Probleme des Realismus [III]

1,069 110 11MB

German Pages 646 Year 1965

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Probleme des Realismus [III]

Citation preview

I

G E ORG LUKACS WERKE

I

GEORG LUKACS WERKE

Probleme des Realismus III

BAND 6

'

GEORG LUKACS

Der historische Roman

LUCHTERHAND

© 1965 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH Neuwied und Berlin

5

Inhalt

Vorwort

ztt

Band 6

Der historische Roman

Vorbemerkungen zur deutschen Ausgabe Vorwort

7

r5 r7 2I

Erstes Kapitel Die klassische Form des historischen Romans I

II III

23

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen des historischen Romans Walter Scott Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

Zweites Kapitel Historischer Roman und historisches Drama

Lebenstatsachen als Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik II Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltung m Das Problem der Öffentlichkeit IV Die Gestaltung der Kollision in Epik und Dramatik v Skizze der Entwicklung des Historismus im Drama und in der Dramaturgie

ro6

I

ro8 r27 r54

r67 r84

Drittes Kapitel Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus I

II m IV

v

Wandlungen der Geschichtsauffassung nach der Revolution von 1848 Privatisierung, Modernisierung und Exotismus Der Naturalismus der plebejischen Oppositionellen Conrad Ferdinand Meyer und der neue Typus des historischen Romans Die allgemeinen Tendenzen der Dekadenz und die Konstituierung des historischen Romans als besonderen Genres

207 208 222 2 50 268 280

6

Viertes Kapitel Der historische Roman des demokratischen Humanismus I Allgemeine Charakteristik der humanistischen Protestliteratur in der imperialistischen Periode II Volkstümlichkeit und editer Geist der Geschichte III Die biographische Form und ihre Problematik IV Der historische Roman Romain Rollands v Perspektiven der Entwicklung des neuen Humanismus im historischen Roman

Inhalt

308 344

368 394

Balzac und der französische Realismus

43 1

Vorwort I Die Bauern II Verlorene Illusionen III Balzac als Kritiker Stendhals IV Zum hundertsten Geburtstag Zolas

433

Anhang

523

Faust-Studien I Zur Entstehungsgeschichte II Das Drama der Menschengattung m Faust und Mephistopheles IV Die Gretchen-Tragödie v Stilfragen: Das Ende der »Kunstperiode«

525 526 543 562 58 4

Don Qr:ijote

622

Ober einen Aspekt der Aktualität Shakespeares Personenverzeichnis

447

472 4 90 510

6oI

7 Vorwort zu Band

6

Bevor ich auf die eigentlichen Fragen eingehe, sei mir eine Bemerkung gestat­ tet: in Band 7 dieser Gesamtausgabe (Deutsche Literatur in zwei Jahrhunder­ ten, Neuwied

1964) ist in einer für mich wie für den Verlag rätselhaften

Weise der Aufsatz »Fauststudien« ausgelassen. Ich kann dazu, eine Figur Arnold Zweigs zitierend, nur sagen: Fehler sind da, um gemacht zu werden. Sachlich zureichend kann dieser Fehler nicht mehr korrigiert werden.

Ich

glaube aber, daß der Ausweg, den wir gewählt haben, den Aufsatz im An­ hang dieses Bandes, neben den kleinen Skizzen über Cervantes und Shake­ speare abzudrucken, noch die relativ am wenigsten schlechte Notlösung ist. Jetzt noch einige Worte über diese kleinen Studien. Ich habe es immer als eine unglückliche Seite meines Lebens betrachtet, daß ich in eingehender Weise nur die Literatur des 1 9 . Jahrhunderts behandeln konnte. Meine Lebensführung, die Forderungen meiner Tage, das Drängen meines theoretischen Lebenswerks gestalteten sich so, daß ich über manche Dichter nie schreiben konnte, obwohl sie mir persönlich mitunter mehr bedeuteten, als die von mir ausführlich behandelten. Wenn ich hier das anspruchslose Vorwort zu Cervantes und den kleinen Jubiläumsartikel über Shakespeare veröffentlichen lasse, so will ich diesen Arbeiten damit keineswegs eine wirkliche Bedeutung zuschreiben. Sie sollen vielmehr, durch ihre bloße Gegenwart, die schmerzlich empfundene Lücke in meinem literaturhistorischen Lebenswerk andeuten, die ich stets vor Augen habe. Was nun diesen Band selbst betrifft, so ist sein Hauptinhalt der ideelle und künstlerische Übergang aus dem 18. Jahrhundert ins

19. Die neue Roman­

form, die hier entsteht - und der Roman, die bürgerliche Epopöe ist das führende literarische Genre dieser Zeit - wird formal wie ideell bestimmend für das ganze

19. Jahrhundert, ja sie hat, nach meiner Überzeugung, ihre

Bedeutung auch heute nicht verloren. Das besagt nicht, daß sie für die Gegenwart als unmittelbares Vorbild in Betracht kommen sollte. So etwas gibt es in der Geschichte der Kunst überhaupt nicht. Wo eine solche Forderung auftritt, beruht sie auf einem - oft fruchtbaren - Mißverständnis des als Ideal Gesetzten. Das gilt ebenso für die Beziehung der tragedie classique zur Antike, wie für die von Goethe oder Puschkin zu Shakespeare. Hinter dem Vorbildproblem steht ästhetisch etwas viel Komplizierteres. Jedes große Kunstwerk erfüllt und erweitert zugleich die Gesetze seines Genres. Und weil

8

Vorwort

dies gerade beim größten Genie, beim originellsten Formengeber zugleich ein Ausdruck des historischen Wandels ist, entsteht für die nachfolgende Gene­ ration die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung, wobei die wirklich gro­ ßen, wirklich universellen Schriftsteller in ihrem individuellen Schaffens­ prozeß vor dem Doppeldilemma stehen : einerseits in der Erweiterung der Formgesetze das Bleibende, das in die Zukunft Weisende sich anzueignen und andererseits diese Gesetze in einer Art erweiternd zu erfüllen, die ihrer historischen Lage entspricht. Schon Young im 18. Jahrhundert wußte, daß aus der Vorbildlichkeit keine Nachahmung gefolgert werden soll; nur schwache Künstler und in Verwirrung geratene Zeiten stehen vor dem falschen Sd1eide­ weg der Nachahmung angeblicher Muster oder der wurzellosen ebenfalls angeblichen Originalität. Die große erweiternde Erfüllung der modernen epischen Formen brachte Walter Scott mit der Vereinigung von totaler, geschlossener epischer Form und bewußter Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Inhalts sowohl im Ganzen wie in den Details. Id1 bin mir völlig bewußt, mit dieser Bestim­ mung etwas auszusprechen, was für die heute noch überwältigende Mehrheit jener, die sich über Literatur äußern, völlig veraltet klingt. Daß das Ganze das Unwahre sei, ist ja zum Modeslogan der verschiedensten Tendenzen mo­ derner Weltanschauungen und deklarierter Weltanschauungslosigkeiten ge­ worden, denen zugleich das Gesellschaftlich-Geschichtliche als eine wesenlose Oberfläche erscheint. Natürlich soll auch hier Walter Scott nicht als Weg­ weiser zu einer »Rückkehr« deklariert werden. Ja gerade sein Beispiel illu­ striert am klarsten die Dialektik, die in diesen Studien zu erhellen versucht wird. Denn in einem bestimmten Sinn ist er ja überhaupt kein wirklich großer Schriftsteller. Die hinreißend faszinierende Verlebendigung der Gestalten, die bis ins kleinste Detail herunterreicht, wie es bei Tolstoi am auffälligsten sicht­ bar wird, ist ihm nicht gegeben. Er ist freilich auch kein bloßer Entdecker von Neuland, wie Lillo oder selbst Diderot für das bürgerliche Drama, deren Bahn­ brecherruhm nur für die Historiker existiert, sondern »bloß « ein Gestalter des von ihm zuerst erlebten Neuen, des Gesellschaftlich-Geschichtlichen im Schicksal eines jeden einzelnen Menschen. Gleichviel, ob es sich um die Sduanken seiner Menschlichkeit, seiner Begabung oder um das grandios einseitige Wollen eines bedeutenden Entdeckers handelt, Walter Scott erhebt sich zu echten dichterischen Höhen nur, wenn er etwa den Aufschwung eines Menschen aus seinem historischen hie et nunc schildert, oder die Begrenzung seines echtesten Wollens durch die unwiderstehliche Macht eines solchen oder das verständnislose Einandergegenüberstehen von Menschen, deren letzte

Vorwort

9

Einstellungen von einander widerstrebenden gesellschaftlichen Kräftekom­ plexen bestimmt sind, usw. usw. Die Diskrepanz zwischen solchen Gestal­ tungsgipfeln und den flachen Niederungen in den reinen Privatschicksalen charakterisiert die Größe und die Grenze einer Schriftsteilerpersönlichkeit in ihrer nie wiederkehrenden Unvergleichlichkeit. Es kommt hier jedoch weniger auf die individuelle Leistung als auf ihre Ausstrahlungen an. Und gerade diese zeigen die Richtigkeit dessen, was wir früher über den Unterschied (den Gegensatz) von Vorbildlichkeit und Nach­ ahmung angedeutet haben. Natürlich hat die Scott'sche Entdeckung, sowohl in bezug auf Totalität wie auf Historizität auch eine direkte Nachfolge gehabt. Wer wird aber deshalb Manzoni oder Puschkin als » Epigonen« Scotts be­ zeichnen? Das Herauswachsen ihrer Gestalten und Schicksale aus einer völlig andersgearteten eigenen heimatlichen Geschichte bringt die dichterisch frucht­ bare Trennung spontan zustande. Das Entscheidende an dieser säkularen Wirkung Walter Scotts ist aber doch, daß der Gesellschaftsroman sich nach ihm ebenfalls historisiert hat, daß die Schriftsteller dazu gedrängt wurden, ihre eigene Gegenwart als Moment der Geschichte aufzufassen und zu gestal­ ten. Damit ist eine Wendung entstanden, deren Folgen auch heute - bei Strafe der gestalterischen Minderwertigkeit - unauslöschbar wirksam ge­ blieben sind. In der Kunstgeschichte gibt es keine Ausnahmslosigkeit. Der Kontrast zwi­ schen dem Roman des 1 8 . und dem des 1 9 . Jahrhunderts ist sofort augen­ fällig. Dieser Gegensatz gilt aber nicht - o der wenigstens nur mit großen Vorbehalten - für Swift. Bei ihm fehlt nämlich nicht nur der bewußte Aus­ druck des gesellschaftlich-geschichtlichen hie et nunc: dieser wird vielmehr gestalterisch beiseite geschoben. Es ist eine ganze Menschheitsepoche, mit deren allgemeinsten Konflikten der Mensch überhaupt (oder mit abgeblaßten Zügen seiner Zeit) konfrontiert wird. So etwas nennt man heute » condition humain«, aber man übersieht bei diesem Ausdruck, daß bei Swift doch nicht vom Men­ schen überhaupt die Rede ist, sondern von seinem Schicksal in einer historisch bestimmten Gesellschaft. Swifts einzigartige Genialität äußert sich darin, daß sein Blick auf die Gesellschaft - prophetisch - eine ganze Epoche umfaßt. Nur Ka fka bietet in unserer Zeit etwas wie eine Analogie dazu, indem bei ihm eine ganze Periode der Unmenschlichkeit als Gegenspieler zum öster­ reichischen (böhmisch-deutsch-jüdischen) Menschen der letzten Regierungszeit Franz Josephs in Bewegung gesetzt wird. Damit erhält seine - formal, aber nur formal als condition humain auslegbare - Welt eine tiefe und erschüt­ ternde \Vahrheit, im Gegensatz zu jenen, die ohne einen solchen historischen

10

Vorwort

Hintergrund, ohne eine solche Basis und Perspektive sich direkt auf das bloße, abstrakte - und in der Abstraktion schief gewordene - überhaupt der menschlichen Existenz richten und unfehlbar auf eine vollendete Leere, auf ein Nichts auftreffen. Dieses Nichts mag mit einer beliebigen, etwa existen­ zialistischen Ornamentik geschmückt werden, es bleibt aber, im Gegensatz zu Swift und auch zu Kafka, doch ein leeres Nichts. Die notwendige Historizität der Kunst ist nur ein Teilgebiet des allgemeinen Problemkreises der Geschichtlichkeit. Diese Frage steht seit der Französischen Revolution auf der Tagesordnung. Die deutsche Romantik hat die Welt mit einer Lösung beschenkt, an deren Falschheit wir noch heute leiden. Sie hat nämlich, sich auf den Pamphletisten Burke stützend, die These aufgestellt, die Aufklärung sei antihistorischen Geistes gewesen. Die Französische Revo­ lution liefere den Beweis dazu. Erst in der Romantik, erst in der Theorie und Praxis der Restauration sei der Geist der Geschichte erwacht. Es ist müßig, über eine solche Theorie überhaupt noch viele Worte zu verlieren. Sie entfernt die großen Historiker der Aufklärung aus der Wirklichkeit (es ge­ nügt, auf Gibbon hinzuweisen). Sie amputiert die Kategorie des Fortschritts aus der Geschichte : historisch sei nur das »organisch« Gewachsene, jeder Umsturz, ja jede bewußte Aktion zur Anderung der Wirklichkeit sei anti­ historisch. So wurde allmählich, besonders in Deu tsd1land, Ranke zum Vorbild des historischen Geistes, während Condorcet und Fourier, Hegel und Marx angeblich antihistorische Konstruktionen verkündeten. Es ist einfach und sofort einleuchtend, aber dennoch richtig, die Anfänge dieser Bewegung mit der Gegenbewegung gegen die Französische Revolution in Zusammenhang zu bringen ; um so leichter als die führenden Initiatoren dieser Richtung größ­ tenteils auch persönlich im Dienste der Restauration standen. Es ist hier nicht der Ort, darzustellen, wie Theoretiker und Praktiker einer solchen Geschichtsauffassung führende Ideologen des zweiten Reiches wurden, auch die seiner verhängnisvollen Wilhelminischen Problematik. Und diese Linie reicht bis in unsere Gegenwart hinein, freilich zuweilen mit ganz anders­ geartetem wissenschaftlichem Apparat. Wenn aber die Metternichsche Restau­ ration als geschätzte Verwirklichung des » europäischen Gedankens« darge­ stellt wird, so ist es nicht schwer - bei aller zeitgebundenen Verschiedenheit die intime Verwandtschaft mit der ursprünglichen Restaurationsideologie zu erblicken. Aus dem Kampf gegen den abstrakten Fortschrittsbegriff möchte diese Ge­ schichtstheorie ihre Existenzberechtigung ableiten. Aber dieser Fortschritts­ begriff ist, wenigstens was die bedeutenden Forscher und Schriftsteller des

Vorwort 19·

II

Jahrhunderts betrifft, eine Legende. Um geschichtliche Bewegtheiten, das Entstehen völlig neuer Konstellationen aus kapillarischen Veränderungen der menschlichen Verhältnisse, der innermenschlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu erklären, bedarf es nicht der Annahme eines sich mechanisch­ fatal vollziehenden » Fortschritts «; es genügt, eine unwiderstehliche Fort­ bewegung festzustellen, die bei aller inneren wie äußeren Widersprüchlichkeit immer eine Richtung, eine Bewegungstendenz hat. Von Thierry bis Gordon Childe, von Scott bis Thomas Mann wird man keinen ehrlichen und an­ spruchsvollen Geist finden, der der Legende des mechanischen Fortschritts auch nur entfernt entsprechen würde. Im Gegenteil. Um bei der Literatur zu bleiben : das Nichtrestaurative ihres Geschichtsbildes ist gerade darin fun­ diert, daß alle seine bedeutenden Vertreter unwiderstehliche, die Menschen formende, von menschlichen Aktionen geformte gesellschaftlich-geschichtliche Tendenzen gestaltend abbilden, deren Wirksamkeit und Ausgang immer ob­ jektiv bleibt, unabhängig von den Überzeugungen, Wünschen und Sympathien der Autoren. Diese Sicht des Lebens beherrscht die große Literatur von Walter Scotts Bild vom Untergang der Clane bis zum Wurzelloswerden der Budden­ brooks, bis zur Tragödie Leverkühns. Aber dieser - letzten Endes, freilich nur letzten Endes - unwiderstehliche Gang der Geschichte beinhaltet doch die Aktivität der Menschen, unter Menschen, auf Menschen, und braucht keine ausgeklügelte abstrakte Theorie, um das geschichtliche Dasein der Menschen als Ergebnis ihrer eigenen Taten und Leiden zu gestalten, um Kontinuität und Perspektiven künstlerisch-praktisch zu bewahrheiten. Erst wenn Gegen­ wartszustände zu zeitlosen Fetischen erstarren und damit jede Bewegtheit, jede Bezogenheit auf den konkreten Menschen verlieren, entstehen die ertö­ teten »lebenden Bilder« der condition humain und fixieren damit die - oft als des Hasses und der Verachtung würdig gestaltete - Gegenwart zu einem ungewordenen und unabänderlichen Fatum. Ein solches Kunstwollen kann (nicht : muß) aus echter Verzweiflung entstehen und kann (nicht : muß) völlig frei von jeder bewußt restaurativen Absicht sein ; in der Wirkung wird es doch zum Bündnis mit der Restauration gedrängt. Die Spannung, die zu diesem Kann führt oder von ihm ab drängt, ist ebenfalls gesellschafdich-ge­ schichdichen Charakters. Kafka hat nichts Restauratives an sich, seine ästheti­ sche Nachfolge sehr viel. Diese Lage wird von einem angesehenen Soziologen unserer Tage dahin verallgemeinert : das Ende der Geschichte sei bereits ein­ getreten ; künftige Zustände könnten nur noch Formen und Inhalte der Gegenwart variierend abhandeln. Diese Sicht des Lebens und der Literatur erhält ihren zeitgemäßen Unterbau

12

Vorwort

für die modernen literaturhistorischen Auffassungen in der Feststellung, alle wesentlichen Gestalten und Richtungen des 19. Jahrhunderts seien dem Wesen nach romantischer Art gewesen. Solche gleichmacherische Moden gibt es in der Literaturgeschichte schon längst. Ich habe als junger Student von Kommilito­ nen an der Berliner Universität den boshaften Spruch Diltheys über die kon­ ventionelle Auffassung des 18. Jahrhunderts gehört : »Was man nicht dekli­ nieren kann, das sieht man als Spinoza an. « Dasselbe geschieht heute mit der Romantik, und daß die konventionell-flache Verallgemeinerung sich heute als interessant und unkonventionell gebärdet, tut nichts zur Sache. Romantik ist eine wichtige allgemeine Geistesströmung des 19. Jahrhunderts, die politisch und literarisch von der Französischen Revolution, ökonomisch und sozial von der parallelen industriellen Revolution als Opposition ausgelöst wurde. Bei ihren wirklich bedeutenden Vertretern findet man deshalb oft eine scharf­ sinnige, zuweilen sogar eine tiefschürfende Kritik jener neuen Widersprüche, die diese grundlegenden .i\nderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit sich brachten. Die Spitze einer solchen Kritik bricht jedoch immer ab, weil die Dynamik der Widersprüche bei den Romantikern nicht in die Zukunft weist, wie etwa bei großen Utopisten vom Typus Fouriers oder Owens, son­ dern das Rad der Geschichte zurückdrehen will und das Mittelalter, das ancien regime gegen die Gegenwart, den einfachen Warenverkehr gegen den Kapitalismus ausspielt. So entsteht literarisch die wirkliche Romantik von Chateaubriand über die deutsche romantische Schule bis Vigny oder Cole­ ridge ; so ökonomisch-sozial bei Sismondi, bei Cobbett oder beim jungen Carlyle. Naturgemäß gab es wenige unter den bedeutenden Schriftstellern, die an dieser Kritik völlig achtlos hätten vorbeigehen können. Sie ist aber für sie von Scott und Balzac bis Tolstoi und Thomas Mann eine Tendenz, deren Überwindung (Einfügung der berechtigten kritischen Elemente in ein reali­ stisches Weltbild) nur ein mehr oder weniger wesentliches Moment ihrer Ent­ wicklung zur Reife bildet. Heute scheint diese kritische Betrachtung ausgelöscht zu sein. Angefangen von Byron (dessen Lebensmotto Goethe geistreich so formulierte : »Viel Geld und wenig Obrigkeit«) weitergehend über den antikisierenden sozialistischen Uto­ pisten Shelley bis zu dem Schüler der Aufklärung Stendhal geht diese Reihe der angeblichen Romantiker ins Unendliche fort. Wo etwas als sympathisch, als gegenwärtig empfunden wird, steht das Ahnen-Diplom der Romantik parat. Und an dieser Verehrung änderte sich selbst dann nichts, nachdem der Faschismus in einer grauenhaften Weise alle Folgerungen aus den ursprüng­ lichen romantischen Prämissen zog : der problematischen Gegenwart, zwecks

Vorwort

13

Aufhebung ihrer Problematik, einen - mythisierten - vergangenen Zustand als idealen gegenüberzustellen und diesen zu verwirklichen zu versuchen. Nicht nur Hitler und Rosenberg griffen auf einen solchen» Urzustand« zurück, der die Neubelebung des ancien regime oder des Feudalismus zeitgemäß ersetzen sollte, sondern vor ihnen, parallel mit ihnen Klages, Jung und noch viele andere. Und der Zusammenbruch des Faschismus brachte geistig ebenso­ wenig eine Bewältigung der Vergangenheit mit sich, wie auf anderen, der Tagespraxis näherliegenden Gebieten. Als ich nach Stalingrad Gelegenheit hatte, mich mit Stabsoffizieren der Paulus-Armee zu unterhalten, erfuhr ich in menschlicher Unmittelbarkeit zum ersten Male, wie eine scharfe Kritik der »Fehler« Hitlers praktisch mit einer Bejahung der imperalistischen Expansion Deutschlands, theoretisch mit dem strategischen Rückzug auf die Position Spenglers und Nietzsches vereinbar ist. Wie intensiv die unbewältigte Ver­ gangenheit in die neue Renaissance der Romantik hineinspielt, mag hier un­ untersucht bleiben. Um so mehr, als es ja zur Methode der heutigen Literatur­ geschichte (und nicht nur dieser Disziplin) gehört, über große historische Gegensätze elegant hinwegzugleiten und die Aufmerksamkeit auf seman­ tische, bestenfalls psychologische Parallelitäten zu konzentrieren. So entstehen uferlose Theorien der Uferlosigkeit, die den pikanten Beigeschmack haben, ins Allermodernste noch einen Schuß Marxismus zu mixen. Daß Gegen­ standsgruppen keine fixen Grenzen haben, ist allerdings für die Marx'sche Dialektik eine Selbstverständlichkeit. So ist z. B. der Trennungspunkt der feudalen Formation von der kapitalistischen prinzipiell nicht exakt bestimm­ bar ; um so präziser freilich das, was Feudalismus und Kapitalismus prinzipiell in Gegensatz zueinander bringt . In den Theorien der Uferlosigkeit löst sich dagegen die Gegenständlichkeit selbst in einem Nichts des semantisch Wohl­ arrangierten auf. Man kann also ruhig das alte, schon von Hegel philoso­ phisch abgewandelte Sprichwort als Abschluß niederschreiben : In der Nacht sind alle Kühe romantisch. Diese wenigen und flüchtigen Bemerkungen sollen klarmachen, daß der Verfasser dieser Studien, die zumeist über ein Vierteljahrhundert alt sind, auch heute, unbekümmert um die Wiedergeburt des Allromantischen, dessen Strom auch solche mit sich schleppt, die vor der Herrschaft dieser Mode die historischen Zusammenhänge richtig gesehen haben, sich zu den Prinzipien, die seine alten Darlegungen geleitet haben, bekennt. (Das Einzelausführungen zuweilen historisch überholt worden sind, hat mit dieser Frage nichts zu tun.) Budapest, Dezember 1964

DER HISTORISCHE ROMAN

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch entstand im Winter 19361J7 und erschien bald nach seiner Fer­ tigstellung in russischer Sprache. Wenn ich es heute dem deutschen Leser in unveränderter Form in die Hand gebe, so erfordert dieser Entschluß eine gewisse Begründung. Denn es ist klar, daß die verflossenen sechzehn Jahre den Stoff des letzten Kapitels beträchtlich vermehrt haben. Um mich nur auf ein Beispiel zu berufen : eine ausführliche Analyse des seither erschienenen abschließenden zweiten Teils von Heinrich Manns »Henri Quatre« würde die Konkretheit und Aktualität des letzten Kapitels zweifellos erhöhen. Das­ selbe gilt für die neueren Romane Lion Feuchtwangers. Doch noch wichtiger als dies ist der Umstand, daß das Zeitbild, die in ihm zum Ausdruck gelan­ gende Perspektive vor sechzehn Jahren gegeben wurden. Dies hat den Nach­ teil, daß gewisse Erwartungen sich als zu optimistisch erwiesen haben, daß sie durch die historischen Ereignisse nicht bestäti gt wurden. So knüpft das Buch übertriebene, ja falsche Hoffnungen an die selbständige Befreiungsbewegung des deutschen Volkes, an die spanische Revolution usw. Wenn ich diese Lücken nicht ausfülle , die Irrtümer nicht korrigiere, sondern das Buch in der Form herausgebe, in der es vor mehr als sechzehn Jahren geschrieben wurde, so liegt der Grund hierfür vor allem darin, daß ich unter meinen gegebenen Arbeitsverhältnissen kaum imstande wäre, das einmal Ge­ schriebene noch wesentlich umzugestalten ; so stand ich vor der Wahl, es in unveränderter Form herauszugeben oder überhaupt nicht. Diese Begründung wäre indessen in wissenschaftlicher Hinsicht nicht aus­ reichend, wenn die Literatur der beiden letzten Jahrzehnte die Lösbarkeit der hier behandelten Fragen, den Wert und die Bedeutung der erreichten Resultate entscheidend beeinflussen könnte. Das trä fe zweifellos zu, wenn die Fragestellung meines Buches eine rein literaturhistorische wäre, wenn die Entwicklung des historischen Romans (oder des historischen Dramas) oder auch bloß die Entfaltung des historischen Geistes, sein Niedergang und sein Neuaufleben den eigentlichen Gegenstand und Inhalt dieses Buches bildeten . Wie der Leser jedoch sehen wird, ist dies nicht der Fall. Die Ziele, die ich mir gesteckt habe, sind theoretischer Natur. Was ich vor Augen hatte , war eine Untersuchung der Wechselwirkung zwischen dem geschichtlichen Geist und jener großen Literatur, die die Totalität der Gesd1ichte darstellt, und dies

18

Vorbemerkung

nur in bezug auf die bürgerliche Literatur; die Wendung, die der sozialisti­ sche Realismus hervorbringt, geht über den Rahmen meiner S tudie hinaus. Bei einer solchen Fragestellung ist natürlich schon die innere, theoretischste, abstrakteste Dialektik des Problems geschichtlichen Charakters . Die Ziel­ setzung meiner Studie beschränkt sich indessen nur auf die Ausarbeitung der Hauptlinien dieser historischen Dialektik. Das heißt : sie analysiert und un­ tersucht bloß die für diese geschichtliche Entwicklung typischen Strömungen, Abzweigungen und Knotenpunkte, die, unter dem Gesichtspunkt der Theo­ rie gesehen, charakteristisch und unentbehrlich sind. Deshalb ist ihr Bestreben auch nicht auf historische Vollständigkeit gerichtet. Der Leser erwarte hier kein Lehrbuch der Entwicklung des historischen Dramas oder des historischen Romans ; er findet eine Behandlung nur jener Schriftsteller, Werke und Rich­ tungen, die unter diesem theoretischen Gesichtspunkt repräsentative Bedeu­ tung haben. Deshalb konnten und mußten rein literarisch weniger bedeu­ tende Schriftsteller eingehend behandelt werden, während ich in anderen Fällen dichterisch viel bedeutendere Werke außer acht lassen mußte. Unter diesem Gesichtspunkt konnte auch der alte Abschluß, das Einmünden der Entwicklung in die damalige Gegenwart, in die deutsche antifaschistische Literatur von 19 3 7, unverändert bleiben. Dies konnte meiner Meinung nach deshalb geschehen, weil die theoretisch wichtigen Fragen, in erster Linie die Kraft und die temporäre Schwäche sowohl in weltanschaulid1er und poli­ tischer wie in ästhetischer Hinsicht, gerade in dieser Literatur klar zum Ausdruck gelangen. Die Tatsache, daß meine damalige politische Perspek­ tive sich als zu optimistisch erwies, ändert _n ichts an der Bedeutung der aufgeworfenen theoretischen Fragen und an der Richtung, in der ihre Lösung zu suchen ist. Diese Zielsetzung bestimmt die methodologischen Probleme meines Buches. Erstens, wie schon oben erwähnt, die Wahl des Stoffes. Dieses Buch zeigt nicht im engen Sinne des Wortes eine historische Entwicklung auf , es sucht aber trotzdem die Hauptlinien der historischen Entwicklung, die in ihr au f­ tauchenden wichtigsten Fragen simtbar ZU mamen. Das I deal bestünde natür­ lich darin, die vollkommene Ausarbeitung der theoretischen Gesidltspunkte mit der ersmöpfenden Behandlung der Totalität der geschimtlichen Entwidi­ lung zu verbinden. Nur in diesem Falle könnte die wirkliche Kraft der mar­ xistismen Dialektik für jeden greifbar gemacht werden : könnte jedem ver­ ständlich werden, daß sie ihrem Wesen nach nicht in erster Linie gedanklicher Natur, sondern die gedankliche Widerspiegelung des tatsächlichen historischen Prozesses ist. Auch dieses Ideal machte ich mir bei der Abfassung meiner

Vorbemerkung

Arbeit nicht zum Ziel; ich betrachte mein Buch daher bloß als einen Versuch, die Hauptgesichtspunkte prinzipiell zu fixieren, in der Hoffnung, daß voll­ kommenere, umfassendere Werke folgen werden. Der zweite entscheidende methodologische Gesichtspunkt ist die Unter­ suchung der Wechselwirkung zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaft­ lichen Entwicklung und der aus ihr herauswachsenden Weltanschauung und künstlerischen Form. Hier tauchte eine ganze Reihe neuer, bisher wenig ana­ lysierter Probleme auf : die gesellschaftlid1e Basis des Sid1absonderns der Genres, ihre gegenseitige Annäherung, das Entstehen und Absterben der neuen Formelemente in diesem komplizierten Prozeß der Wechselwirkung. Auch in dieser Hinsicht halte ich mein Buch für fragmentarisch, betrachte ich es nur als einen Anfang, einen Versud1. Im Laufe der Konkretisierung der marxistischen Ästhetik ist diese Frage bisher kaum aufgetaucht. Eine ernst­ hafte marxistische Genretheorie ist jedoch unmöglich, solange wir nicht be­ strebt sind, die Widerspiegelungstheorie der materialistischen Dialektik auf das Problem der Differenzierung der Genres anzuwenden. Im Zusammen­ hang mit der Analyse der Hegelschen Logik weist Lenin genial darauf hin, daß die abstraktesten Schlußformen (Syllogismen) ebenfalls abstrakte Fälle der Widerspiegelung der Wirklichkeit sind. Diesen Gedanken versudlte ich in meinem Buch auf Epik und Dramatik anzuwenden. Aber auch hier mußte ich - gerade so wie bei der historischen Behandlung - beim methodologischen Aufzeigen des Lösungsversuches stehenbleiben. Dieses Bud1 tritt also ebenso­ wenig mit dem Anspruch auf, eine vollständige Theorie der dramatisd1en und epischen Formen zu geben, wie es auf dem Gebiet der Gesdlichte dem Leser eine vollkommene Darstellung der Entwicklung des historischen Ro­ mans und Dramas vorlegen will. Das Buch ist also, trotz seines Umfangs, nur ein Versuch, ein Essay : eine Vorarbeit gleichermaßen zur marxistischen Ästhetik wie zur materialisti­ schen Behandlung der modernen Literaturgeschichte. Ich kann dabei nidu genug betonen, daß ich es, alles in allem, nur für einen ersten Ansatz halte, den hoffentlich andere bald weiterführen werden, nötigenfalls mit einer Kor­ rektur der von mir erreichten Resultate. Ich glaube jedoch, daß auf diesem noch kaum aufgepflügten Boden auch solch ein erstes Beginnen seine Berech­ tigung hat. Budapest, März r9 54

21

Vorwort

Diese Monographie erhebt keineswegs den Ansp ruch, eine ausführliche und vollstän dige Geschichte des historischen Romans zu geben. Abgesehen davon, daß es an wirklichen Vorarbeiten dazu fehlt, lag dies gar nicht in meiner Absicht. Ich wollte nur die wichtigsten prinzipiellen, theoretischen Fragen behandeln. Bei der außerordentlich großen Rolle, die der historische Roman sowohl in der Literatur der UdSSR wie in der der antifaschistischen Volks­ front spielt, erscheint mir eine solche prinzipielle Untersuchung als ebenso un­ erläßlich wie aktuell. Um so mehr, als der historische Roman unserer Tage, bei aller großen B egabung seiner besten Vertreter, noch vielfach an den Über­ resten des nicht völlig überwundenen schädlichen Erbes der bürgerlichen De­ kadenz krankt. Will man nun diese Mängel wirklich aufdecken, so muß die Aufmerksamkeit des Kritikers auf die prinzipiellen Fragen nicht nur des historischen Romans, sondern der Literatur überhaupt gerichtet sein. Aber die theoretische Untersuchung erfolgt hier auf historischer Grundlage. Der prinzipielle Unterschied zwischen dem historischen Roman der Klassiker und dem der Dekadenz usw. hat seine historischen Ursachen. Und es soll in dieser Arbeit gerade gezeigt werden , wie Entstehung und Entwicklung, Auf­ stieg und Niedergang des historischen Romans als notwendige Folgen der großen gesellschaftlichen Umwälzungen der Neuzeit in Erscheinung treten; es soll nachgewiesen werden, daß seine verschiedenen Formprobleme künst­ lerische Widerspiegelungen gerade dieser gesellschaftlich-geschichtlichen Um­ wälzungen sind . Der Geist dieser Arbeit ist also ein historischer. Es wird aber in ihr keine historische Vollständigkeit erstrebt. Es werden in ihr nur diejenigen Schrift­ steller behandelt, deren Werke in einer bestimmten Hinsicht repräsentativ sind, die typische Knotenpunkte auf dem Wege der Entwicklung des histori­ schen Romans bedeuten. Dasselbe Prinzip der Auswahl ist bei der Anführung der älteren Kritiker und Ästhetiker und der sich theoretisch mit Literatur beschäftigenden Dichter maßgebend gewesen. Ich habe mich auf beiden Ge­ bieten bemüht zu zeigen, daß es auch in bezug auf den historischen Roman nicht darauf ankommt, etwas angebl ich »radikal Neues « auszuklügeln, son­ dern - wie uns Lenin gelehrt hat - darauf, sich alles Wertvolle der voran­ gegangenen Entwicklung anzueignen und es kritisch zu verarbeiten. Die

22

Vorwort

Aktualität und Vorbildlichkeit der Klassiker ist auch für den zeitgenössischen historischen Roman ein zentrales Problem. Es ist nicht meine Sache zu beurteilen, wie oder wie wenig meine Absich­ ten verwirklicht wurden. Es kam mir hier nur darauf an, dem Leser diese Absichten klar mitzuteilen, damit er von Anfang an weiß, was er von diesem Buch zu erwarten hat und was nicht. Jedoch auf einen - aus meiner persönlichen Entwicklung folgenden Mangel muß ich den Leser gleich eingangs aufmerksam machen : den russischen historischen Roman konnte ich nur behandeln, soweit er in fremde Sprachen übersetzt vorliegt. Das ergibt für die Geschichte ernste und schmerzliche Lücken. Aber in der älteren Literatur war es immerhin möglich, die welt­ literarisch entscheidenden Werke der russischen Literatur zu behandeln. Aus der Sowjetliteratur liegen jedoch nur zufällige Übersetzungen vor, ein dürf­ tiges und lückenhaftes Material, das es meinem wissenschaftlichen Gewissen nicht gestattet, von einer solchen Grundlage aus irgendwelche Schlußfolge­ rungen zu ziehen. Darum mußte id1 auf die B ehandlung des historischen Romans der Sowjetliteratur verzichten. Ich hoffe aber, daß meine Ausführun­ gen trotzdem für den Sowjetleser einiges zur Klärung dieser wichtigen Pro­ bleme beitragen werden und hoffe insbesondere, daß diese Lücken meiner Arbeit möglichst bald von anderen ausgefüllt werden. Moskau, September 1937

23 Erstes Kapitel

Die klassische Form des historischen Romans

I Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen des historischen Romans

Der historische Roman ist am Anfang des 19. Jahrhunderts, ungefähr zur Zeit des Sturzes von Napoleon entstanden. (Der » Waverley« Walter Scotts ist l 814 erschienen.) Selbstverständlich gibt es Romane geschichtlicher The­ matik schon im 17. und 1 8 . Jahrhundert, ja wer Lust hat, mag sogar die B earbeitung antiker Geschichte oder Mythen im Mittelalter als »Vorläufer« des historischen Romans betrachten und weiter bis nach China oder Indien zurückgehen. Er wird aber au f diesem Wege nichts finden, was das Phänomen des historischen Romans irgendwie wesentlich beleuchten würde. Die so­ genannten historischen Romane des 17· Jahrhunderts (Scudery, Calprenede usw.) sind nur nach ihrer rein äußerlichen Thematik, nur ihrem Kostüm nach historisch. Nicht nur die Psychologie der Gestalten, sondern auch die gesd1il­ derten Sitten sind vollständig die der Gegenwart der Schriftsteller. Und der berühmteste »historische Roman « des 18. Jahrhunderts, Walpoles » Castle of Otranto«, behandelt die Geschichte ebenfalls nur als Kostüm, es kommt hier allein auf die Kuriosität und Exzentrizität des geschilderten Milieus an, nicht auf die künstlerisch getreue Abbildung eines konkreten historischen Zeitalters . Es fehlt dem sogenannten historischen Roman vor Walter Scott gerade das spezifisch Historische : die Ableitung der Besonderheit der han­ delnden Menschen aus der historischen Eigenart ihrer Zeit. Der große Kri­ tiker Boileau, der die historischen Romane seiner Zeitgenossen sehr skeptisch beurteilte, legt nur auf die soziale und psychologische Wahrheit der Gestalten Gewicht, er verlangt, daß ein Herrscher anders lieben soll als ein Hirt usw. Die Frage der historischen Wahrheit in der dichterischen Abbildung der Wirklichkeit liegt noch außerhalb seines Horizonts. Aber auch der große realistische Gesellschaftsroman des 1 8 . Jahrhunderts, der in der Gestaltung der Sitten und der Psychologie seiner Gegenwart einen für die Weltgeschichte der Literatur bahnbrechenden Durchbruch zur Wirk­ lichkeit vollzog, macht die konkrete Zeitbestimmtheit der gestalteten Men-

Die klassische Form des historischen Romans sehen nicht zum Problem. Die Gegenwart wird mit außerordentlicher Plastik und Lebensechtheit gestaltet, aber sie wird naiv als ein Seiendes hingenom­ men: woraus und wie sie sich entwickelt hat, taucht für die Gestaltung der Schriftsteller noch nicht als Frage auf. Diese Abstraktheit in der Gestaltung der historischen Zeit hat auch ihre Folgen für die Gestaltung des historischen Ortes. Lesage kann noch ohne weiteres seine höchst wahrheitsgetreuen Schil­ derungen des Frankreich seiner Gegenwart ungeniert nach Spanien verlegen. Swift, Voltaire und selbst noch Diderot lassen ihre satirischen Romane in einem Nie und Nirgendwo spielen, das freilich die wesentlichen Züge des damaligen England und Frankreich wahrheitsgetreu widerspiegelt. Diese Schriftsteller erfassen also die wesentlichen Züge ihrer Gegenwart mit einem kühnen und tiefschürfenden Realismus. Sie sehen aber das Spezifische ihrer eigenen Zeit nicht historisch. An dieser Grundeinstellung ändert sich nichts Wesentliches dadurch, daß das immer stärkere Vordringen des Realismus die spezifischen Züge der Gegen­ wart mit großer schriftstellerischer Kraft zur Erscheinung bringt. Man denke an Romane wie »Moll Flanders«, »Tom Jones« usw. In dieser groß­ zügig realistischen Gegenwartsdarstellung tauchen mitunter sogar bedeutende Ereignisse der zeitgenössisd1en Geschichte auf und werden mit den Schick­ salen der gestalteten Menschen handlungsgemäß verknüpft. Damit wer­ den, insbesondere bei Smollet und Fielding, Ort und Zeit des Geschehens viel energischer konkretisiert, als dies in der früheren Periode des Gesell­ schaftsromans und auch noch bei den zeitgenössischen Franzosen im allge­ meinen üblich gewesen ist. Fielding verfügt sogar über eine gewisse Bewußt­ heit dieser Praxis, dieser Konkretisierung des Romans in der Richtung des Erfassens der historischen Besonderheit der gestalteten Menschen und Ereig­ nisse. Er nennt sich selbst als Schriftsteller einen Historiker der bürgerlichen Gesellschaft. überhaupt muß bei einer Analyse dieser Vorgeschichte des historischen Romans mit der romantisd1-reaktionären Legende gebrochen werden, daß die Periode der Aufklärung jeden Sinnes und Verständnisses für die Ge­ schichte bar gewesen wäre und erst die Gegner der Französischen Revolution, die Burke, de Maistre usw. den historischen Sinn erfunden hätten. Man braucht nur an die außerordentlichen historischen Leistungen von Montes­ quieu, Voltaire, Gibbon usw. zu denken, um diese Legende niedriger zu hängen. Für uns kommt es aber darauf an, den besonderen Charakter dieses Sinnes für Geschichte vor und nach der Periode der Französischen Revolution zu

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen konkretisieren, um klar zu sehen, auf welchem gesellschaftlichen und ideo­ logischen Boden der historische Roman entstehen konnte. Und hier muß her­ vorgehoben werden, daß die Geschichtsschreibung der Aufklärung in ihrer wesentlichen Linie eine ideologische Vorbereitung der Französischen Revo­ lution gewesen ist. Die mitunter großartige und viele neue Tatsachen und Zusammenhänge aufdeckende Konstruktion der Geschichte dient dazu, die Notwendigkeit der Umwälzung der »unvernünftigen« feudal-absolutistischen Gesellschaft nachzuweisen, um aus den Erfahrungen der Geschichte jene Prin­ zipien abzuleiten, mit deren Hilfe eine »vernünftige« Gesellschaft, ein »ver­ nünftiger« Staat geschaffen werden kann. Darum steht die Antike im Mittel­ punkt der Geschichtstheorie und der Praxis der Aufklärung. Die Ergründung der Ursachen der Größe und des Niederganges der antiken Staaten ist eine der wichtigsten theoretischen Vorarbeiten für die künftige Umgestaltung der Gesellschaft. Dies bezieht sich vor allem auf Frankreich, auf das geistig führende Land der Periode der militanten Aufklärung. Etwas anders steht es um die Lage in England. Das England des 18. Jahrhunderts befindet sich zwar ökonomisch mitten im größten Umwälzungsprozeß, in der Periode, in der die ökono­ misch-sozialen Vorbedingungen der industriellen Revolution geschaffen wer­ den; es ist aber in politisdier Hinsicht bereits ein nachrevolutionäres Land. In der theoretischen Bewältigung und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, in der Herausarbeitung der Prinzipien der politischen Ökonomie spielen also Momente der konkreten Erfassung der Geschichte als Geschichte eine größere Rolle als in Frankreich. Aber die Bewußtheit und Konsequenz in der Durch­ führung solcher spezifisch historischen Gesichtspunkte bleiben doch für die Gesamtentwicklung episodisch. Der wirklich herrschende ökonomische Theo­ retiker gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist Adam Smith: James Steuart, der das Problem der kapitalistischen Ökonomie viel historischer gestellt, der sich mit der Erforschung des Entstehungsprozesses des Kapitals beschäftigt hat, gerät sehr bald in Vergessenheit. Marx charakterisiert den Untersd1ied dieser beiden bedeutenden Ökonomen folgendermaßen: Steuarts »Verdienst um die Auffassung des Kapitals beruht auf der Nachweisung, wie der Schei­ dungsprozeß zwischen den Produktionsbedingungen, als dem Eigentum be­ stimmter Klassen, und der Arbeitskraft vorgeht. Mit diesem Entstehungs­ prozeß des Kapitals - ohne ihn noch direkt als solchen aufzufassen (von mir hervorgehoben, G. L.), obgleich er ihn als Bedingung der großen Industrie auffaßt - ist er viel beschäftigt, er betraditet den Prozeß namentlich in der Agrikultur: und erst durch diesen Scheidungsprozeß in der Agrikultur ent-

Die klassische Form des historischen Romans

steht richtig bei ihm die Manufakturindustrie als solche. Dieser Scheidungs­ prozeß ist bei Adam Smith schon als fertig vorausgesetzt«. D iese Unbewußt­ heit über die Tragweite des praktisch vorhandenen historischen Sinnes, über die Möglichkeit der Verallgemeinerung der instinktiv richtig beobachteten historischen Eigenart der unmittelbaren Gegenwart charakterisiert die Stelle, die der große Gesellschaftsroman Englands in der Entwicklung unseres Pro­ blems einnimmt. Er hat das Auge der Schriftsteller auf die konkrete (d. h. historische) Bedeutung des Ortes und der Zeit, der sozialen Bedingungen usw. hingelenkt, er hat die realistischen schriftstellerischen Ausdrucksmittel für die Gestaltung dieser örtlich-zeitlichen (d. h. historischen) Eigenart der Menschen und Verhältnisse geschaffen. Aber dies ist, ebenso wie in der Ökonomie Steu­ arts, aus realistischem Instinkt geschehen und hat sich nicht zu einer Klarheit über die Geschichte als Prozeß, über die Geschichte als konkrete Vorbedingung der Gegenwart erhoben. Erst in der letzten Periode der Aufklärung taucht das Problem der künst­ lerischen Widerspiegelung vergangener Zeiten als ein zentrales Problem der Literatur auf. Dies geschieht in Deutschland. Allerdings bewegt sich die Ideologie der deutschen Aufklärung vorerst auf den Bahnen der französi­ schen und englischen ; die großen Leistungen Winckelmanns und Lessings ver­ lassen im wesentlichen nicht die allgemeine Entwicklungslinie der Aufklärung. Lessing, über dessen wichtige Beiträge zur Klärung des Problems des histo­ rischen Dramas wir später ausführlich sprechen werden, bestimmt noch das Verhältnis des Dichters zur Geschichte durchaus im Sinne der Philosophie der Aufklärung. Er meint, daß die Geschichte für den großen Dramatiker nicht mehr wäre als ein »Repertorium « von Namen. Aber bald nach Lessing taucht im »Sturm und Drang« das Problem der dichterischen Bewältigung der Geschichte bereits als bewußtes Problem auf. Goethes » Götz von Berlichingen« leitet nicht nur eine neue Blütezeit des historischen Dramas ein, sondern hat auch auf die Entstehung des historischen Romans bei Walter Scott einen unmittelbaren und starken Einfluß. Diese bewußte Steigerung des Historismus, die ihren ersten theoretischen Ausdruck in den Schriften Herders erhält, hat ihre Wurzel in der besonderen Lage Deutschlands, in der D iskrepanz zwischen der ökonomisch-politischen Zu­ rückgebliebenheit Deutschlands und der I deologie der deutschen Aufklärer, die, auf den Schultern ihrer englischen und französischen Vorgänger stehend, die I deen der Aufklärung höherentwickelt haben. Dadurch treten nicht nur die allgemeinen Widersprüche, die der ganzen Ideologie der Aufklärung zugrunde liegen, schärfer hervor als in Frankreich, sondern es wird auch der

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen

spezifische Gegensatz zwischen diesen Ideen und der deutschen Wirklichkeit energisch in den Vordergrund gerückt. In England und Frankreich ist die ökonomische, politische und ideologisdie Vorbereitung und Vollendung der bürgerlidien Revolution und die Konsti­ tuierung des nationalen Staates ein und derselbe Prozeß. Der bürgerlich­ revolutionäre Patriotismus mag noch so stark sein und noch so wichtige Werke hervorbringen (die »Henriade« von Voltaire), in seiner Hinwendung zur Vergangenheit muß doch die aufklärerische Kritik des »Unvernünftigen« überwiegen. Ganz anders in Deutschland. Der revolutionäre Patriotismus stößt hier auf die nationale Zerrissenheit, und zwar auf eine politische und ökonomische Zersplitterung des Landes, deren kultureller und ideologisdier Ausdruck eine Importware aus Frankreich ist. Denn alles, was an den kleinen deutschen Höfen an Kultur, vor allem an Pseudokultur produziert wurde, war nichts als eine sklavische Nachahmung des französischen Hofes. Die kleinen Höfe sind also nicht nur ein politisches Hindernis der deutschen Ein­ heit, sondern hemmen auch ideologisch die Entwicklung einer aus dem Be­ dürfnis des deutschen bürgerlichen Lebens stammenden Kultur. Die deutsche Form der Aufklärung muß notwendigerweise in sdiarfer Polemik gegen diese französische Kultur stehen, und sie behält eine solche Note des revolutionären Patriotismus auch dort, wo der wesentliche Inhalt des ideologischen Kamp­ fes der Widerstreit verschiedener Entwicklungsstufen der Aufklärung ist (Les­ sings Kampf gegen Voltaire). Aus dieser Lage resultiert notwendig eine Rückwendung zur deutschen Geschichte. Die Hoffnung auf nationale Wiedergeburt schöpft ihre Kräfte teilweise aus der Wiedererweckung der vergangenen nationalen Größe. Der Kampf um diese nationale Größe erfordert, daß die geschichtlichen Ursachen des Niedergangs, des Zerfalls von Deutschland erforscht und künstlerisch dargestellt werden. In Deutschland, das im Laufe der vorher­ gegangenen Jahrhunderte nur ein Objekt der geschichtlichen Umwandlun­ gen gewesen ist, tritt damit die Historisierung der Kunst früher und radi­ kaler auf als in den ökonomisch wie politisch entwickelteren Ländern des Westens. Erst die Französische Revolution, die Revolutionskriege, Napoleons Auf­ stieg und Sturz haben die Geschichte zum Massenerlebnis gemadit, und zwar im europäischen Maßstabe. Während der Jahrzehnte zwischen 1 7 8 9 und 1 8 1 4 hat jedes Volk Europas mehr Umwälzungen erlebt als sonst in Jahr­ hunderten. Und der rasche Wechsel gibt diesen Umwälzungen einen qualita­ tiv besonderen Charakter, löscht für die Massen den Eindruck des »Natur-

Die klassische Form des historischen Romans ereignisses« aus, macht den geschichtlichen Charakter der Umwälzungen weit sichtbarer, als dies in isolierten Einzelfällen der Fall zu sein pflegt. Man lese - um nur ein Beispiel anzuführen - die Jugenderinnerungen Heines im »Buch Le Grand« nach, wo sehr anschaulich geschildert wird, wie der rapide Wechsel der Regierungen auf Heine als Knaben gewirkt hat. Wenn nun sol­ che Erlebnisse sich mit der Erkenntnis, daß dergleichen Umwälzungen sich überall in der ganzen Welt vollziehen, verbinden, muß das Gefühl, daß es eine Geschichte gibt, daß diese Geschichte ein ununterbrochener Prozeß der Veränderungen ist und daß endlich diese Geschichte unmittelbar ins Leben eines jeden einzelnen eingreift, außerordentlich erstarken. Diese ins Qualitative umschlagende quantitative Steigerung erscheint auch im Unterschied dieser Kriege von allen anderen, die vorangegangen sind. Die Kriege der absoluten Staaten der vorrevolutionären Zeit wurden von kleinen Berufsheeren geführt. Die Kriegführung ging darauf aus, die Armee von der Zivilbevölkerung so scharf wie möglich zu isolieren. (Verpflegung aus Depots, Angst vor Desertion usw.) Nicht umsonst hat Friedrich 11. von Preu­ ßen den Gedanken ausgesprochen, daß der Krieg so geführt werden müsse, daß die Zivilbevölkerung ihn überhaupt nicht bemerke. »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« war die Devise der Kriege des Absolutismus. Dies ändert sich mit einem Schlage durch die Französische Revolution. In ihrem Verteidigungskampf gegen die Koalition der absoluten Monarchien war die französische Republik gezwungen, Massenheere zu schaffen. Der Unterschied zwischen Söldnerheer und Massenheer ist aber ein qualitativer gerade hinsichtlich der Beziehung zu den Mass�n der Bevölkerung. Werden nicht kleine Kontingente von Deklassierten fürs Berufsheer geworben oder in es gepreßt, sondern soll ein Massenheer entstehen, so müssen Inhalt und Ziel des Krieges den Massen propagandistisch klargelegt werden. Dies ge­ schieht nicht nur in Frankreich selbst zur Zeit der Verteidigung der Revo­ lution und der späteren Angriffskriege. Auch die anderen Staaten sind, wenn sie zur Schaffung von Massenheeren übergehen, gezwungen, zu diesem Mittel zu greifen. (Man denke an die Rolle der deutschen Literatur und Philosophie in dieser Propaganda nach der Zeit der Schlacht von Jena.) Diese Propaganda kann sich aber unmöglich auf den einzelnen isolierten Krieg beschränken. Sie muß den sozialen Inhalt, die historischen Voraussetzungen und Umstände des Kampfes aufdecken, muß den Krieg in Zusammenhang bringen mit dem ganzen Leben und mit den Entwicklungsmöglichkeiten der Nation. Es genügt, wenn wir auf die Bedeutung der Verteidigung der Errungenschaften der Revolution in Frankreich, auf die Verknüpfung der Schaffung des Massen-

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen

29

heeres mit politischen und sozialen Reformen in Deutschland und in anderen Ländern hinweisen. Das innere Leben des Volkes ist mit dem modernen Massenheer in ganz anderer Weise verknüpft, als es das mit den absolutistischen Armeen der früheren Periode sein konnte. In Frankreich fällt die ständische Scheidewand zwischen adligem Offizier und Mannschaft: der Aufstieg zu den höchsten Stellen der Armee steht jedem offen, und es ist eine allgemein verbreitete Erkenntnis, daß diese Schranke gerade durch die Revolution gefallen ist. Und selbst in den gegen die Revolution kämpfenden Ländern ist es unvermeidlich, daß in die ständischen Schranken wenigstens gewisse Breschen geschlagen werden. Man braucht nur die Schriften von Gneisenau zu lesen, um zu sehen, welcher klare Zusammenhang zwischen diesen Reformen und der durch die Französische Revolution geschaffenen neuen historischen Lage besteht. Dazu kommt, daß auch während des Krieges die früheren Trennungswände zwi­ schen Armee und Volk zerstört werden müssen. Für die Massenheere ist eine Depotverpflegung unmöglich. Da sie sich durch Requisition verpflegen, ist es unvermeidlich, daß sie mit dem Volk des Landes, in welchem der Krieg ge­ führt wird, in eine unmittelbare und ununterbrochene Verbindung geraten. Freilich besteht diese Verbindung sehr oft aus Raub und Plünderung. Aber doch nicht immer. Und es darf nicht vergessen werden, daß die Kriege der Revolution und teilweise auch die Napoleons bewußt als Propagandakriege geführt worden sind. Endlich spielt auch die ungeheure quantitative Ausdehnung der Kriege eine qualitativ neue Rolle, bringt eine außerordentliche Erweiterung des Hori­ zonts mit sich. Während die Kriege der Söldnerheere des Absolutismus zu­ meist aus kleinlichen Manövern um Festungen usw. bestanden, wird jetzt ganz Europa zum Kriegsschauplatz. Französische Bauern kämpfen zuerst in .i\gypten, dann in Italien, dann in Rußland, deutsche und italienische Hilfs­ truppen nehmen am Feldzug gegen Rußland teil, deutsche und russische Truppen ziehen nach Napoleons Niederlage in Paris ein usw. Was früher nur vereinzelte, zumeist abenteuerlich gesinnte Individuen erlebt haben, näm­ lich ein Kennenlernen Europas oder wenigstens bestimmter Teile Europas, wird in dieser Periode zum Massenerlebnis von Hunderttausenden, von Millionen. So entstehen die konkreten Möglichkeiten dafür, daß die Menschen ihre eigene Existenz als etwas geschichtlich Bedingtes erfassen, daß sie in der Geschichte etwas sehen, was tief in ihr Alltagsdasein eingreift, was sie un­ mittelbar angeht. Es erübrigt sich, dabei von den sozialen Umwälzungen in

