif48 auf die Ambivalenzen hingewiesen, die in diesen Spielen anzutreffen sind. So stehen medizinisch-biologisch-rationale Erklärungen neben grotesken Darstellungen und Vorschlägen unvermittelt und unabgegrenzt nebeneinander, das Rationale wird genauso behandelt wie das Absurd-Groteske. Diese Themen- und ‘Stilvermischung’ entspricht derjenigen der Salbenkrämerszenen in den Osterspielen. Die Gleichzeitigkeit bzw. Hybridität unterschiedlicher Diskurse – logische und medizinische Überlegungen stehen neben religiösen, sozialen und ökonomischen – ist demnach geradezu das signifikante Kennzeichen beider Formen und damit liegt die Frage nach der literarischen Leistung einer solchen Engführung verschiedener Diskurse im Modus der Komik nahe.49 Angesichts der Gemeinsamkeiten und der gezielten Motivverarbeitungen und -veränderungen lassen sich mit einem Vergleich der Salbenkrämerszenen und der Arztspiele die Inszenierungsstrategien des Komischen in beiden Formen wechselseitig beleuchten.50 Ich wähle als erstes Beispiel das Nürnberger Fastnachtspiel ›Der Arzt und die 12 Bauern‹ (K 82),51 welches zu den umfangreicheren Arztspielen zählt und das in dem ausführlichen Dialog der Bauern über Sinn und Wert ärztlicher Kunst eine besonders dichte Diskursvermischung bietet. Das Spiel beginnt zunächst konventionell mit einem auch aus den Salbenkrämerszenen bekannten Topos. Der Ausrufer kündigt einen maister Vivian an (S. 679,11–680,2) – und dekonstruiert zugleich seine medizinische Kompetenz, wenn er ihn als jemand charakterisiert, der die Blinden redend und die Stummen sehend machen kann. Damit wird ärztliche Kunst nicht einfach nur verlacht, sondern dies geschieht mittels des konkreten, nie auszuräumenden Verdachts, eine Heilung beruhe nicht auf der ärztlichen Kunst, sondern auf den Selbstheilungskräften des Körpers. Die eigentliche ‘Kunst’ der Ärzte bestehe dann darin, natürliche Prozesse

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vgl. Bäschlin [Anm. 13], S. 100. Fastnachtstypisch ist hingegen der Auftritt der Bauern, die im Zeichen fastnächtlicher Normverkehrung die Narrenrolle ausfüllen sollen, »deren Reiz vorrangig in der Sinnreduktion auf die Ebene direkter Körperlichkeit besteht« (Hedda Ragotzky, ‘Fastnachtspiel’, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin [usw.] 1997, S. 568–572, hier S. 570; vgl. dazu ausführlich dies. [Anm. 8], S. 77–102). Streif [Anm. 13]. Unberücksichtigt muss hier der repräsentative Charakter der Fastnachtspiele bleiben. Da einige dieser Stücke auch auf dem Markt aufgeführt worden sind (für Nürnberg vgl. Simon [Anm. 2], S. 310–315), wäre zu überlegen, ob das von Andrea Löther für die Nürnberger Fronleichnamsprozessionen herausgearbeitete Ergebnis, wonach hier der Status einzelner Herrschaftsträger bestimmt wurde, damit in Zusammenhang zu bringen ist (Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln [usw.] 1999 [Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit 12]), bes. S. 50–85. Zur repräsentativen Funktion der geistlichen Spiele vgl. Linke, Sozialisation [Anm. 1], S. 67f. Vgl. Linke, Unstimmige Opposition [Anm. 2], S. 102. Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46). Soweit nicht anders angegeben, werden die Fastnachtspiele nach dieser Ausgabe zitiert.

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als Ergebnis ihrer Bemühungen auszugeben. Der folgende Salbenpreis (S. 680,4– 681,7) enthält neben den fastnächtlichen Topoi der Wiederherstellung der Jungfrauenschaft oder dem Schutz vor den Folgen überhöhten Alkoholgenusses auch ein ökonomisches Argument für den Verkauf der Salben, mit dem zugleich die Verbindung von Medizin und Ökonomie als Thema des Spiels benannt und die erzählerische Grenze zwischen ‘Bühnenrealität’ und ‘Alltagsrealität’ gekreuzt wird: Vivian und sein Diener Augustin benötigen die Einnahmen aus dem Salbenverkauf, um ihrerseits den Wirt in der Aufführungssituation zufrieden zu stellen.52 Ärztliche und schauspielerische Kunst werden hier über das tertium comparationis der Ökonomie miteinander verbunden: Ärzte wie Schauspieler sind gleichermaßen auf Bezahlung angewiesen und deswegen sichert die ökonomische Abhängigkeit auch die Qualität der ärztlichen bzw. schauspielerischen Kunst. Eine solche ‘leistungsorientierte’ Bezahlung ist jedoch – wie die anschließende Beratung der Bauern zeigen wird – gerade im Bereich der Medizin nicht üblich und deswegen klagt sie der Text im Namen jener Regeln ein, die auch für die Kunst gelten. Die sich an den Salbenpreis anschließende, für die Nürnberger Arztspiele ungewöhnlich ausführliche Beratung der Bauern über Sinn und Nutzen ärztlicher Behandlung bildet den dominanten Mittelteil des Spiels. Die meisten Argumente stammen aus dem Bereich der Alltagsrealität, nur wenige aus dem Fastnachtsrepertoire. Anlass des Gesprächs ist die Erkrankung des Bauern Ackertritt und der Wunsch seines Freundes Ott, ihn zu maister Vivian zu bringen. Davon rät ein zweiter Bauer mit einem Betrugsverdacht ab (Wart, das dein der arzt nit spott, / Wann ich hör, sie sind gern trieger; S. 681,21f.) und greift damit indirekt die vorhergehende Selbstentlarvung des Arztes und seines Dieners im Salbenpreis bestätigend auf. Allerdings wird in der Rede des zweiten Bauern das Prinzip der Arztkritik durchbrochen, wenn er einräumt, einem Besuch des Arztes dann nicht zu widersprechen, falls dieser gereht wer (S. 681,23), d. h. es sich um einen nicht betrügerischen Arzt handelt. Diese differenzierte Sicht teilt der dritte Bauer, Friedel vom Zahn, der für die fachliche Kapazität Vivians aus eigener Erfahrung heraus bürgen will. Die weitere Diskussion konzentriert sich nun auf die Frage, welche Kriterien für die Differenzierung zwischen richtigen und falschen, guten und schlechten Ärzten anzuwenden seien und wie man Vivian danach beurteilen könne. Das Argument des vierten Bauern kreuzt zwar kurz die Grenze zwischen Fastnachts- und Alltagsrealität, wenn er vorschlägt, die für das Arzthonorar vorgesehenen 14 Pfund lieber gemeinsam zu vertrinken,53 aber er wechselt sogleich in den ernsthaften Modus, wenn er den Zusammenhang zwischen der Höhe des Honorars und den Heilungsaussichten verneint, weil Heilung keine Ware sei, die man für einen be52

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Leg auf, kneht, laß schauen / Di man und die frauen! / Di gelb salb, di rot und di weiß / Die hab ich gemacht mit ganzem fleiß, / Rosöl und auch ungent; / So sehens auch die leut pehent, / Ob die salben iemants töhten, / Das wir zu pfenning kumen möhten. / Augustin, lieber kneht mein, / Du waist wol, das wir dem wirt vil schuldig sein (S. 680,4–14). Und gib uns das gelt ümb guten wein / Und laß uns mit deinn freunten frölich sein! / Gebst du dem arzt hundert pfunt, / Zwar er machet dir deinn freunt nit gesunt (S. 682,4–7).

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stimmten Preis erwerben kann. Folgerichtig lehnt er die Beauftragung eines Arztes mit der Begründung ab: Si künnen nit mer, dann liegen und swetzen / Und die leut ümb ir gelt schetzen (S. 682,8f.). Wie schon der zweite Bauer rückt er damit wieder das primäre Interesse des Arztes, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in den Vordergrund. Demgegenüber ist die Heilung der Patienten aus der Perspektive des Arztes nachrangig: Die Ärzte sind zu falschen Versprechungen gezwungen, wenn sie ihr Einkommen sichern wollen. Der fünfte Bauer stellt sich wieder auf die Seite des Arztes und schlägt auch gleich selbst als Therapie eine Entleerung des Magens vor (S. 682,16). Dieses neue Argument rekurriert offenbar auf eine – nicht nur auf das Mittelalter beschränkte – Beobachtung, dass Menschen bei Krankheitsfällen in ihrer Umgebung spontan medizinische Ratschläge erteilen. Der sechste Bauer, Hillbrant von der Hül, glaubt wiederum nicht an die Wirkung ärztlicher Kunst. Hier kreuzt der Text erneut die Grenze zur fastnächtlichen Komik, wenn Hillbrant als Gegenbeweis nur die Heilung eines blinden Fohlens und eines einäugigen Hundes durch den Arzt zulässt. Mit dieser unmöglichen Forderung wird aber der Kritik an der ärztlichen Position partiell der Boden entzogen. Letztlich agiert der Kritiker des Arztstandes auf derselben Ebene wie der Diener beim Salbenpreis, indem beide Unmögliches versprechen bzw. fordern. Ein moralisches Argument steuert schließlich der siebte Bauer, Heinrich, bei, der an Ott appelliert, dem Kranken in jeder Weise beizustehen, selbst wenn ihn dies 100 Pfund kosten sollte: Mein Ott, ker dich nit daran! Du waist wol, das ain kranker man Arm ist zu aller stund; Und het er halt hundert pfunt, Da mit hilf dem freunt dein, Das er kum auß seiner pein. (K 82, S. 682,26–32)

Nachdem der achte Bauer ebenfalls die Gesundheit als das höchste Gut, für die keine Kosten gescheut werden dürfen, bezeichnet hat, reflektiert der neunte, Rumpolt, die Beratungssituation selber: Die einen raten für, die anderen gegen eine Hinzuziehung des Arztes und erweisen sich daher als toren, weil sie keine medizinische Kompetenz besitzen, von der aus sie dessen Wirken beurteilen könnten. Diese jedoch reklamiert Rumpolt ohne jede fachliche Legitimation für sich, womit dem Publikum indirekt zu verstehen gegeben wird, dass die Ausdifferenzierung eines eigenen ärztlichen Berufsstandes und die ‘Auslagerung’ medizinischer Probleme den Blick des Einzelnen auf die Ursachen von Krankheit verstellt. Rumpolts Diagnose ist dann auch dementsprechend banal: Er sieht als Grund für die Krankheit des Bauern den Genuss eines zu heißen Breies. Die folgende Heilungsszene (S. 683,33–687,19) vermischt dann wieder den rationalen Diskurs mit der Fastnachtsrealität. Nachdem die Bauern ihren kranken Genossen zu dem Arzt gebracht haben, bietet dieser aufgrund der Urinschau hellseherisch mehrere verschiedene, sehr präzis geschilderte Varianten über die Entstehung der Krankheit an. Diese widersprechen sich jedoch und bekräftigen so die Zweifel an der

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diagnostischen Kompetenz und das ebenfalls in der Bauernberatung angeklungene Vorurteil, die Ärzte würden ihr Nichtwissen durch besonders phantasievolle Geschwätzigkeit kompensieren.54 Bei der ‘Heilung’ des Kranken ruft der Text die fastnächtlichen Topoi der Salbenkrämerszene auf, die Uroskopie ist durch das angeblich mit Kot verunreinigte Glas unmöglich, die Salbe, mit der der Kranke geheilt werden soll, von fliegen und von kislingplut (S. 685,1) zubereitet worden. Der Diener rechnet aber offenbar gar nicht mit deren Wirkung, wenn er – und hier wird der Gesundheitsdiskurs mit der Frage nach den Gründen für die Wirkung von Medizin aufgerufen – die Heilung durch die Kraft der Suggestion zu erreichen versucht: DER KNEHT:

Ackertrit, du scholt dich wol gehaben! Ich hab di pesten salben an dich gestrichen, so wirs haben Darümb so nim mit mir vergut Und acht nicht, ob es dir wee thut! Du scholt dich an niemant keern Und volg meins meisters leern, Wenn dein krankhait kümpt aller maist von pir, Zu hant so geetß alles unten von dir. (K 82, S. 685,4–12)

Der Appell an das Vertrauen in die Kompetenz des Arztes wirkt jedoch nicht, weil – wie aus dem Folgenden zu ersehen – dieser mit einer unmittelbaren und konkret vorstellbaren Drohung verknüpft sein muss. Zunächst betont der Kranke, es gehe ihm von Mal zu Mal schlechter, worauf ein 13. Bauer [!] seine Befürchtung, der Arzt sei ein Beutelschneider, berechtigt sieht und zur Lynchjustiz an Arzt und Diener aufruft.55 In dieser Situation zeigt der Arzt, wie man Heilung erreicht: Der Arzt fordert seinen Diener auf, dem Patienten Pferdeäpfel vor Mund und Nase zu halten und ihn, würde er nach dieser Schocktherapie zwar aufstehen, aber noch krank dahintaumeln, solange zu prügeln, bis er gerade geht: Wiltu, das er werd pald gesunt, So hab im ainn rossdreck für den munt Und für di nasen einen mist, So steet er auf in kurzer frist. Würd er aber taumeln und hinken, So schlah in mit eim prügel ümbt schinken Und unten ümb di schinpain, So lauft er gerad und pald haim. (K 82, S. 686,21–29) 54

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In diesem Kontext wird dann auch die durch die Verunreinigung des Uringlases erschwerte Harnschau, die aus dem Salbenkrämerspiel bekannt ist, eingefügt. DER DREIZEHET PAUR: Ott, lieber gevatter mein, / Ain hurnsun mag der arzt sein. / Wir sein ümb süst her kumen, / Er hat uns unser gelt pöslich ab genumen; / Es hulf in nit umb das, / Er ist krenker, denn er vor was. / Ich sprich, man scholt den arzt ertrenken / Und seinen kneht auch henken / Auß hin an den liehten galgen / Mit püchsen und mit salben (S. 685,25– 686,4).

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Prompt erklärt sich der Bauer für gesund, bedankt sich überschwänglich für seine Heilung und zahlt den vereinbarten Lohn. Jetzt erkennt auch der Diener, dass man Gleiches mit Gleichem heilen soll und deshalb sind die Pferdeäpfel für den Bauern die angemessene Medizin: Lieber herr, nu sih ih wol, Das ir seit aller künst vol, Das eim baurn gesunt ist Der rossdrek und der mist; Das kan in vil pas gelaben, Wenn all di salben, die wir haben. (K 82, S. 686,30–687,1)

Die Erkenntnisleistung der Heilungsszene liegt in ihrer sozialen Funktion. Heilung ist abhängig von den ständischen und sozialen Gegebenheiten, in denen sich der Einzelne bewegt. Die Krankheit und ihre Heilung werden demnach als ein soziales und kommunikatives Ereignis definiert, der Bauer muss die ‘Salbe’ erhalten, die er ‘versteht’. Nicht zufälligerweise bezieht diese Szene die semantische Gleichsetzung von Prügeln und ‘Einsalben’ mit ein, die auch in den Salbenkrämerszenen der Osterspiele vorkommt.56 Aus dieser Perspektive erscheint denn auch der Wutausbruch des Arztes über die vorherige Verwendung der Salbe für den Bauern logisch: Krankheit ist in seiner Perspektive ein soziales Phänomen und deshalb kann der Bauer nur unter Berücksichtigung der Machtverhältnisse, in denen er sich befindet, geheilt werden.57 Mit diesem Ergebnis werden die Argumente der Bauernberatung über die Sinnhaftigkeit und die Wirkung ärztlicher Kunst nicht nachträglich dementiert. Vielmehr bleiben die einzelnen Argumente in ihrem Recht bestehen,58 von der Wirkung her gesehen haben sowohl diejenigen Bauern, die von dem Arztbesuch abrieten, wie auch deren Gegenspieler Recht behalten. Der Rückgriff des Textes auf den Fastnachtstopos der Bauernverspottung59 zeigt sich daher als Auslagerung des nicht gelösten Konflikts über die Seriosität der Ärzte bzw. des Vorrangs ihrer ökonomischen Interessen vor medizinischen Überlegungen in die Komik. Das Fastnachtspiel vom ›Arzt und den zwölf Bauern‹ spielt wie auch andere Fastnachtspiele mit der Grenze zwischen Faschings- und Alltagswelt, es bietet Sinnangebote sowohl für den Bereich fastnächtlicher Normverkehrung wie für einen Alltag, in dem Diskurse mit rationaler Logik dominieren. So werden die Scharlatanerien der Mediziner dem Verlachen genauso preisgegeben wie der soziale Kontext, in dem sich Heilung vollzieht und der immer mit ökonomischen Überlegungen verbunden ist. Die 56 57

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Vgl. ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 24], V. 1070–1020. Das Motiv des durch eine Rosskur geheilten Bauern ist schon aus der Lothringen-Episode im ›Pfaffen Amis‹ des Strickers (V. 799–924) bekannt und hat seinen lebensweltlichen Kontext in der Angst vor der Therapie, die schwerer auszuhalten ist als die Krankheit selbst. Streif [Anm. 13] verwendet für dieses Phänomen den Begriff der »Polyvalenz« (vgl. etwa S. 264f.). Mit dem von Catholy [Anm. 18], S. 259f. angeführten Argument der engen Beziehung zwischen Stadt und Land verstehe ich den Topos nicht als Beleg für eine bauernfeindliche Haltung bzw. als Angriff auf den Bauernstand.

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Spannung zwischen beiden Bereichen wird dabei nicht aufgehoben, sondern in das gemeinsame Lachen ausgelagert. Damit entsteht eine ironische Distanz zur Alltagsrealität, es gibt am Ende keine Position, von der aus sich eine einheitliche Erkenntnis gewinnen ließe, allenfalls diejenige, wonach es gerade die Uneindeutigkeit nicht nur des menschlichen Verhaltens, sondern auch der Äußerungen des Körpers ist, die die Lebenswelt als kontingent erscheinen lässt. Signifikant für das Spiel ist aber auch der Übergang der Diskurse auf die Ebene der Macht, der sowohl von Seiten der Bauern mit der angedrohten Ermordung von Diener und Arzt wie auch vom Arzt mit der Drohung gegenüber dem Kranken vollzogen wird. Anders als Streif vermutet, löst sich auch dieser Konflikt nicht in der grenzenlosen Fastnachtwelt auf, sondern bleibt als Problem bestehen.60 Das Arztspiel bildet allenfalls den Rahmen für eine Engführung der mit dem Krankheitsthema verbundenen Diskurse. Es will offenbar die mit dem Thema Krankheit verbundenen Ambivalenzen und die vielfältigen Bezüge, die sich daraus ergeben, zur Sprache bringen.61 Die dialogische Struktur der Spiele bietet dabei einen Blick auf die perspektivische Gebundenheit jeder Handlung und auf die Fragwürdigkeit, von einem gesicherten (moralischen) Standpunkt aus menschliche Handlung zu beurteilen. Ich überprüfe dieses Ergebnis anhand eines weiteren Nürnberger Arztspiels und wähle dafür ›Ein Spiel von einem Arzt und einem kranken Bauern‹ (K 6), das dem Typus der Heilungsspiele zugerechnet wird62 und auf den ersten Blick ganz dem Prinzip der totalen fastnächtlichen Verkehrung folgt. Einleitend kündigt Quenzepelzsch den Arzt mit einem topischen, ‘verkehrten’ Lob an: Sein meister Vivian käme aus dem Schlaraffenland63 und könne mit seiner Arznei Mönche und Pfaffen ins Grab bringen.64 Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird dabei umdefiniert zu einer Verkäufer-Kunden-Beziehung: Während ansonsten die Bauern um Heilung nachsuchen, werden hier Quenzepelzsch und der zweite Diener Hulletusch ausgeschickt, um Kunden zu gewinnen. Der folgende topische Salbenpreis entspricht den Unsinnsrezepten, wie sie aus der Salbenkrämerszene des Osterspiels oder aus K 82 bekannt sind. Die Bauernberatung, die hier im Vergleich zu K 82 nur aus wenigen Versen besteht, enthält keine ökonomischen Überlegungen, vielmehr wird von vorneherein die Eigentherapie dem als sinnlos betrachteten Arztbesuch entgegengesetzt.65 Nachdem die Bauern den Kranken trotz aller Einwände zum Arzt gebracht haben, stellt dieser mittels Harnschau die Diagnose. Das zu verabreichende Purgativ, das zunächst mit einer verkehrten Wirkung vom Arzt als Mittel zur Verkürzung des Le60 61

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Vgl. Streif [Anm. 13], S. 264. Ebd., S. 296. Eine Lösung der Gegensätze würde nur dann dem ‘Geist der Fastnacht’ widersprechen, wenn man – wie Streif – die Fastnacht selbst als Versuch sieht, Konflikte zu harmonisieren oder im allgemeinen Lachen aufzuheben. Vgl. Streif [Anm. 13], S. 196. Der ist kumen auß fremden landen her / Ferre auß Schlauraffen (S. 58,26f.). Einen hat er pracht von dem leben / Daruber sult ir brief und sigel sehen (S. 59,10 f.). EIN ANDER PAUR: Wiltu mir volgen, so mustu den magen fegen / Und wirst dann des arzt rat pflegen (S. 62,1–3).

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bens empfohlen wird, verfehlt dann seine heilende Wirkung doch nicht,66 der Kranke wird sofort geheilt und zahlt dafür die angesichts des geringen Arbeitsaufwandes unverhältnismäßig hohe Summe von 100 Pfund. Aber auch wenn dieses Spiel weitgehend den Gesetzen einer fastnächtlichen Normverkehrung folgt und damit fast eine totale Gegenwelt zeichnet, heben sich doch zwei zentrale Passagen deutlich davon ab. 1. Die Harnschau misslingt zunächst, weil dem Arzt der Urin zu dickflüssig ist und er – toposgemäß – die Bauern verdächtigt, den Urin mit Kot verunreinigt zu haben. Während ansonsten das Motiv mit seiner einmaligen Erwähnung erledigt ist, wird es hier variiert, wenn ein Bauer in einer logischen Gegenargumentation auf die Widersinnigkeit einer solchen Verfälschung des Urins hinweist und als weiteren Grund eine Furcht vor einer höchst realen Krankheit angibt: Lieber meister Viviam, Eur weißickeit seh den harm pas an! Er ist so dick von natur, Ich furcht, er hab die roten rur. War umb solt wir uns fleißen Und euch in das glas scheißen? (K 6, S. 63,29–64,1)

Der Hinweis auf die rote Ruhr fügt dem fastnächtlichen Spiel den bedrohlichen Aspekt einer Krankheit, die auch tödlich enden kann, hinzu. Darin aber erschöpft sich die Motivänderung nicht, denn mit der Grenzkreuzung zwischen Fastnachtsverkehrung und Alltagslogik ist ein intertextuelles Spiel mit dem Topos ‘Harnschau’ verbunden, dessen Wirkung sich nur bei einem Publikum entfalten kann, das mit diesem fastnächtlichen Motiv aus anderen Spielen vertraut ist. Dafür spricht auch die Reaktion des Arztes, der sich bei dem Bauern mit dem Hinweis entschuldigt, dergleichen sei ihm bereits öfters passiert (S. 64,3f.). Die Pointe dieses Satzes ist weder in einem Alltagsbezug noch in einer fastnächtlichen Verkehrung zu suchen, sondern mit dem intertextuellen Bezug zu anderen Fastnachtspielen zu erklären. Die Komik der Szene erschließt sich wiederum nur demjenigen, der andere Arztspiele kennt, in denen ein maister Vivian auftritt: Suggeriert wird von dem Arzt hier, dass er mit jenem der anderen Spiele identisch ist und insofern über eine eigene ‘Biographie’ verfüge. Poetologisch gewendet würde man daraus ableiten können, dass die Serialität der Arztspiele zum Gegenstand eines literarischen Diskurses geworden ist. 2. Fastnächtliche Verkehrung wird auch am Schluss des Textes, in der eigentlichen Heilungssequenz, in Richtung auf die Logik einer Alltagsrealität gezielt aufgehoben. Zunächst hat noch der Diener Hulletusch eine Art Wundsegen, der gezielt an heid66

VIVIAM: Sun, thu ein guten trunk auf die wurz, / So wirstu davon laßen ein guten furz, / Und dein sach wirt pesser, das sag ich dir, / Thu ein guten trunk und gelaub mir! (S. 64,28–32) INFIRMUS: Lieben freunt, ich bin entledigt von meinem smerzen, / Den ich hett unter meinem herzen (S. 65,6–8).

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nische Gebräuche oder abergläubische Praktiken erinnert, ausgesprochen. In diesem Segen, der invers den Tod des Kranken herbeiwünscht, wird die Ambivalenz bezeichnet, die die Frau aus dem Tod ihres Mannes ziehen könnte: Wolt got, wer dein haubt faul Und leg begraben dein or, Vor unser frauen chor, So nem furpas zu dein weip, An sel und an leip. (K 6, S. 64,16–20)

Wenn der Diener aufgrund dieser Logik, die im Text unwidersprochen bleibt, dem Kranken den Tod wünscht, im unmittelbaren Anschluss daran einen nicht ironisch gemeinten Heilungswunsch äußert, dann sind die zwei Ebenen des Arztspieles, fastnächtliche Verkehrung und unmittelbare Bezugnahme auf eine Alltagsrealität des Publikums, die hier in Form provozierender Bemerkungen erfolgt, deutlich kenntlich geworden. Dem entspricht ein argumentativer Sprung in den ökonomischen Diskurs, der am Spielschluss dann doch noch erfolgt: Die Heilung muss zum Erfolg werden, weil – wie der Arzt erläutert – sein Lohn von 100 Pfund davon abhängt.67 En passant koppelt der Text den ökonomischen Erfolg des Arztes an seinen therapeutischen und nimmt damit indirekt zu der auch aus anderen Arztspielen bekannten Frage Stellung, ob das Honorar des Arztes erfolgsabhängig sein darf. Obwohl K 6 so eindeutig auf Verkehrung ausgelegt zu sein scheint, bleibt es dabei nicht stehen, sondern vermischt die Fastnachtsverkehrung mit konkreten Fragen des Alltags. Auch hier sind es also die Ambivalenz der Weltsicht, die Vielzahl der Interpretationsangebote und das Bemühen unterschiedlichen Rezipienteninteressen und -dispositionen entgegenzukommen, die signifikant für die Gattung ‘Arztspiel’ sind. V. Weder Arztspiele noch die Salbenkrämerszenen lassen sich demnach allein unter das Motiv einer totalen Verkehrung subsumieren. Vielmehr scheinen sie der Ort im Spiel zu sein, an denen Machtmechanismen, soziale Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und anthropologische Fragestellungen und Restriktionen bearbeitet werden können. Die Komik ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Teil einer Mimikrystrategie, mit der Diskurse angeschnitten werden, die sonst keinen eigentlichen Platz auf der Bühne haben. Für die künftige Arbeit am Fastnachtspiel ergeben sich hieraus folgende Konsequenzen: 1. Fastnachtspiele sind weder bloße ‘Fingerübungen’ der Autoren noch frühe Formen einer Sozialkritik,68 sondern bieten in ihrer hybriden literarischen Form, in ihrer 67 68

Darnach so wirt er gesunt, / Also hab ich verdint hundert pfunt (S. 65,4f.). So auch Catholy [Anm. 18], S. 325f.

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Vermischung von schimpf und ernst anspruchsvolle Diskursivierungen der verschiedensten Gesellschaftsfelder und der für diese relevanten Themenbereiche. Weder die Hybridität noch die heterogene Struktur vieler Spiele kann hier als Gegenargument dienen, weil die Einheit der Handlung im spätmittelalterlichen Spiel kein Kriterium ist. 2. Den Allerweltsbegriff der Verkehrung sollte man meiden oder nur auf konkrete intertextuelle Vergleiche beschränken. Damit entgeht man dem Dilemma, in das ein Großteil der Forschung geraten ist, weil sie im Schutze dieses Begriffs stillschweigend eine Grenzkreuzung zwischen literarischem Spiel und sozialer Wirklichkeit vollzieht und zirkulär den angeblich stark normierten Alltag des Spätmittelalters aus der Existenz der Fastnachtspiele ableitet. 3. Die Fastnachtspiele inszenieren auch nicht bloß »Zwischenwelten, irisierende Überblendungen von normiertem Alltag und phantasmagorischer Gegenwelt«,69 sondern führen zentrale Diskurse einer Gesellschaft gegeneinander und radikalisieren sie. Die Spiele enthalten eine Vielzahl von unterschiedlichen Elementen, Aussagen, Regeln, Praktiken etc., die sie fast nie zu einer Synthese zusammenführen. Gerade dies aber könnte ein Erkenntniseffekt sein, weil damit darauf hingewiesen wird, dass die Diskurse (Recht, Medizin, Familie etc.) stets nebeneinander existieren, zwar miteinander verbunden sind, aber diese Verbindung immer nur partiell aktualisiert wird. 4. Bei der Untersuchung der Fastnachtspiele sollte man Komik- und Lachtheorien voneinander trennen. Damit wird die umstandslose Gleichsetzung von Fastnachtspiel, Bauernverspottung und Verkehrung von Normen vermieden und der Blick auf die ästhetische Qualität der Spiele frei. In der uns vorliegenden Form sind die sogenannten Fastnachtspiele weltliche Spiele, die nicht Sekundärergebnis einer Aufführungssituation sind, sondern bereits einen hohen Grad an Literarisierung aufweisen. Deswegen wäre auch der Gattungsbegriff ‘weltliches Spiel’70 angemessener als der des Fastnachtspiels, weil er die Spiele aus dem Dunstkreis einer illiteraten Wirtshauskultur herausführt. 5. Da die Komik der Spiele wesentlich aus dem Nebeneinander verschiedener Parallelwelten, auf der Figurenebene aus dem Nebeneinander von unterschiedlichen Perspektiven, schnell wechselnden Stimmungslagen und einer forcierten, selten einer Logik folgenden Emotionalität beruht, sind die weltlichen Spiele literarische Gegenentwürfe zum geistlichen Schauspiel mit ihren konsistenten theologischen Aussagen und auch zu den Erzählformen, die einer finalen oder kausalen Struktur folgen. Deren ‘Künstlichkeit’ transzendierend stellen sie eine zwar genauso ästhetisch gestaltete, aber an die Heterogenität und Unmöglichkeit von Kommunikation anknüpfende Struktur gegenüber: Anstelle der Dialogizität des Romans steht die A-Dialogizität des weltlichen Spiels, das am Schluss eine moralisch befriedigende Lösung genau so 69

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Quast [Anm. 8], S. 219; Vgl. auch ders., Endzeit des geistlichen Spiels. Das Münchner Osterspiel cgm 147, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 313–324. Ähnlich Simon [Anm. 2], S. 2f.

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vermissen lässt wie eine eindeutig satirische Stoßrichtung. Damit aber nimmt das weltliche Spiel der frühen Neuzeit Tendenzen der modernen, zeitgenössischen Komödie vorweg, die erst nach der Überwindung der moralischen Instrumentalisierung dieser Gattung wieder zum Tragen kamen.

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Teuflische Macht Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend (K 57)

»Die Wiederholung ist Sache des Humors und der Ironie; sie ist ihrer Natur nach Überschreitung«. (Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 20)

Täuschung, Verführung oder Betrug besitzen in den Fastnachtspielen viele Gesichter, das des Teufels gehört gewöhnlich nicht dazu. Verlässt man sich auf das Register der Ausgabe von Adelbert von Keller, dann hat der Leibhaftige in einem Fastnachtspiel tatsächlich eher selten einmal einen Auftritt. Wohl wird hier und da im Bewusstsein einer Gefährdung des Heils für jeden Einzelnen an die Machenschaften des Teufels erinnert,1 und in einem Spiel von Hans Sachs (›Das Teufelsbannen‹) schlüpft sogar ein Pfaffe in die Rolle des Teufels, um dem überraschend eingetroffenen Ehemann zu entkommen.2 Doch aufs Ganze gesehen wird dem Leibhaftigen nicht allzu viel Spielraum zugebilligt. Die beiden bei von Keller als Nr. 56 und 57 edierten Spiele3 sind – soweit ich sehe – die einzigen, die der teuflischen Macht des Bösen eine derart körperliche Präsenz verschaffen. In beiden Spielen gilt die besondere Aufmerksamkeit dem allgegenwärtigen Bösen, das nicht nur in der Gestalt des Teufels, sondern auch in der alter, verschlagener Frauen in Szene gesetzt ist. Und beide Spiele entwerfen das Handlungsgeschehen zudem auf der intertextuellen Folie geistlicher Spiele, genauer: der Osterspiele, denn ins Zentrum rückt jeweils Luzifer, der seine Gesellen auf Seelenfang ausschickt. Wenn Luzifer aber in der Fastnachtszeit einmal auf der Bühne erscheint, dann wird ihm zugleich ein größerer Freiraum fingierender Narration eingeräumt als in den Referenztexten: Das Bemühen, der allseits gefürchteten satanischen Macht zumindest spielerisch Herr zu werden,4 entlockt der Wieder1

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Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966, vgl. etwa Nr. 104, S. 786. Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), Nr. 13, S. 149–165. K 56: Hie hebt sich ain spil an von dreien pösen weiben, die nemen das vich vor der helle; K 57: Hie hebt ain guot vasnachtspil. K 57 wird im Folgenden zitiert nach Keller [Anm. 1], S. 497–511. Seit den Untersuchungen Rainer Warnings findet sich die These von der »Entlastung von der Teufelsmacht im Akt des Lachens«, denn Luzifer wird oft als weinerlicher und/oder lächerlicher Höllenfürst vorgestellt. Nach Warning wird die Beliebtheit des Osterspiels, »das wesentlich ein Teufelsspiel ist«, überhaupt erst »verständlich, wenn man sie in Beziehung

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aufnahme dieser Szene zum einen ein Aggressionspotential, das die Osterspiele erheblich überbietet, zum anderen wird der mit dem Erscheinen des Teufels evozierte heilsgeschichtliche Kontext verdrängt und von anderen Szenen überlagert. Beim Teufel-Seelen-Spiel handelt es sich um ein Versatzstück, das offenbar »vielseitig verwendbar und einsatzfähig«5 war. Für diese Annahme sprechen nicht nur die beiden von von Keller edierten Fastnachtspiele Nr. 56 und 57,6 sondern dafür spricht etwa auch das ›Hessische Weihnachtsspiel‹, das Christoph Gerhardt zufolge eine »Kombination der Geburt Christi mit einem Teufelsspiel« darstellt (S. 357), oder das ›Erlauer Magdalenenspiel‹,7 in dem das Teufel-Seelen-Spiel mit Magdalenenszenen aus den Passionsspielen verschränkt ist.8 Auch in einigen Neidhartspielen, von denen Eckehard Simon9 annimmt, dass sie ebenfalls zur Fastnachtszeit aufgeführt wurden, wird diese Szene narrativ ausgestaltet. Sogenannte Rollentexte oder Skizzen, die z. T. als versatzstückartiges Material für weitere Spiele gedient haben,10 bestätigen die

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bringt zu dieser terroristischen Realität teuflischer Allmacht, die in ihm hinweggespielt ist.« Vgl. Rainer Warning, Funktion und Struktur, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), S. 74/75. Ähnlich Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (MTU 125), S. 205; 215: »Zeichen der teuflischen Ohnmacht« lagern sich unter dieser Prämisse zumal denjenigen Szenen an, in denen Luzifer einem Sünder den Eintritt in die Hölle verwehrt, was eine die »Teufelsfurcht kompensierende Ermächtigung über den Teufel« ermögliche. So Christoph Gerhardt, Von der biblischen Kleinerzählung zum geistlichen Spiel. Zur Neubestimmung der Gattung von ›Von Luzifers und Adams Fall‹ und zu seiner Stellung in der Spieltradition, Euphorion 93 (1999), S. 349–397, hier S. 385. Mit dem Fastnachtspiel, das bei von Keller als Nr. 56 ediert ist, habe ich mich vor längerer Zeit unter einer anders gelagerten Perspektive auseinandergesetzt. Vgl. Ute von Bloh, Vor der Hölle. Fastnachtspiel (Keller 56)/Osterspiel/Emmausspiel, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. HansJoachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 233–246. ›Erlauer Magdalenenspiel‹, in: Texte und Melodien der ›Erlauer Spiele‹, hg. v. Wolfgang Suppan, auf Grund einer Textübertragung von Johannes Janota, Tutzing 1990 (Musikethnologische Sammelbände 11), S. 116–151. Die von Christoph Gerhardt genannten Beispiele, die er in einem Aufsatz von 2001 um weiteres Material ergänzt hat, legen nahe, dass es sich im Fall des Teufel-Seelen-Spieles um eine Szene handelt, die sich in hohem Maß dazu eignete, in unterschiedlichen Kontexten wieder verwendet zu werden. Vgl. Christoph Gerhardt, Teufelsrapport und belauschte Teufelsversammlung. Zum Nachwirken eines Exempel-Motivs im geistlichen und weltlichen Spiel, in: Lothar Bluhm u. Achim Hölter (Hgg.), daß gepfleget werde der feste Buchstab (FS Heinz Rölleke), Trier 2001, S. 1–25. – Zu einigen Verselbständigungen zu eigenen Spielen vgl. demnächst Ute von Bloh, ‘Spielerische Fiktionen’. Parasitäre Verselbständigungen einzelner Szenen aus Geistlichen Spielen (›Erlauer Magdalenenspiel‹, ›Melker Salbenkrämerspiel‹, Vigil Rabers ›Ipocras‹), erscheint in: Konzepte der Fiktionalität und die Literaturen des Mittelalters, hg. v. Ursula Peters und Rainer Warning, im Druck. Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), hier S. 150. Zum ›Großen Neidhartspiel‹, welches das Motiv der ‘belauschten Teufelsversammlung’ aufweist, das bereits in der Exempelliteratur nachweisbar ist, vgl. Gerhardt, Teufelsrapport [Anm. 8], hier S. 21f. Janota, der anhand der ›Alsfelder Passionsspiel‹-Fassungen die Textgenese nachzeichnet,

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allgemeine Verfügbarkeit des Teufel-Seelen-Spieles in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spielpraxis. Gleichwohl gibt sich mit Blick auf die Fastnachtspiele offenbar eine Hemmung zu erkennen, dem Teufel einen Auftritt zu verschaffen. Diese Scheu wird sich nicht zuletzt dem Umstand verdanken, dass mit dem Teufel der heilsgeschichtliche Kontext der Referenztexte aufgerufen bleibt, und dies deswegen, weil sich der herbeizitierte Kontext nie vollständig löschen lässt. Referenztext und ‘Verkleidung’ des Referenztextes sind insofern in der Kontrafaktur gleichzeitig wirksam, und sei es nur in der Erinnerung.11 Wie sich noch zeigen wird, lassen sich im Spiel zwar Strategien erkennen, den heilsgeschichtlichen Kontext möglichst auszublenden, aber ganz beseitigen lässt er sich eben nicht. Die Salbenkrämerszene, die sich ebenfalls auf der Basis von geistlichen Spielen zu eigenen Spielen verselbständigt hat, legt eine vergleichbare Verwertbarkeit nahe,12 die allerdings weniger verfänglich zu sein scheint.13 Diese Szene bildet bekanntlich den Referenztext für etliche fastnächtliche Arztspiele, etwa aus Nürnberg14 oder von Vigil Raber,15 und sie ist auch im hier zu diskutierenden Fastnachtspiel K 57 sprachlich und

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erwähnt fünf erhaltene »Einzelrollenauszüge aus dem Umkreis des Alsfelder Passionsspiels« (S. 69), die z. T. als Versatzstücke für Spielüberarbeitungen gedient haben (S. 70ff.). Dazu gehört eine ‘Alsfelder Luziferrolle’. Vgl. Johannes Janota, Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten, in: ‘In Spuren gehen . . .’ (FS Helmut Koopmann), hg. v. Andrea Bartl u. a., Tübingen 1998, S. 65–80, sowie Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, Nr. 8, S. 47f. Bergmann verzeichnet außerdem ein »Basler Teufelsspielfragment« (ebd. Nr. 14, S. 56f.); und J. E. Wackernell diskutiert drei Entwürfe Vigil Rabers »[. . .] zu neuen Teufelsscenen [. . .]« (S. CCLXXXVIII). Vgl. Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol [. . .], hg. v. J. E. Wackernell (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 1), Graz 1897. Ähnlich Harald Fricke, Gesetz und Freiheit: eine Philosophie der Kunst, München 2000, S. 84: »Kehrt ein Element A’ später in identischer Form als A’’ wieder, so ist dies dennoch keine bloße Wiederholung – A’ und A’’ sind einander nicht wirklich gleich. Denn A’’ tritt ja eben als wiederholtes Element auf – und ruft so die Erinnerung an das gleichartige Element A’ wach«. Vgl. Ferdinand Mencˇik u. Edward Schröder, Eine Wiener Rubinus-Rolle, ZfdA 51 (1909), S. 263–273. Es handelt sich um ein Fragment, dem Anfang und Schluss fehlen, weshalb der Grad der Selbständigkeit unklar ist. Zu diesem »Rollenauszug« vgl. auch Hansjürgen Linke, ‘Wiener Rubin-Rolle’, in: 2VL Bd. 10, 1998, Sp. 1035f. Vgl. v. a. Curt F. Bühler u. Carl Selmer, The Melk Salbenkrämerspiel. An Unpublished Middle High German Mercator Play, Publications of the Modern Language Association of America 63 (1948), S. 21–63. Dem ›Erlauer Magdalenenspiel‹ folgt ein Auftritt Rubins, der gewöhnlich seine Rolle in den Salbenkrämerszenen hat, zusammen mit Petrus und Johannes, die üblicherweise am Jüngerlauf beteiligt sind. Der Zusammenhang dieser 14 Verse mit dem ›Erlauer Magdalenenspiel‹ ist »unklar«, so Bergmann, Katalog [Anm. 10], Nr. 40, S. 107. Möglicherweise spielt Bruno Quast auf diese Differenz gegenüber dem Salbenkrämerspiel an, wenn er festhält: »Die Verselbständigung des Teufel-Seelen-Spiels läuft aber nicht wie im Fall der Krämerspiele auf ‘Verweltlichung’ im Sinne multifunktionaler Verwertbarkeit hinaus.« Vgl. Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen/Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48), hier S. 136. Vgl. etwa K 6, 48, 82, 85 u. a. m. Vigil Raber: ›Ipocras‹, ›doctor knoflach‹, ›der scheissend‹, ›Artzt hännimann‹, ›Ain zend-

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inhaltlich neu arrangiert. Im vorliegenden Fall sind die beiden Szenen mit der Handlung um eine böse alte Frau herum kombiniert, die ein Ehepaar im Auftrag des Teufels zu niederträchtigen Schandtaten anstiften soll. Dieser Frauentypus, der sogar in der Lage ist, den Kampf mit dem Teufel aufzunehmen, erfreut sich gleichfalls weiter Verbreitung, denn er ist in Reimpaargedichten, Sprichwörtern oder Kurzerzählungen und auch in weltlichen Spielen bezeugt.16 Von dem erzählerischen Freiraum, den das ›guot vasnachtspil‹ K 57 gegenüber den geistlichen Spielen beim Ausspinnen der neuen Geschichte nutzt, soll noch genauer die Rede sein. Was sich zunächst einmal bestätigt, ist, dass ein Erzählen – wie im gesamten Mittelalter auch – durch das Anknüpfen an etwas bereits Bekanntes allererst ermöglicht wird. Auch innerhalb der Fastnachtspiele selbst ist der spielerische Umgang mit stereotyp wiederkehrenden Versatzstücken geradezu charakteristisch: Ganze Handlungsmuster wie die Bauernprahlereien,17 der Wettkampf herausragender Liebhaber in den Spielen von den Minnenarren oder die Anklage eines Ehebrechers in den Gerichtsspielen, bestimmte Figuren (der Pfaffe oder der Student als potentieller Liebhaber, das übele wıˆp usw.) oder Figurenkonstellationen wie die Väter mit ihren heiratsfähigen Töchtern, aber auch Formulierungen werden immer wieder aufgenommen und in neuen oder bekannten

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precherey‹, ›Doctors appotegg‹. Vgl. Werner M. Bauer, Das weltliche Spiel des Spätmittelalters in Österreich, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750), hg. v. Herbert Zeman, Teil 1, Graz 1986, S. 547–615, hier S. 589–593. Das ›Melker Salbenkrämerspiel‹ kombiniert unterschiedliche Texttraditionen, möglicherweise sogar aus der Fastnachtspielüberlieferung. Vgl. dazu Bühler u. Selmer [Anm. 12], S. 59, Anm. 79a. Die weite Verbreitung dieser Erzählung belegt Camillus Wendeler, Bildergedichte des 17. Jahrhunderts, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde NF 15 (1905), S. 27–45; 150–165, hier S. 150–155; außerdem Simon [Anm. 9], S. 90f., 146f., 254f., u. a. zur ›Dulle Griet‹, zu einigen Reimpaargedichten sowie zu einem nicht erhaltenen Lübecker Spiel, in dem alte Frauen den Teufel verprügeln; vgl. auch Heinrich Niewöhner, Das böse Weib und die Teufel, ZfdA 83 (1951/52), S. 143–156; zu den Reimpaargedichten auch Frieder Schanze, ‘Von dem üblen Weib’ II, in: 2VL Bd. 9, 1995, Sp. 1209–1211. Christoph Gerhardt machte mich außerdem auf eine weitere Variante aufmerksam, die abgedruckt ist bei Albert Wesselski, Märchen des Mittelalters, Berlin 1925, Nr. 5, S. 17f. In diesem Fall handelt es sich um ein »Predigtmärlein, aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts mitgeteilt von Fr. Pfeiffer in der Germania, III, 423f.« (ebd. S. 194, mit Verweis auf weitere frühere europäische sowie außereuropäische Varianten S. 194–196). Der Kontext einer Teufelsversammlung ist hier allerdings nur noch schwach zu erkennen, und anders als im Fastnachtspiel endet die (hier gelungene) Intrige mit der Ermordung eines Ehepartners. Für diesen Hinweis möchte ich mich auch an dieser Stelle noch einmal bei Christoph Gerhardt bedanken. Zum variablen Text- und Motivbestand Thomas Habel, Zum Motiv- und Stoffbestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels. Forschungsgeschichtliche, methodische und gattungsspezifische Aspekte, in: Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motivund Themenforschung, hg. v. Theodor Wolpers, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse, dritte Folge 249), S. 121–161. Vgl. etwa auch Klaus Ridder, Martin Przybilski u. Martina Schuler, Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, in: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, hg. v. Martin J. Schubert, Tübingen 2005, S. 237–256, hier S. 245.

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Kontexten wieder verwendet. Die besondere Aufmerksamkeit für ein Spiel begründet sich folglich nicht in der Einzigartigkeit einer Geschichte, sondern in der überzeugenden Korrelation und in der geschickten, nicht zuletzt wohl auch Aufsehen erregenden Inszenierung bekannter Szenenelemente oder ganzer Szenenmuster. Dass sich darin auch die Kompetenz eines Verfassers beweisen kann, gilt für die gesamte mittelalterliche, aber wohl auch noch für die frühneuzeitliche Literatur.18 Gleichwohl wird mit den wiederkehrenden Szenenmustern nicht nur Vorhandenes aufgegriffen, denn mit jeder Wiederholung geht stets auch eine neue – sprachliche, formale wie auch kontextuelle – Gewandung einher. Zumeist mit Bezug auf Gilles Deleuze ist in der Forschungsliteratur daher bisweilen von einer ‘bekleideten’ im Unterschied zur ‘nackten’, ‘rohen’ oder ‘bloßen’ Wiederholung die Rede.19 Im Folgenden soll es allerdings nicht um das Problem von Differenz und Identität gehen, das die Wiederholung aufwirft, wenn sie zwar eine Veränderung des Zitierten impliziert, ein herbeizitiertes Element aber zugleich als identisches und als variiertes wiederholt wird.20 Gefragt werden soll vielmehr danach, wie die ‘Verkleidung’ der Wiederholung im Fastnachtspiel beschaffen ist, auch, was es sein mag, das die wiederholende Aufnahme von Szenen aus geistlichen Spielen provoziert hat, um sich dann in einem veränderten ‘Aussehen’ wieder die Bühne zu erobern. Damit im Zusammenhang stehen Fragen danach, welche neuen Handlungsspielräume die Imagination in der Wiederholung hervortreibt, außerdem auch, welche Möglichkeiten erschlossen werden, die ein Weiterdenken zulassen. Und dabei ist zu zeigen, dass die inter- und intratextuelle Wiederholung u. a. eine Möglichkeit der Problembehandlung darstellt. Insbesondere die Wiederaufnahme des Teufel-Seelen-Spiels scheint als literarische Strategie zu fungieren, die auf einen Geltungsbereich reagiert, innerhalb dessen Erklärungen versagen.

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Zu diesem Themenkomplex vgl. insbesondere Franz Josef Worstbrock, Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche, Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 128–144. – In allzu hohem Ansehen dürften die Fastnachtspiele zu ihrer Zeit gleichwohl nicht gestanden haben, denn Hans Folz hat das Fastnachtspiel als geeignete »Anfängerübung« für solche empfohlen, die Dichter werden wollten. Vgl. Wuttke [Anm. 2], S. 447. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl, München 1992, S. 34, 356, 359, 363 u. ö. Zahlreiche Unterscheidungen wurden in Auseinandersetzung mit dem Wiederholungsbegriff eingeführt, deren zwei Seiten u. a. Markus Wild diskutiert: die »bloße (oder mechanische oder nackte) Wiederholung« und die »tiefe (oder im theory-slang: kierkegaardsche, freudsche, deleuzsche, derridasche) Wiederholung«. Vgl. Markus Wild, Play it! – aber nicht again. Der Wiederholungsbegriff in pragmatistischer Beleuchtung, in: Barbara Sabel u. Jürg Glauser (Hgg.), Text und Zeit. Wiederholung, Variante und Serie als Konstituenten literarischer Transmission, Würzburg 2004, S. 184–205, hier S. 191. Nach Deleuze [Anm. 19] ist die »Wiederholung in ihrem Wesen symbolisch, das Symbol, das Trugbild ist der Buchstabe der Wiederholung selbst. Kraft der Verkleidung und der Ordnung des Symbols ist die Differenz in der Wiederholung enthalten« (S. 35 u. ö.). Vgl. außerdem Fricke [Anm. 11].

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Ein weiterer Blick soll sich auf das Alter und damit auf die alte böse Frau richten, die von sich selbst sagt, dass sie schlimmer sei als der Teufel, und die am Schluss des Spiels eine beängstigende Vermehrung ihrer Art erfährt. Das ist an sich nicht unbedingt bemerkenswert, denn Frauen, die es sogar mit dem Teufel aufnehmen, bevölkern – wie bereits angedeutet – zahlreiche andere mittelalterliche Dichtungen auch. Auffällig ist allerdings, dass es in diesem Fastnachtspiel sowohl der Teufel als auch die böse alte Frau auf die Jugend abgesehen haben. Zu überlegen bleibt insofern, weshalb sich den vielfältigen Frustrationen in der durch und durch brutalen Welt der Fastnachtspiele nun auch noch das Alter als Bedrohung für die Jugend zugesellen könnte. Osterspiel und Fastnachtsspiel: Das alte Böse und die böse Alte Damit keine Missverständnisse entstehen, was die bedrohliche, zur Darstellung gebrachte Handlung anbelangt, stimmt ein Vorläufel die Rezipienten zunächst einmal darauf ein, dass es in diesem Spiel (K 57) bloß um kurzweil gehe. Wie in zahllosen anderen Fastnachtspielen auch, heißt es S. 497,30f.: Die – gemeint sind die Spielteilnehmer – wellen treiben kurzweil vil, / Als ir wert horen an dem spil.21 Indem das, was mit dem Spiel zu Gehör gebracht wird, auf diese Weise als vergnüglicher Zeitvertreib ausgewiesen ist, wird das Publikum dazu aufgefordert, sich auf eine ‘Als-Ob’-Handlung einzustellen und entsprechend zwischen Heilswelt, Spielwelt und Alltagswelt zu unterscheiden. Dabei soll es den Zuschauern überlassen bleiben, darüber zu entscheiden, wer von den Spielern sich am allerbesten darauf verstehe, für angenehme Zerstreuung zu sorgen: Darumb so hört gar eben zuo, / Wer des aller pest thuo. (S. 498,1f.). Der Hinweis auf die kurzweil, um die sich die Spielteilnehmer hier bemühen wollen, ist Teil eines Fiktionalitätskontraktes, der in einem geistlichen Spiel deplaziert wäre.22 Dort verbietet der Geltungsanspruch heilsgeschichtlicher Wahrheit eine derartige ‘Entblößung’ der Fiktion geradezu, denn nach Wolfgang Iser würde das »Kenntlichmachen des Fingierens [. . .] alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob«23 werden lassen. Was sich im Fastnachtspiel mithin geltend macht, ist eine der zahlreichen Überschreitungen, welche die Heilswelt der Referenztexte wie auch der Alltagswelt auf Distanz bringt. 21

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23

Dass dann der im ›guot vasnachtspil‹ K 57 mehrfach angekündigte podenlose[] fullar, wohl so etwas wie ein beispielloser Schwelger oder Saufaus (fuller, in: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Nachdr. der Ausg. Leipzig 1878, Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 563) im Spiel gar nicht vorkommt, ist entweder der Inkompetenz des Schreibers und/ oder der Aufführungssituation geschuldet. Der fuller ist zu Beginn des Spieles unter den insgesamt 32 Rollenträgern zusammen mit seiner Ehefrau genannt, außerdem noch einmal S. 497,29. Nicht nur im geistlichen Spiel, auch in anderen mittelalterlichen Dichtungen bleibt der Status der Fiktionalität zumeist einfach offen. So Jan-Dirk Müller, Literarische Spiele und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur, Poetica 36 (2004), S. 281–311, hier S. 285. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991, hier S. 37.

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Wie ebenfalls vom Vorläufel angekündigt, setzt dann sogleich das eigentliche Spiel mit den Heiratsverhandlungen ein. Diese werden aber recht bald schon von Luzifers Befehl an seine Gesellen abgelöst, Unfrieden unter Eheleuten und Geistlichen zu stiften (S. 500,3: verwerren), um sie danach in die Hölle zu schleppen. Die misslungene Verführung einer ehrbaren jungen Ehefrau durch einen Pfaffen ruft schließlich die erste böse alte Frau auf den Plan, die – wie schon gesagt – als Gehilfin des Teufels agiert. Für ein Paar Schuhe als Lohn gibt sie sich alle Mühe, unter den jungen Leuten ein Zerwürfnis zu provozieren.24 Aber auch sie scheitert an dem jungen Ehepaar, das die intriganten Machenschaften letztlich aufklären kann. Am Ende ist es der Pfaffe, der von dem jungen Ehemann so verprügelt wird, dass ihm ein Arzt auf dem Markt mit Salben helfen muss. Und die alte böse Frau, die ihre Schuhe bekommen hat, ohne die versprochene Gegenleistung tatsächlich erbracht zu haben, droht dafür nun selbst in der Hölle zu landen. Verhindern können das nur weitere, mit Zauberkünsten begabte Frauen, die sich deswegen einen Kampf mit den Teufeln liefern, aus dem sie dann zwar verwundet, aber siegreich hervorgehen. Wieder werden die Salben des Arztes auf dem Markt benötigt, wobei der Arzt im Anschluss an die Behandlung einer verwundeten alten Frau noch seine Ehefrau verprügelt, weil die sich wiederum in seine Verkaufsangelegenheiten eingemischt hat. Das ist – grob gesagt – die Handlung des Fastnachtspiels K 57, das sowohl das Salbenkrämer- oder Arztspiel als auch das Teufel-Seelen-Spiel erzählerisch neu beleuchtet. Damit werden im Fastnachtspiel genau diejenigen Szenen ausgesponnen, die den Bezug zum Heilsgeschehen schon im Osterspiel mehr oder weniger gelockert haben.25 Das Fastnachtspiel nutzt hier also einen narrativen Freiraum, den sich die Osterspiele bereits erobert hatten. Und dass es sich dabei um ein Spiel handelt, das für Zuschauer bestimmt war, die mit geistlichen Spielen gut vertraut waren, darauf haben Hansjürgen Linke und Eckehard Simon zu Recht hingewiesen.26 Mit dieser Beobachtung trifft sich, dass die Referenztexte tatsächlich wohl erkannt werden konnten und sollten. Das 24

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Zu dieser als Kupplerin agierenden Frau vgl. Norbert Heinze, ‘Gescheiterte Teufelskuppelei’, in: 2VL Bd. 3, 1981, Sp. 15f.: »Mit der Figur der Kupplerin und ihrer handlungsvorantreibenden Intrige gewinnt das Stück gattungsgeschichtliche Bedeutung: vor der Rezeption der antiken Komödie ist das wichtige dramatische Motiv bereits bekannt« (hier Sp. 16). Gerhardt, Teufelsrapport [Anm. 8], stellt allerdings richtig, dass diese »Ehre einer die Handlungsstruktur und -führung betreffenden Neuerung nicht dem Spiel, sondern dem im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts aufgezeichneten Exempel«, gebühre, »in dem eine ‘handlungsvorantreibende Intrige’ der Kupplerin bereits voll ausgebildet ist, auch wenn sie dann abweichend vom Spiel in Szene gesetzt wird« (S. 23). Die ‘Exempel’ (zum Gebrauch des Begriffs vgl. ebd. S. 4) übernehmen Gerhardt zufolge eine Vermittlerrolle bei der Verbreitung dieses Motivs. Wohl nicht zuletzt deswegen sind es eben diese Szenen, die in der Spieltradition bevorzugt für eine selbständige, literarische Narratio freigegeben sind. Vgl. dazu zukünftig von Bloh [Anm. 8]. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 75–126, zu Keller K 56 und 57 vgl. S. 97–100. Seiner Ansicht nach nahm die ‘Säkularisierung’ der Salbenkrämerszene in Tirol ihren Ausgang (ebd. S. 103f.). Simon [Anm. 9], S. 149.

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legen wörtliche Übereinstimmungen mit den Osterspielen im ›guot vasnachtspil‹ K 57 nahe, die sich besonders auffällig zu erkennen geben, wenn Luzifer sich mit seinem Wunsch an seinen Gesellen Satan richtet, über Land zu fahren, um Zwietracht zu säen und die Sünder dann in die Hölle zu schleppen,27 oder wenn die Frau des Arztes wegen der Schläge klagt und ihren Ehemann verflucht. Die Wortwahl ist zumal im letzten Fall mit der im ›Innsbrucker Osterspiel‹ nahezu identisch.28 Das Fastnachtspiel hält damit die intertextuelle Bezugswelt unmissverständlich gegenwärtig, und im Wiedererkennen dieser Szenen liegt u. a. wohl auch der fastnächtliche Spaß erst begründet. Das fastnächtliche Treiben, das im christlichen Festzyklus der österlichen Fastenzeit vorangeht, verbindet sich insgesamt mit größeren narrativen Freiräumen als im Osterspiel, und diese werden im Fastnachtspiel K 57 auch ausgeschöpft. So wählt das ›guot vasnachtspil‹ zwar die Teufelsaussendung aus, eröffnet aber zugleich auch einen neuen ‘Spielraum’, wenn das Teufelsspiel mit einer Heiratsverhandlung kombiniert wird. Hier handelt es sich um ein Thema, das nicht in den Osterspielen, sondern bevorzugt in Fastnachtspielen anzutreffen ist. Außerdem wird der ursprüngliche Kontext der Teufelsaussendung mitsamt seiner Geltung (das Auffüllen der Hölle nach der Befreiung der Altväter) überschritten, insofern diese Szene mit der Ehe eines jungen Paares in Verbindung gebracht ist, das zugleich als Widerpart fungiert: Nachdem ein jung[er] ritter mittels Boten bei einem alten ritter um dessen Tochter angehalten hat, werden die beiden sich rasch einig, was – zumindest nach heutigen Vorstellungen – recht unvermittelt Luzifer mit seinem Befehl auf den Plan ruft, alle eeleut zu verwerren (S. 500,3f.). Damit rückt die Gefährdung des Menschen durch die Verführung des Teufels gleich zu Beginn des Spiels in den Vordergrund, und das geht recht bald schon mit einem ersten Eingeständnis der Machtlosigkeit der Teufel, hier gegenüber der jungen Ehefrau einher, da diese sich standhaft den Annäherungen eines Geistlichen widersetzt. Bei dem jungen Paar handelt es sich um eine Umbesetzung gegenüber den Osterspielen, welche die Referenztexte noch einmal überschreitet, denn das Ehepaar erinnert an den Typus der abgewiesenen Sünder der Osterspiele, die der Teufel nicht in der Hölle halten kann oder will, und d. h. an den ‘helser’-Typus, etwa im ›Innsbrucker Osterspiel‹, oder den Geistlichen, etwa im ›Redentiner Osterspiel‹.29 Im Unterschied 27

28

29

Ähnlich im ›Innsbrucker Osterspiel‹. Vgl. Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri (mhd./nhd.), hg., übers., mit Anm. u. einem Nachwort vers. v. Rudolf Meier, Stuttgart 1962 (RUB 8660/8661), V. 382–388f., 450f. Vgl. K 47, S. 499,30ff. Fast wörtlich wie schon im ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 27], V. 1017–1020: Ja, ja, leider, / sin daz dy nuwen cleyder, / dy du mir czu desen ostern hast gegeben? / daz du daz jar nymmer must vbirleben! Im Fastnachtspiel K 57 ist das Osterfest S. 511,1–5 durch die Fastnachtzeit ersetzt: Ach und ach und imer laider, / Sind das die neue klaider, / Di du mir zu diser fasnacht gist? / So du immer unsälig pist. Zu den Übereinstimmungen vgl. auch Linke [Anm. 26], S. 100. Vgl. Anm. 27 und: Das ›Redentiner Osterspiel‹, übers. u. komm. v. Brigitta Schottmann, Stuttgart 1975 (RUB 9744), hier V. 1762ff. – Zur Aufstockung der abgewiesenen Sünder im ›Erlauer Magdalenenspiel‹ vgl. demnächst von Bloh, Fiktionen [Anm. 8].

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zu diesen Figuren, die gesündigt haben und trotzdem davonkommen, machen sich die beiden Eheleute im ›guot vasnachtspil‹ K 57 aber keiner Sünde schuldig. Doch kann von einer Depotenzierung der teuflischen Macht trotzdem nicht die Rede sein,30 wenn sogleich eine alte Frau ins Spiel kommt, die von Satan in Dienst genommen wird. Diese als alte zaubrarin (S. 500,33) titulierte Frau erklärt sich – wie schon erwähnt – für ein Paar Schuhe (S. 501,8f. und S. 505,10f.) dazu bereit, das, was der Teufel nicht geschafft hat, ins Werk zu setzen. Damit agiert sie als Handlangerin des Teufels, der sich die Verführung zur Sünde bekanntlich zur vornehmsten Aufgabe gemacht hat. Si [die junge Frau] muos ir ee mit dem pfaffen prechen. / Dar nach solt du dich an ir rechen, das verspricht die böse Alte ihrem Auftraggeber Satan (S. 501,10f.). Und wenn der Versuch des Teufels, die junge Ehefrau zum Ehebruch zu verführen, nun von den Intrigen der alten Frau abgelöst wird, dann potenziert sich das Böse bloß, zumal sich die alte Frau darüber hinaus auch noch an den Ehemann heranmacht. Entsprechend rückt nun, und zwar wiederum in Erweiterung des Teufel-Seelen-Spiels der Osterspiele, das junge Ehepaar in den Fokus der Handlung. Um Unfrieden unter den Eheleuten zu stiften, behauptet die alte Frau zunächst der Ehefrau gegenüber, ihr Mann habe ein Liebesverhältnis mit einer schönen Bäuerin (S. 502,14f.), was die junge Frau durch den Beischlaf mit dem begehrlichen Geistlichen vergelten will (ebd. V. 18f.). Dem jungen Ehemann gegenüber erklärt die Alte, seine Frau habe die Ehe mit einem Geistlichen gebrochen (S. 503,15–18), weswegen dieser wiederum mit der Ermordung des Geistlichen droht. In beiden Fällen versuchen Bedienstete, einer Eskalation vorzubeugen, den Ausbruch von Gewalt können aber auch sie nicht verhindern: Bleibt es bei der Vertrauten der jungen Ehefrau noch bei der verbalen Androhung von Schlägen, sofern die alte tiefelin (S. 503,4) nicht verschwinde, so schlägt der Ehemann den Geistlichen mit einem Schwert halb tot. Der Geistliche bezahlt die zwar misslungenen, moralisch aber verurteilenswerten Annäherungsversuche insofern beinahe mit seinem Leben. Danach verschränkt sich die Marktszene der Osterspiele erstmals mit der Handlung im Fastnachtspiel. Die Salben, die im Osterspiel die drei Marien erwerben, um den Leichnam Christi zu balsamieren, diese Salben werden erinnert und sie müssen nun den schwer verwundeten Geistlichen heilen. Und die alte Frau, die davon überzeugt ist, die Ehe verabredungsgemäß zerstört zu haben, fordert beim Teufel ihren Lohn ein. Den erhält sie auch, wobei Satan ihr dazu bestätigt, dass sie noch vil pöser sei als er selbst (S. 505,19). Wenn Satan dann von Luzifer zum Dank eine feurin kron (S. 505,34) empfängt, könnte das Spiel eigentlich beendet sein. Was hier das Weitererzählen generiert, ist die Tatsache, dass die Eheleute die Intrige mit Hilfe der Bediensteten aufdecken. Das Paar versöhnt sich, und das zwingt sowohl die Teufel als auch die alte Frau noch einmal ins Zentrum der Handlung, die nun in den – ebenfalls 30

Dazu, dass auch in den Osterspielen von einer Entmachtung des Bösen nicht gesprochen werden kann, wenn diejenigen Sünder, die der Teufel in der Hölle nicht haben will, letztlich bloß als verlängerter Arm des Teufels fungieren, vgl. zukünftig von Bloh, Fiktionen [Anm. 8]. Anders dagegen, ausgehend von Warning, Petersen u. a. [vgl. Anm. 4].

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schon in den Osterspielen, aber auch anderswo vorgebildeten – Handlungskomplex vom ‘betrogenen Betrüger’ übergeht.31 Anstelle des Ehepaares will Satan nun die alte Frau in die Hölle schleppen, weil er sich hereingelegt fühlt. Das wiederum bringt vier weitere zaubrarin auf den Plan. Sie werden von der bösen Alten zu Hilfe gerufen. Diese alten Frauen wetteifern nun geradezu um den übelsten Leumund, wenn sie sich nacheinander als die aller pösten frauen (S. 507,21), die schlimmsten Unholde (S. 508,2) oder als so niederträchtig wie keine andere (S. 508,16: Ich pin die pöst under in allen) vorstellen. Nicht nur werden sie in diesem Spiel entsprechend diffamiert, sondern sie diffamieren sich auch selbst, so, als wenn auch wirklich niemandem ihre – wohl nicht zuletzt lächerliche – Gemeinheit entgehen sollte, die dazu noch – wie üblich – von einem männlichen Spieler verkörpert wurde. Dabei wechselt auch die Opferrolle, denn der Fokus verschiebt sich nun von dem jungen Ehepaar auf die um eine Gegenleistung betrogenen Teufel. Die mit widernatürlichen Kräften begabten alten Frauen gehen am Ende schließlich siegreich aus einer Prügelei mit den Teufeln hervor. Es gelingt ihnen, diese in die Flucht zu schlagen und die erste böse Alte aus den Fängen der Teufel zu befreien. Damit müssen die Teufel erneut konstatieren, dass alte weib so der poshait vol sind, dazu mit zauberei überladen, dass sie niemant überlisten kann (S. 510,4–7). Die aus den Osterspielen herbeizitierte Marktszene folgt ebenfalls dem Prinzip der variierenden Wiederholung, denn der Arzt mit seinen Salben tritt ein weiteres Mal in Aktion, nun, um die Wunden einer der bösen alten Frauen zu behandeln. Gewalt ist im Fastnachtspiel das bevorzugte Konfliktlösungsmittel und so endet auch diese Szene mit Schlägen, in diesem Fall für die Ehefrau des Arztes. Anders aber als in den Osterspielen, wo die Empörung des Arztgehilfen den Ausgangspunkt für den Ehebruch mit der Arztfrau bietet, freut der Gehilfe sich im Fastnachtspiel lauthals darüber, dass die Arztfrau von seinem Herrn etwas umb den drüssel (frnhd.: Gurgel, Maul) bekommt (S. 511,8). Und ebenfalls in Verkehrung des Referenztextes, wo es die drei klagenden Marien sind, die Salben benötigen, um den Leichnam Christi zu balsamieren, gilt die besondere Aufmerksamkeit in diesem Spiel nicht der Sphäre des Heiligen, welche die ausgelassene Marktszene der Osterspiele beschließt, sondern dem teuflisch Bösen schlechthin, u. a. in Gestalt böser alter Frauen. Und ihnen ist auch die Schlussrede gewidmet, in der sich der Arzt mit einer Warnung an das Publikum richtet, sich solcher Frauen rechtzeitig zu entledigen oder sie – strafverschärfend – zusammen mit einigen Wölfen an einen Ast zu hängen:32 31

32

Zum geprellten Teufel vgl. August Wünsche, Der Sagenkreis vom geprellten Teufel, Leipzig/ Wien 1905. Auch diesen Literaturhinweis verdanke ich Christoph Gerhardt. Zur Rechtspraxis, »einen Wolf, oder zumindest – als Ersatz für ihn – einen oder mehrere Hunde, an den Galgen zu hängen«, vgl. Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, 2., korr. Aufl., München 1985, S. 66. Auf diese Weise sollte »die Ehrlosigkeit des Täters ausgedrückt und er verspottet werden« (ebd.). Was die alten Frauen im Fastnachtspiel nach mittelalterlicher Vorstellung mit Wölfen verbindet, ist wohl ihre teuflische Energie. Aufgrund ihrer teuflischen Kraft »wurden häufig Wölfe selbst gehenkt [. . .]. Es gab sogar eigene ‘Wolfsgalgen’ für solche Fälle« (ebd.).

Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend

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Wer ain pös weib hab, Der thuo sich ir pei der zeit ab Oder er nem ainen starken past Und henke sei an ainen ast Und henke auch da pei Zwen wolf oder drei: So gesach nie kain man kainen galgen Mit pösern palgen, Wen der den teufel vienge Und inen zu in hienge. Amen (S. 511,12–22).

Was die variierende Wiederholung der Szenen aus den Osterspielen entsprechend fokussiert, ist das teuflische Böse, das die alten Frauen in Verlängerung der satanischen Macht verkörpern. Und am Ende sind es – entgegen den Selbstaussagen der Frauen und der Einschätzung der Teufel – dann doch die Teufel, die am schlimmsten von allen ausgewiesen sind. Wiedervergegenwärtigt wird damit etwas Unheimliches, Beunruhigendes, wohl auch Unbewältigtes der Osterspiele, wobei bei der Durcharbeitung des alten Themas die intrigante Alte und das widerständige Paar aus der lebensweltlichen Mitte des Publikums gewissermaßen als ‘sozialer Kitt’ fungieren, um – noch einmal mit Wolfgang Iser gesprochen – auf der Basis des Realen ein gesellschaftlich verständliches Bezugssystem zu schaffen. Auf syntagmatischer Ebene erfährt die Bedrohung überdies eine Steigerung und Intensivierung, wenn das Szenenarsenal der Osterspiele u. a. durch alte böse Frauen aufgestockt wird, die nach eigener und allgemeiner Ansicht schlimmer sind als der Teufel. Legt man außerdem den recht deutlichen Rat des Arztes zugrunde, solche Frauen – ggf. zusammen mit zwei oder drei Wölfen – zu hängen, dann verlangt die Weiterbearbeitung der Materie zudem nach einer eindeutigen Botschaft. Die propagierte Lösung, sich ihrer durch das Aufknüpfen am nächsten Baum zu entledigen, legt zwar die Möglichkeit einer Kontrolle nahe, doch aus der Welt ist das Böse damit gleichwohl nicht, im Gegenteil: Die Bedrohung scheint vielmehr auf unendliche Fortsetzung angelegt, denn die Heilung der von den Teufeln zugerichteten Alten durch die ärztlichen Salben spricht eher dafür, dass solche Frauen ihr Unwesen auch weiterhin treiben werden, und das betrifft auch das Böse schlechthin. Die böse Alte und die gefährdete Jugend Was die Wiederholung bekannter Szenenelemente und Szenenmuster dabei hervortreibt, ist nicht nur die Spaltung in Gut und Böse, sondern auch die in Jung und Alt.33 33

Alt und Jung sind zwar auch in den Osterspielen bisweilen thematisiert (der junge [Rubin, V. 956] und alte Krämer etwa im ›Innsbrucker Osterspiel‹ [Anm. 27], V. 1063; auch im Wettlauf der Jünger), als Bedrohung junger Leute sind die Alten allerdings nicht in Szene gesetzt. Auf den Jüngerlauf als Agon und auf den alden man der Krämersfrau verweist Rainer Warning, Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 343–359, hier S. 347.

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Alt ist zunächst einmal der Vater der Braut, denn es ist ein alt ritter, mit dem der jung ritter (S. 498f.) über einen Boten das Heiratsgeschäft aushandelt. Der ain ist jung und wol gemuot, / Der ander alt und hat vil guot (S. 497,16f.), so heißt es gleich zu Beginn von den beiden Verhandlungspartnern. Wenn der ‘alte Ritter’ sich dann außerdem, ohne furbas [zu] fragen (S. 499,11), zu einer ordentlichen Mitgift entschließt, so geschieht dies zur Zufriedenheit aller. Er übernimmt damit die Rolle des angesehenen alten Mannes, wobei es sich um eine der beiden zwischen Achtung und Verachtung schwankenden Rollen handelt, die das Mittelalter für das Alter bereithält. Eine solche Wahlmöglichkeit eröffnet sich aber nur für den Mann. Für die alte Frau hat das Mittelalter – zumindest in der Literatur – nur die eine Seite reserviert, und das heißt: Verachtung oder Altersspott. Aus diesem Grund behauptet sich im Spiel eine Sichtweise, die das Alter der Frau einzig mit Bosheit, Habgier und Streitsucht verbindet.34 Im Gegensatz dazu ist mit dem jungen Ehepaar eine Personengruppe aufgerufen, die gemäß den Lebensaltervorstellungen im Mittelalter vor allem als unerfahren, nicht selten auch als ungestüm gilt.35 Die im Mittelalter geläufigen Lebensaltervorstellungen entstammen antiken Traditionen, innerhalb derer vier, sechs, sieben oder zehn Lebensabschnitte kursierten,36 wobei die Stufung in sieben Lebensabschnitte noch bis ins 17. Jahrhundert zu finden ist.37 Das Prinzip, wonach Spruchverse und Bilder ein hundertjähriges Leben in zehn Altersstufen einteilen, wird erst im späten Mittelalter geläufig. Diese Aufteilung findet sich erstmals im Augsburger Liederbuch der Clara Hätzlerin von 1471,38 wo die zehn Lebensalter zu Tieren in Bezug gesetzt sind.39 So auch in einem Zyklus von fünf Bildern aus dem 16. Jahrhundert, der nicht zuletzt die Überzeugungen imaginiert, die auch in der spätmittelalterlichen Literatur anzutreffen sind. 34

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In anderen Fastnachtspielen ordnet sich den alten Frauen außerdem Triebhaftigkeit zu. Vgl. K 108, S. 852,9–20. Sich wegen einer alten Frau zu streiten, bringt überdies kein Ansehen ein (vgl. ebd., S. 853,4f.: Wolt ir euch umb ein alt weib slahen, / So wert ir hie kein er erjagen). Vgl. u. a. Christoph Dette, Kinder und Jugendliche in der Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters, Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 1–34, u. a. S. 28: Die Jugend galt als »prinzipiell zügellos, dem Spiel und den Frauen mehr ergeben als zulässig, zudem allzu oft unbeherrscht, was durchaus blutige Konsequenzen haben konnte«. Vgl. Kristina Bake, ‘Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.’ Die zehn Alter von Mann und Frau des Tobias Stimmer (?) als Spiegel des bürgerlichen Lebens um 1575, in: ‘Die Güter dieser Welt’. Schätze der Lutherzeit aus den Sammlungen der Moritzburg Halle, Begleitband zur Ausstellung, hg. v. Ulf Dräger u. Kristina Bake, Halle a. S. 2000, S. 23–37, hier S. 35f.: nach Solon sind es zehn Abschnitte des Lebens, nach Pythagoras vier, nach Augustinus sechs, nach Hippokrates und Ptolemaios sieben. Vgl. Bake, Leben [Anm. 36], S. 36. Kristina Bake, Geschlechterspezifisches Altern in einem Lebensalter-Zyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart, in: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, hg. v. Heike Hartung, Bielefeld 2005, S. 113–133, hier S. 117; und dies., Leben [Anm. 36], S. 26. Dieser Bilderzyklus wird mit Tobias Stimmer in Verbindung gebracht. Die Zuschreibung ist allerdings ungesichert. Vgl. Bake, Altern [Anm. 38], S. 114, und dies., Leben [Anm. 36], S. 23.

Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend

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Eines der Bilder (Abb. 12) zeigt im Bildhintergrund ein junges Mädchen von 10 Jahren, das mit einer Puppe spielt, während im Bildvordergrund eine Jungfrau zart im Alter von 20 Jahren von einem musizierenden Mann umgarnt wird. Dem wiederum verleihen die dunkle Haut, die Hakennase und die leicht zugespitzten Ohren ein auffallend diabolisches Äußeres. Das Pendant zum Lebensabschnitt der Frau bildet die Darstellung eines zehnjährigen Knaben (Abb. 13), der mit einem Steckenpferd beschäftigt ist, außerdem die eines mit einem Falken gebotenen jungen Mannes von 20 Jahren, der in der Beischrift mit dem »angeblich ‘alberne[n] Kalbsgemüt der Heranwachsenden’« in Verbindung gebracht ist: x Jar Kindischer art, xx Jar ein Jungfrau zart − / x Jar Kindisch, xx Jar Rindisch,40 so heißt es in der Erläuterung zum Bild. Als Kalb ist der Zwanzigjährige auch schon im Liederbuch der Clara Hätzlerin ausgewiesen,41 was sich mit den naiven oder unreifen jungen Männern treffen wird, von denen auch in Fastnachtspielen die Rede ist: Ich han ain puln, der ist junk; berichtet ein junkfrau in dem von von Keller als Nr. 95 edierten Spiel, der außerdem über ein freis gemüt verfügt, Denn das er ain wenig zu leppisch ist (S. 736,33f., S. 737,1f.).42 Der Falke in Abb. 13 wird auf den Frauendienst junger, unverheirateter Adliger hindeuten, die auch so manchen höfischen Roman bevölkern.43 In einigen Fastnachtspielen ist die Jugend ebenfalls, allerdings mit einer besonderen, eben fastnächtlichen Art des Frauendienstes in Verbindung gebracht,44 was gelegentlich dazu führt, dass sich der Ausschreier am Schluss entschuldigen muss. Als Grund für die Ausgelassenheit der Spieler ist immer wieder die Jugend45 angeführt, die allerdings – nach Aussage eines Ausschreiers – dem mäßigenden Alter irgendwann von ganz allein weichen wird:46

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Dazu Bake, Leben [Anm. 36], S. 26, und dies., Altern [Anm. 38], S. 117. Vgl. Bake, Altern [Anm. 38], S. 117, Anm. 14. Nahezu wörtlich K 59, S. 520,13–15. George Duby, Die ‘Jugend’ in der aristokratischen Gesellschaft, in: ders., Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalters. Aus dem Französischen von G. Osterwald, Berlin 1986, S. 103–116, 171–173. Kritisch dazu Ursula Peters, Von der Sozialgeschichte zur Familienhistorie. Georges Dubys Aufsatz über die Jeunes und seine Bedeutung für ein funktionsgeschichtliches Verständnis der höfischen Literatur, PBB 112 (1990), S. 404–436. Vgl. etwa K 95: ›Di jung rott vasnacht‹, S. 735,23–25: Wir wolten uns gern unser jugent nieten, / Da mit wir frauen möchten dienst erpieten / Unter der gürtel und auch drob. Wörtlich übereinstimmend mit dem Spiel K 59, S. 519,5–7; ähnlich K 93, S. 728,5–7 u. ö. – Für die Textstellen zur Jugend und zum Alter in den Fastnachtspielen möchte ich mich bei Ulrich Barton herzlich bedanken. Gemessen an der Lebenserwartung war die mittelalterliche Bevölkerung – und damit sowohl die Spieler als auch das Publikum der Spiele – jung: »alte Leute waren ‘eher selten’«, so Hartmut Kugler, Generation und Lebenserwartung im Mittelalter, in: Das Generationenverhältnis. Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft, Weinheim/München 1997 (Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung), S. 39–52, hier S. 41. Mit der alten Vettel wird demnach das wohl erheiternde Zerrbild einer Außenseiterin auf die Bühne gebracht. Ansonsten steht das Alter eher mit Freudlosikeit, Langeweile, Impotenz und/oder Krankheit in Verbindung (vgl. etwa K 59, S. 521,30; K 92, S. 727,5; K 93, S. 728,27 und S. 729,1f.).

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[. . .] habt undern [sic] schimpf vergut! Wir tragen ainn jungen frischen mut. Wir hoffen, ir schült uns loben, Wann di jugent muß vertoben. Wenn sich das alter an uns wirt mern, So wirt es sich alles selber wern. (K 69, S. 612,13–18; ähnlich K 71, S. 623,15f.; K 95, S. 739,3–12 usw.)

Im Bild der zwanzigjährigen jungen Frau kommt in diesem Zyklus dagegen insbesondere die Gefährdung zum Ausdruck, der die Jugend nach mittelalterlichen Vorstellungen ausgesetzt ist, wenn sie es ist, um die der tänzelnde, diabolische Spielmann sich bemüht. Dieser ist in der Forschungsliteratur sicher angemessen als Personifikation der »Versuchung zu einem lockeren Lebenswandel«47 interpretiert. Die junge Frau scheint der Versuchung allerdings ähnlich der im Fastnachtspiel zu widerstehen, denn die Zwanzigjährige trägt bereits den Brautschmuck und hält die Hände zudem artig vor dem Bauch, was auf »sexuelle Zurückhaltung« hindeutet und ein »Stereotyp patrizischer Liebespaardarstellungen« ist.48 Auch der Entwurf des jungen Ehemannes im Fastnachtspiel dürfte den Vorstellungen entsprechen, die sich mit den jeunes in den mittelalterlichen Überlieferungen verbinden. Er könnte den Typus des jungen Mannes verkörpern, der sich – hier mit einem ‘Kalbsgemüt’ ausgestattet – »unerfahren, ungestüm und leicht verführbar« durchs Leben schlägt.49 Dazu passt, dass der Ehemann den Geistlichen – augenblicklich und ohne groß zu überlegen – beinahe tötet. Negativ konnotiert sind jugendliche Impulsivität und – der damit verkoppelte – Racheimpuls gleichwohl nicht, denn wie in einigen Epen auch,50 macht sich eine Art Sondermoral geltend, die sich in einer häufiger zu beobachtenden Nachsicht gegenüber den noch unerfahrenen jeunes begründet. Im Fall der Gewaltbereitschaft alter Frauen verhält es sich hingegen anders, denn kämpfende Frauen sind hier – wie im Verständnis mittelalterlicher Dichtungen insgesamt – nur als gesellschaftsgefährdende Ausnahmeerscheinungen denkbar.51 Herbeizitiert ist mit dem jungen Paar demnach weniger das biologische Alter, sondern vielmehr der von kulturspezifischen Konventionen geprägte Entwurf junger Menschen zwischen Jugend und Ehe. Die Gefährdungen, die sich in den Bildern mit einem vorehelichen Lebenszeitraum verbinden, verlängern sich demgegenüber im Fastnachtspiel zwar in die Ehe hinein, aber der Vorstellungshorizont der Bilder entspricht ganz dem spätmittelalterlichen Spiel, wenn sich ein – vom Teufel dazu verführter – Geistlicher an die junge Ehefrau heranmacht, um sie zum Ehebruch zu 47 48 49 50

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Bake, Altern [Anm. 38], S. 118, vgl. auch ebd. Anm. 17. Ebd., S. 118. Zitat nach Dette, Kinder [Anm. 35], S. 28. Etwa im ›Huge Scheppel‹; vgl. dazu Ute von Bloh, Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herzog Herpin‹, ›Loher und Maller‹, ›Huge Scheppel‹, ›Königin Sibille‹, München 2002 (MTU 119), hier S. 171; vgl. außerdem Peters [Anm. 43], S. 424. Ausnahmeerscheinungen, die entweder ‘gebändigt’ werden wie Prünhilt im ›Nibelungenlied‹ oder in ‘epischer Gerechtigkeit’ umkommen wie Camilla im ›Eneasroman‹.

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überreden. Doch – wie schon gesagt – der Versuch, eine ethisch-moralische und rechtliche Norm zu untergraben, scheitert, und der zweite Anlauf durch die böse Alte misslingt letztlich ebenfalls. Auch das, was die alten Frauen treiben, beruht auf einer Projektion dessen, was man in der Welt des Fastnachtspiels von ihnen erwartete, oder besser, da es sich um ein Zerrbild handelt, was man von ihnen gerade nicht erwartete. Insgesamt herrscht hier das negative Bild der alten Frau vor, in der man seit dem 15. Jahrhundert »immer häufiger eine Inkarnation des Bösen und eine Agentin des Teufels« sieht, »weshalb sie bevorzugt der Hexerei und Zauberei beschuldigt wird«, so Daniel Schäfer in einem Aufsatz zur alternden Frau in der frühneuzeitlichen Medizin.52 Seiner Meinung nach verdankt sich die Nichtswürdigkeit alter Frauen – auch im medizinischen Schrifttum – nicht zuletzt der altersbedingten Unfruchtbarkeit, die sie zu weitgehend nutzlosen Mitgliedern der Gesellschaft werden lässt.53 In den Fastnachtspielen ist die Darstellung alter Frauen einmal mehr ins Boshafte, dann mehr ins Komische hinübergespielt: So ist die alte Frau im Fastnachtspiel K 95 als eine Figur imaginiert, die mit ihren zwen lang tutten, die sie im Tanz zu schwingen verspricht, wohl zur allgemeinen Erheiterung beiträgt.54 Im Fastnachtspiel K 57 fehlt ihr zwar die obszöne Ausformung, aber als typische Figur des Altersspotts ist sie dennoch entworfen: Indem die böse, gierige und zänkische alte Vettel es auf ein junges, vornehmes Ehepaar abgesehen hat, werden Jugend und Schönheit von Grund auf konterkariert. Ganz ernst zu nehmen ist die teuflische Alte aber wohl auch nicht, so dass die bedrohte Jugend im ›guot vasnachtspil‹ sich letztendlich allen Verführungsversuchen widersetzen kann. Dabei gilt das Hauptaugenmerk allerdings nicht dem Widerstand, den das junge Paar der Verführung zur Sünde entgegenzusetzen vermag. Die Aufdeckung der Intrige geht tatsächlich recht unspektakulär vonstatten (vgl. S. 506f.). Was vielmehr ins Zentrum rückt, ist das allenthalben lauernde Böse in Gestalt von Teufeln und einer alten Frau, die es darauf abgesehen haben, den Menschen in Versuchung zu führen. Das ist es, was ausgiebig erörtert wird, und dem ist nicht – wie in den Osterspielen – der 52

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54

Daniel Schäfer, Die alternde Frau in der frühneuzeitlichen Medizin – eine ‘vergessene’ Gruppe alter Menschen, Sudhoffs Archiv 87 (2003), S. 90–108, hier S. 93. Ebd., S. 93f. Hinzu kommt der Alterungsprozess, der nach mittelalterlicher Vorstellung eher als bei den Männern einsetzt, und zwar wegen der zeitlich früheren Austrocknung und Abkühlung (S. 95). Schäfer verweist außerdem auf die Marginalisierung der alten Frau im medizinischen Schrifttum vor 1750; vgl. ebd., S. 91, 107. Schon in der Antike ist die letzte Lebensphase der Frauen »weitgehend ohne Beachtung«, so der Artikel ‘Alter’, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 556–559, hier Sp. 559. S. 738,30f. Im Fastnachtspiel K 95 (›Di jung rott vasnacht‹), das die fastnächtlich begründeten Sehnsüchte von jungen Frauen und Männern in Szene setzt, werden vor allem die Vorzüge der Jugend gelobt. Nur eine junkfrau hält fest, dass die alten [. . .] auch gut pei den sachen seien, / So man schimpf oder ernst sol machen (S. 738,23f.). Würde es um wichtige Angelegenheiten gehen, dann nimpt man die jungen selten inn rot (ebd. V. 26), so die junkfrau weiter. Gleich darauf werden die Alten allerdings allein auf den schimpf einer alte[n] vettel reduziert, wenn diese – wie oben erwähnt – ankündigt, ihre zwen lang tutten im Tanz zu schwingen. Mit dieser Ankündigung endet das Fastnachtspiel K 59, in dem die Reden z. T. wörtlich mit denen in K 95 übereinstimmen; vgl. ebd., S. 521,35; S. 522,1–16.

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heilsgeschichtliche Kampf des Guten gegen das Böse beigeordnet, sondern ein Kampf des Bösen gegen das Böse, das sich vom Ergebnis her betrachtet nicht aus der Welt schaffen lässt, mündet dieser Kampf doch letzten Endes in einer fortbestehenden Verunsicherung, wenn die bösen Alten ihre Überlegenheit gegenüber der teuflischen Macht des Bösen beweisen. Und alte Frauen dieser Art stammen dazu noch aus der lebensweltlichen Mitte der Zuschauer. Was die Repräsentation des Alters durch die bösen Frauen in der ohnehin schon gemeinen Welt der Fastnachtspiele als Bedrohung der Jugend mithin nicht zuletzt leistet, ist eine erhebliche Steigerung der Gefahr durch Täuschung, Betrug oder Verführung. Das alte Böse und die böse Alte in der unmöglichen Welt des Fastnachtspiels In der durch Selektion, Kombination und Verkehrung gewonnenen Textwelt des hier betrachteten Fastnachtspieles sind Wiederholung, Variation und Korrelation bekannter Szenenelemente und Szenenmuster mithin die privilegierten Gestaltungsmittel der Kontrafaktur, die nicht zuletzt auch am Prozess der Sicherung ethisch-moralischer Werte beteiligt sind. Als dominante Strukturmerkmale des Handlungsverlaufs erweisen sich insbesondere die Reihung der Episoden durch Doppelungen und Vervielfachungen: Zweimal nämlich beherrscht das junge Paar die Szene, nachdem die Eheanbahnung erfolgreich war. Und zweimal ist es die böse Alte, die dann beim dritten Mal mit Verstärkung agiert. Zweimal müssen außerdem die Salben des Arztes Verwundete heilen. Allein die Teufel schalten sich immer wieder ins Geschehen ein. Die Teufels- und Marktszenen haben ihren ursprünglichen Ort in Osterspielen, wo das Salbenkrämerspiel dem Grabbesuch der drei Marien vorgelagert ist, während die Teufelsaussendung sich stets mit der Höllenfahrt oder dem Höllenabstieg Christi mit der Befreiung der Altväter verbindet, die vor der Auferstehung nicht in die ewige Seligkeit eingehen konnten. Das Fastnachtspiel überschreitet diese Spiele aber nicht nur insofern, als es die ursprünglichen Anlässe hinter sich lässt, es überbietet sie zugleich auch, indem es die aktualisierten Szenen kontrastierend und/oder steigernd arrangiert. Im Wissen um gattungsspezifische Erwartungen arbeiten außerdem neue Zuordnungen, intertextuelle Anspielungen sowie eine den Prätext überbietende Vermehrung teuflisch böser Gestalten oder einzelner Spielzüge, einer – gegenüber den Osterspielen – modifizierten Gewichtung zu, wenn das heilsgeschichtliche Geschehen um die Auferstehung zwar noch in der Erinnerung vorhanden ist, aus dem Handlungsgeschehen aber verbannt wird. Ins Zentrum rückt stattdessen allein die allgegenwärtige Bedrohung durch das Böse. Dieses wohl in hohem Maße beunruhigende, sowohl unfassliche wie auch übermächtige Böse wird aus den Osterspielen mitgeschleppt, was dann im – vielleicht bannenden oder abwehrenden55 – Gestus der Wiederholung zur erneuten Beleuchtung eines zwar unerträglichen, aber offenbar auch nicht zu ändernden Zustandes führt. Aufgelöst wird die im Spiel aufgebaute Spannung aller55

Von einer »Bannung von Schrecknissen« und von »Teufelsfurcht« spricht Warning u. a. auch in: Suche [Anm. 33], S. 349; 353. Vgl. außerdem Anm. 4.

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dings nicht. Obwohl als einziger Verlierer der Teufel aus diesem Spiel hervorgeht, lässt sich der Terror der teuflischen Macht nicht ‘wegspielen’, wenn die Bedrohung auf böse, alte Zauberinnen verlagert ist, die mit ihrer – sogar mehr als diabolischen – Niedertracht unvermindert weiter agieren, sofern man sie nicht – dem Spiel zufolge – am nächsten Ast aufknüpft. Die Wiederholung wird so zur Wiederkehr des nicht zu bewältigenden Bösen und die erneute Erinnerung daran intensiviert nicht nur die Aufmerksamkeit dafür, sondern bestätigt zugleich, dass es sich um etwas Unabänderliches handelt. Das Fastnachtspiel bearbeitet insofern einerseits ein den Osterspielen analoges Problem, das sich hier wie dort einer Bewältigung entzieht, andererseits lagern sich im Fastnachtspiel aber auch neue Kontexte an. Im Rückgriff auf Bekanntes und in Absetzung von den verbreiteten Szenenentwürfen der Osterspiele arbeitet dieses Spiel an einem bekannten Stoff weiter, wobei es Komplexität und vor allem Intensität u. a. dadurch erhält, dass nun mehrere Szenenkomplexe ineinander geschoben sind: Es verschränken sich eine Brautwerbung mit Eheschließung, der Teufel-Seelen-Komplex mit der Stellvertreterschaft durch die alte Zauberin und das Marktgeschehen mit dem Salbenkauf. Zu den auch schon im geistlichen Spiel anzutreffenden stereotypen Ansichten gehören dabei gewiss diejenigen vom alten, übelen wıˆp als Inbegriff von Bosheit, Habgier und List, aber erweitert ist das Fastnachtspiel zugleich um eine Polarisierung von Jugend und Alter. Als Repräsentant der Jugend ist ein positiv konnotiertes Ehepaar eingeführt, das den Machenschaften letztlich zu widerstehen weiß. Und aus diesem Sieg über die teuflischen Verführungskünste bezieht das Spiel gewiss einen Teil seiner überraschenden Wirkung, doch wird die Erwartung sogleich auch wieder dadurch irritiert, dass die schrecklichen alten Frauen davonkommen und so weiterhin ihr Unwesen treiben können. Und die scheinen dann im 16. Jahrhundert in der Gestalt der Hexe eine exemplarische Projektionsfigur zu finden. Ob sich der inszenierte Angriff auf die Ehe junger Leute in der Aufwertung des Ehestandes in der Frühen Neuzeit begründet, das lässt sich ebenso schwer beurteilen wie der Anteil des Imaginären. Folgt man der Fiktionstheorie von Wolfgang Iser, dann fungiert das Imaginäre als »Impfstoff«56 der literarischen Fiktion, die wiederum dem ursprünglich ungeformten Imaginären Gestalt, und das heißt: ein ‘neues Aussehen’ gibt. Vollends fassbar ist das Imaginäre weder nach Wolfgang Iser noch nach Cornelius Castoriadis, auf den Iser sich bezieht.57 Doch ist es diese »Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen«,58 die sowohl das Handeln als auch die Sprache strukturiert. Nun ist es unmöglich zu sagen, welches Wissen über die Welt im Bewusstsein der Rezipienten vagabundierte. Die Wirkung dieses bildschaffenden Imaginären aber lässt sich der sprachlichen Ausgestaltung ablesen. Das Ergebnis der Weiterbearbeitung von Szenen, die im Osterspiel 56 57

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Iser, Das Fiktive [Anm. 23], S. 401. Zum Imaginären vgl. Wolfgang Iser, Das Imaginäre: kein isolierbares Phänomen, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 479–486. Außerdem ders., Das Fiktive [Anm. 23], S. 20–23 u. ö. So Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 1984, S. 218.

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ihren Platz hatten, konkretisiert sich einerseits in Gestalten wie dem jungen Paar, das sich in der fastnächtlichen Welt behauptet; andererseits aber auch in solchen, die wie in den Osterspielen mit Furcht und Schrecken in Verbindung gebracht sind:59 im Teufel und seinen Helfern, die außerdem noch in Gestalt ebenso hinterhältiger wie aggressiver alter Frauen agieren. Erneut beleuchtet wird demzufolge ein ebenso unbewältigter wie unerträglicher Zustand, der als Rest aus den Osterspielen mitgenommen wird: die beunruhigende Allgegenwart des Bösen durch Verführung, Täuschung oder Intrige. Der Problemgehalt der Osterspiele wird insofern zwar bewahrt, aber zugleich auch neu arrangiert. Mobilisiert durch das Imaginäre, entlockt die Wiederaufnahme des Teufel-SeelenSpiels der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Verführung zur Sünde zudem die unliebsame Möglichkeit, dass es nicht nur die Teufel sind, die mit dieser Aufgabe befasst sind, sondern auch Leute aus der eigenen lebensweltlichen Mitte. Das macht einen wichtigen Teil des neuen ‘Kleides’ der Wiederholung aus. Dass es sich dabei aber nur um ein ‘Als-Ob’ handelt, das hält das Spiel gleich von Beginn an präsent, wenn klar gestellt wird, dass eben gerade nicht die gegebene Lebenswelt auf die Bühne gebracht ist, sondern dass es lediglich um kurzweil innerhalb eines Fastnachtspiels gehe. Unter diesem »Vorzeichen des Fingiertseins«, das die fastnächtliche Welt gewissermaßen »in Klammern«60 setzt, bleibt diese Welt dann zwar auf die herrschenden rechtlichen und ethisch-sozialen Normen bezogen, doch verliert die dargebotene Handlung zugleich auch ein wenig von ihrem Schrecken, weil sie auf diese Weise aus einer Distanz heraus wahrgenommen werden kann.61

59 60 61

Zuletzt etwa Quast [Anm. 13], S. 123ff., 133 u. ö. Iser, Das Fiktive [Anm. 23], S. 37. Jutta Eming spricht in ihrer Arbeit zu künstlichen Menschen von »Angst-Lust«, zu der ein Betrachter stimuliert werden könne. Ob das Fastnachtspiel K 57 eine vergleichbar heterogene Koppelung emotionaler Zustände hervorgerufen hat? Vgl. Jutta Eming, Schöne Maschinen, versehrte Helden. Zur Konzeption des künstlichen Menschen in der Literatur des Mittelalters, in: Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden, hg. v. Eva Kormann u. a., Amsterdam/New York 2006 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 59), S. 35–46.

Carla Dauven-van Knippenberg

mit frölicher berg Über das Miteinander von Komik und Passion

I. Immer wieder bemühen sich Denker und Wissenschaftler, »der magischen Essenz des Komischen« auf die Spur zu kommen,1 immer wieder mit wechselndem Ergebnis; es gibt eben keine anthropologische Konstante der Komik.2 Als deren Hauptcharakteristikum wird vielfach die Inkongruenz angenommen, das Nicht-Übereinstimmende, das, was nicht zusammenpasst oder nicht kompatibel ist,3 der »Zusammenstoß von Wirklichkeitsbegriffen, deren Unverständigkeit gegeneinander lächerlich [. . .] sein kann«.4 Wie wenig spezifisch allerdings die Kategorie ‘Komik’ ist, wie historisch variabel Konstellationen des Inkongruenten sein können, zeigt sich, wenn ein heutiger Leser in einem Passionsbericht auf Derbheiten oder fröhliches Gebaren trifft. Norbert Schindler meint, es sei einem Menschen nahezu unmöglich, »den Witz und Humor einer anderen Gesellschaft über die literaturästhetische Betrachtungsebene hinauszudenken und als Moment sozialer Praxis zu begreifen, mit deren Praxeologie er nur höchst unzureichend vertraut ist.«5 Wenn man davon ausgehen darf, dass es sich bei dem durch jene Derbheiten hervorgerufenen Lachen um ein inszeniertes handelt, kön1

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So das Ansinnen der Forscher, die sich alljährlich in Schottland zur International Summer School on Humor and Laughter treffen. Vgl. Christoph Drösser, Wo ist der Witz?, Die Zeit 31 (2007), S. 27–28. In dem immer noch anregenden Sammelband der Forschergruppe ‘Poetik und Hermeneutik’ zum Thema ‘Das Komische’ meinen die Herausgeber im Vorwort, es sei kaum möglich, eine allgemeingültige Definition des Komischen aufzustellen. Vielmehr sollte das Generalisierungspotential dessen, was zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen als komisch empfunden wird, ausgelotet werden. Vgl. Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning, München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 7. Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/ New York 1998; vgl. auch Richard Bandler u. John Grinder, Die Struktur der Magie, 6. Aufl., Paderborn 1994 (Kommunikation & Veränderung II), S. 55. Hans Blumenberg, Der Sturz des Protophilosophen. Zur Komik der reinen Theorie, anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thales-Anekdote, in: Das Komische [Anm. 2], S. 11–64, hier S. 11. Manuel Braun unterscheidet ein Mitlachen und ein Verlachen, wenn er der Frage nachgeht, wie sich in der Heldenepik Gewalt und Komik zueinander verhalten. Braun stellt fest, dass Lachkulturen anderer Zeiten genauso schwierig zu rekonstruieren sind wie jene aus fremden Welten. Vgl. Manuel Braun, Mitlachen oder Verlachen. Zum Verhältnis von Komik und Gewalt in der Heldenepik, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, hg. v. Manuel Braun u. Cornelia Herberichs, München 2005, S. 381–410. Norbert Schindler, Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992, hier S. 152.

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ne man, nach Gerd Althoff, darin einen Code erkennen, der nichts mit Komik gemein habe. Zum einen besitze dieser Code die pragmatische Funktion, Gruppen und Gemeinschaften zu konstituieren, zum anderen könne er – als Hohn- und Spottgelächter – die Konfliktbereitschaft der eigenen Gruppe signalisieren und unterstreichen.6 Komik wäre demnach auf der einen Seite das Mittel, ein Lachen zu erzeugen, das eine Bedeutung kodiert, auf der anderen Seite könnte Komik ein Schlüssel sein, mit dem der Code, das inszenierte Lachen, auf der Textebene greifbar werden könnte. Genau so ließe sich das zum risus paschalis führende Ostermärlein verstehen, denn es führt wohl zu einem gemeinsamen Lachen der Gläubigen als Zeichen der Freude über die Erlösung, der Freude über das überwundene Böse. Dieser risus paschalis wird im Osterspiel etwa durch die Vorrede hervorgerufen7 oder durch die lustig bis derblustige Ausgestaltung entsprechender Spielabschnitte, wie der Prahlerei der Grabwächter, der Erlösung der Altväter aus der Hölle und der dazugehörigen Wiederbevölkerung dieser Stätte, dem Salbenkauf der Marien, der Hortulanusszene, dem Jüngerlauf etc.8 Mitunter nimmt die possenhafte Spielgestaltung ein solches Ausmaß an, dass man vom heutigen Standpunkt aus kaum noch glauben kann, dass man es mit einem dem höchsten kirchlichen Fest zugeordneten Spiel zu tun hat. So wies denn auch Hansjürgen Linke auf die dem modernen Denken entsprungene »unstimmige Opposition« zwischen geistlichem und weltlichem Spiel hin. Zu zahlreich seien die Beispiele, in denen beide Spieltypen vom gegenseitigen stofflichen Potential Gebrauch machten, als dass man von einem autonomen geistlichen oder weltlichen Bereich ausgehen dürfe.9 Es komme zu Grenzverwischungen, wobei immer religiöse Maßstäbe angelegt werden. 6

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Gerd Althoff, Vom Lächeln zum Verlachen, in: Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten, Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2005 (TMP 4), S. 3–16, hier S. 10. Wie eng das Ineinandergreifen von Fastnacht- und Osterspiel sein kann, zeigen etwa die Vorreden in Vigil Rabers Spiel von ›Rumpoldt und Mareth‹ und die Vorrede zum ›Wiener Osterspiel‹. Man trifft auf die gleiche possenhafte Formel, die zur Aufmerksamkeit auffordern sollte: ‘Wer die Spieler verspottet, sei es Hinz oder Kunz [. . .], der möge fallen wie eine Feder vom Gänsestall’. Vgl. hierzu ›Der Prozeß gegen Rumpold‹, in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 4. Aufl., Stuttgart 1989 (RUB 9415), Nr. 11, S. 91–130, hier S. 92, V. 31–36; ›Wiener Osterspiel‹: Abdruck der Handschrift und Leseausgabe, hg. v. Hans Blosen, Berlin 1979 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Heft 33), hier S. 25, V. 33–42. Vgl. hierzu in diesem Band den Beitrag von Gerhard Wolf, S. 301–326. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ‘Geistlich’ und ‘weltlich’ als Ordnungskriterien der mittelalterlichen Dramatik, Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75–126, hier S. 91. Burghart Wachinger allerdings ist der Meinung, dass in Bezug auf das Mittelalter das historisch Spezifische im Begriffspaar ‘geistlich-weltlich’ eher zum Ausdruck komme als etwa in ‘religiös-profan’ oder ‘numinos-alltagsweltlich’. Zu Recht betont Wachinger hier, in Übereinstimmung mit Reinhart Kosseleck, dass das Gegensatzpaar jedoch nicht symmetrisch aneinander gekoppelt sei. Vgl. Burghart Wachinger, Einleitung, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. v. Christoph Huber, Burghart Wachinger u. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 1–15, hier S. 2; S. 4 Anm. 5.

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Dass aber, so Linke, nicht jede Form des Profanen unbegrenzt Eingang ins Geistliche haben durfte, belegten nicht nur Zeugnisse der Spieltradition,10 sondern auch Fastnachtspieltexte. Als Beispiel wird K 9 aufgeführt, das schlichtweg ›Ein Vastnachtspil‹ überschrieben ist. Die Sprecher werden nicht eigens genannt, sondern ein Großbuchstabe markiert jeweils den Einsatz eines neuen Sprechers, was eine beliebige Ausbreitung nach Bedarf ermöglicht. Der dritte Spruch lautet: Das sprich ich auch vil tummer knecht, Itlicher zeit tut man ir recht. Die vasnacht hat ein solchen siten, Das groß andacht wirt vermiten, Die vasnacht kan vil narren machen Und das man irs schimpfs mug lachen. Solch narren man heute gern sicht, Der man am karfreitag gert nicht; Wer es aber am karfreitag wolt anfahen, Mit kamerlaugen wurd man im zwahen (K 9, S. 91,23–92,7).11

Also zur Fastnachtszeit seien Narreteien durchaus toleriert, nicht aber am Karfreitag. Wer sich an diesem Tag daneben benähme, müsse mit einer, im wahrsten Sinne des Wortes, saftigen Strafe rechnen: er werde in Urin gebadet. Weniger drastisch besagt ein anderes Beispiel, Possenspiel am Karfreitag sei unerwünscht: Der Auszschreier bittet hier vorsorglich, als die Truppe sich vom Wirt verabschiedet, um Entschuldigung, falls die Witze zu grob gewesen seien: Wann ir das selber wol versteet, Das man ietzunt zu vasnacht frölicher ist, Denn am carfreitag, so man passian list (K 102, S. 773,1–3).

Diese Textausschnitte besagen, dass es durchaus Regeln für passende und unpassende, für normgerechte und normbrechende Komik gab: die Passionszeit, namentlich der Karfreitag, war offenbar für närrisches Treiben tabu. In der Verlängerung der Argu10

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Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde., München 1987 (MTU 84; 85). Eine Auswertung im Hinblick auf die Frage, wie Zeitgenossen das geistliche Spiel sahen, findet sich bei Dorothea Freise, Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters: Frankfurt – Friedberg – Alsfeld, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Plank-Instituts für Geschichte 178), S. 47–79. Freise betont vor allem die literarische Tradition der Pround Contra-Stimmen, die in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‘Theater’ vom ersten Anfang einsetzen. Sie kommt für die von ihr untersuchten Spiele (Alsfeld, Friedberg, Frankfurt a. M.) zu dem Schluss, dass trotz der spitzzüngigen und parodistischen Stellungnahmen des späten Mittelalters »der religiöse Anspruch der geistlichen Spiele [. . .] vollkommen ernst zu nehmen« sei. Vgl. S. 515. Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966, hier K 9. Auf dieses und folgendes Beispiel hat Linke, Unstimmige Opposition [Anm. 9], S. 91– 92, hingewiesen. Ulrich Barton geht an anderer Stelle in diesem Band ebenfalls auf diesen Text ein (vgl. S. 169). Allerdings legt er die Betonung auf das Potential des Spruches hinsichtlich der Trennung bzw. der Zuordnung von Spieler und Publikum.