30

Die klassische Form des historischen Romans

Frankreich selbst zu sprechen. Es ist ohne weiteres evident, wie sehr die gro­ ßen und rasch aufeinanderfolgenden Wendungen dieser Periode das ökono­ mische und kulturelle Leben des ganzen Volkes umgestülpt haben. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß die Heere der Revolution und auch später die Napoleons an sehr vielen Orten, wo sie Eroberungen machten, die Überreste des Feudalismus ganz oder teilweise liquidiert haben, so z. B. am Rhein und in Norditalien. Der soziale und kulturelle Gegensatz des Rhein­ landes zum übrigen Deutschland, noch in der Achtundvierziger Revolu­ tion stark fühlbar, ist ein Erbstück aus der Napoleonischen Periode. Und der Zusammenhang dieser sozialen Umwälzungen mit der Französischen Re­ volution ist breiten Massen bewußt. Wieder sei hier auf einige literarische Reflexe hingewiesen. Neben Heines Jugenderinnerungen ist es sehr lehrreich, die ersten Kapitel von Stendhals »Chartreuse de Parme« zu lesen, um zu sehen, welchen unauslöschlichen Eindruck die französische Herrschaft in Norditalien hervorgerufen hat. Es gehört zum Wesen der bürgerlichen Revolution, wenn sie ernsthaft bis zum Ende durchgeführt wird, daß der nationale Gedanke zum Eigentum brei­ tester Massen wird. Erst infolge der Revolution und der Napoleonischen Herrschaft ist in Frankreich das Nationalgefühl zum Erlebnis und zum Be­ sitz der Bauernschaft, der unteren Schichten des Kleinbürgertums usw. ge­ worden. Erst dieses Frankreich haben sie als ihr eigenes Land, als ihr selbst­ geschaffenes Vaterland erlebt. Aber das Erwecken des nationalen Empfindens und damit des Gefühls und des Verständnisses für nationale Geschichte entsteht nicht nur in Frankreich selbst. Die Napoleonischen Kriege rufen überall eine Welle des National­ gefühls, des nationalen Widerstands gegen die Napoleonischen Eroberungen, ein Erlebnis der Begeisterung für die nationale Selbständigkeit hervor. Diese Bewegungen sind freilich zumeist, wie Marx sagt, ein Gemisch von »Regene­ ration und Reaktion«. So in Spanien, in Deutschland usw. Der Kampf um die Selbständigkeit Polens, das Aufflammen des polnischen Nationalgefühls ist dagegen in seiner Haupttendenz progressiv. Wie immer aber es um die Mi­ schung von »Regeneration und Reaktion« in den einzelnen nationalen Be­ wegungen auch bestellt sein mag, es ist klar, daß diese Bewegungen, die wirk­ liche Massenbewegungen gewesen sind, gerade den Sinn für Geschichte, das Erlebnis der Geschichte in breite Massen hineintragen mußten. Der Appell an nationale Selbständigkeit und Eigenart ist notwendigerweise mit einer Wiedererweckung der nationalen Geschichte verknüpft, mit Erinnerungen an die Vergangenheit, an die vergangene Größe, an die Momente der nationalen

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen Schmach, einerlei ob dies in progressiven oder reaktionären Ideologien aus­ läuft. So verknüpft sich in diesem Massenerlebnis der Geschichte einerseits das na­ tionale Element mit den Problemen der gesellschaftlichen Umgestaltung, an­ dererseits wird die Verknüpfung der nationalen Geschichte mit der Welt­ geschichte in immer weiteren Kreisen bewußt. Diese steigende Bewußtheit über den historischen Charakter der Entwicklung beginnt auch in die Beurtei­ lung der ökonomischen Zustände und der Klassenkämpfe hineinzuspielen. Im 1 8 . Jahrhundert haben nur vereinzelte, geistreich paradoxe Kritiker des beginnenden Kapitalismus die Ausbeutung des Arbeiters durch das Kapital mit Ausbeutungsformen früherer Perioden verglichen, um den Kapitalismus als die unmenschlichere Form zu entlarven (Linguet). Im ideologischen Kampf gegen die Französische Revolution wird ein solcher, freilich ökonomisch fla­ cher, reaktionär-tendenziöser Vergleich zwischen der Gesellschaft vor und nach der Revolution, im weiteren Ausmaße zwischen Kapitalismus und Feu­ dalismus, zum Kriegsruf der legitimistischen Romantik. Die Unmenschlichkeit des Kapitalismus, das Chaos der Konkurrenz, die Vernichtung der Kleinen durch die Großen, die Erniedrigung der Kultur dadurch, daß alle Dinge zur Ware werden , all dies wird zumeist reaktionär tendenziös mit dem sozialen Idyll des Mittelalters, als der Periode der friedlichen Zusammenarbeit aller Klassen, als dem Zeitalter des organischen Wachstums der Kultur, kontra­ stiert. Aber wenn in diesen polemischen Schriften zumeist die reaktionäre Tendenz überwiegt, so darf doch nicht vergessen werden, daß erst in dieser Periode die erste Vorstellung vom Kapitalismus als einer historisch bestimm­ ten Periode der Menschheitsentwicklung auftaucht, und zwar nicht bei den großen Theoretikern des Kapitalismus, sondern bei ihren Gegnern. Es genügt, sich dabei auf Sismondi zu berufen, der bei aller theoretischen Verworrenheit seiner prinzipiellen Fragestellungen einzelne historische Probleme der ökono­ mischen Entwicklung mit großer Klarheit aufgeworfen hat. Man denke nur an seine Bestimmung, daß im Altertum das Proletariat auf Kosten der Ge­ sellschaft gelebt hat, während in der Neuzeit die Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt. Es ist schon aus diesen Bemerkungen klar, daß die Tendenzen zum Bewußt­ werden des Historismus in der Periode nach dem Sturz Napoleons, in der Zeit der Restauration, der Heiligen Allianz ihren Gipfelpunkt erreichen. Freilich ist der zuerst herrschend und offiziell werdende Geist des Historismus reaktionär und seinem Wesen nach pseudohistorisch. Die Geschichtsauffas­ sung, die Publizistik und Belletristik des Legitimismus entwickeln den histo-

32

Die klassische Form des historischen Romans

rischen Geist in schroffem Gegensatz zur Aufklärung, zu den Ideen der Fran­ zösischen Revolution. Das Ideal des Legitimismus ist die Rückkehr der Zu­ stände vor der Französischen Revolution, also ein Ausstreichen des größten historischen Ereignisses der Epoche aus der Geschichte. Geschichte ist nach dieser Auffassung ein stilles, unmerkliches, naturhaftes, »organisches« Wachstum. Das heißt: eine Entwicklung der Gesellschaft, die im Grunde genommen ein Stillstand ist, die an den altehrwürdigen, legitimen Institutionen der Gesellschaft nichts verändert und vor allem nichts bewußt verändert. Die Aktivität des Menschen in der Geschichte soll vollständig ausgeschaltet werden. Die deutsche historische Rechtsschule spricht sogar den Völkern das Recht ab, sich neue Gesetze zu geben, sie will die alten, bunt­ scheckigen feudalen Gewohnheitsrechte ihrem »organischen Wachstum« über­ lassen. Auf diesem Boden entsteht also unter der Flagge des Historismus, der Be­ kämpfung des »abstrakten«, »unhistorischen« Geistes der Aufklärung ein Pseudohistorismus, eine Ideologie der Unbeweglichkeit, der Rückkehr zum Mittelalter. Die geschichtliche Entwicklung wird im Interesse dieser reaktio­ nären politischen Ziele rücksichtslos zurechtgebogen, wobei die innere Ver­ logenheit der reaktionären Ideologie noch dadurch gesteigert wird, daß die Restauration in Frankreich ökonomisch gezwungen ist, sich mit dem in­ zwischen emporgewachsenen Kapitalismus gesellschaftlich abzufinden, ja sich ökonomisch wie politisch teilweise auf ihn zu stützen. (Xhnlich ist die Lage der reaktionären Regierungen in Preußen, Österreich usw.) Auf dieser Grund­ lage soll nun die Geschichte neu geschrieben v:erden. Chateaubriand bemüht sich, die antike Geschichte zu revidieren und dadurch das alte revolutionäre Vorbild der jakobinischen und Napoleonischen Periode historisch herabzu­ setzen. Er und andere Pseudohistoriker der Reaktion geben ein verlogen idyllisches Bild von der unübertroffen harmonischen Gesellschaft des Mittel­ alters. Diese historische Auffassung des Mittelalters wird ausschlaggebend für die Gestaltung der Feudalzeit im romantischen Roman der Restaurations­ periode. Trotz dieser ideellen Minderwertigkeit des legitimistischen Pseudohistoris­ mus geht von ihm eine außerordentlich starke Wirkung aus. Er ist ein zwar verzerrter und verlogener, aber doch auch ein historisch notwendiger Aus­ druck der großen Umwälzungsperiode, die mit der Französischen Revolution einsetzt. Und die neue Stufe der Entwicklung, die gerade mit der Restaura­ tion beginnt, zwingt die Verteidiger des menschlichen Fortschritts, sich eine neue ideologische Rüstung zu schaffen. Wir haben gesehen, daß die Aufklä-

Die gesellschaftlich-geschichtlichen Entstehungsbedingungen

33

rung mit rücksichtsloser Energie gegen die historische Legitimität und Kon­ tinuität der feudalen Überreste gekämpft hat. Wir haben ebenfalls gesehen, daß der nachrevolutionäre Legitimismus gerade deren Konservierung als Inhalt der Geschichte angesehen hat. Die Verteidigung des Fortschritts nadi der Französischen Revolution mußte notwendigerweise zu einer Konzeption gelangen, die die historische Notwendigkeit der Französischen Revolution nachwies, die Beweise dafür erbrachte, daß diese ein Gipfelpunkt einer langen und allmählichen historischen Entwiddung gewesen ist, keine plötzliche Ver­ finsterung des Bewußtseins der Menschheit, keine Cuviersche »Naturkata­ strophe « in der Menschheitsgeschichte, und daß die zukünftige Entwicklung der Menschheit sich nur in diesen Bahnen bewegen kann. Damit hat sich aber eine große weltanschaulidie Wendung in der Auffassung des menschlichen Fortschritts im Vergleich zur Aufklärung vollzogen. Der Fortsdiritt wird nicht mehr als ein im wesentlichen unhistorischer Kampf der humanistischen Vernunft mit der feudalabsolutistischen Unvernunft gesehen. Die Vernünftigkeit des menschlichen Progresses wird nach der neuen Auf­ fassung immer stärker aus dem inneren Widerstreit der gesellschaftlidien Kräfte in der Geschichte selbst entwickelt. Die Geschichte selbst soll nach die­ ser Auffassung der Träger und Verwirklicher des menschlichen Fortschritts sein. Dabei ist die steigende historische Bewußtheit über die entscheidende Rolle, die der Kampf der Klassen in der Geschichte für den historischen Progreß der Menschheit bedeutet, das Wichtigste. Der neue Geist der Ge­ schichtsschreibung, der bei den bedeutenden französischen Historikern der Restaurationsperiode am deutlichsten sichtbar ist, konzentriert sich gerade auf diese Frage: auf den historischen Nachweis, daß die moderne bürger­ liche Gesellschaft aus Klassenkämpfen zwischen Adel und Bürgertum ent­ standen ist, aus Klassenkämpfen, die das ganze »idyllische Mittelalter« durch­ tobt haben und deren letzte entscheidende Etappe die große Französische Revolution gewesen ist. Aus diesem Gedankenkreis taucht zum ersten Mal der Versuch einer rationellen Periodisierung der Geschichte auf, als Versuch, die historische Eigenart der Gegenwart und ihrer Entstehung vernünftig und wissenschaftlich zu begreifen. Den ersten großangelegten Versuch einer solchen Periodisierung unternimmt bereits mitten in der Französischen Revolution das geschichts-philosophische Hauptwerk von Condorcet. Diese Gedanken werden in der Restaurationsperiode weiterentwickelt und wissenschaftlich ausgebaut. Ja in den Werken der großen Utopisten führt bereits die Periodi­ sierung der Geschichte über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hin­ aus. Und wenn dieser Übergang, der Schritt über den Kapitalismus hinaus

34

Die klassische Form des historischen Romans

noch auf phantastischen Wegen erfolgt, so ist doch seine kritisch-historische wissenschaftliche Grundlegung, insbesondere bei Fourier, mit einer vernich­ tenden Kritik der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Es ist bei Fourier, trotz aller Phantastik der Vorstellungen über den Sozialismus, über die Wege zum Sozialismus, das Bild des Kapitalismus so überwältigend klar in seiner Widersprüchlichkeit gezeigt, daß der Gedanke des historischen Übergangscharakters dieser Gesellschaft bereits handgreiflich und plastisch vor uns steht. Diese neue Etappe der gedanklichen Verteidigung des menschlichen Fort­ schritts hat in der Hegelschen Philosophie ihren philosophischen Ausdruck gefunden. Die historische Zentralfrage war, wie wir gesehen haben, der Nachweis der Notwendigkeit der Französischen Revolution, der Nachweis, daß Revolution und historische Entwicklung keinen Gegensatz bilden, wie es die Apologeten des feudalen Legitimismus behaupteten. Die Hegelsche Philosophie gibt die philosophische Grundlegung für diese historische Auf­ fassung, das von Hegel entdeckte Weltgesetz des Umschlagens von Quanti­ tät in Qualität ist, historisch angesehen, eine philosophische Methodenlehre für die Auffassung , daß die Revolutionen notwendige, organische Bestand­ teile der Evolution bilden, daß eine wirkliche Evolution ohne eine solche »Knotenlinie der Maßverhältnisse« in der Wirklichkeit unmöglich und philo­ sophisch undenkbar ist. Auf dieser Grundlage erfolgt eine philosophische Aufhebung der Menschen­ auffassung der Aufklärung. Das größte Hindernis für das Verständnis der Geschichte lag n ämlich darin, daß die Aufkl � rung das Wesen des Menschen als unwandelbar aufgefaßt hatte, so daß die Veränderung im Laufe der Ge­ schichte in extremen Fällen nur eine Änderung des Kostüms und im all­ gemeinen nur ein moralisches Auf und Nieder desselben Menschen bedeutet hatte. Die Hegelsche Philosophie zieht alle Konsequenzen des neu entstan­ denen progressiven Historismus. Sie sieht den Menschen als Produkt seiner selbst, seiner eigenen Tätigkeit in der Geschichte. Und wenn dieser Geschichts­ prozeß auch idealistisch auf den Kopf gestellt erscheint, wenn sein Träger auch zu einem »Weltgeist« mystifiziert wird, so faßt Hegel doch auch diesen Weltgeist als Verkörperung der Dialektik der historischen Entwicklung. »So ist der Geist in ihm (in der Geschichte, G. L.) selbst sich entgegen, er hat sich selbst als das wahrhafte feindselige Hindernis seines Zwed\:es zu überwin den : die Entwicklung . . . ist im Geiste . . . ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst. Was der Geist will, ist, seinen eigenen B egriff erreichen, aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll Selbstgenuß in dieser Ent-

Die gesellschaftlich-gesch ich tlichen En tstehungsb edingungen

35

fremdung seiner selbst . . . Mit der geistigen Gestalt ist es anders (als in der Natur, G. L.), hier geht die Veränderung nicht bloß an der Oberfläche, son­ dern im Begriffe vor. Der Begriff selber ist es, der berichtigt wird. « Hegel gibt hier, freilich idealistisch und abstrakt, eine treffende Charakteristik der ideo­ logischen Wendung, die in seiner Zeit erfolgt ist. Das Denken der früheren Zeit schwankte innerhalb der Antinomie zwischen einer fatalistisch-gesetz­ mäßigen Auffassung alles gesellschaftlichen Geschehens und einer Überschät­ zung der Möglichkeiten des bewußten Eingreifens in die Entwicklung der Gesellschaft . Für beide Seiten der Antinomie dachte man sich aber die Prin­ zipien als »Übergeschichtlich«, als aus dem »ewigen« Wesen » der Vernunft« stammend. Hegel sieht dagegen in der Geschichte einen Prozeß, der einerseits von den inneren bewegenden Kräften der Geschichte getrieben wird, dessen Wirkung andererseits sich auf alle Erscheinungen des menschlichen Lebens, auch auf das Denken, erstreckt. Er sieht das gesamte Leben der Menschheit als einen großen geschichtlichen Prozeß an. Damit ist sowohl konkret historisch wie philosophisch ein neuer Humanis­ mus, ein neuer Begriff des Fortschritts entstanden. Ein Humanismus, der die Errungenschaften der Französischen Revolution als unverlierbare Grundlage der kommenden menschlichen Entwicklung aufbewahren will, der die Fran­ zösische Revolution (und die Revolutionen in der Geschichte überhaupt) als unerläßlichen Bestandteil des menschlichen Fortschritts auffaßt. Freilich ist dieser neue, historisclie Humanismus ebenfalls ein Kind seiner Zeit und kann deren Horizont nicht überschreiten -, höchstens in phantastischer Form, wie es die großen Utopisten getan haben. Die bedeutenden bürgerlichen Huma­ nisten dieser Periode befinden sich in der paradoxen Lage, daß sie zwar die Notwendigkeit der Revolutionen in der Vergangenheit begreifen und in ihnen die Grundlage alles Vernünftigen und Bejahten in der Gegenwart er­ blicken, die zukünftige Entwicklung jedoch nunmehr als eine ruhige Evolu­ tion auf der Grundlage dieser Errungenschaften auffassen. Sie suchen - wie das M. Lifschitz in seinem Artikel über die Hegelsche .i\sthetik sehr richtig ausführt - das Positive in dem durch die Französische Revolution geschaffe­ nen neuen Weltzustand und glauben, daß zur endgültigen Verwirklichung dieses Positiven keine neue Revolution vonnöten sei. Diese Auffassung der letzten gedanklich wie dichterisch großen Periode des bürgerlichen Humanismus hat mit der später (und teilweise gleichzeitig) ein­ setzenden öden und flachen Apologetik des Kapitalismus nichts zu tun. Sie baut auf einer rücksichtslos wahrhaftigen Erforschung und Aufdeckung aller Widersprüche des Progresses auf. Sie scheut vor keiner Kritik der Gegenwart

Die klassische Form des historischen Romans zurück. Und wenn sie auch bewußt den geistigen Horizont ihrer Zeit nicht zu überschreiten vermag, so wirft doch das ständig lastende Erlebnis der Widersprüchlichkeit der eigenen historischen Lage einen tiefen Schatten auf die ganze Geschichtskonzeption. Dieses Gefühl, daß man - entgegen der bewußt philosophisch-historischen Auffassung, die einen unendlichen ruhigen Progreß verkündet - eine letzte kurze, unwiederbringliche gedankliche Blüte der Menschheit erlebt, äußert sich bei den bedeutendsten Vertretern dieser Periode, seinem unbewußten Charakter entsprechend, in sehr verschiedener Weise. Dabei ist, aus demselben Grund, der Gefühlsakzent ein sehr verwand­ ter. Man denke an die Theorie der »Entsagung« des alten Goethe, an die »Eule der Minerva« Hegels, die nur bei einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt, an die Weltuntergangsstimmungen Balzac s usw. Erst die Acht­ undvierziger Revolution hat die überlebenden Vertreter dieser Epoche vor die Wahl gestellt, entweder die Perspektive der neuen Entwicklungsperiode der Menschheit zu erkennen und sie, wenn auch mit tragischer Spaltung des Gemüts, wie Heine, zu bejahen, oder zu Apologeten des niedergehenden Kapitalismus herabzusinken, wie dies Marx unmittelbar nach der Achtund­ vierziger Revolution bei so bedeutenden Menschen wie Guizot und Carlyle kritisch nachgewiesen hat.

II

Walter S cott

Auf dieser geschichtlichen Grundlage ist in � er Produktion Walter Scotts der historische Roman entstanden. Diesen Zusammenhang darf man aber keinen Augenblick im Sinne der idealistischen »Geistesgeschichte« auffassen. Diese würde scharfsinnige Hypothesen darüber aufstellen, auf welchen Um­ wegen etwa Hegelsche Gedanken zu Scott gelangt sind, oder wo, bei welchem vergessenen Schriftsteller, die gemeinsamen Quellen des Historismus von Scott und Hegel zu finden sind. Walter Scott hat die Hegelsche Philosophie erwiesenermaßen nicht gekannt, und wenn er sie in die Hand bekommen hätte, hätte er wahrscheinlich kein Wort davon verstanden. Die neue Geschichts­ auffassung der großen Historiker der Restaurationsperiode tritt sogar später ans Tageslicht als seine Werke und ist hinsichtlich bestimmter Problemstellun­ gen von diesen beeinflußt. Das modische philosophisch-philologische Schnüf­ feln nach einzelnen »Einflüssen« ist für die Geschichtsschreibung ebenso un­ fruchtbar wie das alte philologische Schnüffeln nach Einwirkungen einzelner Schriftsteller aufeinander. Besonders bei Scott war es Mode, eine lange

Walter Scott

37

Reihe zweit- und drittrangiger Schriftsteller anzuführen (Ratcliffe usw.), die angeblich wichtige literarische Vorläufer Sc otts gewesen sind. All dies bringt uns dem Verständnis des Neuen in der Kunst Sc otts, im historischen Roman um keinen Schritt näher. Wir haben versucht, den allgemeinen Rahmen jener ökonomisch-politischen Umwälzungen zu umreißen, die infolge der Französischen Revolution in ganz Europa entstanden sind ; wir haben deren ideologische Nachwirkungen in den vorangehenden Betrachtungen kurz skizziert. Diese Ereignisse, diese Umwälzung des Seins und des Bewußtseins der Menschen in ganz Europa bilden die ökonomische und ideologische Grundlage für die Entstehung des historischen Romans bei Walter Sc ott. Der biographische Nachweis der ein­ zelnen Anlässe, aus denen diese Strömungen für Sc ott selbst bewußt gewor­ den sind, bietet für die wirkliche Entstehungsgeschichte des historischen Ro­ mans nichts von Bedeutung. Um so weniger, als Scott in die Reihe jener großen Schriftsteller gehört, deren Tiefe vorwiegend in ihren Gestaltungen zum Ausdruck kommt, eine Tiefe, die sie oft selbst nicht verstehen, weil sie im Widerstreit mit ihren persönlichen Anschauungen und Vorurteilen aus der wirklich realistischen Bewältigung des Stoffes entsprungen ist. Der Sc ottsche historische Roman ist die geradlinige Fortsetzung des großen realistischen Gesellschaftsromans des 1 8 . Jahrhunderts. Sc otts theoretisch im allgemeinen nicht sehr tiefschürfende Studien über diese Schriftsteller zeigen eine sehr intensive Kenntnis, ein sehr eingehendes Studium dieser Literatur. Aber sein Schaffen bedeutet ihnen gegenüber doch etwas vollständig Neues. Seine großen Zeitgenossen haben dieses Neue klar erkannt. Puschkin schreibt über ihn : » . . . Der Einfluß von Walter Sc ott ist auf allen Gebieten der Literatur seiner Epoche fühlbar. Die neue Schule der französischen Historiker hat sich unter dem Einfluß des Sc ottschen Romanschriftstellers gebildet. Er hat ihnen vollkommen neue Quellen aufgezeigt, die bis dahin unbekannt waren trotz der Existenz des von Shakespeare und Goethe geschaffenen historischen Dramas . . .« Und Balzac hebt in seiner Kritik an Stendhals »La Chartreuse de Parme« die neuen künstlerischen Züge hervor, die der Roman Walter Sc otts in die epische Literatur eingeführt hat : die breite Schilderung der Sitten und der Umstände des Geschehens, den dramatischen Charakter der Handlung und, im engen Zusammenhang damit, die neue bedeutende Rolle des Dialogs im Roman. Es ist kein Zufall, daß dieser neue Typus des Romans gerade in England ent­ standen ist. Wir haben bereits bei der Behandlung der Literatur des 1 8 . Jahr­ hunderts auf wichtige realistische Züge des englischen Romans dieser Zeit

Die klassische Form des historischen Romans hingewiesen und sie als notwendige Folgen des nachrevolutionären Charak­ ters der damaligen Entwicklung Englands im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland charakterisiert. Jetzt, in einer Zeit, in der ganz Europa, auch seine progressiven Klassen und ihre Ideologen - Yorübergehend - von einer nachrevolutionären Ideologie beherrscht werden, müssen diese Züge in England ganz besonders scharf hervortreten. Denn England ist jetzt für die meisten kontinentalen Ideologen wieder das Musterland der Entwicklung ge­ worden, freilich in einem anderen Sinne als im I 8 . Jahrhundert. Damals wirkte die vorhandene Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten vorbild­ lich auf die kontinentalen Aufklärer. Jetzt erscheint in den Augen der histo­ rischen Ideologen des Fortschritts England als das klassische Beispiel der ge­ schichtlichen Entwicklung in ihrem Sinne. Die Tatsache, daß England im 1 7 . Jahrhundert seine bürgerliche Revolution ausgefochten hatte und seitdem auf der Grundlage der Errungenschaften der bürgerlichen Revolution eine Jahrhunderte andauernde friedliche, aufwärtsweisende Entwicklung durch­ machte, zeigte England als das praktische Musterbeispiel für den neuen Stil der historischen Auffassung. Die »glorreiche Revolution« von 1 6 8 8 mußte den bürgerlichen Ideologen, die im Namen des Progresses die Restauration bekämpften, ebenfalls als Ideal vorschweben. Auf der anderen Seite mußten aber die ehrlichen, die Tatsachen der gesell­ schaftlichen Entwicklung scharfäugig beobachtenden Schriftsteller, wie Wal­ ter Scott, klar sehen, daß diese friedliche Entwicklung nur als Ideal einer Geschichtskonzeption, nur aus der Vogelperspektive einer Geschichtsphilo­ sophie eine friedliche gewesen ist. Der organi�che Charakter der englischen Entwicklung ist nur eine Resultante, die sich aus den Komponenten von un­ unterbrochenen Klassenkämpfen und ihrer blutigen Austragung in kleineren und größeren, gelungenen oder gescheiterten Aufständen zusammenstellt. Die ungeheuren politischen und sozialen Umwälzungen der vorangegangenen Jahrzehnte haben auch in England das Gefühl für die Geschichte , die Bewußt­ heit über die historische Entwicklung erweckt. Die verhältnismäßige Stabilität der englischen Entwicklung in dieser Sturm­ zeit im Vergleich zu der des Kontinents hat es möglich gemacht, daß das neu erwachte historische Gefühl sich in einer großzügigen, objektiven epischen Gestaltung zusammenfassen konnte. Diese Objektivität wird durch den Kon­ servativismus Walter Scotts noch gesteigert. Er ist durch diese seine Welt­ anschauung sehr stark mit jenen Schichten der Gesellschaft verbunden, die durch die in dustrielle Revolution, die rapide Entwicklung des Kapitalismus ins Verderben geschleudert worden sind. Scott gehört weder zu den begeister-

Walter Scott

39

ten Verehrern dieser Entwicklung noch zu ihren leidensd1aftlich pathetischen Anklägern. Er versucht durch historisches Ergründen der ganzen englischen Entwicklung selbst einen Weg der »Mitte« zwischen den kämpfenden Ex­ tremen zu finden. Er findet in der englischen Geschichte den Trost, daß das heftigste Hin- und Herschwanken der Klassenkämpfe letzten Endes sich stets in einer ruhmreichen »Mitte« beruhigt hat. So ist aus dem Kampf der Sachsen und Normannen das englische Volk, das weder sächsisch noch nor­ mannisch ist, entstanden, so folgte auf den blutigen Krieg der weißen und der roten Rose das glorreiche Regime der Tudor-Dynastie, insbesondere das der Königin Elisabeth, so haben sich auch jene Klassenkämpfe, die in der Crom­ well-Revolution zum Ausdruck gekommen sind, nach langen Schwankungen und vielen Bürgerkriegen schließlich im Ergebnis der »Glorreichen Revo­ lution« im heutigen England ausgeglichen. Die Auffassung der englischen Geschichte in den Romanen Walter Scotts gibt also eine - direkt nicht ausgesprochene - Perspektive für die Zukunfts­ entwicklung im Sinne ihres Dichters. Und es ist nicht schwer zu sehen, daß diese Perspektive mit jener resignierten »Positivität « , die wir bei den großen Denkern, Gelehrten und Dichtern dieser Periode auf dem Kontinent beob­ achtet haben, sehr viel Verwandtschaft zeigt. Walter Scott gehört in die Reihe jener ehrlichen Torys des damaligen England, die an der Entwicklung des Kapitalismus nichts beschönigen, die die unendliche Misere des Volkes, die der Zusammenbruch des alten England mit sich bringt, nicht nur klar sehen, sondern auch tief mitfühlen, die aber, gerade infolge dieses ihres Konserva­ tivismus, keine heftige Opposition gegen die von ihnen abgelehnten Züge der neuen Entwicklung entfalten. Walter Scott kommt auf die Gegenwart sehr selten zu sprechen. Er wirft die sozialen Fragen seiner englischen Gegen­ wart, die beginnende scharfe Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen Bour­ geoisie und Proletariat in seinen Romanen nicht auf. Soweit er diese Fragen für sich selbst zu beantworten vermag, beantwortet er sie auf dem Umweg der dichterischen Gesta ltung der wichtigsten Etappen der gesamten Gesd1ichte Englands. Die Größe Sc otts ist paradoxerweise mit seinem oft bornierten Konservati­ vismus eng verbunden. Er sucht den »mittleren Weg« zwischen den Extremen, er ist bestrebt, die historische Realität dieses Weges an Hand der Gestaltung der großen Krisen der englischen Geschichte dichterisch nachzuweisen. Diese Grundtendenz seiner Gestaltung drückt sich sofort in der Art seiner Erfin­ dung der Fabel, in der Art seiner Auswahl der zentralen Figur aus. Der » Held« der Sc ottschen Romane ist stets ein mehr oder weniger mittelmäßiger,

Die klassische Form des historischen Romans durchschnittlicher englischer Gentleman. Dieser besitzt im allgemeinen eine gewisse, nie überragende praktische Klugheit, eine gewisse moralische Festig­ keit und Anständigkeit, die sogar bis zur Fähigkeit der Selbstaufopferung reicht, die aber niemals zu einer menschlich hinreißenden Leidenschaft er­ wächst, nie begeisterte Hingabe an eine große Sache ist. Nicht nur die Wa­ verly, Morton, Osbaldiston usw. sind solche korrekt anständigen Durch­ schnittsvertreter des englischen Kleinadels, sondern auch der »romantische« Ritter des Mittelalters, Ivanhoe. Diese Wahl des Helden ist von der späteren Kritik, z. B. von Taine, scharf kritisiert worden; sie erblickte hierin ein Symptom der Mittelmäßigkeit Walter Scotts selbst als Dichter. Gerade das Gegenteil ist die Wahrheit. In dieser Konstruktion seiner Romane um einen »mittleren«, bloß korrekten und niemals heldenhaften »Helden« kommt die außerordentliche, epoche­ machende epische Begabung Walter Scotts am deutlichsten zum Ausdruck, obwohl psychologisch-biographisch höchstwahrscheinlich seine eigenen, per­ sönlichen, kleinadelig-konservativen Vorurteile eine große Rolle bei der Aus­ wahl dieser Helden spielten. Vor allem drückt sich darin eine Absage an die Romantik, eine Überwindung der Romantik, eine zeitgemäße Höherentwicklung der literarischen Traditio­ nen des Realismus der Aufklärungsperiode aus. Aus Opposition zu der er­ niedrigenden, alles nivellierenden Prosa des heraufsteigenden Kapitalismus ist auch bei politisch und ideologisch progressiven Dichtern, die vielfad1, doch zu Unrecht als Romantiker aufgefaßt werden, der »dämonische Held« ent­ standen. Dieser Heldentypus, wie er sich insbesondere in der Dichtung By­ rons zeigt, ist der schriftstellerische Ausdruck für die gesellschaftliche Exzen­ trizität und Überflüssigkeit der besten und ehrlichsten menschlichen Fähig­ keiten in dieser Periode der Prosa, ein lyrischer Protest gegen die Herrschaft dieser Prosa. Aber die Anerkennung der gesellschaftlichen Wurzeln, ja der historischen Notwendigkeit und Berechtigung dieses Protestes bedeutet kei­ neswegs, daß seine lyrisch-subjektivistische Verabsolutierung einen Weg zur großen objektiven dichterischen Gestaltung bedeuten könnte. Die großen rea­ listischen Gestalter einer etwas späteren Periode, die, wie Puschkin oder Stendhal, an die Gestaltung dieses Typus herangingen, haben den Byronismus in einer anderen, höheren Weise überwunden als Walter Sc ott. Sie haben die Frage der Exzentrizität dieses Typus gesellschaftlich-historisch, objektiv­ episch aufgefaßt und gestaltet: sie erheben sich zu einer Auffassung der historischen Lage der Gegenwart, in welcher die Tragödie (oder die Tragi­ komödie) dieses Protestes in dem ganzen Reichtum seiner gesellschaftlichen

Walter S cott

41

Bestimmungen sichtbar geworden ist. Scotts Kritik und Ablehnung dieses Typus geht nicht bis in solche Tiefen. Seine Erkenntnis, oder besser : sein Gefühl der Exzentrizität dieses Typus führt ihn dahin, ihn aus dem Bereich der historischen Gestaltung zu eliminieren. Er ist bestrebt, die Kämpfe und die Gegensätze der Geschichte durch Menschen zu gestalten, die in ihrer Psy­ chologie und in ihrem Schicksal stets Repräsentanten gesellschaftlicher Strö­ mungen und historischer Mächte bleiben. Diese Betrachtungsweise dehnt Scott auch auf die Prozesse der D eklassierung aus, er betrachtet die Deklassierung immer gesellschaftlich und nicht individuell. Sein Verständnis für die Pro­ bleme der Gegenwart ist nicht tief genug, um diese Frage für die Deklassie­ rungsprozesse der Gegenwart zu lösen. Er geht deshalb dieser Thematik aus dem Weg und bewahrt in seiner Gestaltung die große historische Objektivität des echten Epikers. Es ist also schon aus diesem Grunde vollständig falsch, in Walter Scott einen romantischen Schriftsteller zu sehen, wenn man nicht den Begriff der Roman­ tik so ausdehnen will, daß er die ganze große Literatur des ersten Drittels des 1 9 . Jahrhunderts umfaßt. Dann aber verwischt sich die Physiognomie der Romantik im eigentlichen, engeren Sinne. Und dies ist für das Verständ­ nis Walter Scotts von großer Bedeutung. Denn die historische Thematik sei­ ner Romane berührt sich sehr eng mit der der eigentlichen Romantiker. Wir werden aber in späteren Ausführungen eingehend zeigen , daß es sich um eine vollkommen entgegengesetzte Auffassung dieser Thematik bei Scott und den Romantikern handelt und dementsprechend um eine vollkommen entgegen­ gesetzte Art der Gestaltung. Dieser Gegensatz erhält seinen ersten, unmit­ telbaren Ausdruck in der Komposition seiner Romane - mit dem mittel­ mäßigen, prosaischen Hel den als zentraler Figur. Selbstverständlich kommt hier auch die konservative Philisterhaftigkeit Walter Scotts zum Ausdruck. Schon sein großer Verehrer und Fortsetzer Balzac hat an dieser englischen Philisterhaftigkeit Anstoß genommen. Er sagt z. B„ daß, mit ganz wenigen Ausnahmen, sämtliche Heldinnen Walter Scotts denselben Typus der philisterhaft korrekten, normalen engl ischen Frau dar­ stellen, daß für die interessanten und komplizierten Tragödien und Komödien der Liebe und der Ehe in diesen Romanen kein Raum ist. In dieser Kritik hat Balzac recht, und die Richtigkeit seiner Kritik geht über das von ihm hervor­ gehobene Gebiet der Erotik weit hinaus. Scott besitzt nicht die großartige, tiefschürfende psychologische Dialektik der Charaktere, die den Roman der letzten großen Periode der bürgerl ichen Entwicklung bezeichnen. Ja, er er­ reicht auch nicht jene Höhe, die der bürgerl iche Roman in der zweiten Hälfte

Die klassische Form des historischen Romans

des 1 8. Jahrhunderts mit Rousseau, Choderlos de Laclos und mit Goethes »Werther« erklommen hat. Seine größten Nachfolger im historischen Roman, Puschkin und Manzoni, haben ihn in dieser Hinsicht an Tiefe und Poesie der individuellen Menschengestaltung auch weit übertroffen. Aber die Wendung, die Walter Scott in der Geschichte der Weltliteratur vollzieht, ist von dieser Begrenztheit seines menschlich-dichterischen Horizontes unabhängig. Scotts Größe ist die menschliche Verlebendigung historisch-sozialer Typen. Die typisch menschlichen Züge, in denen sich große historische Strömungen sinn­ fällig äußern, sind vor Scott niemals mit dieser Großartigkeit, Eindeutigkeit und Prägnanz gestaltet worden. Und vor allem ist noch nie vor ihm diese Tendenz der Gestaltung bewußt in den Mittelpunkt der Darstellung der Wirklichkeit gerückt worden. Das bezieht sich auch auf seine mittelmäßigen Helden. Ganz zu schweigen davon, daß sie sowohl die menschlich anständigen und anziehenden wie die beschränkten Züge der englischen » Mittelklasse« unübertrefflich real zum Ausdruck bringen, erreicht seine Darstellung der historischen Totalität be­ stimmter krisenhafter Übergangsstufen der Geschichte gerade durch die Wahl solcher Zentralfiguren eine nicht mehr übertroffene Vollendung. Der große russische Kritiker Belinskij hat diesen Zusammenhang am klarsten erkannt. Er analysiert verschiedene Romane Walter Scotts gerade in bezug auf das Problem, daß die Mehrzahl der Nebenfiguren menschlich interessanter und bedeutender ist als der mittelmäßige Hauptheld. Er tritt aber zugleich den Vorwürfen, die deshalb gegen Scott erhoben werden, scharf entgegen. »Dies muß auch so sein in einem Werk rein epischen Charakters, wo die Hauptperson bloß als äußeres Zentrum für die sich entwickelnden Ereignisse dient und wo sie sich bloß durch allgemein menschliche Züge auszeichnen kann, die unser menschliches Mitgefühl verdienen, denn der Held der Epopöe ist das Leben selbst und nicht der Mensch. In der Epopöe wird der Mensch sozusagen dem Ereignis unterworfen, überschattet das Ereignis durch seine Größe und Wichtigkeit die menschliche Persönlichkeit, lenkt es unsere Auf­ merksamkeit von ihm ab durch die eigene Interessantheit, Vielfältigkeit und Vielheit seiner Bilder. « Belinskij hat vollständig recht, wenn er den rein epischen Charakter der Romane Walter Scotts betont. In der ganzen Geschichte des Romans gibt es kaum Werke - vielleicht mit Ausnahme der von Cooper und Tolstoi -, die dem Charakter des alten Epos derart nahekommen. Dies hängt, wie wir sehen werden, mit der historischen Thematik Scotts aufs engste zusammen. Und zwar nicht mit einer Wendung zur Geschichte überhaupt, sondern mit

\Valter

S cot t

43

der spezifischen Art seiner geschichtlichen Thematik, mit seiner Auswahl jener Perioden, jener Schichten der Gesellschaft, in denen die alt-epische Selbst­ tätigkeit der Menschen, die alt-epische unmittelbare Gesellschaftlichkeit und spontane Öffentlichkeit des Lebens gestaltet wird. Damit wird Walter Scott zu einem großen epischen Gestalter des »Heroenzeitalters«, des Zeitalters, in welchem, aus welchem die wirkliche Epik - im Sinne von Vico und Hegel - erwächst. Dieser echt epische Charakter der Thematik und der Gestaltungs­ weise Walter Scotts ist, wie wir später ausführlich zeigen werden, mit der Volkstümlichkeit seiner Kunst aufs engste verbunden. Trotzdem sind die "Werke Scotts keineswegs moderne Versuche, die alte Epik künstlich zu neuem Leben zu galvanisieren, sondern wirkliche und echte Romane. Wenn seine Thematik auch sehr oft in das »Zeitalter der Heroen« zurückgreift, in die Kindheitsperiode der Menschheit, so ist der Geist der Gestaltung doch bereits der des Mannesalters, der siegreich heranziehenden Prosaisierung des menschlichen Lebens. Dieser Unterschied muß schon darum betont werden, weil er mit der Komposition der Scottschen Romane, mit der Konzeption ihres »Helden« innig zusammenhängt. Der Sc ottsche Held des Romans ist in seiner Art für dieses Genre ebenso typisch, wie Achilleus und Odysseus typische Helden der wirklichen Epopöe waren. Der Unterschied der beiden Heldentypen beleuchtet sehr scharf den grundlegenden Unter­ schied zwischen Epos und Roman, und zwar gerade in einem Fall, in welchem der Roman seine größte Eposnähe erreicht. Die Helden des Epos sind, wie Hegel sagt, »totale Individuen, welche glänzend das in sich zusammenfassen, was sonst im Nationalcharakter zerstreut auseinanderliegt und darin große, freie, menschlich schöne Charaktere bleiben« . Dadurch »erhalten diese Hauptgestalten das Recht, an die Spitze gestellt zu sein und die Haupt­ begebenheit an ihre Individualität geknüpft zu sehen«. Auch die Haupt­ figuren der Walter Scottschen Romane sind national typische Charaktere, aber nicht im Sinne des zusammenfassenden Höhepunktes, sondern in dem der tüchtigen Durchschnittlichkeit. Jene sind die nationalen Helden der poe­ tischen Auffassung des Lebens, diese der prosaischen. Es ist leicht einzusehen, wie diese entgegengesetzten Konzeptionen des Hel­ den aus den grundlegenden Erfordernissen von Epos und Roman entsprin­ gen. Achilleus ist nicht nur kompositionell die Zentralfigur des Epos, sondern er überragt auch um Haupteslänge alle seine Mitspieler, er ist wirklich die Sonne, um die die Planeten kreisen. Die Scottschen Helden haben als Zen­ tralgestalten des Romans eine vollständig entgegengesetzte Funktion. Ihre Aufgabe ist es, die Extreme, deren Kampf den Roman erfüllt, durch deren

44

Die klassische Form des historischen Romans

Aufeinanderstoßen eine große Krise der Gesellschaft dichterisch zum Aus­ druck gebracht wird, miteinander zu vermitteln. Durch die Fabel, deren handlungsmäßiger Mittelpunkt dieser Held ist, wird ein neutraler Boden gesucht und gefunden, auf welchem die einander extrem gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte in eine menschliche Beziehung zueinander gebracht werden können. Die hier offenbar werdende schlichte und doch unerschöpflich großartige Erfindungsgabe Walter Scotts wird im allgemeinen, besonders heute, zu wenig gewürdigt - obwohl Goethe, Balzac und Puschkin diese seine Größe klar erkannt haben. Walter Scott stellt in seinen Romanen große Krisen des geschichtlichen Lebens dar. Dem entspricht, daß überall feindliche gesell­ schaftliche Mächte, die einander vernichten wollen, aufeinanderstoßen. Da die Vertreter dieser kämpfenden Mächte durchweg leidenschaftliche Vertreter ihrer Richtungen sind, entsteht die Gefahr, daß ihr Kampf nur ein äußer­ liches gegenseitiges Vernichten wird, das nicht imstande ist, im Leser mensch­ liches Mitgefühl, menschliche Mitgerissenheit zu erwecken. Hier setzt die kompositionelle Bedeutung des mittelmäßigen Helden ein. Sc ott wählt stets solche Hauptfiguren, die infolge ihres Charakters und ihres Schicksals mit beiden Lagern in eine menschliche Verbindung geraten. Das angemessene Schicksal eines solchen mittelmäßigen Helden, der in der großen Krise sei­ ner Zeit sich nicht leidenschaftlich einem der kämpfenden Lager anschließt, kann kompositionell ungezwungen ein solches Vermittlungsglied abgeben. Nehmen wir das bekannteste Beispiel. Waverley ist ein englischer Landedel­ mann, aus einer Familie, die für die Stuarts ist, ohne darin weiter als bis zu einem stillen und politisd1 unwirksamen Sympathisieren zu gehen. Bei seinem Aufenthalt in Schottland als englischer Offizier gerät Waverley infolge per­ sönlicher Freundschaften und Liebesverirrungen in das Lager der aufständi­ schen Stuartanhänger. Infolge seiner alten Familienbeziehungen, infolge sei­ ner Unentschiedenheit in der Beteiligung am Aufstand, die zu einer tapferen militärischen Teilnahme ausreicht, aber nicht zu einer fanatischen Partei­ nahme erwächst, bleiben seine Beziehungen zu der hannoveranischen Partei aufrechterhalten. So ist das Schicksal Waverleys sehr geeignet, eine Fabel zu ergeben, deren Abwicklung nicht nur den Kampf der beiden Parteien prag­ matisch darstellt, sondern die bedeutenden Vertreter beider Parteien uns menschlich nahebringt. Diese Kompositionsweise ist nicht das Ergebnis eines »Formsuchens«, einer ausgeklügelten »Meisterschaft«, sie entstammt vielmehr den großartigen wie den bornierten Seiten der schriftstellerischen Persönlichkeit Walter Scotts.

Walter S cott

45

Erstens ist die Scottsche Konzeption der englischen Geschichte, wie wir ge­ sehen haben, die einer sich im Kampf der Extreme durd1Setzenden »mitt­ leren Linie«. Die Zentralfiguren vom Typt1s Waverleys repräsentieren in den Augen Scom diese säkulare Beständigkeit der englischen Entwicklung inmitten der fürchterlichsten Krisen. Zweitens aber sieht der große Realist Scott klar, daß es niemals in der Geschichte einen Bürgerkrieg gegeben hat, der so erbittert gewesen wäre, daß er die ganze Bevölkerung ohne Ausnahme zu fanatischen Teilnehmern eines der kämpfenden Lager gemacht hätte. Große Teile des Volkes haben in der geschichtlichen Wirklichkeit immer zwi­ schen den beiden Lagern mit beständigen oder schwankenden Sympathien für den einen oder den anderen Teil gestanden. Und gerade diese Sym­ pathien und Schwankungen haben oft eine ausschlaggebende Rolle für den realen Ausgang der Krise gespielt. Dazu kommt noch als ein weiterer Zug der geschichtlichen Wirklichkeit, daß inmitten des fürd1terlichsten Bürger­ krieges das Alltagsleben der Nation dennoch weitergeht. Es muß schon im ökonomischen Sinne weitergehen, denn sonst müßte ja das Volk zugrunde gehen, müßte verhungern . Es geht aber auch in jeder anderen Hinsicht wei­ ter, und gerade dieses Weiterbestehen des Alltagslebens ist eine wichtige reale Grundlage der Kontinuität der kulturellen Entwicklung. Freilich bedeutet das Weitergehen des Alltagslebens keineswegs so viel, daß das Leben, das Denken und das Erleben dieser am Bürgerkrieg nicht oder nicht leidenschaft­ lich teilnehmenden Volksmassen von der geschichtlichen Krise unberührt bliebe. Die Kontinuität ist stets zugleich ein Wachsen, eine Weiterentwicklung. Die »mittleren Helden« Walter Scotts repräsentieren auch diese Seite des Volkslebens, der historischen Entwicklung. Aber die künstlerische Bedeutung dieser Kompositionsweise hat noch weitere, sehr wichtige Folgen. Es mag im ersten Moment für den Leser, der in den gegenwärtigen Traditionen des historischen Romans befangen ist, etwas paradox klingen, es ist aber doch so, daß Walter Scott gerade durch diese Seite seiner Komposition zu einem unvergleichlichen Gestalter der großen Figuren der Geschichte geworden ist. Im Lebenswerk Scom treffen wir die bedeutendsten Persönlichkeiten der englischen, ja auch der französischen Ge­ schichte, Richard Löwenherz, Ludwig x r „ Elisabeth , Maria Stuart, Crom­ well usw. Alle diese Gestalten erscheinen bei Scott in ihrer realen historisd1en Größe. Niemals jedoch gestaltet Scott aus dem Gefühl einer romantisch deko­ rativen Heldenverehrung a la Carlyle. Für Scott ist die große historische Persönlichkeit eben der Repräsentant einer wichtigen, bedeutenden, große Teile des Volkes erfassenden Strömung. Sie ist darum groß, weil ihre per-

Die klassische Form des historischen Romans sönliche Leidenschaft, ihre persönliche Zielsetzung mit dieser großen h istori­ schen Strömung zusammenfällt, weil sie die positiven und negativen Seiten einer solchen Strömung in sich zusammenfaßt, weil sie der deutlichste Aus­ druck, das weithin leuchtende Banner solcher Volksbestrebungen im Guten wie im Bösen ist. Darum zeigt Scott nie, wie eine solche historisch bedeutsame Persönlichkeit entsteht. Er führt sie uns vielmehr stets fertig vor. Fertig, aber nicht ohne die sorgfältigste Vorbereitung. Diese Vorbereitung ist j edoch nicht eine per­ sönlich psychologische, sondern eine objektive, eine gesellschaftlich-geschicht­ liche. Das heißt : Walter Scott zeichnet an Hand der Aufdeckung der realen Lebensbedingungen, der real heranwachsenden Lebenskrise des Volkes alle Probleme des Volkslebens, die zu der von ihm dargestellten historischen Krise führen. Und nachdem er uns zum mitfühlenden und verstehenden Teil­ nehmer dieser Krise gemacht hat, nachdem wir genau verstehen, aus welchen Gründen die Krise entstanden ist , aus welchen Gründen sich die Nation in zwei Lager gespalten hat, nachdem wir gesehen haben, wie sich die verschie­ denen Schichten der Bevölkerung zu dieser Krise verhalten -, erst nach alle­ dem betritt der große historische Held die Szene des Romans. Er mag also im psychologischen Sinne fertig sein, wie er da vor uns erscheint, und er muß sogar fertig sein, denn er erscheint, um seine historische Mission in der Krise zu erfüllen. Der Leser erhält aber niemals den Eindruck von etwas starr Fertigem, denn die breit geschilderten gesellschaftlichen Kämpfe, die dem Erscheinen des Helden vorangehen, zeigen gerade, wie in solcher Zeit zur Lösung gerade solcher Probleme ein gerade solcher Held erstehen mußte. Diese Gestaltungsweise wendet Scott selbstverständlich nicht nur auf die historisch-beglaubigten, allgemein bekannten großen repräsentativen Figuren an. Im Gegenteil. Gerade in den bedeutendsten Romanen Scotts spielen histo­ risch unbekannte, nur halb oder ganz und gar nicht historische Personen eine solche führende Rolle. Man denke an Vieh Jan Vohr in » Waver ley « , an Burley in » Old Mortality«, an Cedric und Robin Hood in » Ivanhoe«, an Roh Roy usw. Auch diese sind monumentale historische Figuren und sind mit denselben künstlerischen Prinzipien gestaltet wie die bekannten großen Figuren aus der Geschichte. Ja die Volkstümlichkeit der historischen Kunst Walter Scotts zeigt sich gerade darin, daß diese mit dem Leben des Volkes unmittelbar verwachsenen Führergestalten gestalterisch zumeist eine noch stärkere historische Größe erhalten als die bekannten Zentralfiguren der Geschichte.