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mentation Johannes Janotas könnte man meinen, dass, wäre es nie zu närrischen Ausschweifungen gekommen, diese Tatsache wohl kaum in einem Fastnachtspiel thematisiert worden wäre.12 Festzuhalten ist, dass das erste Zitat zugleich ein Beispiel dafür ist, dass durch die imaginierte, höchst vulgäre Form der Bestrafung (Mit kamerlaugen [. . .] zwahen), welche denjenigen ereilen wird, der an einem Karfreitag die närrische Komik eines Fastnachtspiels praktizieren wolle, es die Ordnungshüter der Dignität selbst sind, welche die Dignität des Feiertages destruieren würden. Durch die textliche Problematisierung unerwünschten Verhaltens kann man darüber hinaus beobachten, dass der Sprecher den intradiegetischen Raum verlässt, um auf einer Metaebene auf den Karfreitag vorauszuweisen. Ein solches Verfahren spricht dafür, dass das Fastnachtspiel sich selbst nicht als autonomes Geschehen betrachtet, sondern es verankert sich in der Formulierung seines Gegenpols – sozusagen als Konstitutionsbedingung – in seinem zeitlichen Rahmen.13 Wenn man auch die zeitgenössischen Stellungnahmen zu aus dem Ruder gelaufenen Spielaufführungen oder die Warnung vor Karfreitagsausschweifungen, auf die man in den beiden Fastnachtspielen trifft, mit der gebotenen Skepsis behandelt,14 so bleibt dennoch die heute bemerkenswerte Tatsache, dass doch ein eher lustiges Fastnachtstreiben und eine eher zu Andacht veranlassende Passionsfrömmigkeit miteinander vernetzt werden. Das führte immer wieder zu der Frage, inwiefern Passionsspieltexte eine gewisse Komik in sich bergen oder aber einen Lachanlass bieten könnten. Generell stellte Klaus Ridder fest, dass im geistlichen Spiel das Potential des Komischen in der Verspottung des überwundenen Bösen liege oder der Bezeichnung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Göttlich-Erhabenen und dem MenschlichProfanen.15 Dabei sei die Konstituierung von Lachgemeinschaften, so Hildegard Keller, als Moment der In- und Exklusion von evidenter Bedeutung.16 Die Beobachtungen und Erkenntnisse knüpfen vor allem an die mutmaßliche szenische Realisation eines Spieltextes an. Im Folgenden sollen jedoch auch die Potentiale des Textes in einem nicht zur Schau gebrachten Vollzug berücksichtigt werden, um Signale aus dem Bereich des Komischen aufzufangen. Wo genau liegen die pro12

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Janota meint, dass es für die oft bösartigen Berichte von Entgleisungen in Passionsspielen doch »ein fundamentum in re« geben müsse, »auch wenn wir dieses nur in der parteiischen Perspektivierung der Berichtenden zu fassen vermögen.« Vgl. Johannes Janota, Repraesentatio peccatorum. Zu Absicht und Wirkung der spätmittelalterlichen Passionsspielaufführungen, ZfdA 137 (2008), S. 439–470 (im Druck). Hier findet man auch zahlreiche zeitgenössische Stellungnahmen. Vgl. hierzu in diesem Band Dietz-Rüdiger Moser S. 151–165, der sich mit der Frage, ob die Fastnacht ein dem liturgischen Jahresablauf eingeflochtenes Fest sei, auseinandersetzt. Freise [Anm. 10]. Klaus Ridder, Erlösendes Lachen. Götterkomik – Teufelskomik – Endzeitkomik, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 195–206, hier S. 196. Hildegard Keller, Lachen und Lachresistenz. Noahs Söhne in der Genesisepik, der ›Biblia Pauperum‹ und dem ›Donaueschinger Passionsspiel‹, in: Röcke u. Velten [Anm. 6], S. 33– 59, hier S. 34.

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duktiven Kräfte, die über die Verquickung von ‘Schimpf und Ernst’ Aufschluss bringen? Auf der literaturästhetischen Ebene? Im performativen Vollzug? Ausgangspunkt für die Erörterung dieser Fragen soll das ›Donaueschinger Passionsspiel‹17 sein. Wie früher schon Gerhard Wolf befand, sei die Anlage des Donaueschinger Spiels durchaus auch auf einen ästhetischen Genuss hin ausgerichtet.18 Wolf vertritt hier eine von der gängigen Forschung abweichende Meinung, indem er diesen Text von der monopolistischen Annahme loslöst, er sei zu Aufführungszwecken aufgezeichnet. Die für die Forschung so überaus reizvollen ausführlichen Bühnenanweisungen in deutscher Sprache, ansonsten ausschließlich mit einem szenischen Vollzug in Verbindung gebracht, sieht Wolf sowohl als Reflex »über die Bedingungen und Möglichkeiten einer perspektivierenden Interpretation der Heilsgeschichte auf der Bühne« als auch eines Nachdenkens über Verständnisprobleme.19 Diese multiperspektivische Betrachtungsweise von Vollzugsmöglichkeiten wird durch die Analyse der Zeugnisse geistlicher Spiele gefördert. Bernd Neumann und Dieter Trauden fragten sich, inwiefern die überlieferten Spieltexte in Beziehung zu den zahlreichen Aufführungszeugnissen stehen. Auf der Kölner Tagung ‘Ritual und Inszenierung’ im Jahre 1999 legten sie die Ergebnisse vor:20 Sie konnten feststellen, dass zwar etwa 1000 Aufführungen geistlicher Spiele im deutschen Sprachraum archivalisch belegt seien, dass sich diesen aber nur etwa 200 überlieferte Texte zur Seite stellten. Jedoch das Bemerkenswerteste sei, dass »sich aber Nachrichten von Aufführungen nicht mit bekannten Spieltexten und Spieltexte nicht mit belegten Aufführungen verbinden« ließen.21 Es müsse also bestimmte andere Auswahlkriterien als nur aufführungsdienliche Zwecke gegeben haben, weshalb ein Spieltext für wert befunden wurde, aufgezeichnet und aufbewahrt zu werden.22 Nicht nur die Dichotomie ‘geistlich’ versus ‘weltlich’ ist also sehr vorsichtig und den historischen Perspektiven Rechnung tragend zu verwenden, sondern auch die Dichotomie ‘Vollzug in Aufführung’ versus ‘Vollzug in Lektüre’. Wie in letzter Zeit schon mehrfach betont wurde, ist ein weiterführendes Verständnis von Spielen aus dem Mittelalter lediglich denkbar, wenn man dieser Mehrdimensionalität der Texte Rechnung trägt:23 Ein aufgezeich17

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Das Donaueschinger Passionsspiel, nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu hg. v. Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985. Vgl. Bernd Neumann, Das ‘Donaueschinger Passionsspiel’, in: 2VL Bd. 2, 1980, Sp. 200–203. Gerhard Wolf, Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung. Bedingungen und Funktion der ‘performance’ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters, in: ‘Aufführung’ und ‘Schrift’ im Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart/ Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 381–401 und 403–405, hier S. 391. Ebd. Bernd Neumann u. Dieter Trauden, Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels, in: Ziegeler [Anm. 15], S. 31–48. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40–41. Vgl. hierzu Carla Dauven-van Knippenberg, Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des ›Wienhäuser Osterspielfragments‹, in: Ir sult sprechen willekomen. FS

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netes mittelalterliches Drama beansprucht durchaus auch den Rang eines buchliterarischen Werks, das sich durch die innewohnenden Potentiale realisierter und nicht realisierter Möglichkeiten auszeichnet. Die Untersuchung des unikal überlieferten Donaueschinger Spieltextes bezüglich diverser Signale einer Komik, gegebenenfalls mit dem Potential des Ausuferns, möchte dazu beitragen, weitere Verständnismomente für diese kulturhistorisch so schwer fassbare Gattung zusammenzutragen und, wenn möglich, Momente einer sozialen Praxis des Komischen unter literaturästhetischer Perspektive herauszuarbeiten. Namentlich der Passionsteil soll auf Momente von Komik befragt werden.24 Obwohl den Gesangspartien des ersten Spieltags besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, werden im Folgenden nicht nur jene Signale fokussiert, welche der szenischen Umsetzung gelten und die vor allem auf visuelle Effekte zielen, sondern es sollen gerade auch die Potentiale auf der Figuren- und Anweisungenebene25 aufgedeckt werden, die sich bei einem gelesenen Vollzug auftun, der weniger kurzfristig, einmalig und flüchtig, sondern gar iterativ sein kann. II. Schon der Beginn des Donaueschinger Spieltextes ist recht inkonsistent.26 Singen die Engel, nachdem man zur Ruhe gemahnt hat, ihren Silete-Gesang,27 so wird eine even-

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für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. v. Christa Tuczay, Ulrike Hirhager u. Karin Lichtblau, Bern [usw.] 1998, S. 778–787; dies., Das Maastrichter (ripuarische) Passionsspiel, in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. v. Cornelia Herberichs u. Christian Kiening, Zürich 2008, S. 222–239; Cornelia Herberichs, Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, hg. v. Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte, Berlin/New York 2007 (TMP 11), S. 169–185; Christian Kiening: Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, in: Kasten u. Fischer-Lichte [Anm. 23], S. 139–168. Dorothea Freise konnte feststellen, dass die spöttische Häme der Polemiken gegen das geistliche Schauspiel namentlich auf das Passionsgeschehen selbst zielte. Vgl. Freise [Anm. 10], S. 77. Klaus Grubmüller spricht von »Figurenlachen«, wenn es sich um ein Lachen auf der Figurenebene handelt und von einem »Erzählerlachen«. Hier wäre wohl noch ein ‘Rezipientenlachen’ hinzuzufügen, und zwar wäre zu unterscheiden zwischen einem ‘bezweckten Rezipientenlachen’ und einem ‘kontingenten Rezipientenlachen’, das sich wohl eher aus Missgeschicken beim Vollzug ergibt. Vgl. Klaus Grubmüller, Wer lacht im Märe – und wozu? in: Röcke u. Velten [Anm. 6], S. 111–124, hier S. 111. Auf den Beginn des ›Donaueschinger Passionsspiels‹ bin ich auch schon an anderer Stelle eingegangen; vgl. Carla Dauven-van Knippenberg, Fransen des Unfassbaren. Providenzsicherung und Kontingenzvermeidung im geistlichen Spiel, in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Cornelia Herberichs u. Susanne Reichlin, Göttingen 2009 [im Druck]. Für die Spieleröffnung und den Auftritt der sündigen Maria Magdalena konnte festgestellt werden, dass sich das Phänomen ‘Kontingenz’ je nach Art des Vollzugs, gelesen oder aufgeführt, unterschiedlich präsentiert. Die Ergebnisse der Analyse des Abschnitts werden hier noch einmal kurz dargelegt. Auch Erika Fischer-Lichte steht der Deutung skeptisch gegenüber, der Silete-Gesang diene

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tuell dadurch geschaffene Konzentrationsbereitschaft umgehend wieder gebrochen, o wenn die iuden schull ihren bramarbasierenden Gegengesang hält: Gamahü formatur item (V. 3).28 Das verlangt ein abermaliges Ruheheischen, was der Knecht des Proclamators auf sich nimmt, indem er laut seinen Herrn ankündigt und die Anwesenden zum Zuhören auffordert. Das Beginnsignal wird, bevor der Proclamator tatsächlich das Wort ergreift, durch Hornbläser gesetzt, die nun – wie der Text besagt – schon zum dritten Mal zu hören seien. Endlich kann der Proclamator beginnen. Zuerst spricht er einen gebetsähnlichen Spruch, um dann im Predigtstil die gesamte Heilsgeschichte zu skizzieren. Man könnte denken, dass sich durch diesen Spruch der Ernst und die entsprechende Ruhe zum Zuschauen und Zuhören hergestellt hätten. Sollte das der Fall gewesen sein, so würden Ernst und Ruhe nun wieder gestört durch das das Vater Unser-Gebet parodierende pater noster bigenbitz (V. 82) der iudenschuol. Es ist nur die erste Zeile dieses lustigen Liedchens aufgezeichnet, dessen vollständiger Text im engverwandten ›Luzerner Passionsspiel‹ überliefert ist.29 Weil offenbar das Anzitieren der ersten Zeile ausreichte, geht man davon aus, dass es sich um einen allbekannten Text handle. Ohne weitere Ruhemahnung ergreift jetzt Magdalena unter fröhlichem Gebaren: mit frölicher berg (V. 82b) das Wort, um sich mit den Soldaten Pilati zu vergnügen. Diese tragen alle jüdische Namen. Haben sie womöglich das Lied mitgesungen? Haben etwa alle – auch das Publikum – das Lied mitgesungen? Hier läge auf der Ebene des szenischen Vollzugs ganz greifbar jene Komik, die zu ausgelassener Fröhlichkeit führen könnte. Allerdings würde diese sich gut in das Handlungsgefüge eingliedern, denn schließlich sollte der Abschnitt mit dem Weltleben der Maria Magdalena eine diesseitige, also unerwünschte Freude anprangern. Insofern trüge die möglicherweise ausgelassene Komik zur Providenzsicherung bei und wäre Teil einer bewussten, heilsbezogenen Sinnstiftung. Die Rückführung zur Handlung wird dann selbst durch das lustige Treiben der Maria Magdalena mit ihren Kameraden geleistet, das abrupt endet mit der heftig zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis – als Zeichen stößt sie das Schachspiel spontan von sich (V. 176d) –, dass das nicht das wahre Leben sein könne. Diese Handlung, die auf der Ebene der Bühnenanweisungen zweimal wiederholt wird, findet sich auch auf der Textebene verbalisiert (V. 177). Sie scheint das unübersehbare Signal zu sein, dass sich jetzt Aufmerksamkeit einzustellen hat. Die Soldaten kehren zurück an ihren Ort und die Heilsgeschichte wird fortgesetzt mit dem Kauf des Balsams und der in allen vier

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der Herstellung der Ruhe. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Theater und Fest. Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters, in: Kasten u. Fischer-Lichte, Transformationen [Anm. 23], S. 3–17. Der Spieltext überliefert lediglich die Anfangsworte des Gesangs; der volle Wortlaut findet sich im ›Luzerner Passionsspiel‹ ausgeschrieben. Vgl. auch die Anmerkung zu V. 3 in der Edition des ›Donaueschinger Passionsspiels‹ (S. 262). Winfried Frey hat sich ausführlich mit den bramarbasierenden Judengesängen in den Passionsspielen auseinander gesetzt, siehe Winfried Frey, Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters, Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 2 (1992), S. 49–71. Ebd., S. 68ff.

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Evangelien wiedergegebenen Salbung der Füße Jesu beim Mahl Simons des Pharisäers.30 o Der nächste Gesang der iuden schul findet sich nach den ersten Wunderheilungen, die den iuden unheimlich zu sein scheinen, denn sie beginnen zu murmlen (V. 471b), ein Wort, das gerne benutzt wird, um textintern auf Beunruhigung oder Unmut hinzuweisen. Der Gesang soll nach Aussage des Sprechtextes ebenfalls eine Verspottung sein, allerdings geht der Spott nach hinten los. Es sollte eine Verballhornung der Antiphon Ego sum Alpha et O, primus et novissimus et stella matutina, ego clavis David [etc.]31 werden, weshalb die kleinen Knaben singen: tu clavis David (V. 472– 476). Der Jude Salatheyel besagt ausdrücklich, dass die Knaben nicht jubeln, sondern denjenigen verspotten wollten, der meinte, er sei ein guter Arzt (V. 480). Die vermeintliche Verspottung, so der saluator mit einem Zitat aus Mt 21,16, besage aber die Wahrheit: wan von der sugenden kinden münd / Sol gott gelobet werden alle stund (V. 483–484). Auch woher man das wissen könne, sagt der saluator, denn, so verweist er aus dem Spielrahmen hinaus auf alltagspraktische Heilsvermittlung, man habe es lesen können, und deshalb, so endet dieses spöttische Sticheln, sei es ewer schand (V. 486). Die Parodie der Antiphon ist mit Noten versehen, was gemeinhin in einem Zusammenhang mit einer szenischen Umsetzung gesehen wird.32 Es fällt auf, dass im Donaueschinger Text nur die aus der Liturgie bekannten Gesänge notiert und außerdem voll ausgeschrieben worden sind, die Judengesänge hingegen nicht.33 Aufgrund ihrer allgemeinen Bekanntheit in den religiösen Kreisen, die vermutlich die Abfassung des Spieles verantworteten,34 würde sich daher eine vollständige Aufzeichnung der liturgischen Gesänge erübrigen. In diesem Spielträger jedoch findet man gerade eine entgegengesetzte Praxis: der aus der Liturgie bekannte Gesangstext ist voll ausformuliert und dazu noch mit Noten versehen. Das veranlasst zur Frage, ob den mit Noten versehenen Gesangspartien nicht auch ein privater oder aber buchästhetischer Sinn beigemessen werden darf.35 Auf dieser eher auf Eingeweihte hin30 31 32

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Mt 26,6f.; Mk 14,3; Lk 7,36f.; Joh 12,3. Vgl. ›Donaueschinger Passionsspiel‹ [Anm. 17], Anm. zu V. 472–476 (S. 271). Hansjürgen Linke und Rolf Bergmann erarbeiteten Kennzeichen, an denen man erkennen könne, ob man es in der überlieferten Handschrift mit einem für eine Spielaufführung aufgezeichneten Text zu tun hat, oder ob die Aufzeichnung aus anderen Zwecken geschah. Mit Noten versehene Gesangstexte gehörten zu den Indizien, die auf einen Gebrauch des Textes im Zusammenhang mit einer Aufführung hinweisen. Vgl. Rolf Bergmann, Aufführungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas, in: The theatre of the Middle Ages, hg. v. Herman Braet u. a., Leuven 1985, S. 314–351; Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 527–589. Es braucht nicht zu verwundern, dass die Gesänge aus dem Mund der Gegner Christi ohne Noten bleiben, denn das Böse hat keine Lieder, es schreit und krächzt. Diesen Hinweis verdanke ich Clara Strijbosch (Utrecht). ›Donaueschinger Passionsspiel‹ [Anm. 17], S. 26. Vgl. Peter Ochsenbein, Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit, in: Viva vox und ratio scripta. Mündliche und

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weisenden Ebene läge wohl auch die subtile Abwandlung des liturgischen36 Choraltextes, der mit seinem textlichen Spiel im Umsetzen von ego in tu eine Verspottung bewirken will, was aber gerade ins Gegenteil, nämlich als Bestätigung des göttlichen Wesens Jesu ausgelegt werden kann. Die Formulierung der ‘gelehrten’ Verspottung mag denn auch in der Momenthaftigkeit einer theatralen Aufführung kaum breitenwirksam erfassbar sein, dagegen durchaus auf mehr individuellem Niveau eines Textverfassens oder im gelesenen Vollzug, der ja Wiederholung oder Verzögerung ermöglicht, eine Verzögerung, die hier noch einmal durch Notierung des Textes unterstützt würde, womit der ‘Witz’ dieses zweiten Judengesangs fernab des Gassenhauerniveaus der bramarbasierenden früheren Liedchen läge. Eine Rückführung zur Handlung durch Ruhe heischende Maßnahmen findet sich an dieser Stelle im Text denn auch nicht: sie erübrigt sich. Dem Erlöser zujubelnd ist der folgende Gesang der schuoller, der beim Einzug in Jerusalem angesetzt wird. Dieser Einzug ist fast ganz in der Bühnenanweisung untergebracht. Begleitet wird er vom Gesang der schuoller, die einen Gesang aus der Palmsonntagsprozession singen: Hic est qui venturus est in salutem . . . (V. 1571).37 Der voll ausgeschriebene Text ist mit Musiknoten versehen und es gibt keine Anzeichen, dass vom religiösen Text abgewichen worden wäre. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass im nachfolgenden Spruch des Nicodemus ebenfalls die Ankunft des Gottessohnes bejubelt wird. Der letzte Gesang der iuden schuoll findet sich ganz am Ende des ersten Spieltages. Der vorangehende Handlungsabschnitt umfasst das Auszahlen des Verräterlohns an Judas und einen kurzen Spruch des proclamators, der den nächsten Spieltag ankündigt, der dort fortfahre, wo man heute aufgehört habe. Während alle sich in der ordnung (V. 1728b-c) zur Kapelle begeben sollten, tönt der Gesang der iuden schuoll. Es ist schwer einzuschätzen, welcherart Gesang das hätte sein können. Die Diskrepanz zwischen den gegensätzlichen Welten, die sich in der Heilsgeschichte gegenüber stehen, zeigt sich an diesem ersten Spieltag namentlich in den Gesängen. Sie scheinen die Signale des Aufeinanderprallens dieser Welten zu sein. Dabei bekommt der Kontrast durch die musikalischen Einlagen auf verschiedenen Rezeptionsebenen eine jeweils eigene Tiefenschärfe. Auf der Aufführungsebene fungieren sie das eine Mal als Gotteslob, das andere Mal durch die parodistische Ver-

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schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. v. Clemens M. Kasper u. Klaus Schreiner, Münster 1997 (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter 5), S. 135–155. Ochsenbein geht auf die Entwicklung des privaten Betens ein und verweist hier (S. 138) auf den Pseudo-Alkuinische Traktat ›De psalmorum usu‹ (9. Jh.), in dem dieses private Beten der Mönche mit dem Begriff cantare sub silentio belegt sei. Vgl. auch Cornelia Herberichs, Lektüren [Anm. 23], insbesondere der Abschnitt ‘Gelesene Musik’, S. 176–178. Diese Antiphon wurde in der klösterlichen Prozession an den Sonntagen nach Ostern gesungen. Vgl. Ernst August Schuler, Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele und Passionen des Mittelalters, Kassel/Basel 1951, hier S. 191, Nr. 181. Ebd., S. 153, Nr. 71, gibt an, dass dieser Gesang der Palmsonntagsprozession zuzuordnen sei.

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kehrung als Seitenhieb auf die Gottesverächter. Im Falle eines gelesenen Vollzugs ergibt sich der Kontrast durch die Wahrnehmung, ob und an welcher Stelle Musiknoten schriftlich umgesetzt wurden: die kirchlichen Gesangspartien sind notiert, die Judengesänge nicht, was auf eine bewusst akzentuierte Wertschätzung hinweisen kann. Textliche Feinheiten wie die Verballhornung oder Umkehrung lateinischer Wörter bedienen hier einen geschulten Benutzerkreis. Im Verlauf des zweiten Spieltages gibt es keinen weiteren Gesang dieses Chores. Zwar eröffnet der Silete-Gesang den Spieltag, doch dann gibt es erst wieder ausgewiesene Gesangspartien im Abschnitt mit dem Osterspiel. Inhaltlich setzt der Text dieses anderen Tages mit den Vorbereitungen für das Letzte Abendmahl ein. Seine ‘komische’ Kraft schöpft dieser eigentliche Passionsteil namentlich aus dem Hereinholen des Alltäglichen, wie die Frage Petri, ob der Herr nicht das oster lämly mit den lieben iüngern din essen wolle (V. 1742f.). Ganz extrem kommt Malchus’ Beschimpfung der weinenden frommen Frauen daher, während sie den kreuztragenden Jesus begleiten: lieber bachend im kräpfli dar zuo / da mit man im nit zewe tuo (V. 3207f.). Ohnehin setzen die unterschiedlichen Sprachebenen der Protagonisten diese sehr drastisch gegeneinander ab: auf der einen Seite die Sprache der christicolae, gehoben und aus dem Kontext von Heilsschrifttum, Liturgie und Bibel und auf der anderen Seite die der Gegner Christi mit ihrem mitunter derbbrutalen Gossenniveau.38 Sollte dieses Aufeinanderprallen von Welten zu einem Lachen führen, dann würde es wohl am ehesten von der unangemessenen Reaktion der Henkersknechte hervorgerufen werden und so zu einer größeren Kohärenz der Gruppe der christicolae führen. Für Kurzweil mögen Spezialeffekte wie der flatternde schwarze Vogel, der bei der Verräterbezeichnung des Judas versinnbildlichen soll, dass der Teufel in ihn fährt (ietz sol iudas ein swartzen vogel by / den füssen in daz mull nehmen das es / flocke V. 1864a-c), oder die Theatermaschinerie bei seinem Selbstmord (V. 2429a–2527b) gesorgt haben. Dass die publikumswirksame Repräsentation dieser Judaskommunion in einer langen bildkünstlerischen Tradition steht,39 mag wiederum nur einer ganz kleinen Gruppe von eingeweihten Rezipienten bekannt gewesen sein. Ebenso die Parodie auf Psalm 24,7 (23,7): ‘Machet auf ihr Fürsten der Höllen Tor, der König der Ehren steht davor’. Der Psalm wird zur Kirchweih und in der Palmsonntagsprozession gesungen.40 Auch im Donaueschinger Spiel, V. 3908ff. ist der Psalmtext, und zwar als Teil der Höllenfahrt Christi, aufgezeichnet, bezeichnenderweise hier mit Noten versehen und zunächst auf Lateinisch, danach paraphrasierend in der Volkssprache: Ir fürsten der helle tuond vff 38

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Christel Meier weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um symbolische Kommunikation handelt. Vgl. Christel Meier, Prügel und Performanz. Ästhetik und Funktion der Gewalt im Theater des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. v. Gerd Althoff, unter Mitarbeit v. Christiane Witthöft, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496: 3), S. 327–362, hier S. 361. Vgl. ›Donaueschinger Passionsspiel‹ [Anm. 17], Einleitung, S. 34–42. Ebd., Anmerkung zu V. 3908 [irrtümlicherweise in der Ausgabe mit ‘3808’ bezeichnet].

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die tor / der küng der eren ist dar vor (V. 3911f.). Allerdings begegnet man dem Psalm, mit leichter textlicher Abweichung und ohne Noten schon früher, und zwar bei Judas’ Höllenfahrt. Nach der spektakulären Inszenierung von dessen Selbstmord gelangt Judas mit seinem teuflischen Begleiter Fäder wusch zur Hölle. Hier fordert Letzterer Einlass: Ir tüffel tün vff der helle tor / gottes verräter iudas ist dar vor (V. 2506f.). Das kontrafaktische Sprachspiel mag auch breitere Resonanz erfahren haben, denn der Psalmtext ist wohl als bekannt vorauszusetzen. Auf der Textebene ist die Diskrepanz zwischen beiden Welten somit abermals schärfer gestaltet, was der Stelle einen gewissen Witz beimessen dürfte. Doch rief dieser auch ein Lachen hervor? Dem Wortspiel haftet nichts Närrisches an, sondern es markiert vielmehr das Zeichen der christicolae, die wissen, was vorgeht: allgegenwärtig ist der höllische Versucher, der sich der Sprache des Erlösers bedient, aber in seiner Unzulänglichkeit bedient er sich ihrer freilich nicht ganz korrekt. Für den Aufmerksamen ist er also zu erkennen und dadurch auch abzuwehren. III. Die Beobachtungen am Text des ›Donaueschinger Passionsspiels‹ zeigen, dass nur an ganz bestimmten Stellen eine gewisse, heute befremdliche Komik in den Text eingeschrieben ist. Die Gesangspartien41 zeigten sich am ehesten dazu prädestiniert, belustigende Momente zu sein, weil sie wie ein roter Faden immer wieder Signale setzen. Zum einen durch ihren Inhalt, zum anderen durch die notierte Aufzeichnung, die sich vom übrigen Text abhebt. Ihnen wohnt sowohl auf der gelesenen als auch auf der szenisch umgesetzten Ebene ein großes Potential inne. In der Eröffnung des Spiels mit der schäkernden Maria Magdalena und den um sie buhlenden Soldaten Pilati wird eine Komik durch das Aufeinanderprallen der vergnügungsgefälligen Geisteshaltung versus der weltabgewandten des religiösen Lebenswandels hervorgerufen. Der Abschnitt ist durchaus Teil der Passion, denn der dahinter liegende Evangelienabschnitt nach Lk 7,36 wird als Perikope am Donnerstag vor Palmsonntag verlesen.42 Im Hinblick auf die ausgiebig und genussvoll ausgearbeitete Wiedergabe von Magdalenas Weltleben wäre vielleicht noch zu bedenken, dass es vom hier untersuchten Spieltext 41

42

Als solche sind nur jene Textstellen berücksichtigt, die nach der vorangehenden Bühnenanweisung gesungen zu denken wären. Textstellen, die zwar auch in einem Gesangskontext vorkommen, aber im ›Donaueschinger Passionsspiel‹ nicht ausdrücklich als gesungen angewiesen sind, wurden außer Acht gelassen. Georg Dinges, Untersuchungen zum ›Donaueschinger Passionsspiel‹, Breslau 1910 (Germanistische Abhandlungen 35), S. 95. Dinges stellt fest, dass die Handlungsfolge des Passionsteils getragen wird von den Evangelienperikopen der Fastenzeit (S. 95). Allerdings wird Lk 7,36 wohl auch in der Quatemberwoche des Septembers gelesen. In dieser Bußwoche wird am sechsten Wochentag (Feria 6. Q. T. Septemb., am Freitag also, denn der Sonntag ist sowohl erster als letzter Wochentag) ebenfalls die Geschichte der Bekehrung der bußfertigen Sünderin verlesen. Siehe Stephan Beissel S. J., Entstehung der Perikopen des Römischen Messbuches. Zur Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte des Mittelalters, Freiburg i. Br. 1907 (Ergänzungsheft zu den ‘Stimmen aus Maria Laach’ 96), S. 205 [605].

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keine Aufführungsbelege gibt, dass also der Text gänzlich losgelöst von der Passionszeit, von der Fastenzeit rezipiert werden konnte, womöglich an einem Festtag, oder im Falle eines gelesenen Vollzugs sogar iterativ. Komik im geistlichen Spiel ist offenbar durch den kirchlich institutionalisierten Rahmen der Heilsgeschichte formalisiert: Alle Teilhabenden am Textgeschehen sind derselben Christengemeinschaft zugehörig. Es stoßen dort keine unterschiedlichen Wirklichkeitsbegriffe aufeinander, die durch ihre gegenseitige Unverständlichkeit ein Lachen hervorrufen würden. Denn die dort vorgelegte Wirklichkeit ist die allen Gruppierungen bekannte, aber unfassbare Geschichte von Jesus als Erlöser der Menschheit. Was man auf der stofflichen Ebene sieht, ist die Freude am Quälen versus das Leid des Gequälten, den Schergenalltag versus das Leiden des Gottessohnes, die Verstocktheit der Ungläubigen versus die Heilsgewissheit der Gläubigen. Dabei ist das letztgenannte Gegensatzpaar für das Verständnis eines heutigen Lesers, der im Umgang mit der Passionsgeschichte durch post-reformatorische, post-aufklärerische, post-bürgerliche, post-moderne Konzepte geprägt ist, noch am ehesten nachvollziehbar, weil es sich durch sein Verfahren der Gruppenbildung durch In- und Exklusion um gewusste Entitäten handelt. Die Ausführlichkeit der Bühnenanweisungen, die eine szenisch umgesetzte Realistik suggeriert, scheint dazu angetan, in der Schnittmenge von realisierter Aufführung, schriftgebundener Lektüre und auf Evidenz bedachten Heilsbelehrung Fehlleitungen auf der Verständnisebene vorzubeugen und so vor ungewollter Komik zu schützen.43 Die ausdrücklichste Ebene eines szenischen Vollzugs findet sich vor allem in Zeitangaben wie: eins pater nosters lang (V. 2007g) soll Jesus betend daniederliegen. Oder in back stage-Bemerkungen wie den Einzelheiten zu bestimmten Bühnentechniken etwa zu Judas’ Selbstmord: hie soll iudas böum oder ein leiter / zuo gerüst sin vnd ein seil dar / von bitz in die hell gespannen / mit schiben wol versorgt (2437a-d), die bezeugt, dass die Spielleitung auf einen unfallfreien Ablauf des Spiels bedacht war. Im Bereich der Lektüre sind die Bühnenanweisen in vielen Fällen schlichtweg die episierenden Zwischenpartien, die die einzelnen Sprüche in eine sinnvolle Verbindung zueinander bringen, auch wenn sie nicht nach der Gepflogenheit des episierenden Erzählens im Präteritum gehalten sind, sondern dem Duktus eines dramatisierten Textes entsprechend im Präsentischen. Obige Judas-Anweisung beispielsweise fährt nach der bühnentechnischen Angabe damit fort, dass Judas erschrickt, als er von Urias hört, dass die Kaufsumme, um die er Jesus verraten hat, nicht zurückgezahlt werden kann. Der Teufel geht ihm, Judas am Strick ziehend, vor und zieht ihn auf die Leiter. Von dieser ‘erhabenen’ Position aus setzt Judas zu seinem langen Klagemonolog an. Die Bühnenanweisung hat hier durchaus die Qualität eines erklärenden Zwischentextes, auch wenn dieser von einem hohen Maß an performativer Bildhaftigkeit gekennzeichnet ist. Ein Schutz vor Fehlleitungen sowohl auf der gelesenen wie auf der Ebene des szenischen Vollzugs bietet vor allem die Anordnung der gesamten Handlung. Die Vaterunser-Parodie leitet über zur Handlung der sündigen Maria Magdalena, die sehr 43

Siehe auch Wolf [Anm. 18], S. 391.

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reich an Gestik und Artikulation ist. Dieser Abschnitt führt organisch zu der zur Andacht anhaltenden Bekehrung der Sünderin über, in der gebräuchlichen Visualisierung, die auf Grund ihrer Bekanntheit auch im gelesenen Vollzug ihre Wirkung zeigen kann. Diese mehrdimensionalen Perspektiven lassen den Text Anschluss bei später bezeugten Praktiken einer mehrfachen Verwendung von Spieltexten finden. So besagt der Zürcher Jacob Rueff in seinem Passionsspiel von 1545 ausdrücklich, es sei auch für den gelesenen Vollzug gedacht.44 Oder Georg Rollenhagen etwa nennt als Grund für den Druck seiner Bearbeitung des Tobias-Spiels (1576), dass er einerseits für den Schulgebrauch viele Exemplare benötige, dass er das Spiel anderseits aber auch fuer sehr nuetz vnd not achte, das nicht allein junge gesellen vnd jungfrawen, sondern auch die Eheleute offtmals die historiam Tobiae aus der Bibel oder in reim gefasset, die mancher mit mehr lust zu lesen vnd zubehalten pfleget, vffs fleisigste ansehen und betrachten [. . .].45 Das ›Donaueschinger Passionsspiel‹ hat, wie sich zeigen ließ, durchaus das Potential einer solchen Mehrfachfunktion. IV. Das angedichtete Närrische, das man als Echo in einigen Fastnachtspielen oder sich Chronik oder ähnlich nennenden Texten antrifft, kann sich also auf Grund seiner wohl überlegten Hinlenkung auf inszeniertes Lachen im Grunde kaum auf den Donaueschinger Spieltext beziehen. Trugen doch eventuell zur Belustigung führende Abschnitte auf der Textebene letztendlich immer zur Providenzsicherung bei.46 Der Spieltext selbst zeigte bewusst eingesetzte Strategien der Rückführung ins Erbauliche. Das bedeutet, dass das Überschreiten von normgerechter Komik, also einer für Zeit und Gelegenheit passenden Komik, wie es in den zwei Fastnachtspieltexten angeprangert oder in ‘Chronikberichten’ für die Nachwelt festgehalten wird, zumindest für das Donaueschinger Spiel nicht zu gelten scheint. Wenn man das generalisierend auch auf andere Passionsspiele übertragen darf, dann hieße das, dass die Warnung in den 44

45

46

Das Züricher Passionsspiel: Jacob Rueff: Das lyden vnsers Herren Jesu Christi das man nempt den Passion. 1545, hg. v. Barbara Thoran, Bochum 1984, hier S. 5. Rueff habe in seiner Vorrede an den Konstanzer Freund Ambrosius Blarer mitgeteilt, seine Passion sei als Lese- und Lehrbuch für seine Schüler gedacht. Es wird hier zwar nichts über eine szenische Umsetzung gesagt, doch die Tatsache, es sei in der Folge mehrfach als Quelle für Aufführungstexte gebraucht worden, belegt die Qualität als aufführungsgeeigneten Text. Georg Rollenhagens Spiel von Tobias: 1576, hg. v. Johannes Bolte, Halle 1930 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts), S. 5. Georg Rollenhagen war Rektor des Magdeburger Gymnasiums, das seinerzeit mit 1600 Schülern die größte Schule Deutschlands war. Vgl. auch Wolfram Washof, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496: 14). Wobei natürlich zu bemerken ist, dass es auf der Ebene der szenischen Realisierung immer zu Inkongruenzen und kontingenten Momenten kommen kann, die nicht kalkulierbar und sui generis nicht vorhersagbar sind.

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Fastnachtspielen sich anders begründen müsste. Es spricht einiges dafür, die Bezugnahme auf seinen Gegenpol als literarisiertes Instrument seiner Daseinsberechtigung zu verstehen. Mit dem Benennen des zeitlichen Rahmens verankert sich das Fastnachtspiel selbst im Jahresablauf und stellt sich so seine eigene Regelhaftigkeit aus. Gemeinsam wäre hier den beiden Gattungen, dass sie beide offenbar mit dem Komischen operieren, aber dass sie zugleich beide das Komische regulieren, und zwar über den Weg dieser zeitlichen Eingrenzung. Ebenfalls konstituierend wird das Passionsspiel instrumentalisiert in der Gattung ‘anekdotenhafte Chronik’. Dorothea Freise stellte bei ihrer Auswertung der Stellungnahmen zu geistlichen Spielen schon fest, dass sie in einer literarischen Tradition stünden.47 Es scheint fast, als würden all jene Zeugnisse, die von furchtbaren bis hin zu kriminellen Un- und Überfällen zu berichten wissen, sogar auch den Rahmen der Polemik überschreiten und Zeugen einer eigenen Gattung geworden zu sein: Nach den Regeln des Schwanks werden Anekdoten für einen ganz bestimmten Abnehmerkreis verfasst. Die Anekdoten handeln von so genannten Unfällen, die in der Realität schieres Entsetzen hervorrufen würden. Die Art des Protokollierens des so genannten Unfallhergangs mit dem Personal und der Struktur des Schwanks bestätigt den schon von Freise festgestellten rein literarischen Charakter dieser »Zeugnisse von Performanzexzessen«.48 Gewiss ist das Gewaltpotential in den Marterszenen extrem: »Er wird gebunden, zu Boden geworfen, geschlagen, verprügelt, gestoßen, fortgezogen, ins Gesicht und auf den Kopf geschlagen, an den Haaren und dem Bart gezogen, angespuckt, mit den Füßen getreten. Man droht, ihm den Kopf umzudrehen, auf den Mund zu schlagen, die Seiten zu spannen, ihn zu verprügeln, ihm den Bart auszureißen, die Federn herauszurupfen. Er wird geohrfeigt, verspottet, beschimpft, angeschrien, sein Stuhl wird ihm weggezogen, die Augen verbunden, das Haar ausgezogen. Man dreht ihm den Kopf um, er wird gegeißelt und mit Dornen gekrönt, wobei man ihm die Dornenkrone mit Stangen in den Kopf drückt.«49 Einige dieser Gewalthandlungen kennt man auch aus dem Fastnachtkontext, andere sind wiederum ausschließlich heilsgeschichtlich konnotiert. In den Bühnenanweisungen und den Sprechtexten des Donaueschinger Spieltextes scheine die »perverse Lust der Bösen an der Grausamkeit und am Schmerz des Gequälten« auf, so Christel Meier in ihrem Beitrag ‘Prügel und Performanz’.50 Dieses Perverse mag vielleicht bei den christicolae ein Lachen aus Abscheu hervorgerufen haben und so zu einem Gemeinsamkeit stiftenden Moment der memoria geworden sein.51 Aber man darf sich fragen, ob diese textliche 47 48

49 50 51

Freise [Anm. 10]. Die »Performanzexzesse«, die aus den Chroniken sprechen, seien wohl eher als »Präsenzphantasmen« zu werten, so Kiening, Präsenz [Anm. 23], S. 167. ›Donaueschinger Passionsspiel‹ [Anm. 17], S. 288f., Anm. zu V. 2142a–2925. Meier [Anm. 38]. Jody Enders, Emotion Memory and the Medieval Performance of Violence, Theatre Survey 38 (1997), S. 139–160 findet, dass die Grausamkeiten in mittelalterlichen Spielen als ein »mnemotechnic Lexicon« (S. 140) zu verstehen seien. Das religiöse Spiel gewinne seine Stärke in dieser Hinsicht erst durch seine Gewalt.

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Gewalt überhaupt nachgespielt wurde, ja, werden konnte.52 Es brauchte schon einen äußerst durchtrainierten Schauspieler, der all das mit sich machen lassen konnte, ohne lebensgefährliche Verletzungen davon zu tragen.53 Mit diesem Moment des Unmöglichen spielen die Chronikberichte. Man wird auf Grund dieser Bedenken auch im Donaueschinger Spiel an die Möglichkeit einer symbolischen Kommunikation denken dürfen. Die textlich ausformulierte Gewalt weist auf die nicht nachvollziehbaren Leiden hin, die kein Mensch, die nur Gott ertragen kann. Das Göttliche verbirgt sich sozusagen hinter dem Schleier der Gewalt, oder, um mit Gregorius zu sprechen: durch Sichtbares wird Unsichtbares vor Augen geführt.54 Insofern versündigte sich ein Mensch, ein Schauspieler, schlichtweg an Hochmut, wenn er versuchen würde, dieselben Leiden, die Jesus zu erdulden gehabt hatte, der Abbildung wegen ebenfalls zu ertragen. Er beginge die Ursünde schlechthin, wie die Luzifers, als er sich zu Beginn der Schöpfung für gottgleich hielt. Die bildhaft ausmalende Rede von der unerträglichen Gewalt, die dem Mensch gewordenen Gottessohn Jesus angetan wurde, um die Menschheit aus dem Bann der Erbsünde zu erlösen, dürfte im Falle einer szenischen Realisierung von daher nicht in einer Eins-zu-eins-Umsetzung zu verstehen sein.55 Unter diesen Voraussetzungen verringert sich das Maß an kontingentem Potential erheblich und dadurch auch das Potential an – ungewollter – Komik. Nur mittelbar trägt also der Passionsteil aus dem Spiel zu einer Belustigung bei, nämlich im Eingehen in den anekdotischen Chronikbericht. 52

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Vgl. hierzu den Beitrag zur Diskussion von Jutta Eming, Gewalt im Geistlichen Spiel. Das Donaueschinger und das Frankfurter Passionsspiel, The German Quarterly 78 (2005), S. 1–22. Eming stellt fest, dass die Gewalt »weniger dargestellt als imaginiert werden sollte«, dass es sich um »den Ersatz von Handlung durch Sprache und Imagination und damit um eine avancierte Kulturtechnik« handle, was sich nicht mit einer Annahme in Übereinstimmung bringen ließe, dass sich Gewalt triebhaft entlade (S. 17). Jelle Koopmans kommt für die französische Farce zu einem ähnlichen Schluss, wenn er feststellt, dass die dort textlich ausgekosteten Grausamkeiten im Falle einer performativen Realisierung schlichtweg tödlich seien. Vgl. Jelle Koopmans, Die französische Farce als Theater der Grausamkeit (1450–1550), in: Gewalt im Mittelalter [Anm. 4], S. 411–423. Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, Paderborn 2001, S. 12f. Einleitend setzt Krüger sich mit Bildverständnis im Hinblick auf die Darstellung des Numinosen auseinander. Eine große Rolle spiele dabei Verschleierung, auch im nicht-eigentlichen Sinn, denn nach den Stimmen verschiedener Kirchenväter sei das Göttliche nur als Widerschein, als Schattenbild zu erfassen, nie aber als Abbild. Im Medium Film trifft man ebenfalls auf das Problem zwischen effektstarker action und heilstheologischem Sinn. Man vergleiche Mel Gibsons ›The Passion of Christ‹ (2004) mit Pasolinis ›Matthäusevangelium‹ (1964). Gibson präsentierte einen realistisch geschundenen Christuskörper, was zu einer öffentlichen Diskussion geführt hat, ob der Film nicht lediglich eine kunstvolle Maskenbildung demonstriere, die Entsetzen darüber hervorrufe, wie furchtbar so ein malträtierter Körper aussieht. Die Botschaft, dass Gottes Sohn zur Sühne der Erbsünde gestorben sei, werde aber dadurch in den Hintergrund gedrängt und wirke weitaus weniger als beim sehr ästhetischen Gekreuzigten in Pier Paolo Pasolinis Film, der am Kreuz hängend nur die Dornenkrone und ein einziges Blutrinnsal als Spuren der vorangegangen Folter trägt (Pier Paolo Pasolini, ›Il vangelo secondo Matteo‹, 1964).

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Das Komische, das sich im Passionsteil des ›Donaueschinger Passionsspiels‹ ausmachen ließ, ist nicht so sehr als Verspottung des überwundenen Bösen charakterisiert, sondern eher handelt es sich um ‘Marker’ des »Spannungsverhältnisses zwischen dem Göttlich-Erhabenen und dem Menschlich-Profanen«.56 In den seltensten Fällen kam die Komik durch ungewollte Inkongruenz zu Stande, was zeigt, dass es sich hier um eine Begrifflichkeit handelt, die nicht geeignet ist, die »magische Essenz des Komischen« dieser Gattung adäquat zu erfassen. Es ist bemerkenswert, dass die Komik im Donaueschinger Spieltext bei genauer Betrachtung durchaus subtil zu sein scheint. Sie wird von einem Witz getragen, der nicht zum närrischen Lachen zu führen scheint. Es ist die Umkehrung des Erhabenen, das zu einem Vergnügen darüber führt, dass man auf der Seite der Gewinner steht. Die Einsicht in das Parodistische erfolgt je nach Art und Weise des Vollzugs unterschiedlich, bald wird sie von den breiten Massen gewonnen, bald nur von den Kennern. Es wäre daher zu differenzieren, sogar bei der Rezeption des ‘Gassenhauers’ Pater noster byrenbitz. Die plakative Verballhornung des Gebets erfasste wohl jeder, aber war auch jeder sich der Verkehrungen der lateinischen Einlagen bewusst? Bekamen, im Falle des inszenierten Fehlschlagens einer Verspottung wie im Antiphon tu clavis David auch die breiten Massen diese Pointe mit? Es sieht fast so aus, als wäre in dem Donaueschinger Spieltext die Komik nicht nur Gemeinschaft stiftend, sondern als hätte sie in dieser ‘Feindifferenzierung’ auch eine partikularisierende Funktion. Sind doch manche Bereiche des Komischen nur wahrnehmbar für jene, die als Privilegierte dazu in der Lage sind. Im Hinblick auf die diversen rezeptionsspezifischen Lesarten erscheint der Spieltext mit seinen Spielarten des Komischen denn auch als Zeuge der sich anbahnenden Neuzeit, in der einzelne Individuen und Kleingruppen einer städtischen Gemeinschaft sich immer stärker darum bemühen, sich als in-group von anderen abzusetzen. Die Momente einer sozialen Praxis des Komischen, die durch die Analyse des ›Donaueschinger Passionsspiels‹ aufleuchten, kennzeichnen sich für diesen Text somit durch eine fein austarierte innere Differenzierung einer im Rahmen der Heilsgeschichte inszenierten Komik, die ein in den Rahmen der Heilsgewissheit zu platzierendes inszeniertes Lachen hervorruft.

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Ridder [Anm. 15], S. 196.

EDITION UND KOMMENTAR

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

Überlieferung, Edition, Interpretation Zur Neuausgabe der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts

In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein steigendes literaturwissenschaftliches und literarhistorisches Interesse an Fastnachtspielen beobachten. Es sieht sich bekanntlich einer Editionslage gegenübergestellt, die mit der Erschließung des Texttyps nicht Schritt gehalten hat. Textbasis für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem überwiegenden Teil der Spiele ist nach wie vor die bislang einzige Gesamtausgabe der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, die Adelbert von Keller in den Jahren 1853–1858 herausgegeben hat.1 Unter der Leitung von Klaus Ridder und Martin Przybilski wird an den Universitäten Tübingen und Trier im Rahmen des DFG-Projekts ‘Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele’ seit Februar 2005 an einer kommentierten Neuausgabe der Stücke gearbeitet. Ziel des Projekts ist die vollständige Neuedition und Kommentierung der Nürnberger Fastnachtspiele, d. h. der sog. ‘Rosenplütschen Fastnachtspiele’ (54 Spiele), der Fastnachtspiele des Hans Folz (12 Spiele) und der anonym überlieferten vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele (45 Spiele). Die Neuedition versucht einerseits, den Unzulänglichkeiten der Kellerschen Ausgabe Abhilfe zu schaffen, andererseits strebt sie in Kommentarform eine Erschließung der Texte nach unterschiedlichen Parametern – sprachlichen, literarhistorischen, kulturgeschichtlichen – an.2 Unser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Anlage der Neuausgabe, die Überlieferungslage und die Kommentierungstechnik. Daran anschließend werden anhand ausgewählter Beispiele Probleme der Textherstellung sowie Möglichkeiten und Grenzen bei den Verfahrensweisen der Kommentierung diskutiert. 1

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Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966; im Folgenden zitiert als ‘K’. Eine moderne Ausgabe liegt bislang für die Sterzinger Fastnachtspiele vor: Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften (1510–1535) von Vigil Raber und nach der Ausg. Oswald Zingerles (1886), hg. v. Werner M. Bauer, Wien 1982 (Wiener Neudrucke 6). Allgemein zu Erfordernissen und Möglichkeiten einer modernen Spiel-Edition siehe den Überblick bei Hansjürgen Linke, Die Gratwanderung des Spieleditors, in: Rolf Bergmann u. Kurt Gärtner (Hgg.), Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung, 26.–29. Juni 1991, Plenumsreferate, Tübingen 1993 (Beihefte zu Editio 4), S. 137–155. Zur Begründung der Neuedition der Nürnberger Fastnachtspiele siehe eine erste Skizze des Projekts bei Klaus Ridder, Martin Przybilski u. Martina Schuler: Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, in: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, hg. v. Martin J. Schubert, Tübingen 2005, S. 237–256.

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Rebekka Nöcker und Martina Schuler

1. Anlage und Prinzipien der Neuedition Mediävistische Editionen der letzten ca. 30 Jahre3 sind dem Prinzip einer möglichst vorurteilsfreien Einbeziehung aller Textzeugen verpflichtet. In diesem Moment lässt sich ein charakteristisches Merkmal des Textbegriffs sehen, der modernen Ausgaben mittelalterlicher Texte zugrunde liegt. Nach den editionstheoretischen Diskussionen der New Philology4 um die Absage an den Autortext, um den originären Stellenwert eines jeden individuellen Textträgers, wie er seinerzeit entstanden und auf uns gekommen ist, und um die Gleichwertigkeit aller Textzeugen haben sich zwei editorische Verfahren durchgesetzt: nämlich zum einen dasjenige des Leithandschriftenprinzips, das die bis in die 1960er Jahre in Lachmannscher Tradition stehenden rekonstruktionsbestrebten Editionen abgelöst hat5 und darüber hinaus bei einer überlieferungsgeschichtlichen Editionsmethode ggf. auch das textgeschichtlich Bedeutende aufzeigen kann,6 zum anderen das Verfahren der synoptischen Wiedergabe von Zeugen, die Doppel- oder Mehrfachfassungen eines Werkes repräsentieren. Der Umgang mit Textvarianten kann dabei zu extremen Positionen führen: Der Text einer sorgfältig ausgewählten Leithandschrift gilt als der ‘beste’ Text, die weitere Überlieferung als ‘sekundär’ und erscheint in Form von ‘Lesarten’ nur im textkritischen Apparat. Das andere Extrem zeigt sich in einem synoptischen Abdruck aller Textzeugen, mit dem der Herausgeber nurmehr Textverhältnisse dokumentiert und, indem er die textgeschichtliche Deutung ganz dem Benutzer der Edition überlässt, le3

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Einen Überblick über die Methodengeschichte der altgermanistischen Editionsphilologie bietet z. B. Hans Fromm, Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte, in: Robert Harsch-Niemeyer (Hg.), Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages, Tübingen 1995, S. 63–90, sowie die Einführung von Thomas Bein zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Altgermanistische Editionswissenschaft, Frankfurt a. M. 1995 (Dokumentation Germanistischer Forschung 1), S. 11–34. Zur New Philology unter philologisch-pragmatischen Gesichtspunkten siehe vor allem Karl Stackmann, Neue Philologie?, in: ders., Philologie und Lexikographie. Kleine Schriften II, hg. v. Jens Haustein, Göttingen 1998, S. 20–41, sowie unter wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive Peter Strohschneider: Innovative Philologie?, in: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags, hg. v. Hartmut Kugler, Bd. 2, Bielefeld 2002, S. 901– 924. Lesarten werden nun insofern nachgewiesen, als sie textkritische Aspekte veranschaulichen, und nicht, um einen ‘Archetypus’ zu legitimieren. In diesem Zusammenhang ist aber auch darauf hingewiesen worden, dass das Leithandschriftenprinzip kein »Allheilmittel« ist und »öfter nur [. . .] als die günstigste unter mehreren, ebenfalls nicht zulänglichen Alternativen [erscheint]« (Fromm [Anm. 3], S. 79). Daneben »behalten die alten klassischen Editionsverfahren ihren Rang, und mit ihnen wird weiter gearbeitet« (ebd., S. 81). Vgl. Georg Steer, Textgeschichtliche Edition, in: Kurt Ruh (Hg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Redaktion Hans-Jürgen Stahl, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 37–52; wieder in: Bein, Editionswissenschaft [Anm. 3], S. 281–297. – Die im Rahmen der Würzburger Schule entwickelte beschreibende Auswertung textgenetischer Aspekte wird für die Fastnachtspiele aus Gründen ihrer spezifischen Überlieferung (dazu s. u.) nicht angestrebt.

Überlieferung, Edition, Interpretation

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diglich als »Transliterator« fungiert, nicht aber als Editor, der seine sorgfältig abgewogenen Entscheidungen, die immer auch Rezeptionslenkung implizieren, transparenthält.7 Trotz aller Diskrepanz zwischen theoretischer Reflexion und den Möglichkeiten bzw. Erfordernissen der praktischen Umsetzung, die sich letztlich am individuellen Fall nach Art der Handschriften- und Druckverhältnisse, nach Textsorte, Forschungslage, Erkenntnisinteresse, Editionsziel, Benutzerkreis, nicht zuletzt auch nach einer ggf. intensiven autor-, werk- oder gattungsgebundenen Editionsgeschichte8 richten muss, lässt sich gerade im Hinblick auf Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit für die jüngere und jüngste Entwicklung der Editionspraxis insgesamt feststellen, dass »grundsätzlich das Bemühen erkennbar ist, die Differenz zwischen ediertem Text und zugrunde liegender Quelle (hier Handschrift bzw. (Früh)Druck) möglichst klein zu halten«.9 Vor dem skizzierten Hintergrund moderner Editionsmethodik ist nun die neu in Angriff genommene Edition der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts zu beschreiben. Die Überlieferungslage stellt sich folgendermaßen dar (Tabelle 1 u. 2): 111 Stücke sind in 14 Handschriften und 11 Frühdrucken erhalten. Die Handschriften stammen alle aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; die älteste Handschrift (München, BSB, Cgm 714, Sigle M) ist um die Jahrhundertmitte vermutlich in Nürnberg entstanden, die jüngste (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 18.12. Aug. 4o, Sigle G) vor 1494, im Wesentlichen ebenfalls in Nürnberg. Die beiden ältesten Drucke (l/1 und l/2) stammen aus dem Jahr 1485, der jüngste Druck (h) datiert aus dem 16. Jahrhundert. Die für die Edition maßgeblichen Handschriften M, D (Dresden, SLUB, Mscr. Dresd. M. 50), E (Dresden, SLUB, Mscr. Dresd. M. 183), G, N (München, BSB, Cgm 439) und X (Weimar, HAAB, Hs. Q 566) sind, ebenso wie die Drucke (mit einer Ausnahme: x) vermutlich allesamt in Nürnberg entstanden. Die Textzeugen M, D, E und G gehören dem Typus der autor- oder gattungszentrierten Sammelhandschrift an; die Parallelüberlieferung ist nicht selten auch in Einzelheften erhalten.10 7

8 9

10

Vgl. Thomas Bein, Textvarianz, Editionspraxis, Interpretation. Überlegungen zur veränderten Mittelalterphilologie, in: Bodo Plachta u. H. T. M. van Vliet (Hgg.), Perspectives of Scholarly Editing. Perspektiven der Textedition, Berlin 2002, S. 63–80, hier S. 69. Vgl. Fromm [Anm. 3], S. 72. Thomas Bein, Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann u. Stefan Sonderegger (Hgg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., 1. Teilband, Berlin/New York 1998 (HSK 2.1), S. 923–931, hier S. 929. Zur Überlieferung der Nürnberger Fastnachtspiele siehe Thomas Habel, Überlieferung, Edition, Interpretation. Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Stephan Füssel, Gert Hübner u. Joachim Knape (Hgg.), Artibvs. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit (FS Dieter Wuttke), Wiesbaden 1994, S. 103–134; Eckehard Simon, Manuscript Production in Medieval Theatre. The German Carnival Plays, in: Derek Pearsall (Hg.), New Directions in later medieval Manuscript studies, Oxford 2000, S. 143–165. Zu den Überlieferungstypen mittelalterlicher Spiele siehe Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Volker Honemann u. Nigel Palmer (Hgg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 527–589.

366

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

Handschriften

Anzahl der Spiele – Autorzuweisung

Art der Handschrift

M München, BSB, Cgm 714; 1455–1458 D Dresden, SLUB, Mscr. Dresd. M. 50; 1460–1462 E Dresden, SLUB, Mscr. Dresd. M. 183; 1468 oder später K Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 76.3. Aug. 2o; 1458–1480 W Weimar, HAAB, Hs. Q 564; 3. V. 15. Jh. Y Weimar, HAAB, Hs. Q 565; um 1466 bis nach 1483 F Nürnberg, GNM, Hs. 5339a; um 1472

50 Rosenplüt-Spiele und 2 Fragmente 11 Rosenplüt-Spiele

gattungszentrierte Sammelhs. (Fastnachtspiele) autorzentrierte Sammelhs. (Rosenplüt) gattungszentrierte Sammelhs. (Fastnachtspiele) gattungszentrierte Sammelhs. (Priameln u. Fastnachtspiele)

R Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 29.6. Aug. 4o; 1472 (u. 1479) N München, BSB, Cgm 439; 1473/74

4 anonym überlieferte Spiele 14 Rosenplüt-Spiele 2 Rosenplüt-Spiele

‘Weimarer Liederhandschrift’

1 Rosenplüt-Spiel 10 1 1

autorzentrierte Sammelhs. (Rosenplüt) Rosenplüt-Spiele Sammelhs. (unterschiedliche religiöse, didaktische u. literarische Texte) Rosenplüt-Spiel Sammelhs. (geistl. Texte u. a. Reimpaardichtungen) Folz-Spiel Sammelhs. (literarische, didaktische und medizinische Texte) Spiele (1 RosenplütFaszikelsammlung (aus dem Spiel und 1 Folz-Spiel) Besitz von Hans Folz) Rosenplüt-Fragment Sammelhs. (Spaunsche Hs., Komplementär-Hs. zu G)

X Weimar, HAAB, Hs. Q 566; 2 um 1480 A Augsburg, Staats- und 1 Stadtbibl., 4o Cod. H. 27; um 1486 (bis um 1520) Faszikelsammlung (Rosenplüt) P Hamburg, Staats- und 2 Rosenplüt-Spiele Universitätsbibl., Ms. germ. 13; um 1490 1 Rosenplüt-Spiel H Karlsruhe (vormals Einzelheft Donaueschingen), BLB, Hs. A III 20; um 1490 66 Spiele (davon 33 Rosen - gattungszentrierte Sammelhs. G Wolfenbüttel, HAB, plüt zugeschriebene (Fastnachtspiele) Cod. Guelf. 18.12. Aug. 4o; ‘Spaunsche Handschrift’, Spiele, 8 Folz-Spiele und 20 anonym überlieferte vor 1494 frühe Nürnberger Spiele) Tabelle 1: Hs.-Überlieferung

Die Drucküberlieferung betrifft ausschließlich Stücke von Hans Folz; die beiden ältesten maßgeblichen Drucke (l/1 und l/2) stammen aus dem Jahr 1485 aus Folz’ eigener Offizin, bei den anderen dürfte es sich um Nachdrucke Folzscher Drucke handeln. Folz hat seine eigenen Stücke als Einzelhefte gedruckt, die eine weite Verbreitung erfahren haben.11 Vom Beginn des 16. Jahrhunderts sind uns solche mut11

Zu Hans Folz als Drucker siehe Ursula Rautenberg, Das Werk als Ware. Der Nürnberger

367

Überlieferung, Edition, Interpretation

maßlichen Nachdrucke aus anderen Offizinen überliefert, die größtenteils in Nürnberg vor 1530 entstanden sind; auch die handschriftliche Überlieferung Folzscher Stücke beruht zum Teil auf Folz-Drucken. Drucke

Spiel

Druck

Nachweis

l/1 l/2 a e x o b f q/r z

Nürnberg, Hans Folz, 1483–1488 Nürnberg, Hans Folz, 1483–1488 Nürnberg, Peter Wagner, 1491–1499 Nürnberg, Jobst Gutknecht, 1519 Leipzig, Martin Landsberg, 1520 Nürnberg, Jobst Gutknecht, 1521 Nürnberg, Johannes Stuchs, um 1520 Nürnberg, Johannes Stuchs, um 1520 Nürnberg, Johannes Stuchs, um 1521 Nürnberg, F. Gutknecht, o. J.

K 44 K 38 K 38 K7 K 44 K7 K 120 K 112 K 60 K7

eigenständiger Druck eigenständiger Druck Nachdruck von l/2 eigenständiger Druck Nachdruck von l/1 Nachdruck von e eigenständiger Druck eigenständiger Druck eigenständiger Druck Nachdruck von o

h

Nürnberg, Georg Merckel, um 1555

K7

GW 10104 GW 10103 GW 10105 VD16 ZV 5943 VD16 F 1768 VD16 F 1774 VD16 F 1769 VD16 F 1770 VD16 F 1765 Rom, BAV, Palat. V.432 (int.45) VD16 F 1775

Nachdruck von z

Tabelle 2: Druck-Überlieferung Folz-Spiele, jeweils Einzeldrucke

Die Spiele sind überwiegend einfach überliefert, einige drei- oder vierfach, einzelne auch in bis zu sieben Textzeugen. Stichhaltige Aussagen über die Abhängigkeit einzelner Zeugen lassen sich meist nicht treffen, die editorische Suche nach einem ‘Original’ ist daher im Normalfall von vornherein auszuschließen. Die Edition der Nürnberger Fastnachtspiele steht im weiteren Sinn in der Tradition des Leithandschriftenprinzips, wie es Gustav Roethe 1904 in seinem Programm zur Gründung der Textreihe ‘Deutsche Texte des Mittelalters’ formulierte.12 Es sah vor, den Text nach »einer möglichst guten und alten Handschrift« (S. VI) abzudrucken und diese als Bezugsgröße für die Parallelüberlieferung zu wählen, welche in ihren »textgeschichtlich interessanten Varianten« (S. VII) beigegeben werden konnte. Die Fastnachtspiel-Edition verfolgt (unabhängig von der Textgeschichte) das Ziel, neben dem Text der Leithandschrift auch den der anderen Zeugen – sei es in Form von Lesarten, sei es durch Paralleldruck bei mehreren Fassungen – sichtbar zu machen. Es gilt, das Überlieferte wiederzugeben und mit Erklärungen zu versehen. Der hergestellte Text wird als eine ‘Abstraktion hinter der Überlieferung’ verstanden,13 er erscheint in einer

12

13

Kleindrucker Hans Folz, IASL 24,1 (1999), S. 1–40; John L. Flood, Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst, in: Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann u. Anne Simon (Hgg.), Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 1–27. Gustav Roethe, in: Friedrich von Schwaben. Aus der Stuttgarter Hs. hg. v. Max Hermann Jellinek, Berlin 1904 (DTM 1), S. V−VII. Zu Roethes Programm, das in der Geschichte der Editionsmethode eine neue Richtung einschlug und nach wie vor den Kriterien einer modernen Editionsmethode genügt, siehe beispielsweise Fromm [Anm. 3], S. 77f., 82. Der ‘Text’ ist nicht ‘Textoberfläche’, wie überliefert, und davon zu unterscheiden. Er ist

368

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

»durch das philologische Verständnis bedingten Projektion«.14 Dem Editionsprojekt liegt ein Textverständnis zugrunde, welches sich mit Hanns Fischers Begriff der »Gebrauchsfassung« erläutern lässt: Als Ziel der editorischen Bemühung verstand Fischer »ein Zwischenprodukt des Traditionsvorgangs vom Originalkonzept des Autors zur letztlich erhaltenen Niederschrift«, das »wohl recht nahe hinter der Niederschrift zu suchen ist« und allein »− in einer wie großzügigen Auslegung des Worts auch immer – Verständlichkeit« erwarten lässt.15 Der Ansatz der Fastnachtspiel-Edition impliziert ein dreiteiliges Verfahren der Texterarbeitung: erstens die Dokumentation aller Textzeugen, zweitens die Herstellung des Editionstextes und die Verzeichnung der Varianten, drittens das Einsichtigmachen der Textunterschiede, d. h. der inneren Variabilität, dargestellt im allgemeinen Kommentar zu jedem Stück (s. u.). Das Editionsziel ist, um es anders zu formulieren, einen verständlichen Text herzustellen, der dem historisch Überlieferten so nah wie möglich steht. Dieser Ansatz erfordert ein Eingreifen im Falle ganz offensichtlicher Schreiberfehler, aber auch im Falle sinnentstellter Stellen, die sich leicht heilen lassen. Von einer Besserung wird abgesehen, wenn der Text offensichtlich verderbt erscheint oder der Arbeitsgruppe in Wortlaut oder Syntax dunkel geblieben ist, jedoch keine gute Konjektur zu finden ist oder mehrere bereitstehen und deshalb die Herstellung beliebig wäre. Hier kommt der Stellenkommentar zum Tragen, in dem Bedenken formuliert und Vermutungen zum Wortlaut ‘hinter der Niederschrift’ geäußert werden.16 Aus dem editorischen Prinzip, sich nahe bei der Überlieferung zu halten, leitet sich neben der Textherstellung auch die Anordnung der Spiele ab. So folgt der Aufbau der Gesamtedition einer Kombination von Überlieferungs- und Autorkriterien: Zuerst werden die 50 in M, der ältesten Fastnachtspielhandschrift, überlieferten Stücke ediert, sodann diejenigen vier, die in D, nicht aber in M bezeugt sind. Damit stehen die in der Überlieferung Hans Rosenplüt zugewiesenen Spiele zusammen. Daran schließen sich die vier in der Handschrift E anonym überlieferten Spiele an. Es folgen die 49 in G bezeugten Stücke, wobei hier die acht in G tradierten Stücke des Hans Folz an das Ende des G-Teils gerückt werden, so dass sie zusammen mit den folgenden vier in N, X, f und b jeweils unikal überlieferten Spielen das Folz-Corpus bilden, mit dem die Neuausgabe schließt.

14

15

16

Produkt eines Prozesses jeweils aktueller Sichtbarmachung, den die Bearbeitung eines Redaktors, die Abschreibetätigkeit eines Kopisten oder die aufführungsabhängige Aufbereitung eines Spielleiters bedingt haben können. Siehe die Einleitung Paul Sapplers zu: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. v. Paul Sappler, München 1979 (MTU 29), S. 9–19, hier S. 12. Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. v. Hanns Fischer, München 1966 (MTU 12), S. XI. Zu Fischers Begriffsbestimmung siehe auch Paul Sappler, Fehlertypen bei der Überlieferung von Gesellschaftsliedern des 15. Jahrhunderts, in: Hugo Kuhn, Karl Stackmann u. Dieter Wuttke (Hgg.), Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen. Marbach am Neckar, 16. und 17. April 1966. Referate und Diskussionsbeiträge, Wiesbaden 1968 (Forschungsberichte 3), S. 153–159. Ein solche Verfahrensweise wird unten anhand von Beispielen illustriert.

Überlieferung, Edition, Interpretation

369

Singulär überlieferte Texte werden möglichst nah an der handschriftlichen oder gedruckten Quelle wiedergegeben. Die sparsamen unumgänglichen Herausgebereingriffe verzeichnet der kritische Apparat. Bei Mehrfachüberlieferung wird in entsprechender Weise ein Verfahren nach dem Leithandschriftenprinzip gewählt, wenn die Textvarianz nicht zu groß ist. Ediert wird entweder der älteste Textzeuge oder die Aufzeichnung mit der geringsten Fehlerquote, in den meisten Fällen bietet der älteste Zeuge tatsächlich den ‘besten’ Text. Die Lesarten der weiteren Überlieferungsträger werden im kritischen Apparat dokumentiert. Wenn die Differenzen im Textbestand hingegen so gravierend sind, dass die einzelnen Zeugen sich nicht mehr sinnvoll auf einen Leittext beziehen lassen, werden die unterschiedlichen Fassungen in einer Synopse abgedruckt. Daraus ergibt sich für die Ausgabe ein Nebeneinander verschiedener Editionsformen, das den unterschiedlichen Überlieferungsverhältnissen Rechnung trägt. Der Überlieferungsbefund der Fastnachtspiele erfordert in etwa vier, fünf Fällen durchaus komplexere Überlegungen zur Textgeschichte. Aber auch hier lässt sich der Befund mit den beiden genannten Editionsverfahren – Leithandschriftenprinzip bzw. Synopse – gut bewältigen. Es gilt dies deshalb zu betonen, da für die Unterschiede in der Mehrfachüberlieferung der Fastnachtspiele nicht selten die Varianz des Bestandes und der Reihenfolge der Redepartien kennzeichnend ist: Redepartien werden fortgelassen, hinzugefügt und umgestellt. Aufgrund ihrer inhaltlichen Geschlossenheit eignet sich die einzelne Redepartie zur aufführungs- oder überlieferungsbedingten variablen Anordnung innerhalb eines Spiels und, wie Parallelstellen zeigen, auch innerhalb des gesamten Fastnachtspielcorpus. Nicht zuletzt resultiert die überlieferte Varianz in der Reihenfolge der Redepartien aus der Spielform.17 Angesichts der Bestands- und Reihenfolgenvarianz der Redepartien ist bei überwiegend irrelevanter Textvarianz Zurückhaltung im Hinblick auf die Wiedergabe mehrerer Fassungen geboten.18 Weist diese Varianz keine abweichende Sinnperspektive auf, die einen synoptischen Abdruck rechtfertigte, wird nach dem Leithandschriftenprinzip verfahren. Die gewählte Methode, zusätzliche Redepartien beim edierten Text wiederzugeben, in einem allgemeinen Kommentar mittels einer Konkordanz die Struktur der Parallelfassung(en) transparent zu ma17

18

Man kann mit Thomas Habel, Zum Motiv- und Stoff-Bestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels. Forschungsgeschichtliche, methodische und gattungsspezifische Aspekte, in: Theodor Wolpers (Hg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motivund Themenforschung, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge, Bd. 249), S. 121–161, hier S. 148–150, vier Formtypen unterscheiden, nämlich Reihenspiel, verbundenes Reihenspiel, handlungsorientiertes Reihenspiel und Handlungsspiel. Anders als das Handlungsspiel bot sich das häufigere Reihenspiel für die Vertauschung der Redepartien geradezu an. Gleiches gilt für den Bestand der Redepartien, die als geschlossene Texteinheiten teils auch aus anderen Stücken hinzugefügt oder fortgelassen wurden. Damit sei nicht die grundsätzliche Forderung Linkes [Anm. 2] berührt, die »Abfolge alternativer Textteile [. . .], zwischen denen ein Spielleiter je nach praktischen Notwendigkeiten wählen kann« (S. 147), einzurechnen und »das dem Leser durch Paralleldruck der Versionen sichtbar zu machen« (S. 148).

370

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

chen und derjenigen der edierten Fassung gegenüber zu stellen sowie ggf. Passagen der Parallelfassung(en) abzudrucken, eröffnet dem Benutzer die Möglichkeit, die Entscheidung für einen Leittext überprüfen und zugleich die nicht edierten Spielanordnungen in die eigene Deutung einbeziehen zu können.19 Sind damit die Kriterien für die Reihenfolge der Spiele innerhalb der Edition, für die Wahl der Leithandschrift bzw. für die Notwendigkeit des synoptischen Textabdrucks bestimmt, bedarf es sodann einer genauen Festlegung der editionspraktischen Aufbereitung der gewählten Textgrundlage sowie der Art der Textpräsentation auch im Hinblick auf typographische Einrichtung, Apparate und Kommentare. Es sollen im Rahmen dieses Beitrags nicht im Einzelnen alle der Edition zugrunde liegenden Prinzipien, wohl aber die angestrebte Druckfassung zumindest an einem Beispiel vorgestellt werden (siehe Bsp. 1). Daher wird hier nicht näher eingegangen auf die Interpunktion, die der heutigen angenähert ist, die überlieferungsnahe Wiedergabe des Textes, die handschriftengetreue Verzeichnung der anderen Lesarten sowie der Korrekturen, die die Leithandschrift aufweist, sondern nur auf folgende Punkte hingewiesen: 1. Die aus der Kombination von Autor- und Überlieferungskriterien gewonnene Anordnung der Spiele bringt eine Neuzählung gegenüber der Ausgabe Kellers [Anm. 1] in der Titelzeile mit sich. Der Spieltitel folgt den durch das Verfasserlexikon etablierten Titeln.20 Aus Gründen der Referenz wird die Keller-Nummer als linke Marginalie auf Höhe des Titels angegeben, an entsprechender Stelle zudem der Seitenwechsel der Keller-Ausgabe (bezeichnet durch ‘KF’). Eine Nummern- und Titelkonkordanz ergänzt die Ausgabe. 2. Der Blattwechsel in der Leithandschrift sowie in den anderen Zeugen wird in einer linken Marginalie angezeigt. 19

20

Bei dieser Editionstechnik werden zusätzliche Strophen typographisch als solche markiert (kleineres Schriftbild, herausgerückt) und an der durch die Überlieferung vorgegebenen Stelle abgedruckt. Bestand und Anordnung der Redepartien schlüsselt der allgemeine Kommentar auf (Rubrik ‘Textkritik’); wo nötig, gibt auch der Stellenkommentar entsprechende Hinweise. Insbesondere aus der – wenn man so will: ‘fastnachtspielspezifischen’ – Textüberlieferung begründet sich daher die Notwendigkeit eines allgemeinen Kommentars, der eigens die verschiedenen Aspekte der Textvarianz beleuchtet und die nicht edierten Fassungen – wenn man denn bei unterschiedlicher Anordnung der Redepartien von solchen sprechen will – in den Blick nimmt. – Dem im Hinblick auf die Varianz von Strophenbestand und -reihenfolge bei Walther von der Vogelweide entwickelten Vorschlag Thomas Beins zu folgen und im textkritischen Kommentar auf alle so von ihm bezeichneten »interpretationsrelevanten Varianten« aufmerksam zu machen (vgl. Bein, Textvarianz [Anm. 7], S. 79 und passim), würde bei einem Corpus wie dem der Nürnberger Fastnachtspiele den Kommentar allzu sehr überfrachten. Für die ‘Rosenplütschen Fastnachtspiele’: Ingeborg Glier, Rosenplüt, Hans, in: 2VL Bd. 8, 1990, Sp. 196–232, hier Sp. 211–214 (nach einem unveröffentlichten Verzeichnis von Hansjürgen Linke); für das Folz-Corpus: Johannes Janota, Folz, Hans, in: 2VL Bd. 2, 1980, Sp. 769–893, hier Sp. 778–782; darüber hinaus Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik), Lübeck/Hamburg 1970, S. 88–90. – Zu Problemen, Grenzen und probaten Benennungsverfahren bei der Neubetitelung durch Neueditionen siehe Linke [Anm. 2], S. 152f.

Überlieferung, Edition, Interpretation

371

3. Corpusinterne Parallelstellen werden am rechten Rand ausgewiesen. 4. Zeilenanordnung: Überlieferte Überschrift, Redeeinleitungen, Verse und Nachschriften werden nach Zeilen gezählt; im allgemeinen Kommentar wird die Zahl der Verse genannt.

Zu problematisieren bleibt an dieser Stelle der Grad der sprachlichen Einrichtung bzw. ‘Normalisierung’ frühneuhochdeutscher Quellen, Anlass für eine in den letzten 30 Jahren immer wieder kontrovers geführte Debatte:21 Dem Anspruch, grammatische, graphematische, phonetische Vielfalt zu dokumentieren und damit die sprachhistorische Eigentümlichkeit der Texte zu konservieren, gerade auch, um ein sprachhistorisches Benutzerinteresse nicht von vorne herein auszuschließen,22 steht der pragmatische Ansatz gegenüber, die Lesbarkeit zu erleichtern und die Zitierbarkeit des Textes im Hinblick auf Sonderzeichen, Wort- und Silbenabstände u. a. m. zu gewährleisten. Auch im Projekt gibt es dazu verschiedene Meinungen. Aus den genannten Gründen plädieren wir dafür, die Graphie der Handschriften im Wesentlichen beizubehalten, um das historisch Überlieferte zu bewahren. Die sich daraus möglicherweise ergebende ‘Kulturferne’ lässt sich mittels Erläuterungen und Verständnishilfen im Stellenkommentar überbrücken.23 2. Formen und Probleme der Kommentierung Gerade wenn die Texte in ihrer historisch bedingten Alterität konserviert werden, ist die Kommentierung gefordert, dem Leser die Texte verständlich zu machen. Welche Informationen ein Kommentar liefern und nach welchen Prinzipien er gestaltet sein soll, wird in der Forschung ebenfalls intensiv diskutiert. In Hinsicht auf Kommentare zu Texteditionen (allerdings der Frühen Neuzeit) beobachtete Hans-Gert Roloff, dass »sie sehr unterschiedlich verfahren und sehr individuellen Intentionen folgen.«24 Entsprechend formulierte er folgendes Postulat: 21

22

23

24

Vgl. den kurzen Überblick bei Bein, Editionsprinzipien [Anm. 9], S. 926f. (mit einschlägiger Literatur). Dazu Franz Simmler, Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff u. Ulrich Seelbach (Hgg.), Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit, Tübingen 1992 (Beihefte zu Editio 3), S. 36–127; Oskar Reichmann, Zur Edition frühneuhochdeutscher Texte. Sprachgeschichtliche Perspektiven, ZfdPh 97 (1978), S. 337–361; wieder in: Bein, Editionswissenschaft [Anm. 3], S. 254–280, hier S. 259–271. Die mehrfache Erprobung der weitgehend nicht normalisierten Textfassung der Fastnachtspiele im akademischen Unterricht hat gezeigt, dass sich Studierende rasch in die wenig systematisierte Graphie einfinden; unter dem Aspekt der Lesbarkeit dürfte für den Benutzer keine gravierende Einschränkung des Textverständnisses zu erwarten sein. – Für die Erarbeitung von Edition und Kommentaren unterscheidet das Projekt zwischen internem Arbeitstext (sehr diplomatisch) und für die Buchausgabe bestimmtem Drucktext, der etwas stärker eingerichtet sein wird (z. B. durch i/j/y-, u/v/w-Ausgleich u. ä.). Die Textbeispiele im Anhang entsprechen alle dem Arbeitstext. Hans-Gert Roloff, Fragen zur Gestaltung von Kommentaren zu Textausgaben der Frühen Neuzeit, in: Mundt, Roloff u. Seelbach [Anm. 22], S. 130–139, hier S. 136.

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Rebekka Nöcker und Martina Schuler

Dagegen scheint es wünschenswert zu sein, im Verfolg der Konstituierung einer Textsorte ‘Kommentar’ danach zu fragen, was denn dem Benutzer von Edition und Kommentar sinnvoller Weise zu bieten ist, damit er sich selbst einen adäquaten Zugang zum Text verschaffen kann. Nicht ein festes Verständnis des Textes soll ihm geboten werden, sondern er soll die sachlichen Voraussetzungen und Instrumente für die eigene Verständnisfindung und Textproblematisierung zur Verfügung gestellt bekommen.25

In diesem Sinn verstehen wir auch die Kommentare zur Ausgabe der Nürnberger Fastnachtspiele, die – zumindest dem Anspruch nach – nicht ‘individuellen Intentionen’ folgen, sondern nach objektivierbaren Prinzipien angelegt sind. Das Konzept lässt sich als historisch-erschließende Kommentierung erläutern, deren wesentliches Ziel es ist, editorische Überlegungen zur Textherstellung sowie alle zum Textverständnis in einem engeren (d. h. zunächst sprachlichen und realienbezogenen) und einem weiteren Sinn erforderlichen Informationen dem Leser in möglichst konzentrierter Form zur Verfügung zu stellen. Erarbeitet werden die Kommentare auf der Grundlage der Forschung und sind in diesem Sinn natürlich zeitgebunden. Um nicht allzu schnell zu veralten, beschränken sie sich im Kern auf die Darstellung von in einem engen Sinn ‘texterschließenden’ Informationen und skizzieren nur in einem eigens als interpretierend ausgewiesenen Abschnitt Deutungsansätze. Insgesamt geht es uns nicht darum, dem Leser eine Interpretation, ein festes Verständnis der Texte vorzugeben, sondern ihm im Sinne Roloffs »die sachlichen Voraussetzungen und Instrumente für die eigene Verständnisfindung und Textproblematisierung« zur Verfügung zu stellen. Konkret stellt sich dies folgendermaßen dar: Der Stellenkommentar steht als zweiter Apparat unter dem Text, so dass sich die für das unmittelbare Textverständnis erforderlichen Informationen direkt überblicken lassen. Er enthält Reflexionen zu solchen Textstellen, die uns in Wortlaut oder Syntax unverständlich sind und an denen daher nicht zu konjizieren ist oder für die mehrere mögliche Konjekturen bereitstehen. Darüber hinaus bietet der Stellenkommentar Lese- und Verständnishilfen, ausführlichere Sach- und Worterklärungen sowie sprachhistorische, kulturhistorische (oft Nürnberger Hintergrund), literaturgeschichtliche und theatergeschichtliche Erläuterungen. Zudem verzeichnet er Parallelen zu anderen Werken. Hinsichtlich der sprachlichen Erläuterungen orientieren wir uns in diesem Sinn am Vorbild der ›Gregorius‹-Ausgabe von Burghart Wachinger,26 geben aber mehr lexikalische Verständnishilfen an, da unsere Ausgabe ein breiteres Spektrum möglicher Benutzer im Blick hat (außer ausgebildeten Germanisten auch Mediävisten anderer Disziplinen sowie Studierende); wissenschaftlichen Ansprüchen soll die Neuausgabe damit ebenso genügen wie auch den Anforderungen des akademischen Unterrichts. Der Allgemeinkommentar zu jedem einzelnen Spiel hat drei Schwerpunkte. Er enthält erstens Angaben zur Überlieferung, zu Ausgaben und zur Textkritik: Der Überlieferungsbefund wird skizziert und die Wahl der jeweiligen Editionsform be25 26

Ebd., S. 136. Hartmann von Aue: Gregorius, hg. v. Hermann Paul, neubearb. v. Burghart Wachinger. 15., durchges. und erw. Aufl., Tübingen 2004 (ATB 2), S. XXV.

Überlieferung, Edition, Interpretation

373

gründet. Zweitens informiert er über Autorzuschreibung, Rollenrepertoire, Inhalt, Struktur, Deutungsaspekte und Beziehungen zu anderen Stücken, d. h. er liefert Hinweise zum literarhistorischen Verständnis des jeweiligen Spiels, zeigt Traditionszusammenhänge auf und stellt Verbindungslinien zu weiteren Spielen her. Drittens bietet er weiterführende Literaturhinweise. Im Sinn des Ziels der Neuausgabe, die überlieferten Texte nicht nur nach modernen wissenschaftlichen Standards zu edieren und erstmals als Gesamtcorpus zugänglich zu machen, sondern diese Texte auch einem weiteren Benutzerkreis näher zu bringen, verstehen wir Stellen- und Allgemeinkommentar als Instrumente der Texterschließung, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und einander ergänzen. Die Art der Präsentation der frühneuhochdeutschen Texte, die den Überlieferungsträgern so nahe wie möglich steht, und die Art und Weise der Kommentierung, die dem Textverständnis insbesondere der sprachhistorisch nur wenig geschulten Benutzer möglichst entgegenkommt, begreifen wir dabei nicht als Gegensatz, sondern der »Dienst am Textverständnis ist zugleich eine Dienstleistung gegenüber den Rezipienten der Ausgabe«.27 Selbstverständlich hat der Editor die größte Verpflichtung gegenüber dem überlieferten Text, zugleich ist aber der anvisierte Benutzerkreis ein wesentlicher Faktor für die Wahl des Editionskonzepts und für die Art der Kommentierung. 3. Beispiele Anhand ausgewählter, im Anhang befindlicher Beispiele sollen im Folgenden Möglichkeiten und Grenzen bei den Verfahrensweisen der Kommentierung diskutiert und damit ein kleiner Ausschnitt der editorischen Arbeit präsentiert werden. Die Beispiele betreffen in der Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Text zum einen den Bereich der Textherstellung, zum anderen die Probleme der Kommentierung. 1) Textherstellung Selbstverständlich hat sich der Editor von allem fernzuhalten, was ein ‘Neuverfassen’ des Textes bedeutet, auch wenn die Überlieferung Unerwartetes und gewisse Schwächen bietet; andererseits ist er in den nicht sehr zahlreichen Fällen gefordert, in denen der Sinn deutlich gestört ist. Von besonderem Interesse sind nun einige wenige Stellen, an denen unter der vielleicht gerade noch verständlichen Textoberfläche etwas Sinnvolleres und Verständlicheres durchscheint und die Entscheidung schwerfällt. Dazu zwei Beispiele: a) Im Stück ›Luneten Mantel‹ (F 19, K 81) haben wir vneer (Z. 402) konjiziert für handschriftliches mer (Hs. M; siehe Bsp. 2). Hier stellt sich die Frage, ob der Editor eingreifen soll, wenn der überlieferte Text zwar syntaktisch korrekt ist, aber im Zusammenhang nach unserem Verständnis keinen guten Sinn ergibt und überdies unmittelbar unter der Textoberfläche das mutmaßlich Ursprüngliche aufscheint, das ei27

Roloff [Anm. 24], S. 131.

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nen weitaus überzeugenderen Sinn ergibt. Welchen Grad von Sinnhaftigkeit hat das überlieferte mær(e)? Es ließe sich hier als ‘das Ausgesagte’ verstehen, und es ist zu erwägen, ob es bewahrt werden sollte. Andererseits stellte es auch eine gewisse Härte in der Argumentation der Königin dar, die sich ja gegen die Annahme ihres Mannes verteidigt, sie habe ihn (aus für ihn nachvollziehbaren Gründen) betrogen und solle sich deshalb der Tugendprobe mittels des Zaubermantels nicht unterziehen: Der direkte Kontext handelt von eere (Z. 396, 404) und vneere (Z. 399). Es war daher naheliegend, das überlieferte mer als einen Schreiberfehler anzusehen und vner (Z. 402) zu konjizieren, das weitaus überzeugender erscheint. b) Im ›Fest des Königs von England‹ (F 44; K 100) wurde kospern (Z. 108) konjiziert für handschriftliches kosperm (siehe Bsp. 3). Das Beispiel betrifft die Textherstellung im Sinn eines syntaktisch richtigen Textes. Die Leithandschrift M bietet für Z. 108 ursprünglich einen Text, der grammatische Inkongruenzen bezüglich des Numerus aufweist: Von ey¨telm kosperm edel stainn. (Abb. 14: Hs. M, Bl. 458v). Der Schreiber hat wohl mit Bezug auf die Pluralform stainn aus dem den Singular bezeichnenden Adjektiv ey¨telm durch Zufügen eines weiteren Schaftes die syntaktisch korrekte Pluralform (ey¨telnn) hergestellt, nicht aber dieses nachbessernde Verfahren auf das im Singular stehende Adjektiv kosperm angewandt, dessen Pluralform korrekterweise kospern lauten muss. Die konjekturale Herstellung der Pluralform, mit der ein syntaktisch richtiger Text hergestellt wird, knüpft somit an den paläographischen Befund (in dem eine Schreiberintention sichtbar wird) an.

2) Kommentierung Das Beispiel (siehe Bsp. 4) aus dem Stück ›Das Chorgericht I‹ (F 30, K 42) repräsentiert die zahlreichen Stellen im Textcorpus, an denen Nürnberger Ortsspezifika aufscheinen. In einigen Fällen können die Schwierigkeiten dieser Stellen nicht zufriedenstellend aufgelöst werden, so auch hier: Es müssen zwei Verständnismöglichkeiten diskutiert werden. Nicht zu entscheiden ist, ob es sich bei der in Z. 245 genannten Örtlichkeit Zum Flederwisch in der Kerergassen (Hs. M) um eine metaphorische oder um eine ‘konkrete’ Verwendung handelt. Gleiches gilt für die Lesart der Handschrift Ga (Zuom stecken in der hundsgassen). Weiterhin ist nicht zu entscheiden, ob die beiden Lesarten verschiedenen Aufführungssituationen geschuldet sind oder aus nicht bekannten Kontexten herrühren, etwa dem Versuch, ein Witzmoment durch den Bildbezug des (Wirts-)Hausnamens zum Gassennamen zu evozieren. Der Kommentar zeigt dieses Problem auf und beschränkt sich ferner darauf, identifizierbare Nürnberger Haus- und Straßennamen zu benennen. Für das Lemma Hanns Witzig (Hs. M, Z. 248) dokumentiert die Lesart N der Parallelüberlieferung (Hss. Kb, Ga) die Ausrichtung des Spieltextes bei der Niederschrift auf die Aktualisierung für die und in der konkreten Aufführungssituation. Diesen Befund formuliert hingegen der Kommentar, und er bietet die Überlegung, dass nicht zu ermitteln ist, ob es sich bei der Variante in Handschrift M (Hanns Witzig) um einen vergleichbaren Platzhalter oder einen Personennamen handelt.

Überlieferung, Edition, Interpretation

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4. Schluss Die Kommentarbeispiele zeigen, dass der Spieleditor immer eine ‘Gratwanderung’28 zwischen Textherstellung und Kommentar zu bewältigen hat. Er ist in erster Linie dem überlieferten Text verpflichtet und hat die Aufgabe, die Textherstellung zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite soll der Kommentar dem Leser das Textverständnis so weit wie möglich erleichtern, ihm aber keine Interpretation vorgeben, d. h. er soll alle zum Textverständnis nötigen Informationen versammeln, die Befunde aber nicht einem vorausgesetzten Gesamtbild unterordnen. Indem die Neuausgabe mit ihren Hilfestellungen für die Texterschließung erstmals einen umfassenden Überblick über das gesamte Spektrum des frühen Nürnberger Fastnachtspiels liefert, kann sie möglicherweise zur Differenzierung der literar- und theaterhistorischen Einschätzung des frühen weltlichen Schauspiels beitragen.

28

Vgl. Linke [Anm. 2].

376

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

Beispiel 1

10

KF Nr. 72

Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit

Der vasnacht und vastten recht spil

KF 624 M 333r Kb 144v

5

M 333v

10

15

Nv hoe rt, ich wil euch newe mer sagen: 2–9: KF 73,39–46 Die faßnacht wil vns sein y¨e nit vertragen Vnd wil, das wir vnser sy¨nn zu sammen spitzen Vnd ir ain entlich reht besitzen. Wann sie clagt, die faßt hab sie verdrungen, Des hab sie grossen schaden genumen, – Vnd hat mir auch manchen guten mut vertriben –, Vnd sein vns auch vil krapffen ve ber pliben Vnd sultzen vnd ay¨r vnd schweinen praten, Vnd sie maint, wir heten ir wol lenger geraten; Vnd hat auch solche obentewr getriben, Das manche may¨t jst ve ber bepliben Vnd hat irn guten wan verlorn. Das thut mir auch in meim hertzen zorn. Dy¨ vaßnacht:

20

Jch pins dy¨ faßnacht vnd clag aldo, Das mein hertz ny¨mer kan werden fro, Dann mich hat dy¨ faßtt erschlichen. Dauon ist mir alle mein frewd entwichen, e Vnd hab allen meinn gesellen mussen vrlawp geben e Vnd nun furn ain gay¨stlich leben

1 Im Register von M (Bl. IIIr) Vom Ascher Mittwoch fasten und vasnaht reht 2 newe mer fehlt Kb 5 entlich] yedlich Kb 6 faßt] fachst Kb 9 vns] mir Kb; auch] aich M e 13 vber bepliben] vber plieben Kb 16 Die faßnacht spricht Kb 3 vertragen ‘erlassen’ 5 ain entlich reht besitzen: ‘ein endgültiges Gericht abhalten’; rechtssprachliche Wendung (DRW Bd. 2, s. v. besitzen, 2). 8 guten mut ‘Hoffnung, Lustbarkeit’ 11 sie: die Fastenzeit – ir: der Fastnacht 14 wan ‘Hoffnung, Erwartung’ 21 vrlawp ‘Abschied’

Überlieferung, Edition, Interpretation

377

Beispiel 2: F 19 (KF 81) Luneten Mantel

Sein fraw:

395

M 371r KF 676

400

405

Mein herr, das thut mir auff euch antt, Das ir mich anlegt solche schantt e Vnd wolt mir peßer eren nit getrawen. Des schem ich mich vor herrn vnd frawen. Doch wil ich mich des mantels nit ver wegen. e Jch hoff, ich hab keiner vner pflegen, Als es sich wol erfinden sol, Als ich traw got, dem herrn, wol, Wann ich der vner ward ny¨e holt. Hab wir nit lant, silber vnd golt, So seyn wir doch an eren reich. Jch trag den mantel willigkley¨ch. Nun her vnd legt mir den mantel an Vnd seht, wie wol er mir mue g gestan. Der herolt:

410

415

e Kunigin, jr thut euch selbs wol trawen. Nu solt euch pillich vor dem mantel grawen, Wann ir habt mit ewrn augen wol gesehen, Das kainer frawen gut ist dary¨nn geschehen. Vnd sey¨t ir nit an ee ren frey¨, e Man spott ewr mer denn ander drey¨. Doch sol man euch erfue lln ewr peger. Laßt sehen, wie wol ir ku¨ntt prangen her.

402 vner] mer 395 ‘dass Ihr mir eine solche Schande antut‘ 396 getrawen m. Dat. d. Pers. u. Akk. d. S. ‘zutrauen’ 398 ver wegen refl. m. Gen. d. S. ‘von etwas ablassen, auf etwas verzichten’ 400 sich erfinden ‘sich zeigen’ 402 vner: Schreiberversehen. 405 willigkley¨ch ‘bereite willig’ 410 pillich ‘mit Recht’ 413 nit an eren frey¨ ‘nicht hochgestimmt aufgrund von Ehre’ (vgl. Z. 336)

378

Rebekka Nöcker und Martina Schuler

Beispiel 3: F 44 (KF 100) Das Fest des Königs von England

Der sy¨bent: M 458v F 120v

105

D 161v

110

Welche fraw das peßt thut mit tanczen, e e Mit hubschen try¨ten, mit vmb her schwanczen, Mit tzue chtigem lachen, mit lieplichem schmuczen, Mit guter geperd, mit freuntlichem an guczen, Der wil man schencken ainn pernlein krancz. Der lewchtet als der sunnen glancz Von ey¨telnn kospern edeln stainn, Vnd vorn dran, do siht man ainn, e Der ist mit kunst darawff gehefft.

101 fehlt F D 102–117 Redepartie in D hinter V. 119–134 gestellt 102 Welche fraw] +Jtem e welche fraw F, Welcher H P 103 mit] vnd H P 104 tzuchtigem] zuchtigen D, fehlt H P; mit] vnd H P; lieplichem] lieplichen D 105 guter] gutem D; mit] vund H; freuntlichem] fro¨lichem H P; an guczen] aufguczen F H P 106 pernlein krancz] perlein krancz F, perlin krantz H P 108 Von ey¨telnn (korrigiert aus ey¨telm durch Zufügen eine Schafts, auch Z. 89) kosperm edeln stainn M – Von e¨yteln cosparn edeln gestein F, Von eyteln cosparn edeln stein H, Von eytelm cosparn edeln stein P, Vor eytel edelm kostparn gestein D 109 Vnd] Dann F; do fehlt F H P D 110 mit kunst darawff] darauf mit kunst F e

e

103 hubsche try¨te ‘Tanzschritte nach höfischer Weise’ – vmb her schwanczen ‘schwenkendes, drehendes Bewegen (beim Tanz)’ 104 schmuczen ‘Lächeln’ 105 an guczen ‘angucken’ 106 pernlein krancz: Die Form pernlein (mhd. be¨rlıˆn, Diminutiv zu mhd. be¨rle, perle; vgl. Lex 1, Sp. 195; Lex Nachträge, Sp. 64; vgl. auch Z. 43) ist in KF 16,26 (bernlein) und weiteren Nürnberger Quellen (pernlin CDS 11 774,27; pernlein rok CDS 11, 565,24), aber auch in der Überlieferung von Fröschels von Leidnitz Minnegedicht ›Belauschtes Liebesgespräch‹ (dein zenlein weiss als bernlein fein Z. 160, Text nach der Stuttgarter Hs., verfügbar unter 〈http://etext.virginia.edu/cgi-local/german/toccer-germ.pl?file=minnerii&win=text&part=33&division=milestone〉, vom 20.3.2007), in Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹ (Die erst fabel von dem han und dem bernlin, S. 80, vgl. Fischer: Schwäbisches Wörterbuch 1, Sp. 877; vgl. auch 6/2, Sp. 1620) oder bei Johannes Nasus: antipap. 2, 171b (wir sollen unser haylthumb und bernlein nicht für die seu werffen, zitiert nach DWb 25, Sp. 1982 s. v. Vertreten) bezeugt. Das DWb 13, Sp. 1547, vermutet eine Herleitung aus lat. perna ‘Muschel’. – Zur Tanzrobe gehörte der Kranz auf dem Haar, hier als Siegerpreis für die beste Tänzerin ausgesetzt (DWb 11, Sp. 2044). 108 Der Schreiber hat wohl zunächst den Sg. (ey¨telm kosperm) im Blick gehabt, dann aufgrund der Pluralform (stainn) gebessert; dies allerdings nur für ey¨telm (zu ey¨telnn), weshalb eine Konjektur von kosperm erforderlich ist. In FHPD scheint das Sg.-Pl.-Verhält nicht eindeutig. – ey¨tel ‘lauter, rein’

Überlieferung, Edition, Interpretation

379

Beispiel 4: F 30 (KF 42) Das Chorgericht I Der official:

D 167r

M 415v

240

245 KF 329 Kb 122r

250

255

Jr zwen eeprecher mit ewrn wey¨ben, Man wirt euch alle viere ein schrey¨ben e e Biß von hewt vber acht tag. So kumpt herwider mit ewr clag, So wirt man ewr sach fue r fassen Zum Flederwisch in der Kerer gassen; Da hab wir vnser nider lag. Hoe rt y¨r y˝emantz, der nach vns frag, Den weist zum Hanns Witzig ein. e e Da woll wir vber acht tag sein. Der auß schrey¨er: 251–260: KF 102,123–131 Herr, der wirt, nu gebt vns ain gute nacht! Ob wirs zu grob heten gemacht, So schue lt irs fue r ainn schy¨mpff verstee n. Wann alle die heint zu euch geen, Die wollen mit euch schy¨mpffen vnd lachen. Die vaßnacht kan manchen narrn machen, Das er in toe reter weis ve mb gee t,

239 official +spricht Kb Ga 240 wey¨ben] ee weiben D 241 alle viere] albed Kb o 247 y˝emantz] niemantz Ga 248 Hanns Witzig] N 245 Zum stecken in der hunds gassen Ga Kb Ga 250 Der herolt D, Der Herman Sumerglantz / ny¨mpt vrlaupp Kb 250–262 fehlt Ga 251 nu fehlt Kb 241 ein schrey¨ben (rechtssprachl.) ‘(auf einen neuen Termin hin) eintragen’ 244 sach e ‘Streitsache, Rechtsangelegenheit’ – fur fassen ‘zur Verhandlung vornehmen’ 245 Wahrscheinlich ein Wortwitz, worauf auch Ga deutet. Die Wendung erfährt ein zusätzliches Witzmoment, nimmt man die Möglichkeit eines Hausnamens an: Belegt ist in Nürnberg das sog. Flederwischgässlein (Diefenbacher/Endres: Stadtlexikon, S. 225); seinen Namen erhielt es wohl aufgrund der Enge, die mit der Breite eines Flederwisches, eines Gansflügels zum Abkehren, vergleichbar ist (Nopitsch: Wegweiser, S. 40f.). Für die in Ga genannte Nürnberger Hundsgasse (Diefenbacher/Endres: Stadtlexikon, S. 54) ist in reichsstädtischer Zeit eine Schenke belegt, wobei nicht gesichert ist, ob sie im 15. Jahrhundert existierte (Nopitsch: Wegweiser, S. 67, 218). 246 nider lag ‘Aufenthalt, Einkehr, Unterkunft’ 248 Hanns Witzig: Die Lesart N für nomen (Kb Ga) lässt auf eine Ausrichtung des Spieltextes auf die Verwendung in einer konkreten Aufführungssituation schließen, in der ein aktuell gewählter Personenname eingesetzt werden sollte. 253 schy¨mpff ‘Scherz’ 254 heint ‘heute Abend, heute Nacht’ 256 manchen narren machen ‘viele Narren hervorbringen’

Johannes Janota

Performanz und Rezeption Plädoyer für ihre Berücksichtigung im Kommentar zur Edition spätmittelalterlicher Spiele. Die Nürnberger Fastnachtspiele als Beispiel

Kommentare zu spätmittelalterlichen Spielen sind bis heute – soweit sie deren Editionen überhaupt begleiten – bis auf wenige Ausnahmen1 traditionell textphilologisch und bestenfalls literaturwissenschaftlich angelegt. Sie geben Informationen zur Überlieferung, sie widmen sich der Textkritik, liefern Stellenkommentare mit Hinweisen auf Textparallelen und mit Verständnishilfen (einschließlich Übersetzungsvorschlägen), sie machen auf vergleichbare Spiele und Spieltypen aufmerksam, diskutieren Autor- und Datierungsfragen, bieten Inhaltsabrisse, sie äußern sich zur Struktur der Spiele und zu ihren sprachlichen Gestaltungsmitteln, sie stellen die einschlägige Forschungsliteratur zusammen.2 Fragen etwa zum Spielort, zu Requisiten, zur Kostümierung oder gar zur Bewegungsregie kommen dagegen bestenfalls am Rande zur Sprache. Durch diese Festlegung unterscheidet sich die Kommentierung von Spieltexten im Prinzip nicht von Kommentaren zu Editionen aus anderen literarischen Gattungsbereichen. Der dabei eingeschlagene Weg erscheint mir deswegen als problematisch, weil die spezifische Medialität der Spiele auf diese Weise weitgehend ausgeblendet bleibt: Die Anlage der Kommentare schiebt sie von Anfang an auf die Ebene von Lesetexten und erschwert so das angemessene Verständnis der Spielüberlieferung als Partituren, die in der Regel für Aufführungen verfasst wurden und die erst in der Inszenierung vor einem Publikum ihre jeweils gültige Ausformung erhielten. Diesen 1

2

Vgl. Klaus Wolf, Kommentar zur ›Frankfurter Dirigierrolle‹ und zum ›Frankfurter Passionsspiel‹, Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Ergänzungsband 1) und Klaus Vogelgsang, Kommentar zum ›Alsfelder Passionsspiel‹ und den zugehörigen Spielzeugnissen, Tübingen 2008 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Ergänzungsband 2) – Erst nach Abschluss meines Beitrags erschien der Aufsatz von Hansjürgen Linke, Das Theater der Weltgerichtsspiele. Tatsachen und Mutmaßungen, ZfdPh 126 (2007), S. 354–389, mit dem ich mich in der Fragestellung treffe. – Wenig ergiebig für die vorliegende Fragestellung sind die Beiträge im Sammelband: Transformation des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, hg. v. Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte, Berlin/New York 2007 (TMP 11). Zum Fastnachtspiel setzten dafür einen neuen Standard Klaus Ridder u. Hans-Hugo Steinhoff (Hgg.), Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, Paderborn [usw.] 1998 (Schöninghs mediävistische Editionen 4). Diese Auswahlausgabe geht in ihrer Kommentierung erheblich über die verbreitete Anthologie von Dieter Wuttke hinaus: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit v. Walter Wuttke, ausgewählt u. hg. v. Dieter Wuttke, 7. Aufl., Stuttgart 2006 (RUB 9415); Wuttkes umfassender bibliographischer Anhang ist freilich in der vorliegenden Forschung zum Fastnachtspiel bislang unerreicht.

382

Johannes Janota

Performanz- und zugleich Rezeptionsaspekt müssen die Spielkommentare und die von ihnen gelenkten Interpretationen im Rahmen des Möglichen aber berücksichtigen, weil er und nicht nur die Textfaktur die mediale Spezifik eines Spiels von anderer Vortragsdichtung (Lied, Sangspruch oder epischer Dichtung) fundamental unterscheidet. Von dieser anspruchsvollen und zweifellos schwierigen Aufgabe entbindet keinesfalls der Hinweis darauf, dass uns die Spielüberlieferung de facto nur in archivierenden Aufzeichnungen, in Leseredaktionen oder gar nur in Drucken zugänglich ist, von denen sich die bisherige Kommentierungspraxis weitgehend leiten ließ. Bis zum Beweis des Gegenteils ist bei allen diesen Formen der Verschriftlichung davon auszugehen, dass ihnen mindestens eine Aufführung zugrunde lag, die in künftigen Kommentaren nach Möglichkeit herauszuarbeiten ist, um der ursprünglichen Medialität des in der Überlieferung Konservierten gerecht zu werden und Spieltexte – pointiert formuliert – nicht wie epische Dichtungen oder literarische Redetexte misszuverstehen, denen lediglich (meist) Dicit-Formeln und Personenangaben beigegeben sind. In besonderer Weise richtet sich diese Forderung an eine sachgerechte Kommentierung der Fastnachtspiele, da sich deren intendierte Komik über die Texte hinaus ganz entscheidend in der Art ihrer Aufführung entfaltete. Deswegen ist die bisherige Kommentierungspraxis, die sich ebenfalls auf textphilologische und literaturwissenschaftliche Aspekte beschränkte, gerade bei diesen Spielen um einen theaterwissenschaftlichen Teil zu ergänzen. Zwar ließe sich dagegen einwenden, dies sei Angelegenheit der Interpretation (was freilich auch für die literaturwissenschaftlichen Anteile in den Kommentaren gelten würde), aber die weitgehende Ausblendung der theaterwissenschaftlichen Perspektive bei der Kommentierung der Fastnachtspiele hatte ihre unmittelbare Rückwirkung auf deren Interpretation: Das lässt sich etwa an den jüngeren Monographien von Werner Lenk,3 Rüdiger Krohn4 und Hagen Bastian,5 die das Fastnachtspiel aus recht unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, aber theaterwissenschaftliche Aspekte – wenn überhaupt – nur kurz und recht allgemein streifen, leicht nachprüfen. Selbst bei Eckehard Catholy, der das Fastnachtspiel »mit den Mitteln der Literatur- und Theaterwissenschaft«6 beschreiben möchte, spielen Fragen etwa nach den verwendeten Requisiten oder Kostümen bestenfalls nur am Rande eine Rolle. Lediglich Johannes Merkel hat in seiner Untersuchung zum Nürnberger Fastnachtspiel »Die Komik der darstellerischen Mittel«7 in einem eigenen Kapitel behandelt. 3

4

5

6

7

Werner Lenk, Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Theorie und zur Interpretation des Fastnachtspiels als Dichtung, Berlin 1966 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 33). Rüdiger Krohn, Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtsspielen [sic!] des 15. Jahrhunderts, Kronberg i. Ts. 1974 (Scriptor Hochschulschriften. Literaturwissenschaft 4). Hagen Bastian, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983. Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion, Tübingen 1961 (Hermaea NF 8), S. 1. Vgl. auch ders., Fastnachtspiel, Stuttgart 1966. Johannes Merkel, Form und Funktion der Komik im Nürnberger Fastnachtsspiel [sic!], Freiburg i. Br. 1971 (Studien zur deutschen Sprache und Literatur 1), S. 88–143.

Performanz und Rezeption

383

Untersucht werden dabei: a) Komik der Ausstattung (Bühnenverhältnisse, Requisiten, Kostümierung und körperliche Abnormitäten), b) Komik der Bewegung (Ausdrucksgebärden, Gesten und Aktionen) sowie c) Komik der Aussprache. Merkels Beispiele (die häufig den Fastnachtspielen des Hans Sachs entnommen sind) lassen sich bei einer genauen Durchsicht der Kellerschen Sammlung,8 auf die ich mich nachfolgend im Blick auf das Tübinger und Trierer Projekt einer Neuausgabe ‘Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts’ stütze, beträchtlich vermehren, obwohl uns die Überlieferung öfters genauere Angaben zur Performanz der Spiele und damit auch zu möglichen Publikumsreaktionen, die aus der Art der Aufführung resultieren könnten, bis hin zu fehlenden Rollenbezeichnungen schlichtweg verwehrt. Umso wichtiger erweisen sich die entschlüsselbaren Hinweise in einem Gutteil der Texte, weil sie einen repräsentativen Einblick in die Aufführungsweise der Nürnberger Fastnachtspiele gewähren. Ziel meiner folgenden Hinweise ist allerdings kein vollständiger Katalog der Gestaltungsmittel, sondern eine exemplarische Auswahl, die einsichtig machen soll, dass theaterwissenschaftliche Aspekte künftig ein fester Bestandteil in den Kommentaren zu Fastnachtspielausgaben (und nicht nur bei diesen) sein sollten. Das genaue Verbuchen und Kommentieren der theatralischen Elemente in den Fastnachtspielen schützt andererseits vor zu schnellen Generalisierungen. Das zeigt etwa – um nunmehr in die Beispielreihe einzutreten – die Spieleröffnung des Folzschen Fastnachtspiels ›Die alt und neu ee‹ (K 1), die gerne als Beleg für die Verwandlung der »Stube in ein Kammertheater«9 zitiert wird (S. 1,5–16): Weicht ab, tret umbe und raumet auf, Ee man euch blupfling [‘plötzlich’] uberlauf Und alles das durch einander rutt [‘in Unordnung bringt’] Und nicht darzu den wein außschut, Hebt von den penken polster und kussen, Das ir10 geschant wird mit den fußen, Tragt kind und wiegen als vom weg, Das nit ir ains ein ploßen leg [‘ungeschützt sei’], Ruck stül und penk als auf ein ort, Und, das dest pas werd zugehort, So stet darauf und spitzt die oren Und seit still hinden, neben und foren.

8

9

10

Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller. 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1965–1966. [Nachfolgend wie üblich zitiert: K + Nummer des jeweiligen Spiels; Stellenangaben: Seitenzahl + Zeilenzähler.] Vgl. auch Hans Blosen u. Harald Pors, Rollenregister zu Adelbert von Kellers Sammlung: Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, Göppingen 1981 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 326). Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), S. 312. Vgl. auch Merkel [Anm. 7], S. 90–93 (Die Bühnenverhältnisse). Wohl zu ergänzen: nit.