Walter Scott

47

Wie aber hängt dieser Erfolg Scotts in der Gestaltung der historischen Größe einer geschichtlich bedeutsamen Figur damit zusammen, daß sie kompositio­ nell nur eine Nebenfigur ist ? Balzac hat dieses Geheimnis der Kompositions­ weise \Valter Scotts klar erkannt und dahin ausgesprochen, daß der Gang der Romane Scotts in derselben Weise auf die großen Helden hinmarschiert, wie seinerzeit die Geschichte selbst ihr Erscheinen gefordert hat. Der Leser erlebt also die historische Genesis der bedeutenden historischen Figuren, und die Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, sie nunmehr so handeln zu lassen, daß sie als wirkliche Repräsentanten dieser historischen Krisen er­ scheinen. Scott läßt also seine bedeutenden Figuren aus dem Sein der Epoche heraus erwachsen, er erklärt nie, wie die romantischen Heldenverehrer, die Epoche aus ihren großen Repräsentanten. Darum können sie handlungsgemäß nie Zentralfiguren sein. Denn die breite und vielseitige Darstellung des Seins der Epoche selbst kann nur an Hand der Gestaltung des Alltagslebens des Volkes, der Freuden und Leiden, der Krisen und Wirrungen der mittleren Menschen klar an die Oberfläche treten. Die bedeutende historisch führende Figur, die eine historische Strömung zusammenfaßt, faßt sie notwendigerweise auf einer bestimmten Höhe der Abstraktion zusammen. Indem Scott vorher die kom­ plizierte Verschlungenheit des Volkslebens selbst aufgezeigt hat, hat er vor­ her jenes Sein gestaltet, dessen abstrakte Form, dessen gedankliche Verall­ gemeinerung, dessen Konzentrierung in einer historischen Tat die Aufgabe der historisch führenden Figur ist. Die Scottsche Kompositionsweise zeigt hier eine sehr interessante Parallele zur Geschichtsphilosophie Hegels. Auch bei Hegel wächst das »welthistorische Individuum« auf der breiten Grundlage der Welt der »erhaltenden Indivi­ duen«. »Erhaltende Individuen«, das ist bei Hegel die zusammenfassende Charakteristik der Menschen der »bürgerlichen Gesellschaft«, die Charakte­ ristik ihrer ununterbrochenen Selbstreproduktion durch die Tätigkeit jener Individuen. Die Grundlage bildet die persönliche, private, egoistische Tätig­ keit der einzelnen Menschen. In ihr und durch sie setzt sich das gesellschaftlich Allgemeine durch. In dieser Tätigkeit entfaltet sich »die Erhaltung des sitt­ lichen Lebens«. Aber die Gesellschaft denkt sich Hegel nicht nur im Sinne einer solchen Selbstreproduktion, nicht als stillstehend, sie steht auch mitten im Strom der Gesd1ichte. Hier stellt sich nun das Neue dem Alten feindlich gegenüber, die Wandlung ist »verknüpft mit einer Herabsetzung, Zertrüm­ merung, Zerstörung der vorgehenden Weise der Wirklichkeit«. Es entstehen die großen geschichtlichen Kollisionen, in denen zwar die »welthistorischen

Die klassische Form des historischen Romans

Individuen« die bewußten Träger des geschichtlichen Fortschritts (des »Geistes« nach Hegel) sind, aber nur in dem Sinne, daß sie der bereits vor­ handenen Bewegung in der Gesellschaft Bewußtheit und klare Richtung ver­ leihen. Es ist notwendig, diese Seite der Hegelschen Geschichtskonzeption be­ sonders zu betonen, weil hier - trotz seines Idealismus, trotz seiner Über­ schätzung der Rolle der »welthistorischen Individuen« - der Gegensatz zum romantischen Heroenkult scharf hervortritt. Bei Hegel ist es die Funktion des welthistorischen Individuums, den Menschen zu sagen, was sie wollen. »Es ist«, sagt Hegel, »der verborgene Geist, der an die Gegenwart pocht, der noch unterirdisch, der noch nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist und heraus will, dem die gegenwärtige Welt nur eine Schale ist, der einen anderen Kern in sich schließt, als der zur Schale gehörte. « Die niemals wieder erreichte historische Genialität Walter Scotts zeigt sich darin, wie er die individuellen Eigenschaften seiner historisch führenden Per­ sönlichkeiten so anlegt, daß diese wirklich die hervorstechenden positiven wie negativen Seiten der betreffenden Bewegung in sich zusammenfassen. Diese gesellschaftlich-historische Zusammengehörigkeit von Führer und Ge­ führten ist bei Scott außerordentlich fein differenziert. Denn sowohl der geradlinige, vor nichts zurückschreckende heroische Fanatismus Burleys be­ zeichnet den menschlichen Gipfelpunkt der aufständischen schottischen Puri­ taner zur Zeit der Stuartrestauration, wie die eigenartige, abenteurerhafte Mischung von französischem Hofstil und Clan-Patriarchalismus bei Vieh Jan Vohr die reaktionären und doch mit zurückgebliebenen Teilen des schottischen Volkes innig verbundenen Seiten der Restaurationsversuche der Stuarts nach der »glorreichen Revolution« repräsentiert. Diese innige Wechselwirkung, diese tiefe Verbundenheit zwischen den histo­ rischen Repräsentanten einer Volksbewegung und der Volksbewegung selbst wird bei Scott kompositionell noch durch die Intensivierung der Ereignisse, durch ihre dramatische Zusammendrängung gesteigert. Auch hier muß die klassische Form der Erzählung gegen moderne Vorurteile in Schutz genom­ men werden. Man glaubt heute allgemein, daß, weil die Epik extensiver und breiter gestaltet als das Drama, die reine Extensivität, das chronikartige Nacheinander und Nebeneinander aller Ereignisse einer Periode das Wesen der epischen Kunst ausmacht. Dies ist jedoch sogar bei Homer nicht der Fall. Man denke an die Komposition der »Ilias« . Das Gedicht fängt mit einer höchst dramatischen Situation an, mit dem Zusammenstoß zwischen Achilleus und Agamemnon. Und als eigentliche Erzählung figurieren nur Jene Ereignisse, die unmittelbare Folgen dieses Zusammenstoßes sind, die Ereig-

Walter S cott

49

nisse bis zu Hektors Tod. Schon die antike .i\sthetik hat hier ein bewußtes Kompositionsprinzip erkannt. Mit der Entstehung des modernen Gesell­ schaftsromans ist die Notwendigkeit einer solchen Intensivierung der epischen Handlung noch dringender geworden. Denn die Wechselbeziehungen zwischen der Psychologie der Menschen und den ökonomisch-sittlichen Umständen ihres Lebens sin d so kompliziert geworden, daß eine breite Schilderung dieser Umstände, eine breite Gestaltung dieser Wed1selwirkungen notwendig wurde, um die Menschen als konkrete Kinder ihrer Zeit sinnfällig zu machen. Es ist kein Zufall, daß das Wachsen der historischen Bewußtheit bei Walter Scott gerade zu dieser Formungsart gedrängt hat. Da er alte, längst verschwundene Zeiten zu einem nacherlebbaren Leben auferwecken wollte, mußte er diese konkrete Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner sozialen Um­ wel t in der breitesten Weise schildern . Das Einbeziehen des dramatischen Elements in den Roman, die Konzentrierung der Ereignisse, die größere Be­ deutung der Dialoge, d. h. der unmittelbaren Auseinandersetzung aufein­ an derprallender Gegensätze im Gespräch, stehen im innigsten Zusammenhang mit dem Bestreben, die historische Wirklichkeit so, wie sie wirklich war, menschlich echt und doch für den späteren Leser nacherlebbar zu gestalten. Es handelt sich dabei um eine charakterisierende Konzentration. Nur Stüm­ p er meinten (und meinen heute noch), daß die historische Charakteristik von Menschen und Situationen in einem Aufeinanderhäufen einzelner, historisch bezeichnender Züge besteht. Walter Scott hat die Bedeutung solcher - ma­ lerischer, beschreibender - Elemente nie unterschätzt. Er hat sie sogar so stark benutzt , daß oberflächliche Kritiker gerade hier das Wesentliche seiner Kunst erblickt haben. Aber für Scott ist die historische Charakteristik des Ortes und der Zeit, das historische »Hier und Jetzt« etwas viel Tieferes. Es bezeichnet für ihn das durch eine historische Krise bedingte Zusammenfallen und Miteinander-Verflochtenwerden von Krisen in den persönlichen Schick­ salen einer Reihe von Menschen. Die Gestaltungsart der historischen Krise bleibt gerade aus diesem Grunde bei Scott nie abstrakt, der Riß der Nation in kämpfende Parteien geht hier immer mitten durch die engsten menschlichen B eziehungen hindurch. Eltern und Kinder, Geliebter und Geliebte, alte Freunde usw. werden einander als Gegner gegenübergestellt, oder die Notwendigkeit eines solchen Gegenüberstehens trägt die Kollision tief ins persönlid1e Leben h inein. Dieses Schicksal erleiden aber immer zusammenhängende, miteinander verbundene Gruppen von Menschen, und es handelt sich nie um eine einzige Katastrophe, sondern um eine Kette von Katastrophen, bei der die Lösung einer jeden einen neuen Konflikt gebiert. So drängt das tiefe Erfassen des

Die klassische Form des historischen Romans

historischen Moments im menschlichen Leben auf eine dramatische Konzen­ tration des epischen Aufbaus. Die großen Schriftsteller des I 8. Jahrhunderts haben viel loser komponiert. Sie konnten dies tun, weil sie die Sitten ihrer Zeit als selbstverständlich an­ sahen und die unmittelbare Selbstverständlichkeit ihrer Wirkung bei den Le­ sern voraussetzen durften. Man vergesse aber nicht, daß sich dies auf den all­ gemeinen Aufbau der Komposition bezieht, nicht aber auf die Gestaltungs­ weise der einzelnen Momente und Ereignisse. Auch diese Schriftsteller wußten sehr gut, daß es nicht auf die extensive Vollständigkeit der Beschreibung, der Aufzählung eines Gegenstandskomplexes, nicht auf die extensive Voll­ ständigkeit jener Ereignisreihe, die das Leben eines Menschen ausmacht, an­ kommt, sondern auf das Herausarbeiten der menschlich wie gesellschaftlich ' wesentlichen Bestimmungen. Goethe, der den »Wilhelm Meister« unver­ gleichlich weniger dramatisch konzipiert hatte, als später Walter Scott oder Balzac es mit ihren Romanen taten, geht in der Darstellung der einzelnen Ereignisse seiner weit auseinandergezogenen Fabel durchaus in der Richtung der Intensivierung. Die Beziehung Wilhelm Meisters zum Serloschen Theater konzentriert sich z. B. fast vollständig um das Problem der Hamlet-Auf­ führung. Von einer extensiv vollständigen Beschreibung des Theaters, von einer extensiv vollständigen Chronik der Ereignisse des Serloschen Theaters ist auch bei Goethe keine Rede. Die dramatische Konzentrierung und Intensivierung der Ereignisse bei Wal­ ter Scott ist also keineswegs eine radikale Neuerung. Sie ist bloß eine eigen­ artige Zusammenfassung und Weiterführung der wichtigsten künstlerischen Prinzipien der vorangegangenen Entwicklungsperiode. Weil aber Scott auf einem großen historischen Wendepunkt diese Weiterbildung den wirklichen Bedürfnissen der Zeit entsprechend vollzogen hat, bedeutet seine Weiter­ bildung eine Wende in der Geschichte des Romans. Denn gerade beim histo­ rischen Roman ist die Verführung, die extensive Totalität vollständig zu geben, außerordentlich groß. Es liegt sehr nahe, zu glauben, daß historische Treue nur durch eine solche Vollständigkeit erreicht werden kann. Das ist aber eine Täuschung, auf die besonders Balzac in seinen kritischen Schriften mit großer Schärfe und Klarheit hingewiesen hat. In einer Kritik über den vollständig vergessenen historischen Roman »Leo« von Latouche sagt er: »Der ganze Roman besteht aus 200 Seiten, auf welchen 200 Ereignisse be­ handelt werden, nichts verrät mehr die Unfähigkeit des Verfassers, wie die Häufung von Tatsachen . . . Die Begabung blüht auf in der Schilderung der Ursachen, die die Tatsachen hervorbringen, in den Geheimnissen des mensch-

Walter Scott liehen Herzens, dessen Bewegungen von den Historikern vernachlässigt wer­ den. Die Personen eines Romans sind gezwungen, vernünftiger zu sein als die historischen Personen. Jene sollen zum Leben erweckt werden, diese haben gelebt. Die Existenz dieser bedarf keiner Beweise, wie bizarr auch ihre Handlungen gewesen sein mögen, während die Existenz jener einer allgemei­ nen Zustimmung bedarf.« Es ist klar, daß, je entfernter eine historische Pe­ riode und die Existenzbedingungen ihrer Akteure sind, desto mehr die Handlung sich darauf konzentrieren muß, diese Existenzbedingungen pla­ stisch und klar vor uns hinzustellen, damit wir die eigenartige Psychologie und Ethik, die aus diesen Lebensbedingungen entstehen, nicht als historische Kuriosität betrachten, sondern als eine uns angehende, uns bewegende Ent­ wicklungsetappe der Menschheit nacherleben. Es kommt also im historischen Roman nicht auf das Nacherzählen der großen historischen Ereignisse an, sondern auf das dichterische Erwecken jener Men­ schen, die in diesen Ereignissen :figuriert haben. Es kommt darauf an, nach­ erlebbar zu machen, aus welchen gesellschaftlichen und menschlichen Beweg­ gründen die Menschen gerade so gedacht, gefühlt und gehandelt haben, wie dies in der historischen Wirklichkeit der Fall war. Und es ist ein im ersten Moment als paradox erscheinendes, dann aber ohne weiteres einleuchtendes Gesetz der dichterischen Gestaltung, daß zum Sinnfälligmachen solcher gesell­ schaftlichen und menschlichen Beweggründe des Handelns die äußerlich geringfügigen Ereignisse, die - äußerlich gesehen - kleineren Verhältnisse geeigneter sind als die großen monumentalen Dramen der Weltgeschichte. Balzac hat in seiner Kritik an Stendhals » Chartreuse de Parme« dem Genie Stendhals ein begeistertes Lob gewidmet, weil dieser eine großartige D arstellung des Hoflebens im Rahmen eines italienischen Kleinstaats gab. Balzac hebt hervor, daß in den kleinlichen Kämpfen am Hof von Parma alle jene gesellschaftlichen und seelischen Konflikte sinnfälig werden, die sich etwa in den großen Kämpfen um Mazarin und Richelieu abgespielt haben. Und diese Kämpfe können, nach Balzac, auf diese Weise dichterisch darum besser gestaltet werden, weil der politische Inhalt der Intrigen in Parma leicht übersichtlich ist, sich ohne weiteres in unmittelbare Handlung umsetzen läßt und mit einer unmittelbaren Selbstverständlichkeit seine menschlich-seelischen Reflexe zeigt, während die Darstellung der großen politischen Probleme, die den Inhalt der Intrigen um Mazarin oder Richelieu ausgemacht haben, einen schweren toten Ballast für den Roman bilden würde. Balzac führt diesen seinen Gedanken bis in die kleinsten Details der epischen

Die klassische Form des historischen Romans

Bewältigung der Geschichte aus. Er kritisiert unter anderem einen Roman Eugen Sues, der den Cevennen-Aufstand unter Ludwig XIV. zum Thema hat. Sue hat in einer modern-dilletantischen Weise den ganzen Feldzug extensiv von Gefecht zu Gefecht beschrieben. Balzac wendet sich nun mit größter Schärfe gegen dieses Unternehmen. Er sagt : »Es ist für die Literatur unmög­ lich, die Tatsachen des Krieges über einen bestimmten Umfang hinaus zu malen. Die Cevennenberge, die Ebenen zwischen den Cevennen, die Fläche des Languedoc sinnfällig zu machen , hier überall die Truppen manövrieren zu lassen, die Schlachten zu erklären, haben Walter Scott und Cooper als eine Aufgabe empfunden, die über ihre Kräfte geht. Sie haben in ihren Werken niemals einen Feldzug gegeben, sie haben sich damit begnügt, in kleinen Zu­ sammenstößen den Geist der beiden kämpfenden Massen zu zeigen. Und sogar diese kleineren Gefechte, die sie zu schildern unternommen, haben bei ihnen sehr lange Vorbereitungen erfordert. « B alzac charakterisiert hier nid1t nur die intensive Ei genart der Geschichtsdarstellung von Scott und Cooper, sondern auch die der späteren Entwicklung des historischen Romans bei des­ sen großen klassischen Vertretern. Denn es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß etwa Tolstoi die Napoleonischen Feldzüge wirklich extensiv geschildert hätte. Er gibt jeweils einige heraus­ gerissene Episoden, die für die menschliche Entw·icklung seiner Hauptfiguren besonders wichtig und bezeichnend sind . Und seine Genialität im historischen Roman besteht darin, daß er diese Episoden so auswählt und gestaltet, daß dabei die ganze Stimmung des russischen Heeres und - durch diese vermit­ telt - des russischen Volkes in prägnanter W� ise zum Ausdruck gelangt. Wo er versucht hat, auf die umfassenden politisch-strategischen Probleme des Krieges einzugehen, z. B . in der Schilderung Napoleons, verliert er sich in geschichtsphilosophischen Expektorationen, und zwar nicht nur deshalb , weil er zu Napoleon eine historisch falsche Stellung einnimmt, weil er ihn histo­ risc.1i nicht versteht, sondern auch aus schriftstellerischen Gründen . Tolstoi war ein viel zu großer Schriftsteller, als daß er imstande gewesen wäre, Dich­ tungsersatz zu bieten. \Vo sein Stoff über das dichterisch Gestaltbare hinaus­ ging, hat er radikal die Ausdrucksmittel der Literatur verlassen und hat ver­ sud1t, sein Thema mit gedanklichen Mitteln zu bewältigen. Gerade dadurch bringt er einen praktischen Beweis für die Ric.h. tigkeit der Balzacschen Ana­ lyse des Scottschen Romans und für B alzacs Kritik an Sue. Es kommt also für den historischen Roman darauf an, die Existenz, das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit dichterischen Mitteln zu beweisen. Was man bei Scott sehr oberflächlich die » Wahrheit des

\Valter

Scott

53

Kolorits« genann t hat, ist in Wirklichkeit dieser dichterische Beweis der histo­ rischen Realität. Es ist die Gestaltung der breiten Lebensgrundlage der histo­ risd1en Ereignisse in ihrer Verschlungenheit und Kompliziertheit, in ihrer vielfältigen Wechselwirkung mit den handelnden Personen. Der Un terschied zwischen »erhaltenden« und » weltgeschichtlichen « Individuen kommt gerade in diesem lebendigen Zusammenhang mit der Seinsgrundlage der Ereignisse zum Ausdruck. Jene erleben die kleinsten Schwingungen dieser Seinsgnmd­ lage als unmittelbare Erschütterungen ihres individuellen Lebens, diese fassen die wesentlichen Züge der Ereignisse zu Motiven des eigenen Handelns und der Beeinflussung und Leitung des Handelns der Massen zusammen. Je erden­ näher, je weniger zur historischen Führung berufen die » erhaltenden Indivi­ du en « sind, desto deutlicher und sinnfälliger kommen die Erschütterungen der Seinsgrundlage in ihrem Alltagsleben, in ihren unmittelbaren seelischen 1\ußerungen zum Ausdruck. Freilich werden dann solche 1\ußerungen leidn einseitig, ja sogar falsch. Aber die Komposition des historischen Gesamt­ bildes besteht gerade darin, eine reiche , abgestufte, übergangsvolle Wechsel­ wirkung zwischen den verschiedenen Stufen des Reagierens auf die Erschütte­ rung der Seinsgrundlage zu gestalten, den Zusammenhang zwischen der lebensvollen Spontaneität der Massen und der jeweilig möglichen maximalen historischen Bewußtheit der führenden Persönlichkeiten dichterisch aufzu­ decken. Solche Zu sammenhänge sind für die Erkenntnis der Geschichte von ausschlag­ gebender Bedeutung. Die wirklich großen politischen Führer des Volkes zeich­ nen sich auch gerade durch eine außerordentliche Feinfühligkeit im Verständ­ nis für solche spontanen Reaktionen aus. Ihre Genialität äußert sich darin, daß sie außerordentlich rasch an ganz kleinen und unscheinbaren 1\ußerungen die 1\nderung der Stimmung des Volkes oder einer Klasse wahrnehmen und den Zusammenhang zwischen dieser Stimmung und dem objektiven Gang der Ereignisse zu verallgemeinern imstande sind. Diese große Fähigkeit der Auf­ n ahme und der Verallgemeinerung ist die Grundlage für das, was die großen Führer ein Lernen von den Massen zu nennen pflegen. Lenin beschreibt in seiner Broschüre »Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten ? « einen sehr lehrreichen Fall dieser \Vechselwirkun g. Nach der Niederschlagung des Juliaufstandes des Petrograder Proletariats im Jahre 1 9 17 ist Lenin ge­ zwungen, in einem Vorort bei Arbeitern illegal zu leben. Er beschreibt, wie das Mittagessen vorbereitet wird. »Die Hausfrau bringt das Brot. Der Haus­ herr sagt: >Schau dir das ausgezeichnete Brot an. Sie wagen es jetzt wohl nicht, schlechtes B rot zu geben. Wir hatten fast vergessen, daß es in Petrograd

54

Die klassische Form des historischen Romans

auch gutes Brot geben kann.> Seltsame Grille des Volkes ! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es verlangt nicht den treuen Bericht naffi.ter Tatsachen, son­ dern jene Tatsachen, wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen.« Wir wiederholen : diese Poesie ist objektiv mit der Notwendigkeit des Unter­ gangs der Gentilgesellschaft verbunden. Wir erleben in Scotts verschiedenen Romanen die einzelnen Etappen dieses Untergangs in seiner ganzen histo­ rischen Konkretheit und Differenziertheit. Scott hat nicht - im pedantischen Sinn von Gustav Freytags »Ahnen« - einen zusammenhängenden Zyklus aus seinen Romanen machen wollen. Aber gerade in bezug auf das Schiffi.sal des Clan tritt dieser große historische Zusammenhang, die unerbittliche Not­ wendigkeit dieser Tragödie der Clans ungeheuer plastisch hervor. Schon darin, daß ihre Schicksale immer aus der lebendigen Wechselwirkung mit der gesell­ schaftlich-geschichtlichen Umwelt entspringen. Sie werden nie selbständig, nie isoliert dargestellt, sondern stets im Kontext einer allgemeinen Krise des

Walter S cott

schottischen oder englisch-schottischen Volkslebens. Die Kette dieser Krisen reicht von den ersten großen Kämpfen des entstehenden schottischen Bürger­ tums mit dem Adel und von dem Versuch des Königtums, diese Kämpfe zur Verstärkung der zentralen Macht zu benützen (»The Fair Maid of Perth« Ende des 1 4 . Jahrhunderts), bis zu den letzten Versuchen der Stuarts, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und im kapitalistisch bereits weit fort­ geschrittenen England den veralteten Absolutismus wiederherzustellen (»Roh Roy« - Ende des 1 8 . Jahrhunderts). Die Clans sind dabei historisch notwendig stets die Ausgenützten, Geprellten, Betrogenen. Gerade ihre heldenhaften Eigenschaften, die aus der Primitivität ihres gesellschaftlichen Seins entstammen, machen sie zum Spielball der menschlich viel schlechteren Vertreter der herrschenden Mächte der jeweiligen Etappe der Zivilisation. Was Engels wissenschaftlich zeigt, wie die Zivilisa­ tion Dinge vollbringt, denen die alte Gentilgesellschaft nicht gewachsen sein konnte, das wird von Scott gestaltet. Insbesondere wird jener Kontrast von ihm gestaltet, den Engels bei der Analyse dieses notwendigen Scheiterns der Gentilgesellschaft der Zivilisation gegenüber in bezug auf das Menschliche hervorhebt : »Aber sie hat sie vollbracht, indem sie die schmutzigsten Triebe und Leidenschaften der Menschen in Bewegung setzte und auf Kosten seiner ganzen übrigen Anlagen entwickelte.« Schon der im Schoße der Klassenkämpfe der feudalen Zeit entstehende An­ satz zu einem absoluten Königtum nutzt rücksichtslos die unwichtigen Fehden der Clans zu ihrer wechselseitigen Zerfleischung aus. Die gegenseitige Ausrottung aller waffenfähigen Männer zweier Clans, die die Handlung des hier zuerst genannten Romans ausmacht, ist freilich in dieser krassen Form ein Ausnahmefall, aus dem erst die große Kunst Scotts das Typische heraus­ holt. Scott kann dies aber nur tun, weil im spontanen, vereinzelteren, episo­ discheren Ausmaße diese Unfähigkeit der Clans, ihre gemeinsamen Interessen gegen Adel oder Bürgertum zu verteidigen, und die Verzettelung aller ihrer Energien in der lokalen Borniertheit solcher kleinen Kämpfe aus der Grund­ lage der Clanexistenz notwendig folgen. Die Leibgarde des französischen Königs Ludwig XI. besteht schon aus solchen - mehr oder weniger unfrei­ willig - versprengten, auf sich angewiesenen Mitgliedern der alten Clans (Quentin Durward). Und die Parteien der späteren Bürgerkriege, Parlament wie Stuarts, nutzen bereits massenhaft und rücksichtslos die mutigen, hin­ gebungsvollen Clankämpfer als Kanonenfutter für politische Ziele aus, die den Clans vollständig fremd sind. (»A Legend of Montrose«, » Waverley«, »Roh Roy«).

Die klassische Form des historischen Romans

Mit der Niederschlagung des Aufstands von 1 7 4 5 die in »Waverley« ge­ schildert wird - beginnt, sagt Engels, der wirkliche Untergang der Gentil­ gesellschaft in Schottland. Einige Jahrzehnte später (in »Roh Roy«) sehen wir die Clans schon in voller ökonomischer Auflösung. Eine Gestalt dieses Ro­ mans , Jarvie, der kluge Kaufmann und Stadtvogt von Glasgow, s ieht klar, daß das verzweifelt-aussichtslose Losschlagen der Clans im Interesse der Stuarts für jene zu einer ökonomischen Notwendigkeit geworden ist. Auf der Grundlage ihrer primitiven Wirtschaft können sie sich nicht mehr erhalten. Sie haben eine ständig bewaffnete, im Kampf geübte O berbevölkerung, mit welcher sie normal nichts mehr anfangen können, die zum Räubern gezwun­ gen und für die ein solcher Aufstand der alleinige Ausweg aus der hoff nungs­ losen Lage ist. Dadurch tritt ein Zug der Auflösung, der beginnenden De­ klassierung hervor, der im Clanbild des » Waverley« noch gefehlt hat. Wieder ist die außerordentlich realistische Geschichtsdarstellung Scotts zu be­ wundern, mit der er diese neuen Elemente der ökonomisch-sozialen Wand­ lung in menschliche Schicksale, in verwandelte Psychologie der Gestalten um­ setzt. Seine echte Volkstümlichkeit zeigt sich darin, daß er zwar einerseits mit realistischer Unerbittlichkeit diese deklassierten Züge energisch heraus­ arbeitet, insbesondere in der romantisch-abenteurerhaften Handlungsweise von Roh Roy selbst, der sich dadurch historisch sehr scharf von der primitiven Schlichtheit der Clanführer früherer Perioden abhebt, aber andererseits die­ sen Untergang der Clans doch in seiner wirklichen populären Heldenhaftig­ keit gestaltet : bei allen Tendenzen zur Deklassiertheit faßt die Gestalt Roh Roys auch die alten, menschlich großartigen. Eigenschaften der alten Clan­ helden in sich zusammen. Der Untergang der Gentilgesellschaft ist bei Scott eine heroische Tragödie, kein elendes Verkommen. So wird Walter Scott zum großen Dichter der Geschichte, weil er für die historische Notwendigkeit ein tieferes, e Ch teres und differenzierteres Gefühl hat, als es je ein Dichter vor ihm hatte. Die historische Notwendigkeit ist in seinen Romanen von strengster Unerbittlichkeit. Sie ist aber kein men­ schenjenseitiges Fatum, sondern die komplizierte Wechselwirkung von kon­ kreten historischen Umständen in ihrem Umwandlungsprozeß , in ihrer Wech­ selwirkung mit konkreten Menschen, die, unter diesen Umständen gewachsen, von diesen Umständen sehr verschiedenartig beeinflußt, nach ihren persön­ lichen Leidenschaften individuell handeln. Die historische Notwendigkeit ist also in der Gestaltung immer eine Resultante und keine Voraussetzung, sie -

ist gestalterisch die tragische Atmosphäre der Periode und nicht der Gegen­ stand der Reflexionen des Schriftstellers.

Walter Scott

71

Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Gestalten Walter Scotts über ihre Ziele und Aufgaben keine Reflexionen anstellen würden. Es sind aber die Reflexionen handelnder Menschen unter konkreten Umständen. Und die Atmosphäre der historischen Notwendigkeit entsteht gerade aus der sehr fein gestalteten Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht der richtigen Ein­ sicht unter konkreten historischen Umständen. In »A Legend of Montrose« gestaltet Scott eine schottische Episode aus der großen englischen Revolu­ tion. Sowohl das Parlamentsheer wie die Royalisten versuchen, die kriege­ rischen Clans für sich zu gewinnen. Ihre Instrumente sind dabei die beiden großen Häuptlinge Argyle und Montrose. Nun ist außerordentlich inter­ essant, daß es in dieser Lage einen kleinen Clanhäuptling gibt, der voll­ ständig klar einsieht, daß sowohl der Anschluß an den König wie der an das Parlament letzten Endes notwendig den eigenen Untergang bedeutet. Seine Einsicht ist aber wegen der Clananhänglichkeit den großen Führern gegen­ über von vornherein zur Ohnmacht verurteilt. Der Krieg zwischen Argyle und Montrose beginnt. Dieselbe innere Notwendigkeit jedoch, die hier Montroses Plan begünstigt hat, zieht der Verwirklichung dieser Pläne enge, clanmäßige Grenzen. Mon­ trose hat den Gegner geschlagen und möchte sich nun gegen die englischen Feinde des Königs wenden ; ein Heereszug frischer Kräfte könnte in England sogar eine Wendung herbeiführen. Das ist aber objektiv unmöglich. Mit einem Heer aus Clan-Angehörigen läßt sich nur ein schottischer Clankrieg führen. Die Anhänger von Montrose gehen für ihn ins Feuer, aber ihre Überzeugung, daß der wirkliche Feind nicht das Parlament, sondern die unter Argyles Führung stehende feindliche Gruppe von Clans ist, läßt sich durch kein über­ reden erschüttern, durch keine Führerautorität beugen, so unbegrenzt auch Montroses Autorität sein mag, solange er sich im Rahmen der Clanideologie bewegt. Und es gehört zu den feinen und historisch großen Zügen der Cha­ rakterisierungskunst Scotts, daß er diesen Gegensatz nicht rein äußerlich austragen läßt. Montrose ist zwar Aristokrat, überzeugter Royalist, Heer­ führer von bedeutenden Fähigkeiten, ein Mensch von großen politischen Am­ bitionen, aber er ist doch auch innerlich ein Clanhäuptling. Die Gedanken­ gänge der Clanleute wirken auch innerlich auf ihn ein , mit äußerer und inne­ rer Notwendigkeit gibt er seine großen Pläne auf und verzettelt seine Kräfte im kleinlichen Clankrieg gegen Argyle. In der Gestaltung dieser großen historischen Notwendigkeit, die durch das leidenschaftliche Handeln der Individuen, oft aber gegen ihre Psychologie sich durchsetzt, in der Basierung dieser Notwendigkeit auf die realen gesell-

72

Die klassische Form des historischen Romans

schaftlich-ökonomischen Grundlagen des Volkslebens liegt die historische Treue Walter Scotts. Neben dieser Echtheit in der schriftstellerischen Repro­ duktion der wirklichen Komponenten der historischen Notwendigkeit kommt es überhaupt nicht in Betracht, ob einzelne Details, einzelne Tatsachen histo­ risch stimmen oder nicht. Freilich ist Walter Scott gerade in diesen Details sehr stark und echt. Aber er ist es nie im antiquarischen oder exotischen Sinne späterer Schriftsteller. Die Details sind für Scott nur Mittel, um die hier geschilderte historische Treue wirklich zu erreichen, um die historische Notwendigkeit einer konkreten Lage konkret sinnfällig zu machen. Diese historische Treue ist bei Scott gerade die Wahrheit der historischen Psycho­ logie der Gestalten, des echten hie et nunc ihrer seelischen Beweggründe und ihrer Handlungsart. Gerade in der menschlich-moralischen Auffassung seiner Gestalten bewahrt Scott diese historische Treue. Die widersprechendsten, entgegengesetztesten Reaktionen auf bestimmte Ereignisse bewegen sich in seinen gelungenen Roma­ nen immer im Rahmen der objektiven Dialektik einer bestimmten historischen Krise. Er schafft in diesem Sinne nie exzentrische Figuren, Figuren, die ihrer Psychologie nach aus der Atmosphäre der Zeit herausfallen. Es verdiente eine eingehende Analyse, um dies an hervorstechenden Beispielen zu zeigen. Wir wollen nur auf die Schwester von Jeanie Deans, Effie, kurz hinweisen. Scheinbar steht sie in schärfstem psychologisch-moralischem Gegensatz zu Vater und Schwester. Aber Scott gestaltet mit großer Feinheit, wie dieser Gegensatz gerade aus Opposition gegen den bäuerlich-puritanischen Grund­ charakter der Familie entstanden ist, wie eine Reihe von Umständen ihrer Erziehung Möglichkeiten zu einer solchen Sonderentwicklung gegeben haben und wie viele seelische Züge bei ihr doch erhalten blieben, die auch in ihrer tragischen Krise, auch in ihrem späteren gesellschaftlichen Aufstieg das sozial­ zeitlich Gemeinsame bewahrt haben. Gerade in dieser Gestaltungsart zeigt sich, daß Scott, im schroffen Gegensatz zur nachachtundvierziger Entwick­ lung des historischen Romans, die Psychologie seiner Gestalten nie moder­ nisiert. Dieses Modernisieren ist freilich nicht eine neue »Errungenschaft« des nach­ achtundvierziger historischen Romans. Im Gegenteil : es ist das falsche Erbe, das gerade Walter Scott überwunden hat. Und der Kampf zwischen histo­ rischer Treue der Psychologie und seelischer Modernisierung der historischen Gestalten bildet das zentrale Problem der Scheidung der Geister auch in der Periode Walter Scotts. Wir werden auf dieses Problem im folgenden ein­ gehend zu sprechen kommen. Hier sei nur so viel bemerkt, daß, während die

Walter Sco tt

73

pseudohistorischen Romane des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts das Gefühlsleben der Vergangenheit einfach naiv mit der Gegenwart gleichsetzten, bei Cha­ teaubriand und in der deutschen Romantik eine andere, eine gefährlichere Strömung der Modernisierung entsteht. Denn insbesondere die deutschen Ro­ mantiker legen ein außerordentlich großes Gewicht auf die historische Treue aller Details. Sie entdecken den malerischen Reiz des Mittelalters und geben ihn mit einer »nazarenischen« Akkuratesse wieder: vom mittelalterlichen Katholizismus bis zu den alten Möbeln wird alles mit einer kunstgewerb­ lichen Genauigkeit, die sich oft zu einem pittoresken Pedantentum steigert, wiedergegeben. Die Menschen jedoch, die in dieser malerischen Welt agieren, haben die Psychologie zerrissener Romantiker oder die neubekehrter Apolo­ geten der Heiligen Allianz. Diese dekorative Karikatur der historischen Treue wurde in Deutschland von den großen Vertretern des Fortschritts der Literatur und Kultur, von Goethe und Hegel, schroff abgelehnt. Der historische Roman Walter Scotts ist das lebendige Gegenstück zu diesen neuen Tendenzen eines falschen Historismus und einer gleichzeitigen unkünstlerischen Modernisierung der Vergangenheit. Bedeutet aber die Treue der Vergangenheit gegenüber eine chronikartige, naturalistische Wiedergabe der Sprache, der Denk- und Empfindungsweise der Vergangenheit? Selbstverständlich nicht. Und die großen deutschen Zeit­ genossen Scotts, Goethe und Hegel , haben dieses Problem mit großer theore­ tischer Klarheit ausgesprochen. Goethe wirft diese Frage in einer Bespre­ chung der historischen Tragödie »Adelchi« von Manzoni auf. Er schreibt: »Wir sprechen zu seiner Rechtfertigung das vielleicht paradox scheinende Won aus, daß alle Poesie eigentlich in Anachronismen verkehre. Alle Ver­ gangenheit, die wir heraufrufen, um sie nach unserer Weise den Mitlebenden vorzutragen, muß eine höhere Bildung, als es hatte, dem Altertümlichen zu­ gestehen ; . . . Die Ilias wie die Odyssee, die sämtlichen Tragiker, und was uns von wahrer Poesie übriggeblieben ist, lebt und atmet nur in Anachronismen. Allen Zuständen borgt man das Neuere, um sie anschaulich, ja nur erträglich zu machen . . . « Wie weit diese Ausführungen Goethes die Hegelsche 1\.sthetik direkt beein­ flußt haben, wissen wir nicht. Jedenfalls spricht Hegel in ästhetisch-begriff­ licher Verallgemeinerung des Problems bereits von einem notwendigen Ana­ chronismus in der Kunst. Aber seine Ausführungen gehen in bezug auf Kon­ kretisierung und historische Dialektik des Problems natürlich wesentlich wei­ ter als die Goethes und sprechen theoretisch jene Prinzipien aus, die die histo­ rische Praxis Scotts bestimmt haben. Hegel erörtert den notwendigen Ana-

74

Die klassische Form des historischen Romans

chronismus folgendermaßen : »Die innere Substanz des Dargestellten bleibt dieselbe, aber die entwickelte Bildung im Darstellen und Entfalten dieses Substanziellen macht für den Ausdruck und die Gestalt desselben eine Um­ wandlung nötig. « Diese Formulierung klingt der Goethes ziemlich verwandt, ist aber sachlich doch eine Weiterführung derselben. Denn Hegel faßt bereits die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit bewußt historischer auf als Goethe. Für Goethe handelt es sich im wesentlichen um das Herausarbeiten des Durch­ bruchs der allgemein-menschlichen, der humanistischen Prinzipien aus dem konkreten historischen Boden ; um eine derartige Umformung dieses histo­ rischen Bodens, daß ein solcher Durchbruch ohne Aufhebung der wesent­ lichen historischen Wahrheit erfolgen könne. (Wir verweisen dabei auf unsere frühere Analyse der Gestaltung von Dorothea und Klärehen.) Hegel dagegen faßt diese Beziehung zur Gegenwart historisch. Er meint, daß der »notwen­ dige Anachronismus« organisch aus dem historischen Stoff herauswachsen könne, wenn die gestaltete Vergangenheit von den gegenwärtigen Dichtern in klarer Weise als notwendige Vorgeschichte der Gegenwart erkannt und erlebt wird. Nur in diesem Fall entsteht eine solche Steigerung der Aus­ drucksweise, der Bewußtheit usw., die diesen Zusammenhang deutlich macht und unterstreicht. Und die Neuformung der Ereignisse, der Sitten usw. der Vergangenheit besteht in diesem Falle nur darin, daß der Dichter jene Ten­ denzen, die in der Vergangenheit bereits lebendig und wirksam gewesen sind, die real historisch zur Gegenwart geführt haben, die aber die Zeitgenossen dieser Ereignisse naturgemäß nicht in ihrer später sichtbar gewordenen Be­ deutung erkannt haben, mit jenem Gewicht hervortreten läßt, das sie für das Produkt dieser Vergangenheit, für die Gegenwart, objektiv historisch besitzen. Diese Gedankengänge Hegels enthalten eine ästhetische Umgrenzung der hi­ storischen Thematik. Denn in der weiteren Ausführung seiner Gedanken stellt Hegel den notwendigen Anachronismus der Homerischen Gedichte und der griechischen Tragiker der mittelalterlichen, ritterlich-feudalen Bearbeitung des »Nibelungenliedes« gegenüber. »Ganz anders dagegen stellt sich diese Umarbeitung, wenn Anschauungen und Vorstellungen einer späteren Ent­ wicklung des religiösen und sittlichen Bewußtseins auf eine Zeit oder Nation übertragen werden, deren ganze Weltanschauung solchen neueren Vorstellun­ gen widerspricht.« Die Modernisierung entsteht also mit ästhetisch-histori­ scher Notwendigkeit jedes Mal, wo diese lebendige Beziehung zwischen Ver­ gangenheit und Gegenwart nicht vorhanden ist und nur gewaltsam her-

Walter Scott

75

gestellt wird. (Über dieses Problem der Modernisierung der Geschichte wer­ den wir in den folgenden Abschnitten sehr ausführlich zu sprechen haben.) Selbstverständlich besteht ein gewaltiger historischer Unterschied, der sich auch in der ästhetischen Gestaltung widerspiegelt, zwischen der naiven Unbe­ wußtheit und Unbekümmertheit, mit der der Dichter des »Nibelungenliedes« die Sagen aus der Gentilzeit feudal-christlich umgeformt hat, und der über­ spannten Apologetik, mit der die reaktionären Romantiker die Prinzipien des Legitimismus in das Mittelalter hineintragen, aus dem sie eine soziale Idylle, bevölkert mit dekadenten Deklassierten als Helden, machten. Scott hat den »notwendigen Anachronismus« Goethes und Hegels sicher ohne Kenntnis ihrer Reflexion in dichterische Praxis umgesetzt. Um so bedeutsamer ist diese Übereinstimmung der bedeutenden progressiven Dichter und Den­ ker dieser Periode mit seinen Gestaltungsprinzipien. Besonders wenn man noch bedenkt, daß er dies - wenn auch ohne jede philosophische Begrün­ dung - künstlerisch ganz bewußt getan hat. Er schreibt über diese Frage in der Vorrede zu »Ivanhoe« : »Zwar kann ich weder, noch will ich Ansprüche auf vollständige Genauigkeit machen, selbst nicht in Dingen, die bloß das äußere Kostüm angehen, viel weniger in den wichtigeren Punkten des Aus­ drucks und Benehmens. Aber derselbe Grund, der mich abhält, den Dialog eines Werkes im Angelsächsischen oder Normannisch-Französischen abzufas­ sen, und mir verbietet, diese Schrift mit den Typen einer Caxton oder Wyn­ ken de Worde drucken zu lassen, hält mich ab , mich ganz innerhalb der Grenzen derjenigen Periode zu halten, in welche meine Geschichte fällt. Um irgendwie Teilnahme zu erregen, muß der gewählte Gegenstand in die Sitten und die Sprache der Zeit, worin wir leben, übersetzt werden . . . Es ist wahr, daß diese Freiheit ihre gehörigen Grenzen hat ; der Autor darf nicht anführen, was sich mit den Sitten der geschilderten Zeit nicht verträgt.« Der Weg zur wirklichen, dichterisch-historischen Treue ist bei Walter Scott eine Weiter­ führung der Gestaltungsprinzipien der großen englischen realistischen Schriftsteller des 1 8 . Jahrhunderts und ihre Anwendung auf die Geschichte. Und zwar nicht nur im Sinne einer thematischen Erweiterung, einer Erobe­ rung der historischen Thematik für den großen Realismus, sondern in der Richtung der Historisierung der Gestaltungsprinzipien von Menschen und Ereignissen. Was etwa bei Fielding nur latent vorhanden war, wird bei Scott die bewegende Seele der schriftstellerischen Gestaltung. Der »notwendige Anachronismus« Scotts besteht also nur darin, daß er seinen Menschen einen deutlichen Ausdruck der Gefühle und der Gedanken über reale historische Zusammenhänge gibt, den die Menschen in dieser Klarheit und Deutlichkeit

Die klassische Form des historischen Romans damals unmöglich haben konnten. Aber der Inhalt der Gefühle und Gedan­ ken, die Beziehung der Gefühle und Gedanken auf ihr reales Objekt ist bei Scott immer historisch wie sozial richtig, und sein großer dichterischer Takt besteht darin, daß er einerseits diesen deutlichen Ausdruck nur so weit über die Zeit erhöht, wie es zum Klarmachen des Zusammenhanges unbedingt not­ wendig ist, und andererseits auch diesem Gefühls- und Gedankenausdruck das Timbre, das Kolorit, den Tonfall der Zeit, der Klasse usw. verleiht.

III

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

Die Kunst Walter Scotts drückt, wie wir gesehen haben, die wesentliche progressive Tendenz dieser Periode, die historische Verteidigung des Fort­ schritts, in künstlerisch vollendeter Weise aus. Scott wurde auch tatsächlich zu einem der populärsten und der meistgelesenen Schriftsteller seiner Z eit im internationalen Maßstab. Der Einfluß, den er auf die gesamte Literatur Euro­ pas ausgeübt hat, ist unermeßlich. Die bedeutendsten Dichter dieser Zeit von Puschkin bis Balzac werden durch diesen neuen Typus der Gestaltung der Geschichte in ihrer Produktion auf neue Wege geführt. Es wäre aber ein Irrtum, zu glauben, daß die große Welle der historischen Romane in der ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts sich wirklich auf Scottschen Prinzipien aufbaut. Wir haben ja bereits gesehen, daß die historische Konzeption der Romantik derjenigen Wal ter Scotts diametral entgegengesetzt gewesen ist. Und damit ist natürlich die Charakterisierung der anderen Strömungen im historischen Roman noch lange nicht erschöpft. Wir weisen nur auf zwei wichtige Strömungen hin : einerseits auf die liberale Romantik, die welt­ anschaulich und gestalterisch sehr viel mit dem ursprünglichen Boden der Romantik, mit dem ideologischen Kampf gegen die Französische Revolution, gemeinsam hat, aber doch auf dieser widerspruchsvollen und schwankenden Grundlage die Ideologie eines gemäßigten Fortschritts vertritt, andererseits auf jene bedeutenden Schriftsteller, die - wie z. B . Goethe und Stendhal vieles aus dem weltanschaulichen Erbe des 1 8 . Jahrhunderts unversehrt in sich bewahrt haben, deren Humanismus bis ans Ende starke Elemente des Aufklärertums in sich enthält. Es kann hier selbstverständlich nicht unsere Aufgabe sein, den Kampf dieser Strömungen auch nur in Umrissen zu skiz­ zieren. Wir wollen nur einige wichtige B eispiele der Weiterführung und der Bekämpfung der dichterischen Prinzipien des historischen Romans kurz ana­ lysieren, j ene, die teils infolge ihres direkten Einflusses für die spätere Ent-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

77

wicklung bedeutsam geworden sind, teil als Kontraste zu dieser in der heu­ tigen Krise des historischen Romans, ebenso wie Scott, eine hohe Aktualität besitzen. Die englischen Zeitgenossen und Nachfolger Scotts können wir bei dieser Zu­ sammenfassung unberücksichtigt lassen. Scott hat im englischen Sprachgebiet nur einen würdigen Nachfolger gefunden, der bestimmte Prinzipien seiner Thematik und Gestaltungsweise übernommen und sogar weitergeführt hat, das ist der Amerikaner Cooper. In seinem unsterblichen Romanzyklus vom »Lederstrumpf« stellt Cooper ein wichtiges Walter Scottsd1es Thema, den Untergang der Gentilgesellschaft, in den Mittelpunkt der Gestaltung. Der historischen Entwicklung Nordamerikas entsprechend erhält dieses Thema ein vollständig neues Gesicht. Bei Scott handelt es sich um eine Jahrhunderte währende kampfvolle Entwicklung um die verschiedenen Formen der An­ passung der Überreste der Gentilgesellschaft an das Feudalsystem und später an den beginnenden Kapitalismus, um den langsamen, krisenreichen Unter­ gang dieser Formation. In Amerika ist der Gegensatz von der Geschichte selbst viel brutaler und unmittelbarer gestellt worden : der kolonisierende Kapitalismus Frankreichs und Englands zerstört physisch wie moralisch die seit Jahrtausenden fast unverändert blühende Gentilgesellschaft der Indianer. Die Konzentration Coopers auf dieses Problem, auf den physischen Unter­ gang, auf die moralische Zerrüttung der Indianerstämme gibt seinen Roma­ nen eine große und weite historische Perspektive. Zugleich aber bedeutet die Eindeutigkeit und Geradlinigkeit des sozialen Gegensatzes eine Verarmung der dichterischen Welt im Vergleich zu Scott. Dies kommt bei Cooper ins­ besondere in der Gestaltung der Engländer und Franzosen zum Ausdruck, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl schematisch, mit flacher Psychologie, mit monotonem und chargiertem Humor dargestellt werden. Schon Balzac hat diese Schwäche Coopers, den er sonst für einen würdigen Nachfolger Scotts gehalten hat, scharf kritisiert. Die Quelle dieser Schwäche liegt meines Erach­ tens darin, daß die vereinzelt auftauchenden Europäer in Coopers Romanen ein viel isolierteres Leben, ohne lebendige gesellschaftliche Wechselwirkungen untereinander, führen als die Feudalherren oder Städtebürger bei Scott. Coopers dichterisches Interesse konzentriert sich auf die Gestaltung der tra­ gisch untergehenden Gentilgesellschaft der Rothäute. Mit einer echt epischen Großartigkeit trennt Cooper die beiden Prozesse des tragischen Untergangs und der menschlich-moralisd1en Deklassierung. Er konzentriert die ergrei­ fend tragischen Züge des Untergangs auf einige überlebende große Figuren

Die klassische Form des historischen Romans

des Delawaren-Stammes, während die Symptome der moralischen Zersetzung der Indianer bei den gegnerischen Stämmen breit und ausführl ich dargestellt werden. Dadurch wird seine Gestaltung zwar vereinfacht, erhält aber stellen­ weise zugleich eine fast eposartige Großartigkeit. Die größte dichterische Leistung vollbringt aber Cooper in einer eigenartigen Weiterbildung des Scottschen »mittleren Helden« . Die Hauptfigur dieser Romane ist der analphabetische, schlichte und anständige engl ische Jäger Nathaniel Bumppo, einer der Kolonisatorenpioniere in Amerika, der jedoch als einfacher Mann aus dem Volke, als puritanisch gesinnter Engländer von der einfachen Größe der Menschlichkeit der Indianer tief angezogen ist und mit den überl ebenden der Delawaren in eine unzertrennbare menschliche Verbindung kommt. Er bleibt zwar in der Hauptlinie seiner moralischen Einstellung Europäer, aber seine ungebändigte Freiheitsliebe, sein Hin­ gezogensein zu einem menschlich einfachen Leben bringen ihn diesen India­ nern näher als den europäischen Kolonisatoren, zu denen er selber objektiv­ gesellschaftlich gehört. In dieser einfachen, volkstüml ichen Gestalt, die ihre eigene Tragik nur gefühlsmäßig erleben, aber nicht verstehen kann, gestaltet Cooper die gewaltige historische Tragik jener ersten Kol onisatoren, die, um ihre Freiheit zu bewahren, aus England ausgewandert sind, durch ihre eigene Tätigkeit jedoch in Amerika diese Freiheit selbst vernichten. Maxim Gorki hat diese Tragik schön ausgesprochen : »Als Erforscher der Wälder und Steppen der >Neuen Welt< legt er in ihnen Wege für Menschen an, die ihn später als Verbrecher verurteilen, weil er ihre habgierigen, für seinen Frei­ heitssinn unverständlichen Gesetze übertrat. U nbewußt diente er sein ganzes _ Leben der großen Sache der geographischen Verbreitung der materiellen Kul­ tur im Lande der Wilden und - erwies sich als ungeeignet, unter den Ver­ hältnissen der Kultur zu leben, für die er die ersten Pfade angelegt hat. « Gorki zeigt hier sehr klar, wie eine große historische, ja welthistorische Tragik an dem Schicksal eines mittelmäßigen Menschen aus dem Volke ge­ staltet werden konnte. Gerade Cooper zeigt, daß eine solche Tragik viel ergreifender dichterisch zum Ausdruck kommt, wenn sie in einem Milieu gestaltet wird, wo die unmittelbaren ökonomischen und die aus ihnen ent­ stehenden moral ischen Gegensätze aus den Alltagsproblemen organisch her­ auswachsen. Die Tragik der Pioniere wird hier in großartiger Weise mit dem tragischen Untergang der Gentilgesellschaft verknüpft, und einer der großen Widersprüche der Fortschrittsbewegung der Menschheit erhält damit hier eine wundervolle tragische Gestalt. Diese Auffassung der Widersprüche des menschl ichen Fortschritts ist ein Pro-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

79

duk t der nachrevolutionä ren Periode. Wir haben bereits den Ausspruch Puschkins angeführt, in dem er klar und bewußt darauf hinweist' daß die Scottsche Gestaltung der Geschichte eine neue Epoche bedeutet, auch gegenüber Shakespeare und Goethe. Diese neue historische Situation ist am deut­ lichsten bei Goethe selbst zu studieren. Goethe war bis an sein Lebensende ein leidenschaftlicher B ejaher des Fortschritts auf jedem Gebiet. Bis an sein Lebensende verfolgte er aufmerksam un d verständnisvoll die neuen Phäno­ mene der Literatur. Er studierte und kritisierte eingehend nicht nur Scott un d Manzoni, sondern auch, fast in seinen letzten Lebenstagen, die ersten großen Werke von Sten dhal un d Balzac. Trotzdem ist die B eziehung Goethes zu Scott problematisch, ist der Einfluß Scotts auf die Gestaltungsweise Goethes kein entscheidender. In der Gestal­ tung des historischen hie et nunc, in dem historischen Bewahren der Psycho­ logie der Gestalten bis in die menschlichen Qualitäten ihrer höchsten Lebens­ äußerungen bleibt Goethe immer ein Dichter der vorscottschen Periode. Wir haben hier n icht die Möglichkeit, die verschiedenen Aussprüche Goethes über Scott in ihrer Entwicklung und Widersprüchlichkeit zu analysieren. Es genügt, wenn wir auf die Widersprüchlichkeit selbst hinweisen. Wir haben bereits eine begeisterte Außerung Goethes über »Rob Roy« angeführt : man könnte noch eine ganze Reihe zitieren . In seinen Gesprächen mit dem Kanzler von Müller stellt aber Goethe einmal Byron hoch über Scott und sagt über letzteren folgendes : » Von Walter Scott habe ich zwei Romane gelesen, weiß nun, was er will un d machen kann. Er würde mich immerfort amüsieren, aber ich kann nicht aus ihm lernen. « Freilich stammt der von uns früher zitierte Ausspruch a n Eckermann aus einer späteren Zeit, so daß man berechtigt wäre, anzunehmen, Goethe hätte später diese seine Meinung über Scott revi diert. Aber gerade die entscheidende Produktion des späten Goethe zeigt keine Spuren eines wirksamen Einflusses der neuen historischen Auffassung der Menschen und der Ereignisse. Der ge­ sellschaftlid1e Horizont des späten Goethe wird immer umfassender, seine Einsicht in die tragische Dialektik des modernen bürgerlid1en Lebens immer tiefer, aber in der Richtung auf historische Konkretisierung des Raumes und der Zeit seiner Handlungen, auf zu Ende geführte historische Psychologie seiner Figuren geht er nie über die Stufe seiner reifen Mannesjahre hinaus . Der historische Charakter von Werken wie »Egmont« bleibt in dieser Hin­ sicht der Gipfelpunkt seiner Produktion . Ja, er hat noch in der Zeit der Zu­ sammenarbeit mit Schiller die starke Tendenz, große aktuelle Ereignisse ihrem reinen historischen Wesen nach so zu gestalten, daß er für ihre heraus-

80

Die klassische Form des historischen Romans

destillierte gesellschaftlich-menschliche Essenz eine dichterisch konkrete Fas­ sung findet, ohne sich dabei an irgendeine konkrete historische Zeit in der dargestellten Welt zu halten. Diese modifizierte Tradition der Aufklärungs­ zeit kann man in verschiedener Weise in »Reineke Fuchs« und in der » Natür­ lichen Tochter« klar sehen. Und die großen gesellschaftlichen und historischen Ereignisse, die etwa in »Wilhelm Meister« hineinspielen (Krieg usw.), sind absichtlich ganz abstrakt gehalten ; abstrakter noch als etwa bei Fielding oder Smollet. Goethe folgt hier mehr der französischen als der englischen Tradi­ tion. Alle diese Gestaltungstendenzen, die sich bei Goethe vor der Periode Walter Scotts herausgebildet haben, bleiben aufbewahrt, ja verstärken sich noch in seiner Altersperiode (»Wahlverwandtschaften «, » Faust II«). Auch als kritischem B eurteiler der neuen Ereignisse bleibt bei Goethe, wie wir sehen werden, eine starke Lessingsche Tradition lebendig. Goethes Schaffen steht also im wesentlichen auf der S tufe der vorscottschen historischen Konkretisierung. Goethe hat aber trotzdem, wie wir ebenfalls gesehen hab en, bestimmte Bedingungen der Entstehungsmöglichkeit und der Thematik des historischen Romans klarer erkannt als irgendeiner seiner deut­ schen Zeitgenossen. Er hat mit großem Recht die B edeutung der kontinuier­ lichen, für das gegenwärtige Geschlecht glorreichen Geschichte Englands fest­ gestellt. Diese reale Grundlage des historischen Romans fehlt in einigen wich­ tigen Ländern Europas, vor allem gerade in Deutschland und in Italien. In den vierziger Jahren schreibt Hebbel anschließend an eine Kritik, die Willibald Alexis an einem seiner Dramen geübt hat, sehr scharf und ab­ sprechend über diese Beziehung : »Es ist sehr r � chtig , daß wir Deutschen nicht im Zusammenhang mit der Geschichte unseres Volkes stehen . . . Aber worin liegt der Grund? Weil diese Geschichte resultatlos war, weil wir uns nicht als Produkte ihres organischen Verlaufs betrachten können, wie z. B. Eng­ länder und Franzosen, sondern weil das, was wir freilich unsere Geschichte nennen müssen, nicht unsere Lebens-, sondern unsere K ran k heits geschichte ist, die noch bis heute nicht zur Krisis geführt hat.« Und er sagt mit derber Grobheit über das notwendige Mißlingen der Hohenstauffen-Thematik der deutschen Dichter, daß diese Kaiser zu Deutschland »kein anderes Verhältnis hatten als das des Bandwurms zum Magen" . Aus dieser Lage ergibt sich not­ wendigerweise eine zufällige oder sogar verlogene Thematik, wenn die Dich­ ter nicht imstande sind, gerade diese Krisenhaftigkeit, dieses Bruchstückhafte, diese Tragik der eigenen Geschichte in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken. Zu einer solchen Auffassung waren in Deutschland die ideologischen B edin-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

81

gungen nicht vorhanden. Der einzige Ansatz zu einer historischen Erzählung großen Stils, in welcher unbewußt und instinktiv Elemente, Ahnungen dieser tragischen Krisenhaftigke it vorhanden sind, Kleists »Michael Kohlhaas«, blieb eine Episode nicht nur in der deutschen Literatur , sondern auch im Scha:ff en des Dichters selbst. So wie seinerzeit Goethe im » Götz von Ber­ lichingen« greift Kleist mit richtigem historischem Gefühl auf eine große Krise der deutschen Geschichte, auf die Reformationszeit, zurück. In beiden Werken entsteht der Konflikt durch den Zusammenstoß der mittelalterlichen Selbsttätigkeit des Individuums (aus der Psychologie und der Moral einer »heroischen Periode « im Sinne von Vico und Hegel) mit der abstrakten Justiz der damals entstehenden modernen Staatlichkeit des Feudalismus. Und es ist für die Beurteilung der deutschen Entwicklung sowohl beim jungen Goethe wie bei Kleist charakteristisch, daß die demokratische Weiterentwicklung der Reformation, der Bauernkrieg, aus dem Gesamtbild herausfällt bzw. nur als negative Tendenz erscheint. Trotz aller politisch-sozial konservativen An­ schauungen Kleists zeigt seine Novelle deutlich die ideologischen Spuren der seit Goethes Jugenddrama abgelaufenen historischen Umwälzung : während bei diesem die Reformation, und mit ihr Luther, ausschließlich eine progres­ sive Seite zeigt, die B efreiung aus der mittelalterlichen Askese und Unfreiheit, treten bei Kleist ihre problematischen, ja ausgesprochen negativen Tendenzen und ihre Verbundenheit mit dem Kleinstaat-Absolutismus in den Vordergrund und werden zu entscheidenden Momenten des zentralen Konflikts. Die einzigartige Stellung dieser Novelle in der deutschen historischen Lite­ ratur beruht nicht zuletzt auf diesem - intuitiven - Weitergehen in der Konkretisierung der wirklichen Problematik der deutschen Geschichte. Diese Einzigartigkeit äußert sich - mutatis mutandis wieder ähnlich wie bei Goethe - darin, daß dieser wichtige Anlauf zur dichterischen Erfassung der deutschen Geschichte auch im Lebenswerk Kleists keine Fortsetzung haben kann. Freilich zieht Goethe bewußt aus dieser Lage alle Konsequenzen : mit Ausnahme des I . und rv. Akts des zweiten Teils von » Faust«, wo das Götz­ motiv, im Kontrast zu seinen bereicherten und vertieften historischen Erfah­ rungen, entsprechen d korrigiert wieder auftaucht, kommt er nicht mehr auf die Thematik der deutschen Geschichte zurück. Kleist dagegen nimmt in sei­ ner Dramatik die verschiedensten Stoffe der deutschen Geschichte auf. Jedoch zeigt die Art seines Herantretens an sie keine Spur der zentralen Progressi­ vität des » Kohlhaas« ; sie sind teils episodisch, nehmen den geschichtlichen Grund nur zum Anlaß, rein persönliche, subjektive Erlebnisse auszudrücken, teils geben sie reaktionäre Antworten auf große Fragen der Geschichte. (Die

82

Die klassische Form des historischen Romans

beiden Motivreihen kreuzen sich zumeist ; man denke an das Nachtwandler­ tum Homburgs.) Die beiden so scharf kontrastierenden Fälle Goethes und Kleists weisen also mit energischer Eindeutigkeit auf die oben angezeigte Armut der deutschen Geschichte. Die herrschende Linie der historischen Dichtung in Deutschland war die der romantischen Reaktion, der apologetischen Verherrlichung des Mittelalters. Diese Literatur setzte, mit Novalis, Wackenroder und Tieck, l ange vor Wal­ ter Scott ein. Der Einfluß Walter Scotts hat hier höchstens die Tendenz zur realistischeren Gestaltung der Details verstärkt, so in der späteren Produk­ tion Arnims und Tiecks. Aber eine wirkliche Wendung hat er nicht hervor­ gebracht und konnte er nicht hervorbringen. Dies vor allem aus politisch­ weltanschaulichen Gründen ; denn es ist aus dem bisher Gesagten klar, daß gerade die bedeutendsten Ausdrucksmittel der Scottschen Komposition und Charakterisierung für die reaktionäre Romantik unmöglich anzueignen und anzuwenden gewesen sind. Reaktionäre Romantiker konnten von Scott bestenfalls Außerlichkeiten lernen. Nicht viel besser steht es um die spätere liberale und liberalisierende Roman­ tik. Tieck hat sich in seiner späteren Entwicklung von vielen subjektivistischen und reaktionären Schrullen seiner Frühzeit freigemacht. Und seine späteren historischen Erzählungen stehen, wenigstens ihrer Tendenz nach, wesentlich höher als die früheren ; insbesondere das große Fragment »Der Aufruhr in den Cevennen«. Jedoch zeigt sich auch hier, daß Tieck sich nichts Wesent­ liches von Walter Scott aneignen konnte. Die ganze Komposition dieses Werkes geht von den religiösen Vorstellung � n des letzten Hugenottenauf­ ruhrs in Frankreich aus. Die religiösen Debatten, die bizarren Formen des mystischen Glaubens, die rein moralischen Probleme des Handelns (Grau­ samkeit oder Milde) , die religiösen Bekehrungen usw. bilden die eigentliche Handlung. Von der Lebensgrundlage der Rebellion, von den Lebens­ problemen des Volkes selbst ist so gut wie nirgends die Rede. Das Leben des Volkes ist nur ein ziemlich abstraktes Illustrationsmaterial für geistige und moralische Konflikte, die sich in einer isolierten Welt »oben « abspielen. Der einzige deutsche Schriftsteller, von dem man mit einigem Recht sagen kann , daß er Walter Scottsche Traditionen vertritt, ist Willibald Alexis. Er ist ein wirklicher Erzähler, mit einer wirklichen Begabung für das historisch Echte in den Sitten und Gefühlen der Menschen. Bei ihm ist die Geschichte viel mehr als Kostüm und Dekoration, sie bestimmt real das Leben, das Denken, Fühlen und Handeln seiner Gestalten. Dementsprechend ist die mit­ telalterliche Welt von Willibald Alexis auch weit entfernt von der reaktio-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik när-romantischen Idyll e. Aber gerade bei diesem begabten und zielklaren Realisten wirkt sich die deutsche Enge der Thematik am stärksten aus. Seine Romane leiden an der historischen Kleinlichkeit der Kämpfe zwischen Adel, Krone und Bürgertum in Preußen. Gerade weil Alexis ein wirklicher histo­ rischer Realist ist, treten diese kleinlichen Züge bei ihm in Handlung und Charakteristik stark hervor und verhindern, daß seine richtig gesehenen und gut dargestellten Werke jene Allgemeinheit und Durchschlagskraft besitzen wie die von Walter Scott selbst. Er bleibt trotz seiner Begabung im Lokalen stecken. Dies wurde schon sehr früh von Gutzkow erkannt. Und ein so auf­ richtiger Verehrer von Al exis wie Theodor Fontane schließt sich vorbehaltlos diesem Urteil an. Er zitiert aus Gutzkow : »Daß aber für ganz Deutschland . . die Verwandlung der märkischen Lokalgeschichte in Reichsgeschichte ein­ treten sollte, kann immer nur ein Traum bleiben.« Fontane faßt diesen Ge­ danken so zusammen : »Wie groß oder wie gering war die historisch-poli­ tische Bedeutung der in diesem Roman geschilderten Vorgänge? Vielleicht nicht ganz gering, aber auch sicherlich nicht allzu groß, und keine Anstren­ gung wird je dahin führen, die Mark zu jenem gelobten Lande zu machen, das von Anfang an, wenn man nur scharf zu sehen verstehe, die Verheißung Deutschlands gehabt habe. Dieser Gedanke aber zieht sich durch alle die Ro­ mane hindurch, während in Wahrheit Kurbrandenburg ein bloßes Reichs­ anhängsel war und die Lehmkatenherrlichkeit unserer Städte in allem, was Reichtum, Macht und Kultur anging , neben dem eigentlichen Deutschland, neben den Reichs- und Hansastädten, verschwand.« Eine ähnliche Ungunst der historischen Thematik besteht auch für Italien. In Italien hat aber Scott einen Nachfolger gefunden, der - allerdings nur in einem einzigen isolierten Werk - seine Tendenzen originell und großartig weitergeführt und Scott selbst in mancher Hinsicht übertroffen hat. Wir meinen selbstverständlich Manzonis »I Promessi sposi« . Walter Scott selbst hat diese Größe Manzonis erkannt. Als Manzoni ihm in Mailand sagte, daß er sein Schüler sei, antwortete Scott darauf : daß in diesem Fall Manzonis Werk sein bestes Werk wäre. Es ist aber sehr charakteristisch, daß, während Scott eine Fülle von Romanen über die englische und schottische Geschichte schreiben konnte, Manzoni sich auf dieses einzige Meisterwerk beschränkt hat. Das liegt sicher nicht an einer Schranke der individuellen B egabung Man­ zonis. Seine Erfindungsgabe für die Fabel, seine Phantasie in der Dar­ stellung von Charakteren der verschiedensten Gesellschaftsklassen, sein Ge­ fühl für die historische Echtheit des inneren wie äußeren Lebens sind denen Walter Scotts zumindest gleichrangig. Ja gerade in der Vielfältigkeit und

Die klassische Form des historischen Romans Tiefe der Charakterisierung, in dem Ausschöpfen aller persönlich-seelischen Möglichkeiten aus großen tragischen Kollisionen ist Manzoni Scott sogar überlegen. Als Gestalter von Individuen ist er ein größerer Dichter als Scott. Als ganz großer Dichter hat er auch jenes Thema gefunden, in welchem die objektive Ungunst der italienischen Geschichte für einen wirklichen histori­ schen Roman, der die Gegenwart heftig bewegen kann, den die Zeitgenossen als Darstellung ihrer eigenen Vorgeschichte erleben können, überwunden wor­ den ist. Er rückt nämlich die extensiv großen historischen Ereignisse noch stärker in den Hintergrund als Walter Scott selbst, obwohl er sie alle mit einer an Scott geschulten historischen Konkretheit der Atmosphäre zeichnet. Aber sein Grundthema ist viel weniger eine bestimmte konkrete historische Krise der nationalen Geschi chte, wie dies bei Walter Scott stets der Fall ist, sondern eher die Krisenhaftigkeit des ganzen Lebens des italienischen Volkes infolge der Zerstückeltheit Italiens, infolge des reaktionär-feudalen Charak­ ters, den die zerstückelten Teile des Landes im Zusammenhang mit ihrem ununterbrochenen Kleinkrieg untereinander und ihrer Abhängigkeit von den großen intervenierenden ausländischen Mächten erhalten haben. Manzon i schildert also unmittelbar allerdings nur eine konkrete Episode aus dem ita­ lien ischen Volksleben, die Liebe, Trennung und Wiedervereinigung eines jungen Bauernburschen und eines Bauernmädels. Die Geschichte wächst aber in seiner Darstellung zur allgemeinen Tragödie des italienischen Volkes im Zustand der nationalen Erniedrigung und Zerstückelung empor. Ohne den konkreten Rahmen des Ortes und der Zeit, der zeit- und klassenbedingten Psychologie der Gestalten je zu verlassen, erwächst dieses Schicksal von Manzonis Liebespaar zu der Tragödie des italienischen Volkes überhaupt. Durch diese großartige und historisch tiefe Auffassung schafft Manzoni einen Roman, der an Eindruckskraft des Menschlichen sogar seinen Meister über­ trifft. Es ist aber aus der inneren Thematik seines Vorwurfs verstän dlich, daß dies ein einziger Roman sein mußte, daß eine Wiederholung nur eine solche im schlechten Sinne hätte sein können. Walter Scott wiederholt sich in seinen gelungenen Romanen nie ; denn die Geschichte selbst, die Darstellung der bestimmten Krise bringt jeweils das Neue hervor. Diese unerschöpfliche Va­ rietät der Thematik hat dem Genie Manzoni die italienische Geschichte nicht gegeben. Die Besonnenheit des Dichters zeigt sich darin, daß er diesen einzigen Weg zur großen Auffassung der italienischen Geschichte eingeschlagen hat, indem er zugleich begriff, daß hier nur eine einzige Vollendung möglich war. Das hatte aber natürlich auch für den Roman selbst seine Konsequenzen.