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Johannes Janota

Diese Forderung nach einer freien Spielfläche gilt sicher für Handlungsspiele,11 sie kann jedoch nicht uneingeschränkt auf einfache Reihenspiele übertragen werden, die nur wenig Bewegungsraum benötigten. Für Komik ab dem ersten Vers sorgt hingegen, dass diese Aufgabe ausgerechnet ein paur (S. 1,4) zu übernehmen hat, dessen Stand ansonsten in den Fastnachtspielen nicht gerade für Ordnung steht. Dieses Moment wird noch dadurch unterstrichen, dass im Anschluss an die Aufräumarbeiten ein ander redner (S. 1,25) nach Ruhe verlangt, der nicht als paur gekennzeichnet ist; ihm folgt schließlich in einer weiteren Steigerung der hofmeister (S. 2,23), der in der endlich eingekehrten Stille das geistliche Thema des Spiels ankündigen kann.12 Dass es sich beim ersten Sprecher um einen pauren handelt, wissen wir nur aus der beigegebenen Rollenbezeichnung, für die Zuschauer hingegen ist diese Figur – wie in vielen anderen Spielen auch – allein an der K o s t ü m i e r u n g erkennbar. Diese muss für eine sichere Identifizierung eindeutig gewesen sein und damit der damaligen Gewandung eines Bauern entsprochen haben. Über ihr Aussehen können wir uns anhand zeitgenössischer ikonographischer Quellen, auf die im Kommentar hinzuweisen wäre, ein ungefähres Bild machen, aber wir wissen nicht, ob die dörfliche Kleidung im Fastnachtspiel zur Erhöhung der Komik überzeichnend stilisiert wurde. Jedenfalls geht es nicht an, die Kritik am bäurischen Mummenschanz der purger während der Fastnacht in Folzens ›Spil von der vasnacht‹ (K 51) unbesehen auf die Kostümierung der Bauernfiguren in den Fastnachtspielen zu übertragen (S. 381,20– 26):13 Etlich ir vernuft so gar an werden Mit hauen, schaufeln und gabeln, Do mit sie in dem mist umb krabeln, Mit großen stifeln, peurischen kappen, Als trappen, appetappen und lappen, Und schmitzen mit iren geiseln riemen, Das mancher umb ein aug mocht kemen.

Andererseits wird man von einer unterstützenden Charakterisierung der Rollen durch die Kostümierung der Spieler auszugehen haben und nicht von »ähnlichen Verkleidungen [. . . wie sie] auch die Gesellschaft trug, vor der man spielte.«14 Die Kostümierung war nicht nur zur Identifizierung der Rollen notwendig, die sich – wie in K 1 der paur und der hofmeister – in ihrer Eigenschaft weder durch Selbstnennung noch durch die Anrede etwa des vorhergehenden oder nachfolgenden Spielers und auch nicht durch den Inhalt ihrer Rede für die Zuschauer verlässlich einordnen ließen.15 Die 11

12 13

14

15

In elaborierter Ausformung sprengen sie sogar den Rahmen eines Stubenspiels und verlangen eine Bretterbühne, die Simon [Anm. 9], S. 313f. für Folzens Spiel ›Der Herzog von Burgund‹ (K 20) annimmt. Zu dieser Figurenabfolge vgl. Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 214f. So Merkel [Anm. 7], S. 109. Vgl. dagegen Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 261– 263. Catholy, Fastnachtspiel 1966 [Anm. 6], S. 19. Insgesamt streift Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6] die Kostümierung nur am Rande; vgl. die Verweise im Register (S. 378). Selbst Merkel [Anm. 7] bringt im Abschnitt »Die Kostümierung« (S. 107–116) nur wenige Beispiele. Verschiedentlich wären die Figuren sonst erst im Fortgang des Spiels zu identifizieren ge-

Performanz und Rezeption

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Kostüme waren darüber hinaus auch ein Mittel der Komik, die zum Lachen reizte, wenn honorige Stadtbürger etwa als Bauern oder als (Liebes-)Narren auftraten,16 wie sie in K 32 (vgl. Anm. 15) der precursor vorstellt (S. 258,8–11): Darumb sie tragen eselsoren, Dardurch sie worden sein zu toren, Gauchsfedern und die narrenkappen. All ir sie wol all seht umb trappen.

Der komische Effekt konnte sogar noch gesteigert werden, wenn ein Spieler seine widersprüchliche Kostümierung selbst thematisierte. Das geschieht in K 31 (›Ein hubsch vasnachtspil‹), wo der precursor in einem Bauernkleid auftritt und dabei offenkundig wild mit seinem Schwert gestikuliert, um Raum für das nachfolgende Spiel zu schaffen (S. 252,7–21):17 Vil sehen mich fur ein pauren an, So dunk ich mich ie pesser sein Und pring mein schwert mit mir herein. [. . .] Das ich kein fenster nit außschlug Und mich nit irrent stul und penk. Mit schirmen wer ich wol so glenk, Das ich ein parat hin verhieb, [. . .] Ich ficht, das der wint davon wet.

Ein Stadtbürger in der unstandesgemäßen Kleidung eines pauren, der anmaßend ein Schwert trägt und dazu ausgerechnet noch als Ordnungsperson auftritt, die mit einem kunstvollen Schirmschlag (parat) prahlt: Mit diesen potenzierten Mitteln der Komik sicherte der precursor für sich selbst und für seine Spielrotte gleich zu Spielbeginn das Gelächter des Publikums (das durchaus auch eine entlastende Funktion angesichts der Drohgebärde eines bewaffneten Bauern haben konnte18). Der Hinweis auf die Kostümierung kann etwa am Spielschluss aber auch zur Überschneidung von Spiel- und Zuschauerrealität dienen.19 Ein Beispiel dafür liefert das Spiel ›das Narrenseil‹ (K 26), in dem der außschreier nochmals ein zustimmendes Gelächter provoziert (S. 233,15–22):

16 17

18

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wesen. So etwa im ›Spil von narren‹ (K 32), wo zwar zu Beginn das Urteil der frau Fenus (S. 258,19) angekündigt und diese von der Fenus juncfrau (S. 258,21) auch angesprochen wird, aber erst S. 263,1 selbst zu Wort kommt. Vorstellbar sind dabei Pfeil und Bogen als reale Attribute der frau Fenus (vgl. S. 258,24: eurs pogen geschutz und S. 263,2: meins feures stral). Vgl. dazu auch Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 263. Dazu auch Merkel [Anm. 7], S. 112 mit Hinweis auf die Neidhart-Tradition. Vgl. zuvor schon Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 224, der von »einer einzigen Travestie der ernsthaften ritterlichen Schwertkünste« spricht, die »das Gelächter der Zuschauer« erregen. Jedenfalls eröffnete ein paur mit Schwert ein anderes Sinnpotential als beispielsweise der schwerttrager (S. 77,34) des Königs im ›Spil von den dreien brudern‹ (K 8), die als die pauren angelegt (S. 78,5) vor den König als Richter treten. Vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag von Ulrich Barton, Was wir do machen, das ist schimpf. Zum Selbstverständnis des Nürnberger Fastnachtspiels, in diesem Band, hierzu S. 167–185.

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Johannes Janota

Ir herren, der narren wurd zu vil; Ir merkt das pest an unserm spil, Man wilß bei narren laßen bestan, Die narrenkleider tragen an, Und itzo der andern narren nit remen [‘aufs Korn nehmen’], Wir wurden manchen man sust beschemen, Der doch ganz meint in seiner geper, Wie er der allerwitzigst wer.

Die Pointe dieser Schlussrede ist durch die Kostümierung der Spieler gesichert: Die Zuschauer brauchen sich nicht als Narren zu fühlen, weil sie im Gegensatz zu den Spielern keine narrenkleider tragen, aber sie müssen zugleich einsehen, dass es auch ohne dieses kennzeichnende Kostüm genug Narren unter ihnen gibt, was bei einer Fortsetzung des Spiels auch offenbar würde.20 Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Spielerkostüme über die notwendige Identifizierung der Figuren hinaus ein wichtiges Gestaltungsmittel der Komik darstellen und daher in keiner Kommentierung von Fastnachtspielen übergangen werden sollten. Zugleich wehren die genannten wie die nachfolgenden Textausschnitte den möglichen Einwurf ab, dass in einem Gutteil der Fälle die Kostüme (wie übrigens auch die Requisiten, über die noch zu sprechen sein wird) aus dem Spielverlauf und aus den Reden von den Zuschauern imaginiert werden mussten. Solche Fälle hat es zuweilen gegeben: etwa wenn im ›Morischgentanz‹ (K 14) der fünfte Liebesnarr berichtet, er habe sich auf Verlangen seiner Umworbenen ein mark an die fersen prennen (S. 123,35) lassen (obwohl das maskenbildnerisch leicht zu bewerkstelligen war) oder wenn in K 31 – um ein Beispiel aus dem Bereich der Requisiten zu benennen – der Ehemann, der sich vor seiner Frau im Wirtshaus versteckt, und hintern tisch sitzend (S. 252,22) nach speis und wein, nach pretspil, wurfel und karten (S. 253,6,8) verlangt (wobei reale Requisiten keineswegs auszuschließen sind). Eine Durchsicht der überlieferten Texte zeigt jedoch, dass eindeutig gesprochene Kostüme und Requisiten die Ausnahmen bleiben und dass man auf die komischen Effekte, die sich mit ihnen erzielen ließen, ungern verzichtete. Zu diesem Zweck mag im einen und anderen Fall auch mit einer Diskrepanz zwischen besprochenem und realem Aussehen gespielt worden sein: so etwa im Spiel ›Die verdient ritterschaft‹ (K 47), in dem der zweite Ritter damit prahlt: Auf meinem haupt trag ich har, / Das ist kraus und goltvar (S. 361,2f.) – der Spieler aber beispielsweise ein Glatzkopf war. Für den gezielten Einsatz von Kostümen sprechen übrigens auch die Fastnachtspiele, in denen es zu einem inszenierten Kleiderwechsel kommt. Zu erinnern ist dabei an das ›Spil von einem keiser und eim apt‹ (K 22), in dem ein Müller als Abt verkleidet wird (S. 205,21: Der mulner kumpt in der kutten), um für diesen als der 20

Der vorausgehende Dialogschluss weist schon darauf hin, dass die urteilende kunigin noch viele narren finden könne (S. 233,13: Ir ladt ir noch wol ein wagen vol). Bereits dadurch wird der Blick implizit auf das Publikum gerichtet, das nach Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 156 »den Hinweis auf die Genossen in der Narrheit natürlich auf sich beziehen soll und bezieht, wohl meist in der Form, daß man lachend an irgendeinen der anwesenden oder abwesenden Mitbürger denkt.«

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neu apt (S. 207,20) dem Kaiser drei kniffelige Rätselfragen zu beantworten; weiterhin an das ›Spil von eim thumherrn und einer kuplerin‹ (K 37), in dem der thumher get auß und tut den langen mantel ab, als sei er der frau man (S. 279,5f.), damit sich der Prälat unbemerkt zum Rendezvous mit der Ehefrau begeben kann – aber auch, um durch die Spieleridentität bei der Rolle des Domherrn wie des Ehemanns einen zusätzlichen Lacherfolg beim Publikum zu erzielen (vgl. dazu S. 398); schließlich an die Verkleidung Markolfs als Pilger (S. 539,34: Markolf kumpt in pilgrams weis), mit der er seiner Hinrichtung entkommt und Almosen sammelt, in Folzens Spiel von ›König Salomon und Markolf‹ (K 60). Zuweilen scheint die Kostümierung ziemlich deftig gewesen zu sein. Deswegen erklärt (wie ernst gemeint auch immer) die spieleröffnende Figur in ›Der blinten seu vasnacht‹ (K 90) sogar, Warumb wir uns also haben entstelt (S. 719,6). Vor diesem Hintergrund wird man daher die drastische Beschreibung, welche die Frau vom anrüchigen Aussehen ihres an Durchfall leidenden Ehemanns in Folzens Spiel ›Von einem Arzt und einem Kranken‹ (K 120) gibt, schwerlich als eine nur gesprochene Kostümierung verstehen können. Zwar dürfte bereits die derbe descriptio Anlass zum Lachen gegeben haben, aber deren Umsetzung in ein nicht gerade alltägliches Kostüm21 wird das Gelächter sicherlich noch gesteigert haben (S. 1056, 20–1057,6): Er hat die laffscheißen [‘Durchfall’] gehat, Das macht in in dem ars als frat [‘wund’], Das im das hemd stet pecht [‘mit Pech bestrichen’] darein. Sechts warzeichen, lieben freunt mein, Und sust auch ein merklichen schaden! Secht, wie rintß im über die waden! Noch hat er vor dem hindern ein gschicht, Als wer im ein rosschwanz einhin picht, Und hangen im so vil wulgern [‘Kotstränge’] dran, Das er weder gen noch ligen kann, Als schlegeln sie im umb die bain.

Eine besonders ergiebige Quelle für komische Effekte waren sicherlich die Frauenfiguren in den Fastnachtspielen, da sie ausschließlich von Männern gespielt wurden und auf diese Weise von der Spannung zwischen der realen Körperlichkeit dieser männlichen Spieler und ihren weiblich kostümierten Figuren bestimmt wurden, die sich – befördert durch Mimik, Gestik und den Inhalt ihrer Reden – unweigerlich zu Gelächter einlud. Dass in der Nürnberger Fastnacht tatsächlich als Frauen verkleidete Männer in der Öffentlichkeit auftraten, wissen wir zumindest aus einer Ratsverordnung von 1479 – gleichgültig, ob sie sich auf ein Fastnachtspiel oder um einen Schaulauf handelt –, die dem Steynpruckner gestattet, in der vasnacht ze lauffen in gestalt alter weiber.22 Wie weit man bei der Kostümierung der Frauenfiguren ging, wissen wir allerdings nicht. Die gestalt alter weiber ließ sich ohne großen Aufwand imitieren, aber soll man 21 22

Davon geht auch Merkel [Anm. 7], S. 114 aus. Zitiert nach Simon [Anm. 9], S. 424; vgl. S. 301 zu dieser Stelle.

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auch eine detailgenaue Ausstaffierung für die descriptio des preut vater in Folzens Spiel ›Die Bauernhochzeit‹ (K 7) in Betracht ziehen, der fud, ars und tutten (S. 67,20) seiner Tochter Geut lobt? Hier wie auch an anderen Stellen wird man von zwei Möglichkeiten der Komik ausgehen müssen: Entweder entzündete sich das Gelächter an der Übereinstimmung von Beschreibung und Aussehen23 oder aber an deren Unterschied. Allerdings sollte im Blick auf die derbe Kostümierung des Kranken in K 120 (s. o.) eine realistische Entsprechung zwischen Beschreibung und Kostüm nicht mit leichter Hand in Abrede gestellt werden. So könnte etwa die Selbstcharakteristik der praut in K 7 durchaus masken- und kostümtechnisch nachgebildet worden sein (S. 74,1–13): Ich waiß ie, du wurdest mich lieben, Mein augen sint gespückt mit grüeben, Dar zuo mein nas mit schwarzen putzen; Und so ich einen an will schmutzen, So laß ich fein mein meulin wandren Von ainem oren piß zuo dem andren, Und scheint mir inwendig so liecht, Als der in ein ruoßigs arsloch sicht; Mein dütlein oben klein und schmal Und ie größer hinab gen tal, Geformet gleich zwen glockenschwenglen, Solt ich dich umb dein maul mit denglen, Ich weiß, du wurdest kurzweil sat.

Eine Entscheidung darüber, ob dieses Aussehen nur zu imaginieren war oder ob sie zur Freude der Zuschauer doch visualisiert wurde, muss hier freilich ebenso offenbleiben, wie im umgekehrten Fall des Schönheitspreises, mit dem beispielsweise die zwölf Frauen im Spiel ›Von frauenriemen‹ (K 11) unter anderem ihre körperlichen Vorzüge hervorheben; so etwa im Eigenlob der dritt frau (S. 105,22–29): Nu hort zu, ir man und frauen, Und tut mich alleine schauen! Ich bin so klug und so wol gefar, Ich hab das allerschonste har, So es ie gewan kein weip. Ich pin so zart an meinem leib Und also hubsch do gepersonirt [‘gestaltet’] Und wol nach allem lust gezirt.

Auch dabei konnte mit der Übereinstimmung oder Differenz zwischen Rolle und Spieler ein komischer Effekt hervorgerufen werden. Gleiches gilt übrigens auch für Männerrollen: Wenn z. B. im Spiel ›Vom münch Berchtholt‹ (K 66) der preutigan als Vielfraß sagt, der Umfang seines Bauches sei so gewaltig, als ich trag ain kint (S. 576,25), dann kann diese Figur von einem Dickwanst gespielt worden sein, oder 23

Sie liegt m. E. – anders als Merkel [Anm. 7], S. 117 meint – bei der zweiten descriptio der praut (S. 71,10–18) vor, bei der alle genannten Eigenschaften durchaus auf einen männlichen Spieler zutreffen können.

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man hat mit einem Kissen nachgeholfen,24 oder zur Gaudi der Zuschauer spricht diese Prahlrede ganz im Gegenteil ein körperliches Federgewicht. Vor eine vergleichbare Frage stellt uns ebenfalls – um noch ein weiteres Beispiel zu bemühen – die Selbstbeschreibung eines Mannes in K 36 (S. 275,3–12): Mein har gleicht eim schwarzen rosschwanz, Mein winpran einer igelshaut ganz, Mein orlein raichen zu baiden wangen. Wen mocht solichs pißleins nit gelangen? Mein augen glitzen als eim pock, Mein nas geformirt als ein stock, Mein munt mit solchen wurzen besteckt, Das als suß sam ein scheißhaus schmeckt, Mein hentlein weiß, als eim pern, Mein fußlein, sam sie eins esels wern.

Selbst bei den Altersangaben mag zuweilen durch eine Diskrepanz zwischen dem realen Alter des Spielers und der von ihm verkörperten Figur ein komischer Effekt erzielt worden sein, während in anderen Fällen – etwa zwischen dem eltst bruder (S. 87,24) und dem jungst bruder (S. 88,1) im ›Spil von dreien brudern‹ (K 8) oder zwischen der Witwe und ihrer Tochter in ›Der wittwen und tochter vasnacht‹ (K 97) – wohl von einem realen Altersunterschied der Spieler auszugehen ist. Und schließlich lässt sich nicht entscheiden, ob bei den Frauenrollen das Sprechen im Diskant oder das Auseinanderfallen von Männerstimme und Frauenfigur für Gelächter sorgte.25 Nicht zu zweifeln ist hingegen an den klaren Anweisungen zur Stimmführung in den Regieangaben zum Spiel ›Von König Salomon und Markolf‹ (K 60) für die vier pauren, ihre reime greinend (vgl. auch S. 281,21 in K 37), lachend, singend (das lied von Markolfo) und fluchend vorzutragen (S. 538,1–539,1).26 In anderen Fällen lassen uns die Regieangaben dagegen im Stich: etwa wenn – wie in K 8 (S. 84,7–12) – eine Rede mehreren Personen zugewiesen wird. Spricht da einer für seine Mitspieler? Sprechen diese im Chor oder mit verteiltem Redetext? Die Offenheit der beispielhaft genannten Fälle, die zu einem Gutteil Gestaltungsmittel der Komik betreffen, darf in meinen Augen kein Grund sein, sie in der Kommentierung der Texte zu übergehen und sie an die Interpretation zu verweisen. Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass diese Arbeitsteilung nicht funktioniert. Erst wenn die Editoren, die bei der Textkonstitution die Überlieferung Wort für Wort auch im Blick auf den Sinnzusammenhang überprüfen müssen, im Kommentar durchgängig auf die Performanzaspekte der Stücke gerade auch in ihrer vielfachen Offenheit hinweisen, legen sie für die Textinterpretation gleichsam Fußangeln aus, denen man in einer medial sachgerechten Deutung der Spiele nicht entgehen kann. Aufgabe der 24

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Daran denkt Merkel [Anm. 7], S. 117 im Abschnitt über »körperliche Abnormitäten« (S. 116–121). Dazu Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 238, der ansonsten bei der Frage nach der Ausgestaltung der Frauenrollen sehr zurückhaltend ist; vgl. S. 237f. Ebd., S. 108f. und Merkel [Anm. 7], S. 140.

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Interpretinnen und Interpreten ist es dann, bei den offenen Fragen die Alternativen durchzuspielen, um bei den Fastnachtspielen vor allem die vielfältigen Gestaltungsmittel der Komik als Zündfunke für die unterschiedlichen Valenzen des Lachens (zustimmend, verneinend, entlastend, abwehrend etc.) bei den Zuschauern vor Augen zu führen. Damit die Zuschauer eine Figur und ihre Funktion im Spiel verlässlich identifizieren können, reichen die Kostümierung und das Alter des Spielers allein nicht immer aus. Dazu müssen immer wieder auch Textsignale treten, die beim Lesen der Stücke oft unbeachtet bleiben, weil uns die Regieangaben (soweit sie vorhanden sind) meist verlässlich darüber Auskunft geben. Gleichwohl sollten die unterschiedlichen Formen dieser Textsignale bei der Kommentierung beachtet werden, weil sie aufschlussreich zeigen, wie zuschauergerecht die Autoren ihre Texte gestaltet haben. Die einfachste Möglichkeit zur F i g u r e n i d e n t i f i z i e r u n g bietet eine Selbstvorstellung bzw. Selbstnennung der Figuren.27 So kündigt etwa in K 28 der precursor die Spielrotte mit den Worten an: Es ziehen unser herein ein tail / Die auf dem land sein mechtig worden / Und wollen uns ziehen nach purgers orden (S. 238,5–7). Die Dorfparvenüs waren sicherlich an ihren Kostümen zu erkennen, aber ihre Wahrnehmung als Einzelfiguren gelingt erst durch eine Selbstnennung jeweils am Beginn ihrer Rede. So beginnt der erst paur mit: Ich pin ein meir frisch und stolz (S. 238,11), danach kommt der mair Eberhart: Ich heiß der meir Eberhart (S. 238,16), ihm folgt mair Leupolt: So haiß ich mair Leupolt (S. 238,21), und so geht es weiter. Der precursor kann aber – wie beispielsweise in K 3 die Figuren auch einzeln vorstellen: Und bring mit mir mein freunt gemein / Oheim, schwiger (‘Schwiegermutter’), schweher (‘Schwiegervater’) und tochter sein (S. 40,7f.), wobei sich der precursor zugleich als deren Ehemann einführt: Wie ich ir nit gut genug sei zu eim man (S. 40,15). Diese Art der Vorstellung kann sich – wie etwa im Spiel ›Von sibenzechen pauren‹ (K 45) – sogar zu einem regelrechten namedropping ausweiten, das gleichwohl zur Identifizierung der Spieler für das Publikum dient (S. 342,7–343,5):28 Und wolt ir uns all recht erkennen, So müst ir vor uns hören nennen. Der erst haist Chonz Seutut, Der ander haist der Scheißput, [. . .] Der sibenzehent der lang Vererwedel.

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Singulär innerhalb des hier ausgewählten Korpus bleibt, dass sich im Spiel ›Die alt und neu ee‹ (K 1) Hans Folz nicht nur als Autor nennt, sondern als der tichter (S. 33,14) sogar den Epilog spricht. Das Spiel ist unter dem Titel ›Bauernprahlereien III‹ auch bei Ridder u. Steinhoff [Anm. 2], als Nr. 2 ediert; im Kommentar finden sich S. 123f. einige Hinweise zur Struktur des Spiels. Wegen der anstehenden Neuedition (vgl. dazu S. 363–379 hier in diesem Band) folgt mein Zitat der Kellerschen Ausgabe.

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Da in den Reden dieser zahlreichen Figuren keine Selbstnennung mehr erfolgt, scheint es nicht ausgeschlossen, dass die Spieler beim Aufruf durch den precursor ihre Rolle mit einer individuellen Geste markierten, die sie zur Identifizierung durch das Publikum am Beginn Ihrer Rede wiederholten.29 Aber auch – das zeigt das Spiel K 9 – die Vorstellung der Figuren durch einen Sprecher (S. 92,28–35) und deren anschließende Selbstnennung ist möglich, wobei es sogar zu einer namentlichen Verzahnung zweier Rollen kommen kann:30 Hainz von Trewetzen (S. 92,28) identifiziert sich zu Beginn seiner Rede (S. 93,3: Ich kam gen Trebetzen gezogen), nennt dann am Redeschluß den Namen seines Nachredners Kunz von Tramin (S. 92,29), der zu Beginn seiner Rede wiederum seinen Vorredner namentlich anspricht (S. 93,9–12):31 Kunz von Tramin an der Metzschzen Wilt du fladen essen zu Trebezschzen? Ich Cunz von Tramin an der Mezschzen Ich weiß dir, Heinz von Trebezschzen, Zu Tramin an der Metzschz ein maier.

Das Anreden anderer Personen im Redetext weist zugleich auf eine andere Form der Rollenidentifizierung im Spiel hin, die auch ohne vorausgehende Vorstellung etwa durch einen precursor funktioniert. So fordert beispielsweise im Spiel ›Von dem einliften finger‹ (K 18) ein Sprecher vor dem Handlungsbeginn Richter und Schöffen (übrigens stumme Rollen) auf, Platz zu nehmen: Richter und schopfen, ir solt sitzen / Und hort uns zu mit klugen witzen, / Was man vor euch hie haben zu klagen (S. 154,20–22). Dialoge dieser Art wurde von den Spielern wohl durch entsprechende Gesten unterstrichen, die hier wie sonst meistens nicht mehr rekonstruiert werden können. Umso wichtiger ist es daher, in der Kommentierung auch auf F i g u r e n b e w e g u n g e n 32 hinzuweisen, die sich über die Regieangaben hinaus aus den Texten ergeben. Die Berechtigung eines solchen Verfahrens lässt sich durch Aktionen sichern, für die es auf beiden Textebenen Belege gibt. Das trifft insbesondere auf die – zur Freude des Publikums – inszenierten Raufereien und Prügelszenen zu, die in der Regel zur Unterbrechung der Reden führten. Ein Beispiel für eine entsprechende Regieanweisung 29

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Auf Improvisationen anderer Art verweist das Spiel ›Vom Dreck‹ (K 23): Dort werden die pauren einleitend mit Namen vorgestellt (S. 211,26–212,2), dann aber zusätzlich vor Beginn ihrer Reden nochmals mit Namen genannt (z. B. S. 212,18: nu ruft er dem Affenschwanz), wobei jedoch unklar bleibt, ob sich das rufen auf eine Geste beschränkt oder ob dabei die jeweilige Figur in freier Rede nochmals mit Namen angesprochen wird. Für die erneute Namensnennung spricht das Auftreten des Arztes herr Gutzindiekrausen (S. 215,15), der im Gegensatz zu seinen drei Kollegen (S. 214,21f.) zuvor nicht namentlich eingeführt wurde und der sich auch nicht selbst mit seinem Namen vorstellt. Vgl. hierzu wie insgesamt zur Figurenidentifizierung durch Namen, Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 144–147. Wie öfters fehlen in diesem Spiel Regieangaben und Rollenbezeichnungen. Kaum ergiebig sind die wenigen Hinweise bei Merkel [Anm. 7], S. 130–134.

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liefert das Spiel K 3, in dem der erst paur (S. 43,34) seine Rede mit dem Reimpaar beschließt: So mag ichs lenger nit vertragen, / Ich muß ir darumb den palk vol schlagen (S. 44,6f.). Darauf folgt die Anweisung: Itzund slecht der erst paur sein weib und kumpt ein ander paur und scheidt (S. 44,9), wobei dieser seine nachfolgende Rede mit einem neuen Reimpaar beginnt.33 Die Komik solcher Aktionen kann noch gesteigert werden, wenn sie – wie im ›Paurenspil mit einem posem altem weib‹ (K 4) – den stichomythischen Dialog unterbrechen (S. 50,7–10):34 DAS WEIB: Nein, narr, ich will dich anders stillen. DAS WEIB WIRFT DEN PAUREN NIDER UND SCHLECHT IN, DAS ER ALSO SCHREIT:

O helft, lieben freunt, pox leichnams willen!

Was sich hier durch Regieanweisungen belegen lässt, kann in anderen Spielen aus den Redetexten erschlossen werden, so im Spiel ›Der Waldbruder‹ (K 2), in dem sich der waldbruder und ein paur wohl einen nicht nur verbalen, zwischen Stichomythie und Stichreim wechselnden Schlagabtausch liefern (S. 37,8–38,22), der schließlich in eine aggressive Reimpaarrede des pauren (Rollenangabe) mündet, an die sich offensichtlich eine handfeste Rangelei anschloss; denn der paur (erneute Rollenangabe) fährt danach friedenstiftend fort: Wach auf, frid! Der krieg ist auß (S. 39,2). Häufige Bewegungsabläufe in den Fastnachtspielen sind weiterhin Tänze,35 die im ›Morischgentanz‹ (K 14)36 und in den Spielen ›Der alt hannentanz‹ (K 67) bzw. ›Der kurz hannentanz‹ (K 89)37 sogar die Titel prägten. Dabei wäre in den Kommentaren grundsätzlich zu unterscheiden, ob es sich – obwohl ans Ende des Spiels gelegt – um eine Tanzeinlage im Spiel handelt wie etwa in K 59 (›Von junkfraun und gesellen‹), in dem sich die alt fettel zu einem Solotanz anfeuert (S. 522,9–12):38 Schlah auf, laß uns tanzen und springen! Zwen lang tutten laß ich her schwingen, Wil ich heur eim schefer geben, Sie werden zuo einer sackpfeifen eben.

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Die gleiche Struktur findet sich kurz danach, wenn es heißt: Do schlecht die frau den man und ein paur schaidt und spricht (S. 45,27). Vgl. auch S. 50,23–26; Aktionen nach einer mit Reimpaar abgeschlossenen Rede finden sich dagegen S. 51,19–24 und S. 52,10–14. Zu ihren unterschiedlichen Funktionen vgl. Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 164– 198. In diesem Spiel finden sich allerdings keine Hinweise darauf, dass in ihm wirklich getanzt wurde. Allerdings beruht die Auffassung von Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 179, das Spiel sei an die Stelle eines 1487 vom Rat verbotenen Moriskentanzes getreten, auf einer falschen Information, denn am 3. Februar 1487 wurde vom Rat vielmehr erbern jungen gesellen gestattet, in vasnacht kleidern in gestalt der Morn zu vasnacht in Rott weyse ze lauffen und Reimen zu gebrauchen; vgl. Simon [Anm. 9], S. 429. Bei beiden Spielen gibt es im Text Hinweise, dass in ihnen tatsächlich getanzt wurde; vgl. Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 171 Anm. 1. Ebd., S. 172f.; vgl. auch S. 738,30–34 im Spiel ›Di jung rott vasnacht‹ (K 95).

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Oder ob ein Schlusstanz die Spielwirklichkeit aufbricht und wieder in die Alltagsrealität hinüberleitet wie am Schluss des Spiels K 5, in dem ein paur offensichtlich zu einem allgemeinen Tanz auffordert (S. 57,28–31):39 Und laßt uns dafür ein reien tanzen Und mit den frauen gar seuberlich umbher swanzen! Pfeif auf, spilman! Der erst rei ist mein, Und spring daher mit einer junkfraun fein.

Natürlich erschöpfen sich die Figurenbewegungen in den Fastnachtspielen keinesfalls in Prügelszenen und in Tänzen, sie leben vielmehr neben dem Wortvortrag von Aktionen, mit denen sie ihr Thema anschaulich vor Augen führen und damit die Komik steigern können. Zwar reizt etwa im Spiel ›Von fursten und herren‹ (K 17) bereits die Forderung der konigin zum Lachen, der verliebte Aristoteles solle ihr als Reittier dienen (S. 150,5–10): Meister, des kan ich kaum erpeiten, Ich muß ein mol vor auf euch reiten, Damit so mert sich unser begir. Fallet nider pald auf alle vier So werd wir baide freuden vol; So thu ich darnach was ich sol.

Wenn aber zwischen diesen und den nachfolgenden Versen die provozierende Forderung auch in die Tat umgesetzt wird, steigert dies unweigerlich das Gelächter (S. 150,11–14): Hau drein, mein liebes gemperlein [‘Rößlein’40]! Nie kluger ros die sunne beschein. Ich reit doher auf meinem ros; Her konig, secht zu dort auf dem schloß!41

Aber auch einfacher strukturierte Spiele wie beispielsweise K 26, in dem die konigin die Narren ins Narrenseil einknüpft, lassen verschiedene Aktionen erkennen, in denen sich das Spiel vor den feixenden Zuschauern realisiert. Das zeigt gleich die erste Rede der konigin, die als diejenige auf dem esel (S. 228,14) eingeführt wird: Sie zeigt ihren strick und mustert die Spielrotte, bis sie mit einem, der der leut gar gern spot, so intensiv Blickkontakt aufnimmt, dass er sich daraufhin (S. 228,21–27) zu einer Verteidigungsrede gezwungen sieht (S. 228,15–20): Ich spur ein unter diser rot Und der der leut gar gern spot Und maint doch, im sei niemant gleich. Mit warheit darumb ich in zeih,

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Vgl. dazu Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 183f. gemperlein kann aber auch die Bedeutung ‘kleiner Penis’ haben. Um die richtige Perspektive zu haben, nahm konig Soldan (S. 150,15) vielleicht sogar einen erhöhten Platz (etwa Stuhl, Bank oder Tisch) ein.

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Das er wol gehor an diesen strick. Nembt war, wie gibt er mir ein plick!

Im ›Paurenspil mit einem posem altem Weib‹ (K 4) prügelt die Ehefrau ihren Mann nicht nur (s. S. 392), dieser flieht danach mit seinem freunt unter eine Bank: Die zwen pauren fliehen unter die pank und das weib erwischt den ersten pauren (S. 50,24f.). Nach einem heftigen Disput mit ihrem Ehemann lest in das weib aufsteen und der ander steckt unter der penk (S. 51,21) und schreit (S. 51,30). Erst als der Ehemann seine Frau besänftigt hat, schleift er herfur und das weib spricht zu im (S. 52,12). Im Spiel ›Die frauenschender‹ (K 87) ziehen sich die Frauen mit ihrem fürsprech (S. 704,19) zurück, um ihn über ihre Klage vor Gericht zu informieren (S. 704,26– 705,4): Herr Fridrich, sprecht unser wort Und geet mit uns auf ain ort, So woll wir euch erzelen und sagen, Was wir an disem rechten haben zu clagen, Oder warümb wir sein kumen zu gericht. Ain ernstlich sach uns frauen gepricht.

Es kommt zu Abgängen (durch die Stubentür) und zu (erneuten) Auftritten von Figuren wie im Spiel ›Vom Bauern und dem Bock‹ (K 46): Der paur zieht mit dem Bock ab (S. 353,6–9): Den pock will ich an ein rebsail schnüren Und will in iez mit mir heim füeren Und will sein warten getreulich und eben Und will in euch uber acht wochen wider geben.

Dann tritt die frau an den Junkherr Dietrich von Turnau (S. 353,10f.) heran, um mit ihm eine Wette auf die Wahrheitsliebe des pauren abzuschließen. Danach geht auch sie ab, um den pauren zu Fall zu bringen (S. 354,3–5): Ich will in vahen in meinen stricken / Mit sachen, die ich mir han für genommen, / Und wil gar schier zuo euch kommen. Um diese Zeit zu überbrücken, diskutiert der edelman mit seinen herren darüber, ob es der frau gelingen werde, den pauren zu betören (S. 354,7–355,21). Im Anschluss daran tritt zuerst wieder die frau (S. 355,23) und nach deren Rede wiederum der paur auf (nach S. 356,3).42 Zur Beförderung der Aktionen dienen nicht selten R e q u i s i t e n ,43 die immer wieder auch zum Lachen animierten: so wenn im eben genannten Spiel K 46 der paur tat42

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Vgl. die implizite Regieangabe in der Rede der frau (S. 355,27–29): Ich han mich nit lang bei im gespart, / Er kombt auch iez auf der vart, / Wann ich allererst von im gee. Zu solchen Bewegungsabläufen im Spiel von ›König Salomon und Markolf‹ (K 60) vgl. Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], u. a. S. 95–97. Vgl. dazu einige Hinweise bei Merkel [Anm. 9], S. 95–106. Der Gebrauch von Requisiten war nach Ausweis der Texte doch häufiger, als Simon [Anm. 9], S. 312f. anzunehmen scheint; vgl. auch Catholy, Fastnachtspiel 1966 [Anm. 6], S. 20: »man benötigte nur selten Requisiten«.

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sächlich mit einem pock in der Stube erschien oder wenn im Spiel ›Von kuchinspeis‹ (K 49) acht Marktfrauen44 mit ihren Waren (entsprechend der Alltagswirklichkeit u. a. mit zwifal, linsen, ruoben und kraut; S. 368,6) im kretzen auftreten und damit ihre ‘Verkaufsgespräche’ mit männlichen Kunden führen. Lachen löste wohl auch aus, wenn der als Abt verkleidete Müller im Spiel ›Von einem keiser und eim apt‹ (K 22) ‘herrschaftlich’ vor den Kaiser gefahren wird: Nu sitzt der mulner auf das wegenlein, so ziehen in die pauren in die stuben fur den keiser (S. 207,1f.), wenn den Königen im Spiel ›Mit der kron‹ (K 80) die Krone, die nur denen paßt, die ir eer nicht haben verlorn (S. 655,30), an den hals (S. 660,10) rutscht und andererseits den Königinnen im Spiel ›Der Luneten Mantel‹ (K 81) vergleichbare Schande widerfährt.45 Besonders deftig ging es – um die knappe Beispielreihe für den Gebrauch von Requisiten abzuschließen – in den beliebten Arztspielen zu. Hier war das harmglas als Standardutensil häufig so zu präparieren, dass es wie im Spiel ›Von einem arzt und einem kranken paur‹ (K 6) dem dort mit einer Brille (S. 63,14) bewehrten maister Viviam eine unerfreuliche Überraschung bescherte (S. 63,23–64,1): MEDICUS: Pfei, ir rotzigen pauren, Sol ich euch eur krankheit beschauren, Und hab mich des saichprunnens ser geflißen, So habt ir mir in das glas geschißen. EIN PAUR:

Lieber meister Viviam, Eur weißickeit seh den harm paß an! Er ist so dick von natur, Ich furcht, er hab die roten rur. War umb solt wir uns fleißen Und euch in das glas scheißen?

Der Höhepunkt der Fäkalkomik scheint allerdings mit dem Spiel ›Vom Dreck‹ (K 23) erreicht worden zu sein, bei dem ein gewaltiger kunter (S. 211,5)46 im Mittelpunkt 44

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Von Blosen u. Pors, [Anm. 8], S. 18 nicht aufgeführt. Leider ist dies kein vereinzelter Fehler in diesem nützlichen Verzeichnis, das sich nur auf »die Angaben der Rubriken und der Überschriften stützt« (S. 9). Eine entsetzliche Rolle spielen Requisiten in Folzens Spiel ›Der Herzog von Burgund‹ (K 20), wenn sich die Juden unter die Sau und ihr Messias unter den zagel (S. 186,14) legen müssen (die abscheuliche Szene reicht bis S. 188,25f.: Nu pindet in die plasen [‘Saublase’] an, / Mit im zum tor auß und darvan!). Christoph Gerhardt, Grobianische Diätetik. Zu den sieben größten Freuden in Rede, Lied und Priamel sowie zu dem Fastnachtspiel ›Das Ungetüm‹, Trier 2007 (Kleine Reihe. Literatur−Kultur− Sprache 3) hat dem Spiel eine ausführliche medizingeschichtliche Studie gewidmet (S. 65–84) gewidmet und den kunter mit ikonographischen Verweisen wie folgt beschrieben: »Das Bühnenrequisit, der eines Gargantua würdige Kothaufen selbst, betont Natur gemäß die fäkalische Komik, oberflächlich gesehen fernab jeglicher erotisch-sexuellen Komponente. Er wird so ausgesehen haben, wie man ihn aus den bildlichen Darstellungen des Veilchen-Schwankes und anderen Illustrationen kennt: Ein kegelartig geformter Haufen mit einer zipfelmützenartig gedrehten Spitze, von dem man sich nicht recht vorstellen kann,

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einer ausführlichen, aber erfolglosen Koproskopie stand, bis ihn der vater diss drecks (S. 216,21) verwundert aufhebt (S. 216,17). Damit wird die Existenz dieses Requisits nicht nur bezeugt, es wird im Vorgang des Anfassens zugleich zum Anlass eines allgemeinen Lachens, das sicher geringer gewesen wäre, wenn man über den kunter nur gesprochen oder wenn man es dabei belassen hätte, dass zum Beginn des Spiels einer die deck vom dreck hebt (S. 211,16). Ein mediengerechter Kommentar sollte sich schließlich auch nicht auf pauschale Hinweise zum Gebrauch des S t i c h r e i m s und der S t i c h o m y t h i e in den Spielen beschränken, sondern die unterschiedlichen Funktionen bei der Verwendung dieser Gestaltungsmittel notieren. Damit kann ja nicht nur der Redefluss beschleunigt werden, mit einer inszenierten Pause vor dem antwortenden Reim lassen sich wiederum komische Effekte erzielen, und es kann damit den Zuschauern auch Zeit zum Lachen eingeräumt werden,47 das sich auch dadurch evozieren lässt, wenn man – wie im Spiel K 4 (s. S. 392) – zwischen die Stichomythie eine Aktion (hier eine Prügelei) einschob.48 Um es nicht bei einzelnen Beispielen zu belassen, soll zum Abschluss ein ganzes Spiel nach den verwendeten Mitteln zur szenischen Gestaltung befragt werden. Gewählt habe ich dafür das Stück › Vo n e i m t h u m h e r r n u n d e i n e r k u p l e r i n ‹ (K 37), weil sich daran eine Vielzahl der genannten Aspekte anschaulich illustrieren lässt.49 Ein erster szenischer Hinweis erfolgt gleich in der spieleröffnenden Rede (S. 227,4– 13) des precursor, der wie üblich zunächst den wirt begrüßt, dann aber für die gespannt wartenden Zuschauer – geschickt die Standesdifferenz nutzend – gleich als erste Figur einen Domherrn auftreten lässt: Hie kumpt von Banberg auß dem stift / Unsers herrn bischofs sigler her (S. 277,7f.). Wie sich im weiteren Verlauf des Spiels bestätigt, war der Domherr entsprechend kostümiert und trug seine Utensilien zum Siegeln bei sich (s. u.). Eine erste komische Situation entsteht dadurch, dass sich nicht ehrbare Klienten zur Beurkundung einstellen (S. 277,11f.: Ob iemant hie zu sigeln het, / Der wird sich fugen wol herein), sondern ausgerechnet eine kupplerin, die den Domherrn ohne weitere Umstände vertraulich zur Seite nimmt: Mein herr, get mit mir auf einen ort! / Ich redet mit euch gar gern ein wort (S. 22,15f.). Sie ist nicht nur durch ihre Rede (S. 277,15–278,4) als Kupplerin zu erkennen, sondern zeigt sich in der typusgerechten Kostümierung als altes weip (S. 278,6). Zwischen Domherrn und Kupplerin entwickelt sich nach ihrem frivolen Angebot eines amourösen Abenteuers

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dass er beim Publikum starke Ekelgefühle hervorgerufen hat; eher großes Gelächter« (S. 56f.). Der medizinische Hintergrund des Spiels wie die Figurennamen sprechen tatsächlich für Hans Folz als Autor dieses Spiels; vgl. Gerhardts Plädoyer S. 75f. Anm. 135. Vgl. etwa Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 84. Vgl. die Hinweise bei Catholy, Fastnachtspiel 1961 [Anm. 6], S. 71–74, 150–153 u. ö. (siehe Register). Einige Hinweise gibt Günter Marwedel in 2VL Bd. 2, 1980, Sp. 185f.

Performanz und Rezeption

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ein heftiger Disput in Stichreimen (S. 278,6–18), der mit dem stichomythischen Vers der kupplerin endet: Ja, lieber herr, pald bring ich sie (S. 278,18). Der dafür notwendige Abgang der kupplerin ist nur aus dem weiteren Spielverlauf zu erschließen; eine Regieangabe fehlt dafür (was im Kommentar zu verbuchen wäre). Um die Zeit bis zum angekündigten Rendezvous spieltechnisch zu überbrücken, wird nun eine Zwischenszene eingeschoben (S. 278,19–279,4), in welcher der thumherrnknecht und ein pot (S. 278,19) – beide treten offenkundig erst jetzt auf – den Domherrn, dessen Sinn bereits ganz auf das amouröse Abenteuer gerichtet ist, dazu drängen, schnell einen Brief zu siegeln, was dieser verärgert fluchend in des teufels namen erledigt: Kundt euch der teufel nit ee her bringen? / Ich hett zu schaffen mit andern dingen (S. 279,3f.). Die Stichreimtechnik des Disputs unterstreicht die Störung, die der Domherr angesichts des unmittelbar bevorstehenden Rendezvous empfindet, wie das Drängen des Bittstellers, der nach Erfüllung seines Wunsches offenkundig wieder mit dem Knecht des Domherrn abtritt; Zeugen für das despektierliche Vorhaben des hohen Geistlichen wären fehl am Platz. Die Zeitspanne für den Abgang seiner beiden Störenfriede könnte er mit dem Zusammenräumen der Siegelutensilien ausgefüllt haben. Danach verlässt auch er (durch die Stubentür) die Spielfläche, um sich seiner geistlichen Gewänder zu entledigen und um weltliche Kleider anzulegen, in denen er sich sorglos dem Stelldichein widmen kann: Thumher get auß und tut den langen mantel ab, als sei er der frau man (S. 279,5f.).50 Die nunmehr leere Spielfläche betritt jetzt (wohl wieder durch die Stubentür) die Kupplerin mit der Frau, die sie mit schmeichlerischen Worten und auch mit einem Geschenk (S. 279,19: Die ring von gold wegen ein mark) zu dem Treffen mit einem schonen herrn (S. 279,7) überreden möchte. Tatsächlich will die Frau dessen von der Kupplerin beschworene Liebesnot lindern, hat aber Bedenken: Wurd es nit innen mein elich man / Und das es mocht verschwigen beleiben (S. 279,29f.). Mit Stichreim fällt ihr die Kupplerin ins Wort und beschwichtigt sie (S. 279,32–34): Schweigt, frau! Ich tetß mein lebtag treiben, Das niemant kam darauß kein wort. Ich pring in pald her auf ein ort.

Damit ist – wie bei der Parallelstelle S. 278,18 mit dem Domherrn (s. o.) – wieder ein Szenenwechsel verknüpft: Nu lauft die kupplerin und sucht den thumherrn und fand sein nit pald (S. 280,1). Auch dabei tritt die Kupplerin ab. Dies eröffnet wiederum die Gelegenheit für eine Zwischenszene, in der die Frau unruhig hin und her gegangen sein und einen Mantel (vgl. S. 280,28) zum Empfang ihres Galans angelegt haben

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Die Abwesenheit des Domherrn während des anschließenden Gesprächs der Kupplerin mit der Ehefrau unterstreicht noch eine weitere Regieangabe: Die weil ist der thumherr daussen, so spricht die frau zu der kuplerin (S. 279,23). Durch das Verlassen der Spielfläche wird zugleich die Voraussetzung dafür geschaffen, dass dieser Spieler – in seiner Doppelrolle das komische Verwirrspiel steigernd – am Schluss als Ehemann der Frau auftritt, die nicht ihn, sondern den avisierten Domherrn erwartet.

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mag,51 bis sie schließlich ihre mait Els auffordert,52 aus dem Fenster (der Stube) zu schauen53 (S. 280,3–5): Mait Els, ge, sich zum fenster auß! Wo ist die alt so lang neurt auß? Des thumherrn54 sie villeicht nit finden kan.

Stichomythisch fällt ihr die Magd erschrocken ins Wort: O frau, sie bringt furwar euren man (S. 280,7). Die entsetzte Ehefrau meint, ihr Mann stehe mit der Kupplerin unter einer Decke, um sie der Untreue zu überführen (S. 280,9–14). Doch die Magd kann ihre Herrin beruhigen: Die Kupplerin bringe nur deswegen den nichtsahnenden Ehemann herein, weil sie den Domherrn immer noch nicht gefunden habe (hier liegt also mit der weiterhin suchenden Kupplerin [vgl. 280,17] eine simultan gespielte Parallelhandlung vor). Listig schlägt die Magd ihrer Herrin vor, diese Situation auszunützen, ihren Mantel abzulegen, dem Ehemann zorniklich entgegenzulaufen und ihn Mit krellen, schlahen und mit raufen (S. 280,29f.) zu traktieren. Der mit Stichreim geführte Disput zwischen Herrin und Magd endet wiederum stichomythisch mit dem Befehl der frau: So schweig und laß sie einher kumen! (S. 281,1f.) Dieses Hereinkommen (durch die Stubentüre) war ganz offenkundig auf eine Verblüffung des Publikums hin angelegt; denn der Darsteller des Domherrn trat nun in der Rolle des Ehemanns auf: Do kumt der thumher in gestalt der frau man (S. 281,3). Über die literarische Vorlage (vgl. Anm. 51) hinausgehend, wird damit die Komik des Verwirrspiels zur Belustigung der Zuschauer (denen ja die dazu vorausweisende Regieangabe S. 279,5f. nicht bekannt war) auf die Spitze getrieben: Im identischen Spieler begegnen der Frau – und zur Verblüffung des Publikums – sowohl der angekündigte Liebhaber als auch der eigene Ehemann. Er wird von seiner Ehefrau zeternd empfangen, wobei sie zugleich geschickt von sich ablenkt und auf eine angeblich hur ihres Mannes verweist, die noch kommen werde (S. 281,5–13): Du hurnschalk, du kumst mir doch, Ich pin dir lang geschloffen noch. Du wilt sein albeg han kein wort.55 51

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In der literarischen Quelle des Spiels (Der arme Konrad: ›Frau Metze‹) trug die Frau den Mantel, weil das Rendezvous im Haus der Kupplerin stattfinden sollte (vgl. Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts, 1. Band hg. v. Heinrich Niewöhner, 2. Aufl. hg. v. Werner Simon, Dublin/Zürich 1967 [= NGA2], V. 236– 241; 387). Diese tritt entweder erst jetzt auf Zuruf ihrer Herrin auf oder sie war bereits in deren Begleitung, als die Kupplerin sie ansprach. Für Letzteres spricht, dass die Magd den Auftrag sofort versteht und die anschließende Komplikation gleich durchschaut. Was diese auch macht: Die meit sicht zum fenster auß, dicit (S. 280,6). Da die Kupplerin den Stand des Liebhabers verschwiegen hatte, liegt hier entweder ein Versehen des Autors vor oder es handelt sich um eine Reminiszenz der literarischen Quelle (vgl. Anm. 51), in der die Frau weiß, mit wem sie sich einlässt (vgl. NGA2 I, S. 76: V. 208– 211). ‘Du selbst verlierst darüber (über deine Hurerei) kein Wort’.

Performanz und Rezeption

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Tet ichß, von dir wurd ich ermort. Nu hilf mir, meit! Es gilt sein leben Du pist mir auf der hurerei hie eben. Ich will dich reißen, krellen und grimmen. Peit, wann dein hur hernach wirt kumen, So muß es euch an das leben gan.

Mit Stichreimanschluß entzieht sich der Mann den (realen oder nur angedrohten) Attacken seiner Frau mit einer lahmen Ausrede (S. 281,15–19): Mein liebes weip, nu laß davon, Wann ich es vor nie mer getett, Das alt weip mich sein uberrett, Und west nit, wer mein pul solt sein, Und ging auf ire wort herein.

Während dieses Disputs wird die Kupplerin wiederum in einer simultanen Handlung von der Magd verprügelt (S. 281,20: Die weil hat die meit die kupplerin geslagen): einerseits, um weitere Komplikationen gleich im Keim zu ersticken, andererseits, um die Schuld ganz auf die Kupplerin und den Ehemann zu lenken. Dieser fällt auch prompt auf das geschickte Manöver herein: So spricht der eman zu der kupplerin und greint den reimen und schlechts zu letz (S. 281,20f.). Inmitten dieser Auseinandersetzung ist plötzlich auch wieder des thumherrn knecht (S. 281,30) zur Stelle. Er nimmt die alten huren (S. 281,31) vor den Schlägen in Schutz und gibt dem Ehemann die Schuld an diesem Eklat (S. 281,32: Laß dich kein kupplerin anfuren),56 um dann unvermittelt zu einem Schlusstanz aufzurufen: Pauker, du solt ein tanz uns machen (S. 281,34). Erst danach tritt er nochmals als außschreier (S. 282,3) auf, wobei er die Absicht des Spiels explizit nennt (S. 282,7f.): Neur das wir euch ein guten mut Mochten machen, was unser sind hir in.

Das Spiel K 37 zeigt in seiner differenzierten Ausformung besonders anschaulich, wie sehr ein Stück von den szenischen Gestaltungsmitteln bestimmt wird und wie notwendig es ist, sie in der Kommentierung gebührend herauszustellen – auch wenn die 56

Woher des thumherrn knecht die Zusammenhänge kennt, bleibt im Spiel offen. Simon hat aus dieser Stelle gefolgert, dass Domherr und Ehemann nicht von einem Darsteller in einer Doppelrolle gespielt wurden; und er folgert weiter: »Was hätte dieser [nämlich der Knecht des Domherrn] schon im Haus der Frau zu suchen, wenn nicht einmal sein Herr sich dort befindet? Dieser Umstand schließt nahezu aus, dass der Schreiber durch seine szenischen Anweisungen nur die Übernahme zweier Hauptrollen (Siegler und Ehemann) durch einen Spieler andeuten wollte. Dann aber stammen die Regieanweisungen auch in diesem späten Spiel von einer anderen Hand als der Text. Denn der Text lässt kaum einen Zweifel daran, dass wir es mit dem Ehemann selbst zu tun haben (und nicht mit einem Domherrn in seinen Kleidern). Die Rede V. 110ff. (K 37, S. 281,15ff.) ist nur aus seinem Mund verständlich«; vgl. Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik), Lübeck/Hamburg 1970 (Germanische Studien 240), S. 32. Dieser Argumentation kann ich mich nicht anschließen, da ich zwischen Regieanweisungen und Text keinen Bruch sehe, der in diesem Fall zu so weitreichenden Folgerungen berechtigte.

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Ergebnisse bei anderen Spielen in der Regel bescheidener ausfallen oder uns bei der Frage nach ihrer Inszenierung sogar ganz im Stich lassen. Bei der praktischen Umsetzung wird man allerdings ein Modell finden müssen, das den Rahmen eines Einzelkommentars nicht sprengt.57 Denkbar ist, dass man in den einzelnen Spielkommentaren unter einem obligatorischen Punkt ‘Performanz’ normiert auf Kostüme, Requisiten, Figurenbewegungen, Reimtechnik etc. als Mittel zur Gestaltung theaterbezogener ‘szenischer Vorgänge’58 hinweist und darauf in den Stellenkommentaren noch einmal darauf Bezug nimmt. Eine erweiterte Form wäre, bei elaborierteren Spielen (wie K 37) ausführlich und paradigmatisch die Performanz zu dokumentieren und in der Gesamteinleitung zum Kommentarteil der Edition (aber auch bei Entsprechungen in den anderen, für die Performanz weniger ergiebigen Spielen) darauf zu verweisen. Wie man auch immer entscheiden wird: Bereits die wenigen ausgewählten Beispiele fordern m. E. unabweislich eine Berücksichtigung des Gesichtspunkts ‘Performanz’ bei der Kommentierung (nicht nur) von Fastnachtspielen. Nicht zuletzt wird auf diese Weise ein angemessenes Verständnis für die Rezeptionsmöglichkeiten, für die spezifische Komik und für mögliche Publikumsreaktionen dieser Spiele grundgelegt, obwohl sie uns nur als Textaufzeichnungen vorliegen. Die in Arbeit befindliche Neuedition Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts bietet die Chance, dafür vorbildlich und wegweisend zu wirken.

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Zur Begründung des Verfahrens war im gewählten Beispiel eine Diskursivität erforderlich, die bei der Kommentierung zur Edition erheblich gerafft werden kann und muss. Vgl. zu diesem Begriff Andreas Kotte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln [usw.] 2005, passim.

KOMPARATISTISCHE ASPEKTE

Bart Ramakers

Die niederländische Posse Methoden und Effekte*

Überlieferung Für den niederländischen Sprachraum sind aus dem Spätmittelalter und der Rederijkerzeit mehrere Dutzend komischer Spiele erhalten. Es geht um mehr als siebzig, und der größte Teil stammt aus dem 16. Jahrhundert.1 Zeitgenössische Bezeichnungen für diese Spielgattung sind sotternie (in der Hulthemschen Handschrift um 1400), cluijt (ähnlich der modern-niederländischen Bezeichnung ‘klucht’) oder esbatement (nach dem gleichlautenden französischen Begriff). Als deutsches Äquivalent käme der Terminus ‘Schwank’ oder ‘Posse’ in Frage. Diese Stücke sind das, was man im Deutschen ‘Handlungsspiele’ nennt: Stücke, in denen die Figuren miteinander kommunizieren und in denen sich ein differenziertes Spielgeschehen entwickelt, eine komische Intrige. Ihr Umfang beträgt zweihundert bis fünfhundert Zeilen. Außer den vier sotterniee¨n in der Hulthemschen Handschrift,2 die zum Repertoire professioneller Wandertruppen gehören und die drinnen aufgeführt wurden, stammen alle Possen direkt oder indirekt aus dem Besitz von Rederijkerkammern.3 Das waren lokale literarische Gesellschaften, die sich ab der Mitte des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in den Städten und Dörfern in Flandern, Brabant, Holland und Seeland dem Schreiben, Vortragen und Aufführen von Poesie und Theater verschrieben hatten. Das geschah in der * Dieser Beitrag basiert auf der Einführung einer Edition von drei niederländischen Possen, die kürzlich erschienen ist. Wie es das Konzept der Reihe vorsieht, in der sie publiziert wurde, besteht sie aus einer von mir erstellten kritischen Ausgabe und einer modernen, literarischen, und genau wie die Originaltexte gereimten Übersetzung des Dichters und Autoren Karel Eykman: List en bedrog. Drie rederijkerskluchten, hg. v. Bart Ramakers u. Karel Eykman, Amsterdam 2008. Der Autor dankt Judith Keßler (Kleve) für ihre Übersetzung. 1 Bart A. M. Ramakers, Das niederländische Schauspiel des Mittelalters und der RederijkerZeit. Forschungsstand und Perspektive, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters, Tübingen 2004, S. 9–29, hier S. 28–29. 2 Ramakers, Schauspiel [Anm. 1], S. 16–17; Hans van Dijk, The drama texts in the Van Hulthem manuscript, in: Eric Kooper (Hg.), Medieval Dutch literature in its European context, Cambridge 1994 (Cambridge Studies in Medieval Literature 21), S. 283–296. 3 Ramakers, Schauspiel [Anm. 1], S. 24–25. Zur Literatur und Kultur der Rederijker vgl. Bart Ramakers (Hg.), Conformisten en rebellen. Rederijkerscultuur in de Nederlanden 1400– 1650, Amsterdam 2003; Arjan van Dixhoorn, Lustige geesten. Rederijkers en hun kamers in het publieke leven van de Noordelijke Nederlanden in de vijftiende, zestiende en zeventiende eeuw, Amsterdam 2004; Anne-Laure Van Bruaene, Om beters wille. Rederijkerskamers en de stedelijke cultuur in de Zuidelijke Nederlanden (1400–1650), Amsterdam 2008.

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Öffentlichkeit, also auf dem Markt oder auf der Straße, und im Auftrag, unter Aufsicht und mit finanzieller Unterstützung der Stadtoberen. Etwa dreißig der erhaltenen niederländischen Possen sind Teil der Spielsammlung der Haarlemer Rederijkerkammer ‘Trou Moet Blijcken’.4 Am Beispiel von zwei Spielen aus diesem um 1600 entstandenen, aber aus Stücken aus dem ganzen 16. Jahrhundert und teilweise aus anderen Teilen der Niederlanden zusammengestellten Korpus, und einem Spiel aus Antwerpen sollen in diesem Beitrag der Forschungsstand und die Forschungsmöglichkeiten bezüglich der niederländischen Posse erörtert werden. Haarlem Am Pfingstsonntag 1590, so melden die städtischen Rechnungen, führte die Haarlemer Rederijkerkammer ‘Trou Moet Blijcken’ ein biblisches Theaterstück auf, das eine Geschichte aus dem zweiten Buch der Makkabäer behandelte.5 Thema waren der Martertod des Schriftgelehrten Eleasar aus Kapitel 6 und der von sieben Brüdern und ihrer Mutter aus Kapitel 7: ein grausames Spektakel, mit dem dem Publikum ein leuchtendes Beispiel an Standhaftigkeit im Glauben auch unter fremden, heidnischen Machthabern geboten wurde. Wenn solche Machtverhältnisse skizziert wurden, müssen die protestantischen Haarlemer unweigerlich an die katholischen Spanier gedacht haben, die vom Süden her die Macht und den Glauben ihres Königs Philipp II. in Holland wiederherzustellen versuchten. Die Tradition schrieb vor, dass nach so einem ernsten Spiel ein komisches Theaterstück aufgeführt werden musste, wie um es zu versüßen. 1590 war das die Posse ›De Dove Bitster‹ (›Die taube Leichenbitterin‹),6 die ebenfalls im Süden entstanden war, nämlich im flämischen Dendermonde. Dort wird das Spiel wohl auch zum ersten Mal aufgeführt worden sein. Anscheinend war die Haarlemer Kammer irgendwann in den Besitz einer Kopie gekommen, so wie es auch bei anderen Spielen, sowohl 4

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Wim N. M. Hüsken, Bart A. M. Ramakers u. Frans A. M. Schaars (Hgg.), Trou Moet Blijcken. Bronnenuitgave van de boeken der Haarlemse rederijkerskamer ‘de Pellicanisten’, 8 Bde., Assen-Slingenberg 1992–1998; Bart Ramakers, Allegorisch-emblematische Bildlichkeit im Rederijker-drama. Die Spiele des Haarlemers Louris Jansz, in: Christel Meier, Hans Meyer u. Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496: 4), S. 191–213, hier S. 210–211. Willem M. H. Hummelen, Repertorium van het rederijkersdrama, 1500 – ca. 1620, Assen 1968, Nr. 1OA3 (›De Machabeen‹); Fabian C. van Boheemen u. Theo C. J. van der Heijden (Hgg.), Retoricaal Memoriaal. Bronnen voor de geschiedenis van de Hollandse rederijkerskamers van de middeleeuwen tot het begin van de achttiende eeuw, Delft 1999, S. 369. Hummelen [Anm. 5], Nr. 1OG9. In der Handschrift wird das Spiel nach einer Figur aus dem Prolog benannt. In der Haarlemer Rechnung von 1590 besteht der Titel aber aus den Namen zweier Figuren aus dem Spiel selbst: ›Blinde Faes en Aechtgen Schoontooch‹ (›Blinder Faes und Aechtgen Schönerschein‹); van Boheemen u. van der Heijden [Anm. 5], S. 369. Für eine moderne Ausgabe: Saskia Hutten (Hg.), De Dove Bitster. Een rederijkersklucht uit de collectie van ‘Trou moet Blijcken’, Groningen 2000.

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ernsten als komischen, vorgekommen war, dass die Kammer Abschriften besaß, die irgendwo anders in den Niederlanden entstanden waren. Einige der Spiele stammen bereits aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Ob das auch für ›Die taube Leichenbitterin‹ gilt, ist nicht bekannt. In der Sammlung ‘Trou Moet Blijcken’ befindet sich auch eine Kopie von ›Jan Fijnart‹ (›Jan der Pfiffige‹).7 Dieses Spiel muss geschrieben und zum ersten Mal aufgeführt worden sein in Middelburg in Seeland, um später auch wieder nach Haarlem zu kommen. Über das Entstehungsdatum ist nichts bekannt. Fest steht, dass die Abschrift sowohl dieses Spiels als auch die der ›Tauben Leichenbitterin‹ um 1600 angefertigt wurde. Von einer Aufführung von ›Jan der Pfiffige‹ ist in den städtischen Rechnungen nicht die Rede, aber es liegt auf der Hand, dass sie dort auch irgendwann einmal stattgefunden hat. ›Die taube Leichenbitterin‹ und ›Jan der Pfiffige‹ sind zwei der drei Possen in der vor kurzem erschienenen Edition.8 Die dritte ist ›Playerwater‹ (›Narrenwasser‹),9 ein Spiel, das in Antwerpen zu sehen gewesen sein muss. Zwar wird der Ort nirgends im Text genannt, aber die Spielhandschrift wird im ehemaligen Archiv der Antwerpener Malergilde ‘Sankt Lukas’ aufbewahrt. Teil dieser Gilde war die bedeutendste Rederijkerkammer in Antwerpen: Die Veilchen (‘De Violieren’). Außerdem gibt es für die Verbindung mit Antwerpen einen visuellen Beweis: die Abbildung einer Szene aus ›Narrenwasser‹ um 1560 auf einem Gemälde, einer so genannten ›Bauernkirmes‹ (Abb. 15), des Antwerpener Künstlers Pieter Balten. Das Spiel muss also schon vor 1560 geschrieben und zu dem Zeitpunkt wohl auch bereits viele Male aufgeführt worden sein, denn sonst hätte Balten die Szene nicht an so prominenter Stelle wiedergegeben. In jedem Fall war er mit dem Inhalt des Stücks sehr vertraut. Wer die Possen geschrieben hat, ist nicht bekannt. In den Handschriften stehen keine Autorennamen. Es war unter Rederijkern nicht die Regel, um nicht zu sagen: es war völlig ungebräuchlich, seinen Namen im Stück zu nennen. Die literarischen Aktivitäten blieben zum größten Teil anonym. Im Fall der ›Tauben Leichenbitterin‹ und von ›Jan dem Pfiffigen‹ kommt noch dazu, dass die Kopien, aus denen wir die Stücke kennen, lange nach dem Zeitpunkt und weit entfernt vom Ort des Verfassens erstellt wurden. Wer sie auch immer irgendwo in Dendermonde und Middelburg geschrieben hatte, war für die Haarlemer um 1600 wahrscheinlich auch völlig nebensächlich. Außerdem werden als Vorlagen für die Abschriften sicherlich wieder andere Abschriften gedient haben, in denen die Autorennamen bereits fehlten. Die Aufführung von Possen stand im Zusammenhang mit öffentlichen Festen. Wo es die Posse des 16. Jahrhunderts betrifft, handelt es sich dabei um Kirmessen oder Jahrmärkte, um Umkehrfeste wie Fastnacht, und um eine Reihe weiterer kirchlicher und weltlicher Festtage, wie eben Pfingsten 1590 in Haarlem. Die Rederijker orga7 8 9

Hummelen [Anm. 5], Nr. 1OM1. Siehe die *-Anmerkung am Anfang des Beitrags. Hummelen [Anm. 5], Nr. 2.29. Für eine englische Übersetzung siehe: Hans van Dijk [u. a.] (Hgg.), ›Playerwater‹: a sixteenth-century farce with an English translation, in: Dutch crossing Nr. 24 (Dezember 1984), S. 32–81.

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nisierten hierfür sogar spezielle Wettkämpfe auf lokalem und überregionalem Niveau. Das berühmteste Beispiel ist wohl das so genannte Landjuweel, ein Zyklus von Wettkämpfen, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Provinz Brabant abgehalten wurde.10 Von zwei Wettkämpfen, nämlich dem in Leuven 1504 und dem in Diest 1541, befinden sich die Abschriften der Spieltexte in der Sammlung von ‘Trou Moet Blijcken’. Dabei handelt es sich um insgesamt drei Spiele,11 von denen zwei in Leuven und Diest den Hauptpreis gewonnen hatten. Sie stammten von Rederijkerkammern aus Tienen und Antwerpen. Die Posse von Tienen – also die aus dem Jahr 1504 – ist damit die früheste datierbare aus der ganzen Sammlung. Um das komische Potenzial solcher Stücke besser zeigen zu können, folgen hier zunächst die kurzen Zusammenfassungen der drei Spiele, die das Thema der Edition sind. ›Narrenwasser‹ Werenbracht betreibt zusammen mit seiner Frau eine Herberge. Am Anfang des Spiels liegt sie todkrank im Bett, oder jedenfalls erweckt sie den Anschein. Es fehlt ihr, sagt sie, an etwas, worüber Werenbracht nur in unzureichendem Maße verfügt. Er soll für sie Wasser holen gehen, und zwar kein normales Wasser, sondern ‘Narrenwasser’. Sollte das Publikum die gespielte Krankheit noch nicht durchschaut haben, dann ist der Name dieses Heilmittels der entscheidende Tipp. Das Wasser ist angeblich in dem Dorf ‘Unfriede’ im ‘Ostland’ zu finden, wo es aus dem ‘Narrenberg’ austritt, ganz in der Nähe des ‘Tals der Trübsal’, oder anders gesagt: nirgends. Die Frau beschreibt es – und Werenbracht fasst es auch so auf – als ein Wundermittel. Die Zuschauer begreifen aber, dass es sich dabei um ‘Faselwasser’, ‘Phrasenwasser’, ‘Lügenwasser’ oder ‘Narrenwasser’ handeln muss – also um ein Mittel, um ihn aus dem Haus zu treiben. Werenbracht ist tatsächlich dumm genug, um in die Falle zu gehen. Sobald er weg ist, wird die Vermutung des Publikums zur Gewissheit: seine Frau ist gar nicht krank. Sie hat an diesem Abend schlichtweg ein Date mit ihrem Liebhaber, dem Pastor. Wenn sie jemals an etwas gelitten hat, dann ausschließlich an sexuellem Verlangen. Inzwischen ist Werenbracht unterwegs, um ‘Narrenwasser’ zu holen. Er begegnet einem Geflügelhändler, der ein regelmäßiger Gast seiner Herberge ist. Der weiß, was Sache ist, und enthüllt Werenbracht den Betrug. Er hat die Frau und den Pastor schon einmal beim Seitensprung gesehen. Es ist bezeichnend für Werenbrachts Naivität, dass er sich nur schwer überzeugen lässt. Nur langsam dringt die Wahrheit zu ihm vor 10

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Bart Ramakers, In utramque partem vel in plures. Meinungs- und Deutungsdivergenzen im Genter Bühnenwettkampf von 1539, in: Barbara Stollberg-Rilinger u. Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster, 19.–20. Mai 2005 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 16), Münster 2007, S. 197– 226, hier S. 204–205. Hummelen [Anm. 5], Nr. 1OG14 (›Tielebuijs‹ aus Diest), 1OG16 (›De Schuijfman‹ aus Tienen) u. 1OG17 (›Hanneken Leckertant‹ aus Antwerpen).

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– ein äußerst vergnüglicher Prozess, da das Publikum, das ja schon lange weiß, wie der Hase läuft, sieht, wie er immer entsetzter wird. Der Geflügelhändler erklärt ihm, dass ‘Unfriede’ kein weit entfernter Ort ist, sondern dass der gerade in seinem eigenen Haus herrscht. Da liegt dann wohl auch das ‘Tal der Trübsal’, fügt Werenbracht in einer vorsichtigen Frage hinzu. Dass die Krankheit seiner Frau eine sexueller Natur ist, erklärt der Geflügelhändler ihm anschließend mittels einer anderen Metapher: seine Frau führt den blinden Mann in den Venuswald hinein. Wessen blinder Mann, ist natürlich die Frage. Aber auch das lässt der Geflügelhändler ihn wissen. Die List, die er Werenbracht empfiehlt, um seiner Frau eins auszuwischen, liegt auf der Hand. Werenbracht soll sich im Hühnerkorb verstecken. Der Händler kann ihn so unauffällig in die Herberge hineintragen, wo er als Stammgast nicht weiter auffallen wird. Werenbracht kann dann seine Frau auf frischer Tat ertappen und sich rächen, indem er sie und den Pastor mit ‘Narrenwasser’ besprenkelt: das ist eine Metapher für die Tracht Prügel, die er dabei für beide vor Augen hat. Denn Werenbracht sprüht vor Wut – und legt damit das genaue Gegenteil der lammfrommen Haltung an den Tag, die er zu Anfang zeigte. Seine Suche, die nirgendwo hin führen sollte, hat ein klares Ziel bekommen. Es ist im übertragenen Sinn eine Suche nach der Wahrheit geworden, nach der Erkenntnis des persönlichen Unglücks: die Ehe mit einer untreuen Frau. Die Perspektive wechselt wieder zur Gattin, die den Pastor zum Rendezvous am Abend einlädt. Der Pastor freut sich auf die Vergnügungen, die ihn erwarten, und die zunächst aus Essen und Trinken bestehen werden. In einem Monolog kündigt die Frau an, dass sie jetzt alles dafür vorbereiten will. Die Handlung macht einen Zeitsprung. Es ist Abend und der Pastor macht seine Aufwartung bei seiner Liebhaberin. Das Gelage beginnt. Dann tritt der Geflügelhändler auf, der Werenbracht im Korb mit sich trägt. Der kann kaum stillhalten. Der Kaufmann fragt um Obdach. Die Wirtin weigert sich, aber ihr Geliebter gibt nach. Sie weist ihm einen Tisch zu. Um die Spannung und die Vorfreude beim Publikum zu erhöhen, fragt sie nach dem Inhalt des Korbs. Da drinnen sind Hühner und ein großer Kapaun, antwortet der Geflügelhändler. Letzteres ist nicht gelogen, denn der Kapaun oder kastrierte Hahn galt als Sinnbild für den Ehegatten, der, weil er nicht mehr kann, von seiner Frau betrogen wird. Bevor sie sich wieder ganz ihrem Liebhaber widmet, gibt sie dem ungebetenen Gast einen Krug Bier zu trinken. Zusammen mit Werenbracht – der unter dem Deckel des Korbes wahrscheinlich kein Detail verpasst – beobachtet der Geflügelhändler das Gelage, das von Frau und Pastor ungeniert fortgesetzt wird. Der Pastor besingt das Schicksal des betrogenen Werenbracht, der noch mindestens eine Woche lang außer Haus sein wird. Er begreift noch nicht, wie sehr er sich da irrt. Die Frau rühmt ihrerseits die ewige Jugend und wie diese sich in dieser Nacht zeigen wird. Auch ihr ist nicht klar, wie trügerisch diese Annahme ist. Inzwischen müssen die Liedtexte Werenbrachts Wut nur noch mehr angestachelt haben. Dasselbe gilt für die Spannung im Publikum. Der Geflügelhändler bestellt einen weiteren Krug Bier. Die Wirtin und der Pastor scheinen ihn vergessen zu haben, wollen ihn jetzt aber doch halbwegs miteinbeziehen. Nach einiger Überredung ist er sogar dazu bereit, ein Lied zu singen. Auf dieselbe Melodie,

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die auch der Pastor gesungen hat – und mit derselben Eröffnungszeile an die Adresse Werenbrachts – enthüllt der Geflügelhändler den Betrug und gibt gleichzeitig Werenbracht ein Signal, damit er zu Vorschein kommt und an beiden Rache nehmen kann. Schläge ‘regnen’ auf sie herab, bis der Geflügelhändler sagt, dass es jetzt aber genug sei. Werenbracht beendet das Spiel mit einem Aufruf an das Publikum, die Frauen zu ehren, die sich mit ihrem eigenen Mann zufrieden geben.

›Die taube Leichenbitterin‹ Die Posse beginnt mit einem gespielten Prolog. Baet geht ins Haus der tauben Nelle, die gerade mit dem Kämmen von Flachs beschäftigt ist. Sie meldet den Tod von Hein, dem blinden Neffen von Nelle und dem Patenkind ihres Bruders Lippen. Dessen Frau wird auch am Totenbett wachen. Baet ist anscheinend genauso taub wie Nelle. Auch ein Sohn von Nelle, Steven, ist da. Er hilft Nelle, den Inhalt ihrer Botschaft seiner Mutter deutlich zu machen. Als ältestes Familienmitglied muss sie nämlich bei der Trauer die Initiative ergreifen und am Totenbett beten. Sie versteht aber etwas völlig anders. Sie glaubt, dass Baet sie nach ihrer Arbeit fragen will. So reden sie aneinander vorbei. Irgendwann begreift Nelle schließlich, dass ihr Neffe gestorben ist, wenn sie auch irrigerweise glaubt, dass er von einem Wagen überrollt wurde. Sie wird zum Sterbehaus gehen. Die eigentliche Posse beginnt mit einem überraschten Lippen, der seine Frau Betgen fragt, ob man sie wirklich gebeten hat, heute Nacht am Totenbett zu wachen – anscheinend war er nicht da, als Baet mit dieser Frage vorbeikam. Betgen schlägt vor, ihre Magd Aechtgen dahin zu schicken. Sobald die weg ist, legt sie ihrem Mann einen Plan vor: sie werden die Bauernknechte Faes, Bouwen und Heijn auf die Schippe nehmen. Gestern Abend hat sie sich als Aechtgen ausgegeben und die drei eingeladen, heute Abend zu ihr zu kommen, natürlich nacheinander. Während Betgen sich als Lippen ausgeben wird, soll dieser sich als Aechtgen verkleiden. Betgen weiß genau, welches Schicksal die Freier erwarten wird: Faes wird mehlbestäubt aus der Mehlkiste, Bouwen völlig durchnässt aus dem Waschzuber und Heijn schwarz vor Ruß aus dem Schornstein kommen. Dazu muss Lippen (in seiner Rolle als Aechtgen) die drei verstecken, wenn Betgen (in ihrer Rolle als Lippen) sie zu ertappen droht. Lippen darf auf keinen Fall eine Lampe anzünden, damit der Betrug nicht entdeckt wird. Gesagt, getan. Nacheinander kommen die Freier auf die Bühne und suchen im Halbdunkel ihren Weg. Lippen erwartet sie und führt sie hinein, von der Tür zum Bett – ein Gang, der wegen der gespielten Dunkelheit mit viel Tasten und Straucheln einhergehen muss. Inzwischen geben die Männer Lippen gegenüber mit ihren zu erwartenden Leistungen an. Immer nachdem sie sich auf seinen Befehl hin ausgezogen haben, lässt Betgen von sich hören. Voller Angst, entdeckt zu werden – sie fürchten sich vor Lippen –, flehen die Männer um ein Versteck. So landet Faes in der Mehlkiste, Bouwen im Waschzuber und Heijn im Schornstein.

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Sobald Faes eingeschlossen ist, wird das Licht entzündet. Sein Leid fängt an: Betgen fängt an, Mehl zu sieben, wodurch Mehlstaub aufgewirbelt wird, der ihn erblinden und beinahe ersticken lässt. Danach sind Bouwen und Heijn an der Reihe. Sobald Letzterer in den Schornstein geflüchtet ist, entledigen Lippen und Betgen sich ihrer Verkleidung. Sie sind wieder sie selbst. Während Betgen das Waschwasser zum Kochen bringt, übernimmt Lippen ihre Arbeit an der Mehlkiste. Bouwen, der im Waschzuber erst vor Kälte vergeht – und vor Gestank – wird dann vom heißen Wasser durchnässt, das Betgen über ihn ausgießt; die Waschlauge beißt außerdem in seinen Augen. Heijn ist inzwischen durch den Rauch des Schornsteinfeuers erblindet und versengt. Lippen siebt nun so kräftig, dass das ganze Haus – und also auch die Bühne – mit weißen Mehlwolken gefüllt ist. Er reißt Türen und Fenster auf, um die Luft zu klären. Faes ergreift die Chance zur Flucht. Tastend erreicht er den Ausgang. Bouwen und Heijn müssen noch kurz durchhalten, aber auch sie finden dann, mit Mühe, den Weg nach draußen, wo sich die drei endlich begegnen. Die Perspektive wechselt für einen Moment zu Lippen und Betgen, die nachsehen wollen, ob die Freier noch da sind. Betgen entdeckt, dass Faes entkommen ist. Ganz kurz hören wir, wie Faes und Bouwen ihr Schicksal beklagen (entweder wechseln beide Parteien sich auf der Bühne ab, oder sie bleiben auf einigen Abstand voneinander sichtbar). Dann ergreifen wieder Lippen und Betgen das Wort. Sie sind sich einig, dass das heimliche Tun der Freier zu Recht bestraft wurde. Sollten die wiederkommen und nach ihren Kleidern fragen, werden sie erneut zuschlagen. Am Anfang der nächsten Szene tritt Heijn auf. Von der anderen Seite nähert sich Aechtgen mit einer Laterne. Dann erkennt sie den blinden und nackten Heijn. Er erzählt ihr, warum er so aussieht: es ist wegen eines Mädchens. Wer das Mädchen denn sei, fragt sie. Sobald sie ihren Namen hört, sagt sie, dass sie in der Nacht nicht zuhause gewesen ist. Jetzt erscheinen auch Faes und Bouwen, die lauthals ihre Blindheit beklagen. Sie erzählen ihr die gleiche Geschichte wie Heijn. Wieder fragt Aechtgen nach der Identität des Mädchens. Erst jetzt erkennen die Männer, dass sie dasselbe Mädchen meinten. Da stehen sie nun: nackt oder in Unterwäsche, weiß, nass oder schwarz, alle drei blind und hilflos, in der Finsternis. Aechtgen erklärt, dass sie noch nie etwas Verrückteres erlebt hat: man könnte ein Theaterstück darüber schreiben. Am Stock laufen die drei weiter, hoffend, dass die Nachbarn sie nicht sehen, denn es wird schon hell. Aechtgen kann beim Anblick der drei das Lachen nicht mehr zurückhalten. Doch sie lässt sie allein zurück, weil sie um ihre Ehre fürchtet. Davon überzeugt, dass sich ihr Unglück herumsprechen wird, stolpern die Freier weiter. Bis sie in eine Pfütze fallen. Das Wasser spült ihre Augen frei, und endlich können sie wieder sehen. Jetzt entdecken sie, dass es bereits dämmert. Sie beschließen, ins nächste Hospital zu gehen. Dort wollen sie sagen, dass sie krank sind und bestohlen wurden. Sie werden dort nicht auffallen, und auch nicht ausgelacht werden.

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›Jan der Pfiffige‹ Jan der Pfiffige, ein Bauer aus Zoutelande, überlegt, wie er schnell und einfach an Geld kommen kann. Er nimmt sich vor, sein Kalb verschiedenen Metzgern aus Middelburg zu verkaufen, aber ihnen das Tier nicht zu liefern. Der erste Metzger tritt auf. Er ist auf der Suche nach Schlachtvieh. Jans Frau erscheint hinter dem Vorhang und steht ihm zu Wort. Sie holt Jan. Der bietet ihm sein Kalb für zehn Gulden zum Kauf an. Noch bevor er das Tier überhaupt gesehen hat, will der Metzger neun Gulden bezahlen. Abgerechnet soll aber erst am Donnerstag werden, wenn der Bauer das Tier liefert. Jan sagt, dass er das Geld aber sofort brauche. Er holt das Kalb und lässt es vom Metzger gründlich unter die Lupe nehmen. Der gibt Jans Bitte nach und geht weg. Jan zeigt sich gegenüber dem Publikum über den Erfolg seines Plans hocherfreut und geht ab. Der zweite Metzger tritt auf. Auch er klopft an und wird von Jan empfangen. Der bietet ihm dasselbe Kalb zum Kauf an, aber anders als der erste Metzger will dieser das Tier erst sehen. Im Gegensatz zum ersten Mal nennt Jan diesmal auch nicht direkt den Preis; der Metzger muss erst danach fragen. Jan tritt äußerst zurückhaltend auf. Nach einigem Drängen sagt er, zu welchem Preis er das Tier verkaufen will: acht Taler, oder zwölf Gulden, soll es kosten. Der Metzger bietet elf Gulden, aber Jan lehnt ab. Er macht sogar Anstalten, das Tier wieder zurück in den Stall zu bringen. Der Metzger versucht noch, ihn zu überzeugen, aber Jan scheint beleidigt. Der Käufer in Spe will den Kauf nicht scheitern lassen und bietet ihm schließlich, wenn auch widerwillig, den gewünschten Betrag. Sie reden noch ein wenig über Betrug und Vertrauen und sind sich schließlich einig: Jan soll das Tier am Donnerstag liefern. Der zweite Metzger geht ab. Wieder kann Jan sein Glück kaum fassen. Triumphierend zeigt er seiner Frau das Geld. Die hat aber Angst vor möglichen Folgen und warnt ihn. Jan ist wenig beeindruckt. Er hat nun genug Geld für ein Fest. Außerdem kann er nicht anders: sein Nachname lautet ja ‘Fijnaert’ oder ‘der Pfiffige’. Er wird den Schaden wiedergutmachen, versucht er seine Frau zu beruhigen. Aber erst will er es noch ein drittes Mal versuchen. Die Frau geht ab und der dritte Metzger tritt auf. Der begrüßt ihn halb auf Französisch und fragt, ob es wohl noch etwas zu schlachten gibt. Jan sagt: ein Kalb, das aber eigentlich für den Eigenbedarf bestimmt ist. Niemand, außer seiner Frau, weiß etwas davon: für ihn ist es eine einmalige Chance. Der Metzger will das Tier erst sehen. Jan geht es holen und verlangt Barzahlung. Der Metzger will jedoch erst in drei Monaten bezahlen, was Jan ablehnt. Das Tier muss heute verkauft werden, damit am Sonntag Kirmes gefeiert werden kann. Elf Gulden ist der Preis, aber der Metzger will höchstens neun bezahlen. Jan gönnt dem Mann seinen Vorteil. Dieses Mal will er das Kalb sofort loswerden und gibt dem Metzger das Tau in die Hände. Das Tier ist aber stur. Der Metzger bittet ihn, das Tier am Donnerstag zu liefern. Der Bauer weigert sich und ermutigt ihn – vergebens. Der Metzger verzweifelt und bietet Jan ein großzügiges Trinkgeld an, wenn er ihm das Kalb bringt. Jan gibt nach und der Metzger geht ab.

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Gut gelaunt wendet Jan sich nun seiner Frau zu. Die warnt ihn wiederum: sobald er die Stadt betritt, wird er festgenommen werden. Aber nein, sagt Jan, so schlimm ist es nicht. Er freut sich schon jetzt beim Gedanken an die enttäuschten Metzger. Aber jetzt wird erst einmal Kirmes gefeiert. Seine Frau soll die Nachbarn einladen, und er selbst will das Kalb schlachten. Nach einer kurzen Pause steht ein Tisch auf der Bühne. Es ist Sonntag. Die Nachbarn kommen herein; in Erwartung des Kirmesmahls nehmen sie an der festlichen Tafel Platz. Man betet, man trinkt und singt, und man isst vom bewussten Kalb. Ob er das nicht verkauft hatte, will ein Nachbar wissen. Ja, sagt Jan, aber er hat keine Angst vor Scherereien. Ein Dudelsackspieler kommt, um die fröhliche Stimmung noch mehr anzuheizen. Nach seinem Auftritt verabschieden sich die Gäste. Jan und seine Frau bleiben zurück. Morgen muss er nach Middelburg. Sie hat Angst vor den Folgen, aber wieder wischt er ihre Befürchtungen beiseite. Er wird sich unkenntlich machen. Er verlässt die Bühne, um seine Frau Sekunden später mit einer komischen Verkleidung zu überraschen. Zwei Wochen später steht der erste Metzger, Phlips, am Vlissinger Tor und wartet dort auf Jan. Nur wenig später kommt der zweite Metzger, Faes, hinzu. Schnell kommen sie darauf, dass sie von demselben Bauern hereingelegt worden sind. Dann erscheint der dritte Metzger, Cornelis. Er erkennt, dass er das dritte Opfer ist. Die drei erzählen ausführlich vom Betrug, inklusive Zitaten von Jan. Sie werden immer wütender und sinnen auf Rache. In der Nähe des Tors wohnt ein Schuhmacher, den sie bitten, sie zu warnen, wenn Jan vorbeikommt. Ihn erwartet eine Belohnung. Der Mann stimmt zu: er wird Jan sicher an seiner teuren Jacke und seinem bunten Hund erkennen. Der Schuhmacher erkennt Jan trotz der Verkleidung; sein Hund hat ihn verraten. Er warnt Phlips und zeigt ihm die Kneipe, in der Jan sich befindet. Auch die anderen Metzger gehen zusammen mit einem Gerichtsdiener dorthin. Jan muss bereits auf der Bühne zu sehen sein, denn er wird angesprochen und direkt festgenommen. Der Wirt aber geht dazwischen und bürgt für Jan. Der kommt frei, und das verschafft ihm die Möglichkeit, sich noch vor Anfang der Gerichtsverhandlung einen Tag später juristischen Beistand zu suchen. Ein Anwalt tritt auf; Jan legt ihm die Sache dar. Der Mann hält die aber für so aussichtslos, dass er in ihrer Verteidigung keine Chance (und also kein Geld) sieht. Aber er wird darüber nachdenken. Nach seiner Rückkehr schlägt er Jan eine Lösung vor. Eine legale Methode, ihn freizusprechen, weiß er nicht, wohl aber eine am Rande der Legalität: Jan muss als Antwort auf alle Fragen pfeifen. Am Anfang der nächsten Szene nehmen die Schöffen Platz, um Recht zu sprechen. Ein Gefängniswärter läutet die Glocke und ruft die gegnerischen Parteien auf. Phlips spricht im Namen der Kläger: sie wollen ihr Geld zurück, und zwar mit Zinsen. Der Angeklagte stellt sich dumm. Wie die Richter ihre Fragen auch formulieren, das Einzige, was Jan tut, ist: Pfeifen. Und obwohl Phlips sie beschwört, sich nicht in die Irre führen zu lassen, lassen die den Bauern frei. Sie hätten mit einem Narren eben keine Geschäfte machen sollen, ist ihre Antwort. Faes versucht es noch einmal mit

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freundlichen Worten, aber Jan pfeift. Und sobald der Anwalt sein Geld verlangt, pfeift Jan wieder. Wie er auch flucht und rast, Jan pfeift immerzu. Alleine auf der Bühne zurückgeblieben feiert er seinen Sieg über den windigen Strafverteidiger: ein Bauer hat ihn übers Ohr gehauen! Auf dem Weg nach Hause muss der Schuhmacher auch noch Pfeifen und Häme über sich ergehen lassen. Dann sieht Jan seine Frau kommen. Besorgt fragt sie ihn, wie es gelaufen ist. Er kann sie beruhigen: und zwar mit einer Reihe von Sentenzen, die alle darauf hinauslaufen, dass derjenige, der in dieser Welt überleben will, schlau und gerissen sein muss. Umkehrung Die Welt der Posse ist eine der Umkehrung, sowohl auf dem Mikroniveau des eigenen Körpers als auf dem Makroniveau des Umgangs mit anderen und der Welt. Um mit dem zweiten Niveau anzufangen: die Figuren handeln nicht konform den Normen, und zwar auf verschiedensten Gebieten. In ›Narrenwasser‹ handelt es sich dabei um die Treue in der Ehe und um Keuschheit: Werenbrachts Frau betrügt ihren Mann mit einem Pastor, der es seinerseits mit dem Zölibat nicht so genau nimmt. Für das Publikum im 16. Jahrhundert war evident, dass der Mann über der Frau stand. Werenbracht aber ist ein Trottel, der von seiner Frau übertrumpft wird. Sie ist ein ‘Trickster’.12 Sie ist gewieft, und er ein Mann, der unter dem Pantoffel steht, ein kastrierter Hahn oder Kapaun, der nicht mehr kann und darum nicht nur betrogen wird, sondern als Zeichen seiner untergeordneten Position außerdem im Hühnerkorb landet, zwischen den Hühnern. Erst am Ende kann er seine Autorität wiederherstellen. Aber für wie lange? In ›Die taube Leichenbitterin‹ geht es vor allem um Offenheit und Anständigkeit im Umgang mit einem unverheirateten Mädchen. Faes, Bouwen und Heijn machen Aechtgen ohne ihre Arbeitgeber einzuschalten den Hof und wollen im Haus mit ihr schlafen. Sie haben große Angst davor, entdeckt zu werden, denn das würde Schande bedeuten. Man würde über sie reden. Auch Aechtgen hat Angst davor. Weiterhin werden auch in diesem Spiel die Geschlechtsverhältnisse umgedreht: Betgen denkt sich die List aus und übernimmt die Führung in der Ausführung derselben. Und nicht nur das: sie übernimmt buchstäblich die Rolle von Lippen, indem sie seine Kleider anzieht und sich wie ein Mann verhält. Es ist eine theatralische Demonstration der wirklichen Machtverhältnisse zwischen ihnen beiden. Es geht darum, wer die Hosen an hat.13 Im Prolog sagt Baet, dass Betgen die junge Frau von Lippen ist. Als Bruder der tauben Nelle wird Lippen selbst wohl auch nicht mehr so jung sein. Dass ein Altersunterschied zwischen den beiden suggeriert wird, kann als Vorzeichen für eine ko12 13

Edith Kern, The Absolute Comic, New York 1980, S. 160–161. Herman Pleij, Spectaculair kluchtwerk. De strijd om de broek als theater, in: Hans van Dijk, Bart Ramakers u. a. (Hgg.), Spel en spektakel. Middeleeuws toneel in de Lage Landen, Amsterdam 2001, S. 263–281, 379–382.

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mische Intrige aufgefasst werden. So ein Altersunterschied an sich war unerwünscht, denn dadurch, dass alte Männer junge Frauen heirateten, kam der Heiratsmarkt zum Erliegen. Außerdem hatten sie möglicherweise Geld, aber in sexueller Hinsicht kamen ihre Gattinnen sicherlich zu kurz. In vielen Possen wird dann auch ein (viel) älterer Mann von seiner (viel) jüngeren Frau mit einem ebenfalls jungen Liebhaber betrogen. In ›Die taube Leichenbitterin‹ ergreift Betgen, mindestens genauso gewieft wie Werenbrachts Frau, die Initiative um die List auszuführen, wenn auch nicht ihr Mann Lippen, sondern die drei Freier ihrer Magd die Opfer sind. Als linkische Männer stehen sie schließlich buchstäblich im Hemd da – oder sie machen noch Schlimmeres durch. Lippen steht vielleicht bei seiner Frau unterm Pantoffel, aber er ist immer noch für seine Stärke bekannt. Die drei Freier aber sind Schwächlinge. Sie geben mit ihren sexuellen Vorzügen an, zeigen aber gleich selbst, dass sie nicht taugen. Faes zum Beispiel fürchtet, dass er verschläft, Bouwen bittet um einen Nachttopf – er befindet sich in unzweideutigem Zustand – und Heijn gibt vor, wesentlich reicher und vornehmer zu sein, als sein Äußeres und sein Nachname (‘Leerdarm’) vermuten lassen. Übrigens wird in diesem Spiel auch noch eine weitere Regel übertreten: man zeigt wenig Pietät für den verstorbenen Neffen Hein. Von Mitleid ist nicht die Rede. Im Gegenteil: statt selbst am Totenbett des Jungen zu wachen – der ja immerhin Lippens Patenkind ist –, geben der Bauer und seine Frau ihrer Magd den Auftrag, das zu erledigen, und sie machen von der Gelegenheit Gebrauch, deren Verehrern einen Denkzettel zu verpassen. In ›Jan der Pfiffige‹ schließlich geht es um Ehrlichkeit und gegenseitiges Vertrauen in Handel und Rechtsprechung: Jan betrügt drei Metzger, und auf Anraten eines durchtriebenen Advokaten, den er letztendlich auch noch betrügt, hält er das Schöffengericht zum Narren. Die Posse stellt anders als die anderen beiden Stücke, die vor allem die Umkehrung im Privaten suchen, die Normen des gesellschaftlichen Umgangs zur Diskussion. Im Privatbereich ist bei ›Jan dem Pfiffigen‹ aber alles in Ordnung. Denn anders als die Ehemänner in ›Narrenwasser‹ und in ›Die taube Leichenbitterin‹ hat Jan zuhause die Hosen an. Er lässt sich von seiner Frau nichts sagen. Moral Wenn es den Autoren ausschließlich darum gegangen wäre, Überschreitungen von Normen zu brandmarken, dann hätten sie das entsprechende Thema auch in einem ernsten Spiel dramatisieren können, in einem mythologischen, einem legendenhaften oder historischen Theaterstück, oder in einem Sinnspiel, in dem die Norm selbst, die Übertretung der Norm und die Mächte, die das eine oder das andere verstärken, mittels Personifikationen dargestellt werden.14 Man hat sich jedoch dagegen entschie14

Ramakers, Schauspiel [Anm. 1], S. 25–27; Bart Ramakers, Dutch Allegorical Theatre. Traditions and Conceptual Approach, in: Peter Happe´ u. Elsa Strietman (Hgg.), Urban Theatre in the Low Countries 1400–1625, Turnhout 2006 (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 12), S. 127–147.

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den. In einer Posse wirken solche Normübertretungen erst einmal komisch, sogar wenn sie – implizit oder explizit – verurteilt werden. Ihr Ziel ist die Erheiterung. Entweder beobachtet man voller Bewunderung Figuren, die etwas tun, das man sich selbst im Traum nicht getraut hätte, oder man sieht sie voller Schadenfreude etwas unternehmen, vor dem man selber Angst hat. Was die Angst betrifft: es ist eine alte Weisheit, dass das Lachen über das Unglück anderer ein Mittel ist, um die Angst vor dem eigenen Unglück verfliegen zu lassen. Man lacht die Bedrohung förmlich weg. Für die gesunde Lachlust empfahl es sich übrigens, Normen im sozialen Bereich zu wählen; schwere Missetaten zu komischem Stoff umzuarbeiten war verpönt. Mit der Inszenierung juristischer Delikte begab ein Autor sich auf gefährliches Glatteis. Der Gerechtigkeitssinn der Zuschauer konnte größer sein als ihr Gefühl für Humor. Dasselbe gilt für die physischen Strafen, die Werenbrachts Frau und der Pastor in ›Narrenwasser‹ und die drei Freier in ›Die taube Leichenbitterin‹ erhalten: sie durften zwar wehtun, aber nicht zu bleibenden Schäden führen. Ob die Norm am Ende bestätigt und die Ordnung wiederhergestellt wird, macht für die Botschaft des Spiels, für die Moral, einen großen Unterschied. Hier unterscheiden sich auch die Possen. Nicht bei allen dreien lautet nämlich die Implikation oder Schlussfolgerung, dass eine Übertretung ohne weiteres verwerflich ist. In ›Narrenwasser‹ und in ›Die taube Leichenbitterin‹ wird das explizit erklärt, aber nicht in ›Jan der Pfiffige‹. Am Ende von ›Narrenwasser‹ ruft Werenbracht zur ehelichen Treue auf; in ›Die taube Leichenbitterin‹ bestätigt Betgen die Normen des Anstands und der Keuschheit dann, wenn sie am Ende betont, dass die drei Männer wegen ihres heimlichen Tuns zurecht bestraft wurden. Aechtgen fügt dem später noch hinzu, dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie scheinen, und dass Frauen listige Wesen sind. Mit anderen Worten: hüte Dich vor ihnen, denn man kann ihnen nicht vertrauen. Hier kommt ein ganzer Komplex von Auffassungen über ihre intrinsische Schlechtigkeit zum Vorschein; intrinsisch deshalb, weil sie von Eva abstammen, die sich vom Teufel zum Essen der verbotenen Frucht verleiten ließ und später Adam dazu brachte, dasselbe zu tun. Am Ende von ›Jan der Pfiffige‹ dagegen scheint die gleichnamige Hauptfigur vielmehr um Zustimmung zu oder zumindest um Verständnis für seine an sich verwerflichen Handlungen zu bitten. Er ist ein Betrüger, der nicht betrogen wird, und der, abgesehen von seiner Gefangennahme, die sein Schicksal für einen kurzen Moment zu wenden scheint, immer als Sieger aus einer Konfrontation hervorgeht. Die Sentenzen in Jans Schlussmonolog geben an, dass wer nicht stark ist, schlau sein muss. Im Kampf ums Überleben darf man sich ein gewisses Maß an unehrlichem oder sogar ungesetzlichem Handeln zugestehen. Komische Spannung Nun zur ›Bauernkirmes‹ von Pieter Balten. Sie funktioniert wie gesagt als Hintergrund, vor dem der Maler eine Szene aus ›Narrenwasser‹ abbildet.15 Dass die Wahl 15

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auf eine Kirmes fiel, ist vielsagend. Man muss nämlich den Inhalt der Posse gar nicht kennen, um das Schauspiel einordnen zu können. Die Anwesenheit des Mannes im Korb, der unter dem angehobenen Deckel das Liebespaar beobachtet, suggeriert zumindest, dass das Verhältnis verboten ist, dass es in diesem Moment entdeckt wird, und dass irgendeine Art der Konfrontation kurz bevorsteht. Wer weiterdenkt, kommt zu dem Schluss, dass der Mann im Korb der gehörnte Ehemann ist. Es muss klar sein, dass die Szene auf einen doppelten Betrug anspielt, nämlich den einer Frau, die ihren Mann mit einem Liebhaber betrügt – der seiner Kleidung nach zu urteilen ein Geistlicher ist, dessen Treffen mit der Frau allein deshalb schon verdächtig gefunden werden muss –, und den eines Mannes, der seinerseits seine Frau und ihren Liebhaber foppt, indem er sich im Korb versteckt und so ihren Betrug entdeckt. Der Eindruck eines doppelten Betruges ist für das Publikum – sowohl dem der Posse als dem des Gemäldes – gleich doppelt vergnüglich, weil es einen Wissensvorsprung gegenüber dem Liebespaar hat – es handelt sich also um dramatische Ironie – und weil es den immanenten Ausgangs des Spiels mit Spannung erwartet. Um in dramaturgischen Begriffen zu sprechen: die ‘Was-Spannung’ (was wird passieren?) und die ‘WieSpannung’ (wie wird es passieren?) sind in diesem Moment am größten.16 Mir scheint, dass die universelle Erkennbarkeit ausdrücklich vom Maler beabsichtigt war. Auch ein Betrachter, der ›Narrenwasser‹ nicht kannte, musste in der Lage sein, die abgebildete dramatische Situation zu erkennen und ihr komisches Potenzial einzuschätzen. Aufgrund der eingebauten Spannung sollten die Zuschauer sich über das amüsieren, was hier passierte oder noch passieren würde. Man könnte über dieses spezielle Detail und sein Verhältnis zum gesamten Gemälde noch viel mehr sagen. Mir geht es hier aber darum, dass das Gemälde zeigt, was Zeitgenossen anscheinend als ein wichtiges Merkmal für ein gelungenes Theaterstück betrachteten, nämlich die Fähigkeit, Spannung aufzubauen. Und zwar in diesem Fall komische Spannung, die sich durch Lachen entlud. Was die Spannung betrifft: in den meisten Possen hängt sie mit dem Übertreten von Normen auf allen möglichen Gebieten zusammen, wobei die Übertretung mittels List und Betrug vertuscht oder schließlich entdeckt wird. Komische Spannung entsteht, indem die Normübertretung von Anfang bis Ende für das Publikum klar ersichtlich ist, wodurch es immer mehr weiß als die Opfer, genau wie es auch die ›Narrenwasser‹-Szene zeigt. Die Reihenfolge der Ereignisse ist demzufolge auch immer hochgradig vorhersehbar. Außerdem wird sowohl in ›Die taube Leichenbitterin‹ als in ›Jan der Pfiffige‹ dieselbe List zweimal auf Kosten derselben Personentypen wiederholt. Die Plots von Possen sind stets Variationen desselben Musters oder ‘Skripts’.17 Auch

16 17

kunst en het toneel van de zestiende eeuw, in: Jan de Jong u. a. (Hgg.), Picturing the exotic 1550–1950. Peasants and outlandish peoples in Netherlandish art, Zwolle 2003 (Netherlands Yearbook for History of Art 53 [2002]), S. 13–51, hier S. 41–48. Manfred Pfister, Das Drama, 9. Aufl., München 1997, S. 143. Femke Kramer, Mooi vies, knap lelijk. Grotesk realisme in rederijkerskluchten, Wetsinge 2008, S. 20. Der Begriff wurde entlehnt von: Roger C. Schank u. Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals, and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hilsdale 1977.

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die Personen sind stereotyp. Wenn man dann bedenkt, dass eine Posse mit Intervallen von einem oder mehreren Jahren wieder in derselben Stadt aufgeführt wurde, zum Teil vor demselben Publikum, dann können zumindest irgendwann einmal nicht mehr die originellen Einfälle oder die durch Personen oder Aktionen verursachten Überraschungseffekte den Reiz ausmachen. Man kannte sie schon oder konnte sie jedenfalls vorhersehen. Es kam nach einigen Malen – eigentlich schon beim ersten Mal – darauf an, wie das Bekannte und Erwartete in einer (neuen) Aufführung realisiert wurde, mit anderen Worten: wie man mit dem Text und dem Plot umging, wie man ihn variierte und wie man improvisierte. Improvisation Für jeden Theatertext gilt, dass er nicht mehr ist als ein Konzept der Aufführung. Wir können von einem ‘Prätext’ oder ‘Interface’ sprechen, einem ‘taktischen Konstrukt’, das die globalen Strategien für mögliche Inszenierungen enthält.18 Letztendlich geht es darum, was die Schauspieler daraus machen, und das gilt insbesondere für komische Stücke. Nichts ist schwerer, als eine Komödie zu spielen. Wie komisch eine Posse auch eigentlich ist, erst die Art und Weise, wie man sie spielt, macht den Unterschied. Komisches Theater ist das Improvisationstheater schlechthin. Regisseur und Schauspieler nehmen sich die Freiheit heraus, Regeln und Handlungen hinzuzufügen oder auch wegzulassen oder zu verändern. Mit anderen Worten: wo der Text aufhört, machen Regisseur und Schauspieler weiter. Wie gut der überlieferte Spieltext uns auch manchmal in die Lage versetzt, die Aufführung zu rekonstruieren – es wird immer eine gedachte Aufführung bleiben, und dann auch noch eine unter vielen denkbaren. Es sind gerade Haltung und Handlung, Mimik und Gestik, die uns die Tragweite des gesprochenen Textes – das Überbleibsel der Aufführung, alles, was uns noch erhalten ist, der ‘Posttext’ also19 – deutlich machen können. Baltens Gemälde zeigt uns einen Teil davon, aber auch nicht mehr als das. Rekonstruktionen nicht nur in der Form von Skripts, sondern in der Form von echten Aufführungen, auch wenn sie nicht auf authentischen Grundprinzipien basieren, könnten helfen, die Performanz zu ergründen, und zwar eine Performanz, um die es meiner Meinung nach sowohl den Aufführenden als den Zuschauern hauptsächlich ging, nämlich um die Freude am Spielen. Darum bin ich auch ein Befürworter moderner und notfalls auch freier Übersetzungen, die, wenn sie auch nicht gleich zur Wiederaufführung inspirieren, dem Leser und auch dem Wissenschaftler auf jeden Fall helfen können, sich ein mentales Bild zu formen. Historisierende Vorstellungen – in Wirklichkeit oder nur im Konzept – sollten dann auf einer Rekonstruktion des Gesamtgeflechts aus (größtenteils) still18

19

Kramer [Anm. 17], S. 83–84, 88; John Rice u. Paul Malone, Text or Performance: The Rationalism and Intoxication of Presence in the Theatre, in: Eitel Timm u. Kenneth Mendoza (Hgg.), The Poetics of Reading, Columbia SC 1993 (Textuality and Subjectivity 2), S. 104– 115, hier S. 115. Kramer [Anm. 17], S. 85.

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schweigenden Absprachen und Konventionen für das Schreiben und Aufführen von Theaterstücken beruhen, die einst innerhalb der Theaterkultur gültig waren, dem so genannten ‘ge´no-texte code´’.20 Possen sind nicht nur in ihrer Bearbeitung und Aufführung, sondern in gewisser Weise auch in ihrer Konzeption das Resultat einer Improvisation. Wie gesagt sind die Handlungsmuster im Allgemeinen sehr konventionell, sind die Charaktere stereotyp. Die Autoren variierten überlieferte Themen und Motive. Die kannten sie aus anderen Possen oder aus kurzen, komischen Geschichten, die ebenfalls klucht (etwa: ‘Schwank’) genannt und die im 16. Jahrhundert oft erzählt und gelesen wurden. Für ›Narrenwasser‹ steht fest, dass es auf eine solche Geschichte zurückgeht, nämlich den ›Schwank vom alten Hildebrand‹.21 Wegen der langen Dauer und den vielen Handlungsorten ist es ein verlockender Gedanke, auch zu ›Jan der Pfiffige‹ ein solches narratives Vorbild zu suchen. Eine Handlung, die an so vielen unterschiedlichen Momenten und Orten spielt, ist in einem Text, der gelesen werden muss, jedenfalls viel einfacher zu realisieren als auf der Bühne, wo Zeitsprünge und Ortswechsel nicht vom Erzähler mitgeteilt, sondern nur durch eine Veränderung im Bühnenbild (nach einer Pause und leeren Bühne) oder durch die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes und durch die Äußerungen der Figuren suggeriert werden kann. Zeit und Ort bleiben in den Possen durchweg vage; es ist die Handlung, die zählt. Wie dem auch sei, es ist sicher, dass ›Jan der Pfiffige‹ etwas mit einer französischen Komödie gemein hat, ›La farce de Maıˆtre Pathelin‹, die schon im 15. Jahrhundert gedruckt wurde und mit 1600 Versen dreimal so lang ist wie eine durchschnittliche Posse – im Französischen ‘farce’ genannt.22 Von den drei niederländischen Exemplaren ist ›Jan der Pfiffige‹ mit 640 Zeilen auf jeden Fall der längste Text. ›Die taube Leichenbitterin‹ zählt 407 Zeilen, und ›Narrenwasser‹ ist nach nur 348 Versen zu Ende. Forschungsstand Die Possen in der Sammlung von ‘Trou Moet Blijcken’ zu lesen, spricht in mir eher den Theaterwissenschaftler als den Literatur- oder Kulturhistoriker an. Denn das komisch-dramatische Potenzial der Stücke, und damit die Vielfalt an performativen Möglichkeiten, die aufgrund des hohen und buchstäblich in den Dialog vieler Possen ‘eingeschriebenen’ Potenzials an sinnlich wahrnehmbaren Dingen in Erscheinung tritt,23 ist so beeindruckend, dass sowohl für mich als Leser als auch als Wissen20

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Ebd., S. 83, 85; Keir Elam, The Semiotics of Theatre and Drama, New York 1980, S. 138– 144; Anne Ubersfeld, Lire le the´aˆtre, II, Paris 1981, S. 14–15. Zur Rekonstruktion historischer Spiele siehe Robert K. Sarlos, Performance Reconstruction. The Vital Link between Past and Future, in: Thomas Postlewait u. Bruce A. McConachie (Hgg.), Interpreting the Theatrical Past. Essays in the Historiography of Performance, Iowa City 1989, S. 198–229. Leopold Schmidt, Die Volkserzählung. Märchen, Sage, Legende, Schwank, Berlin 1963, S. 327–342. ˆ ge, Paris 1998, S. 300–303, passim. Charles Mazouer, Le the´aˆtre franc¸ais du Moyen A Kramer [Anm. 17], S. 37.