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik Wir hoben hier jene menschlich-poetischen Züge Manzonis, durch die er in einigen Momenten seiner Gestaltung über Scott hinausgeht, hervor. Aber das Fehlen jenes großen historischen Untergrundes, den Goethe bei Scott bewun­ derte, kann sich unmöglich nur auf das Thematische beschränken. Es hat auch innere künstlerische Folgen : das Fehlen jener weltgeschichtlichen Atmosphäre, die bei Scott auch dann fühlbar ist, wenn er extensiv kleine Clankämpfe dar­ stellt, kommt bei Manzoni als eine gewisse innere Beschränkung des mensch­ lichen Horizonts seiner Gestalten zum Ausdruck. Bei aller menschlichen und historischen Echtheit, bei aller psychologischen Tiefe, die ihnen ihr Dichter verleiht, können sich ihre Lebensäußerungen nicht in jene historisch-typi­ schen Höhen hinaufschwingen, die die Gipfelpunkte von Scotts Werken bil­ den. Gegenüber der heroisd1en Dramatik der Scottschen Jeanie Deans oder Rebekka ist das Schicksal Lucias doch nur eine von außen bedrohte Idylle, und anderersei ts muß an den negativen Gestalten des Romans ein gewisser Zug von Kleinlichkeit haften bleiben, sie können - gerade in ihrer Negativi­ tät - nicht die historischen Schranken der ganzen Periode und mit ihnen auch die der positiven Gestalten dialektisch aufdecken, wie dies z. B. beim Tempelritter in » I vanhoe « der Fall ist. Ganz anders steht es um die Möglichkeiten des historischen Romans in dem damals zurückgebliebensten Lande Europas, in Rußland. Trotz ökonomischer, politischer und kultureller Rückständigkeit hat hier der zaristische Abso­ lutismus die nationale Einheit geschaffen und gegen die ausländischen Feinde verteidigt. Dadurch können die hervorragenden Vertreter des Zarismus, be­ sonders, wenn sie zugleich Vertreter der Einführung der westlichen Kultur in Rußland gewesen sind, Gestalten für einen historischen Roman abgeben, den auch die zeitlich wei t entfernte, sozial, politisch wie kul turell ganz anderen Zielen entgegengehende Gegenwart als ihre eigene Vorgeschichte , als reale Grundlage ihrer eigenen Existenz empfinden konnte. So weist der Gesamt­ verlauf der russischen Geschichte in nationaler Hinsicht nicht jene Klein­ lichkeit der Verhältnisse auf wie der der deutschen oder italienischen. Diese historische Großzügigkeit des nationalen Lebens gibt auch den großen Klas­ senkämpfen einen bedeutenden historischen Hintergrund, ein bedeutendes historisches Ausmaß. Die B auernaufstände der Pugatschow, Stjenka Rasin haben eine tragisch-historische Größe, wie sie in diesem Maßstabe wenige Bauernaufstände des westlichen Europa gehabt haben. Höchstens der deutsche B auernkrieg übertrifft sie an tragisch-historischer Großartigkeit, als Schicksals­ moment des deutschen Volkes, in welchem die Rettung aus der nationalen Erniedrigung, die Herstellung der nationalen Einheit wenigstens als Per-

86

Die klassische Form des historischen Romans

spektive am Horizont aufgetaucht ist, um freilich mit der Erstickung des Bauernaufstandes tragisch unterzugehen. Es ist also kein Zufall, daß gerade in Rußland die epochemachende Wendung in der Gestaltung der Geschichte durch Walter Scott vielleicht am rasche­ sten und tiefsten in ganz Europa begriffen wurde. Puschkin und später Be­ linskij geben - neben Balzac - die richtigste und tiefschürfendste Analyse der neuen Prinzipien der Scottschen historischen Dichtung. Besonders Pusch­ kin versteht vom ersten Moment an mit unfehlbarer Klarheit den diametra­ len Gegensatz zwischen Scott und dem pseudohistorischen Roman der franzö­ sischen Romantiker. Er nimmt sehr scharf den Kampf gegen jede Form der Modernisierung der historischen Gestaltung auf, gegen die Manier, die Ver­ gangenheit der Gegenwart dadurch nahezubringen, daß einzelne Anspielun­ gen auf gegenwärtige Erscheinungen in historischem Kostüm auftauchen, daß die Personen trotz ihres historischen Kostüms moderne Empfindungen haben : »Die gotischen Heroinen sind bei Madame Camman erzogen, und die Staats­ männer des 16. Jahrhunderts lesen die Times und das Journal des Debats.«­ Puschkin bekämpft auch die romantische Manier Vignys und Victor Hugos, » große Männer« in den Mittelpunkt ihrer historischen Darstellungen zu versetzen und diese dann durch historisch beglaubigte oder gar selbsterfun­ dene Anekdoten zu charakterisieren. So gibt er eine ironische und vernichtende Charakteristik der Gestalt Miltons in Hugos » Cromwell« und Vignys »Cinq­ Mars«. Er kontrastiert hier sehr scharf die hohle romantische Effekt­ hascherei mit der tiefen und echten historischen Einfachheit Walter Scotts. Puschkins historischer Roman »Die Hauptmannstochter « und sein Roman­ fragment »Der Mohr Peters des Großen « zeigen ein sehr tiefes Studium der Kompositionsprinzipien Walter Scotts. Freilich ist Puschkin nie ein einfacher Schüler von Scott. Denn sein Studium Scotts, seine Übernahme von dessen Kompositionsprinzipien ist primär keineswegs eine bloße Formfrage. D er große Einfluß Walter Scotts auf Puschkin beruht, im Gegenteil, vor allem darauf, daß er dadurch seine auch früher vorhandene Tendenz zur konkre­ ten Volkstümlichkeit zu verstärken instand gesetzt wurde. Wenn also Pusch­ kin seine historischen Romane ebenso komponiert wie Walter Scott, nämlich mit einem »mittleren Helden« als Hauptgestalt und mit der historisch be­ deutenden Figur als Episodenerscheinung der Fabel, so entsteht diese ähn­ liche Komposition aus der Verwandtschaft der Lebensgefühle. Puschkin wollte, ebenso wie Scott, in seinen historischen Romanen große, krisenhafte Wende­ punkte des Volkslebens schildern. Auch für ihn war die Erschü tterung des materiellen und moralischen Volkslebens nicht nur der Ausgangspunkt, son-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik dem auch die zentrale Aufgabe der Gestaltung. Auch für ihn war der große Mensch in der Geschichte nicht isoliert, nicht an und für sich, nicht infolge einer rätselvollen psychologischen » Großartigkeit« bedeutend, sondern als Repräsentant wichtiger Strömungen im Volksleben. Auf dieser Grundlage gestaltet Puschkin in Pugatschow und Peter I. unvergeßliche, bedeutende historische Gestalten mit hinreißender geschichtlicher Echtheit und mensch­ licher Wahrhaftigkeit. Und die künstlerische Grundlage für diese Größe bil­ det auch bei ihm die Schilderung der entscheidenden Züge des Volkslebens in ihrer realen historischen Kompliziertheit und Verschlungenheit. Auch darin folgt Puschkin Scott, daß er seine »mittleren« Helden in der historischen Krise in große menschliche Konflikte bringt, ihnen außerordentliche Proben und Aufgaben aufbürdet, um in diesen zugespitzten Situationen ihr Hinaus­ wachsen über ihre bisherige Durchschnittlichkeit zu gestalten, um das mensch­ lich Echte und Wahre an ihnen, das menschlich Echte und Wahre des Volkes, sinnfällig zur Anschauung zu bringen. Aber Puschkin ist keineswegs ein einfacher Nachfolger Scotts. Er schafft einen historischen Roman ästhetisch höheren Typus als sein Meister. Wir haben dabei das Wort » ästhetisch« nicht zufällig betont. Denn in der Auffassung der Geschichte selbst geht Puschkin auf den Wegen Scotts weiter ; er wendet dessen Methode auf die russische Geschichte an. Aber so wie Manzoni , wenn auch der Persönlichkeit der beiden Dichter und der Verschiedenheit der ver­ schiedenen Länder entsprechend in anderer Weise, geht er in der künstleri­ schen Menschengestaltung, in der ästhetischen Gestaltung der Fabel über Scott hinaus . Denn wie genial Walter Scott in den großen historischen Umrissen seiner Fabel, in der tiefen gesellschaftlich-geschichtlichen Psychologie seiner Gestal­ ten auch ist, als Künstler steht er vielfach nicht auf dieser seiner eigenen Höhe. Ich denke dabei weniger an die oft banale und konventionelle Charakte­ ristik besonders seiner Hauptgestalten, sondern vor allem an die letzte künst­ lerische Durcharbeitung aller Details, an das durchgehende Entlocken der verborgenen menschlichen Schönheiten in den einzelnen Lebensäußerungen seiner Figuren. In solchen Fragen ist Walter Scott oft - mit dem Maßstab eines Goethe oder Puschkin gemessen - etwas leichtfertig und oberflächlich. Sein genialer Blick läßt ihn in den geschichtlichen Begebenheiten eine fast unübersichtliche Fülle von historisch und sozial richtigen, von menschlich be­ deutenden Zügen entdecken. Aber er begnügt sich nun oft damit, das so Gesehene episch übersichtlich und gefällig, mit spontaner Erzählerfreude wie­ derzugeben, und geht in künstlerischer Hinsicht nicht weiter. (Daß hinter

88

Die klassische Form des historischen Romans

dieser genialen Spontaneität ein reiches und tiefes historisches Wissen, eine bedeutende Lebenserfahrung usw. stehen, braucht, glauben wir, nicht mehr besonders hervorgehoben zu werden.) Puschkin geht aber über diese Stufe des Sehens und des B earbeitens der Wirklichkeit hinaus. Er ist nicht nur ein Dichter, der die Welt reich und rich­ tig sieht - das tut auch Walter Scott -, sondern zugleich und vor allem ein Künstler, ein Dichter-Künstler , wie Belinskij gesagt hat. Es wäre aber sehr oberflächlich, dieses Künstlertum Puschkins nur im Sinne der künstlerischen Arbeit, des rastlosen Strebens nach Schönheit (oder gar, wie es noch heute zuweilen geschieht, im Sinne des modernen Asthetentums) aufzufassen. Die Sehnsucht nach Schönheit, nach künstlerischer Vollendung der Werke ist bei Puschkin viel tiefer und menschlicher. Es ist bei Puschkin wieder eine reine Menschlichkeit vorhanden , die aber nicht so wie die Goethes einer vorscott­ schen Periode der Geschichtsauffassung angehört, sondern die in keinem Moment das historisch Bedingte, die zeit- und klassenmäßige Bestimmtheit verläßt und doch durch die ästhetisch klare und einfache Linienführung, durch die klassische Beschränkung der Fabel und der Psychologie auf das menschlich Notwendige (ohne die historische Konkretheit aufzugeben) alles Geschehen in die Sphäre der Schönheit erhebt. Diese Schönheit bei Puschkin ist nicht bloß ästhetisches oder gar ästhetizistisches Prinzip. Sie geht nicht von abstrak­ ten Formforderungen aus, sie beruht nicht auf einer Abtrennung des Dichters vom Leben, sondern ist, im Gegenteil, der Ausdruck einer ganz tiefen und nicht erschütterten Verbundenheit des Dichters mit dem Leben. Die Beson­ derheit der russischen Entwicklung hat dieses einmalige klassische Zwischen­ stadium in der modernen Kunst möglich gemacht : eine Kunst auf der ideo­ logischen Höhe der ganzen bisherigen europäischen Entwicklung, eine Kunst, die inhaltlich die Problematik des Lebens in sich aufgearbeitet hat, ohne doch gezwungen zu sein, entweder durch diese Problematik die Reinheit ihrer künstlerischen Linienführung, ihrer Schönheit zu zerstören oder um der Schönheit willen sich vom Reichtum des Lebens abzuwenden. Die Puschkinsche Periode ist in der ganzen russischen Literatur bald von anderen Strömungen abgelöst worden. In seiner Schönheitsgestaltung bleibt Puschkin eine alleinstehende Gestalt nicht nur in der russischen Literatur. Sein großer jüngerer Zeitgenosse, Gogol, geht an den historischen Roman voll­ kommen anders heran als er. Gogols große historische Erzählung »Taras Bulba« setzt die wichtigste thematische Linie der Produktion Scotts fort : die Gestaltung des tragischen Unterganges der vorkapitalistischen Gesellscha ften, des Untergangs des Gentilwesens. Gogols Erzählung bringt in doppelter Hin-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik sieht Scott gegenüber neue Elemente der Gestaltung, oder besser gesagt : be­ tont bestimmte Seiten dieser Thematik prägnanter, als es Scott selbst getan hat. Vor allem ist das grundlegende Thema des Werkes , der Kampf der Kosaken mit den Polen, nationaler, einheitlicher, eposartiger als die The­ matik von Scott selbst. Gogol findet in der historischen Wirklichkeit selbst die Möglichkeit zu dieser großartigeren, eposartigeren Gestaltung, denn die Welt seiner Kosaken kann selbständiger und einheitlicher auftreten und han­ deln als die in eine höherentwickelte Kultur eingezwängten schottischen Clans bei Scott, die objektiv immer nur ein Spielball der entscheidenden Klassen­ kämpfe Englands und Schottlands gewesen sind. Daraus erwächst eine groß­ artige, mitu nter fast homerische, national-epische Breite der Thematik, deren Möglichkeit Gogol als ganz großer Künstler zu erschöpfen imstande ist. Aber Gogol ist bei alledem doch ein moderner Dichter, der die tragische Notwendigkeit des Unterganges der Kosakenwelt vollständig versteht. Er gestaltet diese Notwendigkeit in einer sehr eigenartigen Weise, indem er in die großzügig epische Komposition des Ganzen eine fast dramatisch konzen­ trierte tragische Katastrophe einbaut, die Tragödie eines Sohnes des Haupt­ helden, der aus Liebe zu einer polnischen Aristokratin zum Verräter an sei­ nem Volk wird. Schon Belinskij hat bemerkt, daß hier ein dramatischeres Motiv vorhanden ist als im allgemeinen bei Scott. Und doch hebt diese Steigerung des Dramatischen den großzügig epischen Grundcharakter des Ganzen nicht auf. Gogol versteht mit der Sparsamkeit der Linienführung eines wirklichen Meisters diese tragische Episode als Episode ins Ganze orga­ nisch einzubauen und doch fühlbar zu machen, daß es sich hier nicht um einen individuellen Fall handelt, sondern um das Grundproblem der An­ steckung einer primitiven Gesellschaft durch die umgebende entwickeltere Kultur, um eine Tragödie des notwendigen Untergangs dieser ganzen Formation. Die entscheidenden geistigen Kämpfe um den historischen Roman , die ent­ scheidenden Schritte in seiner Weiterentwicklung spielen sich jedoch in Frank­ reich ab, obwohl in der französischen Literatur dieser Zeit kein einziger hi­ storischer Roman geschrieben wurde, der eine derartige Weiterbildung Scott­ scher Tendenzen zeigen würde wie die Romane von Manzoni oder Puschkin, von Cooper oder Gogol. Aber einerseits ist der historische Roman der Romantik in Frankreich mit bedeutenderen Gestalten hervorgetreten als sonst in Europa, und andererseits bewegt sich auch die theoretische Formulierung des romantischen historischen Romans auf einer prinzipielleren Höhe als in

Die klassische Form des historischen Romans den anderen Ländern. Das ist kein Zufall, sondern die notwendige Folge da­ von, daß gerade in der Restaurationsperiode in Frankreich der Kampf um die progressive oder reaktionäre Auffassung der Geschichte viel unmittelbarer das zentrale soziale und politische Problem der ganzen nationalen Entwicklung war als irgendwo sonst. Wir können hier selbstverständlich diesen Kampf nicht in extenso historisch darstellen. Wir greifen nur, um den Gegensatz ganz scharf zu beleuchten, das bezeichnendste theoretische Manifest der romantischen Richtung im histo­ rischen Roman heraus, wir analysieren den Aufsatz Alfred de Vignys »über die Wahrheit in der Kunst«, der als Vorwort zu seinem Roman » Cinq-Mars « erschienen ist. Vigny geht von der Tatsache der außerordentlichen Verbreitung des histo­ rischen Romans, überhaupt der Beschäftigung mit der Geschichte aus. Er faßt diese Tatsache durchaus im romantischen Sinne auf. Er sagt : »Wir haben alle unsere Augen auf unsere Chroniken gerichtet, als ob wir, erwachsen geworden und großen Ereignissen entgegengehend, für einen Moment stillstehen wür­ den, um uns über unsere Jugend und über ihre Irrtümer Rechenschaft zu gebenf( (von mir hervorgehoben, G. L.). Diese Erklärung ist politisch und ideologisch von außergewöhnlicher Wichtigkeit. Denn Vigny spricht hier mit großer Offenheit das Ziel der romantischen Geschichtsschreibung aus : die männliche Reife, die Frankreich infolge der Revolutionskämpfe erreicht hat, gestattet einen Rückblick auf die Irrtümer der Geschichte. Die Beschäftigung mit der Geschichte dient dazu, diese Irrtümer aufzudecken, um sie in der Zukunft zu vermeiden. Ein solcher Irrtum ist selbstverständlich für Vigny vor allem die Französische Revolution. Aber Vigny, wie sehr viele franzö­ sische Legitimisten, sieht die Geschichte so weit klar, daß er in der Französi­ schen Revolution kein isoliertes plötzliches Ereignis sieht, sondern vielmehr die letzte Konsequenz der » Jugendirrtümer« der französischen Entwicklung : der Vernichtung der Selbständigkeit des Adels durch die absolute Monarchie, der Förderung der Macht des Bürgertums und mit ihr des Kapitalismus durch diese. Und er geht in seinem Roman bis zur Zeit Richelieus zurück, um die historischen Quellen dieses » Irrtums« gestalterisch aufzudecken. In der Fest­ stellung der Tatsache selbst ist zwischen Vigny und den progressiven I deo­ logen kein unüberbrückbarer Gegensatz. Balzac betrachtet Catherina v. Me­ dici als Vorläuferin von Robespierre und Marat, und Heine stellt einmal witzig Richelieu, Robespierre und Rothschild als die drei Umwälzer der fran­ zösischen Gesellschaft zusammen. Das romantische, pseudohistorische Prinzip bei Vigny besteht »bloß « darin, daß er hier einen » I rrtum« der Geschichte

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik erblickt, den man durch richtige Einsicht wiedergutmachen könne. Er gehört damit zu jenen bornierten Ideologen der Restaurationszeit, die nicht sehen, wie unter der Hülle der Wiederherstellung der legitimen Herrschaft des Königtums und des Adels die mit dem Thermidor vehement einsetzende Ent­ wicklung des französischen Kapitalismus sich in gerader Linie stürmisch auf­ wärtsbewegt. (Es ist ein wesentliches Kennzeichen der Genialität Balzacs, daß er diese ökonomische Wirklichkeit der Restaurationsperiode vollständig er­ kannt und in ihrer ganzen Kompliziertheit gestaltet hat.) Diese Auffassung , daß die neuere französische Geschichte ein großer Weg zum »Irrtum« der Revolution gewesen ist, ist selbstverständlich nicht nur eine Beurteilung des sozialen Inhalts dieser Entwicklung, sondern enthält in sich die ganze Methodologie des Herangehens an die Geschichte, die ganze Auf­ fassung von Subjektivität oder Objektivität der Geschichte. Vigny gibt sich, wie jeder echte Schriftsteller, mit den unmittelbar empirisch gegebenen Tat­ sachen nicht zufrieden. Aber er vertieft sich nicht in diese Tatsachen, um ihnen ihre inneren Zusammenhänge abzulauschen und dann Fabel und Charaktere zu finden, die diesen inneren Zusammenhang besser ausdrücken könnten, als es das unmittelbar Vorgefundene kann. Er geht an die Tatsachen der Ge­ schichte mit einem subjektivistischen, moralischen Apriori heran, dessen In­ halt eben der Legitimismus ist. Er sagt über die Tatsachen der Geschichte : »Es fehlt ihnen immer eine greifbare und sichtbare Verknüpfung, die unmittelbar zu einer moralischen Konklusion führen könnte. « Der Mangel der histori­ schen Tatsachen besteht also nach Vigny darin, daß sie keine hinreichend ein­ leuchtende Unterstützung für die moralischen Wahrheiten des Verfassers bie­ ten können. Von diesem Standpunkt aus verkündet Vigny die Freiheit des Schriftstellers zur Umwandlung der historischen Tatsachen, der historisch handelnden Menschen. Diese Freiheit der dichterischen Phantasie besteht darin, daß » die Wahrheit der Tatsachen vor der Wahrheit der Idee zurück­ treten müsse, welche jede von ihnen (der historischen Figuren, G. L.) in den Augen der Nachwelt repräsentieren muß «. Auf diese Weise entsteht bei Vigny ein ausgesprochener Subjektivismus gegen­ über der Geschichte, der sich zuweilen bis zur Auffassung der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Außenwelt steigert. »Dem Menschen ist«, sagt Vigny, »keine andere Erkenntnis gegeben als die seiner selbst. « D aß Vigny diese extrem-subjektivistische Auffassung nicht konsequent durchführt, ändert an ihren Folgen sehr wenig, da die Prinzipien der Objektivität, bei denen er eine Stütze sucht, ihrerseits rein irrationell und mystisch sind. Denn was hilft es, wenn er hinzufügt, daß nur Gott das Ganze der Geschichte begreifen

Die klassische Form des historischen Romans könne? Was hilft es, daß er eine unbewußte Arbeit der Volksphantasie in der Bearbeitung der Geschichte annimmt, wenn diese Arbeit in nichts anderem besteht als in dem Entstehenlassen von »geflügelten Worten « oder histori­ schen Anekdoten von der Art der Hinrichtung Ludwigs XVI., wo gesagt wor­ den sein soll : » Sohn des heiligen Ludwig, steige in den Himmel? « D enn durch diese angebliche Arbeit der Volksphantasie wird die geschichtliche Wirklich­ keit zu einer zusammenhangslosen Reihe von Fiktionen verarbeitet. Das ist nach Vigny ein wertvoller Prozeß : » Die bearbeitete Tatsache ist immer besser komponiert als die wirkliche . . . und zwar deshalb, weil die ganze Menschheit das Bedürfnis hat, daß ihre Schicksale ihr in der Form einer Reihe von Lek­ tionen dargelegt werden. « E s ist nach diesen Prinzipien ohne weiters verständlich, da ß Vigny ein prin­ zipieller Gegner der Scottschen Komposition der historischen Romane ist. »Ich glaube auch , daß ich jene Fremden (gemeint ist Walter Scott, G. L.) nicht nachzuahmen brauche, die in ihren Gemälden die beherrschenden Gestalten der Geschichte kaum am Horizont aufzeigen. Ich habe die unseren ganz in den Vordergrund gerückt, ich habe aus ihnen die Hauptakteure dieser Tra­ gödie gemacht . . . « Die künstlerische Praxis Vignys zeigt volle Überein­ stimmung mit dieser Theorie. Tatsächlich sind die großen historischen Figuren der Epoche die Helden seiner Romane, und tatsächlich sind sie, der »Arbeit der Volksphantasie« entsprechend, durch eine Serie pittoresk gemachter und von moralistischen Reflexionen begleiteter Anekdoten dargestellt. Die deko­ rative Modernisierung der Geschichte dient zur Illustration einer aktuellen politischen und moralischen Tendenz. Wir haben diese Schrift Vignys darum herangezogen, weil in ihr die spezifischen Tendenzen der Romantik im histo­ rischen Roman am prägnantesten zum Ausdruck kommen. Aber der mensch­ lich wie dichterisch unvergleichlich bedeutendere Victor Hugo baut seine historischen Romane im wesentlichen nach demselben Prinzip der dekorativen Subjektivierung und Moralisierung der Geschichte auf, auch lange nachdem er mit den politischen Prinzipien des reaktionären Legitimismus gebrochen hat und der dichterisch-ideologische Führer von liberalen Oppositonsbewe­ gungen geworden ist. Für seine Auffassung dieser Probleme ist seine Kritik an Scotts »Quentin Durward« außerordentlich charakteristisch. Er steht als bedeutender Mensch und Dichter zu Scott selbstverständlich viel positiver als Vigny. Ja er erkennt die realistisch zeitgemäßen Tendenzen der Scottschen Kunst, Scotts Erkenntnis der herrschenden »prosa« vollständig klar. Aber gerade diese große realistische Seite des Scottschen historischen Romans hält er für jenes Prinzip, das durch seine Praxis, durch die Praxis der Romantik,

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

93

überwunden werden soll. »Nach dem pittoresken, aber prosaischen Roman Walter Scotts bleibt noch ein anderer Roman zu schaffen, der nach unserer Auffassung schöner und vollständiger ist. Es ist der Roman, der gleichzeitig Drama und Epopöe ist, pittoresk, aber poetisch, real , aber ideal, wahr, aber monumental, der Walter Scott zu Homer zurückführen wird. « Es ist jedem Kenner der historischen Romane Victor Hugos klar , daß er hier nicht nur eine Kritik Scotts gibt, sondern ein Programm seiner eigenen dichterischen Tätigkeit entwirft. Indem er » die Prosa« Scotts verwirft, verzichtet er auf die einzig mögliche reale Annäherung an die epische Größe, auf die wahr­ heitsgetreue Gestaltung solcher Volkszustände und Volksbewegungen, solcher Krisen im Volksleben, die in sich die immanenten Elemente zur eposartigen Größe enthalten. Dagegen ist die romantische »Poetisierung« der historischen Wirklichkeit stets eine Verarmung dieser eigentlichen, spezifischen, wirklichen Poesie des historischen Lebens . Victor Hugo geht politisch und sozial über die reaktionären Zielsetzungen seiner romantischen Zeitgenossen weit hinaus . Aber ihren moralisierenden Subj ektivismus behält er mit veränderten politi­ schen wie sozialen Inhalten doch bei. Auch bei ihm verwandelt sich die Ge­ schichte in eine Reihe moralischer Lektionen für die Gegenwart. Es ist sehr charakteristisch, daß er gerade das hier besprochene Werk Scotts, ein Muster der objektiven Darstellung kämpfender historischer Mächte, mit seiner Inter­ pretation in eine moralisierende Fabel, die die Überlegenheit der Tugend über das Laster nachweisen soll, verwandelt. Selbstverständlich gibt es im damaligen Frankreich auch starke antiroman­ tische Tendenzen. Es ist aber nicht immer so , daß diese Tendenzen geradewegs und einfach zur neuen Auffassung der Geschichte und mit ihr zur Weiter­ führung des neuen historischen Romans übergehen würden. Gerade in Frank­ reich hat sich die Tradition der Aufklärung viel stärker und lebendiger er­ halten als in irgendeinem anderen Land. Gerade sie leistete dem romantischen Obskurantismus den schärfsten ideologischen Widerstand, gerade sie vertei­ digte am energischsten die Traditionen des 1 8 . Jahrhunderts und mit ihnen die der Revolution gegen die Ansprüche der Restaurationsromantik. (Diese Traditionen sind in Frankreich sehr stark und vielfältig. Da die Aufklärung auch ihren höfisch vornehmen Flügel gehabt hat, sind sie, wie dies Marx in bezug auf Chateaubriand bemerkt hatte, auch in der Romantik wirksam ; der Leser wird im Ahistorismus Vignys manche solche verwandelten Elemente der Aufklärung finden.) Selbstverständlich sind die bedeutenden Vertreter der Traditionen der Aufklärung von der neuen Lage und ihren Aufgaben nicht unberührt geblieben. Ihr Kampf gegen die Reaktion mußte deshalb

94

Die klassische Form des historischen Romans

einen bewußteren historischen Charakter an sich tragen, als ihn die Auffas­ sungen der alten Aufklärer besaßen. Aber in dieser Auffassung leben doch entweder starke Elemente eines gradlinig progressiven Verständnisses des Fortschritts der Menschheit oder Tendenzen zu einem allgemeinen Skeptizis­ mus gegenüber der » Vernünftigkeit« der Geschichte. Die bedeutendsten Vertreter der Weiterführung der Traditionen der Auf­ klärung in dieser Periode sind Stendhal und Prosper Merimee. Wir können hier ihre Anschauungen nur in bezug auf das Problem des historischen Romans untersuchen. Merimee hat seine Anschauungen im Vorwort seines historischen Romans »Chronique du Regne de Charles IX. « sowie in einem Kapitel dieses Romans, in einem Dialog zwischen Autor und Leser, klar auseinandergesetzt. Er nimmt in der schärfsten Form Stellung gegen die romantische Auffassung des historischen Romans, daß in diesem die großen Figuren der Geschichte die Haupthelden abgeben müssen. Er verweist diese Aufgabe in das Gebiet der Geschichtsschreibung. Er verspottet den Leser, der den romantischen Tra­ ditionen entsprechend fordert, daß Karl IX . oder Catherina v. Medici in allen ihren Privatzügen den dämonischen Stempel an sich tragen müssen. So for­ dert der Leser im Dialog in bezug auf Catherin a: »Laß sie wenigstens ein paar bemerkenswerte Worte sagen. Sie hat gerade Jeanne d'Albert vergiftet oder wenigstens ist über sie dieses Gerücht verbreitet, und dies müßte sich an ihr zeigen. « Der Autor antwortet: »Keine Spur; denn wenn dies sich zeigen würde, wo wäre ihre so berühmte Heuchelei? « Mit diesen und ähnlichen Bemerkungen verspottet Merimee sehr richtig die romantische Monumenta­ lisierung und Entmenschlichung der historische� Gestalten. Es ist also hier ein sehr ernster Versuch vorhanden, den historischen Roman auf der Grundlage der u nvoreingenommenen Erforschung des wirklichen Lebens der Vergangenheit weiterzuführen. Der Gegensatz zur reaktionären Romantik ist in allen Punkten augenscheinlich. Freilich auch ein ebenso schar­ fer Gegensatz zu den klassizistischen Konventionen, und zwar sowohl zu der rhetorisch-heroisierenden Darstellungsweise der geschichtlichen Helden wie zu den beengenden Überlieferungen der Formgebung, die eine wahrheits­ getreue Wiedergabe des historischen Lebens verhindern. Aus dieser Gegen­ sätzlichkeit heraus ist das zeitweilige literarische Zusammengehen Merimees und seiner Freunde mit einem Teil der Romantiker möglich geworden. Aber ihre gemeinsame Opposition gegen die Schranken des Klassizismus, ihre ge­ meinsame scharfe Kritik an diesem darf die inneren Gegensätze zwischen den Verbündeten nicht verdunkeln. Auch nicht die weltanschaulichen und literarischen Gegensätze im progres-

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

95

siven Lager, die Verschiedenheit i n der Auffassung der Geschichte , i n der Art ihrer literarischen Bearbeitung, ihrer Verwertung für die Verteidigung des Fortschritts gegen die Reaktion. Wir haben auf die Verwurzelung Merimees und seiner Freunde in den philosophischen Traditionen der Aufklärung be­ reits hingewiesen. In bezug auf den historischen Roman hat dies die nach­ teilige Folge, daß der Dualismus zwischen empirischer Wirklichkeit und ab­ strakter, allgemeiner Gesetzlichkeit weltanschaulich wie künstlerisch unauf­ gehoben bleibt. Das heißt : Merimee will aus der Geschichte allgemeine, für alle Zeiten (darunter auch für die Gegenwart) gültige Lehren ziehen, er zieht sie aber direkt aus der scharfen, auf Einzelheiten orientierten Beobach­ tung der empirischen Tatsachen der Geschichte, nicht aus dem Ablauschen jener spezifischen, konkreten Modifikationen der Gesetzlichkeiten des Lebens, der Struktur der Gesellschaft, der Beziehungen der Menschen zueinander usw., aus denen Walter Scott - der allgemeinen, methodologischen Trag­ weite seiner Entdeckungen freilich unbewußt - den Realismus seiner Ge­ schichtsbilder geschöpft hatte. Merimee ist also empiristischer, stärker an Einzelzügen, an Details haftend als Walter Scott, und er zieht zugleich aus den historischen Tatsachen unmittelbarer allgemeine Folgerungen als dieser. Der Empirismus zeigt sich vor allem darin, daß Merimee die historischen Begebenheiten nicht aus der Entfernung des heutigen Erzählers darstellt , als je eine Etappe der Vorgeschichte der Gegenwart, wie es Walter Scott tat, sondern vielmehr die intime Nähe und Vertrautheit des zeitgenössischen Beobachters erstrebt, der auch die zufälligen, die vorüberhuschenden Details erlauscht. Vitet, der Mitstreiter und Freund des jungen Merimee, dessen historische Szenenfolgen, besonders die » Jacquerie«, ihn stark beeinflußt haben, spricht diese Absicht in einem Vorwort sehr deutlich aus : » Ich habe mir vorgestellt, daß ich in Paris im Mai r 5 88 herumspaziere, während des stürmischen Tages der Barrikaden und der Tage, die ihm vorangegangen, ich bin nacheinander in die Säle des Louvres, in die des H8tel de Guise eingetreten, in die Schenken, in die Kirchen, in die Wohnungen der Bürger, die zu den Parteien der Liga, der Politiker oder der Hugenotten gehört haben, und jedesmal, wenn sich meinen Augen eine pittoreske Szene, ein Bild der Sitten, ein Charakterzug darbot, habe ich ihr Abbild festzuhalten gesucht, indem ich eine Szene skizzierte . Man fühlt, daß daraus nur eine Serie von Porträts entstehen konnte, oder, um wie die Maler zu sprechen, Studien, Skizzen, die kein Recht haben, ein anderes Verdienst als das der Xhnlichkeit zu beanspruchen. « Vitet hat diese Bemerkungen i m Hinblick auf seine dramatischen Szenen aus

Die klassische Form des historischen Romans der Geschichte gemacht. Auf die Konsequenzen solcher Anschauungen für das historische Drama - und die » Jacquerie« Merimees stellt einen Versuch in dieser Richtung dar - werden wir später zu sprechen kommen. Der histo­ rische Roman Merimees folgt unmittelbar auf diese dramatischen Versuche, zeigt aber eine größere, bewußtere stilistische Konzentration. Diese bezieht sich jedoch wesentlich auf den rein l iterarischen Ausdruck und bedeutet keine wirkliche Annäherung an die klassische Auffassungsweise des historischen Romans. Merimee konzentriert hier novellistisch-anekdotisch. Er sagt in seinem von uns bereits zitierten Vorwort : »Ich liebe in der Geschichte nur die Anekdoten, und unter diesen ziehe ich jene vor, in welchen ich ein echtes Bild der Sitten und Charaktere der gegebenen Epoche zu finden meine. « Me­ moiren geben ihm deshalb mehr als Geschichtswerke, denn diese sind intime Unterhaltungen der Verfasser mit ihren Lesern und geben deshalb das Bild der Zeit in jener Nähe, in jener Intimität der unmittelbaren Beobachtung, worin Merimee - wie auch Vitet - das Entscheidende in der Geschichts­ darstellung sieht. So ist die Auffassung Merimees selbst doch nicht die Erkenntnis der kon­ kreten und komplizierten Verschlungenheit des historischen Prozesses selbst. Indem er die historisch führenden Gestalten mit richtiger Skepsis entheroi­ siert , privatisiert er zugleich den Geschichtsverlauf. Er gestaltet in seinem Roman das rein private Schicksal mittlerer Menschen und will durch Gestal­ tung dieser privaten Schicksale die Sitten der Zeit realistisch darstellen. Dies gelingt ihm in den D etails auch vortrefflich. Seine Fabel aber hat zwei Schwächen, die beide mit seiner skeptisch-aufk� ärerischen Haltung aufs engste zusammenhängen. Einerseits ist die Privatgeschichte nicht eng genug mit dem wirklichen Volksleben verbunden, sie spielt sich in ihren wesentl ichen Momenten zu sehr in den höheren gesellschaftlichen Regionen ab und wird dadurch zu einer feinen psychologischen Schilderung der Sitten dieser Klassen, ohne ihren Zusammenhang mit den wirklichen, entscheidenden Problemen des Volkes klarzumachen . Die entscheidenden ideologischen Fragen der Epo­ che, vor allem der Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus, erschei­ nen dadurch als rein ideologische Probleme, und dieser ihr Charakter wird durch die im Laufe der Handlung klar hervortretende skeptisch antireligiöse Stellung des Verfassers nur noch mehr unterstrichen. Andererseits, und im engen Zusammenhang damit, besteht zwisd1en dem großen historischen Er­ eignis, das Merimee darstellen will, der Bartholomäusnacht, und den pri­ vaten Schicksalen der Haupthelden keine wirklich organische Verbindung. Die Bartholomäusnacht hat hier ein wenig den Charakter einer Cuvierschen

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

97

»Naturkatastrophe« ; die historische Notwendigkeit ihres Seins und Soseins ist von Merimee nicht gestaltet. Hinter der Skepsis Merimees steckt eine tiefe Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft der Restaurationsperiode, die aus ihrer »heroischen Periode«, der Aufklärung und der Revolution, herausgewachsen ist. Die Sittenschilde­ rung Merimees ist deshalb ein solcher ironischer Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit, freilich, im schroffen Gegensatz zur Romantik , mit einer ganz anderen Beurteilung beider. Merimee sagt in seinem Vorwort : »Es scheint mir interessant, diese Sitten (der Periode der Bartholomäusnacht, G. L.) mit den unseren zu vergleichen und in den letzteren den Niedergang der energischen Leidenschaften zugunsten der Ruh e und vielleicht des Glückes zu beobachten. « Hier ist die enge Berührung zwischen der Geschichtsauffassung Merimees und derjenigen Stendhals handgreiflich. Stendhal ist in der französischen Literatur der letzte großer Vertreter der heroischen Ideale der Aufklärung und der Revolution. Seine Kritik der Gegenwart, seine Darstellung der Vergangenheit beruhen im wesentlichen auf dieser kritischen Kontrastierung der beiden großen Entwicklungsetappen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Unerbittlichkeit dieser Kritik hat ihre Wurzeln in der lebendigen Erlebtheit der vergangenen heroischen Periode, in dem trotz aller Skepsis nicht er­ schütterten Glauben, daß die Entwicklung doch zu einer Wiedererneuerung dieser großen Periode führen werde. So ist die Leidenschaft und die Richtig­ keit der Gegenwartskritik Stendhals aufs engste mit der aufklärerischen Schranke seiner Geschichtsauffassung verbunden, mit seiner Unfähigkeit, das Ende der »heroischen Periode« der bürgerlichen Entwicklung als historische Notwendigkeit einzusehen. Aus dieser Quelle stammt ein gewisser abstrakter Psychologismus seiner bedeutenden historischen Gestaltungen ; eine Verehrung der großen, ungebrochenen und heroischen Leidenschaft an und für sich. Daraus stammt seine Neigung, die historischen Umstände bis zu einer ganz allgemeinen Essenz ihres Wesens zu abstrahieren und in dieser Allge­ meinheit darzustellen. Diese Haltung hat aber vor allem zur Konsequenz, daß seine Hauptenergie sich auf die Kritik der Gegenwart konzentriert. Die Berühru ng mit den historischen Problemen der Epoche bringt bei Stendhal weniger einen neuen historischen Roman hervor als eine Weiterentwicklung des gesellschaftskritischen Romans des 1 8 . Jahrhunderts unter Einarbeitung bestimmter Elemente des neuen Historismus zur Steigerung und Bereicherung seiner realistischen Züge. Diese Weiterführung des historischen Romans im Sinne einer bewußt histo-

Die klassische Form des historischen Romans rischen Auffassung der Gegenwart ist die große Leistung seines bedeuten­ den Zeitgenossen, Balzac. Balzac ist der Schriftsteller, der den ungeheuren Anstoß, den der Roman durch Walter Scott erhalten hat, in der bewußte­ sten Weise weiterbildet und auf diese Weise einen bisher ungekannten höhe­ ren Typus des realistischen Romans schafft. Der Einfluß Walter Scotts auf Balzac ist außerordentlich stark. Ja man kann sagen , daß die spezifische Form des Balzacschen Romans im Laufe einer ideologischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Walter Scott ent­ standen ist. Wir denken dabei weniger an die historischen Romane selbst, die Balzac zu Anfang seiner Entwicklung geschrieben oder wenigstens geplant hat. Obwohl gesagt werden muß, daß der Jugendroman Balzacs »Le der­ nier Chouan« trotz der ein wenig romantisch überspannten Liebesgeschichte, die in seinem Mittelpunkt steht, gerade in der Gestaltung des Volkslebens eine würdige Nachfolge Walter Scotts darstellt. Bei Balzac steht weder die aristokratische Spitze des reaktionären Bauernaufstandes noch eine Führer­ gruppe des republikanischen Frankreich im Mittelpunkt der Handlung, son­ dern einerseits das primitive, zurückgebliebene, abergläubische und fanatische Volk der Bretagne und andererseits der tief überzeugte, schlicht heldenhafte einfache Soldat der Republik. Der Roman ist ganz im Geiste Walter Scotts entworfen, wenn auch Balzac in der realistischen Gestaltung solcher Szenen seinen Meister mitunter übertrifft, indem er die Hoffnungslosigkeit des gegen­ revolutionären Aufstandes gerade aus dieser gesellschaftlichen und mensch­ lichen Kontrastierung der auf beiden Seiten kämpfenden Klassen heraus­ arbeitet. Er zeigt mit einem außerordentlichen Realismus die egoistische Hahgier und moralische Verkommenheit der aristokratischen Führer der Konterrevolution, unter denen alte Aristokraten, die wirklich aus Überzeu­ gung die Sache des Königs vertreten, weiße Raben sind. Auch diese Bestim­ mung ist bei Balzac - ebenso wie die in Scotts »Redgauntlet«, worin sichtbar das Vorbild dieser Szenen zu suchen ist - nicht einfach historisches Sitten­ bild. Vielmehr soll gerade diese moralische Auflösung, dieser völlige Mangel selbstloser Hingabe an die eigene Sache die Ursache der Niederlage , das Symptom des historisch verlorenen, retrograden Kampfes sinnfällig machen. Weiter zeigt Balzac - wiederum sehr ähnlich wie Scott bei den Clans -, daß die Bauern der Bretagne zwar zu einem Guerillakrieg in ihren Bergen sehr geeignet sind, aber trotz ihres wilden Mutes und ihrer raubtierhaften Schlauheit keine Möglichkeit haben, sich den regulären Armeen der Republik erfolgreich entgegenzustellen. Und er zeigt vor allem gerade in Situationen, die für die Republikaner bis zur persönlichen Tragik ungünstig sind, den

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

99

unerschütterlichen Mut, die schlicht humorvolle menschliche Überlegenheit, die aus der tiefen Überzeugung, für die gute Sache der Revolution als Sache des Volkes selbst zu kämpfen, entspringt. Schon dieses Beispiel würde genügen, den tiefen Einfluß, den Scott auf Balzac ausgeübt hat, klarzumachen. Balzac selbst hat über diese Beziehung nicht nur wiederholt theoretisch gesprochen, sondern hat den Einfluß und die Tendenz zur Überwindung des Scottschen historischen Romans in seinen »Les illusions perdues « dichterisch dargestellt. In den Gesprächen Lucien de Rubempres mit D' Arthez über den historischen Roman des ersteren behandelt Balzac das große Problem seiner eigenen Übergangszeit : den Vorwurf, die neuere französische Geschichte in einem zusammenhängenden Zyklus von Romanen darzustellen, der die historische Notwendigkeit der Entstehung des neuen Frankreich dichterisch gestalten würde. Im Vorwort zur » Comedie humaine« taucht der Zyklusgedanke bereits als eine vorsichtige und verständnisvolle Kritik der Scottschen Konzeption auf. Balzac sieht in dem Mangel an zykli­ scher Verbundenheit der Scottschen Romane einen Mangel an System bei seinem großen Vorgänger. Diese Kritik, verbunden mit jener anderen , daß Scott in der Darstellung der Leidenschaften zu primitiv, weil in der eng­ lischen Heuchelei befangen, sei, ist das ästhetisch formelle Moment, bei dem der Übergang Balzacs von der Gestaltung der vergangenen Geschichte zur Gestaltung der Gegenwart als Geschichte sichtbar wird. Balzac selbst hat sich über die thematische Seite dieser Wendung in einem seiner Vorworte klar ausgesprochen : »Den einzig möglichen Roman über die Vergangenheit hat Walter Scott erschöpft. Dies ist der Kampf des Leib­ eigenen oder des Bürgers gegen den Adel, des Adels gegen die Kirche, des Adels und der Kirche gegen das Königtum. « Die dargestellten Verhältnisse und Umstände sind hier relativ einfach : sie sind ständisch. »Heute hat die Gleichheit in Frankreich unendliche Nuancen hervorgebracht. Einst gab die Kaste einem jeden seine Physiognomie, die seine Individualität beherrscht hat ; heute erhält das Individuum seine Physiognomie aus sich selbst. « Balzacs tiefstes Erlebnis war die historische Notwendigkeit des Geschichts­ prozesses, die historische Notwendigkeit des Gerade-so-Seins der Gegenwart, obwohl gerade er klarer als irgend jemand vor ihm das unendliche Netz von Zufällen gesehen hat, das die Voraussetzung für diese Notwendigkeit bildet. Es ist kein Zufall, daß sein erster bedeutender historischer Roman nicht weiter in die Vergangenheit zurückreicht als bis zur großen Revolution. Der Anstoß Scotts hat seine Tendenz zur Gestaltung der historischen Notwendigkeit be­ wußt gemacht. Und damit ergab sich für Balzac die Aufgabe, gerade diesen

1 00

Die klassische Form des historischen Romans

Abschnitt der Geschichte Frankreichs, den Abschnitt 1 7 8 9-1 8 4 8 , in seinem historischen Zusammenhang darzustellen. Nur gelegentlich greift er auf frü­ here Zeiten zurück. Der ursprüngliche große Plan, diese Entwiddung von den Klassenkämpfen des Mittelalters, der Entstehung der absoluten Mon­ archie und der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich angefangen bis hin zur Gegenwart zusammenhängend darzustellen, tritt immer mehr zurück hinter diesem zentralen Thema , hinter der Gestaltung des letzten entscheidenden Aktes dieser großen Tragödie. Die Einheitlichkeit der Gesellschafts- und Geschichtsauffassung, die bei Bal­ zac ästhetisch den Zyklusgedanken hervorgebracht hat, war nur bei dieser zeitlichen Konzentrierung durchführbar. Der D'Arthezsche Jugendplan eines historischen Romanzyklus hätte notwendigerweise pedantisch aufgebaut werden müssen ; die Kontinuität der handelnden Menschen hätte nur die Kontinuität von Familien sein können, es wäre also dem Geiste nach dabei ein Zyklus in der Manier Zolas oder gar in der der Gustav Freytagschen »Ahnen«, keineswegs in der freien, großzügigen und notwendigen Art der » Comedie humaine« herausgekommen. Denn die Verbindung zwischen den einzelnen Romanen eines solchen Zyklus hätte unmöglich eine organische und lebendige, eine wirklich handlungsmäßige sein können. Gerade der Auf­ bau der »Comedie humaine« zeigt, wie wenig die Familie, die Verbindung der Familien ausreicht, um solche Verknüpfungen zu gestalten ; auch dann nicht, wenn die zeitliche Dauer des Zyklus nur einige Generationen umfaßt. Bei der außerordentlich scharfen Wandlung von wichtigen gesellschaftlichen Gruppen im Laufe der Geschichtsentwic:klung (Vernichtung und Untergang des alten Adels in den Klassenkämpfen des Mhtelalters, Ablösung der alten Patrizierfamilien in den Städten beim beginnenden Aufkommen des Kapi­ talismus usw.) müßten die einzelnen Romane mit einem sehr konstruierten, gesellschaftlich oft sehr wenig typischen Personal arbeiten, um die Familien­ kontinuität der Söhne, Enkel usw. zu bewahren. Aber der von Balzac gestaltete letzte Akt von ungefähr fünfzig Jahren atmet durchaus den großen historischen Geist seines Vorgängers. Nur geht Balzac nicht bloß, wie er programmatisch meint, in der freieren und differenzierte­ ren Psychologie der Leidenschaften über Scott hinaus, sondern auch in der historischen Konkretheit. Das Zusammendrängen der geschichtlich gestalteten Ereignisse auf eine verhältnismäßig kurze Periode , die voll ist von einander rasch ablösenden großen Wendungen, zwingt B alzac dazu, fast jedes Jahr der Entwicklung besonders zu charakterisieren, ganz kurzen Geschichtsetappen eine besondere historische Atmosphäre zu geben, während Walter Scott sich

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

IOI

damit begnügen konnte, den allgemeinen Charakter einer größeren Epoche historisch echt darzustellen. (Man denke etwa an die schwüle Atmosphäre, die dem geplanten Staatsstreich Karls x. vorangeht, in »Splendeurs et mi­ seres des Courtisans«.) Diese Weiterführung des historischen Romans zur Historisierung der Dar­ stellung der Gegenwart, diese Weiterführung der gestalteten Vorgeschichte in die Gestal tung der selbsterlebten Geschichte hat selbstverständlich letzten Endes nicht ästhetische, sondern gesellschaftlich-historische Gründe. Scott selbst lebte in einer Periode Englands, in der die progressive Weiterentwick­ lung der bürgerlichen Gesellschaft gesichert schien und hatte also die Mög­ lichkeit, mit epischer Ruhe auf die Krisen und Kämpfe der Vorgeschichte zurückzublicken. Balzacs großes Jugenderlebnis ist gerade das der Vulkan­ artigkeit der gesellschaftlichen Kräfte, die von der scheinbaren Ruhe der Restaurationsperiode verdeckt wurden. Er erkannte mit einer Klarheit wie keiner seiner dichtenden Zeitgenossen den tiefgehenden Widerspruch zwi­ schen den Versuchen feudal-absolutistischer Restauration und den rapide an­ wachsenden Kräften des Kapitalismus. Sein Übergang vom Plan der Walter Scottschen Darstellung der französischen Geschichte zu der Gestal tung der Ge­ schichte der Gegenwart fällt ungefähr und keineswegs zufällig mit der Juli­ revolution von x 8 3 0 zusammen. Denn in der Julirevolution sind diese Gegen­ sätze explodiert, und ihre scheinbare Balancierung im »Bürgerkönigtum« Louis Philipps war ein so labiler Ausgleich, daß der widerspruchsvolle und schwankende Charakter des ganzen gesellschaftlichen Aufbaus sich in den Mittelpunkt der B alzacschen Geschichtsauffassung stellen mußte. Die histori­ sche Orientierung über die Notwendigkeit des Fortschritts, die historische Verteidigung des Progresses gegen die romantische Reaktion ist mit der Juli­ revolution im wesentlichen abgeschlossen : bei den größten Geistern Europas beginnen Erkenntnis und Gestaltung der historischen Problematik der bürger­ lichen Gesellschaft selbst zum Zentralproblem zu werden. Es ist z. B. kein Zufall, daß die Julirevolution zugleich das erste Signal zur Auflösung der größten historischen Philosophie dieser Periode, des Hegelschen Systems, gegeben hat. So kehrt mit Balzac der historische Roman, der bei Scott aus dem englischen Gesellschaftsroman entstand, wieder zur Darstellung der zeitgenössischen Gesellschaft zurück. D as Zeitalter des klassischen historischen Romans ist damit abgeschlossen. Der klassische historische Roman ist aber damit keines­ wegs zu einer abgeschlossenen, nur noch historisch bedeutsamen Episode der Literaturgeschichte geworden. Ganz im Gegenteil ist der mit Balzac erreichte

1 02

Die klassische Form des historischen Romans

Gipfelpunkt des Gegenwartsromans nur als Fortsetzung dieser Entwicklungs­ etappe, nur als ihre Erhebung auf eine höhere Stufe verständlich. In dem Moment, da die historische Bewußtheit der Balzacschen Gegenwartsauffas­ sung infolge der Klassenkämpfe von 1 8 4 8 verblaßt, beginnt der Niedergang des realistischen Gesellschaftsromans. Die Gesetzmäßigkeit dieses Übergangs vom historischen Roman Scotts zur dichterischen Geschichte der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft wird durch seine Wiederholung in dem Entwicklungsgang -Tolstois nochmals un­ terstrichen. Die komplizierten Probleme, die im Schaffen Tolstois daraus entstehen, daß er Zeitgenosse - und vielfach beeinflußter Zeitgenosse - des nachachtundvierziger westeuropäischen Realismus ist, aber zugleich in einem Land lebt, dessen bürgerliche Revolution sich erst langsam, während seines langen Lebens vorbereitet, haben wir in anderen Zusammenhängen dar­ gestellt.! Für unsere hier zu behandelnde Frage genügt so viel, daß Tolstoi, als der mächtige Gestalter der Umwälzungsperio de Rußlands von der Bauern­ befreiung von 1 8 6 1 bis zur Revolution von 1 9 0 s , zuerst auf jene großen historischen Probleme zurückgriff, die die Vorgeschichte dieser Umwälzung gebildet, die die gesellschaftlichen Voraussetzungen für sie geschaffen haben. Wenn er dabei in erster Linie die Napoleonischen Kriege gestaltete, so ver­ fuhr er dabei ebenso konsequent wie früher Balzac, der in der Darstellung der Französischen Revolution - unbewußt - die gesellschaftlichen Grundlagen für seine »Comedie humaine « suchte. Und ohne die Parallele zu weit zu spannen, was immer zu Schiefheiten und Überschreitungen führen muß, ist es sehr bezeichnend, daß beide großen Dichter ursprünglich noch tiefer in die Vergangenheit zurückgingen, daß beide von den großen Anfangswendungen der Geschichte angezogen waren, bei denen die moderne Entwicklung ihres Landes eingesetzt hat : Balzac von Catherina v. Medici, Tolstoi von Peter 1 . Indessen hat B alzac nur eine interessante und geistig bedeutende Abhandlung über Catherina v. Medici geschrieben, und Tolstoi blieb sogar bei Ansätzen und Fragmenten stehen. Für beide war eben die drängende Wucht der Gegenwartsprobleme zu groß, als daß sie bei der Vorgeschichte dieser Fragen hätten verweilen können. Damit hört freilich die Parallele in schriftstellerischer Hinsicht auf. Sie sollte ja auch nur dazu dienen, die gesellschaftliche Notwendigkeit, die zum

1

Vgl. „Der russische R ealis m us Neuwied 1 964, S. 1 77 ff.

in

der Weltliteratur«, Gesamtausgabe Band 5 ,

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

1 03

historischen Roman klassischen Typus trieb und dann wieder von ihm weg­ führte, im Lebenswerk dieser beiden größten Repräsentanten von Übergangs­ epochen großer Völker anschaulich zu machen. Schriftstellerisch nimmt » Krieg und Frieden « eine ganz andere Stelle im Lebenswerk Tolstois ein als »Le dernier Chouan« in dem Balzacs ; auch hinsichtlich des literarischen Werts ist hier kein Vergleich möglich, so hoch steht das Werk Tolstois in der ganzen Geschichte des historischen Romans. Wenn wir »Krieg und Frieden« einen historischen Roman klassischen Typus nennen, so zeigt dies, wie wenig man diesen Ausdruck in einem engen litera­ turgeschichtlichen oder formal-artistischen Sinn nehmen darf. Im Gegensatz zu bedeutenden Schriftstellern wie Puschkin , Manzoni oder Balzac ist bei Tolstoi unmittelbar keinerlei schriftstellerischer Einfluß Walter Scotts spür­ bar. Soviel ich weiß, hat Tolstoi auch nie eingehend Scott studiert. Er hat aus den realen Bedingungen des Lebens dieser Übergangszeit einen historischen Roman von ganz eigenartigem Charakter geschaffen, der nur in den all­ gemeinsten und letzten Prinzipien der Gestaltungsweise eine geniale Erneue­ rung und Weiterbildung des klassischen, des Scottschen Typus des historischen Romans bildet. Dieses vereinigende l etzte Prinzip ist das der Volkstümlichkeit. Tolstoi hat als Schriftsteller neben Balzac und Stendhal auch Flaubert und Maupassant sehr hoch geschätzt. Aber die wirklichen, entscheidenden Züge seiner Künst­ lerschaft gehen auf die klassische Periode des bürgerlichen Realismus zurück, weil die sozialen und weltanschaulichen Triebkräfte seiner Persönlichkeit aus einer tiefen Verbundenheit mit den zentralen Problemen des Volkslebens in einer großen Übergangsepoche ihre Kraft schöpfen, weil seine Kunst noch den widerspruchsvoll-progressiven Sinn dieser Übergangsepoche zum zentralen Vorwurf hat. »Krieg und Frieden« ist die moderne Epopöe des Volkslebens in einer noch entschiedeneren Weise als bei Scott oder Manzon i. Die Schilderung des Volkslebens ist noch breiter, farbiger, gestaltenreicher. Die Betonung des Volkslebens als der wirklichen Grundlage des historischen Geschehens ist bewußter. Ja, diese Darstellungsart erhält sogar bei Tolstoi einen polemi­ schen Akzent, den sie bei den erstem Klassikern des historischen Romans noch nicht hatte und nicht haben konnte. Diese gestalteten vor allem den Zusam­ menhang, die historischen Ereignisse ergaben sich als krönende Gipfelpunkte der widerspruchsvoll ringenden Kräfte des Volkslebens. (Es ist eine Folge der besonderen historischen Entwicklung Italiens, daß bei Manzoni bestimmte historische Ereignisse rein negativ als Störungen des Volkslebens dargestellt

1 04

Die klassische Form des historischen Romans

wurden.) Bei Tolstoi steht der Widerspruch zwischen den Protagonisten der Geschichte und den lebendigen Kräften des Volkslebens im Mittelpunkt. Es wird gezeigt, daß gerade diejenigen, die trotz der großen Ereignisse des histo­ rischen Vordergrundes ihr normales, privates und egoistisches Leben weiter­ leben, die wirkliche - unbewußte, unbekannte - Entwicklung wirklich fördern , während die bewußt agierenden »Helden« der Geschichte lächer­ liche und schädliche Marionetten sind. Diese Grundkonzeption der Geschichte bestimmt Größe und Grenze der Tol­ stoischen Gestaltung. Das von den Vordergrundereignissen nur affizierte, nur in Mitleidenschaft gezogene, aber nicht absorbierte individuelle Leben der Menschen entfaltet sich in einem Reichtum der Lebendigkeit wie kaum jemals vorher in der Weltliteratur. Die historische Konkretheit der Gefühle und Gedanken, die historische Echtheit der besonderen Qualität der Reak­ tion auf die Außenwelt in Taten und Leiden steht hier auf einer großartigen Höhe. Aber gerade der Tolstoische Grundgedanke, daß diese spontan wir­ kenden, ihrer Bedeutung und ihrer Folgen unbewußten individuellen Bestre­ bungen, deren Ganzes die ebenfalls sich spontan äußernden Volkskräfte aus­ macht, den Gang der Geschichte wirklich bewegen, bleibt problematisch. Wir haben bereits davon gesprochen, daß Tolstoi in der Figur Kutusows ein wirklicher Volksheld gelungen ist ; ein Mensch, der bedeutend ist, weil er nie anderes und mehr sein will als ein einfaches, zusammenfassendes, durch­ führendes Organ dieser Volkskräfte. Seine persönlichsten, intimsten Eigen­ schaften zentrieren sich wundervoll - gerade weil oft widerspruchsvoll, ja paradox - um diese Quelle seiner gesellschaftlichen Größe. Seine Popula­ rität »unten «, seine zwiespältige Stellung »oben « erklären sich immer sinn­ fällig und schlagend aus dieser seiner Situation. Aber der für Tolstoi not­ wendige Inhalt dieser Größe ist Passivität, ist ein Abwarten, das die Ge­ schichte selbst, die spontane Regung des Volkes, den spontanen Gang der Dinge handeln läßt und die freie Auswirkung dieser Kräfte nicht durch Ein­ mischung stören will. Diese Konzeption des »positiven« geschichtlichen Helden zeigt, wie weit sich - auch im zaristischen Rußland - die Verschärfung der Klassengegensätze seit Walter Scotts Tagen weitergebildet hat. Es ist Tolstois Größe, daß er zu den »offiziellen Führern« in der Geschichte kein Vertrauen hat, weder zu den offenen Reaktionären noch zu den Liberalen. Es ist seine Grenze - die Grenze der sich damals entfaltenden Empörung der Bauernmassen -, daß dieses historisch berechtigte Mißtrauen beim passiven Mißtrauen jeder bewußten geschichtlichen Tat gegenüber stehenbleibt, daß es die bereits in

Der klassische historische Roman im Kampf mit der Romantik

105

seiner Zeit einsetzende revolutionäre Demokratie vollständig verkennt. Die­ ses Verkennen der Rolle des bewußten Handelns im Volke selbst hat zur Folge, daß Tolstoi in der Einschätzung der Bedeutung des bewußten Han­ delns auch bei den Exploitatoren in eine abstrakt-extreme Negation ver­ fällt. Nicht in der Kritik, in der Ablehnung des sozialen Inhalts dieser Hand­ lungen liegt die abstrahierende Übertreibung, sondern darin, daß ihnen von vornherein überhaupt jede B edeutung rundweg abgesprochen wird . Es ist kein Zufall, daß in den besten Menschen, die Tolstoi hier gestaltet, eine Be­ wegung sichtbar ist, die in die Richtung des Dekabrismus geht; es ist kein Zufall, daß Tolstoi sich lange Zeit mit dem Plan eines Dekabristenromans beschäftigt hat. Es ist aber auch kein Zufall, daß dieser Drang nur eine Bewegung in der Richtung auf den Dekabrismus bleibt und nicht wirklich zu ihm führt , ebensowenig wie die Tatsache, daß der Dekabristenroman nie vollendet wurde. Schon diese widerspruchsvolle Doppelseitigkeit der Tolstoischen Gestaltung des geschichtlichen Volkslebens drängt von der Vergangenheit in die Gegen­ wart. »Krieg und Frieden« hat - in der Form der breiten Gestaltung des ökonomischen und moralischen Volkslebens - das große Tolstoische Problem der Bauernfrage, der Beziehung der verschiedenen Klassen, Schichten und In­ dividuen zu ihr aufgeworfen. »Anna Karenina « zeigt dieselben Probleme nach der Bauernbefreiung auf einer höheren Entwicklungsstufe der Verschär­ fung der Gegensätze : es ist hier eine historische Konkretheit in der Gestal­ tung der Gegenwart erreicht worden, die ebenso alle vorangehende russische Literatur übertrifft, wie die Balzacsche Gestaltung des französischen Kapi­ talismus ihre Vorgänger übertroffen hat. Mi t »Krieg und Frieden« ist Tolstoi »Sein eigener Walter Scott« geworden. Aber »Krieg und Frieden« ist ebenso aus dem vorangegangenen realistischen Gesellsd1aftsroman Rußlands und Frankreichs entstanden wie die Walter Scottsche Gestaltung der Geschichte aus dem englischen gesellschaftskritischen Realismus des 1 8 . Jahrhunderts.

1 06

Zweites Kapitel

Historischer Roman und historisches Drama

Nach unseren bisherigen Ausführungen kann folgende Frage auftauchen : zu­ gegeben, daß die h istorische Ableitung des neuen Historismus auch in der Kunst richtig ist -, warum mußte aus diesem Lebensgefühl gerade der histo­ rische Roman und nicht das historische Drama entstehen? Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine ernste und eingehende Unter­ suchung der Beziehung beider Genres zur Geschichte. Da ist gleich die Tat­ sache auffallend, daß es wirkliche und auch im historischen Sinne künstle­ risch vollendete historische Dramen schon lange vor dieser Periode gegeben hat, während die meisten sogenannten historischen Romane des 1 7 · und 1 8 . Jahrhunderts weder als Widerspiegelungen der geschichtlichen Wirklichkeit noch als künstlerische Produktionen auf irgendwelche B edeutung Anspruch erheben können. Wenn wir auch von der französischen Klassik und von dem größten Teil des spanischen Dramas absehen, so ist es klar, daß sowohl Shake­ speare als auch einige seiner Zeitgenossen - man denke an Marlowes »Edward II«, Fords »Perkin Warbeck« usw. - wirkliche und bedeutende historische Dramen geschaffen haben. Dazu kommt am Ende des 1 8 . Jahr­ hunderts die zweite große Blüte des histoi:ischen Dramas sowohl in der Jugendproduktion wie in der Weimarer Periode Goethes und Schillers . Alle diese Dramen stehen nicht nur auf einer unvergleichlich anderen künstlerischen Höhe als die sogenannten Vorläufer des klassischen historischen Romans, sondern sind auch in einem ganz anderen, echten und tiefen Sinne historisch. Andererseits muß auch die Tatsache festgestellt werden, daß die mit Walter Scott einsetzende neue historische Kunst in der dramatischen Literatur nur ganz vereinzelt wirklich bedeutende Produkte hervorbringt : vor allem Puschkins »Boris Godunow«, die Dramen Manzonis usw. Die neue künst­ lerische Blüte der historischen Auffassung der Wirklichkeit konzentriert sich auf den Roman und höchstens noch auf die große Erzählung. Um diese Ungleichmäßigkeit der Entwicklung zu verstehen, muß die Ver­ schiedenheit der Beziehung zur Geschichte bei Drama und Roman ergrün­ det werden. Diese Frage wird dadurch kompliziert, daß in der Neuzeit eine außerordentlich starke Wechselwirkung zwischen Drama und Roman ent-

1 07

Historischer Roman und historisches Drama

standen ist. Freilich bestehen tiefgehende Zusammenhänge zwischen großer Epik und Tragödie ; nicht zufällig hat bereits Aristoteles diese Zusammen­ gehörigkeit hervorgehoben. Aber in der Antike gehören homerisches Epos und klassische Tragödie deutlich verschiedenen Epochen an und haben bei aller Verwandtschaft in einigen freilich für Inhalt und Form grundlegenden Fragen sehr klar geschiedene Wege der Formgebung. Das antike Drama ent­ steht aus der epischen Welt. D as historische Heranwachsen der gesellschaft­ lichen Gegensätze im Leben bringt die Tragödie als das Genre des gestalte­ ten Konflikts hervor. Diese historische wie formale Beziehung ändert sich ziemlich stark in der Neuzeit. Die Blüte des Dramas geht der großen Entwicklung des Romans voraus, trotz Cervantes und Rabelais, trotz der nicht unwichtigen Einwir­ kung der italienischen Novellistik auf das Renaissancedrama. Andererseits hat aber das moderne Drama - und zwar bereits das der Renaissance, auch das Shakespeares - von vornherein bestimmte Stiltendenzen, die es im Laufe der Entwicklung in wachsendem Maße dem Roman annähern. Und umge­ kehrt : das dramatische Element im modernen Roman, insbesondere bei Scott und Balzac, entsteht zwar primär aus konkreten historischen und gesellschaft­ lichen Zeitnotwendigkeiten, ist aber im künstlerischen Sinne keineswegs un­ beeinflußt von der vorangegangenen Entwicklung des Dramas . Insbeson­ dere das Shakespearesche Drama hat - wie dies Michail Lifschitz in der Diskussion über die Theorie des Romans richtig hervorgehoben hat - eine entscheidende Einwirkung auf die Entwicklung des neuen Romans ausgeübt. Diesen Zusammenhang zwischen Walter Scott und Shakespeare hat bereits Friedrich Hebbel klar gesehen und in Scott den modernen Nachfolger Shakespeares erkannt : »Was in England von Shakespeare wieder lebendig geworden ist, das ist in Walter Scott hervorgetreten denn er verband mit dem bewunderungswürdigsten Instinkt für die Grundbedingungen aller hi­ storischen Zustände den feinsten psychologischen B lick für jede individuelle Eigentümlichkeit und das klarste Verständnis für den Übergangsmoment, worin die allgemeinen und die besonderen Triebfedern zusammenfallen, und der Vereinigung dieser drei Eigenschaften verdankte Prosperos Zauberstab seine Allmacht und Unwiderstehlichkeit. « Aber diese weitgehende und komplizierte historische Verflochtenheit der bei­ den Genres, die sich ja nicht im luftleeren Raum, voneinander metaphysisch getrennt, entwickelt haben, darf die prinzipiellen Trennungen zwischen ihnen nicht verdunkeln. Man muß also auf die grundlegenden Formunterschiede zwischen Drama und Roman zurückgehen, die Quelle dieser Unterschiede im •

.

.

108

Historischer Roman und historisches Drama

Leben selbst aufdecken, um die Unterschiede dieser beiden Genres in ihrer Beziehung zur Geschichte zu begreifen. Erst von hier aus werden die histo­ rischen Tatsachen in der Entwicklung beider Genres - Auftreten, Blüte, Nie­ dergang usw. - historisch wie ästhetisch verständlich.

1

Lebenstatsachen als Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

Sowohl die Tragödie wie die große Epik - Epopöe und Roman - stellen die objektive äußere Welt dar, das innere Leben des Menschen nur so weit, soweit seine Gefühle und Gedanken sich in Taten und Handlungen, in einer sichtbaren Wechselwirkung mit der objektiven, äußeren Wirklichkeit zeigen. Dies ist der entscheidende Trennungsstrich zwischen Epik und Dramatik einerseits und Lyrik andererseits. Weiter : große Epik und Drama geben beide ein totales Bild der objektiven Wirklichkeit. Dies unterscheidet sie sowohl inhaltlich wie formal von den anderen epischen Genres, von denen für die moderne Entwicklung besonders die Novelle bedeutsam geworden ist. Epos und Roman unterscheiden sich gerade durch diesen Totalitätsgedanken von allen anderen Unterarten der Epik : dieser Unterschied ist kein quantitativer des Umfangs, sondern ein qualitativer des künstlerischen Stils, der künst­ lerischen Formgebung, ein Unterschied, der alle einzelnen Momente der Ge­ staltung durchdringt. Schon hier sei aber auf den wichtigen Unterschied zwischen dramatischer und epischer Form hingewiesen. Es kann im Drama nur ein » totales« Genre geben. Eine dramatische Form, die der Novelle, der Ballade, dem Märchen usw. entsprechen würde, gibt es nicht. Die vereinzelt auftauchenden und am Ende des 1 9 . Jahrhunderts als besondere Gattung aufgefaßten Einakter haben zumeist ihrem Wesen nach keine wirklich dramatischen Elemente. Nachdem aus dem Drama eine lose komponierte, in Dialog aufgelöste Erzählung ge­ worden war, war der Gedanke naheliegend, auch kürzeren novellistischen Skizzen eine solche dialogisiert-szenische Form zu geben. Aber die entschei­ dende Frage ist selbstverständlich nicht die des bloßen Formats ; wie auch der Unterschied zwischen Roman und Novelle nicht der des Umfanges ist. Vom Standpunkt der wirklich dramatischen Gestaltung des Lebens sind Puschkins kurze dramatische Szenen vollständige und vollendete Dramen. Denn ihre extensive Kürze ist die der äußersten inhaltlich-weltanschaulichen drama­ tischen Konzentration ; sie haben mit dem modernen dialogischen Episodismus nichts zu tun.

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

1 09

Wir haben hier nur das Problem der Tragödie zu behandeln. (In der Komödie liegt das Problem, aus Gründen, die hier nicht auseinanderzusetzen sind, etwas anders.) Diese Verwandtschaft zwischen Epos und Tragödie hebt Aristoteles hervor, wenn er sagt : »Wer daher darüber Bescheid weiß, was eine Tragödie gut oder schlecht macht, der weiß auch über das Epos Bescheid. « Tragödie und große Epik erheben also beide den Anspruch auf die Ge­ staltung der Totalität des Lebensprozesses. Es ist klar, daß dies in beiden Fällen nur eine Folge des künstlerischen Aufbaus, der formalen Konzentra­ tion in der künstlerischen Widerspiegelung der wesentlichsten Züge der ob­ jektiven Wirklichkeit sein kann. Denn selbstverständlich kann die wirkliche, inhaltliche, extensive und unendliche Totalität des Lebens von der gedank­ lichen Reproduktion prinzipiell nur relativ erreicht werden. Diese Relativität erhält aber in der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit eine eigenartige Gestalt. Denn sie darf - um Kunst zu sein in ihrer Erscheinungsform nie den Stempel dieser Relativität an sich tragen. Eine rein gedankliche Widerspiegelung von Tatsachen oder Gesetzen der ob­ jektiven Wirklichkeit kann diese Relativität offen eingestehen, sie muß das sogar tun, denn jede Überspannung des Anspruchs einer Erkenntnis auf Ab­ solutheit, ohne das Moment der dialektischen Beziehung auf die nur relative, d. h. unvollständige Reproduktion der Unendlichkeit der objektiven Wirk­ lichkeit, schlägt zwangsläufig in eine Verzerrung des Bildes, in etwas Falsches um. Ganz anders in der Kunst. Selbstverständlich kann kein literarisch ge­ stalteter Mensch den unendlichen und unerschöpflichen Reichtum der Züge und Äußerungen enthalten, wie sie das Leben selbst enthält. Aber das Wesen der künstlerischen Gestaltung besteht gerade darin, daß dieses relative, un­ vollständige Abbild wie das Leben selbst , ja wie ein gesteigertes, intensiveres, lebendigeres Leben, als es das der objektiven Wirklichkeit ist, wirken soll. Diese allgemeine Paradoxie der Kunst in der Widerspiegelung des unend- · liehen Reichtums der objektiven Wirklichkeit erscheint in einer besonders zugespitzten Form bei jenen Genres, die aus der inneren Notwendigkeit ihres Inhalts und ihrer Formgebung heraus mit der Prätention auftreten müssen, gestaltete!:., lebendiges Abbild der Totalität des Lebens zu sein. Und diese Notwendigkeit besteht gerade für die Tragödie und die große Epik. Der Erweckung dieses Erlebnisses im Rezeptiven verdanken sie ihre tiefe Wir­ kung, ihre zentrale und epochale Bedeutung im ganzen Kulturleben der Menschheit. Vermögen sie nicht dieses Erlebnis zu erwecken, so versagen sie vollständig. Keine naturalistische Echtheit der einzelnen Lebensäußerungen,

1 10

Historischer Roman und historisches Drama

keine formalistische »Meisterschaft« des Aufbaus oder der einzelnen Wirkun­ gen kann für das Fehlen des Erlebnisses der Totalität des Lebens einen Ersatz bieten. Es ist klar, daß es sich hier unmittelbar um eine Formfrage handelt. Die künstlerisch berechtigte Verabsolutierung des relativen Abbildes vom Leben hat aber selbstverständlich ihre inhaltliche Grundlage. Sie kann nur auf der Basis des wirklichen Erfassens der wesentlichen und wichtigsten gesetzmäßi­ gen Zusammenhänge des Lebens im Schicksal des Einzelnen wie der Gesell­ schaft entstehen. Es ist aber ebenso klar, daß die bloße Erkenntnis der we­ sentlichen Zusammenhänge hierfür niemals ausreichen kann. Diese wesent­ lichen Züge, diese wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des Lebens müssen in neuer, von der Kunst geschaffener Unmittelbarkeit als einmalige persönliche Züge und Zusammenhänge konkreter Menschen und konkreter Situationen in Er­ scheinung treten. Aber dieses Herbeiführen der neuen, künstlerischen Un­ mittelbarkeit, dieses wieder Individuellmachen des Allgemeinen am Menschen und seinem Schicksal ist gerade die Mission der künstlerischen Form. Das spezifische Problem der Form in großer Epik und Tragödie besteht gerade in diesem Unmittelbarmachen der Totalität des Lebens, im Erwecken einer Welt des Scheins, in der eine - auch in der extensivsten Epik - sehr be­ grenzte Anzahl von Menschen und Menschenschicksalen das Erlebnis der Totalität des Lebens erwecken muß. Der Sinn für die Formprobleme in diesem großen Sinne ist der Asthetik der nachachtundvierziger Zeit vollständig abhanden gekommen. Soweit sie nicht nihilistisch-relativistisch jeden Unterschied z wischen den Formen geleugnet . hat, kam sie nicht weiter als zu einer äußerlichen , formalistischen Klassifika­ tion nach den oberflächlichen Kennzeichen der einzelnen Formen. Eine wirk­ lich auf das Wesentliche eingehende Behandlung dieser Fragen gibt es vor allem in der klassischen deutschen Asthetik, der freilich im tiefen Aufwerfen vieler Einzelfragen die .i\sthetik der Aufklärung pionierhaft vorangegangen ist. Die prinzipiellste und tiefste Bestimmung des Unterschiedes zwischen der Totalitätsgestaltung in der großen Epik und der im Drama finden wir in der Asthetik Hegels. Hegel stellt als erste Anforderung der Weltgestaltung der großen Epik die der » Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhanges der besonderen Handlung mit ihrem substantiellen Boden willen« gestaltet wird. Hegel betont scharf und richtig, daß es sich hier nie um die Selbstän­ digkeit der Objektswelt handelt. Wird diese vom Epiker als selbständig ge­ staltet, so verliert sie jeden poetischen Gehalt. Die Dinge sind in der Poesie nur als Gegenstände der menschlichen Tätigkeit, als Vermittlungen der Be-

Grundlagen der Sd1eidung von Epik und Drama tik

1II

ziehungen der Menschen und Menschenschicksale miteinander wichtig, inter­ essant und anziehend. Aber trotzdem sind sie in der großen Epik nie bloß dekorativer Hintergrund oder bloße technische Instrumente der Handlungs­ führung, die für sich angesehen kein wirkliches Interesse beanspruchen könnten. Eine epische Dichtung, die nur das Innenleben des Menschen ohne lebendige Wechselwirkung mit den Gegenständen seiner gesellschaftlich­ geschichtlichen Umwelt darstellt, löst sich in künstlerische Kontur- und Sub­ stanzlosigkeit auf. Die Wahrheit und Tiefe dieser Hegelschen Bestimmung liegt gerade in der Betonung der Wechselwirkung, darin, daß die vom Epiker dargestellte »Totalität der Objekte« die Totalität einer geschichtlichen Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft ist ; daß die menschliche Gesellschaft unmöglich in ihrer G anzheit dargestellt werden kann, wenn die sie umgebende Grund­ lage und die das Objekt ihrer Tätigkeit bildende Umwelt der Gegenstände nicht dargestellt wird. Die Gegenstände werden daher gerade in ihrer Ab­ hängigkeit von der Tätigkeit des Menschen, in ununterbrochener Bezogenheit auf die Tätigkeit der Menschen nicht nur wichtig und bedeutsam, sondern erhalten gerade dadurch ihre künstlerische Selbständigkeit als Objekte der Darstellung. Die Forderung, daß die große Epik die »Totalität der Objekte« zu gestalten habe, bedeutet , im Grunde genommen, die Forderung eines künstlerischen Abbildes der menschlichen Gesellschaft, so, wie sie sich in ihrem täglichen Lebensprozeß produziert und reproduziert. Auch das Drama geht, wie wir bereits wissen, auf eine totale Gestaltung des Lebensprozesses aus. Diese Totalität ist aber um ein festes Zentrum, um die dramatische Kollision, konzentriert. Sie ist ein künstlerisches Abbild des Systems - wenn man so sagen darf - jener menschlichen Bestrebungen, die sich, einander bekämpfend, an dieser zentralen Kollision beteiligen. »Die dramatische Handlung beruht deshalb «, sagt Hegel, »wesentlich auf einem kollidierenden Handeln, und die wahrhafte Einheit kann nur in der totalen Bewegung (von mir hervorgehoben, G. L.) ihren Grund haben, daß nach der Bestimmtheit der besonderen Umstände, Charaktere und Zwecke die Kollision sich eben so sehr den Zwecken und Charakteren gemäß herausstelle, als ihren Widerspruch aufhebe. Diese Lösung muß dann zugleich , wie die Handlung selbst, subjektiv und objektiv sein. « Hegel stellt hiermit die » Totalität der B ewegung« im Drama der »Totalität der Objekte« in der großen Epik gegenüber. Was bedeutet das vom Stand­ punkt der epischen und dramatischen Form ? Versuchen wir diesen Gegensatz an einem großen historischen Beispiel zu illustrieren. Shakespeare gestaltet im

112

Historischer Roman und historisches Drama

»König Lear« die größte und erschütterndste Tragödie der Auflösung der Familie als menschlicher Gemeinschaft, die die Weltliteratur kennt. Niemand wird sich gerade dem Eindruck. der alles erschöpfenden Totalität dieser Ge­ staltung entziehen können. Aber mit welchen Mitteln ist der Eindruck dieser Totalität erreicht? Shakespeare gestaltet in der Beziehung zwischen Lear und seinen Töchtern, zwischen Gloster und seinen Söhnen die großen typischen menschlich-moralischen Bewegungen und Richtungen, die in extrem zuge­ spitzter Weise aus dem Problematischwerden, aus der Auflösung der feudalen Familie entspringen. Als solche extremen, aber gerade in ihrem extremen Charakter typischen Bewegungen bilden sie ein vollständig abgeschlossenes System, das in seiner bewegten Dialektik alle möglichen menschlichen Stel­ lungnahmen zu dieser Kollision erschöpft. Es wäre, ohne in eine psyc:hologisch­ moralische Tautologie zu verfallen, unmöglich, diesem System noch ein neues Glied, eine neue Bewegungsrichtung hinzuzufügen. Durch diesen Reichtum in der Psychologie der sich bekämpfenden, um die Kollision gruppierten Men­ schen, in dieser erschöpfenden Totalität, mit der sie, sich wechselseitig er­ gänzend, sämtliche Möglichkeiten dieser Lebenskollision widerspiegeln, ent­ steht die »Totalität der Bewegung « in diesem Drama. Was ist jedoch in dieser Gestaltung nicht enthalten? Es fehlt der ganze Lebensumkreis der Beziehung von Eltern und Kindern , es fehlen die mate­ rielle Grundlage der Familie, ihr Wachsen, ihr Niedergang usw. Man ver­ gleiche nur dieses Drama mit den großen Familiengemäden, die in epischer Weise die Problematik der Familie gestalten, mit den »Buddenbrooks« von Thomas Mann, mit dem » Werk der Artamonows« von Gorki. Welche Breite und Fülle hier der realen Lebensumstände der Familie, welche Verallgemei­ nerung dort auf die rein menschlich-moralischen, willensmäßigen, in kolli­ dierende Handlung umsetzbaren Eigenschaften der Menschheit ! Ja, man muß die außergewöhnliche Kunst der dramatischen Verallgemeinerung Shakespea­ res gerade darin bewundern, daß er die ältere Generation der Familie nur durch Lear und Gloster verkörpert. Hätte er - was ein epischer Dichter un­ bedingt hätte tun müssen - entweder Lear oder Gloster oder beiden eine Frau mitgegeben, so hätte er entweder die Konzentration auf die Kollision abschwächen müssen (wenn der Konflikt mit den Kindern einen Konflikt mit den Eltern herbeigeführt hätte), oder die Darstellung der Frau wäre drama­ tisch eine Tautologie gewesen, die Frau hätte nur als abschwächendes Echo des Mannes wirken können. Es ist für die verdünnte Luft der dramatischen Verallgemeinerung charakteristisch, daß auf den Zuschauer diese Tragödie notwendig als ein ersd1ütterndes Bild wirkt und etwa die Frage nach den feh-

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

113

lenden Frauen überhaupt nicht auftaucht, während z. B . in einer entsprechen­ den epischen Gestaltung mit zwei derartigen Parallelschicksalen eine solche Lage unbedingt als ausgeklügelt wirken müßte, und es eine besondere Be­ gründung erfordern würde, wenn sie überhaupt überzeugend begründet wer­ den könnte. D iese Analyse könnte man natürlich bis in die intimste Detail­ gestaltung hinab fortsetzen. Uns kommt es hier nur auf die Herausarbeitung des Kontrasts in seiner Allgemeinheit an. Indem das Drama die Widerspiegelung des Lebens auf die Gestaltung einer großen Kollision konzentriert, indem es alle Lebensäußerungen um diese Kol­ lision gruppiert und sie nur in diesen ihren Beziehungen zur Kollision sich ausleben läßt, vereinfacht und verallgemeinert es die möglichen Stellung­ nahmen der Menschen zu ihren Lebensproblemen. Die Gestaltung wird auf die typische Repräsentation der wichtigsten und charakteristischsten Stel­ lungnahmen der Menschen reduziert, auf das, was für die dynamische hand­ lungsmäßige Ausgestaltung der Kollision unerläßlich ist, also auf jene ge­ sellschaftlichen, moralischen und psychologischen Bewegungen in den Men­ schen, aus denen die Kollision entsteht und die die Kollision auflöst. Jede Figur, jeder psychologische Zug einer Figur, die über die dialektische Not­ wendigkeit dieses Zusammenhanges, der lebendigen Dynamik der Kollision hinausgeht, muß vom Standpunkt des Dramas als überflüssig wirken. Darum charakterisiert Hegel mit Recht die so entscheidende Komposition als »Tota­ lität der Bewegung « . Wie reich und breit diese Typik ist, hängt von der geschichtlichen Entwick­ lungsstufe, auf der das Drama entsteht, und innerhalb dieser Stufe selbst­ verständlich auch von der Individualität des Dramatikers ab. Aber ausschlaggebend ist doch die innere, objektive Dialektik der Kollision selbst, die, gewissermaßen unabhängig vom Bewußtsein des Dramatikers, den Umkreis der »Totalität der Bewegung« umschreibt. Nehmen wir etwa die »Antigone« von Sophokles . Kreon hat den Befehl gegeben, Polyneikes nicht begraben zu lassen. Aus dieser Situation heraus erfordert die drama­ tische Kollision zwei, aber auch nur zwei Geschwister von Polyneikes. Wäre Antigone die einzige Schwester, so könnte ihr heroischer Widerstand gegen den Befehl des Königs als eine gesellschaftlich durchschnittliche, selbstver­ ständliche Reaktion wirken. Die Figur ihrer Schwester, Ismene, ist unbedingt nötig, um zu zeigen, daß Antigones Handlung zwar ein heroisch-selbstver­ ständlicher Ausdruck der bereits untergegangenen früheren Sittlichkeit ist, aber unter den im Drama gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr eine selbst­ verständlich-spontane Reaktion. Ismene verurteilt ebenso das Verbot Kreons

Historischer Roman und historisches Drama

wie Antigene, sie fordert aber von ihrer heroischen Schwester, daß sie sich, als die Schwächere, der Macht unterwerfen solle. Es ist, glaube ich, ebenso klar, daß ohne Ismene die Tragödie Antigenes nicht überzeugend, nicht als künstlerisches Abbild der gesellschaftlich-geschichtlichen Totalität wirken würde, wie eine dritte Schwester dramatisch eine reine Tautologie wäre. Lessing hat also vollständig recht, wenn er in seiner Polemik gegen die tra­ gedie classique energisch hervorhebt, daß die dramatischen Kompositions­ prinzipien Shakespeares prinzipiell genau dieselben seien wie die der Grie­ chen. Der Unterschied zwischen beiden ist ein historischer. Infolge der objek­ tiven , gesellschaftlich-geschichtlichen Komplizierung der menschlichen Ver­ hältnisse ist die Struktur der Kollision in der Wirklichkeit selbst verwickel­ ter und vielfältiger geworden. Die Komposition des Shakespeareschen Dra­ mas spiegelt ebenso treu und großartig diesen neuen Zustand der Wirklich­ keit wider, wie die Tragödie von Aischylos und Sophokles den einfacheren Stand der Dinge im alten Athen künstlerisch reproduziert hat. Diese histo­ rische Veränderung bedeutet eine qualitative Neuartigkeit des dramatischen Aufbaus bei Shakespeare. Das Neue ist dabei selbstverständlich keine äußer­ liche, einfache Vermehrung des Reichtums der künstlerisch gestalteten Welt. Sie ist, im Gegenteil, ein ganz neues, genial erfundenes, originelles System von vielfältigen, typischen, aber in dieser Vielfältigkeit auf das typisch Not­ wendige reduzierten gesellschaftlichen und menschlichen Bewegungen. Gerade weil bei Shakespeare das innerste Wesen des Dramas sich auf denselben Prin­ zipien aufbaut wie bei den Griechen, mußte seine dramatische Form eine völ­ lig andere sein. Die Richtigkeit und Tiefe der Lessingschen Analyse zeigt sich aber insbeson­ dere an negativen Beispielen. Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, daß die äußere Konzentrierung der Handlung, die Reduktion der Personenzahl auf wenige Personen usw. eine rein dramatische, der bunte häufige Szenenwech­ sel, die große Anzahl der handelnden Figuren usw. eine episierende Richtung im Drama repräsentieren würde. Diese Auffassung ist oberflächlich und irr­ tümlich. Der richtig dramatische oder »romanisierte« Charakter eines Dra­ mas hängt von der Lösung des Problems der »Totalität der Bewegungen « und nicht von bloß formalen Kennzeichen ab. Man nehme auf der einen Seite die Kompositionsart der tragedie classique. Sie versucht, die berühmte Einheit des Raumes und der Zeit zu verwirklichen. Sie reduziert die auftretenden Figuren auf ein Minimum. Aber innerhalb die­ ses Minimums gibt es ausnahmslos dramatisch vollständig überflüssige Per­ sonen, nämlich die b erüchtigten »Vertrauten« . Alfieri, selbst ein Anhänger

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

IIj

dieser Kompositionsart, kritisiert nicht nur theoretisch die undramatische Rolle dieser Figuren , sondern entfernt sie praktisch aus seinen Dramen. Aber was ergibt sich dabei? Die Alfierischen Helden haben allerdings keine »Ver­ trauten«, sie haben aber dafür lange und oft ganz undramatische Monologe. Alfieris Kritik entlarvt eine pseudodramatische Seite der tragedie classique und setzt an ihre Stelle ein offen undramatisches Motiv. Der wirkliche Kom­ positionsfehler, der diesem ganzen Problemkomplex zugrunde liegt, ist der, daß die Kollision von diesen Dichtern - bei den verschiedenen bedeutenden Vertretern dieser Richtung aus verschiedenen historischen und individuellen Motiven in verschiedener Weise - mechanisch und brutal verabstrahiert wurde. Damit geht die lebendige Dynamik der »Totalität der Bewegung« verloren. Man denke hier wieder an Shakespeare. Selbst seine » einsamsten« Helden stehen nicht allein. Aber Horatio neben Hamlet ist kein »Vertrauter« , sondern eine selbständige und notwendige, eine treibende Kraft der Gesamt­ handlung. Ohne das System der Handlungskontraste zwischen Hamlet, Ho­ ratio, Fortinbras und Laertes wäre die konkrete Kollision dieser Tragödie undenkbar. Ebenso haben Mercutio und Benvolio in »Romeo und Julia« selbständige, dramatisch-inhaltlich notwendige Funktionen. Als Gegenbeispiel möge das naturalistische Drama dienen. Dort, wo eine einigermaßen dramatische Komposition zustande gekommen ist, wie z. B. in den »Webern« von Hauptmann, ist die Mehrzahl der Figuren dramatisch notwendig, repräsentiert eine bewegte und handlungsmäßige Komponente der konkreten Totalität des Weberaufstandes. Dagegen enthalten die meisten naturalistischen Dramen, selbst j ene, die mit verhältnismäßig wenigen Fi­ guren auskommen und ihre Handlung zeitlich und räumlich stark konzen­ trieren, immer wieder eine Reihe von Figuren, die nur dazu dienen , das so­ ziale Milieu der Handlung für den Zuschauer anschaulich zu machen. Jede solche Figur, j ede solche Szene »romanisiert« das Drama, denn sie drückt ein Moment jener »Totalität der Objekte« aus, die der Zielsetzung des Dramas wesensfremd ist. Diese Vereinfachung scheint das Drama vom Leben zu entfernen, und aus diesem Schein sind mannigfache falsche Theorien über das Drama entstanden : in vergangenen Zeiten die verschiedenen Theorien zur Rechtfertigung der tra­ gedie classique; in unseren Zeiten die Theorien von dem » konventionellen « Charakter der dramatischen Form, von der »Eigengesetzlichkeit« des Thea­ ters usw. Letzere sind nichts weiter als Reaktionen auf das notwendige Schei­ tern des Naturalismus im Drama und bewegen sich, ins entgegengesetzte Extrem verfallend, in demselben falsd1en Zauberkreis wie der Naturalismus selbst.

I I6

H istorisdJer Roman und historisches Drama

Man muß aber diese »Entferntheit« des Dramas selbst als eine Tatsache des Lebens begreifen, als eine künstlerische Widerspiegelung dessen, wie das Leben selbst in bestimmten Momenten seiner Bewegung objektiv ist und wie es dementsprechend notwendig erscheint. Es kann im allgemeinen als unbestritten betrachtet werden, daß das Drama die Kollision gesellschaftlicher Kräfte auf ihrem extremsten, am meisten zu­ gespitzten Punkt zum zentralen Vorwurf hat. Und es gehört kein besonderer Scharfsinn dazu, um die Beziehung von gesellschaftlicher Kollision in extre­ mer Form und gesellschaftlicher Umwälzung, Revolution zu sehen. Jede echte, tiefe Theorie des Tragischen betont als Wesenszeichen der Kollision einerseits die Notwendigkeit des Handelns auf beiden Seiten der kämpfenden Kräfte und andererseits die Notwendigkeit der gewaltsamen Austragung dieser Kol­ lision. Wenn man aber diese formalen Anforderungen an die tragische Kol­ lision in die Sprache des Lebens überträgt, so sieht man darin die aufs höch­ ste verallgemeinerten , auf die abstrakte Form der Bewegung reduzierten Züge der revolutionären Umwälzungen des Leben selbst. Es ist sicher kein Zufall, daß die großen Perioden der Blüte der Tragödie mit den großen welthistorischen Umwälzungen der menschlichen Gesellschaft zusammenfallen. Schon Hegel hat - wenn auch in mystifizierter Form - im Konflikt der »Antigone« des Sophokles den Zusammenstoß jener gesellschaft­ lichen Kräfte erkannt, die in der Wirklichkeit zur Zerstörung der primitiven Gesellschaftsformen, zur Entstehung der griechischen Polis geführt haben. Die Analyse der »Üresteia« des Aischylos durch Bachofen treibt zwar die mysti­ fizierenden Tendenzen noch weiter als Hege � , formuliert aber diesen gesell­ schaftlichen Konflikt doch konkreter, als es Hegel getan hat : als tragische Kollision des untergehenden mutterrechtlichen Zustands mit der neuen Ge­ sellschaftsordnung des Vaterrechts. Die eindringliche und tiefe Analyse dieser Frage, die Engels im » Ursprung der Familie« gibt, stellt die mystisch-ideali­ stische Theorie Bachofens materialistisch auf die Füße und begründet in einer theoretisch wie historisch gleich klaren Weise die Notwendigkeit des Zusam­ menhanges zwischen der Entstehung der griechischen Tragödie und dieser welthistorischen Umwälzung in der Geschichte der Menschheit . .li.hnlich ist es um die zweite Blüte der Tragödie im Zeitalter der Renaissance bestellt. Diesmal ergibt die welthistorische Kollision zwischen dem unter­ gehenden Feudalismus und den Geburtswehen der letzten Kl assengesellschaft die stofflichen und formalen Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung des Dramas. Marx hat diesen Zusammenhang für das Drama der Renais­ sancezeit vollkommen eindeutig ausgesprochen. Er hat auch in verschiedenen

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

1 17

Schriften auf die gesellschaftliche Notwendigkeit der Entstehung und des Endes von tragischen Perioden hingewiesen. So hebt er in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie-Einleitung« (1 844) gerade das Moment der Notwendigkeit, des aus der Notwendigkeit entstammenden tiefen Gefühls der Berechtigung beim untergehenden Teil der Gesellschaft als Voraussetzung der Tragödie hervor : » Solange das ancien regime als vorhandene Welt­ ordnung mit einer erst werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber kein persönlicher. Sein Untergang war daher tragisch. « In dieser Jugendabhandlung, wie auch später im »Achtzehnten Brumaire« gibt Marx eine tiefschürfende Analyse der Tatsache, weshalb bestimmte ge­ sellschaftliche Kollisionen im Laufe der historischen Entwicklung aus tragi­ schen Konflikten zu Gegenständen der Komödie werden. Und es ist außer­ ordentlich interessant und für die Theorie des Dramas grundlegend wichtig, daß das objektive Resultat der von Marx untersuchten historischen Entwick­ lungen in diesem Fall stets darin besteht, daß die tragische Notwendigkeit des Handelns bei einem der kämpfenden Teile, bei dem Bekämpfer des menschlichen Fortschritts gesellschaftlich-geschichtlich aufgehoben wird. Es wäre aber zu eng, die Lebenstatsachen, die der dramatischen Form zu­ grunde liegen , mechanistisch steif auf die großen historischen Revolutionen selbst zu beschränken. Das würde eine gedankliche Isolierung der Revolution von den allgemeinen und stets wirksamen Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens bedeuten, es würde aus der Tatsache der Revolution wieder eine Art Cuviersche »Naturkatastrophe« machen. Dagegen ist vor allem zu bemer­ ken, daß nicht alle jene gesellschaftlichen Kollisionen, die Keime zu einer Revolution in sich trugen, in der historischen Wirklichkeit zu Revolutionen geführt haben. Marx und Lenin haben wiederholt darauf hingewiesen, daß es objektiv revolutionäre Situationen gab, die infolge der Unentwickeltheit des subjektiven Faktors doch zu keinem Ausbruch der Revolution geführt haben. Man denke an die Zeit Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des 1 9 . Jahrhunderts in Deutschland (» neue Ara « und anschließender Verfassungskonflikt in Preußen). Aber damit ist das Problem der gesellschaftlichen Kollisionen noch lange nicht erschöpft. Eine wirkliche Volksrevolution bricht nie infolge eines ein­ zigen isolierten gesellschaftlichen Widerspruches aus. Die objektiv-historische Vorbereitungszeit der Revolutionen ist im Leben selbst von einer ganzen Reihe tragischer Widersprüche erfüllt. Das Heranreifen der Revolution zeigt dann immer klarer den objektiven Zusammenhang dieser mitunter vereinzelt

118

Historischer Roman und historisches Drama

auftauchenden Widersprüche und faßt sie im Handeln der Massen in einige zentrale und entscheidende Fragen zusammen. Und ebenso können bestimmte gesellschaftliche Widersprüche auch nach einer Revolution unerledigt weiter­ wirken oder gar infolge der Revolution verstärkt und erhöht hervortreten. All dies hat für die Frage, die uns hier interessiert, sehr wichtige Konsequen­ zen. Es zeigt sich einerseits der wichtige Lebenszusammenhang zwischen dra­ matischer Kollision und gesellschaftlicher Umwälzung. Die Auffassung von Marx und Engels über den Zusammenhang von dramatischer Blütezeit und Revolution bewahrheitet sich dabei vollständig; denn es ist klar, daß die ge­ sellschaftlich-geschichtliche Konzentrierung der Widersprüche des Lebens mit Notwendigkeit zu einer dramatischen Gestaltung treibt. Andererseits zeigt es sich, daß die Lebenswahrheit der dramatischen Form nicht in einer engen und mechanischen Weise auf die großen Revolutionen der Menschheitsgeschichte gewissermaßen » lokalisiert« werden kann. Denn die wirkliche dramatische Kollision faßt allerdings die menschlich-moralischen Züge einer großen ge­ sellschaftlichen Revolution zusammen, aber gerade weil die Gestaltung auf das menschlich Wesentliche geht, muß der konkrete Konflikt keineswegs un­ bedingt in seiner unmittelbaren Erscheinungsweise eine ihm zugrunde liegende Umwälzung offenbaren. Diese bildet den allgemeinen Boden der Kollision, aber die Verbindung dieser Basis mit der konkreten Form der Kollision kann sehr kompliziert und vermittelt sein. Wir werden später seh en, daß der Histo­ rismus gerade der reifsten und bedeutendsten Dramen Shakespeares in einer solchen Weise zutage tritt. Die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Ent­ wicklung, die Steigerung dieser Widersprüche bis zur tragischen Kollision ist eine allgemeine Tatsache des Lebens. Diese Widersprüchlichkeit des Lebens hört auch mit der gesellschaftlichen Aufhebung des Klassenantagonismus durch die siegreiche sozialistische Revo­ lution nicht auf. Es wäre eine ganz flache und undialektische Auffassung des Lebens, zu glauben , daß es im Sozialismus nur die langweilige Heiterkeit einer unproblematischen, k ampflosen und konfliktlosen Selbstzufriedenheit gäbe. Selbstverständlich erhalten die dramatischen Kollisionen ein vollständig neues Gesicht, da mit dem gesellschaftlichen Verschwinden des Klassenant­ agonismus, der antagonistischen Widersprüche, z . B . der notwendige tragi­ sche Untergang des Helden im Drama nicht mehr jene Rolle spielt wie früher. Es ist aber auch in bezug auf das Drama der Klassengesellschaft mehr als oberflächlich, im tragischen Untergang ausschließlich die brutale Vernichtung des Menschenlebens, nur etwas »Pessimistisches« zu sehen - dem dann in

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

I I9

unserem Drama ein ebenso flach aufgefaßter » Optimismus« gegenüberzu­ stellen wäre. Es darf nie vergessen werden, daß der Weg zum tragischen Untergang bei den wirklich großen dramatischen Dichtern der vergangenen Zeiten immer zugleich eine Entfaltung der größten menschlichen Energien, des höchsten menschlichen Heroismus gewesen ist, welche Erhöhung des Men­ schen gerade durch das Durchfechten des Konfliktes bis zum Ende möglich geworden ist. Ja, Antigone oder Romeo gehen tragisch unter, aber die ster­ bende Antigone und der sterbende Romeo sind viel größere, reichere und höhere Menschen, als sie es gewesen sind, bevor sie in den Strudel der tragi­ schen Kollision gerissen wurden. Heute kommt es besonders darauf an, diese Seite der tragischen Kollision zu betonen, zu sehen , wie hier eine allgemeine Lebenstatsache in der drama­ tischen Form und durd1 sie dichterisch verallgemeinert und intensiv erlebbar gemacht wird. Und diese menschliche Seite der dramatischen Kollision, die keineswegs notwendig mit dem tragischen Untergang verknüpft ist, ist als Lebenstatsache auch in der sozialistischen Wirklichkeit vorhanden, kann also zur Grundlage einer bedeutenden dramatischen Gestaltung werden. Es muß also bei der Erkenntnis der Wahrheit der dramatischen Form das Problem der Kollision als einer Tatsache des Lebens sehr konkret ins Auge gefaßt werden. Ohne den geringsten Anspruch auf eine auch nur annähernde Erschöpfung dieses Problems zu erheben, seien hier einige typische Tatsachen des Lebens aufgezählt, deren künstlerische Widerspiegelung notwendig zur Schaffung der dramatischen Form führt. Beginnen wir mit dem Problem des Scheideweges im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft. In Hebbels Tragödie »Herodes und Mariamne« sagt die Heldin zum Helden : »Du hast vielleicht Gerade jetzt Dein Schicksal in den Händen Und kannst es wenden, wie es Dir gefällt ! Für jeden Menschen kommt der Augenblick, In dem der Lenker seines Sterns ihm selbst Die Zügel übergibt. Nur das ist schlimm, Daß er den Augenblick nicht kennt, daß jeder Es sein kann, der vorüberrollt !« Nur Vertreter eines mechanistischen Fatalismus können die Wirklichkeit sol­ cher »Augenblicke« im Leben bezweifeln. Die Notwendigkeit des gesellschaft-

120

Historischer Roman und historisches Drama

liehen Lebens setzt sich nicht nur durch Zufälligkeiten, sondern auch durch solche Entschlüsse von Menschen und Menschengruppen durch. Selbstver­ ständlich sind diese Entschlüsse nicht frei im Sinne eines idealistischen Volun­ tarismus, sie stellen keine menschliche Selbständigkeit im luftleeren Raum vor. Aber im geschichtlich gegebenen, notwendig vorgeschriebenen Rahmen jedes menschlichen Handelns entstehen, gerade infolge der widerspruchsvol­ len Grundlage einer jeden gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung, not­ wendig solche »Augenblicke«. Wir haben dieses Wort in Anführungszeichen gesetzt, weil es allzu wörtlich genommen einen fetischistischen Charakter hat. Es gehört aber zu den wesent­ lichen Zügen der Wirklichkeit, daß ein solcher Scheideweg mit der Möglich­ keit und Notwendigkeit eines Entschlusses, ob man sich hierhin oder dort­ hin wenden wird, immer wieder auftaucht. Aber erstens ist eine solche Wahl nicht immer vorhanden, sondern setzt eine bestimmte krisenhafte Zuspitzung der gesellschaftlichen oder persönlichen Verhälmisse voraus, zweitens ist die zeitliche Dauer der Entschlußmöglichkeit stets verhältnismäßig begrenzt. Diese Tatsache ist wohl jedem aus seinen persönlichen Lebenserfahrungen bekannt. Die Schriften Lenins, insbesondere die aus den akut revolutionären Zeiten, zeigen, welche bedeutsame Rolle solche Augenblicke in der Geschichte selbst spielen und wie sehr ihre Dauer zeitlich eng beschränkt ist. Als Lenin nach dem Juliaufstand 1 9 1 7 den Sozialrevolutionären und den Menschewiki vor­ schlägt, eine den Räten verantwortliche Regierung zu bilden, schreibt er : »Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während weniger Tage, oder nur ein, zwei Wochen lang, könnte eine solche Regierung sich vollkommen friedlich bilden und konsolidieren. « Die politische Bedeutung dieses Vorschlags liegt außerhalb des Rahmens dieser Erörterungen. Uns kam es nur darauf an, an Hand der Xußerungen eines solchen Strategen und Taktikers im Klassen­ kampf, wie es Lenin war, zu zeigen, daß die Tatsache des » Scheidewegs« , des »Augenblicks« der Entscheidung nicht eine aus der Luft gegriffene über­ spannte Stilisierung idealistischer Dramatiker ist, nicht etwa eine » Forderung der dramatischen Form«, wie es die neuklassischen Theoretiker des Dramas in der imperialistischen Periode verdrehen, sondern eine höchst wichtige und immer wieder vorkommende Lebenstatsache, die sowohl im Schicksal der Einzelnen wie in dem der Klassen eine sehr wichtige Rolle spielt. Den zweiten Komplex dieser Tatsachen des Lebens könnte man kurz mit dem Schlagwort bezeichnen, daß einem für etwas » die Rechnung präsentiert« wird. Was bedeutet das? Die kausale Verschlungenheit des Lebens ist außer-

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

121

ordentlich kompliziert. Selbstverständlich wirkt sich jede Tat eines Menschen oder einer Menschengruppe in ihren weiteren Schicksalen aus ; ihr Schicksal ist im hohen Maße davon abhängig, welche Richtung des Handelns sie unter den geschichtlich gegebenen Umständen einschlagen. Aber diese Konsequen­ zen s tellen sich im Leben oft sehr langsam, immer ungleichmäßig und wider­ spruchsvoll ein. Viele beenden ihr Leben oder haben längst eine andere Rich­ tung ihrer Lebensführung eingeschlagen, bevor die Konsequenzen ihrer frü­ heren Taten in solcher Form an sie herantreten. Es ist aber eine allgemeine, häufig vorkommende Tatsache des Lebens, daß diese Konsequenzen, die notwendig aus früheren Taten und insbesondere aus jenem allgemeinen Ver­ halten, aus jener Stellung zum Leben, die diese Taten inspiriert hatte, stam­ men, mit voller Wucht sich im Leben konzentrieren und der Mensch dann die Rechnung seines Lebens zu bezahlen hat. Auch hier ist der Zusammen­ hang zwischen den dramatischen Tatsachen des Lebens und den revolutio­ nären Krisen der Gesellschaft offensichtlich. Denn insbesondere bei gesell­ schaftlichen Gruppen, z. B. bei Parteien, tritt ein solches Präsentieren der Rechnung zumeist in Zeiten der Krise ein. Parteien haben sich von der wirk­ lichen Vertretung jener Klasseninteressen, zu deren Durchsetzung sie be­ gründet wurden, al lmählich entfernt, haben in dieser Hinsicht Verfehlung auf Verfehlung gehäuft, ohne daß sich irgendwelche wirkliche Konsequenz ein­ ges tellt hätte. »Plötzlich« ist dann eine gesellschaftlidie Krise da, und eine gestern mächtige Partei steht »plötzlich« von Schande bedeckt und ohne Ge­ folgschaft vor den Augen ihrer früheren Anhänger. Die Geschichte ist voll von solchen Tatsachen, selbstverständlich nicht nur in bezug auf politische Parteien im engeren Sinne. Gerade die große Französische Revolution ist von solchen schon im Leben selbst dramatischen Katastrophen erfüllt. Vom »plötzlichen« Zusammenbruch des Absolutismus am Tage des Bastillesturmes führt über den Sturz der Gironde, der Dantonisten, den Thermidor eine Kette derartiger Zusammenbrüche bis zum Sturz des Napoleonischen Kaiser­ reichs. Solche Momente haben schon im Leben selbst einen dramatischen Charakter. Es ist also kein Wunder, wenn die »präsentierte Rechnung« eines der Zentral­ probleme der dramatischen Gestaltung bildet. Vom tragischen Vorbild der dramatischen Gestaltung für zwei Jahrtausende, vom »Ödipus« des Sophok­ l es bis zu Büchners »Dantons Tod« können wir dieses Problem als ein Leit­ motiv großer Tragödien verfolgen. Und es ist für die dramatische Gestaltung besonders charakteristisch, daß sie nicht die langsame, allmähliche Anhäufung der Konsequenzen gestaltet, sondern zumeist eine verhältnismäßig kurze, ab-

1 2. 2.