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schaftler das Bedürfnis, sie zu sehen, viel größer ist als das, sie zu interpretieren. Jedenfalls will ich sie zunächst einmal sehen und dann erst ihren Inhalt gemäß all der Punkte interpretieren, die die Forschung auf dem Gebiet des komischen Theaters des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit dominieren. Die Forschung zur niederländischen Posse ist übrigens sehr übersichtlich. Es gibt genau eine Monographie von Wim Hüsken, in der nach dem Beispiel des Werks von Bernadette Rey-Flaud alle Possen auf ihre Komposition und Struktur hin analysiert werden.24 Daneben verdanken wir Herman Pleij einige Publikationen über die kulturhistorische Dimension der Posse. Ihm geht es vor allem um die Figuren insbesondere des Narren und des Bauern, und um die in den Stücken repräsentierten Geschlechterrollen und Verhältnisse in der Ehe.25 Dennoch fehlt es an systematischen Untersuchungen zu allen Personen- und Handlungstypen. Darüber hinaus wissen wir dank Willem Hummelen viel über die Einrichtung und den Gebrauch des Theaters,26 aber die Performanz des komischen Theaters ist insgesamt noch nahezu unerforscht. Eine wichtige Vorarbeit für eine solche Herangehensweise hat Femke Kramer in ihrer aktuellen Studie geleistet, in der sie den grotesken Realismus im komischen niederländischsprachigen Theater im 16. Jahrhundert thematisiert.27 Sie analysiert nach dem Vorbild von Michail Bachtins Studie über Rabelais und seine Welt den gesamten Komplex der primär zum Lachen reizenden Sprachhandlungen und Handlungsmuster in der Rederijkerposse. Sie stellt sich gegen die Auffassungen von sowohl Hüsken als auch Pleij. Sie widerspricht vor allem der Annahme, dass Possen auf indirekte Weise (über die Wiedergabe einer teilweise oder völlig umgekehrten bäuerlichen Welt) einem höheren Ziel dienen sollten, nämlich der Bildung der primären Zielgruppe, des städtischen Bürgertums. Auch die Auffassung, wobei der grobkomische Charakter der Possen relativiert wird und bei der der Humor und das dadurch provozierte Lachen als subtiles Instrument zur Beeinflussung des Publikums betrachtet werden, wird von ihr kritisiert.28 Auf Basis von zeitgenössischen und modernen Theorien über den Humor entwirft sie, was sie das ‘ludiek vals alarm-paradigma’ nennt, das ‘spielerischer falscher Alarm-Paradigma’. Dabei handelt es sich um ein Lachen, das aus einem Stimulus entsteht, um einen ‘falschen Alarm’: da scheint etwas Böses im Gange zu sein, aber es ist ungefährlich.29 Kramer betrachtet die 24

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Wim N. M. Hüsken, Noyt meerder vreucht. Compositie en structuur van het komische toneel in de Nederlanden voor de Renaissance, Deventer 1987 (Deventer Studie¨n 3); Bernadette Rey-Flaud, La farce ou la machine a` rire. The´orie d‘un genre dramatique 1450–1550, Gene`ve 1984. In dem von ihm geschriebenen zweiten Band der neuen niederländischen Literaturgeschichte fasst er seine Interpretation des Possenmaterials noch einmal zusammen: Herman Pleij, Het gevleugelde woord. Geschiedenis van de Nederlandse literatuur 1400–1560, Amsterdam 2007, S. 424–432, passim. Willem M. H. Hummelen, Toneel op de kermis van Brueghel tot Bredero, Oud Holland 103 (1989), S. 1–43. Kramer [Anm. 17]. Ebd., S. 49–57. Ebd., S. 58–61.

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komische Erfahrung im Kern als ein autonomes Phänomen und verweist in Zusammenhang damit auf die ‘ludus’-Auffassung von Johan Huizinga – dies erklärt den Terminus ‘ludiek’, ‘spielerisch’, in ihrem Paradigma.30 Es führt zur Kritik auf das bis heute dominierende Inkongruenz-Paradigma, in dem das, was zum Lachen reizt, der (überraschenden) Ungereimtheit und dem Kontrast zugeschrieben wird,31 und ebenso auf das Überlegenheitsparadigma, bei dem man davon ausgeht, dass das frühneuzeitliche Lachen aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus entstand.32 Beim autonomen Lachen herrscht die pure Freude vor – man könnte sagen, das ‘rire pour rire’ –, das am grotesken Possenkörper und an der grotesken Possensprache erlebt wird, die Kramer später in ihrem Buch analysiert. Mit ihrer Inventarisierung des gargantuesken Sprechens und Handelns der komischen Figuren hat Kramer meiner Meinung nach zu Recht dem ausschließlich-theatralischen im Vorsatz und im gewünschten Effekt der Possen in der Forschung zu diesem Genre den größten Stellenwert eingeräumt. Damit sind aber Auffassungen, bei denen nach Handlungen, Einheiten oder Strukturen gesucht wird, die in ihrem Bezug zur spielexternen Welt – Geschlecht, Stand, Glaube und Arbeit, um nur einige zu nennen – eine Bedeutung haben können und Botschaften überbringen, keineswegs überflüssig geworden. Die hier vorhergehende Behandlung der drei Possen hat das hoffentlich gezeigt. Im Idealfall werden also in der Possenforschung theatrale und kontextuelle Methoden miteinander kombiniert. Für den nächsten Teil dieses Beitrags ist dies jedenfalls das Ziel. Religion Zunächst werde ich mich auf die Beobachtung einiger inhaltlicher Punkte richten. Da ist vor allem das Verhältnis zwischen der alten und der neuen Religion zu nennen, zwischen Katholizismus und Protestantismus, das im Fall der Haarlemer Sammlung auch das Verhältnis zwischen den nördlichen und südlichen Niederlanden betrifft. Obwohl von den meisten Possen nicht bekannt ist, wann sie geschrieben wurden, kann man aus dem Inhalt manchmal trotzdem schließen, ob sie vor oder nach der Reformation entstanden sind. Wenn wie im ›Narrenwasser‹ Küster, Pfarrer und Bettelmönche vorkommen, die wegen des ein oder anderen Lasters – Wollust, Habgier, Völlerei, manchmal auch in Kombination mit Inkompetenz und Dummheit – Opfer und Gegenstand von Spott sind (oder werden), dann handelt es sich im allgemeinen um vorreformatorische Spiele. Sie zeichnen sich durch einen anti-klerikalen, aber nicht anti-katholischen, Ton aus, der außerdem gutmütig ist. Aus den städtischen Rechnungen sind uns Possenaufführungen aus der Zeit zwischen 1578 und 1601 bekannt; das ist die Periode, in der in Haarlem die Reformation 30

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Diese Auffassung wurde bereits erläutert in: Ramakers, Kinderen van Saturnus [Anm. 15], S. 19–21, 31–41. Kramer [Anm. 17], S. 61–62. Ebd., S. 62–64.

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stattfand.33 Unter den genannten Spielen befindet sich kein einziges, in dem katholische Geistliche eine Rolle spielen. Die Haarlemer entscheiden sich für Spiele, die in kirchlicher Hinsicht neutral sind. Das schließt übrigens die Aufführung von Possen, die vor der Reformation geschrieben wurden und die daher an die Umstände, auch religiöser Art, einer früheren Zeit erinnern, nicht aus. ›Die taube Leichenbitterin‹, das Spiel, das 1590 zu Pfingsten aufgeführt wurde, kam wie gesagt aus Flandern und verweist auf katholische Trauerrituale. Es ist denkbar, dass das städtische Publikum die katholische Atmosphäre mit der ländlichen Umgebung assoziierte, in der sich ein Großteil der Possen aus der Sammlung abspielt. Auf dem Land hielt der alte Glaube auch tatsächlich länger stand. Aber auch in der Stadt lebten noch viele Katholiken. Sie waren eine Minderheit, die ihren Glauben praktizieren durfte, wenn auch nicht öffentlich.34 Unter ihnen befanden sich auch Rederijker.35 Die Wahl von glaubensneutralen Spielen am Ende des 16. Jahrhunderts kann also auch das Resultat des Bestrebens sein, diesen Teil der Bevölkerung nicht mit einem Anti-Klerikalismus vor den Kopf zu stoßen, der, wenn der Ton auch locker war, gerade in dieser Periode auch als Anti-Katholizismus interpretiert werden konnte. Auch zum Verhältnis zwischen Stadt und Land, zwischen Bürger und Bauer, lässt sich aufgrund der Haarlemer Sammlung einiges sagen. Das Bild des Bauern, das uns in den Possen vorgestellt wird, ist viel nuancierter als in der Fachliteratur im Allgemeinen angenommen wird.36 Die Städter projizierten abweichendes Verhalten in ihren eigenen Kreisen gerne auf den grundsätzlich nicht-städtischen Bauern, den man vor allem als unzivilisiert und dumm präsentierte. Es ist eine Ansicht, die zu einer langen Tradition negativer Meinungsbildung über die Landbewohner in der Literatur und der bildenden Kunst passt. Deshalb sind die Bauern in den Possen meist selbst Opfer von List und Betrug, und zwar vor allem untereinander. Es gab aber auch eine Tradition von positiver Meinungsbildung, die ihren Ursprung in der Antike fand. Darin wurden die Bauern gerade bewundert und gepriesen: für ihr Leben in harter Arbeit, und dafür, dass sie in Einheit mit der Natur und ohne sich zu schämen ihr Leben genießen konnten, völlig unkompliziert, in guten wie in schlechten Tagen. Derselben Tradition zufolge konnte der Bauer also auch schlau sein. Wir haben gesehen, wie in ›Jan der Pfiffige‹ der Bauer nacheinander drei Metzger aus der Stadt prellt und schließlich auch noch einen Anwalt betrügt. Dieser Bauer hat für das Publikum wahrscheinlich 33

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Bart Ramakers, Voor stad en stadgenoten. Rederijkers, kamers en toneel in Haarlem in de tweede helft van de zestiende eeuw, in: Ramakers, Conformisten en rebellen [Anm. 3], S. 109–124, hier S. 113–115; siehe auch Joke Spaans, Haarlem na de Reformatie. Stedelijke cultuur en kerkelijk leven 1577–1620, Den Haag 1989 (Hollandse Historische Reeks 11), S. 124–138. Spaans [Anm. 33], S. 91–97; Joke W. Spaans, Levensbeschouwelijke groeperingen, in: Deugd boven geweld. Een geschiedenis van Haarlem, 1245–1995, Hilversum 1995, S. 198– 220, hier S. 202–206. Van Dixhoorn [Anm. 3], S. 209–210. Hagen Bastian, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1983, S. 71–74; Ramakers, Kinderen van Saturnus [Anm. 15], S. 14–18.

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zwei Gesichter gehabt. Die Botschaft des Spiels kann nämlich eine doppelte gewesen sein: eine Warnung, sich vor Bauern (oder Leuten) wie Jan zu hüten, und eine Ermutigung, sich im Kampf ums Überleben genauso zu verhalten wie er. Dass das Publikum Jan sympathisch fand, wird aus der Begegnung mit dem Anwalt deutlich. Dazu gibt es nämlich eine Parallele in der bildenden Kunst, und zwar in Bildern und Gemälden über den Bauernanwalt. Es geht um ganz bestimmte Darstellungen, auf denen ein Anwalt zu sehen ist, der ein Barett trägt und an einem Tisch sitzt. Vor ihm stehen die Bauern Schlange. Höflich haben sie ihre Hüte abgenommen; sie warten, bis sie an der Reihe sind. Diese Bilder sind satirisch gemeint. Sie stellen die Vertrauenswürdigkeit der Juristen infrage. Eine Variante des Themas aus dem 17. Jahrhundert, ‘Das Büro des Anwalts’ von Pieter de Bloot, zeigt ihn mit Barett und Toga, genau wie in ›Jan der Pfiffige‹.37 An der Vorderseite des Tisches, an dem der Anwalt sitzt, hängt ein Zettel mit folgender Aufschrift: Wie wil rechten om een koe die brengter noch een toe (Wer um eine Kuh verhandeln will, der möge eine zweite mitbringen). Mit anderen Worten: wer eine Gerichtsverhandlung will, bei der es um eine Kuh geht, der verliert an diesen Anwalt mindestens genauso viel Geld wie das Tier wert ist. Auch bei der Verhandlung in ›Jan der Pfiffige‹ geht es um eine Kuh. Der Anwalt ist zwar einigermaßen gerissen, wenn er Jan rät, sich wie ein Narr zu betragen, aber am Ende wird er doch von seinem Mandanten an Schlauheit übertroffen. Während der Bauer auf dem Gemälde das Opfer des Anwalts ist, sind die Rollen im Spiel umgekehrt. Dieser Betrüger wird betrogen. Raum und Zeit Während sie zuschauen und zuhören, bekommen die Zuschauer einen Eindruck vom gespielten Raum. Dialog, Handlung und Bühnenbild zusammen sorgen dafür. Bei den mittelalterlichen Possenaufführungen benutzte man kein Bühnenbild. Es ist vornehmlich das gesprochene Bühnenbild, durch das man einen Eindruck vom Ort der Handlung bekommt. Im ›Narrenwasser‹ ist der gespielte Raum ziemlich unbestimmt. Erst im Verlauf des Spiels kommt heraus, dass das Haus von Werenbracht eine Herberge ist. Werenbrachts Frau verlässt dieses, um den Pastor einzuladen – wo, ist unklar – und Werenbracht und der Geflügelhändler begegnen sich irgendwo draußen. Ob wir uns auf dem Land oder in der Stadt befinden, ist ebenfalls nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Der gespielte Raum in ›Die taube Leichenbitterin‹ ist im Prolog das Haus der tauben Nelle und in der eigentliche Posse das von Betgen und Lippen, wobei am Ende noch ein unbestimmter Raum draußen dazukommt, wo die drei Freier auf Aechtgen treffen. Wir befinden uns auf jeden Fall auf dem Land. In der Personenliste wird Lippen ein Bauer genannt, Betgen eine Bäuerin, heißt Aechtgen eine ‘Landmagd’ und 37

Peter van den Brink (Hg.), De Firma Brueghel. Katalog Ausstellung Maastricht (Bonefantenmuseum) u. Brussel (Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van Belgie¨), Amsterdam 2001, S. 173–184, hier S. 174, Abb. IV-c.

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ihre Verehrer heißen ‘Landfreier’. Nelle ist eine Hechlerin, also eine Flachskämmerin. Sie ist mit einem Teil der Leinenproduktion beschäftigt: dem Kämmen des Flachs, um kurze Fasern und andere Reste daraus zu entfernen. Die Textilproduktion des 16. Jahrhunderts war zum größten Teil auf dem Land angesiedelt. Man kaufte die Grundstoffe in der Stadt, bearbeitete sie zuhause und verkaufte die fertigen oder halbfertigen Produkte schließlich wieder in der Stadt. Nelle selbst sagt, dass sie nach Dendermonde gehen muss, um Flachs zu kaufen. Das deutet also darauf hin, dass wir es mit einem ursprünglich aus Brabant stammenden Spiel zu tun haben. Weit von einer Stadt entfernt können wir uns auch eigentlich nicht aufhalten, denn dort, wo Aechtgen auf die drei Männer trifft, kann sie die Kirchenglocke läuten hören. Es ist früh am Morgen und die Handwerker – Stadtbewohner, sollte man meinen – können jeden Moment mit ihrer Arbeit anfangen. Auch andere Verse zeugen vom linearen Zeitverständnis und von einem Leben mit der Uhr. Rathäuser und Stadtkirchen, in zunehmenden Maße auch Dorfkirchen, hatten Uhren. Das Hospital, wo sich die drei Freier am Ende hinbegeben wollen, muss in der Stadt gelegen haben. In ›Jan der Pfiffige‹ wird der gespielte Raum genau beschrieben. Der erste Teil spielt auf dem Land, das zu Jans Bauernhof gehört, der zweite in der Stadt. Dass die Handlung sich in beiden Welten abspielt, ist bedeutungsvoll: der Bauer übertrifft den Städter in diesem Spiel sogar in dessen eigenen, gewohnten Umfeld. Bei näherem Hinsehen erweist sich die räumliche und soziale Umgebung, in der die Handlung sich abspielt, vielmehr als städtisch denn als rural, oder scheint die Situation in dieser Hinsicht bewusst neutral gehalten zu sein. Wenn beide, Stadt und Land, als Schauplatz genannt werden, zum Beispiel in Spielen, in denen Bauern zum Markt gehen und dort oder auf dem Rückweg betrügerischen Händlern oder liebreizenden Wirtinnen zum Opfer fallen, oder im Fall von ›Jan dem Pfiffigen‹ sie den Städtern nicht nur in ihrer eigenen Umgebung, sondern auch noch in der Stadt haushoch überlegen sind, ist die Sache klar: die Hauptpersonen sind offenkundig die Landbewohner. Doch selbst wenn sie ausdrücklich ‘Bauer’ genannt werden (in der Personenliste oder im Dialog), können sie immer noch an Orten leben und in Umständen verkehren, die offensichtlich urban sind. Um im Textilgewerbe oder in der Landwirtschaft arbeiten zu können, konnte man sowohl auf dem Land als in der Nähe der Stadt wohnen. In beiden Umgebungen gab es Herbergen, wurde auch einmal zu viel getrunken, wurde gestohlen, betrogen und fremdgegangen, stritten Eheleute miteinander und wurde gerauft. Das passierte vielleicht sogar noch öfter innerhalb der Stadt als außerhalb. Das Land scheint in den Possen also vor allem als Topos zu funktionieren. Aber wie, muss man sich hier fragen, lässt sich das mit der ruralen Situierung der Aufführung in der Bauernkirmes von Pieter Balten vereinigen? Der Maler situierte die Aufführung von ›Narrenwasser‹ dort, wo sich auch das Spiel selbst abzuspielen scheint: unter der Landbevölkerung. Scheint – denn nichts weist auf ein Dorf als Schauplatz der Handlung hin; das Ehepaar, das die Hauptrolle spielt, führt eine Herberge, und die konnte wie gesagt auch in der Stadt liegen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Städter abweichendes Verhalten in ihren Kreisen auf den grundsätzlich nicht-städtischen Bauern projizier-

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ten, den sie für unzivilisiert und dumm hielten. So ist es einfach zu erklären: auf dem Gemälde erstreckt sich die Projektion auch auf die Aufführung. Wir sehen also ein Dorf mit Bauern, wo wir uns eine Stadt mit Städtern vorstellen müssen. Aber in welcher Hinsicht stimmt die Aufführung auf der Abbildung überhaupt mit der Wirklichkeit überein? In ihrem öffentlichen, kollektiven Charakter: in der Aufführung an der frischen Luft, an einem für jedermann zugänglichen Ort, an einem für jedermann freien Tag, und mit Inhalten für alle Stände und Altersgruppen, und für beide Geschlechter. So wie es einen gespielten Raum gibt, so gibt es auch eine gespielte Zeit. Von den drei Possen ist die gespielte Zeit in ›Narrenwasser‹ und ›Die taube Leichenbitterin‹ ungefähr gleich kurz. Werenbracht macht sich in dem einem Spiel am Morgen auf den Weg, um am Abend zurück zu kehren und seine Frau mit dem Pastor beim Fremdgehen zu erwischen. Die Handlung im anderen Spiel, vom Aufbruch Aechtgens zum Sterbehaus bis zu dem Moment, in dem sich die Freier auf den Weg ins Hospital machen, nimmt einen Abend und eine Nacht in Anspruch. In ›Jan der Pfiffige‹ dauert alles viel länger. Jan betrügt die Metzger zwar an einem Tag, aber am Sonntag nach dem versprochenen Liefertermin (Donnerstag) feiert er erst einmal mit seinen Nachbarn Kirmes. Zwei Wochen später – einer der Metzger behauptet, dass er das Kalb vor drei Wochen gekauft hat – macht er sich an einem Montag auf nach Middelburg, um dort am nächsten Tag der Verhandlung beizuwohnen. Bühne und Requisiten Das Aussehen und die Einrichtung des Spielraums einer Posse muss man sich ungefähr so vorstellen, wie es auf der ›Bauernkirmes‹ von Pieter Balten zu sehen ist. Auf der abgebildeten, schnell zusammengezimmerten Bühne, die aus einer kleinen Vorbühne und einem Aufbau mit Vorhang besteht und die im Freien platziert ist, ist eine Szene aus ›Narrenwasser‹ zu sehen: es ist der Moment, in dem der Geflügelhändler die Herberge betritt und zusammen mit Werenbracht, der unter dem Deckel alles genau beobachtet, Zeuge ist, wie Werenbracht von seiner Frau betrogen wird. Hier wird klar, mit wie wenig Raum und auch mit wie wenigen Mitteln man bei der Inszenierung von Possen im Prinzip auskommen konnte. Im Spieltext wird zwar erwähnt, dass der Händler an der Tür der Herberge anklopft, eine echte Tür ist aber nicht zu sehen. Er kommt einfach hinter dem Vorhang hervor und tut so, als ob er gerade von draußen hereinkommt. Einige auffällige Kleidungsstücke, Requisiten und Attribute reichen ansonsten völlig aus, um den Ort und die Situation zu beschreiben. Was für die Aufführung von ›Narrenwasser‹ benötigt wird, ist also äußerst wenig. Eine Kutte (für den Pastor), ein Tisch, ein paar Stühle, vielleicht eine Kanne und einige Becher, und natürlich der Korb des Geflügelhändlers – worin sich vielleicht sogar echte Hühner befinden. Für die zwei anderen Possen braucht man allerdings mehr. Im Allgemeinen ist ein wichtiges Merkmal für die Possen das Aufrufen von Lokalkolorit und das Zeigen des Alltäglichen. Die gezeigten Normübertretungen mussten wie aus dem Leben gegriffen sein, und zwar besonders gerne aus dem Leben

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von oder mit Bauern. Eine realistische Vorstellung half dabei, das Land als selbstverständliche Umgebung für umgekehrtes Handeln und Bauer und Bäuerin als komische Typen für die Zuschauer erkennbar und akzeptierbar zu machen. Es liegt daher auf der Hand, dass wir Nelle im Prolog von ›Die taube Leichenbitterin‹ wirklich an der Arbeit sehen und dass in der Posse selbst ein Bett, ein Nachttopf, eine Kiste mit Mehlsieb und ein Waschzuber gebraucht werden. Vielleicht hat man auch ein Requisit gebaut, das an einen Schornstein erinnerte. Auch die Gebräuche rund um das Trauern, die vor allem im Prolog eine Rolle spielen, müssen erkennbar gewesen sein. Mit der Praxis des Verhandelns in ›Jan der Pfiffige‹ – dem Handeln mittels Handschlag – und den Vorgängen im Gerichtssaal – dem Aufrufen der Parteien – müssen die Zuschauer ebenfalls vertraut gewesen sein. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Jan in ›Jan der Pfiffige‹ tatsächlich dreimal ein Kalb hinter dem Vorhang hervorholte.38 Die Handlungsorte innerhalb der Stadt – Tor, Herberge und Gerichtssaal – werden nur verbal angedeutet und höchstens mithilfe einiger Requisiten grob umrissen (für die Szene im Gerichtssaal werden nur eine Bank und eine Glocke benötigt). Publikum Zweifelsohne ist das Publikum der drei Possen aus eigener Erfahrung oder Wahrnehmung mit den Normübertretungen und mit den entsprechenden Gebieten und Orten vertraut gewesen: mit der Liebe, der Ehe, mit Handel und Justiz, mit Trauern und Begraben, mit der städtischen Herberge (die im Mittelalter oft gleichzeitig ein Bordell war) und mit dem Rathaus (wo Recht gesprochen wurde). Schließlich enthalten die Possen eine Abbildung des eigenen Lebens. Ihre Wirkung – komisch, didaktisch oder in welcher Form auch immer – beruhte auf der Wiedererkennung der Personen und Situationen. Intrigen im Privatleben boten dafür die größten Chancen. Wenn ›Jan der Pfiffige‹ auch die Umkehrung im gesellschaftlichen Umgang der Bauern mit Städtern sucht, so ist die Perspektive hier trotzdem im höchsten Maße häuslich. Mehr als die Hälfte der Handlung spielt auf dem Land von Jan. Wie unterschiedlich auch das Verhältnis und der gegenseitige Umgang mit dem Ehepartner je nach Spiel ist und wie sehr der Anteil dessen an der Intrige variiert (groß in ›Narrenwasser‹, relativ groß in ›Die taube Leichenbitterin‹, nur am Rande in ›Jan der Pfiffige‹): die Tatsache, dass in allen drei Possen Ehepaare auftreten, ist doch vielsagend. Unter den Zuschauern vor der Bühne müssen sich viele (verheiratete oder unverheiratete) Paare befunden haben, die sich am Verhalten der Paare auf der Bühne spiegeln konnten. Und daneben junge Männer auf Freiersfüßen, denen durch das Schicksal der Freier in ›Die taube Leichenbitterin‹ eine Lehre erteilt wurde. Außerdem Handwerker, die sich an der Gutgläubigkeit der Metzger in ›Jan der Pfiffige‹ spiegeln konnten. Und Bauern wie Jan? Die natürlich auch, jedenfalls insofern sie am Tag der Aufführung in der Stadt waren. Denn dass die betreffenden Possen (und die meisten der uns bekannten Exemplare) zum städtischen Theaterrepertoire gehörten und für ein 38

Kramer [Anm. 17], S. 150.

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städtisches Publikum bestimmt waren, daran lassen die vorgenannten Fakten mit Bezug auf Herkunft und Aufführung keinen Zweifel. Zwei der drei Possen haben inhaltlich mit dem Feiern von Kirmessen zu tun. In ›Jan der Pfiffige‹ ist eine Bauernkirmes, genauer eine Kirmesmahlzeit, Teil der Handlung. Wurde das Spiel tatsächlich während einer Kirmes aufgeführt, dann war der Wiedererkennungseffekt umso größer. Und die Wiedererkennung der alltäglichen Gegebenheiten, vor allem, wenn es um Arbeit, Ehe und Familie geht, macht wenigstens zum Teil den Reiz eines komischen Theaterstücks für das Publikum aus – und für das moralistisch-didaktische Potenzial der Stücke. In der Sammlung von ‘Trou Moet Blijcken’ gibt es auch Spiele, in denen die interne Realität wesentlich mit der externen übereinstimmt. In dem Fall handelt es sich um Fastnachtsspiele, die nicht nur an Fastnacht aufgeführt werden, sondern bei denen sich die Handlung selbst auch an Fastnacht abspielt. Die Relevanz dessen, was dem Publikum präsentiert wird, wird in diesen Possen noch einmal betont, indem eine Moral ausgesprochen wird. Ihr Plot entwickelt sich in der Hauptsache rund um das Thema des Freiens und des Fremdgehens, mit anderen Worten also um den Ehekontakt und den Ehebruch. Letzterer wird dabei meistens in ungleichen Ehen situiert, in denen die Partner einen großen Altersunterschied aufweisen. Aufführung Was Possen wirklich komisch macht, ist die eigentliche Aufführung der Listen und Fallen, von der Entdeckung derselben und von der Konfrontation zwischen Tätern und Opfern. Wenn das alles im Dialog verwirklicht wird, in dem, was auf der Bühne gesagt wird, können wir als Leser – denn zu dieser Position sind wir als heutige Rezipienten historischer Theaterstücke durchweg verurteilt – viel davon mitbekommen. Es ist ja in erster Linie die Sprache, mit der die Figuren in den Possen andere betrügen oder selbst betrogen werden. Das fängt schon bei ihrer Namensgebung an, ganz besonders in ›Die taube Leichenbitterin‹. Vom ersten Moment an ist klar, wer zur unterliegenden Partei gehört. Die Prologfigur Steven hat den Beinamen ‘Beulenmann’, während Lippen als ein ‘Sauermund’ durchs Leben geht. Die drei Freier werden dem Publikum nacheinander als ‘Blinkzahn’, ‘Sauerbier’ und ‘Leerdarm’ vorgestellt, was ebenfalls wenig schmeichelhaft ist. Die Namen, die die jungen Frauen in der Personenliste tragen, geben dann auch tatsächlich an, wer in diesem Spiel das Sagen hat: die fröhliche Betgen und die unschuldig aussehende (‘Schönerschein’) Aechtgen. Abgesehen vom Sprechen der Figuren muss gar nicht viel passieren, um die komische Intrige lebendig werden zu lassen. Das Wortspiel, mit dem Werenbrachts Frau am Anfang von ›Narrenwasser‹ ihren nichts ahnenden Gatten aus dem Haus treibt, ist komisch genug. Dasselbe gilt für die Missverständnisse zwischen Baet und der tauben Nelle im Prolog von ›Die taube Leichenbitterin‹, oder für die sexuellen Anspielungen der drei Freier im gleichen Spiel.39 Noch komischer sind die verbalen Strategien – drei 39

Siehe auch Kramer [Anm. 17], S. 185–231 (über den Sprachgebrauch in Possen), bes. S. 197–198, 202, 205, 211–212, 215.

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Varianten auf dasselbe Thema – die Jan in den drei aufeinander folgenden Begegnungen mit den Metzgern in ›Jan der Pfiffige‹ gebraucht. Dass man übrigens auch durch einfaches Schweigen, oder jedenfalls durch Nicht-Sprechen, andere austricksen und das Publikum zum Lachen bringen kann, wird ebenfalls durch Jan deutlich. Dass Pfeifen im Niederländischen des 16. Jahrhunderts ein Synonym ist für ‘betrügen’, sagt genug. Seine sprachlichen Fähigkeiten – man denke an die Sentenzen, mit denen er das Spiel beendet – spiegeln das humanistische Interesse an der Rhetorik wider, das zu dieser Zeit zu einem großen Bildungsideal wurde. Von den drei Possen finden wir daher auch in ›Jan der Pfiffige‹ den Humor, der am meisten kultiviert ist. Aber wie amüsant die Worte auch sind, Possen müssen von dem leben, was gleichzeitig auf der Bühne gezeigt wird, von der Inszenierung des Textes, der Art und Weise, wie Worte durch den Gebrauch der Stimme, durch Timing, Mimik und Körperhaltung dem Zuschauer vermittelt werden. Darauf gehen die wenigen Regieanweisungen nicht ein, und auch im Dialog finden sich kaum Anweisungen, obwohl, wie gesagt, bestimmte Handlungen in den Text ‘eingeschrieben’ wurden. So oder so ist für die Interpretation genügend Material vorhanden. Das betrifft dann vor allem das, was die Figuren auf der Bühne tatsächlich tun. Und das ist in den Possen extrem viel. Es handelt sich ganz klar um Bewegungstheater, um Spektakel. Nur körperlich und daher visuell wahrnehmbar sind sechs große Handlungstypen: kämpfen, lieben, essen, sich verstecken, sich verkleiden und sich umziehen.40 Die beiden letzten Typen haben streng genommen eigentlich nichts mit Körperfunktionen zu tun, sondern mit dem, was den Körper bedeckt, der Kleidung. Insofern diese geschlechtsspezifisch ist und mit geschlechtsspezifischem Verhalten zusammenhängt, kann das Wechseln der Kleidung – cross-dressing – einen komischen Effekt erzielen, der auch wieder mit der Umkehrung von Normen zusammenhängt.41 Drei andere Typen – fluchen, heucheln und sich verstellen – sind evident sprachlicher Natur, haben aber auch physische Aspekte. In ›Narrenwasser‹ gibt Werenbrachts Frau vor, dass sie krank ist, sie küsst ihren Liebhaber und sie isst mit ihm zusammen, während Werenbracht sich im Hühnerkorb versteckt und es schließlich zum Kämpfen und Fluchen kommen lässt. In ›Die taube Leichenbitterin‹ ist das Verkleiden und Umziehen das zentrale Thema, und zwar für Betgen und Lippen, die außerdem noch gegenüber den drei Freiern vorgeben, dass sie jemand anders sind. Der komische Effekt wird vermutlich dadurch verstärkt, dass im sechzehnten Jahrhundert alle Frauenrollen von Männern gespielt wurden. Das war an sich schon eine Form der Travestie. Der Schauspieler, der Betgen spielte, verdoppelte diese noch einmal, indem er sich als Lippen ausgab. Er spielte eine Frau, die ihren Mann spielte, was eine Menge schauspielerisches Talent erforderte. Die drei Freier wiederum verstecken sich an verschiedenen Plätzen im Haus und verändern dort ihr 40

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Siehe auch Kramer [Anm. 17], S. 121–183 (über den Possenkörper), bes. S. 139, 164, 177, 179. Jean E. Howard, Cross-dressing, the theater, and gender struggle in early modern England, in: Lesley Ferris (Hg.), Crossing the stage. Controversies of cross-dressing, London [usw.] 1993, S. 20–46, hier S. 30–32.

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Äußeres. Und für sie gilt ein weiterer Handlungstyp: das Erblinden, mit allen denkbaren Folgen. Die verschieden Metamorphosen haben einen hohen Slapstickgehalt. Nicht zu vergessen, dass Faes, Bouwen und Heijn sich vielleicht ganz ausziehen. Das Bild der drei Männer, die sich am Stock festhaltend hinter Aechtgen herstolpern und sich später, nachdem sie von ihr im Stich gelassen werden, alleine weiterschleppen, um letztendlich im Wasser zu landen, erinnert stark an die sechs Unglücklichen, die auf dem Gemälde ›Die Parabel von den Blinden‹ von Pieter Brueghel genauso mühsam und mit demselben Ende – dem Fallen in einen Graben – ihren Weg suchen. Die Worte aus Mt 15,14 (‘Wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie beide in die Grube’) gelten auch für die drei Freier. Es liegt übrigens auf der Hand, dass sie dem Inhalt ihrer Beinamen in ihren Äußeren und in ihren Handlungen Ausdruck verleihen. In ›Jan der Pfiffige‹ geht es weitaus weniger körperlich zu. Das Heucheln und sich verstellen ist dort vor allem eine Sache der Worte. Das macht die Variationen in Körperhaltung und Gesichtsausdruck sowohl bei Jan als auch bei den drei Metzgern in ihren verschiedenen Begegnungen desto interessanter. Keine der Figuren wird in irgendeiner Form physisch bedroht oder angefasst, außer vielleicht Jan bei seiner Gefangennahme, aber die ist kaum ernst zu nehmen. Er maskiert sich aber und labt sich zusammen mit seiner Frau und den Nachbarn am Kirmesmahl, aber von fressen oder gar lieben ist nicht die Rede. Die Mahlzeit muss zivilisiert abgelaufen sein. Dem steht das Schimpfen und Fluchen der Metzger und des Anwalts gegenüber, wenn sie entdecken, dass Jan sie betrogen hat. Aber zum Kampf kommt es nicht. Das würde nicht zu den gesitteten Scherzen passen, die dieses Spiel ausmachen. Schließlich gehört auch die Musik, und zwar sowohl die Vokalmusik als die instrumentale, zum Arsenal dramatischer Mittel, deren man sich in den Possen bedienen kann. Zunächst einmal trägt sie dazu bei, die fröhliche Stimmung der Mahlzeitszenen in ›Narrenwasser‹ und ›Jan der Pfiffige‹ zu betonen. Im ersten Spiel wird nur vokal, im zweiten nur instrumental musiziert. Der Dudelsack in ›Jan der Pfiffige‹ war das typische Instrument herumziehender Musikanten, die bei Bauernkirmessen ihre Aufwartung machten. Das Lied des Geflügelhändlers in ›Narrenwasser‹ intensiviert die gute Stimmung, hat aber auch eine dramatische Funktion: es läutet die Konfrontation ein. Komödie Die drei Possen müssen ganz bewusst komisch genannt werden, und nicht satirisch.42 In komischen Stücken wird wegen der Figuren gelacht; sie werden nicht ausgelacht. Possen sind in erster Linie gutmütig. Bösartigen Humor würde das Publikum verwerflich finden. Im Idealfall müsste auch die Landbevölkerung über das Bild lachen 42

Für eine Übersicht von Auffassungen über Komödie und Humor siehe z. B. Morton Gurewitch, Comedy. The Irrational Vision, Ithaca [usw.] 1975, S. 13–48; Norman N. Holland, Laughing. A Psychology of Humor, Ithaca [usw.] 1982, S. 107–116.

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Bart Ramakers

können, das in den Possen vom Bauer gezeichnet wird, sei es vielleicht nur ein gequältes Lächeln. Ziel war es, dessen Merkmale und Eigenschaften so zu verallgemeinern, dass sich auch andere soziale Gruppen, insbesondere die Zuschauer selbst, in den Figuren wieder erkennen konnten. Dann konnte man vielleicht sogar etwas aus der Posse lernen, und das stimmt wieder mit der klassischen und im 16. Jahrhundert wiederholten didaktischen Funktion der Komödie überein. Der Begriff ‘Komödie’ wird hier absichtlich gebraucht. Es ist eine Übersetzung des lateinischen ‘comedia’, dem komischen Theater der Antike. Im 16. Jahrhundert war man sehr daran interessiert. Es diente als Lese- und Übungsstoff im lateinischen Unterricht und diente als Vorlage für neue Theaterstücke, sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache. Insbesondere die Komödien von Terenz wurden oft gespielt und nachgeahmt. Die Rederijkerposse ist sicherlich keine Imitation der klassischen Komödie, aber es finden sich dort vergleichbare Figuren und Situationen. Die Humanisten waren fasziniert von der inkongruenten Form der Sprache, der Handlungen und des Äußeren der Figuren – die Erasmus ‘närrisch’ nannte – und vom physischen Effekt – dem Lachen –, der dadurch aufgerufen wurde. Daher müssen sie auch für Possen Interesse gezeigt haben, gerade weil die sich meistens unter Bauern abspielen, die wegen ihrer natürlichen Lebensweise genauso eine Faszination ausstrahlten. Inwiefern die Welt der Posse sich der der komischen Humanistenliteratur annähert, zeigt sich in den ›Colloquia‹ von Erasmus. Eines davon, ›Absurda‹, gibt den sinnlosen Dialog zweier tauber Menschen wieder, genau wie in ›Die taube Leichenbitterin‹. In einem anderen, ›Hippoplanes‹, ist der betrügerische Verkauf eines Pferdes das Thema. Das erinnert stark an ›Jan der Pfiffige‹. Der Rederijker Cornelis Crul aus Antwerpen übersetzte beide ins Niederländische und arbeitete das zweite sogar zu einer ansehnlichen Posse aus.43 Wie bereits gesagt, ist die Welt der Posse eine der Inkongruenz und der Umkehrung. Es geht um die Erkenntnis (oder die Erfahrung), dass die Figuren Dinge sagen und tun, die miteinander nicht zu vereinen sind, und genauso wenig mit der Wirklichkeit außerhalb des Theaters (oder mit den Auffassungen, die die Zuschauer vertreten).44 Um durch die Wiedererkennung einen komischen Effekt erzielen zu können, muss das, was inkompatibel ist, so gut wie gleichzeitig gesagt, gezeigt oder beim Publikum aufgerufen werden. Insbesondere Text, der beiseite gesprochen wird, ist eins der effektivsten Mittel, um eine solche Gleichzeitigkeit zu erreichen. Jan gebraucht dieses Mittel wiederholt in ›Jan der Pfiffige‹. Für komisches Theater gilt, dass das Spiel mit Gegensätzen wichtiger ist als die Frage, welches der Dinge, die gesagt oder getan werden (oder die Auffassung, die man vertritt), am wichtigsten oder am besten ist. Es ist wichtig, dem Zuschauer immer wieder den Spielcharakter vor Augen zu führen und so den Brechtschen Effekt der Verfremdung bei ihm zu erreichen. Die Zuschauer können dann ihre Haltung zum Gesagten oder Gezeigten bestimmen, und sie können prüfen, ob und inwiefern dies mit der eigenen Wirklichkeit (oder den eigenen Auffassungen darüber) übereinstimmt oder in Konflikt ist.45 43 44 45

Hummelen [Anm. 5], Nr. 7.17 (›De Peertschalc‹). Holland [Anm. 42], S. 21–29. Ramakers, Kinderen van Saturnus [Anm. 15], S. 45–48.

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In diesen Possen fanden Methoden Anwendung, die bis heute im komischen Theater zum Einsatz kommen. Dass das Publikum über etwas lacht, das nicht erlaubt ist, hat mit indirekter Bestätigung und dem Durchbrechen von Tabus zu tun.46 Indem man die Übertretung zeigt, wird die Norm bestätigt. Die Übertretung muss sich nicht auf das beschränken, was die Figuren tun, sondern kann auch ihren Sprachgebrauch betreffen, so wie die sexuellen Anspielungen in ›Narrenwasser‹ und ›Die taube Leichenbitterin‹. Indem man über solche Worte und Taten lacht, kommt man mit dem Wunsch ins Reine, so etwas selbst einmal zu tun. Und dann gibt es noch den Prozess der Mechanisierung. Darunter fallen Wiederholungen in der Intrige, so wie sie in ›Die taube Leichenbitterin‹ und in ›Jan der Pfiffige‹ vorkommen, aber zum Beispiel auch Jans Pfeifen in letztgenanntem Spiel. Referenzen an das alltägliche Leben der Zuschauer sorgen für einen großen Wiedererkennungswert, der umso eindrucksvoller ist, weil er einen komischen Effekt erzielt. Zur Kontrastwirkung gehört die Inkongruenz von Worten und Handlungen, so wie das Wortspiel mit ‘Narrenwasser’ in der gleichnamigen Posse und die Missverständnisse zwischen Baet und Nelle im Prolog von ›Die taube Leichenbitterin‹. Schließlich ist da noch die Vorfreude, die mit der Spannung rund um erwartete oder angekündigte Ereignisse zusammenhängt. Alle drei Possen sind voll davon. Schlussbemerkung Am Schluss möchte ich noch etwas zum Verhältnis zwischen Sprechen und Handeln und dem möglichen Einfluss des Humanismus bemerken. Wir neigen dazu, die Posse als eine ausdrücklich körperliche Spielform zu charakterisieren. Es handelt sich um Bewegungstheater, um Spektakel. Was uns in der Posse lachen lässt, hängt in hohem Maße mit den Funktionen – vor allem in übertriebener, unpassender oder schamloser Weise – von Körper, Sinnen, Gliedmaßen und Geschlechtsteilen zusammen. Das alles wird nur zu gerne gezeigt, wobei man das Publikum durch Vergrößerung und Vergröberung sowohl des Normalen als des Abnormalen, also durch eine groteske Vorstellung, zum Lachen bringt. Interessant ist nun aber, dass sich in der Sammlung ‘Trou Moet Blijcken’ auch Possen befinden, die das Publikum vielmehr mit verbalem als mit körperlichem Humor zu erheitern versuchen, in denen von Anfang bis Ende ein subtiles Wortspiel gespielt wird, ein Spiel mit Verdrehungen und Missverständnissen, das eine mehr intellektuelle Rezeption unterstellt. ›Jan der Pfiffige‹ ist hierfür ein gutes Beispiel. Zukünftige Forschungen werden zeigen müssen, ob es sich hierbei um ein simultanes oder ein sukzessives Phänomen handelt.

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Hans van den Bergh, Konstanten in de komedie. Een onderzoek naar komische werking en ervaring, Amsterdam 1972.

Jelle Koopmans

Von der französischen Farce des Mittelalters zur Pariser Farce zwischen 1500 und 1520: Geschichte einiger Missverständnisse

Von der Romanistik aus gesehen, gibt es keine Gattung, die man leicht mit dem Fastnachtspiel vergleichen könnte. Ob das mit der Geschichtsschreibung des Theaters oder mit dem historischen Gegenstand zu tun hat, ist eine recht interessante komparatistische Frage, die sich hier jedoch nicht beantworten lässt; aber ich bin davon überzeugt, dass derartige Fragen der Forschung bald eine neue Orientierung geben werden: nicht nur das historische Objekt, sondern auch die Geschichte unserer Bemühungen sollte auf das Entstehen von Wissen ein neues Licht werfen – im fast Foucault’schen Sinne. Dazu kommt noch vieles, was eher mit historischer Soziologie als mit Theatergeschichte zu tun hat, in diesem Artikel jedoch nicht ausgearbeitet werden kann. Wenn man in der französischen Tradition des mittelalterlichen Dramas nach etwas sucht, das sich mehr oder weniger den Fastnachtspielen vergleichen lässt, stößt man natürlich auf die Farce, die ‘komischen’ Spiele, die selbstverständlich mit weltlichen dramatischen Traditionen Frankreichs im Mittelalter assoziiert werden. Komparatistisch betrachtet, ist es interessant, hier zu betonen, dass ‘Farce’ eine Gattung bezeichnen soll, ‘Fastnachtspiel’ hingegen eher situationsbezogen definiert ist. Merkwürdig ist auch, dass die Literaturhistoriker behaupten, dass alles, was sich ‘Farce’ nennt, von den archivalischen Belegen des frühen 15. (und auch noch des ausgehenden 14. Jahrhunderts) bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und bis zum Frühwerk von Molie`re, der gleichen, typisch französischen Gattung angehöre.1 Dies ist umso befremdlicher, als man gerade darauf hinweisen kann, dass die Periode von etwa 1430 bis 1550 eine Art ‘Explosion’ theatraler Produktionen zeigt, die mit einer wichtigen Entwicklung des theatralen Wissens und damit natürlich auch mit neuen wie auch neuer Füllung älterer theatraler Formen zu tun hat. Folgende Definition ist nicht unproblematisch – aber sie ist vielleicht die einzig mögliche: Eine Farce ist ein kurzes Spiel (sagen wir 500–1000 Zeilen), komisch, mit drei bis fünf Rollen. Später haben noch mehrere Konnotationen die Gattungsbezeichnung ‘Farce’ kompliziert, wie die Pariser Boulevard-Theater-Tradition (z. B. Feydeau und Labiche) und einige sprichwörtliche Ausdrücke wie ‘electoral farce’ oder ‘farce e´lectorale’. Die negativen Konnotationen sind dort klar. Aber im Allgemeinen assoziiert man die Farce mit Frankreich und dem Mittelalter. Das suggeriert ungerechtfertigterweise Kontinuität, eine nationale Tradition (etwa nach der Art eines ‘Volksgeistes’) und eine mittelalterliche ‘Primitivität’: Obszönität, Ehebruch, ‘Freude am 1

ˆ ge, Paris 1998; Michel Rousse, Siehe z. B. Charles Mazouer, Le the´aˆtre franc¸ais du Moyen A La sce`ne et les tre´teaux, Orle´ans 2004.

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Jelle Koopmans

Bösen’ und Skatologie sind natürlich nicht nur mittelalterlich – aber sind es nicht vielmehr Universalia? Sind es Themen, die einer französischen Tradition angehören? Man könnte leicht glauben, dass die Farce typisch französisch sei, und generisch kann man – so wird das meistens dargestellt – glauben, dass die Farce den dauerhaftesten Beitrag des mittelalterlichen französischen Theaters zur Theatergeschichte erbracht habe. Man denkt dann an Molie`re, an Georges Feydeau oder Euge`ne Labiche, aber es ist ebenso symptomatisch, dass Albert Bermel in seiner Monographie ‘Farce. A History from Aristophanes to Woody Allen’,2 nur drei Zeilen der ›Farce de maıˆtre Pathelin‹ widmet, um die ganze mittelalterliche Tradition zu beschreiben – das ist doch ein wenig dürftig. Ich bedaure es, dass es im Rahmen dieses Beitrags unmöglich ist, alle Einzelheiten der Forschungsgeschichte des weltlichen Dramas des französischen Mittelalters zu besprechen, denn man kann gerade an der französischen Forschungssituation gut erkennen, wie und warum gewisse politische und doktrinäre Voraussetzungen mehr als philologische Überlegungen die Geschichtsschreibung des Dramas bestimmen.3 Einige möchte ich doch gern nennen, ohne sie zu kommentieren: In der Geschichte des französischen Theaters bestand immer die implizite Voraussetzung, dass erst mit dem weltlichen Theater der wirkliche Anfang einer französischen Tradition zu beobachten ist. Das hat natürlich mit politischen und doktrinären Schwierigkeiten und Schwerpunkten im 19. Jahrhundert zu tun, die heute, würde man glauben, ganz uninteressant geworden sind. Wahrscheinlich muss dies im Rahmen der systematischen Trennung von staatlichen und kirchlichen Belangen und der berühmten ‘laı¨cite´’ der Republik gesehen werden. Des Weiteren ist es in der Beschreibung der Farce immer implizit wichtig gewesen zu betonen, dass es sich um eine authentische französische Tradition handle. Dort besteht natürlich vor allem der Wunsch, den Anteil des italienischen Materials zu minimieren – mit andern Worten: das Molie`re’sche Drama beruhe auf einer soliden französischen Tradition und es habe sich unabhängig von italienischen Modellen entwickeln können. Es existiere demnach ein ‘esprit gaulois’ von ‘plaisanteries bien de chez nous’, unabhängig vom Italianismus der Renaissance. Dazu kommt noch etwas: Die romantische Literaturgeschichtsschreibung hat sich in den Kopf gesetzt, dass jede Literatur mit einem absoluten Meisterwerk anfange wie beispielsweise Homer, ›Chanson de Roland‹, ›Beowulf‹ und so weiter. Für die französische Tradition gilt dasselbe – und hier übersetze ich wörtlich einen Professor aus Paris: »jede Literatur fängt mit einem Meisterwerk an, und für die Farce ist das ›Pathelin‹«. Man kann natürlich ›Pathelin‹ nicht zur Seite schieben, aber es handelt sich hier um eine Ausnahme. Man kann nur sagen, dass zu der Zeit, als die anderen Farcen im ‘theatralen’ id est-Register-Format gedruckt wurden, ›Pathelin‹ nur im ‘poetischen’ octavo-Format gedruckt worden ist, so wie die Gedichte Franc¸ois Villons oder Guillaume Co2 3

Albert Bermel, Farce. A History from Artistophanes to Woody Allen, Evanston 1997. Dazu wird ein Sammelband erscheinen: Marie Bouhaı¨k, Katell Lave´ant u. Jelle Koopmans (Hgg.), Les pe`res fondateurs du the´aˆtre me´die´val, Orle´ans 2008.

Von der französischen Farce des Mittelalters zur Pariser Farce zwischen 1500 und 1520

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quillarts. Wenn man diesen Befund typologisch interpretierte – und die Produktion der Postinkunabeln rechtfertigt das –, ergäbe dies einen großen Unterschied; und das bedeutet, dass zumindest zur Zeit, als ca. 50 Prozent der französischen Farcen publiziert worden sind, ›Pathelin‹ nicht länger zu demselben theatralen Bereich gehört, sondern in eine Art ‘Kanon klassischer Texte der Vergangenheit’ übergetreten ist. Dazu kommt noch, dass diese Farce in ihren zu jener Zeit gedruckten Editionen nicht ›La farce de . . .‹ genannt wird, sondern einfach ›Pathelin‹ oder ›Maistre Pierre Pathelin‹ und selbst ›Pathelin le grant et le petit‹. Eine dritte Bemerkung ist eher historischer Art: Jeder sollte sich bewusst sein, dass die ‘große Tradition’ des französischen Dramas natürlich vor allem Komödie und Tragödie umfasst und diese Formen oder Gattungen aus der Renaissance stammen (man muss sagen, dass die erste reguläre Tragödie und Komödie erst um 1550 nachzuweisen ist – andererseits kann man darauf hinweisen, dass es schon viel früher manche Beispiele mit den Termini ‘come´die’ und ‘trage´die’ in einem dramatischen Sinne gibt – darauf werde ich später nochmals zurückkommen). Gerade darum soll die Tradition anderer Gattungen mittelalterlich sein und zweigeteilt werden, nämlich in religiöses Theater (wie etwa die Tragödie) und weltliches Theater, manchmal auch als ‘komisches Theater’ bezeichnet (wie etwa die Komödie). Noch eine kurze Anmerkung: Vieles, was man über Gattungen sagen kann, muss auf diejenigen zurückgeführt werden, die den Schauspielen ihren Titel gegeben haben, und für das Material der Farce war dies meistens ein Drucker – für etwa 50 Prozent der Farcen ist Jean Trepperel oder seine Witwe verantwortlich. Es könnte sein, dass der Begriff ‘Farce’ im frühen 16. Jahrhundert vor allem auch für die Leser interessant war. Zudem ist es sehr wichtig zu wissen oder zu verstehen, wie diese 50 Prozent der erhaltenen Texte geordnet wurden: Ist es die Auswahl der Witwe Trepperel oder ist es einfach das, was sie in die Hände bekommen konnte? Ist es viel oder ist es wenig, vielleicht gerade sehr wenig im Hinblick auf alle aufgeführten Dramen? Ist es mehr oder weniger repräsentativ oder ist es nur ein Bruchstück der ganzen Farce-Tradition, nur das, was einer Druckwerkstatt zufällig in ‘die Hände gefallen ist’? Darauf werde ich ausführlicher zurückkommen. Nach dieser etwas ‘dekonstruktivistischen’ Einleitung kommen wir zur Beschreibung der Farce. Wie ich sie hier präsentiere, ist sie neu, ‘unveröffentlicht’ (das ist etymologisch gesehen die Bedeutung von ‘anekdotisch’), aber sie ist auch ein wichtiges Element einer Neuorientierung der Forschung und beschäftigt sich darum mit elementaren Fragen. Was man zuerst klarstellen muss – und damit werden schon einige der wichtigsten Probleme der Forschung beseitigt –, ist, dass die französische Farce des Mittelalters natürlich nicht mittelalterlich ist und sein kann und dass es sich in keiner Weise um eine typisch französische Gattung handelt. Die traditionelle Vorstellung der Gattung stimmt nicht mit dem Zeugnis der Texte überein; zu den archivalischen Belegen der Farce haben mehrere Forscher angemerkt, dass sie ein widersprüchliches Verhältnis zu den Texten einerseits und zur Theatergeschichte andererseits hätten. Dazu kommt,

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dass die Datierung der erhaltenen Texte manchmal problematisch ist, aber die Ergebnisse der Forschung des letzten Jahrzehnts legen den Schluss nahe, dass es sich manchmal eher um das beginnende 16. Jahrhundert als um mittelalterliche Traditionen handelt – und dass manche Texte noch viel später zu datieren sind (man denke an die normannischen Farcen der ‘La Vallie`re-Handschrift’ (ms. fr. 24341, BnF), die zwischen 1550 und 1570 entstanden sind4). Nur weil es eine französische Farce des Mittelalters gibt (und die ›Farce von Maıˆtre Pathelin‹, um 1460 entstanden, ist ein gutes Beispiel), darf man doch nicht annehmen, sie sei maßgebend für eine ganze Gattung – und vielleicht müssen wir einfach versuchen, die Gattungsproblematik zurückzustellen, um zu einer eher historisierenden Sicht auf die Farce zu kommen. Eine genaue Datierung der Spiele, wie oben angegeben, ist darum in dieser Hinsicht unerlässlich. Während des Jahrhunderts von 1450 bis 1550 sieht man in den französischsprachigen Gebieten – und das ist viel mehr, aber auch viel weniger als das heutige Frankreich – eine bemerkenswerte Entwicklung des Dramas. Man kann natürlich an die Massen-Mysterien denken, von der ›Passion‹ in vier ‘journe´es’ Eustache Mercade´s (in Arras, um 1435) zur ›Passion von Valenciennes‹ (1547, 25 ‘journe´es’); aber auch für die Farce gilt zweifelsohne, dass eine Entwicklung nachzuweisen ist, dass sich ein neues Wissen konstituiert hat, ein ‘savoir faire’, das sich während mehr als 100 Jahren natürlich entwickelt hat und nicht statisch gewesen sein kann. Diese Aussage ist so evident, dass es erstaunlich ist, dass sie kein Forscher bisher formuliert hat. Ein zweiter wichtiger Punkt in Bezug auf eine neue Historisierung der Farce gilt der Lokalisation: Es hat niemals eine ‘französische’ Farce gegeben. Es hat in Frankreich und in den französischsprachigen Gebieten gewiss Spiele gegeben, die man ‘Farce’ nannte, aber diese kann man nicht automatisch als einheitliche Tradition betrachten. Es handelt sich um rein lokale oder um regionale Traditionen, wie zum Beispiel diejenige der theatralen Wettbewerbskultur in den Städten Nordfrankreichs, und manchmal auch um lokale subkulturelle Ebenen wie im Fall des UniversitätsTheaters in Paris, Toulouse und Caen:5 Hier wird die Reformation, dort werden politische Probleme dargestellt, hier geht es um Kompetenz-Konflikte zwischen Parlament und Universität, dort handelt es sich um eine turbulente Jugend-Kultur. Jede Farce hat ihre Zeit, jede Farce hat ihren Ort. Es ist eigentlich unglaublich, dass man das heute als etwas Neues präsentieren kann. Die Farce hat also eine Geschichte – sie ist nicht nur Geschichte. Dass ich hier also einiges über die französische Tradition darlege, hat mit meinem Versuch zu tun, die Geschichte des französischen Theaters des Mittelalters neu zu 4

5

Werner Helmich, Le manuscrit La Vallie`re. Fac-simile´ de l’original, Gene`ve 1972 (Slatkine Reprints), S. V. Dazu Jelle Koopmans, Les universite´s contre le roi: Caen 1492 et Toulouse 1507, in: Christel Meier, Heinz Meyer u. Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496: 4), S. 229–236.

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schreiben oder wenigstens eine neue Definition und einen neuen Begriff des historischen Objekts ‘Theater’ zu formulieren. Manche der Folgerungen stammen aus meinem Projekt ‘Regionale Kulturen und lokale Subkulturen: Welten des Dramas in Frankreich (1450–1550)’, an dem ich mit meinen Mitarbeiterinnen Katell Lave´ant, Estelle Doudet und Marie Bouhaik gearbeitet habe.6 Natürlich, und das ist immer problematisch in der Komparatistik, wird es vor allem um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach gehen, was aber hoffentlich doch einigen Nutzen für die Germanistik hat; es scheint, als seien die germanistischen Studien über das weltliche Theater des ausgehenden Mittelalters ausgereifter als das, was wir in der Romanistik bisher erarbeitet haben – dies als einfache Feststellung. Damit erreichen wir den Kern meines Beitrags: Wenn man versucht, ohne allzu viele Spekulationen herauszufinden, wann und wo man die viel gerühmten französischen Farcen situieren kann, stößt man auf eine ganze Reihe von nicht leicht überprüfbaren ‘Daten’ – davon kann man eigentlich nicht sprechen, aber wie soll man diese ‘Resultate’ (das ist es auch nicht) oder ‘Angaben’ der traditionellen Forschung denn nennen? Man hat sich auf eine spekulative Art immer darum bemüht, die erhaltenen Texte einem bestimmten Bild der Gattung einzufügen. Die Datierungen sind problematisch oder einfach falsch oder gründen auf Datierungen, die problematisch sind oder auf anderen Datierungen beruhen. Für die Lokalisierung der Texte gilt mehr oder weniger dasselbe. Dazu kommt noch, dass Generationen von Philologen linguistische Atlasse und Wörterbücher verwendet haben, die auf einem unvollständigen Korpus von Texten basieren. Anders gesagt: ‘on ne preˆte qu’aux riches’ oder, wie in den Niederlanden, ‘De duivel schijt altijd op de grote hoop’.7 Versuchen wir also, die französische Farce auf eine andere Art und Weise zu beschreiben und mit einem neuen Set an Parametern einiges über die vermeintliche Tradition der mittelalterlichen Farce deutlicher zu formulieren. Es ist immer wichtig, sowohl von Texten als auch von archivalischen Belegen zu wissen, wo, warum, wie und für wen sie konstituiert worden sind. Das ist doch selbstverständlich, würde man sagen, aber für unseren Gegenstand, die Farce, ist das leider nicht der Fall. Dabei muss zuerst einiges zu den Quellen oder – genauer – zu den erhaltenen Texten gesagt werden: Wenn man versucht, den großen Linien zu folgen (und einige Ausnahmen wie ›Pathelin‹ zur Seite schiebt), sieht man, dass es vier wichtige Quellen gibt: Zuerst sind da der ‘Recueil Trepperel’ und der ‘Recueil de Florence’, zwei 6

7

Katell Lave´ant, Cultures dramatiques dans les villes des Pays-Bas me´ridionaux, Diss. Amsterdam 2007; Estelle Doudet, ‘Finis allegoriae’, une trope proble´matique sur la sce`ne franc¸aise. Nouveaux questionnements de l’alle´gorie au the´aˆtre, in: Denis Hüe, Mario Longtin u. Lynette Muir (Hgg.), Mainte belle oeuvre faicte: e´tudes sur le the´aˆtre me´die´val offertes a` Graham A. Runnalls, Orle´ans 2005, S. 117–144; Marie Bouhaı¨k-Girone`s, Les clercs de la Basoche et le the´aˆtre comique, Paris 2007; Jelle Koopmans, Les farces du Recueil de Florence, Orle´ans 2008 (erscheint demnächst). Dazu: Jelle Koopmans, Un chacun n’est maıˆtre du sien. Auteurs, acteurs, repre´sentations, textes, in: Tania Van Hemelryck u. Celine Van Hoorebeeck (Hgg.), L’e´crit et le manuscrit a` ˆ ge, Turnhout 2006, S. 147–167. la fin du Moyen A

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Sammelbände.8 Beide sind vom Pariser Drucker Jean Trepperel oder später von seiner Witwe, assoziiert mit Jean Janot,9 gedruckt worden. Solange wir nicht genau wissen, woher und von wann die Texte stammen, können wir nicht, wie man es immer getan hat, behaupten, es handle sich um mittelalterliche Farcen, die natürlich viel älter und viele Male gedruckt worden seien, alle frühen Drucke aber seien verloren. Ausgangspunkt sollte eher sein, dass es um Pariser Texte des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts geht – dies wird durch die Elemente absoluter Datierung der Texte gestützt. Einige Texte kommen nicht aus Paris, sondern entstammen der normannischen Universität Caen. Weiter gibt es eine Sammlung, die als ‘Recueil du British Museum’ bekannt ist.10 Sie datiert aus den Jahren 1540–1545 und enthält Pariser Texte (gedruckt vom Nachfolger der Witwe Trepperel in ihrer Werkstatt in der ‘Rue Neuve Notre Dame’) und eine Reihe von Texten aus Lyon. Drittens gibt es eine Repertoire-Handschrift, bekannt als ‘Manuscrit La Vallie`re’, transkribiert um 1570, mit normannischen Texten, zweifelsohne Mitte des 16. Jahrhunderts zu datieren.11 Wir müssen davon ausgehen, dass es keine vergleichbaren Ebenen gibt. Die normannischen Texte sind zum Teil engagiertes Theater im Rahmen der religiösen Konflikte (man nannte die Normandie ‘parva Germania’, ‘kleines Deutschland’, weil es so viele Protestanten gab); es sind Farcen mit einer ganz anderen Bedeutung als diejenigen der Pariser Sammlungen. Analog dazu kann man behaupten, dass die Farcen des ‘Recueil du British Museum’ auch teilweise eine andere Gattung konstituieren als die Pariser Farcen der zwei Sammelbände mit Trepperel’schen Texten. Natürlich ist es möglich, dieses auch für andere Gattungen des sogenannten mittelalterlichen Dramas Frankreichs weiter zu erforschen, aber das wäre Stoff für eine andere Publikation. Unser neuer Ausgangspunkt ist jedoch, die erhaltenen Texte zuerst in der Logik ihrer Überlieferung zu betrachten und damit den Begriff ‘Gattung’ zu tilgen und durch ein angemessenes historisches Verfahren zu substituieren. Die Masse der erhaltenen Farcen ist keine Einheit, keine eigenständige Tradition; es lässt sich aber eine Entwicklung erkennen, die man mit dem Gattungsbegriff nur fassen kann, wenn man ihn dynamisch und historisch verwendet. Hier versuchen wir so etwas für die Farcen zu leisten.

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Euge´nie Droz, Le recueil Trepperel, les sotties, Paris 1935; Euge´nie Droz u. Halina Lewicka, Le recueil Trepperel, les farces, Gene`ve 1961; Euge´nie Droz, Le recueil Trepperel, fac-simile´ de l’original, Gene`ve 1966; Gustave Cohen, Recueil de farces franc¸aises ine´dites du XVe sie`cle, Cambridge (Mass.) 1949; Koopmans [Anm. 5]. Jelle Koopmans, Du texte a` la diffusion, de la diffusion au texte, in: Le Moyen Franc¸ais 46–47 (2000), S. 309–326. Halina Lewicka, Le recueil du British Museum, fac-simile´ de l’original, Gene`ve 1970; Anatole de Montaiglon u. Viollet-le-Duc (Hgg.), Ancien the´aˆtre franc¸ois, Bd. 1–3, Paris 1854–1857. Siehe Helmich [Anm. 4], S. V.

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Für ein derartiges Verfahren ist zunächst deutlich zu machen, dass die Werkstatt von Trepperel oder seiner Witwe zwischen 1509 und 1521 für ca. 50 Prozent der erhaltenen Farcen verantwortlich ist; dass diese nicht ‘französisch’ sind, aber aus Paris (und aus der Normandie – ich komme darauf zurück) stammen; dass diese nicht mittelalterlich sind und nicht einfach mit der ›Farce von maıˆtre Pathelin‹ verglichen werden können, denn sie sind erst 50 Jahre später entstanden. Dazu kommt, wie ich schon früher betont habe, dass sie als ein ‘Repertoire’, fast im modernen Sinne des Wortes, betrachtet werden können.12 Es gibt so viel Intertextualität, so viele Verweise, dass es scheint, als hätten wir hier in den zwei Sammelbänden eine mehr oder weniger kohärente Sammlung. Das ist eine eigenständige Tradition, unabhängig von ›Pathelin‹ und unabhängig von späteren Materialien. Für die französische Theatergeschichte ist es neu, dies so zu sehen. Das reicht jedoch nicht aus. Wenn es möglich ist, eine eigenständige Pariser Tradition zu definieren, möchte man natürlich auch gerne wissen, worauf sich eine solche Tradition gründet. Welche historischen Objekte haben aus welchen Gründen ein gewisses Bild einer Gattung bestimmt? Man möchte doch auch wissen, wie es zu erklären ist, dass eine so schöne Dokumentation des Pariser Theaterlebens erhalten wurde. Was hat die Witwe Trepperel motivieren können, uns damit zu beschenken? Dass sie Leser für ihre Farcen zu finden glaubte, ist klar (die Frage nach dem Publikum werde ich an anderer Stelle klären), aber sie hat auch das Glück gehabt – und das ist schwieriger zu erklären –, eine ganze Menge Texte zur Verfügung zu haben. Wie hat sie das geschafft? Literaturhistoriker können dann und wann naiv sein, zum Beispiel wenn sie glauben, dass diese Texte für die Konkurrenz gedruckt worden seien (so etwas tut ein Dramatiker jedoch niemals).13 Man weiß doch, oder sollte wissen, dass das Kapital der Schauspieler – und Kontrakte, nicht nur jene aus der Zeit Molie`res, sondern auch jene aus dem 16. und auch noch aus dem späten 15. Jahrhundert, weisen dies nach – aus zwei Elementen bestand: Kostüme und Repertoire. Das Repertoire gibt man nicht so einfach einem Drucker oder einem Konkurrenten – und doch hat die Witwe plötzlich so viele Texte gefunden, bekommen oder gekauft. Bevor ich eine – spekulative – Rekonstruktion präsentieren werde, noch etwas Technisches: Die Farcen des ‘Recueil de Florence’ (die ich selbst in einer privaten Sammlung eingehender studiert habe als die des ‘Recueil Trepperel’, der heute in der Bibliothe`que Nationale de France aufbewahrt wird) belegen, dass sie schnell, wahrscheinlich in Serie, gedruckt worden sind: Blinddruck von Titelholzschnitten anderer Farcen und Makulatur zeigen, dass die Witwe Trepperel schon die nächste Farce gedruckt hatte, bevor die Tinte der ersten ganz trocken war. Das ist sehr interessant und scheint weiter zu belegen, dass sie plötzlich eine Menge Farcen zur Verfügung gehabt hat. 12

13

Jelle Koopmans, Mondes du the´aˆtre et the´aˆtre du monde, in: Jean-Pierre Bordier (Hg.), Le jeu the´aˆtral, ses marges, ses frontie`res 1999, S. 17–35. So lautet die häufig wiederkehrende Erklärung von Andre´ Tissier (Hg.), Recueil de farces (1450–1550), 13. Bde., Gene`ve 1986–1998.

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Zum zweiten Teil meines Beitrags: den konkreten Modalitäten der Zusammenstellung des erhaltenen Korpus der Pariser Farcen. Was ich darüber sagen werde, ist in gewisser Hinsicht ein Konstrukt. Beginnen wir mit einigen Datierungen: Um 1514 sterben Triboulet (einer der vielen Triboulets, aber es ist derjenige, der in mindestens drei unserer Spiele auftritt) und Caillette (der in mindestens einem der Spiele auftritt).14 Um 1517 verlassen zwei der wichtigsten Schauspieler Paris:15 Pierre Gringore, der oft vor dem König und der Königin gespielt hat und ein wichtiger Propagandist gewesen ist, und sein Mitarbeiter Jean de Pontalais oder Jean de l’Espine, auch gut bekannt als Songecreux. Man könnte auf Gringore als möglichen Vermittler des Repertoires hinweisen: Hat er nicht, bevor er Paris verlassen hat, seine Texte der Witwe Trepperel überlassen können? Unwahrscheinlich ist das nicht, besonders weil damit die Anwesenheit normannischer Farcen in den beiden Sammelbänden, die wohl aus der dramatischen Produktion der Universität Caen stammen, leicht zu erklären ist. Man könnte sie problemlos Gringore zuschreiben, denn er wurde in der Normandie geboren, ist dort aufgewachsen und hat wahrscheinlich seine Studien im kanonischen Recht an dieser Universität verfolgt und ist erst später nach Paris gekommen. Die normannischen Texte, die zu datieren sind, stammen ja alle aus der Periode von 1492–1496. Um 1499 ist Gringore in Paris nachgewiesen. 1499 ist das Datum der ersten Pariser Drucke von Gringores Texten und auch, so muss man annehmen, das Datum der ›Sottie de l’Astrologue‹,16 ein sehr kritisches Spiel, das die Königin Jeanne de France gegen den König Louis XII. und seine neue Frau Anne de Bretagne verteidigt und natürlich auch gegen den Papst, der die Scheidung anerkannt hat. Die Pariser Universität hat sich für Jeanne de France stark gemacht, und Jean Standonck ist sogar verbannt worden wegen seiner Unterstützung Jeannes gegen Anne. Was man auch davon hält – persönlich bin ich nicht ganz überzeugt von der Zuschreibung an Gringore und eigentlich auch nicht von dem Datum –, sicher ist, dass Gringore 1501 sich in Paris mit Jean Marchand verbindet, einem Zimmermann, um den Einzug von Philipp von Österreich in Paris zu organisieren.17 Der Zimmermann Jean Marchand war ein wichtiger Mann: Im Juni 1498 hatte man ihm schon 1010 Pfund bezahlt, um das Hoˆtel d’Etampes für Anne de Bretagne zu restaurieren.18 Die Assoziation von Gringore und Marchand hat bis 1517 gedauert, also bis zu dem Moment, als Gringore Paris verlässt. Zwei Anmerkungen müssen hier gemacht werden: Zuerst erinnert uns die Assoziation zwischen einem Zimmermann und einem Dichter an die praktischen Seiten des mittelalterlichen Theaters, das in Paris einige bauliche Aspekte umfasst hat 14

15

16

17 18

Siehe Anatol de Montaiglon u. James de Rothschild (Hgg.), Recueil d’anciennes poe´sies franc¸oises, Paris 1855–1878, Bd. X, S. 377. Hierzu Pierre Gringore, Le Jeu du Prince des Sotz et de Me`re Sotte, hg. v. Alan Hindley, Paris 2000, S. 18–27. Emile Picot, Recueil ge´ne´ral des sotties, Paris 1902–1912, Bd. I, S. 195–232; eine neue Edition wird vorbereitet durch Marie Bouhaı¨k-Girone`s. Die Zuschreibung ist von Eugenie Droz, Le recueil Trepperel, les sotties [Anm. 8], S. 316. Die folgenden Biographica stammen von Hindley [Anm. 15]. Georges Minois, Anne de Bretagne, Paris 1999, S. 381.

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– Theaterpraxis meint nicht nur, wie Literaturhistoriker das so gern glauben wollen, die Konstitution eines Textes, sondern vor allem die praktische Organisation eines Schauspiels, und theaterarchitektonische Überlegungen sind vielleicht manchmal viel wichtiger gewesen als literarische Fragen. Zweitens muss man bedenken, dass diese über zwanzig Jahre dauernde Assoziation – da man immer in den Rechnungen explizit den beiden Männern gezahlt hat – uns natürlich an die Bedeutung des assoziativen Rechtes des ausgehenden Mittelalters erinnert. Zwischen den beiden muss etwas wie ein Vertrag oder Kontrakt bestanden haben, in dem vereinbart war, wie man das Geld verteilt. Eine legale Formel, sei es mündlich oder schriftlich, hat zweifelsohne die gegenseitige Verantwortlichkeit, die Verpflichtungen und Rechte vertraglich geregelt. Auf die Bedeutung des assoziativen Rechtes komme ich später zurück. Gringore war ein wichtiger Organisator oder Agent in der Theaterwelt in Paris, aber er hat sicherlich nicht allein gearbeitet. Er muss einige Personen um sich gehabt haben – Schauspieler oder Dramatiker, aber auch Handwerksleute wie einen Zimmermann –, mit denen er zusammenarbeitete. Natürlich erinnert man sich zuerst an den Namen von Jean de l’Espine oder de Pontalais alias Songecreux. Jean de Pontalais wird ja Gringore nach 1517 nach Lothringen folgen, aber er hat eine Rolle in ›Le Jeu du Prince des Sotz‹ (geschrieben von Gringore 1512, Paris19) – und taucht später wieder in Paris auf und ist danach in Compie`gne als offizieller farceur des Königs belegt. Man denke auch an den Narren Caillette, gestorben 1514, der wohl die Rolle des ‘Ge´ne´ral d’Enfance’ (General der Kindheit) im selben Stück gespielt hat, aber auch in der ›Farce der Wiederauferstehung von Jenin a Paulme‹ (im Sammelband aus Florenz) auftritt.20 Noch interessanter ist der Beleg in einer Rechnung, wo eine Summe an die »facteurs et inventifs« von »mistaires et esbatemens« bezahlt wurde, und zwar »M. Regne´ de Collerie, Jehan Versoris, Claude Lebrest, Jehan le Secretaire, Mere Sotte et autres«.21 Der Name ‘Jehan le Secretaire’ eröffnet viele Perspektiven, weil er nachzuweisen scheint, dass es eine gewisse Organisation gegeben hat in dem, was man anachronistisch ‘Truppe’ nennen kann. Auch sehr interessant ist der Name ‘Regne´ de Collerie’, der wohl auf Roger de Collerye hinweist, den Dichter aus Paris und Auxerre, der, seit 1494 Sekretär des Bischofs von Auxerre, um 1505 wegen finanzieller Komplikationen wieder in Paris war.22 Derartige Serien von Namen sind keine Ausnahme in dieser Zeit: man denke an die Affäre von Guillaume Cre´tin um 1506, als Autor und Schauspieler fliehen mussten;23 man denke auch an Jacques le Basochien, Jean Seroc und Jean de Pontalais, die 1516 nach Amboise gebracht wurden, weil sie einige »farces de seigneurs« gespielt hatten.24 Dies zeigt, 19 20 21 22

23 24

Hg. v. Hindley [Anm. 15]. Cohen [Anm. 8], no L. Hindley [Anm. 15], S. 21. Sylvie Le´cuyer, Roger de Collerye, un he´ritier de Villon, Paris 1997, S. 9–27. Meine Neuausgabe des Florentiner Sammelbandes wird die Implikation von Collerye im theatralen Leben zu Paris noch weiter dokumentieren. Koopmans [Anm. 12]. Ludovic Lalanne, Journal d’un bourgeois de Paris sous le re`gne de Franc¸ois Ier, Paris 1854, S. 44.

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wie wichtig eine gemeinschaftliche Arbeit gewesen sein kann: Dokumente verbinden Schauspieler oder belegen, dass Schauspieler sich assoziiert haben. Damit stellt sich natürlich auch die Frage nach dem Berufstheater. Zeitgenössische Quellen weisen nach, dass es im Theater Ende des 15. Jahrhunderts Professionalität gab. Elisabeth Lalou hat einen Kontrakt entdeckt, in dem Pariser Schauspieler sich zusammentun, Herman Brinkman hat etwas Ähnliches von 1477 aus Brüssel gefunden25 – es hat also schon am Ende des Mittelalters professionelles Theater gegeben. Es wäre schwierig zu glauben, dass ausgerechnet Gringore, der während der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts die Theaterwelt in Paris dominiert zu haben scheint, nicht auf irgendeine Art und Weise mit anderen Schauspielern oder Dramatikern assoziiert gewesen wäre. Kehren wir zurück zum Repertoire, das von Trepperel oder seiner Witwe gedruckt worden ist. Die erste Farce des Florentiner Sammelbandes, geschrieben von Roger de Collerye, die ›Wiederauferstehung von Jenin a Paulme‹, hat eine Rolle für Caillette, die Farce ›Digeste Vieille‹ ist von Gringore geschrieben worden, die Farce ›Kinder aus Bagneux‹ ist von Cre´tin, die ›Farce des Femmes qui font renbourer leur bas‹26 ist von Jean Serre.27 Im ‘Recueil Trepperel’ finden sich normannische Texte von Pierre de Lesnauderie und seinen Kollegen der Universität von Caen (›Die Mahlzeit der Götter‹, ›Die Pilgerfahrt der hl. Caquette‹), diverse Narrenspiele von Pierre Gringore (oder ihm zugeschrieben). Daneben gehören viele Spiele offensichtlich zum selben Repertoire, z. B. die Sotties VIII, IX und X des Trepperel-Bandes, die ja auch einige Farcen des ‘Recueil de Florence’ zitieren.28 Das bedeutet, dass die zwei erhaltenen Sammelbände, der ‘Recueil Trepperel’ und der ‘Recueil de Florence’, wesentlich sind, um die Theaterwelt, die wir hier zu spezifizieren versuchen, genauer zu beschreiben. Ausgehend von der Wichtigkeit des assoziativen Rechts zu jener Zeit und genereller, von der Wichtigkeit des Repertoires für den Dramatiker, kann man nicht glauben, dass ein einziges Individuum alle Spiele der Witwe Trepperel überlassen haben konnte – oder, genauer gesagt: der Witwe Trepperel und ihrem Associe´ Jean Janot. Es ist eher das Resultat einer gemeinschaftlichen Entscheidung gewesen. Warum haben denn unsere Spieler zu einem bestimmten Zeitpunkt den Beschluss gefasst, ihre Texte zu verkaufen? Logischerweise haben sie ihr Repertoire weggegeben, als sie nicht mehr glaubten, dass sie diese Spiele in Paris noch aufführen würden. Es ist möglich, aber hier wagen wir uns auf Glatteis, dass die Situation unserer Schauspieler um 1517 problematisch war: Caillette und Triboulet sind 1514 gestorben; Jean de Pontalais und Jean Serre (mit dem rätselhaften Jacques le Basochien) sind gerade im April 1517 freigelassen worden, denn sie hatten wegen ihres Spiels, in dem sie den Hof satirisch dargestellt hatten, politische Probleme – und darum sind sie, 25

26 27 28

Darwin Smith, Maistre Pierre Pathelin, le Miroir d’Orgueil, Saint Benoit sur Sault 2002, S. 152; Herman Brinkman, Spelen om den Brode. Het vroegste beroepstoneel in de Nederlanden, Literatuur 17 (2000), S. 98–106. Cohen [Anm. 8], n° XXXVI. Um einige der Zuschreibungen meiner neuen Ausgabe [Anm. 6] zu rekapitulieren. Dazu: Koopmans [Anm. 7].

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wie wir gesehen haben, zu dritt nach Amboise gebracht worden. Im Mai 1517 haben Gringore und Marchand noch den Einzug der Königin Claude organisiert, »suivant le devis et marche´ fait avec eux par le Lieutenant criminel, procureur du roi et greffier audit Chastellet«29 (»devis« und »marche´« sind nicht leicht zu übersetzen: ‘Regulierung’ oder ‘Abmachung’ können auch gemeint sein – ‘mit dem Strafrichter’). »Devis« und »marche´« erinnern uns wieder an die Wichtigkeit des Rechtes für theatrale Aktivitäten, ebenso der »Lieutenant criminel«. ‘Seither nichts Neues im Westen’ (Paris), aber um 1517–1518 arbeitet Gringore für den Herzog von Lothringen, jedenfalls spielt er Farcen am 24. Februar 1518 vor ihm (wenn die Angabe nach heutigem Zeitverständnis korrigiert wird, heißt das Fastnacht). Bald danach lässt sich feststellen, dass Jean de Pontalais Gringore nach Lothringen gefolgt ist. Zwischen 1516 (der letzten absoluten Datierung, die man den gedruckten Farcen entnehmen kann: die ›Farce des Kapitäns Schlecht Dran‹ verweist auf Franz’ I. Besuch in Vendoˆme30) und 1519 (Ende der gemeinsamen Aktivitäten der Witwe Trepperel mit Jean Janot) werden unsere Farcen gedruckt, ganz schnell, wie Makulatur und Blinddruck nachweisen. Das bedeutet wahrscheinlich, dass es für eine Druckwerkstatt etwas Besonderes war, über eine so große Menge Farcen zu verfügen. Es bedeutet auch, dass unsere Spieler zur Zeit der Drucklegung wussten, dass sie die Spiele nicht mehr aufführen konnten. Man könnte also denken, dass Gringore und seine Männer oder Kompagnons (der Terminus ist nicht anachronistisch) beschlossen haben, ihre Truppe oder ihre Assoziation oder ihre verschiedenen Zusammenarbeitsverbände aufzulösen und ihr Kapital – ihre Texte – zu Geld zu machen, indem sie die Früchte ihrer Arbeit der Witwe Trepperel oder Jean Janot überlassen oder verkauft haben. Die Drucker haben nicht gezögert und bald danach alles publiziert. Es ist in der Tat wahrscheinlich, dass sie nicht lange gewartet haben, denn das große Problem für die Pariser Drucker war nicht, einen Markt für ihre Bücher zu finden, sondern gute Druckvorlagen zu bekommen – und die Farcen, darüber sind sich alle Quellen von Anfang bis zum Ende des 16. Jahrhunderts einig, waren über die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts hinaus sehr populär. Die folgende Rekonstruktion erläutert den Status der erhaltenen gedruckten Texte besser: In einigen Fällen, wie z. B. bei der ›Farce de la trippie`re‹,31 der ‘Innereienverkäuferin’, handelt es sich um Texte, die noch nicht ganz fertig sind, oder wenigstens um die Skizze eines vollständigen Dramas, in der Plot und Handlung (‘Actio’) sehr schön ausgearbeitet worden sind und schon vollendet zu sein scheinen, in der die ‘Elocutio’ und die Versifikation aber noch ergänzungsbedürftig sind. Andere Texte sind demgegenüber schon ganz ‘a` point’ und von hoher Qualität. Versuchen wir das im Hinblick auf die Überlieferung zu verstehen und zu deuten: Wenn es so ist, und ich glaube, dass es wirklich so geschehen ist, dass die Männer der Truppe von Pierre Gringore ihre Truppe um 1517 aufgelöst und versucht haben, noch etwas zu verdie29 30 31

Hindley [Anm. 15], S. 22. ›Le capitaine Mal-en-Point‹, Cohen [Anm. 8], no XLIX. Cohen [Anm. 8], no LII; Koopmans [Anm. 7].

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nen, bevor sie Paris verlassen würden, kann man nicht davon ausgehen, dass sich ihr Repertoire als ein wohl organisiertes ‘Ensemble’ präsentierte. Man könnte eher annehmen, dass die Schriftstücke der Truppe wohl nicht sehr gut organisiert und klassiert waren, und das erklärt auch, warum die Schriftsetzer gewisse Probleme hatten, etwas Ordnung darin zu schaffen. Man denke hier an die ›Farce von fünf Figuren‹, wo es sieben Figuren gibt, und das, weil es sich in Wirklichkeit um zwei Farcen handelt, die durcheinander gemischt worden sind: Der Schriftsetzer hat am Titelblatt (es ist erwiesen, dass dieses vom Schriftsetzer zusammengestellt wurde und nicht von den Autoren – den technischen Beweis dafür habe ich anderswo erbracht32), weil er wusste, dass es sich um eine Farce für fünf handelt, die Namen der ersten fünf Figuren gesucht. Dazu ein Beispiel: In einer Farce des ‘Recueil Trepperel’ findet man in den dramatis personae die Figur Tout Estant (‘Alles, was ist/steht’), aber im Text liest man ‘TOUT, estant a une fenestre’: ‘Alles, was am Fenster ist/steht’.33 Es gibt noch eine andere Seite dieser mangelhaften Organisation der Vorlagen – sie ist eine mehr oder weniger zufällige Verbindung verschiedener Elemente. Damit meine ich, dass ein Zufallsfaktor biografischer Art zur Zusammensetzung des Repertoires geführt hat. Es umfasst Spiele, die die verschiedenen Mitglieder der Truppe aufgeführt oder von denen sie einen Text erhalten haben. Die Begegnung dieser verschiedenen Schauspieler in Paris, die für manche Aufführungen zusammen gearbeitet haben, und der Austausch, den es zwischen diesen beruflich tätigen Spielern und Schriftstellern gegeben hat, ist das für die Sammlung konstitutive Element. Eine derartige Herkunft der von der Witwe Trepperel gedruckten Sammlung, aus der uns fast 100 Beispiele erhalten sind in den zwei Sammelbänden, erklärt zum Beispiel die Präsenz der universitären Farcen aus der Universität Caen, wo Pierre Gringore seine Jurastudien gemacht hat, und auch, warum die normannischen Texte alle ins letzte Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zu datieren sind, wohingegen alle Pariser Farcen dem 16. Jahrhundert entstammen. Es erklärt auch, warum nicht überall Kohärenz in den Sammlungen herrscht; aber man kann doch klar sehen, dass es gewisse Gruppen von Farcen gibt: eine Gruppe über Frauenemanzipation, eine Gruppe zum Lob des Landes oder genauer: zum Lob der Pariser ‘banlieue’, eine Gruppe, die im Verband mit den Dunkelmännerbriefen steht und wo Triboulet und der ‘Lateinabschäumer’ (‘Ecumeur de latin’ – natürlich auch der, der kein richtiges Französisch spricht, sondern eine Art Latein ohne die cum-Desinenz) prominent anwesend sind – und die, es sei nur erwähnt, thematisch, soziologisch und ideengeschichtlich dem Humanismus (oder dem Frühhumanismus) zugehören. Es gibt auch politische Themen, die durch ihre Rekurrenz unsere Materialien kennzeichnen, zum Beispiel die prominente gallikanische Krise und die Gegensätze zwischen der königlichen und der päpstlichen Autorität, eine Krise, die vor allem die Jahre zwischen 1511 und 1516 markiert hat, denn 1516 32

33

Vgl. Jelle Koopmans, ›La Vente d’Amourettes (en gros et en de´tail)‹ et ›Adam Fier des Couilles‹: un texte pour deux farces, in: Olga Anna Duhl (Hg.), Le the´aˆtre franc¸ais des anne´es 1450–1550: e´tat actuel des recherches, Dijon 2002 (Le texte et l’e´dition Actes no. 10), S. 51–62. Droz, Le recueil Trepperel, les sotties [Anm. 8], S. 259 und 274 (V. 213).

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hat König Franz I. ein Konkordat mit dem Papst abgeschlossen – das Konkordat von Bologna –, worüber das ‘Parlement de Paris’ und die Universität von Paris nicht sehr zufrieden waren. Diese Rekonstruktion erklärt uns auch, wie es möglich ist, dass Texte verschiedener Schriftsteller und Dramatiker zu einem gemeinsamen Repertoire gehören: Unter den Farcen vom ‘Recueil de Florence’ haben wir Texte von Pierre Gringore, von Roger de Collerye, von Guillaume Cre´tin – es sind nur Zuschreibungen, aber ich halte sie für sicher. Dazu kommt noch ein Weiteres: Alle, die die Theaterpraxis etwas kennen oder Bühnenerfahrung haben, wissen, dass, wenn man in einer Truppe großartige Schauspieler einige Jahre zusammenarbeiten lässt, nicht so sehr Autorentexte entstehen, sondern die Gestaltung und Darstellung, ja eben die ‘Elocutio’ und Versifikation ein Resultat kollektiver Arbeit ist. Ich glaube, dass damit etwas Klarheit geschaffen ist – mit aller Zurückhaltung, die uns gebührt – über den Status der gedruckten Materialien, die – es sei nochmals erwähnt – ca. 50 Prozent der ganzen Farce-Produktion, die sich erhalten hat, repräsentieren – und das ist nicht nichts. Die Frage ist berechtigt, ob es nicht auch möglich sei, für die zwei anderen wichtigen Sammlungen eine analoge Analyse durchzuführen. Gilt dies auch für den ‘Recueil du British Museum’ und auch für die ‘La Vallie`re-Handschrift’? Hat es auch in Lyon um 1540 und in Rouen um 1570 einen Theaterkreis gegeben, der etwa so funktioniert hat wie derjenige unserer Freunde in Paris, oder ist vielleicht die Art und Weise, in der die Sammlungen entstanden sind, vergleichbar? Ja und nein. Ja, weil es dringend notwendig ist, auch für die anderen Quellen zu einer Bestimmung ihres Textstatus und der Logik ihrer Überlieferung zu kommen. Nein, weil es in diesem Fall wahrscheinlich ganz anders geschehen ist und weil sich die kulturelle und historische Lage im überschäumenden und gärenden 16. Jahrhundert in Frankreich rasch gewandelt hat. Dazu kommt, dass ich jene Dokumente nicht so intensiv studiert habe wie die Sammelbände aus Paris und dass Zeitmangel hier eine langatmige Rekonstruktion verbietet – ich werde das aber an anderer Stelle ausführlich untersuchen. Mein Eindruck ist jedoch, dass der ‘Recueil du British Museum’ ein Repertoire enthält, das im Schatten des ersten festen Schauspielhauses in Lyon entstanden ist, mit originellen Texten, aber auch mit Wiederverwendung älterer Texte aus Paris, die erst später von Nicolas Chrestien gedruckt worden sind, dem Erben der Familie Trepperel, aber im Sammelband doch zusammengebunden sind mit Drucken aus Lyon. Die Drucke aus Lyon sind in der ‘Rue Mercie`re’ um 1540 realisiert worden. Direkt in der Nähe dieser Druckerstraße hat der farceur Jean Neyron zwischen 1538 und 1541 das erste feste französische Schauspielhaus betrieben. Es hat keinen bedeutenden Erfolg gehabt, das kann man wohl sagen: Neyron stirbt drei Jahre nach der Eröffnung, und seine Erben beschäftigen sich mit anderen Dingen. Um 1540 war die politische und kulturelle Situation ganz anders, und das erklärt, warum die Farcen des British Museum sehr selten politisch sind und sicher nicht so öffentlich satirisch wie die Texte aus Paris des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts. Auch wenn einige der Farcen des Sammelbandes aus London einfach neue Versionen älterer Pariser Spiele sind, haben die Spiele im Allgemeinen völlig andere, wichtige Themen wie Religion (1540 verbrann-

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te man schon Protestanten!) und königliche Macht, die Autorität des ‘Parlement de Paris’ und die universitären Aktualitäten behandelt. Natürlich ist das überhaupt nicht erstaunlich – und trotzdem ist es verwunderlich, dass, wenn ich das hier so sage, es zum ersten Mal für die Geschichte der Farce so prägnant formuliert worden ist. Historisierung der Literaturgeschichte ist, für die französische Situation, etwas ganz Neues; ein ‘geopolitisches’ Vorgehen ist bisher selten erprobt worden. Für die handschriftliche ‘La Vallie`re’-Sammlung habe ich nicht den Mut, etwas Spezifisches darüber zu sagen – wir brauchen Archivforschung und lokalgeschichtliche Daten, bevor wir uns an eine Geschichtsschreibung der Kompilation dieser Materialien wagen können. Es ist jedoch klar, dass die Zusammenstellung einer handschriftlichen Sammlung von Spielen um 1570 in Rouen durch einen Kopisten statt durch einen Drucker mit allem, was seit 1520 in Frankreich geschehen ist, mit der Geschichte der Reformation in der Normandie einer ganz anderen Logik entspricht als der der Sammlungen aus Paris und Lyon. Eine Geschichte des normannischen Theaters gilt es aber noch zu schreiben – für junge romanistische Forscher ist das eine Einladung. Kommen wir zu einigen Schlussbemerkungen. Wie ist es nun möglich, könnte man mir vorwerfen, so viel über die Farce in Paris zu sagen und gleichzeitig so wenig, ja nichts, über eine Schauspieltradition. Dieser Vorwurf trifft einen empfindlichen Punkt und erfordert methodologische Voraussetzungen: Ich bin davon überzeugt, dass wir uns zuerst über das historische Objekt, seinen Status und seine Repräsentativität klar werden müssen. Darum habe ich hier weder die große französische Tradition der Farce im fast sprichwörtlichen Sinne zu behandeln noch die mittelalterliche oder die französische Karte zu spielen versucht. Auch habe ich davon abgesehen, eine lokale Monographie zu präsentieren, eben weil es klar ist, dass die französische Theatergeschichte lokale und chronologische Präzision braucht. Das Verfahren dieses Beitrags visiert etwas anderes an: In einer sehr naiven Auffassung von Theatergeschichte haben die französischen Kritiker die erhaltenen Texte immer als ‘Schauspiele’ oder wenigstens als schlechtes Abbild des Spiels betrachtet, und dies ohne sich zu fragen, was so ein erhaltener Text genau ist. Man hat versucht, sie alle ins 15. Jahrhundert zu datieren und die Drucker zu diskreditieren, weil sie so schlechte Texte gedruckt haben; dies erklärt man mit einer ununterbrochenen Kette von älteren Drucken, die alle verloren gegangen seien, bei den erhaltenen Texten aber handle es sich um eine deformierte Version der verlorenen. Man hat mit ingeniösen linguistischen Konstruktionen – basierend auf ein oder zwei Regionalismen – versucht, Texte zu lokalisieren, ohne zu verstehen, dass gewissermaßen alle Dialekte in Paris zusammenkommen oder – noch wichtiger – dass manchmal die Regionalismen nur im Mund einer der Figuren belegt sind und von einem Spiel mit regionaler Varianz zeugen.34 Mein Plädoyer für ein überlieferungskritisches Vorgehen kann als ein erster Schritt einer neuen Historisierung der Farce gesehen werden. Zugleich ist dies außerordentlich wichtig für meine Arbeit an einer neuen kritischen Edition der Farcen vom ‘Recueil de Florence’, 34

Zum Beispiel Yan Greub, Les mots re´gionaux dans les farces franc¸aises, Strasbourg 2003.

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die ich 2008 zu publizieren hoffe. Dort können die Leser zweifelsohne alles finden, was hier nicht über die rein dramatischen Seiten der Pariser Farce der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts gesagt wurde.

ANHÄNGE

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Abb. 1: Gerichtssitzung, ‘Halsgerichtsordnung der Stadt Volkach’ (‘Salbuch’, Bl. 391r), in: Wolfgang Schild, Die Halsgerichtsordnung der Stadt Volkach aus 1504, Rothenburg o. d. T. 1997 (Schriftenreihe des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg o. d. T. 2), S. 19.

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Abb. 2: Titelholzschnitt zu Sebastian Brant, Das Narrenschiff, Basel 1494.

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Abb. 3: Der Narrenfresser. Holzschnitt zu Kapitel 4 aus Thomas Murner, Die Mühle von Schwindelsheim und Gredt Müllerins Jahrzeit, Strassburg 1515.

Abb. 4: Der im Herzen der Stadt Luzern gelegene Weinmarkt war seit 1500 Schauplatz von mehrtägigen religiösen und weltlichen Schauspielen (frühere Aufführungen fanden auf dem Platz vor der Peterskirche statt). Die Bühnenanlage war nur in der östlichen Hälfte, oberhalb des Weinmarktbrunnens, installiert. Ausschnitt aus der Stadtansicht des Martinus Martini, 1597, Staatsarchiv Luzern.

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Abb. 5: Grundriss des Weinmarkts nach den offiziellen Maßen des Städtischen Messungsamts von Luzern. Das Narrenschiff (Ausschnitt aus Sebastian Brants illustriertem Narrenschiff von 1494) befand sich zwischen dem Gerichtshaus und der Metzgerpassage, vor der wahrscheinlich die Narrenfresser-Figur positioniert war. Vorbild für das Aussehen dieses Monstrums war vermutlich die Osterspiel-Hölle (hier: Ausschnitt aus Renward Cysats Bühnenplan von 1583, graphische Sammlung der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern).

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Abb. 6: Harnbeschauender Arzt. Aus: Jost Amman, Ständebuch, Frankfurt a. M. 1568.

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Abb. 7: Fahrender Chirurg. Karikatur von Hans Weiditz, um 1530.

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Abb. 8: Elfzahl der Narren. Aus: M. Geisberg/W. L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut, New York 1974, S. 1132

Abb. 9: Schelle. Aus: Geiler von Keysersberg, Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narenschiff so er gepredigt hat zuo Straßburg in der hohen Stifft daselbst [. . .] 1498 [. . .] Vnd vß latin in tütsch bracht / darin vil weißheit ist zuo lernen [. . .], Straßburg (Johann Grieninger) 1520, fol. XVr

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Abb. 10: Wolfacher Altweibermühle in Zell am Harmersbach

Abb. 11: Altweibermühle in Thaur/Tirol

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Abb. 12: Monogramm: MB, o. J.; Blatt 1 aus: »Die Stufenleiter des Weibes«; Holzschnitt, koloriert; nach Zeichnungen von Tobias Stimmer; Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle

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Abb. 13: Monogramm: MB, o. J.; Blatt 1 aus: »Die Stufenleiter des Mannes«; nach Zeichnungen von Tobias Stimmer; Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle

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Abb. 14: München, BSB, Cgm 714, Bl. 458v

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Abb. 15: Detail aus: Pieter Balten, ›Playerwater‹-Kirmes, Theater Instituut Nederland, Amsterdam (langfristige Leihgabe des Rijksmuseum Amsterdam), Foto: Bart Ramakers.

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Register der Autoren und Spieltitel

Alsfelder Passionsspiel 328 Die Altweibermühle 164 Astrologie- und Wahrsagerspiel 108 Ayrer, Jakob: Comedi von dem getreuen Ramo 216 217 − Comedia von zweyen brüdern auß Syracusa 295 297 − Der verlohren Engellendisch Jahnn Posset 290 292 293 Balthasar, sone van Nabuchodonosor den lesten Coninck van Babylonien 157 Bletz, Zacharias: Antichrist- und Weltgerichtsspiel 101 106 107 108 − Häntz und Cüni 101 − Marcolfus 91 92 101 102 106 − Die missratenen Söhne 101 102 106 − Der Narrenfresser 3 91 101 102 103 105 106 107 108 109 − Der Wunderdoktor 3 91 101 108 109 110 113 Blinde Faes en Aechtgen Schoontooch (s. ›Die taube Leichenbitterin‹) 404 Bozner Passion, Große 16 Bredelin, Georg Anton: Die Weibermühle von Trippstrill 164 Brixner Passion 16 Le capitaine Mal-en-Point 441 Churer Weltgerichtspiel 14 de Collerye, Roger: Farce der Wiederauferstehung von Jenin a Paulme 439 440 Cre´tin, Guillaume: Die Kinder aus Bagneux 440 Cysat, Renward: Convivii Process 91 92 102 Des Entkrist Vasnacht 13 14 17 18 19 30 52 61 68 69 76 163 225 Donaueschinger Passionsspiel 348 349 350 351 352 354 355 357 358 360 Egerer Fronleichnamsspiel 305 Elsabe Knaben 240 Erlauer Magdalenenspiel 328 329 334 Erlauer Osterspiel 5 301 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 Farce des Femmes qui font renbourer leur bas 440 Farce von fünf Figuren 442

Farce de maıˆtre Pathelin 417 432 433 434 435 437 Farce de la trippie`re 441 Farce der Wiederauferstehung von Jenin a Paulme 439 440 Gengenbach, Pamphilus: Die Gouchmat 79 − Der Nollhart 79 92 − Die zehn Alter dieser Welt 79 92 Gringore, Pierre: Digeste Vieille 440 − Le Jeu du Prince des Sotz 439 − Sottie de l’Astrologue 438 Gumpist oder der neue Fluss 92 Haller Passion 16 Hanneken Leckertant 406 Henselyn 54 Hessisches Weihnachtsspiel 328 Innsbrucker Osterspiel 305 306 307 309 311 314 321 334 337 Jan der Pfiffige 405 410 413 414 415 417 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 Die Kinder aus Bagneux 440 de Lesnauderie, Pierre: Die Mahlzeit der Götter 440 − Die Pilgerfahrt der hl. Caquette 440 Locher, Jacob: Tragedia de Thurcis et Suldano 192 Ludus de Antichristo 14 Luzerner Passionspiel 351 De Machabeen 404 Die Mahlzeit der Götter 440 Manuel, Hans Rudolf: Weinspiel 90 92 Manuel, Niklaus: Von Papsts und Christi Gegensatz 115 116 124 − Vom Papst und seiner Priesterschaft (= Die Totenfresser) 79 91 92 93 115 116 117 Melker Salbenkrämerspiel 328 329 Mercade´, Eustache: Passion d’Arras 434 Narrenwasser 405 406 412 413 414 415 417 419 421 422 423 424 425 426 427 429 Neidhartspiel, Großes 26 27 28 61 328 Neidhartspiel, Mittleres 27 28 61 Passion d’Arras 434 Passion de Valenciennes 434 De Peertschalc 428

464 Pfarrkircher, Lienhard: Sterzinger Passionsspiel 16 Die Pilgerfahrt der hl. Caquette 440 Plautus: Amphitruo 295 − Menaechmi 295 296 Raber, Vigil: Passionsspiel 16 Redentiner Osterspiel 334 Rumpold und Mareth 16 40 44 45 240 249 264 281 346 Sachs, Hans: Comedi mit 9 personen, die undultig fraw Genura 209 219 − Comedi Plauti, heyst Monechmo 295 296 297 − Der Eifersüchtige 290 − Eulenspiegel und des Pfaffen Haushälterin 290 − Das Kälberbrüten 288 − Der schwanger Pawer 288 290 − Das Teufelsbannen 327 − Das Wildbad 79

Register der Autoren und Spieltitel

Salat, Hans: Astrologie- und Wahrsagerspiel 108 De Schevekloth 29 52 De Schuijfman 406 Serre, Jean: Farce des Femmes qui font renbourer leur bas 440 Sottie de l’Astrologue 438 Spross, Balthasar: Das Spiel der alten und jungen Eidgenossen 93 Sterzinger Passionsspiel 237 Die taube Leichenbitterin 404 405 408 412 413 414 415 417 420 421 423 424 425 426 428 429 Tielebuijs 406 Urner Tellenspiel 92 96 Wie man alte Weiber jung machet 164 Wiener Osterspiel 306 309 310 311 346 Wiener Passionsspielfragment 16 Wienhäuser Osterspielfragment 349

Register der Sammelausgaben

Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 3 Teile und Nachlese, Stuttgart 1853–1858 (BLVSt 28–30 u. 46), Neudruck Darmstadt 1955–1966: K 1: 12 13 14 20 35 36 50 52 53 69 87 92 96 231 383 384 390 K 2: 15 52 173 392 K 3: 41 45 52 168 390 392 K 4: 41 45 52 173 233 392 394 396 K 5: 41 52 393 K 6: 5 45 46 47 48 70 139 142 143 226 236 301 322 323 324 329 395 K 7: 45 52 70 86 176 222 226 231 232 234 236 367 388 K 8: 71 230 243 251 252 258 267 272 274 281 385 389 K 8b: 16 42 52 K 9: 34 47 52 58 169 234 235 347 391 K 10: 43 52 71 86 168 183 233 243 250 251 252 257 258 259 260 267 272 273 K 11: 139 225 227 231 388 K 12: 52 K 13: 34 52 225 233 K 14: 139 143 170 172 179 228 231 233 386 392 K 15: 41 53 54 58 K 16: 34 177 225 233 K 17: 40 44 52 225 227 234 393 K 18: 42 52 71 86 225 227 233 243 250 251 252 253 257 258 260 264 267 268 273 391 K 19: 15 45 52 53 54 173 227 259 K 20: 12 13 14 69 76 87 226 384 395 K 21: 52 236 K 22: 17 19 52 231 386 395 K 23: 3 50 52 139 140 141 142 143 144 145 146 147 150 235 391 395 K 24: 42 52 71 243 251 252 253 254 257 258 273 K 25: 43 44 50 178 237 K 26: 174 225 233 385 393 K 27: 42 71 243 251 252 258 269 273 K 28: 40 44 52 234 390 K 29: 42 71 178 233 243 251 252 261 273 K 30: 50 52 70 75 122 146

K 31: 41 52 173 385 386 K 32: 225 384 385 K 33: 37 179 225 232 K 34: 42 71 233 243 251 252 254 259 271 K 35: 38 52 70 K 36: 52 389 K 37: 17 44 45 52 225 275 387 389 396 399 400 K 38: 174 227 234 367 K 39: 17 18 20 21 22 23 24 25 26 29 47 52 58 59 69 189 192 197 202 203 204 205 206 208 224 K 40: 43 52 71 225 243 251 252 253 257 258 259 269 270 271 272 273 276 280 K 41: 34 43 44 50 71 177 233 243 250 252 256 258 272 273 277 278 280 K 42: 43 52 71 225 234 243 250 251 252 258 259 268 272 275 280 374 K 43: 52 222 225 K 44: 367 K 45: 42 43 44 52 390 K 46: 40 52 53 234 394 K 47: 19 29 52 69 334 386 K 48: 45 46 47 48 52 70 147 329 K 49: 38 52 70 147 395 K 50: 37 38 52 70 234 K 51: 18 19 26 30 31 32 33 34 37 40 52 69 71 176 243 249 250 251 252 258 269 384 K 52: 42 71 243 251 252 253 258 259 271 K 53: 52 K 54: 243 271 272 273 K 55: 41 52 70 227 K 56: 6 15 45 327 328 333 K 57: 6 15 17 44 45 52 327 328 329 330 332 333 334 335 341 344 K 58: 42 52 54 70 235 K 59: 54 339 341 392 K 60: 52 224 229 230 231 367 387 389 394 K 61: 43 71 225 243 251 252 259 273 274 K 62: 52 70 K 63: 50 172 K 64: 234 K 65: 52 70 K 66: 43 52 70 388 K 67: 52 75 234 243 250 268 273 392

466 K 68: 13 14 17 18 19 30 52 61 68 69 76 163 225 K 69: 42 52 71 175 176 231 233 243 249 251 252 253 254 256 272 273 276 340 K 70: 41 142 143 226 233 K 71: 143 340 K 72: 30 31 34 71 243 250 251 252 258 259 264 265 271 273 277 K 73: 30 31 34 71 243 250 251 252 258 259 262 266 K 74: 52 233 K 75: 19 52 69 75 K 76: 146 180 K 77: 146 180 K 78: 18 19 26 28 29 52 69 71 235 243 249 250 251 252 258 267 268 280 K 79: 52 69 K 80: 43 52 69 70 230 231 395 K 81: 52 69 70 231 373 395 K 82: 5 45 46 47 48 49 52 70 301 317 319 320 321 322 329 K 84: 43 44 50 52 57 179 K 85: 48 70 76 142 224 329 K 87: 42 47 56 57 58 71 227 243 250 251 252 253 258 269 270 272 273 280 394 K 88: 52 56 57 227 243 250 251 252 253 258 269 270 272 273 277 K 89: 58 75 168 392 K 90: 387 K 91: 146 177 K 92: 224 339 K 93: 339 K 94: 34 52 K 95: 52 54 235 339 340 341 392 K 96: 34 43 52 168 K 97: 42 43 44 50 51 71 147 225 232 243 250 251 252 272 273 277 389 K 98: 46 48 60 70 143 268 K 99: 228 231 K 100: 52 69 225 374 K 101: 46 70 K 102: 42 71 147 225 227 234 243 250 251 252 258 266 272 273 275 280 347 K 104: 2 42 52 65 69 70 71 72 73 77 78 176 233 234 235 243 250 251 252 253 255 257 261 267 268 273 K 105: 37 38 52 70 K 106: 12 13 14 50 52 61 69 87 92 167 234 K 107: 91 100 102 249 K 108: 43 66 71 243 250 252 272 273 274 338

Register der Sammelausgaben

K 109: 52 233 K 110: 240 K 112: 42 52 71 225 243 251 252 253 255 269 272 276 367 K 113: 49 50 52 K 114: 41 45 K 115: 16 40 44 45 52 60 240 243 249 281 K 116: 174 224 K 120: 41 52 53 70 139 143 147 367 387 388 K 127: 52 K 128: 52 54 K 130: 16 40 44 45 52 60 240 243 249 281 Franz Schnorr von Carolsfeld, Vier ungedruckte Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, Archiv für Literaturgeschichte 3 (1874), S. 1–25: Schnorr I: 52 Schnorr II: 51 54 60 Schnorr III: 51 71 243 Schnorr IV: 51 60 Sterzinger Spiele. Nach Aufzeichnungen des Vigil Raber, hg. v. Oswald Zingerle, 2 Bde., Wien 1886 (Wiener Neudrucke 9, 11): Z 1: 16 40 44 45 52 57 60 240 249 281 346 Z 2: 43 52 Z 3: 43 Z 4: 39 45 46 47 48 52 60 304 316 328 329 Z 5: 15 43 44 50 Z 6: 42 45 46 329 Z 7: 40 52 54 Z 8: 16 40 42 44 45 52 60 240 249 264 281 346 Z 9: 36 Z 11: 41 43 Z 12: 30 31 34 Z 13: 41 Z 15: 40 41 Z 17: 41 42 Z 18: 47 52 53 58 Z 19: 41 45 48 52 Z 20: 42 52 Z 21: 45 46 48 49 52 54 329 Z 22: 39 40 45 52 60 329 Z 23: 42 Z 24: 39 45 46 47 48 329 Z 25: 16 17 20 22 29 52 53 329 Z 26: 61