Historischer Roman und historisches Drama

schließende Zeitspanne herausgreift - eben jenes dramatische Moment des Lebens selbst -, in der die Zusammenballung der angehäuften Konsequenzen sich in Handlungen vollzieht. Man pflegt, ausgehend vom formalen Beispiel des »Ödipus«, diese Art Drama einerseits mit der klassizistischen Konzen­ tration des Geschehens, andererseits mit einer antiken » Schicksalsidee« in Zu­ sammenhang zu bringen. Beides entspricht nicht den Tatsachen. Denn z. B. Büchners Meisterwerk ist seiner Form nach durchaus im Sinne Shakespeares und nicht der Griechen entworfen. Und doch beruht in ihm die Tragik Dan­ tons auf dieser Grundlage. Weder der gewaltige Taktiker des revolutionären Sieges noch der schwankende, sich von der Weiterführung der Revolution abwendende bürgerliche Politiker steht im Mittelpunkt der Gestaltung. All dies ist bei Büchner längst geschehen. Er gestaltet nur mit unvergleichlicher dramatischer Kraft, wie dem großen Revolutionär Danton, der sich vom Volk und seinem Schicksal entfremdet hat, für diese Wegwendung von der Geschichte » die Rechnung präsentiert wird « . Gehen wir weiter. Lenin spricht wiederholt davon, daß man i n einer be­ stimmten Situation des Handelns aus der unendlichen Reihe der Möglich­ keiten ein bestimmtes Kettenglied fest anpacken muß und erst dadurch die ganze Kette wirklich in der Hand halten kann. Lenin hat damit nicht nur ein wichtiges Prinzip des politischen Handelns, insbesondere in Perioden der not­ wendigen Wendungen, unvergleichlich charakterisiert, sondern er hat damit zugleich eine allgemeine Charakteristik des menschlichen Handelns überhaupt gegeben. Besser gesagt : einer bestimmten Art des menschlichen Handelns, einer Art des menschlichen Reagierens an bestimmten Wendepunkten des Lebens. Wir wollen nur in aller Kürze darauf hinweisen, daß das Wählen und Ergreifen eines Kettengliedes in einer inneren Beziehung zu dem von uns früher behandelten Problem des Scheideweges steht. Aber wir wollen die Aufmerksamkeit auf den spezifischen Charakter dieser Lebenstatsache len­ ken. Und das Spezifische des Kettengliedproblems liegt vor allem in der Be­ tonung des ergriffenen Kettengliedes, darin, daß dieses in den Mittelpunkt gestellt wird. Dadurch wird, im Leben selbst und für die Zwecke des Lebens selbst, das Leben vereinfacht, verallgemeinert. Diese Vereinfachung und Verallgemeinerung gibt dem Leben selbst einen Schlag auf Schlag arbei­ tenden, energischen, Kontraste herausarbeitenden, die Kontraste auf die Spitze treibenden Charakter. Das Ergreifen des Kettengliedes braucht an sich nicht notwendigerweise mit einer Kollision verbunden zu sein und nicht notwendig aus einer Kollision herauszuwachsen, aber die Konzentrierung der Lebensprobleme auf ein sol-

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

123

ches Zentrum ruft in den meisten Fällen Kollisionen hervor. Denn Konzen­ trierung geschieht ja auch im Leben des einzelnen Menschen nicht im luft­ leeren Raum, sondern in lebendiger Wechselwirkung mit den Handlungen anderer Menschen. Und naturgemäß ruft die Konzentrierung des eigenen Handelns auf einen entscheidenden Punkt die Konzentrierung auch der ent­ gegenwirkenden persönlich-menschlichen Kräfte auf diesen Punkt hervor. Freilich ist diese Wirkung des Kettengliedes besonders im politischen Leben sichtbar. Die oft amorphe Art der verschiedenen Tendenzen und Strömungen gewinnt hüben und drüben eine deutliche, ausgeprägte Physiognomie, wenn ein solches Kettengliedproblem aufgeworfen und in den Mittelpunkt des poli­ tischen Lebens gestellt wird. Man denke nur an die außerordentlich starke Differenzierung der verschiedenen Standpunkte, die durch Lenins große Re­ den bei der Einführung der NÖP hervorgerufen wurde. Mutatis mutandis spielt d ieses Problem im Leben des Einzelnen eine verwandte Rolle. Heben wir endlich ein mit dieser Frage eng verknüpftes anderes Problem hervor : das tiefe Verwachsensein eines Menschen mit seinem Werk. Schon im rein persönlichen Leben entstehen dadurch Kollisionen, dramatische Zusam­ menstöße und Verwicklungen. Denn so sehr ein Lebenswerk das Zentrum aller Bestrebungen eines Menschen bilden mag, es gibt keinen Menschen, in dem und für den nicht auch andere Lebensmächte von entscheidender Wichtigkeit wären. Je tiefer einerseits die Hingabe des Menschen an sein Lebenswerk, je mehr er andererseits echter Mensch ist, d. h. je mehr und je innigere Fäden ihn mit dem Leben, mit den verschiedenen Lebensströmungen ver­ knüpfen, desto dramatischer wird diese Kollision. Aber die Verbundenheit eines Menschen mit einem Lebenswerk ist nicht immer, sogar in den seltensten Fällen bloß seine eigene Angelegenheit. Han­ delt es sich um ein Werk der Kunst oder der Wissenschaft, so kann ober­ flächlich und psychologisch ein solcher Anschein entstehen. Ist aber dieses Lebenswerk unmittelbar mit dem Leben der Gesellschaft verbunden, so ent­ steht ein Komplex von Verwicklungen, der seinem Wesen nach und direkt gesellschaftlichen Charakter trägt. Wir sind damit zu dem Problem zurückgekehrt, das wir bereits im ersten Teil behandelt haben, zum Problem der »weltgeschichtlichen Individuen« im Sinne Hegels. Damals sind wir von der Behandlung des Geschichtsprozesses selbst ausgegangen und haben die Rolle untersucht, die in seiner epischen Gestal­ tung diese »weltgeschichtlichen Individuen« spielen. Wir kamen zu der Fol­ gerung, daß gerade ihre geschichtliche Bedeutung episch am besten dann zum Ausdruck kommt, wenn sie, kompositionell gesehen, Nebenfiguren der Fabel

1 24

Historischer Roman und historisches Drama

bilden. Jetzt treten wir an das Problem von einer anderen Seite, vom inneren Leben des Individuums aus, heran. Wir sehen, wie die tiefe menschliche Ver­ bundenheit mit der Gesellschaft und mit den Aufgaben des Menschen in ihr zu dem Typus des »weltgeschichtlichen Individuums« hintreibt, in dem sowohl die Verbundenheit des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Aufgabe, sein Aufgehen in dieser Aufgabe, wie auch die extensive und intensive Bedeutung dieser Aufgabe auf dem Gipfelpunkt erscheinen. Hegel sagt über diesen Zu­ sammenhang : »Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikuläre Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Dieser Gehalt ist ihre wahrhafte Macht . . . « Wenn wir bereits in der vollständigen persönlichen Hingegebenheit an ein Werk eine Dramatisierung des Lebens im Leben selbst erblicken mußten, so ist klar, daß dieser höchste Fall einer solchen Verbundenheit auch im drama­ tischen Sinne einen Gipfelpunkt darstellt, und zwar schon im Leben selbst, nicht nur in der Kunst. Auch im Leben selbst verschärft diese wesentliche persönliche Einheit zwischen dem Individuum , seinem Lebenswerk und dem gesellschaftlichen Inhalt dieses Lebenswerkes die Konzentrierung jenes Le­ benskreises , in dem das »weltgeschichtliche Individuum« auftritt, auf die prägnanten Kollisionen, die mit der Verwirklichung dieses Lebenswerkes sachlich verknüpft sind. Das » weltgeschichtliche Individuum « hat einen dra­ matischen Charakter. Es ist vom Leben selbst zum Helden, zur zentralen Figur des Dramas bestimmt. Denn die gesellschaftliche Kollision als Mittelpunkt des Dramas, um den alles kreist, auf den alle Komponenten der »Totalität der Bewegung« bezogen sind, fordert die Gestaltung von Menschen, di e in ihren persönlichen Leiden­ schaften unmitelbar jene Kräfte repräsentieren, deren Zusammenstoß den sachlichen Gehalt der Kollision ausmacht. Es ist klar, daß, je mehr ein Mensch »weltgeschichtliches Individuum« im Sinne Hegels ist, das heißt: je mehr seine persönlichen Leidenschaften sich auf den Inhalt der Kollision konzentrieren und darin aufgehen, er desto mehr geeignet ist, Hauptheld, Mittelpunkts­ gestalt des Dramas zu sein. Auch diese Wahrheit der dramatischen Form ist, wie wir gesehen haben, eine Wahrheit des Lebens, keine formalistische Klügelei. Sie darf deshalb niemals in einem mechanisch überspannten Sinne ausgelegt werden, etwa so , wie viele Theoretiker der tragedie classique und ihre mo­ dernen neuklassizistischen Nachahmer gemeint haben, daß nur die großen Gestalten der Geschichte - oder des Mythos - geeignet seien, Helden des Dramas abzugeben. Für das Leben und für sein künstlerisches Abbild, das

Grundlagen der Scheidung von Epik und Dramatik

125

Drama, handelt es sich nicht um eine formal-dekorative Repräsentation, sondern um eine sachlich-inhaltliche Kräftekonzentration, um ein wirkliches persönliches In-sich-Zusammenfassen einer kollidierenden gesellschaftlichen Kraft. Hebbel vergleicht einmal geistreich und schön die Tragödie mit einer Welt­ uhr, deren Gang die Aufeinanderfolge der großen historischen Krisen an­ zeigt, und er fügt, dieses Gleichnis ausbauend, hinzu : »Es ist an und für sich gleichgültig, ob der Zeiger der Uhr von Gold oder von Messing ist, und es kommt nicht darauf an, ob eine in sich bedeutende, das heißt symbolische Handlung sich in einer niederen oder gesellschaftlich höheren Sphäre ereig­ net. « Er schrieb diese Worte im Vorwort zu seiner bürgerlichen Tragödie »Maria Magdalena«, zur theoretischen Verteidigung derselben. Und er hat in dieser Verteidigung vollständig recht. Figuren wie der Bauer Pedro Crespo - in Calderons »Richter von Zalamea« -, wie die bürgerlichen Gestalten in »Emilia Galotti« in »Kabale und Liehe« , in Ostrowskijs » Gewitter« und auch in Hebbels Tragödie sind in diesem Sinne »weltgeschichtliche Individuen«. Daß der konkrete individuelle Konflikt, der in diesen Dramen behandelt wird, keine extensive historische Größe hat, das heißt nicht unmittelbar das Schicksal von Völkern oder Klassen entscheidet, ändert an dieser Tatsache nichts. Wichtig ist, daß die Kollision in diesen Dramen ihrem inneren sozialen Gehalt nach ein geschichtlich-gesellschaftlich entscheidendes Ereignis ist ; daß die Helden solcher Dramen jene Verbundenheit der individuellen Leiden­ schaft und des gesellschaftlichen Gehalts der Kollision in sid1 haben, die die » weltgeschichtlichen Individuen« kennzeichnet. Das Fehlen dieser beiden dra­ matischen Momente des Lebens selbst macht die meisten bürgerlichen - und leider auch proletarischen - Dramen so flach, langweilig und bedeutungslos. Die Ungunst des Stoffes besteht vor allem in der Schwierigkeit, den welt­ geschichtlichen Charakter des Konflikts und des in ihm stehenden Helden ohne Stilisierung, ohne ein Hineintragen falsch monumentalisierender Mo­ mente und doch dramatisch zu entwickeln. Das moderne Drama in der Pe­ riode des allgemeinen Niedergangs des Realismus bewegt sich aber auf der Linie des geringsten Widerstandes. Das heißt, es paßt seine Gestaltungs­ mittel den trivialsten Seiten des Stoffes, den prosaischsten Momenten des modernen Alltagslebens an. Dadurch wird künstlerisch die graue Banalität zum Bild der Gestaltung ; sie unterstreicht gerade die für das Drama ungün­ stigen Seiten des Stoffes. Es entstehen Schauspiele, die gerade in dramatischer Hinsicht tiefer stehen als das von ihnen gestaltete Leben selbst. Wir wiederholen : wir haben hier nur einige wenige prägnante Beispiele aus

126

Historischer Roman und historisches Drama

der großen Reihe jener Tatsachen des Lebens hervorgehoben, deren konzen­ trierte, künstlerisch bewußte, alle Möglichkeiten dieser Konzentration er­ schöpfende Widerspiegelung eben das Drama ist. Die Formgesetze des Dra­ mas entspringen aus der Lebensmaterie, deren allgemeinste, künstlerisch aufs höchste verallgemeinerte Widerspiegelung eben seine Form ist. Darum sd1af­ fen die großen Dichter verschiedener Perioden Dramen von ganz verschied­ nem Typus. Aber eben darum herrscht in diesen sehr verschiedenen Kunst­ werken doch eine gleiche innere Formgesetzlichkeit: die Gesetzlichkeit der Bewegung im Leben selbst, deren künstlerische Abbilder die Dramen sind ; es herrschen die Gesetze der künstlerischen Widerspiegelung, durch deren An­ wendung und Einhaltung sie wirkliche Kunstwerke sind. Alle Theorien des Dramas, die - wenn auch unbewußt, wie die idealistische 1\sthetik früherer Perioden - nicht von diesen Lebenstatsachen ausgehen, sondern von irgendwelchen Problemen der dramatisierten »Stilisierung« , müssen notwendigerweise auf formalistische Abwege geraten. Denn sie sehen nicht, daß die sogenannte »Lebensferne« der dramatischen Form nur ein erhöhter und konzentrierter Ausdruck bestimmter Tendenzen des Lebens selbst ist. Das Mißverstehen dieses Tatbestandes, das Ausgeben von der for­ malen Entfernung des dramatischen Ausdrucks von den allgemeinen und durchschnittlichen Kußerungsformen des Alltagslebens führt nicht nur eine falsche Theorie, sondern auch eine falsche dramatische Praxis herbei, verzerrt nicht nur die Form des Dramas, sondern auch dessen gesellschaftlich-mensch­ lichen Inhalt. Von Saint Evremond bis Voltaire haben viele. Kritiker der tragedie cl assique ein unheiml iches Gefühl selbst bei den bedeutendsten Dramen Corneilles und Racines gehabt. Sie fühlten eine Abstraktheit, eine Lebensferne, einen Mangel an »Natur«. Aber trotz der sehr prinzipiellen und in vielen Fragen auf die wichtigsten Formprobleme eingehenden Kritik Lessings hat erst Man­ zoni den Finger auf die wundeste Stelle der tragedie classique gelegt. Wir führen seine Kritik hier darum an, weil aus ihr am anschaul ichsten hervor­ geht, daß die Aufgabe der dramatischen Konzentration eine richtige Wider­ spiegelung wirklicher Lebenstatsachen, wirkl icher Tendenzen des Lebens ist, weil die den menschlichen Gehalt des Dramas verzerrende Wirkung der for­ malen Konzentration aus ihr am deutlichsten hervorgeht. Manzoni bekämpfte sein Leben lang die formalen Forderungen der Einheit des Ortes und der Zeit, er sah in ihnen unüberwindbare Hindernisse für die Aufgabe seiner Zeit , für das historische Drama. Aber - ebenso wie sein gro­ ßer Zeitgenosse Puschkin - bekämpft er sie nicht im Namen einer »Natür-

Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltung

1 27

lichkeit« , nicht im Namen der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit. Er geht vielmehr davon aus, wie die gestalteten Menschen und ihre Leiden­ schaften bei der Konzentration der Zeit der Handlung auf vierundzwanzig Stunden deformiert werden müssen. »Man mußte deshalb diesen Willen rascher ins Leben rufen, indem man die Leidenschaften übertrieb, indem man sie denaturierte. Damit ein Mensch innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu einem endgültigen Beschluß komme, muß bei ihm unbedingt ein ganz an­ derer Grad der Leidenschaft vorhanden sein, wie es jene ist, gegen die er einen Monat lang kämpfte. « Alle Nuancen sind damit vertilgt. »Die tragischen Dichter sind darauf reduziert, nur eine kleine Anzahl von ausgesprochenen und herrschenden Leidenschaften zu schildern . . . Das Theater ist erfüllt von fiktiven Personen, die dort eher als abstrakte Typen bestimmter Leidenschaf­ ten agieren wie als leidenschaftserfüllte Menschen . . . Daher diese Übertrei­ bung, di eser konventionelle Ton, dieser Uniformismus der tragischen Cha­ raktere . . . « Die räumliche und zeitliche Konzentration zwingt diese Tragi­ ker, » den Ursachen um jeden Preis eine größere Kraft zu geben, als es die wirklichen Ursachen gehabt hätten . . . Es sind brutale Schocks, fürchterliche Passionen, überhäufte Determinationen notwendig . . . « Und im weiteren führt Manzoni überzeugend aus, wie das auch von anderen Kritikern be­ kämpfte übermäßige Vorherrschen des Motivs der Liebe mit diesen Form­ problemen , mit ihrer verzerrenden Wirkung zusammenhängt. Selbstverständlich hat die Tendenz zur Verzerrung ihre unmittelbaren gesell­ schaftlich-geschichtlichen Ursachen. Aber die künstlerische Form ist nie ein einfaches mechanisches Abbild des gesellschaftlichen Lebens. Sie entsteht zwar als Widerspiegelung seiner Tendenzen, hat aber, inerhalb dieses Rahmens, eine eigene Dynamik, eine eigene Richtung zum Wahrheitsgemäßen oder zur Entfernung davon. D er große dramatische Dichter und tiefe Kritiker Man­ zoni hat deshalb mit Recht diese verzerrende Wirkung einer Formgebung kritisiert, gerade indem er die Probleme der dramatischen Form mit denen des historischen Lebens in einem engen Zusammenhang auffaßt.

11

Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltung

Man könnte hier freilich die Frage aufwerfen : zugegeben, daß alle diese Lebenstatsachen, als deren künstlerische Widerspiegelung wir die dramatische Form auffassen, wirkliche und wichtige Tatsachen des Lebens sind - sind sie aber nicht allgemeine Lebenstatsachen? Müssen sie deshalb nicht auch von

128

Historischer Roman und historisches Drama

der Epik widergespiegelt werden? Die Frage ist durchaus berechtigt. S ie ist sogar in dieser allgemeinen und darum zu abstrakten Form zu bejahen. Als allgemeine Lebenstatsachen müssen sie natürlich von jeder Dichtung, die das Leben widerspiegelt, gestaltet werden. Es fragt sich nur, welche Rolle und Bedeutung ihnen in den verschiedenen Formen der Literatur zukommt. Und hier muß die Frage konkretisiert werden. Wir haben diese Lebenstatsachen aus dem ganzen Komplex des Lebens darum herausgehoben, weil sie in dieser Herausgehobenheit eben die Zentralprobleme der dramatischen Gestaltung bilden ; weil in der dramatischen Gestaltung alles um die Widerspiegelung solcher krisenhaften und Krisen hervorrufenden Erhöhungen und Höhepunkte des Lebens kreist; weil im Drama von diesem Zentrum aus das Kräfte­ parallelogramm der »Totalität der Bewegung« entsteht; weil das Drama das Leben in dieser seiner realen Erhöhung widerspiegelt. Alle diese Lebenstatsachen kommen selbstverständlich in der epischen Wider­ spiegelung der Wirklichkeit ebenfalls vor. Der Unterschied ist » nur«, daß sie hier jene Stelle einnehmen, die ihnen im gesamten Lebensprozeß zukommt. Sie sind hier nicht das Zentrum, um das herum alles gruppiert wird. Und weiter : da die dramatische Darstellung diese erhöhten Lebensmomente ge­ staltet, verschwinden aus ihrer Darstellung alle jene Erscheinungen des Le­ bens , die mit diesen nicht in unmitelbarem Zusammenhang stehen. D ie trei­ benden Kräfte des Lebens werden im Drama nur so weit dargestellt, als sie zu diesen zentralen Konflikten führen, als sie bewegende Kräfte dieser Kollisionen selbst sind. In der großen Epik dagegen erscheint das Leben in seiner breiten Fülle. Die dramatischen Höhepunkte können vorkommen, sie bilden aber Gipfel, zu denen nicht nur eine Bergkette gehört, sondern auch die Hügel und die Ebene. Und eine solche Art der Widerspiegelung ergibt selbstverständlich neue Aspekte. Es ist klar, daß die »normalen« Proportio­ nen des Lebens in der Epik viel strenger beibehalten werden als in der Dra­ matik, so daß es nicht überrascht, daß die neuen und eigenartigen Form­ probleme gerade beim Drama auftauchen. Diesen Zusammenhang hat bereits Aristoteles klar gesehen. Er sagt in der Fortsetzung der von uns bereits angeführten Stelle, in der er von der Gemeinschaft von Epos und Tra­ gödie spricht : »Denn was zu dem Epos gehört, das ist auch in der Tra­ gödie vorhanden, aber nicht alles, was zur Tragödie gehört, findet sich im Epos.« Eine solche Isolierung bestimmter Momente des Lebens wie im Drama muß selbst eine Erscheinungsform des Lebens sein, um als Grundlage zur Konsti­ tuierung einer literarischen Form dienen zu können. Denn die von uns eben

Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltung

1 29

aufgeworfene Frage hat noch einen anderen, historisch sowohl wie ästhetisch wichtigen Aspekt. Wie es nämlich klar ist, daß die vom Drama widergespie­ gelten Lebenstatsachen auch in der Epik gestaltet werden können und müssen, so scheint es auch selbstverständlich , daß diese Tatsachen im Leben ständig vorkommen ; das würde bedeuten, daß das Leben ununterbrochen die Mög­ lichkeit zu einem wirklichen und großen Drama bieten würde. Dies widerspricht jedoch den Ergebnissen der historischen Entwicklung der Literatur. Die dramatische Form hat allerdings im Laufe der Geschichte keine derart grundlegende Umwälzung erfahren, wie es die Verwandlung des alten Epos in den modernen bürgerlichen Roman gewesen ist. Die dramatische Form hat einen stärker perennierenden Charakter, ihre wesentlichen Gesetz­ mäßigkeiten bleiben in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen stärker auf­ bewahrt. Aber diese Kontinuität setzt sich in einer sehr diskontinuierlichen, sehr abgerissenen Entwicklung durch. Gerade für die Geschichte des Dramas ist es bezeichnend, daß es - verhältnismäßig kurze - intensive Blütezeiten gehabt hat, denen lange, Jahrhunderte lang andauernde Perioden voran­ gegangen und gefolgt sind, in denen so gut wie überhaupt nichts dem Drama auch nur Ähnliches geschaffen wurde. Und diese Tatsache ist um so auf­ fallender, als die äußere Voraussetzung der Darstellung des Dramas, die Bühne, die Schauspielerei, eine weitaus kontinuierlichere Entwicklung zeigt. Je inniger wir uns den Zusammenhang von Drama und Bühne - gerade von den inneren Gesetzmäßigkeiten der dramatischen Form her - den­ ken, desto ernsthafter muß die Frage nach den gesellschaftlich-geschicht­ lichen Gründen des diskontinuierlichen Auftretens des Dramas aufgeworfen werden. Schon die bloße Tatsache dieser Diskontinuität weist darau f hin, daß die von uns aufgezählten Momente des Lebens zwar sich im Drama widerspiegeln, daß sie Grundlagen seiner spezifischen Formprobleme bilden, daß jedoch zu ihnen noch etwas hinzutreten muß, besser gesagt, daß sie vom Leben in einer bestimmten spezifischen Weise produziert sein müssen, damit ihre adäquate dichterische Gestaltung zur wirklichen dramatischen Form führe. Und die Diskontinuität der Entwicklung des Lebens erklärt sich dann daraus, daß diese zusätzlichen spezifischen Momente, durch deren Hinzutreten erst das wirklich Dramatische entsteht, nur unter sehr besonderen gesellschaftlich­ geschichtlichen Bedingungen in Erscheinung treten können. Sie bringen also den untersuchten Lebenstatsachen gegenüber nichts prinzipiell Neues. Sie ver­ helfen aber dazu, daß der diesen stets innewohnende dramatische Charakter sich deutlich, sichtbar und adäquat herausstellt.

1 30

Historischer Roman und historisches Drama

Notwendigkeit wie Richtung und Art einer solchen Konkretisierung können leicht klargemacht werden. Nehmen wir z. B. j enen Fall, den wir früher mit dem Terminus der » präsentierten Rechnung« bezeichnet haben. Dieses Motiv taucht im Laufe der Literatur in den verschiedensten Formen auf, ohne überall wirklich dramatisch zu werden. So in den der äußeren Form nach dialogisch und szenisch aufgebauten mittelalterlichen Mysterienspielen. Es ist hier ein oft auftauchendes Thema - das seine berühmteste Gestalt im englischen Mysterienspiel »Everyman« erhielt -, daß dem Menschen in sei­ ner Sterbestunde der Tod die Rechnung seines Lebens präsentiert, daß in der Todesstunde zusammengefaßt und konzentriert der Bankrott eines falsch ge­ führten Lebens o:ff enbar wird. Trotz der dialogischen und szenischen Gestal­ tungsweise dieses Mysterienspiels, trotz seines - abstrakt genommen dramatischen Motivs entsteht hier doch für keinen Augenblick etwas Drama­ tisches. Warum? Weil die Folgen der » präsentierten Rechnung« unter solchen Bedingungen nur rein innerliche, nur psychologische und moralische sein kön­ nen und sich nicht in Handlung, in Kampf umsetzen lassen. Die Kollision spielt sich ausschließlich in der Seele des Helden ab, als Furcht, Reue, als innerer Kampf mit sich selbst usw. Ihre Kußerungsweise kann deshalb nur lyrisch oder didaktisch-rhetorisch sein. Trotz der szenischen Objektivierung erhalten die entstehenden Kollisionen keine sichtbare dramatische Gestalt ; trotz der dialogischen Form entsteht kein dramatischer Kampf zweier gesell­ schaftlich-menschlicher Mächte. (Und es ist interessant, zu beobachten, wie stark die innere Dramatik dieses Motivs zum Ausdruck kommt, wenn diese Art der »präsentierten Rechnung« - wie in Tolstois Meisternovelle »Der Tod des Iwan Iljitsch « - episch gestaltet witd.) Im Mysterienspiel, mit sei­ ner äußerlich dramatischen Form, ist die »präsentierte Rechnung« so all­ gemein, daß sie sich nicht in einem dramatisch individualisierten Fall äußern kann : die Individualität des Handlungsträgers steht zur Allgemeinheit des Problems wie ein - zufällig angeführtes, beliebig ersetzbares - Beispiel zu einem Gesetz, nicht wie die dramatische Verkörperung einer der kollidie­ renden Mächte. Diese abstrakte Allgemeinheit der kollidierenden Mächte muß keineswegs notwendig eine solche starre Gegenüberstellung von Leben und Tod über­ haupt, eine religiöse Beziehung zur Wirklichkeit sein. Im Gegenteil. Diese spezielle Art der pseudo-dramatischen Gestaltung ist mit dem absterbenden Feudalismus verbunden und fand - bezeichnenderweise - nur in der impe­ rialistischen Dekadenz wieder vereinzelte Nachahmer. Doch eben auf Grund des neuerweckten Sinnes für die Geschichte lag es

Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltung

13 1

für viele Schriftsteller nahe, ihrer dichterischen Gestaltung eine derartige Breite des empirischen Details, der bloßen Fakten zu geben, daß in ihrer Fülle die historische Notwendigkeit wieder nur abstrakt hervortreten konnte. Denn jede im Drama dargestell te historische Macht oder historische Not­ wendigkeit ist im dichterischen Sinne abstrakt, wenn sie sich nicht in konkre­ ten Menschen, in konkreten Menschenschicksalen adäquat und evident ver­ körpert. Dies wollte und konnte z. B . die von uns bereits behandelte progres­ sive historische Richtung der Merimee, Vitet und ihrer Freunde nicht tun. Diese wollten - nach dem falsch verstandenen Vorbild der Shakespeareschen Historien - das Drama auf der Grundlage der extensiv, breit und vollstän­ dig dargestellten historischen Details gestalten. Vitet, der konsequenteste Vertreter dieser Richtung, hat den hier vorliegen­ den Widerspruch zum Wesen des Dramas ziemlich klar gesehen. Er spricht dies in seinem von uns bereits angeführten Vorwort zu seinem historischen Drama »Les barricades « offen aus : » Immerhin sind diese Szenen nicht ab­ gerissen voneinander : sie bilden ein Ganzes ; es gibt eine Handlung, an deren Entwicklung sie mitwirken. Aber diese Handlung dient nur zu ihrer Ent­ stehung und Verbindung. Wenn ich aber ein Drama hätte schaffen wollen, dann hätte ich vor allem den Gang der Handlung ins Auge fassen, ich hätte, um sie lebendig zu machen, auf eine Menge von Details und Nebensachen verzichten müssen ; ich hätte vieles verschweigen müssen, um die Spannung zu erhöhen ; ich hätte auf Kosten der Wahrheit einige wichtige Personen und Begebenheiten in den Vordergrund zu stellen gehabt und die anderen nur perspektivisch abgekürzt zeigen dürfen. Ich habe es vorgezogen, die Dinge so zu lassen, wie ich sie vorfand, alle Personen und Begebenheiten so weit in den Vordergrund zu stellen, wie es sich aus den Tatsachen ergibt, keine Er­ findung zu gestatten und keinen Fehler darin zu sehen, wenn ich die Hand­ lung oft durch Digressionen und Episoden unterbreche, so wie dies im wirk­ lichen Leben vorzukommen pflegt. Ich habe auf das Erregen eines lebhafteren Interesses verzichtet, um exakter nachahmen zu können.« (Von mir her­ vorgehoben, G. L.) Wir haben schon früher gesehen, daß Merimee im Festhalten der empiri­ schen Gegebenheit aller historischen Tatsachen, in der bewußten Aufopfe­ rung der poetischen Wahrheit und in der historischen Treue den Einzelfakten gegenüber nie so weit gegangen ist wie sein Freund und Mitstreiter Vitet. Trotzdem ist sein historisches Drama »La Jacquerie« auf sehr ähnlichen Prin­ zipien aufgebaut. Sein großes und bleibendes Verdienst ist nicht nur, daß er als erster auf den von der Geschichtsschreibung in Vergessenheit versenkten

Historischer Roman und historisches Drama großen Bauernaufstand zurückgriff und damit der romantischen I dyllisierung des Mittelalters ein handgreifliches Gegenbild schärfster und erbittertster Klassenkämpfe gegenüberstellte. Merimee hat darüber hinaus ein echtes und mit dichterischen Mitteln verlebendigtes B ild aller Klassen des sich auf­ lösenden Mittelalters gegeben ; er hat für die verschiedenen Klassen wichtige typische Vertreter gefunden und gestaltet ; er hat das Aufeinanderprallen der verschiedenen Klassen in ebenso lebendigen wie typischen S ituationen dargestellt. Trotz dieser echt dichterischen, über die bloße historische Treue a la Vitet weit hinausgehenden Gestaltung ist aber dennoch keine m itreißende Drama­ tik entstanden. Ein dem Merimeekreis dieser Zeit nahestehender zeitgenös­ sischer Kritiker , Charles Remusat, hat die Ursachen dieses Scheiterns mit vernünftigen Argumenten dargelegt. Nachdem er alle Vorzüge der »Jacque­ rie« eingehend behandelt hat, kommt er auf Goethes »Götz von Berlichingen « zu sprechen, der ebenfalls ein breites Zeitbild vom Leben aller Klassen des ausgehenden Mittelalters gibt, in welchem ebenfalls ein Bauernaufstand dar­ gestellt wird, und er sieh t in der menschlichen Wahrheit und Tiefe der Figur des Götz das Geheimnis »seiner dichterischen Größe, die die Einbildungskraft bezaubert und erhebt«, eine Menschengestaltung, die allen auf formal ähn­ licher Grundlage entstandenen und ähnliche historische Treue erstrebenden späteren dichterischen Versuchen, auch denen Merimees, fehlt. Remusat gibt im weiteren eine ausführliche Analyse der Gestalt des Götz in ihrem ganzen individuellen Reichtum, und er faßt sein Urteil so zusammen : »Das (nämlich Götz, G. L.) ist der bedeutendste Mensch aller Zeiten mit der Physiognomie seines Jahrhunderts. So können im Drama die Poesie und die Geschichte ver­ söhnt werden ; so kann das Genie, ohne die Wahrheit zu verlassen, sich ins Großartige erheben. Durch solche Werke können die I deen des modernen Theaters eine Stelle an der Seite des alten nationalen Theaters erringen. Die Kunst wäre unvollständig und lügenhaft, wenn sie nicht alles, was die Natur zuläßt und enthält, in ihrer Fiktion ebensogut und vielleicht noch besser reproduzieren würde als diese.« Es ist für unsere hier zu behandelnden Zwecke einerlei, wie wir den histo­ rischen Götz von Berlichingen und seine Auffassung durch Goethe einschät­ zen , ob wir in ihm, wie Hegel, einen der letzten Vertreter der » Heroenzeit« oder, mit Marx, einen »miserablen Kerl« erblicken. Denn Hegel und Marx (dieser mit polemischem Nachdruck gegen Lassalle) sind darin einig, daß es Goethe gelungen ist, eine Gestalt zu schaffen, in welcher die zutiefst indivi­ duellen und tiefsten persönlichen Züge mit der historischen Echtheit und

Die Besonde rheit der dramatischen Menschengestaltung

133

Wahrheit zu einer organischen, unzertrennbaren, unmittelbar wirksamen Ein­ heit verschmolzen sind . Und das ist auch der Sinn der zitierten Ausführungen Remusats. Das aus den geschichtlichen Umständen an Götz herantretende S chicksal ist also nicht nur im allgemeinen Sinne - dichterisch gesehen : ab­ strakt-historisch - zutreffend, sondern es ist - ohne etwas von seinem histo­ rischen Charakter zu verlieren, im Gegenteil diesen historischen Charakter vertiefend und konkretisierend - das spezifische individuelle Schicksal Göt­ zens in seinem allerpersönlichsten Gerade-so-Sein. Manzoni, der bedeutendste Vertreter des historischen Dramas im damaligen Westeuropa, sieht darum sehr konsequent gerade in einer solchen Individua­ lisierung der dramatischen Charaktere und Schicksale den springenden Punkt des historischen Dramas, das er mit scharfer Polemik dem abstrah ierenden Klassizismus gegenüberstellt. Er meint - im schroffen Gegensatz zu Vitet und auch zu Merimee -, daß es keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen historischer Treue und dichterisch-individualisierender dramatischer Ver­ lebendigung gibt und geben kann. Die historische Überlieferung teile uns die Tatsachen, die allgemeinen Entwicklungsrichtungen mit. Daran etwas zu än­ dern habe der dramatische Dichter kein Recht. Er habe aber auch keine Ur­ sache, denn wenn er seine Gestalten wirklich individualisiert und lebendig gestalten wolle, so finde er dazu in den gesd1ichtlichen Tatsachen die wichtig­ sten Anhaltspunkte und Hilfsmittel : je tiefer er in die Geschichte eindringe, desto mehr. »Wo kann sich der wirkliche Dramatiker besser finden als darin, was die Menschen wirklich getan haben ? D er Dichter findet in der Geschichte einen imposanten Charakter, der ihn festhält, der ihm zu sagen scheint : be­ obachte mich, ich werde Dich etwas Neues über die menschliche Natur lehren ; der Dichter nimmt die Einladung an ; er will den Charakter zeichnen : wo kann er äußere Handlungen finden, die der Idee jenes Menschen, den er zu zeichnen versucht, besser entsprechen als in denen, die dieser wirklich voll­ zogen hat? « Was bleibt aber dann für den Dichter zu tun übrig? fragt Manzoni. »Was bleibt übrig ? Die Poesie : ja die Poesie. Denn schließlich, was gibt uns die Geschichte? Begebenheiten, die uns sozusagen nur von außen bekannt werden ; aber was die Menschen getan haben ; was sie dachten ; die Gefühle, die ihre Erwägungen un d Pläne, ihre Erfolge und ihre Katastrophen begleiten ; die Worte, mit denen sie ihre Leidenschaften und ihren Willen gegenüber den Leidenschaften und dem Willen anderer zur Geltung zu bringen versuchten, mit denen sie ihre Wut ausgedrückt, ihre Trauer ausströmen ließen, mit denen sie, kurz gefaßt , ihre Individualität geoffenbart hab e n : über all dies geht die

1 34

Historischer Roman und historisches Drama

Geschichte fast schweigend hinweg ; und gerade dies ist das Gebiet der Poesie. « Der Kampf der wirklichen historischen Dramatik mit den Hindernissen, die die dichterisch abstrakte Erscheinungsform in der Geschichte verursacht, zeigt sowohl an positiven wie an negativen Beispielen sehr klar, daß gerade das Problem der Individualität des dramatischen Helden der entscheidende Punkt ist. Alle Lebenstatsachen, die ihre adäquate Widerspiegelung in der drama­ tischen Form finden, können sich nur dann ihren inneren Anforderungen ent­ sprechend kristallisieren, wenn die kollidierenden Mächte, deren Zusammen­ stoß diese Lebenstatsachen hervorruft, so beschaffen sind, daß ihr Kampf sich in ausgeprägten, ihrer individuellen wie gesellschaftlich-geschichtlichen Physiognomie nach gleichermaßen evidenten Persönlichkeiten zu konzentrie­ ren imstande ist. Um die Richtigkeit dieser Konkretisierung unserer früheren Ausführungen ganz verständlich zu machen, müssen wir noch einige andere Fälle analysie­ ren, bei denen das Vorhandensein der an sich dramatischen Lebenstatsachen - aus entgegengesetzten Gründen - ebenfalls nicht zu einem wirklichen Drama führt. Erst dadurch können wir den konkreten Spielraum der spezi­ fisch dramatischen Widerspiegelung des Lebens, der Entstehung der drama­ tischen Form aus der inneren Notwendigkeit des von ihr zur Gestaltung ge­ brachten Lebensstoffes mit deutlichen Konturen umreißen. Nehmen wir also jetzt das entgegengesetzte Extrem : die Kollisionen, die aus einer solchen Gefühlsgrundlage entstehen, die aber - obwohl in verschiede­ nen Individuen verkörpert - doch keine gesellschaftliche Allgemeinheit be­ sitzen. Wenn bei Shakespeare die Liebe Romeos und Julias mit den gesell­ schaftlichen Umständen des sich auflösenden Feudalismus in Konflikt gerät, entspringen solche Situationen , seelische Wendungen usw„ die jeder unmit­ telbar miterleben wird. Und je individueller die Hauptfiguren gestaltet sind, desto mitreißender ist dann das Gefühl der Sympathie. Die Individualisie­ rung der Haupthelden kann den allgemein gesellschaftlichen Charakter der Kollision nicht abschwächen, nur verstärken. Es ist ja gerade die individuelle Liebe, die hier die Schranken der feudalen Sippenkämpfe durchbricht. Der höchste Grad der Steigerung in den Leidenschaften, der notwendigerweise in die Richtung der Individualisierung der Liebe und dadurch in die des Unter­ streichens der persönlichen, subjektiven Eigenart der Hauptfiguren weist, ist nötig, um der Kollision ihre tragische Höhe zu geben, um jeden Kompromiß, jede Zwischenlösung von vornherein unmöglich zu machen. D ie dichterische Tiefe, die tragische Weisheit Shakespeares zeigt sich hier eben darin, daß

Die Besonderheit der dramatischen Menschengestaltimg

135

die höchste Zuspitzung der individuellen Charakteristik, der Subjektivität der Leidenschaft mit der Allgemeinheit d er Kollision unzertrennlich, orga­ nisch verbunden ist. Das ist aber keineswegs bei jeder - subjektiv noch so unwiderstehlichen Leidenschaft der Fall. D er sehr begabte jüngere Zeitgenosse Shakespeares, John Ford, hat in seinem Drama » What a pity she is a hore« (Schade, daß sie eine Hure ist) die blutschänderische Leidenschaft eines Geschwisterpaares zum tragischen Vorwurf genommen. Ford hat nicht nur eine bedeutende dra­ matische Begabung, sondern auch eine besondere Fähigkeit, extreme Leiden­ schaften mit Kraft und Lebenswahrheit zu gestalten. Einzelne Szenen auch dieses S tückes erreichen eine fast Shakespearesche Großartigkeit durch die Einfachheit, Sinnfälligkeit und Echtheit, mit der diese totalen Leidenschaften das Leben seiner Helden beherrschen. Aber der dramatische Gesamteindruck bleibt doch sehr problematisch und zwiespältig. Wir können mit der Leiden­ schaft seiner Helden unmöglich mitfühlen. Sie ist und bleibt uns menschlich fremd. Diese Fremdheit scheint auch dem Dichter nicht ganz unbewußt ge­ blieben zu sein. Denn dramatisch, handlungsgemäß ist der blutschänderische Charakter der Liebesleidenschaft bei ihm nur eine perverse Zutat. Die Kol­ l ision selbst entsteht aber im dramatischen Sinne bloß aus dem Zusammenstoß irgendeiner Liebesleidenschaft mit den äußeren Umständen ; die meisten, die wirklich dramatischen Szenen wären (fast unverändert) auch dann möglich, wenn es sich um ein einfaches Drama der - aus beliebigen Gründen - ver­ botenen und getrennten Liebe, um ein beliebiges Drama von Liebe, Ehe und Ehebruch handeln würde. Diese Liebe der Geschwister zueinander ist zu ex­ zentrisch, zu subjektiv, um tragende Grundlage einer dramatischen Handlung zu werden. Diese flüchtet sich in die Seele der Helden, deren Leidenschaft dementsprechend dramatisch bloß ein Verbot überhaupt, ein Hindernis über haupt, also etwas in Beziehung auf die Leidenschaft absolut Fremdes, Ab­ straktes gegenübersteht. Zu jeder Handlung, zu jeder Austragung einer Kollision in Taten gehört ein bestimmter gemeinsamer Boden zwischen den Gegnern, auch wenn diese » Gemeinschaft« die der sozialen Todfeindschaft ist: Ausbeuter und Aus­ gebeuteter, Unterdrücker und Unterdrückter können einen solchen gemein­ samen Boden des Kampfes haben , die sexuelle Perversität steht in ihrer Kol­ lision mit der Gesellschaft außerhalb eines solchen Kampfbodens. Solcher Leidenschaft fehlt auch die relative, die entweder in der Gesellschaftsordnung der Vergangenheit wurzelnde oder die Zukunft vorwegnehmende subjektive Berechtigung. Der Kampf einander ablösender Systeme von Liebe, Ehe, Fa-

Historischer Roman und historisches Drama milie usw. hat dementsprechend mit der Problematik dieses Dramas nichts zu tun. Alle - nach modernisierter Interpretation - als » ähnlich« erscheinen­ den Konflikte in der antiken Tragödie sind in Wirklichkeit Zusammenstöße zweier Gesellschaftsordnungen. Wie wenig das Scheitern des dramatisch hochbegabten Ford an diesem Thema eine Zufälligkeit ist, kann man an einem anderen, neueren Beispiel, an der »Myrrha« von Alfieri, studieren. Alfieri ist ein theoretisch tief denkender Tragiker. Er versIch bin nicht mehr Körper, sondern Geist . . . Geist von Flandern, ich werde nicht sterben . . . Er ist der Geist des Vaterlandes. Und er verabschiedet sich von Euch, in­ dem er seinen sechsten Gesang singt, aber niemand weiß, wo er den letzten singen wird . . . < « Dieser Patriotismus, dieser unerschütterliche Glaube an die Ewigkeit des plebejischen Flandern ist wirklich mitreißend, wirklich erschütternd, jeder wird hier die Begeisterung Romain Rollands nachempfinden. Aber der schrift­ stellerische Ausdruck dieses Glaubens bleibt lyrisch, bleibt die bloße subjek­ tive Ergriffenheit des Autors und wird nicht zur Grundlage der Gestaltung einer objektiven, reich gegliederten, in sich vollständigen historischen Welt, wird nicht zur Epopöe. Als epische Gestaltung bleibt diese Ergriffenheit ab­ strakt, gerade weil sie bloß lyrisch ist. Das 1 9 . Jahrhundert kennt mehrere Fälle solcher Versuche, durch die Wucht eines lyrischen Pathos eine abstrakt gesehene Welt zu epischer Größe zu er­ heben. Und gerade der Naturalismus ist, in seinen bedeutendsten Vertretern, nicht arm an solchen Versuchen. Aber das lyrische Pathos de Costers kann ebensowenig den Mangel an historischer Konkretheit ersetzen wie das Zolas den Mangel an gesellschaftlicher Konkretheit.

IV

Conrad Ferdinand Meyer und der neue Typus des historischen Romans

Der eigentliche Repräsentant des historischen Romans in dieser Periode ist Conrad Ferdinand Meyer, neben dem ebenfalls aus der Schweiz stammen­ den Gottfried Keller einer der bedeutendsten realistischen Erzähler der Pe­ riode nach 1 8 4 8 . B eide sind - freilich in sehr verschiedener Weise - mit den klassischen Traditionen der Erzählerkunst stärker verbunden als die meisten ihrer deutschen Zeitgenossen, sind ihnen also in einem Realismus, der das Wesentliche erfaßt, weit überlegen. Aber bei Meyer zeigen sich bereits sehr stark die weltanschaulichen und künstlerischen Züge des niedergehenden Rea­ lismus. Dies hat freilich seine starke Wirkung, weit über die Grenzen des

Conrad Ferdinand Meyer deutschen Sprachgebiets hinaus, nicht verhindert. Im Gegenteil : gerade da­ durch, daß in seinen Werken die Vereinigung einer klassischen Geschlossenheit der Form mit einer modernen Hypertrophie der Sensibilität und des Subjek­ tivismus, einer Objektivität des historischen Tons, einer sehr weitgehenden Modernisierung des Gefühlslebens der Gestalten in artistisch hochstehender Weise verbunden zu sein schien, ist er zum eigentlichen Klassiker des moder­ nen historischen Romans geworden. Bei Meyer findet sich eine neue Zusammenfassung der widerstreitenden Ten­ denzen der neuen Entwicklungsphase. Daß diese Zusammenfassung in vielen Punkten der wesentlichen Probleme äußerst verwandte Züge zu Flaubert aufweist, ist darum besonders interessant, weil die konkrete historische Lage der beiden Schriftsteller und dementsprechend ihre konkrete Stellungnahme zu den Problemen der Geschichte außerordentlich verschieden war. Flauberts entscheidendes historisches Erl ebnis ist die Revolution von 1 8 4 8 (in » Edu­ cation sentimentale« sieht man deutlich, wie diese auf ihn eingewirkt hat) . Das große historische Erlebnis Conrad Ferdinand Meyers ist dagegen die Entstehung der deutschen Einheit, der Kampf um sie und sein Resultat, ihre Verwirklichung. Dadurch, daß Meyer lebender Zeitgenosse dieses Abschlusses der bürgerlich-demokratischen Kämpfe um die deutsche Einheit und vor allem der Entartung dieser Kämpfe in der Kapitulation der deutschen Bour­ geoisie vor der »bonapartistischen Monarchie« der Hohenzollern unter Bis­ marcks Führung gewesen ist, ist seine historische Thematik weniger zufällig als die Flauberts. Allerdings spielt auch bei ihm der dekorative Kontrast der » großzügigen« Vergangenheit zur kleinlichen Gegenwart eine große Rolle und bestimmt seine starke Vorliebe für die Periode der Renaissance. Aber auch innerhalb dieser Thematik sind die Kämpfe um die nationale Vereini­ gung, um die nationale Einheit von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit (in » Jürg Jenatsch«, »Die Versuchung des Pescara« usw.) . Für die dichterische Auswertung dieser Thematik hat jedoch die zentrale Stelle, die auch für Meyer Bismarck in dieser Entwicklung einnimmt, eine verhängnisvolle Bedeutung. Meyer spricht darüber insbesondere in bezug auf Jürg Jenatsch sehr offen. Er beklagt in einem Brief, daß die Bismarck­ ähnlichkeit seines Helden »nicht fühlbar genug« sei ; an anderer Stelle : »und wie klein, trotz Mord und Totschlag, der Bündner (Jenatsch, G. L.) gegen den Fürsten«. Diese Bismarckverehrung steht in engstem Zusammenhang damit, daß Meyer, wie die deutschen liberalen Bürger nach der achtundvier­ ziger Revolution überhaupt, die Herstellung der nationalen Einheit und die Verteidigung der nationalen Selbständigkeit nicht mehr als Sache des Volkes

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus ansieht, die vom Volke selbst unter Führung von » welthistorischen Indivi­ duen« durchgeführt wird, sondern als ein historisches Fatum, dessen vollzie­ hendes Organ irgendein rätselhafter einsamer »Held«, irgendein rätselhaftes einsames »Genie« ist. Besonders Pescara ist so gestaltet, als ein Einsamer, in dessen Hand es steht, ob I talien vom fremden Joch befreit wird, dessen ein­ same Grübeleien diese Frage entscheiden und selbstverständlich negativ ent­ scheiden : »Verdient Italien zu dieser Stunde die Freiheit und taugt es, so wie es jetzt beschaffen ist, sie zu empfangen und zu bewahren? Ich meine, nein«, sagt Pescara. Und er sagt es rein von seiner einsamen Psychologie aus, ohne daß im Roman selbst irgendein Kontakt mit Volksbewegungen, die dahin zielen, gestaltet wäre ; er sagt es in Gesprächen, die sich ausschließlich in der Oberschicht von Diplomaten, Heerführern usw. abspielen. Freilich, man darf den Schweizer Patrizier mit den ordinär-liberalen Bis­ marckanhängern in Deutschland nicht ohne weiteres vergleichen. Meyers Überlegenheit über diese ist aber vorwiegend eine solche des Geschmacks, des moralischen Empfindens, der psychologischen Feinfühligkeit , nicht aber der politischen übersieht oder einer tieferen Verbundenheit mit dem Volk. Wenn also Meyer diese Probleme seiner Zeit in historischer Distanzierung gestal­ tet, so ist seine Umbildung eine rein ästhetische, eine geschmäcklerische ; er verwandelt die fatalistischen Genies, die angeblich die Geschichte machen, in dekorativ-prächtige decadents. Seine ästhetische und moralische Überlegen­ heit den deutschen Zeitgenossen gegenüber führt also nur dazu, daß er in die Bismarck.sehe Ideologie der Auffassung der Geschichte als nackter Macht­ frage moralische Probleme und Skrupel hineinträgt. (Wir erinnern an die ähnliche Fragestellung bei Jakob Burckhardt.) Die abstrakte Machtideologie und die mystisch-fatalistische Mission der » großen Männer« bleibt bei Meyer unverändert, und ohne von ihm einer Kritik unterworfen zu werden, bestehen. Er sagt in seinem Roman über Pes­ cara : »Er glaubt nur an die Macht und an die einzige Pflicht der großen Men­ schen, ihren vollen Wuchs zu erzielen mit den Mitteln und an den Aufgaben der Zeit.« Durch diese Konzeption verkleinern sich nun diese Aufgaben immer mehr zu Machtintrigen innerhalb der Oberschicht, wobei die wirklichen hi­ storischen Probleme, deren durchführende Organe diese Menschen in Wirk­ lichkeit waren, in steigendem Maße verblassen. Es ist für die Entwicklung Meyers sehr charakteristisch, daß in » Jürg Jenatsch« noch einige Rud imente einer Beziehung zu den realen Zielen von Volksbewegungen vorhanden waren, wenn diese auch in einer Bismarck.sehen Weise sich ausschließlich in der »genialen « Hauptfigur konzentrierten. In » Pescara« sind diese Beziehungen

Conrad Ferdinand Meyer schon vollständig verblaßt, und die anderen historischen Romane stehen noch viel weiter von einem Kontakt mit dem historischen Leben des Volkes, zeigen noch ausschließlicher den zwiespältigen Dualismus von nackten Machtfragen und subjektiven moralischen Grübeleien. Diese Heldenkonzeption hängt bei Meyer eng mit einer fatalistisdien An­ sicht von der Unerkennbarkeit der Wege der Geschichte, mit einer Mystik der » großen Männer« als der Vollstrecker des fatalistischen Willens einer unerkennbaren Gottheit zusammen. In seinem lyrisch-historischen Jugend­ werk über die Schicksale Ulrich von Huttens spricht er diese Ansicht ganz klar aus : »Wir ziehn ! Die Trommel schlägt! Die Fahne weht ! Nicht weiß ich, welchen Weg die Heerfahrt geht. Genug , daß ihn der Herr des Krieges weiß Sein Plan und Losung ! Unser Kampf und Schweiß. « Die Unerkennbarkeit der Wege und Ziele des Geschichtsablaufs hat ihr ge­ naues Gegenbild in der Unerkennbarkeit der in der Geschichte handelnden Menschen. Sie sind nicht infolge bestimmter objektiver oder subjektiver Um­ stände zeitweilig isoliert, vereinsamt, sondern prinzipiell einsam. Diese Einsamkeit ist bei Meyer, wie bei fast allen bedeutenden Schriftstellern dieser Zeit, aufs tiefste mit seiner allgemeinen Weltansdiauung, mit der Über­ zeugung von der prinzipiellen Unerkennbarkeit des Menschen und seines Schicksals verbunden. Das Verlorengehen des wirklichen Sinns für Ge­ schichte, das Unverständnis für die lebendige Wechselwirkung zwischen Mensch und Gesellschaft, die Blindheit dem gegenüber, daß, wenn der Mensch durch die Gesellsdiaft geformt wird, dies auch ein Prozeß seines eigenen inne­ ren Lebens ist, hat zur notwendigen Folge, daß für die Schriftsteller die Worte und die Taten der Menschen als undurchdringliche Masken erscheinen, hinter denen im Individuum die verschiedenartigsten Motive wirklich wirk­ sam sein können. Meyer hat dieses sein Lebensgefühl verschiedentlich klar ausgesprochen, am plastischsten in der Novelle: »Die Hochzeit des Mönchs«. Hier läßt er Dante eine Geschichte erzählen, in der episodisch der Hohen­ stauf enkaiser Friedrich 11. und sein Kanzler Petrus de Vinea vorkommen. Auf die Frage des zuhörenden Tyrannen von Verona, Cangrande, ob er, Dante, wirklich daran glaube, daß Friedrich die Schrift »Von den drei großen Gauklern« verfaßt habe, antwortet Dante mit »non liquet« (es ist nicht klar), ebenso antwortet er auf die Frage, ob er an den Verrat des Kanzlers

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus glaube. Cangrande macht ihm nun zum Vorwurf, daß er trotzdem in seiner »Komödie« Friedrich als schuldig, Petrus als seine Unschuld behauptend dar­ gestellt habe: »Du glaubst nicht an die Schuld und Du verdammst. Du glaubst an die Schuld und Du sprichst frei. « D er wirkliche Dante hat solche Zweifel sicher nicht gekannt. Erst Meyer macht aus ihm einen Agnostiker den Men­ schen gegenüber. So verbergen hier die dekorativen Gewänder der Renais­ sance den modernsten Agnostizismus und Nihilismus. Anscheinend ist in den Vorwürfen Cangrandes gegen Dante eine gewisse Selbstkritik Meyers enthalten. Aber sie ist bestenfalls nur eine Seite seiner Auffassung. Denn Meyer empfindet es als das gute Recht Dantes, die Ge­ schichte, die Menschen, die er eingestandenermaßen nicht wirklich durch­ schaut, selbstherrlich, nach eigenem Gutdünken frei zu gestalten, um so mehr, als diese Einsamkeit, diese Unerkennbarkeit der Menschen in Meyers Au gen ein Wert ist : je höherstehend der Mensch, desto größer seine Einsamkeit, seine Unerkennbarkeit. Dieses Weltgefühl steigert sich im Laufe von Meyers Entwicklung immer mehr, und dadurch erhalten auch seine Helden immer mehr den Charakter einer rätselvollen Einsamkeit, stehen sie zu den Ereignissen der Geschichte, in denen sie als Helden figurieren, immer exzentrischer. Schon im »Heiligen« verwandelt Meyer den Kampf von Königtum und Kirche im mittelalter­ lichen England in eine psychologische Problematik des Thomas B eckett. Noch energischer wird diese Entwicklung in » Pescara« durchgeführt. Die scheinbar höchst dramatische Handlung dieses Romans, die Frage nämlich, ob der Feld­ herr Pescara sich von den Spaniern lossagen _u nd für die Vereinigung 1 taliens kämpfen wird, ist im Roman selbst nur zum Schein ein Konflikt. Pescara wandelt in diesem Roman als rätselhafte Sphinx, deren weitschauende Pläne von niemandem verstanden werden. Aber warum? Weil Pescara gar keine solchen Pläne hat. Er ist nämlich ein todkranker Mensch, der weiß, daß er bald sterben muß, daß er an keiner großen Handlung mehr teilnehmen kann. Er sagt selbst : »Denn keine Wahl ist an mich herangetreten, ich stand außer­ halb der Dinge . . . Der Knoten meines Daseins ist unlösbar, er (nämlich der Tod, G. L.) zerschneidet ihn. « Hier sehen wir in einer anderen Form ein ähnliches Problem, wie wir es bei Flaubert beobachtet haben : die Sehnsuch t nach großen Taten, verbunden mit der persönlichen wie sozialen Unfähigkeit, solche Taten in der Wirklichkeit zu vollbringen, wird in die Vergangenheit projiziert, damit diese soziale Im­ potenz im Prunkgewand der Renaissance ihre moderne Kleinlichkeit verliere. Doch diese Projektion in eine scheinbare Monumentalität, die nur eine Monu-

Conrad Ferdinand Meyer

2 73

mentalität der malerischen Gebärden ist, hinter der die dekadent-zerrissene Grübelei des modernen Bürgers steckt, bringt im Gesamtton der Gestaltung ebenso falsche Klänge und Verzerrungen der Gefühle und Erlebnisse hervor wie bei Flaubert. Hier ist zugleich die wirkliche Quelle der Meyerschen Modern isierung der Geschichte. Meyer gibt, ebenso wie Flaubert, nur konzentrierter, dekorativer, sich weniger in naturalistischen Einzelschilderungen verlierend, immer ein treffendes Bild von den Xußerlichkeiten des historischen Lebens. Die Vor­ würfe, die Brandes gegen Walter Scott erhebt, daß er im Heranziehen der bildenden Kunst der Zeit naiv sei, können gegen Meyer sicher nicht erhoben werden. Jedoch gerade die innersten Konflikte seiner Helden wachsen nicht aus den wirklichen historischen Bedingungen der geschilderten historischen Zeit, des Volkslebens dieser Zeit heraus. Es sind vielmehr die spezifisch mo­ dernen Konflikte von Leidenschaft und Gewissen im vom kapitalistischen Leben künstlich isolierten Individuum, ebenso wie die Konflikte Flauberts Konflikte von Sehnsucht und Erfüllung in der heutigen bürgerlichen Gesell­ schaft gewesen sind. Darum ist die Psychologie der Helden Meyers - trotz der feinen Differenzierung und malerischen Gestaltung des Zeitkostüms durchweg die gleiche oder fast die gleiche; einerlei, welches Land oder welche Zeit er zum Schauplatz der historischen Handlung gewählt hat. Meyer hat diese Problematik seiner Kunst ziemlich klar gesehen. Er schreibt in einem Brief über seine Absichten und über seine Beziehung zur Form des historischen Romans : » Ich bediene mich der Form der historischen Novelle einzig und allein, um dort meine Erfahrungen und meine persönlichen Empfindungen auszudrücken , ich ziehe sie dem >Zeitroman< vor, weil sie mich besser maskiert und den Leser stärker distanziert. So bin ich in einer sehr objektiven und eminent artistischen Form dem Wesen nach sehr indivi­ duell und subjektiv.« Diese Subjektivität Meyers kommt vor allem darin zur Geltung, daß seine Helden mehr Zuschauer als Täter ihrer eigenen Taten sind, daß sich ihr wesentliches Interesse auf die moralisch-metaphysi­ schen Skrupel und Grübeleien konzentriert, deren Gegenstand die handlungs­ gemäß im Vordergrund stehen den »Machtfragen« sind. Infolge dieser Einstellung zur Geschichte führt Meyer im historischen Roman die Linie Vignys gegen Walter Scott weiter, aber bereits mit einer weiteren Enthistorisierung der Geschichte. Vigny und die ihm verwandten Roman­ tiker im historischen Roman sehen den geschichtlichen Prozeß unrichtig, auf den Kopf gestellt. Aber sie sehen doch irgendeinen, wenn auch von ihnen selbst konstruierten - und falsch konstruierten - geschichtlichen Pro-

2 74

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

zeß. Bei Meyer ist, bis auf gewisse Anläufe und Überbleibsel, der historische Prozeß selbst verschwunden, und mit ihm verschwindet der Mensch als wirk­ licher Akteur der Weltgeschichte. Es ist sehr interessant zu sehen, daß Meyer den »Pescara« zuerst ohne Todkrankheit entworfen hat. Er sagt in einem Gespräch : » Ich hätte es auch anders machen können, und das hätte auch seine Reize gehabt : Pescaras Wunde war nicht tödlich ; die Versuchung tritt an ihn heran, er kämpft sie durch, überwindet sie und weist sie ab. Und dann nach­ her bereut er erst, als er den Dank vom Hause Habsburg sieht. Er kann dann auch in der Schlacht vor Mailand fallen. « Man kann hier beobachten, wie sehr auch schon in diesem Entwurf das psychologisch-moralische Element die historisch-politischen Motive überwiegt. Und es ist kein Zufall, daß Meyer im Laufe seiner weiteren Arbeit gerade in dieser Richtung seinen Stoff vertieft; wie er eine irrationale, biologische » Tiefe« für seinen Helden findet. Durch diese Erfindung kommt Meyer einerseits zu der fatalistisch­ melancholischen Grundstimmung seines Werkes, andererseits zu der rätsel­ haften Einsamkeit seines Helden. Er selbst sagt einmal : »Man weiß nicht, was Pescara ohne seine Wunde getan hätte. « Wenn also Meyer ausschließlich Protagonisten der Geschichte in den Mittel­ punkt seiner historischen Romane stellt und das Volk, das Leben des Volkes, die wirklichen breiten Kräfte der Geschichte so gut wie vollständig vernach­ lässigt, so steht er auf einer viel entwickelteren Stufe der Enthistorisierung als die Romantiker der früheren Periode. Die Geschichte ist für ihn etwas rein Irrationales geworden. Die großen Männer sind exzentrisch-einsame Ge­ stalten innerhalb eines sinnlosen Geschehens, das auch an dem Zentrum ihrer Persönlichkeit vorübergeht. Die Geschichte ist nur ein Komplex dekorativer Tableaus , großer pathetischer Momente, in denen diese Einsamkeit und Ex­ zentrizität der Meyerschen Helden mit einer lyrisch-psychologisch oft ergrei­ fenden Macht zum Ausdruck kommt. Meyer ist insofern ein bedeutender Schriftsteller, als er seine Problematik künstlerisch nicht verdeckt ; die mo­ dern-bürgerliche Unfähigkeit seiner Helden bricht durch das historische Kostüm doch immer wieder durch. Aber gerade diese künstlerische Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zerschlägt den kunstvollen Aufbau seiner Werke. Die Geschichte, die er gestaltet, entlarvt sich bei ihm immer wieder als bloßes Kostüm. Dabei ist, formal-artistisch gesehen, der Aufbau der Werke Meyers sehr hochstehend, dem äußeren Anschein nach fast vollendet. Die Ausnützung der Geschichte als dekorative Möglichkeit zeigt sich bei ihm nicht, wie bei Flau­ bert, in einem Exzeß der Beschreibung der Dinge. Meyer ist, im Gegenteil,

Conrad Ferdinand Meyer

27 5

in seinen Beschreibungen außerordentlich sparsam. Er konzentriert seine Handlung auf einige pathetisch-dramatische Szenen und beschreibt die Ge­ genstände der Umgebung immer so, daß sie den psychologischen Problemen der Menschengestaltung untergeordnet werden. Das Vorbild seiner Hand­ lungsführung ist die strenge Geschlossenheit der alten Novelle. Aber diese Geschlossenheit dient bei ihm dem Doppelzweck : das subjektive Hineintragen heutiger Gefühle in die Geschichte zugleich dekorativ zu maskieren und lyrisch zu demaskieren. Er baut seine Handlungen von vornherein mit der Absicht, die Rätselhaftigkeit seiner Hauptgestalten energisch hervorzuheben. Die Form der Rahmenerzählung dient ihm dazu, die Geschehnisse, die an sich als unverständlich, als irrational entworfen sind, in ihrer Unverständ­ lichkeit zu gestalten, insbesondere die undurchdringliche Rätselhaftigkeit der Hauptfiguren hervorzuheben. Meyer gehört bereits ganz bewußt in die Reihe jener modernen Schriftsteller, die den Reiz der Erzählung nicht mehr im Aufhellen eines scheinbar unver­ ständlichen Geschehnisses suchen, im Aufhellen tieferer Zusammenhänge des Lebens, durch welche das scheinbar Unverständliche im Zusammenhang be­ griffen wird, sondern gerade im Geheimnisvollen selbst, in der Gestaltung der irrationalen »Untiefe« des menschlichen Daseins. Meyer läßt z. B. die Schick­ sale Thomas Becketts von einem einfachen Armbruster erzählen, der natur­ gemäß von den tieferen Zusammenhängen nichts verstehen kann. Dieser berichtet über Ereignisse, die »staunenswert und unbegreiflich« waren, nicht nur für Fernstehende, sondern auch für die Mithandelnden. Durch diese strenge Konzentration will Meyer dem S ichverlieren der moder­ nen Schriftsteller in der psychologischen Analyse entgehen. Aber sein Aus­ weg ist nur ein scheinbarer, denn der Psychologismus der Modemen ist nicht an die Analyse als Ausdrucksform gebunden, sondern entspringt aus der Ein­ stellung des Schriftstellers auf ein inneres Seelenleben seiner Gestalten, das seiner Meinung nach von dem Gesamtzusammenhang des Lebens unabhängig ist und sich nach eigenen Gesetzen bewegt. Die dekorative Konzentration Meyers ist also nicht minder psychologistisch als die Schriften jener seiner Zeitgenossen, die sich offen zur psychologistischen Analyse bekannten. Nur ist bei ihm die Diskrepanz zwischen äußerer, dekorativ-pomphafter histori­ scher Handlung und moderner Psychologie der Gestalten schärfer. Diese Diskrepanz wird noch dadurch unterstrichen, daß Meyer, ebenso wie Flaubert, die Größe der entschwundenen Zeiten mit Vorliebe in den brutalen Exzessen der Menschen der Vergangenheit sieht. Gottfried Keller, sein großer demokratischer Zeitgenosse, der für die ehrlichen künstlerischen Bestrebungen

276

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

Meyers große Hochachtung hatte, spottet in seinen Briefen wiederholt über diese leidensd1aftliche Vorliebe des menschlich sehr feinen Dichters für Grau­ samkeit und Brutalität in seinen Erzählungen. Es ist klar , daß in allen diesen Zügen, ebenso wie bei Flaubert, eine Oppo­ sition gegen die Kleinlichkeit des bürgerlichen Lebens zum Ausdruck kommt, aber den ganz verschiedenen gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen ent­ sprechend in einer ganz anderen Weise. Flauberts Ablehnung des modernen bürgerlichen Lebens hat sehr romantische Quellen und l\ußerungsweisen, ist aber von einer leidenschaftlichen Radikalität. Meyer hat viel mehr die matte Melancholie des liberalen Bürgers, der der Entwicklung der eigenen Klasse in dem sich vehement entwickelnden Kapitalismus mit Ablehnung und Ver­ ständnislosigkeit und zugleich mit einer scheuen Bewunderung vor der Macht, die sich darin äußert, zusieh t. Die Gestaltung historischer Protagonisten durch Meyer ist insofern hochin­ teressant und für die Entwicklung sehr wichtig, weil hier die Verwandlung der einst demokratischen Bestrebungen der bürgerlichen Klasse in einen kom­ promißlerischen Liberalismus selbst bei ehrlichen und hochbegabten Schrift­ stellern außerordentlich anschaulich hervortritt. Meyer hegt eine große Be­ wunderung für die Menschen und für die Theorien der Renaissance. Aber in den feurigen Wein dieser Bewunderung wird bei ihm stets viel liberales Was­ ser gegossen. Wir haben bereits gesehen, wie die Frage der »Macht an sich« sich mit überspitzten moralisch-psychologischen Grübeleien mischt. Diese Mi­ schung erscheint in den Romanen Meyers immer wieder als Sehnsucht nach der »jenseits von Gut und Böse« existierenden Welt der Renaissance, gemischt mit liberalen Vorbehalten und Abschwächungen. So wird z. B. im Pescara-Roman gesagt : » Cäsar Borgia, der versuchte es mit dem reinen Bösen. Aber . . . das Böse darf nur in kleinen Portionen und mit Vorsicht gebraucht werden, sonst bringt es um.« Oder Pescara selbst sagt - sehr Bismarckisch - über Machiavelli: »Es gibt politische Sätze, die ihre Bedeutung haben für kluge Köpfe und besonnene Hände, die aber verderblich und verwerflich werden, sobald sie ein frecher Mund ausspricht oder eine strafbare Feder nie­ derschreibt.« Man sieht : Meyers B egeisterung für die Renaissance hat nicht deren Erkenntnis und Anerkennung als große, nicht übertroffene Periode des Fortschritts zum Inhalt, wie dies bei Goethe und Stendhal, bei Heine und Engels der Fal l war. Sein Zeitgenosse Burckhardt hat Entscheidendes zu ihrer Popularisierung getan. Jedoch - bei großen Verdiensten im Aufdecken ein­ zelner Momente - handelt es sich bei ihm bereits um ein ideologisches Nach­ hutgefecht : die richtigen Erkenntnisse werden oft von Introjektionen libe-

Conrad Ferdinand Meyer raler Problematik verdeckt. Bei Meyer steigert sich diese Tendenz und mit ihr eine formalistisch-dekorative Auffassung der Renaissance. Denn diese Problematik leitet zum liberalen Heldenkult Bismarcks über. Dem »Mann des Schicksals« ist dieses »jenseits von Gut und Böse« erlaubt aber wehe, wenn das Volk sich diese Maxime zu eigen machen würde. Die Verehrung für die Bismarcksche »Realpolitik«, für die überlegene Schiebung innerhalb der obersten Spitzen der Gesellschaft , für eine Politik, die in den Augen der liberalen Ideologen rein zur »Kunst«, zum »Selbstzweck« gewor­ den ist, steht hinter dieser Geschichtskonzeption Meyers. Die Tatsache also, daß das Volksleben aus diesen Romanen so gut wie voll­ ständig verschwunden ist, daß im Vordergrund nur die künstlich isolierten Oberschichten agieren, ist nur scheinbar ein künstlerisches Problem. Bei Vigny drückte sich darin eine reaktionär-romantische Opposition gegen die progres­ sive Volkstümlichkeit der Geschichtsauffassung Walter Scotts aus. Bei Meyer, der persönlich lange nicht so ausgesprochen reaktionär gesinnt war, zeigt sich darin der Sieg des nationalliberal gewordenen Liberalismus im B ürgertum des deutschen Sprachgebiets. Der Schweizer Meyer ist sozial genügend selbstän­ dig, persönlich und künstlerisch hinreichend ehrlich, um den apologetischen Exzessen der nationalliberalen Bourgeoisie Deutschlands nicht ganz zu ver­ fallen. Er schafft Kunstwerke, die in jeder Hinsicht turmhoch über der da­ maligen Produktion in Deutschland stehen, aber gerade darum ist das Ein­ dringen der nationalliberalen Volksfremdheit in den historischen Roman bei ihm um so wichtiger und verhängnisvoller. Diese Volksfremdheit drückt sich in den meisten Werken Meyers direkt aus : die geschichtlichen Ereignisse spielen sich ausschließlich »oben« ab ; der un­ erforschliche Gang der Geschichte äußert sich in machtpolitischen Taten und moralischen Gewissensskrupeln einzelner, die auch innerhalb der Oberschicht vollständig vereinsamt und unverstanden dastehen. Aber auch dort, wo etwas aus dem Volk gestaltet wird, ist dieses eine rein amorphe, spontane, blinde und wilde Masse, zumeist j edoch nur Wad1s, aus dem der einsame Held das knetet, was ihm belieb t (» Jürg Jenatsch«) . Selbständig und individuell gestal­ tete Figuren aus dem Volk drücken zumeist nur die blinde Anhänglichkeit (Armbruster im »Heiligen«) an den oder blinde B egeisterung (Leubelfing in » Gustav Adolfs Page«) für den großen Geschichtshelden aus. Aber gerade dort, wo Meyer , sehr ausnahmsweise, ein volkstümliches Schick­ sal, wenn auch als Episode, gestaltet, tritt der Gegensatz seiner neuen Erfin­ dungsweise zu der der klassischen Periode des historischen Romans besonders deutlich hervor. In der Novelle »Plautus im Nonnenkloster« wird das Schick-

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus sal eines tapferen, energischen, aber im katholischen Glauben der Zeit streng befangenen B auernmädchens, Gertrude, erzählt. Sie hat ein Gelübde getan, Nonne zu werden, und will es erfüllen, obwohl ihr ganzes Wesen sich da­ gegen sträubt, obwohl sie einen Jüngling liebt und dessen Frau werden möchte. Im Nonnenkloster werden bei der Aufnahme »Wunder« produziert : die Novize soll ein schweres Kreuz tragen (mit einer Dornenkrone auf dem Haupt). Nur wenn sie unter der Last nicht zusammenbricht, wird sie als Nonne aufgenommen. Nach dem Aberglauben hilft die heilige Jungfrau ; tatsächlich wird der Novize ein äußerlich ähnliches, in Wirklichkeit ganz leichtes Kreuz aufgebürdet. Durch verschiedene Umstände der Haupthand­ lung gelingt es Poggio, dem Erzähler dieser Geschichte, den Betrug dem Mäd­ chen aufzudecken. Gertrude wählt nun das wirklich schwere Kreuz , um in der Tat auszuprobieren, ob die heilige Jungfrau sie wirklich zur Nonne haben will. Nach heroischen Anstrengungen bricht sie zusammen, und erst jetzt kann sie die glückliche Frau ihres Geliebten werden. Wie aber reagiert Poggio - und mit ihm wohl C. F. Meyer - darauf? Pog­ gio erzählt : » So tat sie und schritt gelassen, aber vor Freude leuchtend, von Stufe zu Stufe hinab, wieder die einfache Bäuerin, welche wohl das er­ greifende Schauspiel, das sie in ihrer Verzweiflung der Menge gegeben, bald und gerne vergaß, jetzt, da sie ihres bescheidenen menschlichen Wunsches gewährt war und in die Alltäglichkeit zurückkehren durfte . . . Eine kurze Weile hatte die Bäuerin vor meinen erregten Sinnen gestanden als die Verkörperung eines höheren Wesens, als ein dämonisches Geschöpf, als die Wahrheit, wie sie jubelnd den Schein zerstört. Aber was ist Wahrheit? fragte Pilatus. « Wir haben dieses ausführliche Zitat gebracht, weil in ihm, wenn man das Schicksal der Gertrude mit dem der Goetheschen Dorothea, der Scottschen Jeanie Deans vergleicht, der Gegensatz zweier Perioden plastisch sichtbar ist. Zugleich enthüllt dieser Vergleich die gesellschaftlid1en und menschlichen Grundlagen dieses neuen Typs des historischen Romans. Wir müssen uns hier auf die allerwesentlichsten Züge des Kontrasts beschränken. Erstens ist bei Meyer die Außerungsweise der Tapferkeit seines B auernmädchens doch etwas exzentrisch und dekorativ. Es kommt nicht zu einer breiten Entfaltung seiner bedeutenden menschlichen Qualitäten, sondern nur zu einem kurzen einma­ ligen Akt, bei dem einerseits die physische Anstrengung , andererseits das ma­ lerische Element (Kreuz und Dornenkrone) überwiegt. Zweitens betrachtet Meyer den heroischen Gipfelpunkt isoliert vom Leben, ja als ausschließenden Gegensatz zum Leben selbst. Die Rückkehr in den Alltag ist nicht, wie bei

Conrad Ferdinand Meyer Goethe und Scott, ein breites episd1es Sd1icksal, nicht ein gestalteter Hinweis darauf, daß in unzähligen Menschen aus dem Volke ähnliche Kräfte schlum­ mern, nur - persönlich oder historisch zufällig - nicht ausgelöst und er­ probt werden, sondern ist bestimmt durch den Gegensatz des »Dämonischen« und des »Alltags«. Darum ist die Rückkehr in den Alltag eine wirkliche Annullierung des »heroischen Augenblicks«, während bei Goethe und Scott der Heroismus im dialektischen Doppelsinn »aufgehoben« ist. Meyer erweist sich dadurch als bedeutender Künstler inmitten des beginnen­ den Niedergangs, daß er eine durchaus normale Heldin gestaltet und nicht, wie es Huysmans, Wilde oder d'Annunzio getan hätten, eine wirklich » dämonische « Hysterikerin. Aber er ist schon genügend von der Dekadenz angesteckt, um die eigene richtige Einstellung mit einer gewissen skeptischen Melancholie zu bedauern. In dieser Empfindungsweise zeigt sich der Geist der neuen Zeit. Meyers Hel­ den stehen geistig-moralisch ständig auf Fußspitzen, um vor anderen und vor allem vor sich selbst größer zu erscheinen, um die anderen und sich selbst glauben zu machen, daß sie immer jene Höhe besitzen, die sie in ein­ zelnen Momenten ihres Lebens erreichten oder wenigstens erträumten. Das dekorative historische Kostüm dient dazu , dieses Auf-Fußspitzen-Stehen der Gestalten zu verdecken. Es ist klar, daß diese innere Schwäche, gepaart mit der krankhaften Sehn­ sud:it nach Größe, auf der Abgerissenheit vom Volksleben beruht. Der Alltag des Volkes erscheint als platte, erniedrigende Prosa und weiter nichts. Kein historischer Aufschwung ist mehr mit diesem Leben organisch verbunden. Held ist, wie Burckhardt sagt, »Was wir nicht sind «. Die deutsche Bourgeoisie ist nationalliberal geworden ; sie hat die bürgerlich­ demokratische Revolution von 1 84 8 verraten und hat später - mit immer weniger Vorbehalten - den Bismarck.sehen Weg zur deutschen Einheit ge­ wählt. Dieser Weg ihrer Entwicklung erscheint in der deutschen Literatur die­ ser Zeit in Produkten, die ideologisch die reine Apologetik, künstlerisch den vollen Niedergang der klassischen Traditionen und oberflächlichstes An­ eignen eines westeuropäischen Realismus zweiter Klasse zeigen. Meyer mag ästhetisch-ethisch noch so hoch über diesen deutschen Bürgern stehen, die sich von 1 8 4 8 bis 1 8 7 0 von Demokraten zu Nationalliberalen ent­ wickelt haben, die Zusammenhänge der Entwicklung seiner Kunst mit diesem gesellschaftlich-geschichtlichen Weg der Klasse mögen noch so kompliziert sein : die intimsten seelischen und künstlerischen Probleme seines Lebens­ werks spiegeln gerade diesen Entwicklungsgang wider. Gerade seine Renais-

280

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

sancegestalten geben ein künstlerisches Spiegelbild dieser liberalen Zaghaftig­ keit und Verzagtheit. Gerade seine » einsamen« Helden tragen typische Züge des Niederganges der deutschen Demokratie an sich.

Die allgemeinen Tendenzen der D ekadenz und die Konstituierung des historischen Romans als besonderen Genres v

Bei Conrad Ferdinand Meyer konstituiert sich der historische Roman als besonderes Genre. D as ist seine entscheidende Bedeutung für die literarische Entwicklung. Die Besonderheit des historischen Romans wurde ja auch von Flaubert hervorgehoben, indem er die Methoden des neueren Realismus auf das Gebiet der Geschichte » anwenden« wollte, wobei er in der Geschichte ein besonderes Gebiet erblickte. Aber Meyer ist der einzige wirklich be­ deutende Schriftsteller dieser Übergangszeit, der sein ganzes Lebenswerk auf den historischen Roman konzentriert, der sich für dessen B earbeitung eine besondere Methode ausdenkt. Es ist schon aus unseren bisherigen B etrach­ tungen klar, wie groß der Unterschied zwischen diesem Herantreten an die Geschichte und dem des alten historischen Romans gewesen ist. B ei Walter Scott entstand aus dem Leben selbst eine neue, historische Betrach­ tungsweise der Gesellschaft. Die historische Thematik ergab sich organisch, gewissermaßen von selbst aus der Entstehung, Verbreitung und Vertiefung des historischen Gefühls. Die historische Thematik Walter Scotts drückt nur dieses Gefühl aus, das Gefühl, daß das wirk�iche Verständnis für die Pro­ bleme der gegenwänigen Gesellschaft nur aus dem Verständnis der Vor­ geschichte, der Entstehungsgeschichte dieser Gesellschaft erwachsen kann. Darum hat, wie wir gesehen haben, dieser historische Roman, als dichterischer Ausdruck für die Historisierung des Lebensgefühls, für das wachsende histo­ rische Verständnis der Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, notwendig zu einer höheren Form des Gegenwartsromans geführt, so bei Balzac, so auch bei Tolstoi. Ganz anders ist die Lage in dieser Periode. Wir haben die Erklärungen so­ wohl Flauberts wie Meyers über die Motive, die sie zu historischen Stoffen geführt haben, gehört. Wir haben in beiden Fällen gesehen, daß diese Motive nicht aus dem Verständnis des Zusammenhanges zwischen Geschichte und Gegenwart entstanden sind, vielmehr, im Gegenteil, aus der Ablehnung der Gegenwart, und zwar aus einer menschlich-moralisch, humanistisch-ästhetisch begreiflichen und berechtigten Ablehnung, die sich aber bei beiden Dichtern

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

28 1

auf eine subjektivistische, ästhetisch-moralische Wesensart reduziert. Die Dar­ stellung von geschichtlichen Stoffen ist für beide Dichter nur Kostüm , nur Dekoration, nur ein Mittel, ihre Subjektivität adäquater auszudrücken, als dies - nach der Meinung der Dichter - bei einem gegenwärtigen Stoffe möglich wäre. Wir wollen uns jetzt nicht bei der Selbsttäuschung aufhalten, der die dich­ terischen Wortführer dieser Auffassung in bezug auf ihr eigenes Werk verfallen ; darüber wollen wir später sprechen. Wichtig ist, daß in diesem Herangehen an die historische Thematik einerseits ein allgemeines Lebens­ gefühl der ganzen Epoche zum Ausdrudt kommt, andererseits, daß dieses Herangehen notwendig eine Verarmung der gestalteten Welt mit sich führt. Denn was war das Anziehende an den historischen Stoffen für Walter Scott und seine bedeutenden Nachfolger? Die Erkenntnis, daß jene Probleme, deren Wichtigkeit sie in der gegenwärtigen Gesellschaft beobachtet haben, sich in der Vergangenheit in anderer, spezifischer Form ausgewirkt haben; daß also die Geschichte als die objektive Vorgeschichte der gegenwärtigen Gesellschaft etwas ist, das dem menschlichen Geiste nicht fremd und unver­ ständlich gegenübersteht. Für die modernen Schriftsteller ist aber an der Geschichte gerade die Fremd­ heit das Anziehende. Der bekannte positivistische Soziologe und Ästhetiker Guyau hat über diesen Zusammenhang außerordentlich klar und eindeutig gesprochen. Er sagt : » Es gibt verschiedene Mittel, um dem Trivialen zu ent­ gehen, um für uns die Wirklichkeit zu verschönern, ohne sie zu verfälschen ; und diese Mittel konstituieren eine Art von Idealismus, der auch dem Natu­ ralismus zur Verfügung steht. Sie bestehen vor allem darin, daß die Dinge oder die Ereignisse entfernt werden, sei es in der Zeit, sei es im Raum . . . Die Kunst soll die umformende, verschönernde Funktion der Erinnerung ausüben. « Es ist dabei sehr interessant, daß Guyau die Entfernung des dichte­ rischen Sujets dem Raum oder der Zeit nach vollständig gleichsetzt. Wesent­ lich für ihn ist die verschönernde Wirkung des Pittoresken, des Ungewohnten, des Exotischen, das dabei entsteht. Wenn man nun z. B. die französische Literatur dieser Zeit betrachtet, so sieht man in ihr eine wahre Orgie der exotischen Thematik. Neben Orient, Griechentum, Mittelalter (Gedichte Leconte de Lisle's) finden wir das untergehende Rom (Bouilhet), Karthago, Ägypten, Judäa (Flaubert), die Urzeit (Bouilhet), Spanien, Rußland (Gau­ tier), Südamerika (Leconte de Lisle, Heredia) ; in derselben Zeit führen die Brüder Goncourt die Mode des Japonismus ein usw. In Deutschland hat man als Analogie den Renaissancismus Meyers, die verschiedenartige , aber

Der historische Roman und die Krise des b ürgerlichen Realismus überwiegend exotische Thematik Hebbels und Richard Wagners, bei Klei­ neren das Ägypten von Ebers, die Völkerwanderung Dahns usw. Eine derartige Strömung in der Literatur, die Schriftsteller der verschieden­ sten Richtung und verschiedenster Bedeutung erfaßt, hat tiefe Grundlagen im Leben der Gegenwart. Schon die Romantik hat gegen die Häßlichkeit des kapitalistischen Lebens mit einer Flucht in das Mittelalter protestiert. Aber dieser Protest hatte damals noch einen ziemlich klaren - freilich reaktionären - politisch-sozialen Inhalt. Die jetzt in der Form der thematischen Exotik protestierenden Schriftsteller haben nur ausnahmsweise diese reaktionären Illusionen. Ihr Haupterlebnis, besonders das der französischen Schriftsteller, die unter den Umständen eines entfalteteren Kapitalismus, eines schärferen Klassenkampfes als die Deutschen schaffen, ist ein allgemeiner Ekel, eine bodenlose, kein Ziel erspähende Enttäuschung am Leben. Wenn sie sich fort­ sehnen, so ist das »Fort« wesentlicher als das »Wohin« . Die Vergangenheit ist nicht mehr die objektive Vorgeschichte der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit, sondern die ewig verlorene unschuldige Schönheit der Kind­ heit, zu der sich die verzweifelte unerfüllbare Sehnsucht eines vertanen Lebens leidenschaftlich, aber unfruchtbar hinwendet. Dieses Lebensgefühl zeigt sich am prägnantesten in der Strophe Baudelaires (aus »Moesta et Erra­ bunda«) : »Emporte-moi, wagon ! enleve-moi, fregate ! Loin ! Loin ! ici la baue est faite de nos pleurs ! . . . - Mais le vert paradis des amours.enfantines, L'innocent paradis, plein de plaisirs furtifs, Est-il deja plus loin que l'Inde et que la Chine? Peut-on le rappeler avec des cris plaintifs, Et l'animer encore d'une voix argentine, L'innocent paradis, plein de plaisirs furtifs?« Die Feme ist also nichts Historisch-Konkretes mehr, nicht einmal in dem utopisch-reaktionären Sinne der früheren Romantiker. Die Feme ist eben die Negation der Gegenwart, ein abstraktes Anderssein des Lebens, etwas ewig Verlorenes, was gerade durch dieses Durchtränktsein von Erinnerung und Sehnsucht seine dichterische Substanz erhält - also aus rein subjektiven Quellen. Und die große archäologische Exaktheit, die nervöse Genauigkeit in der Erforschung der Details einer räumlich oder zeitlich fernliegenden

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

283

exotischen Welt geht, wie wir besonders bei Flaubert gesehen haben, nicht auf die Erforschung des gesellschaftlich-geschichtlichen Wesens dieser Welt, sondern auf das Malerische. Die Exaktheit soll freilich die objektiv-dichte­ rische Wirklichkeit der dargestellten Welt garantieren, da aber der Kern dieser Welt nur von der subjektiven, sehr modernen und sehr europäischen Sehnsucht und Verzweiflung des Dichters belebt wird, bleibt die archä­ ologische Exaktheit selbst bei den bedeutendsten Dichtern bloß Deko­ ration einer Bühne, auf der sich Menschenschicksale abspielen, die mit diesen exakt beschriebenen exotischen Gegenständen innerlich nichts zu tun haben. Aber so sehr diese Sehnsucht und diese Verzweiflung ihrem unmittelbaren Inhalt nach eine antibürgerliche Tendenz haben , so sehr sind sie doch in ihrem Kern zutiefst bürgerlich. Sie drücken die Gefühle der besten Vertreter der damaligen bürgerlichen Klasse aus, die sich jedoch nicht über den Horizont des beginnenden Niedergangs ihrer Klasse zu erheben vermögen. Trotz der scharfen Opposition, in der etwa Flaubert oder Baudelaire zu der Bourgeoisie ihrer Zeit gestanden haben, trotz der heftigen Ablehnung, mit der ihre Werke bei ihrem Erscheinen empfangen wurden, bleibt das verbindende, das sozial­ identische Moment zwischen ihnen und ihrer Klasse doch überwiegend. Ihre Werke haben eben deshalb mit der Zeit die entrüstete Ablehnung ihrer Zeit­ genossen überwunden, und sie selbst wurden als Dichter empfunden, die die wesentlichen Inhalte ihrer Zeit zum Ausdruck gebracht haben. Der Widerspruch, der hier vorzuwalten scheint, existiert nur für die Vulgär­ soziologie. Marx selbst hat diese Beziehung zwischen Schriftsteller und Klasse sehr klar und genau bestimmt. »Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers (Krämer) sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgertums macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hin­ auskommen, worüber jene nicht im Leben hinauskommen, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jene das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten. « Diese B eziehung der bedeutenden Vertreter des historischen (exotischen) Stoffgebiets in dieser Periode zu ihrer Klasse kommt i nsbesondere bei der von uns bereits behandelten Frage der Ersetzung der wirklichen historischen Größe durch Grausamkeit und Brutalität zum Ausdruck. Wir habe � bereits

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus auf die paradoxe Tatsache hingewiesen, daß ästhetisch wie moralisch derart hochstehende und feinfühlige Schriftsteller wie Flaubert und Meyer in ihrer Darstellung zu dieser Grausamkeit und Brutalität getrieben worden sind. Wir haben ebenfalls gezeigt, daß diese Wendung notwendigerweise aus dem Verlust der inneren Beziehung zur Geschichte entstehen mußte, daß sie mit dem Lebensgefühl der Niedergangsperiode, das in den historischen Taten nicht mehr Taten und Leiden des Volkes selbst, in den » welthistorischen In­ dividuen« nicht mehr Repräsentanten von Volksströmung sieht, aufs engste zusammenhängt. Wir brauchen hier nur kurz auf den Zusammenhang dieser Gefühle mit unbewußten Erlebnissen breiter bürgerlicher und kleinbürger­ licher Massen hinzuweisen, damit wir k lar ersehen können, daß diese Schrift­ steller, obwohl sie menschlich wie intellektuell turmhoch über der Masse ihrer Klassengenossen stehen, doch nur deren verborgenen, verbogenen und verleugneten Gefühlen dichterisch Ausdruck verleihen. Die Beziehung des durchschnittlichen Bürgers oder Kleinbürgers dieser Periode zu den brutalen Exzessen als vermeintlicher Größe hat wiederum Baudelaire (in : »An den Leser «) in außerordentlich klarer und dichterisch bedeutender Form aus­ gesprochen : »Si le viol, le poison, le pognard, l'incendie, N'ont pas encore brode de leurs plaisants dessins Le canevas banal de nos piteux destins, C'est que notre ame, helas ! n'est pas assez hardie.« In seinem Vorwort zu den »Les fleurs du mal«. gibt Theophile Gautier eine außerordentlich interessante und charakteristische Auslegung dieser Stelle. Er spricht von dem großen modernen Monstrum der Langeweile, » die in ihrer bourgeoisen Feigheit in flacher Weise von den Wildheiten und Ausschwei­ fungen der Römer träumt : der Bürokrat Nero, der Krämer Heliogabal « . Bedeutende und sich dieser Zusammenhänge bereits bewußtere moderne Schriftsteller haben die lebendige Beziehung solcher I deologien zu den Lebens­ grundlagen des Bürgers bereits schriftstellerisch gestaltet. Man denke an die unvergeßliche Figur des Professor Unrat von Heinrich Mann, man denke daran , wie Heinrich Mann in seinem » Untertan« die gemeinsamen Züge zwi­ schen dem größenwahnsinnigen imperialistischen Bürger der wilhelminischen Periode und der dekorativen Monumentalität der Wagnerschen Kunst her­ ausgearbeitet hat, wie dort der Wagnersche Lohengrin als das innere Wunsch­ bild des Kapitalisten Heßling erscheint. Aus diesem Zusammenhang wird die besondere Stellung des historischen

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

28 5

Stoffes im Rahmen der allgemeinen Tendenz zur Exotik für uns verständlich. Wir haben die Argumente gehört, die für Meyer die Überlegenheit des histo­ rischen Romans über eine gegenwärtige Thematik bestimmt haben. D er Bio­ graph und Kritiker Meyers, F. Baumgarten, hat über diese Beziehung Meyers zum historischen Stoff einen sehr interessanten Kommentar gegeben, der sowohl Meyers Auffassung als auch die allgemeine Theorie der Exotik von Guyau in vieler Hinsicht konkretisiert. Baumgarten sagt über den Dichter, der die Gegenwart bearbeitet : »Sein Stoff ist schicksalslos, zu einer Schicksals­ beziehung wird er erst geballt durch die formende Hand des Dichters. Dem historischen Dichter bringt das Modell bereits ein Schicksal zu, das die Wech­ selwirkung des Charakters und der Umwelt geformt hat.« Baumgarten ver­ steht nid1ts von den historischen Zusammenhängen, die eine solche Anschau­ ung wie die Meyers und seine eigene hervorgebracht haben. Er sieht in den historischen Mächten, die der historische Roman gestalten soll - in einer Rickert-Meineckeschen Form - nur Ideen, nur etwas, das von uns in den geschichtlichen Stoff hineingetragen wird. Eben wegen dieses Subjektivismus bleibt bei ihm dieser Gegensatz zwischen Geschichte und Gegenwart starr und ausschließend bestehen. Ein Mensch der Gegenwart sei nicht gestaltbar, »weil solche Konstruktionsformen, die nur ein abgeschlossener historischer Prozeß sichtbar macht, für die Gegenwart noch gar nicht erkannt, bekannt und festgelegt sind« . Wir haben diesen Kommentar z u Meyers Gestaltungsweise darum s o aus­ führlich zitiert, weil hier das Unverständnis für die Gegenwart, die prinzi­ pielle Unerkennbarkeit der Gegenwart als Grundlage des historischen Stoffes erscheint. Die Vergangenheit, die Geschichte steht also in keinem organischen Zusammenhang mit der Gegenwart, sie ist vielmehr auch in dieser Hinsicht ihr starrer Gegenpol. Die Gegenwart ist dunkel, die Vergangenheit zeigt klare Konturen. Daß diese Konturen ebenfalls nicht der Vergangenheit als solcher angehören, sondern Hineintragungen des Subjekts (bei den Philo­ sophen selbstverständlich : » des erkenntnistheoretischen Subjekts«) sind, än­ dert an dieser Gegenüberstellung nichts, da nach der Auffassung solcher Den­ ker und Schriftsteller eine derartige Anwendung der Kategorien des Denkens auf die Gegenwart praktisch unmöglich ist. Die allgemein herrschende philo­ sophische Auffassung, daß die Außenwelt unerkennbar sei, erhält einen ge­ steigerten, qualitativ neuen Akzent, wenn sie auf die Erkennbarkeit der Gegenwart ausgedehnt wird. Die philosophische und künstlerische Idealisie­ rung der Ratlosigkeit, des Vorbeigehens an den wesentlichen Problemen, der Nivellierung des Wesentlichen und Unwesentlichen usw. wirkt tief in alle

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus Gestaltungsprobleme hinein, beeinflußt als inhaltlich ausschlaggebende Art des Herangehens an alle Fragen auch die Probleme der Form. Wie allgemein tiefgehend und lange anhaltend diese Tendenzen auf die Sub­ jektivierung der Geschichtsauffassung eingewirkt haben, kann man am deut­ lichsten ersehen, wenn man die Ausführungen des bedeutenden antifaschi­ stischen Schriftstellers, des kämpferischen Humanisten Lion Feuchtwanger, auf dem Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur betrachtet. Feucht­ wanger steht - wie wir im nächsten Kapitel sehen werden - in den wesent­ lichen Tendenzen seiner Kunst den Beschreibungen der jetzt analysierten Periode fern, er bildet sogar in bestimmtem Sinne einen Gegensatz zu ihnen. Trotzdem sind die theoretischen Begründungen, die er für den historischen Roman gibt, ebenfalls von den führenden reaktionären Philosophen der Nie­ dergangszeit , insbesondere von Nietzsche, aber auch von Croce beeinflußt, und sie sind vollständig von diesem Geist des Subjektivismus dem historischen Stoffe gegenüber erfüllt. Feuchtwanger vergleicht die zeitgenössischen Stoffe mit den historischen in bezug auf ihre Eignung, die I dee des Schriftstellers auszudrücken, und führt aus : »Wenn ich mich veranlaßt sehe, einen zeitgenössischen Inhalt in ein historisches Gewand zu kleiden, dann spielen negative und positive Ursachen ineinander. Manchmal etwa gelingt es mir nicht, Teile meiner Handlung nach Wunsch zu destillieren ; sie bleiben, lasse ich sie im zeitgenössischen Gewand, Rohstoff, sie bleiben Bericht, Erwägung, Gedanke, werden nicht zum B ild. Oder ich habe, wenn ich das Milieu der Gegenwart setze, das Gefühl des mangelnden Abschlusses. Die Dinge sind noch im Fluß, die Annahme, ob eine gegenwärtige Entwicklung vollendet sei und w i e weit, bleibt immer willkür­ lich, jeder gesetzte Schlußpunkt ist zufällig. Ich habe bei der Darstellung zeit­ genössischer Verhältnisse das Unbehagen des fehlenden Rahmens ; es ist Duft, der verraucht , weil die Flasche nicht geschlossen werden kann. Dazu kommt, daß unsere sehr bewegte Zeit jede Gegenwart sehr rasch zur Historie macht, und wenn das Milieu von heute doch schon in fünf Jahren historisch sein wird, warum dann soll ich, um einen Inhalt auszudrücken, von dem ich hoffe, daß er in fünf Jahren noch lebendig sein wird, n icht ebensogut ein Milieu wählen dürfen, das eine beliebige Zeit zurückliegt? « Man sieht, daß Feuchtwanger hier viele Argumente wiederholt, denen wir in den Schriften der bedeutenden Theoretiker und Schriftsteller dieser Periode begegnet sind. Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sowohl Geschichte wie Gegenwart als tote Tatsachenkomplexe aufgefaßt werden, denen an und für sich keine eigene lebendige Bewegung innewohnt, die an sich keinen eige-

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

287

nen Geist, keine eigene Seele besitzen, sondern nur von außen, vom Dichter her beseelt werden. Andererseits erscheinen den Dichtern ihre eigenen mensch­ lichen Erlebnisse nicht als zeitgebunden. Sie glauben, daß die räumlichen und zeitlichen Erscheinungsweisen der menschlichen Gefühle und Gedanken aus­ schließlich das .Außerliche dieser Gefühle und Gedanken betreffen, nur ihr Kostüm darstellen, während diese selbst an und für sich außerhalb des histo­ rischen Ablaufs stehen und deshalb in beliebige Zeiten vorwärts oder rück­ wärts versetzt werden können , ohne deshalb wesentliche Veränderungen zu erleiden. Die Wahl der geschichtlichen Thematik ist von diesem Lebensgefühl aus, etwa bei Conrad Ferdinand Meyer, rein eine Angelegenheit der artisti­ schen Auswahl : es wird jene Periode der Geschichte gewählt, in welcher die dekorative Verkörperung dieser Gefühle am adäquatesten den subjektiven Absichten des Dichters angepaßt werden kann. Tote Tatsachen und, im Zusammenhang mit ihnen, subjektive Willkür ihrer Bearbeitung bestimmen die künstlerischen Prinzipien des historischen Romans in der Niedergangsperiode des bürgerlichen Realismus. Selbstverständlich er­ wachsen alle falschen Theorien über den historischen Roman auf dieser Grundlage und werden von der Praxis der bedeutenden Schriftsteller dieser Niedergangsperiode unterstützt. Der Unterschied zu dem klassischen Typus des historischen Romans ist entweder, wie bei Taine und Brandes, ein Grund für dessen Ablehnung, oder dieser Unterschied wird vollkommen weg­ gewischt. Auf dieser Grundlage entstehen ebenfalls die vulgärsoziologischen Theorien der Bearbeitung der Geschichte durch die Literatur, deren Grund­ lage die objektive Fremdheit und Unverständlichkeit der Geschichte für uns ist, die deshalb in der künstlerischen Bearbeitung der Geschichte eine reine »Introjektion« (im Sinne von Mach und Avenarius) sehen. In der Debatte über den historischen Roman im Jahre 1 9 3 4 in der Sowjet­ union traten vulgärsoziologische Auffassungen auf, deren wesentlicher Inhalt eine vollkommene Abtrennung der Geschichte von der Gegenwart war. Eine Richtung betrachtete den historischen Roman als eine »Wissenschaft von den Rudimenten «, sah also in der Geschichte gar nichts, das lebendig in die Gegen­ wart hineinwirken könnte. Diese Auffassung, die der .Asthetik der Vulgär­ soziologie vollständig entspricht, daß nämlich die klassenlose Gesellschaft mit den Literaturprodukten der vorangegangenen Entwicklung der Klassengesell­ schaft nichts mehr zu tun habe, machte aus dem historischen Roman ein totes Sammelsurium von » Rudimenten «, die von dem Dichter beliebig gruppiert und » belebt« werden können. Die andere Richtung stellte zwei Typen des historischen Romans auf, in denen sich die zusammengehörige Dualität von

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus toten Tatsachen und subjektiven Introjektionen genau widerspiegelt. Der eine Typus ist der eigentliche historische Roman, in welchem die dargestellte Idee der vergangenen Epoche immanent ist. Ist diese vollkommene I mmanenz nicht da, so entsteht nach dieser »Theorie« ein »zeitgenössischer Roman« über ein historisches Material, d. h. die reine Introjektion. Im ersten Fall haben wir wieder die Geschichte vor uns, die uns nichts angeht, im zweiten Fall unsere eigenen Gedanken und Gefühle, in einem Kostüm, das mit den historischen Ereignissen der dargestellten Vergangenheit nichts Gemeinsames hat. B eide » Theorien« sind also B astarde der bürgerlichen Dekadenz und der Vulgär­ soziologie. Es handelt sich hier stets darum, daß jene bürgerlichen Theorien, die im Laufe der Entartung der revolutionären Demokratie im National­ liberalismus entstanden sind, von der Vulgärsoziologie in den Marxismus als neue Errungenschaften des Fortschritts eingeschmuggelt worden sind. Man denke bloß an die unkritische Verherrlichung, mit der die Literaturtheorien Taines von der Vulgärsoziologie behandelt werden. Für unser Problem ist die Verwandlung der revolutionären und progressiven bürgerlichen Demokratie in einen feigen und kompromißlerischen, in einen immer reaktionärer werdenden Liberalismus die wichtigste Tatsache. D enn wir haben bei der Analyse so bedeutender, ehrlicher und künstlerisch hoch­ stehender Schriftsteller wie Flaubert und C. F. Meyer sehen können, daß die Zentralfrage der Krise des Realismus im historischen Roman gerade in j ener Entfernung vom Volksleben, von den lebendigen Kräften dieses Lebens bestand, also, künstlerisch angesehen , in einer ähnlichen Abwendung vom Volk, wie sie sich in dieser Periode in der Bourgeoisie selbst politisch und . sozial vollzog. Und wir konnten bei ehrlich demokratischen Schriftstellern wie Erckmann-Chatrian und auch bei dem viel bedeutenderen de Coster sehen, wie diese sozialen und geistigen Strömungen der Zeit ihre plebejische Gesinnung zur Abstraktheit beschränkten und ihren schriftstellerischen Aus­ druck teilts zur Verarmung, teils zur Stilisierung führten. Die große bürgerliche Kultur des 1 8 . Jahrhunderts, deren Realismus in der ersten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts eine letzte B lüte erlebte, hat ihre gesell­ schaftliche Grundlage darin, daß die Bourgeoisie objektiv noch die Führerin aller progressiven Kräfte der Gesellschaft zur Zertrümmerung und Liquidie­ rung des Feudalismus war. D as Pathos dieser historischen Berufenheit gibt den bedeutenden ideologischen Vertretern der Klasse den Mut und den Schwung, alle Probleme des Volkslebens aufzuwerfen, sich tief in das Volks­ leben zu versenken und durch eine tiefe Auffassung der hier wirksamen Kräfte und Konflikte die Sache des menschlichen Fortschritts literarisch auch

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

289

dann und auch dort z u vertreten, w o eine solche Aufwerfung und Lösung von Problemen den engeren Interessen der Bourgeoisie widerspricht. Mit der Wendung zum Liberalismus zerreißt dieses Band. Der Liberalismus ist nurmehr die Ideologie der engen und beschränkten Klasseninteressen der Bourgeoisie. Diese Verengung besteht auch in solchen Fällen, wo scheinbar der vertretene Inhalt derselbe geblieben ist. Denn es ist eines, wenn die großen Vertreter der bürgerl ichen Ökonomie den zünftigen Gebundenheiten, dem territorialen Partikularismus usw. gegenüber die Rechte der kapitalistischen Ökonomie als historischen Progreß vertreten haben, und etwas ganz anderes, was der vulgäre Freihandel der Manchesterleute in der zweiten Hälfte des r 9 . Jahrhunderts propagiert hat. Die Enge, die durch diese Abgerissenheit vom Volk entsteht, ist bei den pol i­ tischen Vertretern der Bourgeoisie dieser Zeit , bei ihren ideologischen Hand­ langern auf den Gebieten der Ökonomie, Philosophie usw. mit einer immer weitergehenden Heuchelei verbunden. Nach außen soll nämlich die Bour­ geoisie noch immer als die Führerin des Progresses, als Repräsentanz und Vorkämpfer des ganzen Volkes figurieren. Da aber enge und egoistische Klasseninteressen der Bourgeoisie den Inhalt der vertretenen Interessen aus­ machen, kann eine solche »Verbreiterung« nur mit den Mitteln der Heuchelei, der Vertuschung, der Lüge und der Demagogie durchgeführt werden. Dazu kommt, daß die liberale Abwendung vom Volk ihre Wurzeln in der Angst vor dem Proletariat, vor der proletarischen Revolution hat. Die Volksfremd­ heit schlägt immer wieder in eine Vol ksfeindlichkeit um. Und im engsten Zusammenhang mit dieser Entwicklung entsteht im Liberalismus eine immer weitergehende Neigung zu feigen Kompromissen mit den Mächten der Überreste des Feudal absolutismus, zu einer feigen Kapitulation vor ihnen. Die I deologie dieses Kapitulantentums drückt sich dann in der Theorie der »Realpolitik« aus, einer Theorie, die in steigendem Maße die alten glor­ reichen revolutionären Traditionen des Bürgertums nicht nur ideologisch liquidiert, sondern sie geradezu als Abstraktheit, als »Unreife«, als »Kin­ derei« verhöhnt (Verhalten der liberalen deutschen Geschichtsschreibung zum Jahre r 8 4 8 ) . Wir haben wiederholt auf den ungeheuren Abstand hingewiesen, der bedeu­ tende Schriftsteller wie Flaubert oder Meyer von der liberalen Bourgeoisie und ihrer Intelligenz trennt (von den plebejisch-demokratischen Schriftstel­ lern gar nicht zu reden) . Ja, es hat in dieser Periode keinen Schriftsteller gegeben, der die Niedrigkeit, Dummheit und Korruption der bürgerlichen Klasse mit einer schneidenderen Satire geschildert hätte als Flaubert. Und

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus sogar die Rückwendung zur Geschichte ist sowohl bei Flaubert wie bei Meyer ein Protest gegen diese Niedrigkeit und Kleinlichkeit, gegen diese Dummheit und Verworfenheit der bürgerlichen Klasse ihrer Zeit. Aber gerade durch diese abstrakte Opposition bleiben Flaubert und Meyer innerhalb des Rahmens dieser Periode, mit ihren Beschränktheiten, ihren Verengungen des gesellschaftlich-geschichtlichen Horizonts, stecken. Die Waffe der Satire, der leidenschaftlich romantischen Kontrastierung der Vergangen­ heit mit der Gegenwart bewahrt diese Schriftsteller zwar vor dem Schicksal der Apologeten der liberalen Bourgeoisie, macht ihre Werke literarisch bedeu­ tend und interessant, sie verhilft aber den Schriftstellern nicht dazu, sich vom Fluch der Volksfremdheit zu befreien. Sie mögen die ideologischen Konse­ quenzen dieser geschichtlichen Lage noch so ablehnend oder kritisch betrachten - und das tun sie auch -, die gesellschaftlich-geschichtlichen Tatsachen selbst, deren ideologische Konsequenzen sie bekämpfen, müssen sich in Inhalt und Form ihrer Werke widerspiegeln. Ihre künstlerische Fragestellung, ihre Thematik und Darstellungsweise bleibt von dieser Volksfremdheit der Problemstellungen und Lösungen bestimmt. Daß in den historischen Romanen dieser Periode, auch in den bedeutendsten, die Beziehungen der Menschen zum öffentlichen Leben entweder ganz apolitisch privat sind oder sich auf eine »Realpolitik« der Schiebungen inner­ halb der Oberschicht der Gesellschaft beschränken, ist eine deutliche Wider­ spiegelung jener grundlegenden Veränderungen im sozialen Leben der bür­ gerlichen Klasse, deren politischer Ausdruck eben der Liberalismus gewesen ist. Auch die leidenschaftlichste Verachtung Flauberts für die liberale Bour­ geoisie seiner Zeit kann von dieser seiner künstlerischen Gebundenheit an die Niedergangstendenzen der bürgerlichen Klasse nichts aufheben. So ist der neuere historische Roman als eigenes Genre aus den ideologischen Schwächen einer beginnenden Niedergangsentwicklung entstanden, aus der Unfähigkeit auch der bedeutendsten Schriftsteller dieser Periode, die wirk­ lichen sozialen Wurzeln der Entwicklung zu erkennen und sie wirklich und zentral zu bekämpfen. Alle einzelnen künstlerischen Schwächen dieses histo­ rischen Romans haben wir schon in den Einzelanalysen aus dieser grund­ legenden Schwäche abgeleitet. Es wäre aber falsch, zu glauben, daß diese Schwächen sich ausschließlich auf den historischen Roman beschränkten. Wir haben bereits gezeigt, daß das Ersetzen der wirklichen Gipfelpunkte des ge­ sellschaftlichen Lebens durch Atrozitäten und Brutalitäten bei Flaubert den Gesellschaftsroman Zolas »prophetisch« vorwegnimmt. In Wirklichkeit steckt selbstverständlich hinter dieser sehr allgemeinen literarischen Strö-

Tendenzen der Dekadenz zmd Konstituierung des historischen Romans

29 1

mung, die auch die menschlich feinst organisierten Schriftsteller erfaßt, eine allgemeine Verwilderung und Verrohung der menschlichen Gefühle, die mit dem endgültigen Sieg der Bourgeoisie in der Gesellschaft vorherrschend wird. Ebenso ist die Verschiebung der gesellschaftlichen Thematik nach »oben« nicht auf den historischen Roman beschränkt, obwohl sie auch hier früher und entschiedener als sonst hervortritt. Innerhalb der naturalistischen Entwick­ lung proklamiert Edmond de Goncourt es bereits als eine höhere Phase des Naturalismus, wenn er zur Schilderung der oberen Klassen der Gesel lschaft übergeht. Und in den Strömungen, die den Naturalismus ablösen, wird nun diese Richtung vorherrschend. Selbstverständlich bedeutet die Allgemeinheit einer historischen Strömung auch hier nicht ihre Ausschließlichkeit und kei­ neswegs ihre gleichförmige Auswirkung auf das Schaffen aller in dieser Periode wirkenden Schriftsteller. Jedoch bei den tiefen Wurzeln, die diese literarischen Tendenzen im gesellschaftlichen Sein des entwickelten Kapita­ lismus und erst recht des I mperialismus haben, muß die Opposition der Schriftsteller gegen diese gesellschaftlichen Tendenzen sehr tief gehen, um einen erfolgreichen künstlerischen Kampf gegen ihre literarischen Erschei­ nungsformen möglich zu machen. (Daß aber ein solcher Kampf möglich ist, zeigt die internationale Literatur von Gottfried Keller über Anatole France bis zu Romain Rolland an vielen Beispielen.) Wir sehen : keine einzige Frage des historischen Romans läßt sich an ihm allein, isoliert behandeln, ohne daß die historische und gesellschaftliche Kon­ tinuität der literarischen Entwicklung vollständig entstellt wird. Mit welchem Recht spricht man also vom historischen Roman als eigenem Genre? Daß die verknöchert-formalistische und gerade darum grob-inhaltliche Genre-Theorie der späteren bürgerlichen Xsthetik den Roman in verschiedene »Untergenres «, wie Abenteuerroman, Detektivroman, Bauernroman, psychologischen und historischen Roman usw., aufteilt, daß diese »Errungenschaft« auch von der Vulgärsoziolgoie übernommen wird, hat wissenschaftlich nichts zu be­ sagen. In der formalistischen Betrachtungsweise der Genres sind alle großen Traditionen der revolutionären Periode spurlos verschwunden. Eine seelen­ lose und verknöcherte , eine derart bürokratische Einteilung soll die lebendige Dialektik der Geschichte ersetzen. Selbstverständlich stecken hinter diesen verknöcherten Kategorien immer wieder reale soziale I nhalte. Aber stets solche der immer reaktionärer wer­ denden liberalen Ideologie. Und nur die menschewistische Vulgärsoziologie ist so » naiv«, den sozialen Charakter dieser Inhalte nicht zu bemerken und sich allein auf die »wissenschaftlichen Errungenschaften« zu konzentrieren.

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus Wir können hier die Geschichte der Theorie der Genres unmöglich ausführ­ lich behandeln. Es genügt, auf ein Beispiel hinzuweisen. Bei der Konstituie­ rung des psychologischen Romans als gewissermaßen eigenen Genres haben seine bedeutenden Vertreter, vor allem Paul Bourget, klar die Tendenz aus­ gesprochen, die notwendig zu der Begründung dieses neuen Genres geführt hat. Denn selbstverständlich wußte ein so kluger und gebildeter Reaktionär wie Bourget sehr genau, daß die alten Romanschriftsteller der vergangenen Periode bedeutende Psychologen gewesen sind. Worauf es ihm aber ankam, war die idealistische und reaktionäre Abtrennung des Psychologischen von den objektiven Bestimmungen des gesellschaftlichen Lebens, die Konstituie­ rung des Psychologischen als eines selbständigen und unabhängigen Gebiets der menschlichen Lebensäußerungen. Diese Abtrennung wird nun dahin­ gehend ausgebaut, daß die »konservativen« Instinkte eine Suprematie über die » destruktiven« erhalten. Vor allem soll bei Bourget die Flucht in die Religion aus den - abstrahiert dargestellten - Widersprüchen des gegen­ wärtigen Lebens gerade durch diesen Psychologismus eine besondere Ober­ zeugungskraft erhalten. Und tatsächlich wachsen dadurch die Möglichkeiten der Sophistik. Es erscheint nicht mehr als notwendig, Kirche und Religion in ihren sozialen Bestimmungen, mit ihren politischen Zielen usw. darzustellen, wie dies Balzac und Stendhal, ja auch noch Flaubert und Zola getan haben. Die Frage der Religion wird jetzt zu einer »rein inneren« Frage gemacht : höchstens spielt die dekorative Seite Roms als malerischer Hintergrund in die Handlung hinein (Cosmopolis). Hier knüpft der psychologische Roman an die Vulgarisierung und gedank­ liche Erstarrung des gesellschaftlichen Lebens durch die Soziologie, vor allem Taines, an. Der »Stand«, die soziale Lage erscheint als eine metaphysische Gegebenheit. Sie selbst bedarf keiner Untersuchung ; sie ist unveränderlich. Zu gestalten sind bloß die psychologischen Reaktionen, und zwar auf der Grundlage, daß jedes Nichtharmonisieren mit dem »Stand« als Krankheit dargestellt wird. Man höre die neue Auslegung , die Bourget über »Madame Bovary« und »Le rouge et le noir« gibt : » Man hat nicht genügend bemerkt, daß dies die Grundlage der >Madame Bovary< ebenso wie von >Rouge et noir< von Stendhal bildet : die Untersuchung einer Krankheit, hervorgerufen durch die Versetzung des Milieus. Emma ist eine Bäuerin, die die Erziehung einer Bourgeoise erhalten hat. Julien ist ein Bauer, der die Erziehung eines Bour­ geois erhalten hat. Diese Vision einer ungeheuren sozialen Tatsache beherrscht beide Bücher.« So verschwindet durch das Selbständigmachen des Psycho­ logischen jede Gesellschaftskritik. Stendhal und Flaubert sollen an - krank-

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

29 3

haften Gegenbeispielen - die »tiefe« psychologische und soziale »Wahrheit« verkünden : Schuster , bleib bei deinen Leisten ! Wir haben gesehen, daß in der Konstituierung des historischen Romans als eigenen Genres oder Untergenres sich ein verwandter sozialer Inhalt ver­ barg : die Abtrennung der Gegenwart von der Vergangenheit, die abstrakte Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit. Selbstverständlich entscheiden derlei Absichten für das Entstehen neuer Genres nichts. Wir haben in den vorangegangenen Betrachtungen, vor allem bei dem Vergleich von historischem Roman und historischem Drama ausführlich dargelegt, daß jedes Genre eine eigenartige Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, daß Genres nur dann entstehen können, wenn typische und gesetzmäßig wiederkehrende allgemeine Lebenstatsachen entstanden sind, deren inhaltliche und formale Eigenart sich in den bisher vorhandenen Formen nicht adäquat widerspiegeln kann. Einer spezifischen Formgebung, einem Genre, muß eine spezifische Wahrheit des Lebens zugrunde liegen. Wenn sich das Drama in Tragödie und Komö­ die scheidet (von den Zwischenstufen wollen wir hier absehen), so hat dies ernste inhaltliche Gründe in denjenigen Lebenstatsachen, die von den Formen der Tragödie und der Komödie widergespiegelt, und zwar dramatisch wi­ dergespiegelt werden. Denn es ist sehr bezeichnend, daß diese scharfe Tren­ nung in der epischen Kunst keine Scheidung der Genres hervorbringt. Selbst der bürgerlichen und pseudomarxistischen Vulgärsoziologie ist es noch nicht eingefallen , das Untergenre des tragischen Romans auszuklügeln. Tragödie und Komödie haben ein verschiedenes Verhältnis zur Wirklichkeit und eben deshalb eine andere Art des Aufbaus der Handlung, der Charakterisierung usw. Khnlich verhält es sich bei Roman und Novelle. Die Frage ist keineswegs die des Umfangs. Die Verschiedenheit des Umfangs ist nur die Konsequenz der Verschiedenartigkeit des Gestaltungszieles, wobei es zuweilen Grenzfälle geben kann, wo eine große Novelle umfangreicher ist als ein kleiner Roman. Es handelt sich immer wieder um eine spezifische Form der Widerspiegelung von spezifischen Lebenstatsachen. Der Unterschied des Umfangs zwischen Roman und Novelle ist nur ein Ausdrucksmittel unter vielen für die ver­ schiedenen Lebenstatsachen, die von beiden Genres gestaltet werden. Das wirklich unterscheidende Merkmal der Novelle ist vor allem, daß in ihr keine Totalität der Lebenserscheinungen zu gestalten angestrebt wird. Deshalb ist diese Form geeignet, sehr spezifische Lebenszusammenhänge, z. B . die Rolle des Zufalls im menschlichen Leben, mit spezifischer Energie darzustellen. Conrad Ferdinand Meyer als bedeutender und denkender Künstler empfand

29 4

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

klar, daß der Irrationalismus seiner Geschichtsauffassung zur Novelle drängt, un d nannte deshalb seine Werke Novellen und nicht Romane. Das endgültige Pescara-Motiv, daß er nämlich wegen seiner tödlichen Krankheit zur Hand­ lung, zur Entscheidung physisch unfähig ist, ist tatsächlich ein typisches No­ vellenmotiv. Da aber Meyer die hohe künstlerische Ambition hatte, doch ein Gesamtbild der Probleme seiner Zeit zu geben, sprengten seine Werke den strengen, aber engen Rahmen der Novelle; so sind auf der Grundlage von Novellenmotiven irrationalistische, fragmentarische Romane entstanden. Wenn wir also das Problem der Genres ernsthaft betrachten, können wir die Frage nur so stellen : welche Lebenstatsachen liegen dem historischen Roman zugrunde, die von jenen Lebenstatsachen, die das Genre des Romans im all­ gemeinen konstituieren, spezifisch verschieden sind ? Ich glaube, wenn die Frage so gestellt wird, kann nur geantwortet werden : keine. Und die Ana­ lyse der Tätigkeit der bedeutenden Realisten zeigt, daß in ihren historischen Romanen kein einziges wesentliches Problem des Aufbaus, der Charakterisie­ rung usw. auftaucht, das in ihren anderen Romanen fehlen würde, oder um­ gekehrt. Man vergleiche etwa »Barnaby Rudge « von Dickens mit seinen Gesellschaftsromanen, » Krieg und Frieden « mit »Anna Karen ina« usw. Die letzten Prinzipien sind notwendigerweise überall die gleichen. Und sie folgen aus dem gleichen Ziel : die Totalität eines gesellschaftlichen Lebenszusammen­ hanges, sei es der Gegenwart oder der Vergangenheit, in der Form der Er­ zählung zu gestalten. Selbst solche Probleme inhaltlicher Art, die scheinbar Specifica des historischen Romans sind, wie z. B. die Gestaltung der Ober­ reste der Gentilgesellschaft bei Scott, sind auch nicht sein ausschließlicher Gegenstand der Gestaltung. Von der » Oberhof«-Episode in Immermanns »Münchhausen« bis zu dem ersten Teil von Fadejews » Udehe« finden wir solche Probleme immer wieder in Romanen, die die Gegenwart behandeln . Und auf diese Weise könnte man alle inhaltlichen wie formalen Probleme des Romans durchgehen, ohne auf eine einzige Frage zu stoßen, die wesent­ lich wäre und doch dem historischen Roman allein angehörte. Der klassische historische Roman ist aus dem Gesellschaftsroman entstanden und ist, ihn bereichernd, ihn auf eine höhere Stufe hebend, in ihn übergegangen . Je höher sowohl die historischen Romane wie die Gesellschaftsromane der klassischen Zeit stehen, desto weniger gibt es zwischen ihnen wirklich entscheidende Stil unterschiede. Dagegen ist der neuere historische Roman aus den Schwächen des modernen Romans entsprungen und reproduziert infolge und mit Hilfe der Konstitu­ ierung zum »eigenen Genre « diese Schwächen auf einer höheren Stufe.

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

29 5

Dieser Differenzierung liegt selbstverständlich ebenfalls eine Lebenstatsache zugrunde. Aber nicht nur eine objektive Tatsache des Lebens selbst, der ob­ jektiven Verwandlung des Lebens, sondern zugleich und vor allem die Über­ spannung einer allgemeinen falschen Ideologie der Niedergangsperiode. Die Besonderheit des historischen Romans in dieser Periode läßt sich dahin­ gehend aussprechen, daß die Korrektur der falschen Absichten der Schrift­ steller durch das Leben selbst im historischen Roman viel schwerer vollziehbar ist als in dem Roman, dessen Stoff die Gegenwart bildet, daß also im histo­ rischen Roman die falschen Theorien, die literarischen Vorurteile usw. der Verfasser durch den Reichtum des Erlebnisstoffes aus der Gegenwartsthema­ tik nicht oder viel schwerer korrigiert werden können. Das, was Engels bei B alzac als den » Sieg des Realismus« bezeichnet, der Sieg der ehrlichen und vollständigen Widerspiegelung der wirklichen Lebenstatsachen und Lebens­ zusammenhänge über gesellschaftliche, politische oder individuelle Vorurteile des Schriftstellers, tritt bei dem neueren historischen Roman viel schwerer ein als bei dem gleichzeitigen Gesellschaftsroman. Wir haben uns hier, wenn auch nur kurz, mit zwei bedeutenden realistischen Schriftstellern dieser Periode beschäftigt, mit Maupassant und Jacobsen. Maupassant geht an »Bel ami« ebenso heran wie an »Une Vie«, Jacobsen an » Niels Lyhne « ebenso wie an »Marie Grubbe«. Aber in den erstgenannten Werken entsteht - trotz aller allgemeinen Problematik des neueren Realis­ mus - jewei ls eine reich nuancierte gesellschaftliche Wirklichkeit. In beiden Fällen ist ein Engelsseher »Sieg des Realismus« festzustellen. Warum? Weil es für Maupassant wie für Jacobsen als talentierte, aufrichtige Beobachter des Lebens unmöglich gewesen ist, an den großen gesellschaftlichen Problemen ihrer Zeit achtlos vorbeizugehen, wenn sie eine Gegenwartsfigur gestalteten. Wie sehr auch die Schriftstel ler in erster Linie die innere psychologische Ent­ wicklung des Helden interessiert hat, unbewußt und unbeabsichtigt ist in beiden Fällen das gesellschaftliche Leben der Gegenwart von allen Seiten in den Roman hineingeströmt und hat ihn mit einem reichen und gegliederten Leben erfüllt. Dies ist im historischen Roman viel schwerer. Feuchtwanger hat in den oben angeführten Bemerkungen durchaus recht, wenn er sagt, daß der zeitlich fern­ liegende Stoff sich für den Schriftsteller leichter gliedern l asse als der Stoff der Gegenwart. Er irrt sich nur darin, wenn er hier einen Vorzug und nicht einen Nachteil für den Schriftsteller sieht. Der historische Stoff leistet - dem Schriftstel ler der nachachtundvierziger Entwicklung - weniger Widerstand, die subjektive Absicht des Schriftstellers läßt sich diesem Stoff viel leichter

29 6

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

aufdrängen. Aber gerade dadurch entsteht jene Abstraktheit, jene subjek­ tivistische Willkür, j ene fast traumhafte »Zeitlosigkeit«, die wir bei den historischen Romanen von Maupassant und Jacobsen festgestellt haben und die sie sehr zu ihrem Nachteil von den kräftigeren und klarer konturierten Gesellschaftsromanen ihrer Verfasser unterscheidet. Sogar bei einem Schriftstel ler vom Range Dickens' kommen die Schwächen seines kleinbürgerlich-radikalen Humanismus und Idealismus in dem großen Geschichtsroman über die Französische Revolution (» Two Cities «) viel stärker und störender zum Ausdruck als in seinen Gesellschaftsromanen. Die Stel­ lung des jungen Marquis von Evremonde zwischen den Klassen, sein Ekel vor den grausamen Mitteln der Aufrechterhaltung der feudalen Ausbeutung, seine Lösung dieses Konflikts durch eine Flucht ins bürgerliche Privatleben erhält in der Kompositon der Fabel nicht jenes Gewicht, das ihr gebührt. Da­ durch, daß Dickens die rein moralischen Seiten bei der Gestaltung der Ur­ sachen sowohl wie der Folgen in den Vordergrund stellt, verblaßt der Zusam­ menhang zwischen den Lebensproblemen der Hauptgestalten und den Ereig­ nissen der Französischen Revolution. Diese wird zu einem romantischen Hin­ tergrund. Die Wildheit und Aufgeregtheit der Zeit ergibt Gelegenheiten zur Offenbarung der menschlich-moralischen Eigenschaften der Gestalten. Aber weder das Schicksal Manettes und seiner Tochter noch das von Darnay­ Evremonde und am allerwenigsten das von Sidney Carton wächst organisch aus der Zeit und ihren gesellschaftlichen Ereignissen heraus . Auch hier kann man einen beliebigen Gesellschaftsroman von Dickens als Vergleichsmaßstab heranziehen und sehen, wie viel inniger und organischer solche Zusammen­ hänge etwa in »Klein Dorrit« oder »Dombey u"o d Sohn« gestaltet sind als in den »Zwei Städten « . Dabei i s t der historische Roman des großen Schriftstellers Dickens noch ver­ hältnismäßig auf klassischen Traditionen gegründet. »Barnaby Rudge«, in welchem die historischen Ereignisse eine episodischere Rolle spielen, hat sogar gänzlich die konkrete Gestaltungsweise seiner Romane aus dem Leben der Gegenwart. Aber die Schranke seiner Gesellschaftskritik, die stellenweise abstrakt-moralische Stellungnahme zu konkreten gesellschaftlich-moralischen Phänomenen, muß den Charakter seines ausgesprochen historischen Romans besonders stark beeinflussen. Was sonst nur eine gelegentliche Trübung der Linie war, wird hier zu einer wesentlichen Schwäche der ganzen Komposi­ tion. Denn im historischen Roman muß sich diese Eigenart Dickens' in der Richtung der modernen Privatisierung der Geschichte auswirken. Die histo­ rische Basis wird in »Barnaby Rudge« noch viel stärker als in » Two Cities «

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

29 7

zu einem bloßen Hintergrund, der hier, weit entfernt, als wirkliche Grund­ lage der Lebensschicksale zu figurieren, nur ein zufälliger Anlaß zu »rein menschlichen« Tragödien wird, und diese Diskrepanz unterstreicht noch stär­ ker die sonst nur leise und latent vorhandene Tendenz bei Dickens, das »rein Menschliche« , das »rein Moralische« von der gesellschaftlichen B asis loszu­ lösen und bis zu einem gewissen Grade autonom zu machen. Diese Tendenz wird in den besten Gegenwartsromanen von Dickens durch die Macht der Wirklichkeit selbst, durch ihre Wirkung auf den mit allen Sinnen aufnahme­ bereiten, aufnahmehungrigen Dichter korrigiert. Hier muß diese Korrektur notwendig viel schwächer sein. Dieser Stand der Dinge bei einem so großen Schriftsteller wie Dickens, der in den wesentlichen Zügen seines Schaffens ein Klassiker des Romans ist und nur peripher von den Tendenzen des Nie­ dergangs berührt wird, kann hier als besonders deutliche Illustration dieses Zusammenhanges dienen. Die Ursache liegt gerade darin, daß die von Feuchtwanger gepriesene Bieg­ samkeit des historischen Stoffes für den modernen Dichter eine Falle ist. Denn seine schriftstellerische Größe entsteht gerade aus dem Widerstreit seiner sub­ jektiven Absichten und seiner Ehrlichkeit und Fähigkeit in der Wiedergabe der objektiven Wirklichkeit. Je mehr und je leichter seine subjektiven Ab­ sichten den Sieg davontragen, desto schwächer, desto ärmer und inhaltsloser werden seine Werke. Freilich ist - sehr entgegen den modernen einflußreichen »Erkenntnistheo­ rien « der Geschichte - die geschichtliche Wirklichkeit ebenfalls eine objektive Wirklichkeit. Aber die Schriftsteller der nachachtundvierziger Periode haben nicht mehr gesellschaftlich-unmittelbar das Erlebnis ihrer kontinuierlichen Verbindung mit der Vorgeschichte der Gesellschaft, in der sie leben und wirken. Sie stehen, aus gesellschaftlichen Gründen, die uns bereits bekannt sind, zur Geschichte in einem sehr vermittelten Verhältnis, wobei diese Ver­ mittlung überwiegend durch die modernen und modernisierenden Historiker und Geschichtsphilosophen vollzogen wird (man denke z. B. an Mommsens Einfluß auf Shaw) . Dieser Einfluß ist unvermeidlich eben wegen des Risses im Erlebnis der ge­ sellschaftlichen Kontinuität zwischen Geschichte und Gegenwart ; er ist im allgemeinen viel stärker, als man gewöhnlich annimmt. Die modernen Schrift­ steller übernehmen aus der Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie ihrer Zeit nicht nur die Tatsachen, sondern vor allem die Theorie der freien, der willkürlichen Interpretierbarkeit der Tatsachen, die Theorie der Uner­ kennbarkeit des Geschichtsverlaufes an sich und, im Zusammenhang damit,

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus die Notwendigkeit der » Introjektion« der eigenen subjektiven Probleme in die » amorphe« Geschichte, die Theorie des Ausgehens von den Vorstellungen des antidemokratischen Heldenkults, der Rolle des einsamen »großen Mannes« als Mittelpunkt der Geschichte, der Auffassung der Masse, die teils als bloßer Stoff in den Händen der »großen Männer«, teils als blinde und wütende Naturgewalt gilt, usw. Es ist leicht verständlich, daß einem solchen organisierten System von Vor­ urteilen die geschichtlichen Tatsachen - besonders, wenn sie bereits in einem so interpretierten Zustand übernommen wurden - keinen kontrollierenden und schriftstellerisch befruchtenden Widerstand l eisten können . Dies voll­ bringen in wenigen Ausnahmefällen eben die Tatsachen des Lebens selbst. Und gerade die Gegenüberstellung von Geschichte und Leben, die Flucht aus der Miserabilität des gegenwärtigen Lebens in den prunkvollen Glanz ver­ gangener Zeiten muß diese subjektivistisch entstellenden Tendenzen nur noch verstärken. Wobei die Folgen keineswegs dadurch gemildert werden, daß diese Flucht, wie bei Flaubert, die Konsequenz eines glühenden oppositionel­ l en Hasses auf die bürgerliche Gegenwart ist. So muß der moderne historische Roman alle Schwächen der allgemeinen Niedergangsperiode in gesteigertem Maße enthalten ; es fehlen ihm jene be­ deutenden Züge des Realismus, die im Ringen der hervorragenden Schriftstel­ ler dieser Epoche mit dem heutigen Leben trotz aller falschen Tendenzen der Zeit entstanden sind. In diesem, aber nur in diesem Sinne könnte man in der von uns untersuchten Zeit von einem historischen Roman als besonderem Genre sprechen. Man vergleiche nur die niede�gehende Linie des historischen Romans mit der Linie der Schilderung des Gegenwartslebens. Der vom menschlichen Leben losgelöste , selbständige, verdingiichte und dinghaft blei­ bende Charakter des »M�lieus« tritt hier nicht nur viel gröber auf als dort (schon im historischen Ro. il der Romantik, dann sehr ausgeprägt bei Bul­ wer), sondern gewinnt sehr rasch Ausmaße, die der Gegenwartsroman nur bei seinen schlechtesten Vertretern erreicht. Der Grund ist leicht einzusehen . Selbst die trockenste und langweiligste Milieuschilderung ist objektiv auf sehr verschlungenen Umwegen mit dem wirklichen Leben doch noch irgend­ wie verbunden. Das »Milieu« muß aber im historischen Roman unweigerlich in eine ertötende Vorherrschaft des Antiquarischen ausarten. Dies kann ganz ordinäre Formen annehmen, wie in den einst so viel gelesenen Romanen von Dahn oder Ebers. Es kann allerdings auch - wissenschaftlich wie stilistisch - raffiniert, pretiös, abgetönt-dekorativ in Erscheinung treten, wie in »Marius the Epicurean« von Walter Pater. Der wesentliche Unterschied

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

299

ist jedoch lange nicht so groß, wie er auf den ersten Anblick zu sein scheint. Die Menschen werden hier nämlich zu ebensolchen Schemen wie dort, nur sind sie mit klug formulierten Gedanken, mit verfeinerten Gefühlszutaten ausgestattet; die historische Wirklichkeit ist ebensowenig als lebendige Ent­ wicklung eines Volkes in einer konkreten Zeit gestaltet, sie bleibt ebenso eine tote Kulisse, wenn ihre Farben auch gesuchter ausgewählt und wähleri­ scher aufeinander abgestimmt sind. Die zweifellos vorhandenen Unterschiede treten also erst dann hervor, wenn man davon absieht, daß es sich um Kunstwerke, um historische Romane handeln soll, wenn man sie als Essays betrachtet. Dann erscheint allerdings Ebers als vulgärer Popularisator einer oberflächlichen und banalen .i\gyptologie, während bei Pater bereits die über­ feinerte, dekadente Auffassung der Spätantike vor uns steht. Diese Beurteilung bedeutet nicht, daß wir sie aus der allgemeinen Entwick­ lung des modernen Romans herausnehmen. Sie bezeichnet bloß die Tatsache, daß bei Ebers oder Dahn der flachste, seelenloseste Naturalismus in der deutschen Literatur vorweggenommen wird, Pater dagegen zum ästhetischen Vorläufer der symbolischen Erstarrung des sich vor l auter Raffinement auf­ lösenden Impressionismus wird. Man denke an Werke wie »Bruges-la-morte« von Rodenbach, wo - freilich äußerlich-technisch in ganz verschiedener Weise - ein überfeinertes Gefühlserlebnis mit einer überfeinert-artistisch gesehenen Kulisse ebenso organisch verkoppelt ist, wie es Geschichte und Menschenschicksal bei Pater sind. Dieser Weg, der, wenn auch nicht pfeilgerade, aber doch ganz sicher in die imperialistische Dekadenz hineinführt, kann weder einseitig von der ä sthe­ tischen noch von der weltanschaulich-moralischen Seite her beschrieben wer­ den. Es handelt sich vielmehr unter beiden Gesichtspunkten um bloße Folgen der primären Entfremdung der bürgerlichen Ideologen von der Progressivi­ tät der Geschichte, von der Erkenntnis der fortschrittlichen Tendenzen und Perspektiven in der Gegenwart. Der Ideologe sinkt damit auf das Niveau eines tristen Spießertilms herab. Der große demokratisch-revolutioäre rus­ sische Philosoph und Kritiker Tschernyschewskij hat bereits in E. Th. A. Hoff­ manns Kritik des Philistertums dieses Motiv erkannt, und unsere eben durch­ geführte Parallele zwischen Ebers-Dahn einerseits und Walter Pater ande­ rerseits findet ihre Rechtfertigung im Ausspruch eines anderen bedeutenden demokratischen Schriftstellers, Gottfried Keller, in dessen Augen der be­ trunkene Spießer um nichts besser war als der nüchterne. Vielleicht das be­ zeichnendste Schulbeispiel dieser Einheit ist Adalbert Stifter, der das bewußte » weltanschauliche Vertiefen« der beschränktesten Philisterhaftigkeit mit

3 00

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

einer angeblich - höchststehenden, abgeklärten schriftstellerischen Mei­ sterschaft verband. Da das Lebenswerk Stifters sich nur in seinem Spätwerk » Witiko « mit unserem Thema berührt, berücksichtigen die folgenden Be­ merkungen vor allem diesen Roman. » Witiko « selbst zeigt, wie wir dies in weit bedeutenderen analogen Fällen, bei Flaubert, Maupassant, Jacobsen usw., sehen konnten, einerseits die Ein­ heitlichkeit der weltanschaulichen und ästhetischen Prinzipien im Wirken eines Schriftstellers, gleichviel, ob er über Gegenwart oder Geschichte schreibt ; » Witiko« ist in dieser Hinsicht eine Anwendung der Ergebnisse, ein Illustra­ tionsmaterial zu den Prinzipien, die der Erziehungsroman »Der Nachsommer« gestaltet hat. Andererseits zeigt sich auch hier, daß der - vom Standpunkt der literarischen Arbeit - weniger widerstandsfähige historische Stoff jede Borniertheit, jede reaktionäre Tendenz im Weltbild des Schriftstellers viel hemmungsloser aufblühen l äßt als die Gegenwartsthematik. Darum enthält » Witiko« die Synthese aller philiströs-retrograden Züge Stifters ; und zwar in derartiger Reinkultur, daß sogar Gundolf von der »Öde« dieses Werks zu sprechen gezwungen ist, daß auch er sich gedrängt fühlt, es mit Freytag, Ebers und Dahn, mit Piloty und Makart historisch zusammenzustellen. Dabei ist Gundolf, wie die ganze Georgeschule, vor allem Bertram, von Nietzsches Stifterbegeisterung, die diese literarische Mode eigentlich ein­ geleitet hat, entschieden beeinflußt. Freilich bezieht sich Nietzsches Lob vor allem auf den »Nachsommer«, und Gundolf ist auch bemüht, hier das Posi­ tive und die tieferen Gründe , die liebenswerten Seiten der Schranken Stifters herauszuarbeiten ; abgesehen von dem eben hervorgehobenen allgemeinen Gegensatz der gegenwärtigen und der geschichtlichen Thematik - zu Un­ recht. Zumindest in bezug auf die Stärke und die ästhetische Valenz des Kontrasts zwischen den beiden umfangreichen Romanen. Es ist wahr : »Nachsommer« hat, als Geschichte von Entwicklungen, eine gewisse innere Scheinbewegtheit, obwohl diese im Ozean der Dingbeschreibungen fast spur­ los versinkt. » Witiko « dagegen ist von Anfang an der vormärzliche Muster­ jüngling, das erreichte I deal des sonst weitgehend gescheiterten Metternich­ schen »Erziehungswerks «. Die epische Bewegung ist hier rein äußerlich : Schlachten, Paraden, Empfänge usw., die infolge der breiten Dinghaftigkeit ihrer rein beschreibenden Darstellungsweise den Gundolfschen Ausdruck von öde vollauf rechtfertigen. Freilich nennt Bertram » Witiko« das »hohe Spät­ werk« Stifters, einen »homerischen Walter-Scott-Roman«. In diesem Urteil kommt deutlich zum Ausdruck, daß die sich faschisierende und faschistische deutsche Literaturgeschichte und -kritik fest entschlossen sind, Nietzsches An-

Tendenzen der Dekadenz und Konstituierung des historischen Romans

30 1

regung zu systematisieren und aus Stifter einen Klassiker der deutschen Reaktion zu machen. So wird Gundolfs einigermaßen besonnenes Urteil zum Nachhutgefecht. Der faschistische Literarhistoriker Linden nennt »Nach­ sommer« und » Witiko « »Erziehungsromane ewig gültiger Art«. Der ebenfalls faschistische Kritiker Fechter bildet das homerische Prinzip Bertrams weiter und entdeckt im » Witiko « die Größe der »germanischen Freiheit«, der is­ ländischen Saga, wodurch Stifter - hier sind Motive und Folgen schon ganz deutlich sichtbar - zum Vorläufer Hans Grimms geworden ist, der, nach Fechters Worten, » den ersten deutschen politischen Roman seit Stifters Witiko schuf«. In diesem Fall handelt es sich keineswegs - wie bei Hölderlin oder Büchner - um ein beschmutzendes , um ein verleumderisches Lob der Faschisten. Hier haben sie, wie im Falle Nietzsches, wirkliches, legitimes Erbe zurückerobert. Allerdings nicht in dem Sinne, daß Stifter in direkter Beziehung zur » natio­ nalsozialistischen Weltanschauung« stünde. Davon kann ganz und gar keine Rede sein ; sein ästhetisch verdinglichter Quietismus scheint im Gegenteil den schroffsten Gegensatz zur Dynamik des »heroischen Realismus« zu bilden. Aber auch hier ist die schroffe Gegensätzlichkeit ein bloßer Schein. Es sei bloß daran erinnert, daß die Faschisierung der deutschen Literaturgeschichte das Statuieren des »Biedermeier« als Periode hervorgebracht hat, mit der Absicht, alles Progressive und insbesondere alles Revolutionäre aus der vorachtund­ vierziger deutschen Literatur spurlos zu entfernen, um die reaktionäre Sta­ gnation, das obskurantistische Philistertum der deutschen Misere in dieser Zeit als deutsches Wesen zu verherrlichen. Stifter ist nun der geborene Klassiker solcher Tendenzen. Es ist bekannt, daß die Revolution von 1 8 4 8 für Stifter einen Weltuntergang, das Ende von Kul­ tur und Gesittung bedeutet hat. Die Niederlage der Revolution und die Periode der Unterdrückung aller Völker der Habsburger Monarchie schufen erst die Grundlage für das Entstehen seiner beiden großen Romane. Gundolf charakterisiert diese Periode seines Schaffens nicht unrichtig, wenn er in seiner Stifterstudie sagt : »Aus einem naiven Idylliker ist er seit 1 8 4 9 ein absicht­ licher Idylliker geworden, und seine Mittel des sittlich lauteren Sehens und Zeigens wurden ihm jetzt gleichsam Waffen gegen den bösen Willen und Wahn einer verwahrlosten Menschheit. « Man sieht daraus auch, daß die ästhetische Ablehnung des » Witiko « bei Gundolf nur von sekundärer Be­ deutung ist ; auch seine Charakteristik Stifters macht diesen zum »politischen « Dichter des »Biedermeier«, wobei gerade das Apolitische seiner Weltanschau­ ung und Gestaltungsweise die Grundlage dieser Wesensart ausmacht. Daß

3 02

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus

diese Tend,� zen erst nach der Niederlage der achtundvierziger Revolution zur Bewußtheit erwachsen, ist eine Verstärkung, keine Abschwächung die­ ser Lage. » Witiko« ist die Konzentration dieser Bestrebungen Stifters ; in diesem Sinne ist dieser historische Roman - einerlei, wie man ihn ästhetisch im Vergleich zu seinen anderen Werken einschätzt - der weltanschauliche Gipfelpunkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit. B ertrams von uns bereits zitiertes Urteil zeigt die in der Niedergangsperiode übliche völlige Unkenntnis und Ver­ kennung Walter Scotts. Was die Auffassung der Geschichte betrifft, so ist Stifter geradezu dessen Gegenpol, der Fortsetzer seiner Widersacher, der reaktionären Romantiker. Dies ließe sich im ganzen Aufbau, in allen Details von » Witiko« ohne Schwierigkeit nachweisen. Wir greifen nur wenige der wesentlichsten Momente heraus. Wenn Scott das Mittelalter darstellt, so ist es sein Hauptbestreben, den Kampf der progressiven und reaktionären Ten­ denzen zu gestalten, vor allem jener, die aus dem Mittelalter herausführen, den Feudalismus zersetzen, den Sieg der modernen bürgerlichen Gesellschaft sichern. (Es genügt, wenn wir an den Gegensatz von Ludwig XI. und Karl von Burgund in »Quentin Durward« denken.) Stifter dagegen verherrlicht die reaktionärsten Entwicklungsrichtungen des Mittelalters wie den Kampf Bar­ barossas gegen die italienischen Städte, vor allem gegen Mailand . Was sogar derart gemäßigt progressive Schriftsteller wie Hebbel erkannt haben, daß näm­ lich diese Politik der Hohenstaufen zum Verderben Deutschlands, zur Grund­ legung der deutschen Misere geführt hat, das will S tifter nicht sehen, er glorifiziert sie sogar, in gedanklich-schriftstellerischer Fortsetzung seines vor. achtundvierziger Protektors Metternich. Noch klarer kommt diese Tendenz in der Apotheose aller feudalen Einrich­ tungen zum Ausdruck. Stifter ist hier ein Weiterbildner der reaktionären Romantik. Der Unterschied ist vor allem ein stilistischer, der aber natürlich weltanschauliche Hintergründe hat. Die Vorbildlichkeit des Mittelalters wird in der Romantik - vorn » Christenheit oder Europa«-Aufsatz von Novalis bis zu Arnirn oder Fouque - polemisch herausgearbeitet. Bei Stifter fehlt jede ausgesprochene Polemik gegen die Gegenwart; der Feudalismus erscheint im » Witiko« als die selbstverständliche, organisch-gewachsene Gesellschafts­ ordnung ebenso , wie im » Nachsommer« die Gesellschaftsordnung der Gegen­ wart so erscheint: Stifter geht also in der Auffassung, daß der » wesentliche« Mensch unter jeder Obrigkeit - wenn sie nur keine revolutionäre ist - sich unbedingt bestätigt fühlen muß, noch viel weiter als die reaktionärsten Ro­ mantiker. Einerlei , ob er Schopenhauer gekannt hat oder nicht, bildet er die

Tendenzen der Dekadenz und Konstitieierung des historischen Romans

303

reaktionäre Romantik in seinem Sinne weiter. Die unpolemische, Schreibart drückt dieses retrograde Weitersehreiten adäquat aus. Dies ist es, was Bertram als die »homerische« Steigerung von Scott auffaßt ; er betrachtet offenbar das Fehlen einer jeden plebejischen oder bürgerlichen Gegenbewegung gegen den Feudalismus (die Bürger von Mailand sind in Stifters Augen Rebellen und Verbrecher) als einen Fortschritt. Im Sinne des » Biedermeiertums« ist es auch einer. Freilich im Sinne der wahren Erkenntnis, der echt dichterischen Ge­ staltung der Geschichte ist es das Gegenteil ; Scotts Robin Hood in » Ivanhoe« , Heinrich Gow i n »The Fair Maid o f Perth « zeigen, was die wirklidikeits­ treue Darstellung des Mittelalters hier leisten kann. Hebbel hat in seiner geistvollen Besprechung des » Nadisommer« das sdirift­ stellerisch Wesentliche an Stifter erkannt : die Versdiiebung der Proportion zwischen kleinlich und bedeutend, zwischen Oberfläche und Wesen zugunsten einer Alleinherrsdiaft des ersteren Prinzips. Wie weit entfernt Stifter formal stilistisch vom Naturalismus sein mag, geistig wie ästhetisch wird er dadurch zu seinem Vorläufer. Hebbel erkennt aber audi jene Tendenz in Stifters Sdirifttum, durch die er noch wichtigere und gefährlidiere Tendenzen der imperialistischen Periode vorwegnimmt : die Unmenschlichkeit, die bei ihm freilidi nodi im Kostüm des » eigentlichen« Humanismus auftritt. Hebbel sagt : » Erst . . . Adalbert Stifter war es vorbehalten, den Mensdien ganz aus dem Auge zu verlieren. « Wenn nun von Nietzsdie über die Georgeschule bis zum offenen Faschismus Stifter als editer zeitgemäßer Nadifolger Goethes, als Erneuerer seines Erbes gefeiert wird, so ist dies eine klare Parallele zu den Versuchen von Gundolf, Spengler, Klages usw„ aus Goethe , nach Nietz­ sches Vorbild, einen Vertreter der irrationalistisdien »Lebensphilosophie« zu machen. In vielen Einzelhei ten mögen soldie Tendenzen große Unterschiede, ja Gegensätze aufweisen, sie sind trotzdem zusammengehörige Pole in der Riditung einer imperialistisch-reaktionären Verfälsdiung Goethes. Sie ent­ fernen, von verschiedenen Gesichtspunkten aus gleidiermaßen, die ganze ge­ sellschaftlidi-geschichtliche Fortschrittlichkeit aus Goethes Lebenswerk ; ihrem Gehalt nach ergänzen sie einander, so wie der nüchterne und der betrunkene Spießer Gottfried Kellers einander ergänzen. Stifter ist insofern eine Übergangsfigur, als seine philiströse Abgeklärtheit viele gemeinsame Züge mit dem ebenfalls höchst langweiligen akademisdien Klassizismus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufweist. Jedoch die in die Zukunft der Dekadenz vorwärtsweisenden Momente sind doch die übergreifenden ; sie bestimmen die heutige Position Stifters in der Literatur­ geschichte.

Der historische Roman und die Krise des bürgerlichen Realismus Will man sich von dem bisher aufgezeigten Zusammenhang von Naturalis­ mus, Philistertum und Dekadenz an Hand eines besonders krassen Beispiels überzeugen, so sehe man sich Mereschkowskij an, diesen typischen Dekaden­ ten der imperialistischen Zeit, der freilich zur Gruppe der betrunkenen Spie­ ßer gehört. Bei ihm wird der historische Roman wirklich zum Organ der reaktionären Demagogie und Volksfeindlichkeit. Wenn man aber den fal­ schen Tiefsinn dieser Romane etwas näher betrachtet, so kommen unter der mystischen Hülle merkwürdig naturalistische Züge zum Vorschein. Wenn z. B . Mereschkowskij einen Wutanfall von Alexej folgendermaßen beschreibt : »Das von Krämpfen verzerrte bleiche Gesicht Alexejs mit den flammenden Augen nahm plötzlich eine furchtbare, gleichsam überirdische geisterhafte Ahnlich­ keit mit dem Antlitz Peters an. Es war einer von jenen Wutanfällen, denen der Zarewitsch bisweilen unterlag und während deren Dauer er zu jedem Verbrechen imstande war«, so sieht jeder Leser, daß hier nur die schriftstelle­ risch schwächere, in Mystik verzerrte Karikatur der Zolaschen Vererbungs­ katastrophen vorliegt. Und ebenso könnte man an anderen Stellen dieser und ähnlicher dekadent-reaktionärer Geschichtsbilder aus der imperialisti­ schen Periode zeigen, daß in ihnen alle schwachen Seiten von Naturalismus , Symbolismus usw. in gehäufter, überspannter, karikaturhafter Form vor­ handen sind. Aber diese karikaturistische Obersteigerung kann ebensowenig ein eigenes Genre begründen wie das Herabsinken der Gegenwartsfremdheit vieler historischen Romane in leere Exotik und damit zur schlechten Unter­ haltungslektüre ; um so weniger, als man hinter allen diesen dekadent oder verflacht entarteten Zügen immer und überall die allgemeinen Niedergangs­ züge der Epoche erblicken kann. Die bloß quantitative Steigerung der fal­ schen Tendenzen kann unmöglich ein eigenes Genre begründen.

Viertes Kapitel

Der historische Roman des demokratisd1en Humanismus

Die imperialistische Periode bedeutet in der Hauptlinie der Entwicklung notwendigerweise eine Verstärkung der Auflösungstendenzen des Realismus, sowohl in der Geschichtsauffassung und der Literaturtheorie wie in der schriftstellerischen Praxis. Wir haben im vorigen Kapitel bereits einige Schriftsteller zum Vergleich herangezogen (Croce, Mereschkowskij), bei denen dieses Wachstum der Auflösungstendenzen klar zum Vorschein kam. Da wir uns hier auf die großen, typischen Erscheinungsweisen des historischen Romans beschränken, werden wir die Repräsentanten der äußersten Deka­ denz nicht behandeln. Es genügt festzustellen, daß das, was in den bedeuten­ den Schriftstellern der von uns ausführlich analysierten Übergangsperiode als schwere Problematik der realistischen Gestaltung der Geschichte erschien, hier bereits zur vollen Blüte der dekadenten Formspielerei, zur bewußten Vergewaltigung der Geschichte geworden ist. Wir haben bereits gesehen, daß diese Auflösungstendenz des Realismus sich in einer doppelten, scheinbar entgegengesetzten Weise auswirkt. Einerseits entsteht ein immer mehr steigender Unglaube an die Möglichkeit der Erkennt­ nis der gesellschaftlichen Wirklichkeit und demzufolge auch der Geschichte. Dieser Unglaube schlägt notwendigerweise , wie wir dies bereits bei den gro­ ßen Gestalten der Übergangsperiode gesehen haben, in eine Mystik um. Diese mystischen Tendenzen verstärken sich immmer mehr im Laufe der imperia­ listischen Entwicklung und erreichen in der barbarischen Geschichtsfälschung und Mythisierung der Geschichte durch den Faschismus ihren Gipfelpunkt ; andererseits beschränkt sich die Darstellung der Geschichte auf eine möglichst große Genauigkeit bezüglich der einzelnen, isolierten, aus dem wahren Zu­ sammenhang gerissenen Tatsachen. (Der Faschismus nimmt in dieser Entwick­ lung insofern eine Sonderstellung ein, als er auch die isolierten Tatsachen der Geschichte in der gröbsten und brutalsten Weise verfälscht.) Die subjektiv ehrlichen Schriftsteller der imperialistischen Periode glauben, der Geschichte treu zu sein - selbstverständlich innerhalb des Rahmens ihrer Weltanschauung, ihrer Auffassung von der möglichen objektiven Erkenntnis der Geschichte -, sie fassen aber diese Treue nur als eine den isolierten Tat-

3 06

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

sachen gegenüber gebotene und mögliche auf. Bei Flaubert war dies noch ein dekorativer Archäologismus. In der imperialistischen Periode entwickelt sich ein neuer Kultus der »Tatsachen«. Besonders im Naturalismus der Vorkriegs­ zeit und später in der »neuen Sachlichkeit« der Nachkriegszeit entstehen solche pseudorealistischen Strömungen auf der Grundlage dieses Kultus der isolierten, aus dem Zusammenhang gerissenen »Tatsachen « . Diese Auffassung schließt das Einströmen der Mystik, der mystifizierten Biologie und Psycho­ logie in die Literatur nicht aus, ja sie begünstigt es in immer wachsendem Maße. Mit diesen literarischen Strömungen hängt es zusammen, daß besonders in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Welle der historischen Belletristik durch die Literatur ging, daß eine große Reihe von historischen Schriften erschien, die weder Wissenschaft noch Kunst waren . Die von uns oben zitierten witzi­ gen und satirischen Bemerkungen Huxleys charakterisieren diese Hybride richtig. Auch hier bildet die sogenannte Synthese zwischen mystifizierter Psy­ chologie und isolierten »Tatsachen« die Grundlage einer solchen Belletristik. Ihre angebliche künstlerische und wissenschaftliche Rechtfertigung stammt aus einer in dieser Periode sehr populären Überspannung des B egriffes Kunst. Da die Traditionen der alten großen Kunst verschüttet waren, da man in der Kunst nicht mehr eine spezifische Form der Widerspiegelung der wesentlichen Züge der objektiven Wirklichkeit sah, wurde das »künstlerische Prinzip « wahl los auf alle Gebiete angewandt. Insbesondere darum, weil Wissenschaft und Philosophie eine steigen d agnostizistische Haltung zur objektiven Wirk­ lichkeit einnahmen. Der so entstandene bewußte Subjektivismus wurde nun mit der Kunst identifiziert. So entstanden in der Vorkriegszeit die Theorien von Oscar Wilde oder später Alfred Kerr von der Kritik als angeblicher Kunst. Diese Theorien erhielten in der Nachkriegszeit eine weitere eigenartige An­ wendung auf ein neues Gebiet in der Theorie der Montage als Kunst. Ent­ standen aus der jeder Kunst gegenüber nihilistischen Theorie und Praxis ver­ schiedener dadaistischer Richtungen, »konsolidierte« sich diese Theorie in der Auffassung der Periode der »relativen Stabilisierung« zu einem prinzipiel­ len Kunstsurrogat : das unorganische Zusammenkleben von gestalterisch un­ verbundenen Tatsachen sollte als Kunst betrachtet werden, weil sich in ihrer Gruppierung, in ihrem Arrangement angeblich eine besondere schöpferische Originalität äußert. Die so zustande gekommene Montage als Kunst ist einer­ seits der Gipfelpunkt der falschen Tendenzen des Naturalismus, weil die Montage sogar auf jene oberflächliche, sprachlich-stimmungshafte B earbeitung

Einleitung der Empirie verzichtet, die der ältere Naturalismus noch als Aufgabe be­ trachtet hat ; andererseits ist die Montage zugleich der Gipfelpunkt des Formalismus, da die Verknüpfung der Einzelheiten mit der objektiven inne­ ren Dialektik der Menschen und ihrer Schicksale schon gar nichts mehr zu tun hat und die Montage das »Originelle« Arrangement nur von außen an sie heranträgt. Auf der Grundlage solcher weltanschaulichen Voraussetzun­ gen wurde dieser historische Feuilletonismus, diese historische Reportage nun als eine besondere Art der historischen Kunst ausgegeben. Wobei der direkte Einfluß der Montagetheorie, der Deklarierung der Reportage zu einer beson­ deren Art der Kunst, auf diese Belletristik einen besonders starken Einfluß ausgeübt hat. Diese historische Belletristik ist für uns nur darum bedeutsam, weil die Mode der historischen Biographien als vorgebliches » Genre« auch in die Produktion der geistig und künstlerisch bedeutenden Schriftsteller eingedrungen ist und hier große Verwirrungen und Schäden verursacht hat. Wir werden uns mit der Frage der sogenannten biographischen Methode im historischen Roman später ausführlich auseinandersetzen. Hier führen wir nur einige Bemerkun­ gen aus dem Vorwort von Maurois zu seiner Shelley-Biographie an, um die Prinzipien dieser Vermischung von Roman und Historie, einer Mischung, die weder Roman noch Geschichtsschreibung im objektiven Sinne ist, klar zu be­ leuchten : »Es sollte hier, in diesem Buch, mehr das Werk eines Romanciers entstehen als das eines Historikers oder eines Kritikers. Ohne Zweifel sind die Tatsachen wahr, und man hat sich nicht erlaubt, Shelley einen Ausspruch oder einen Gedanken zu leihen, der nicht in den Erinnerungen seiner Freunde, in seinen Briefen , in seinen Gedichten enthalten wäre ; aber man war bemüht, die wirklichen Elemente in einer Weise zu ordnen, daß der Eindruck der steigenden Enthüllung, des natürlichen Wachstums erweckt werde, die dem Roman eigen zu sein scheinen. Der Leser suche hier weder Gelehrsamkeit noch Entdeckungen, und wenn er keinen lebhaften Sinn für die >Education sentimentale< hat, so öffne er dieses kleine Büchlein überhaupt nicht. « Wir werden im Laufe unserer späteren Ausführungen noch deutlicher als bis­ her sehen, daß beides, dieses Kleben an den Tatsachen einerseits und ihr Aufputzen mit belletristischen Fetzen andererseits, seine Grundlage in der Abgerissenheit der Schriftsteller vom Volksleben hat. Die unerschöpflich er­ scheinende Erfindungsgabe der großen realistischen Schriftsteller - auch im historischen Roman und hier sogar in ganz besonderer Weise - beruht gerade darauf, daß sie sich in ihrem Stoff vollständig frei bewegen ; daß sie die Typen des Volkslebens hinreichend genau kennen, um mit freier Phantasie

308

Der historische Roman des demokra tischen Humanismus

walten zu können, ohne sich von der Wahrheit des Typischen zu entfernen ; daß sie mit diesem Leben innig genug vertraut sind, um Situationen ersinnen zu können, in denen die tiefste Wahrheit dieses Lebens klarer und leuchtender hervortritt als im Alltagsleben selbst. Der »Kultus der Tatsachen « ist ein armseliges Surrogat für diese Vertraut­ heit mit dem historischen Volksleben. Und dadurch, daß dieses Surrogat sich belletristisch aufputzt und eine angeblich gute, in Wirklichkeit nur glatte oder gekünstelte belletristische Prosa für epische Kunst ausgibt, wird die Lage noch schlimmer, weil die Verwirrung des Publikums noch größer wird.

Allgemeine Charakteristik der humanistischen Pro testliteratur imperialistischen Periode 1

m

der

Uns interessieren hier die Revolten und Widerstände gegen diesen Nieder­ gang der Literatur. Die Epoche des Imperialismus ist nicht nur die Periode der Verfaulung des Kapitalismus, sondern zugleich die der größten Umwäl­ zung in der Menschheitsgeschichte , der proletarischen Revolution, des Ent­ scheidungskampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Und es wäre eine sehr große Oberflächlichkeit, eine außerordentliche Enge des Gesichts­ punktes, wenn man die Lager der kämpfenden Kräfte des revolutionären Progresses und der sich immer stärker barbarisierenden Reaktion einfach und mechanisch auf einen starren Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie reduzieren würde. Lenin hat in seiner grundlegenden Analyse des imperia­ listischen Zeitalters gezeigt, wie tief die parasitären Tendenzen des Imperia­ lismus in die Arbeiterbewegung selbst eindringen, wie sie dort ökonomisch die Arbeiteraristokratie und die Arbeiterbürokratie produzieren und dadurch eine soziale Basis für den Menschewismus, für das Eindringen der bürger­ lichen, der imperialistischen Ideologie in die Arbeiterbewegung schaffen. An­ dererseits hat ebenfalls Lenin darauf hingewiesen, daß gegen den Imperialis­ mus, gegen seine antidemokratischen Tendenzen auf sämtlichen Gebieten des menschlichen Lebens sich auch eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition erhebt. Die Ideologie dieser Opposition ist selbstverständlich verworren und oft mit reaktionären Tendenzen durchsetzt: als I deologie der Rückkehr aus der Periode des Monopolkapitalismus in die des freien Handels ist sie not­ wendig, wie jede Absicht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, reaktionär. Aber mit solchen Feststellungen ist das Problem noch keineswegs erschöpft,

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode am wenigsten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Gebiet der Litera­ tur konzentrieren. Der widerspruchsvolle Charakter der demokratischen Pro­ teste gegen den imperialistischen Kapitalismus ist durch die widerspruchsvolle Lage des ganzen Kampfes um die Demokratie in dieser Periode kompliziert. Die allgemeine Tendenz des Imperialismus bewegt sich natürlich auf einer antidemokratischen Linie ; dazu gehören nicht nur der offene Antidemokra­ tismus des Monopolkapitals und der von ihm unmittelbar beeinflußten Par­ teien, sondern auch die wachsenden antidemokratischen Tendenzen im Libe­ ralismus und dessen Einfluß auf den opportunistischen Flügel der Arbeiter­ parteien und der Gewerkschaften. Diese antidemokratischen Tendenzen rufen eine breite soziologische, psychologische und philosophische antidemokratische Propagandaliteratur hervor. Gleichzeitig entsteht aber in den revolutionären Arbeiterparteien eine Kritik der bürgerlichen Demokratie von links her, es wird der ungenügend demokratische, nur formell demokratische Charakter der bürgerlichen Demokatie aufgedeckt. Die Oppositionsbewegungen gegen den Imperialismus stehen unter diesem doppelten Einfluß. Es entsteht für sie alle immer wieder die Gefahr, aus einer l inken Kritik der bürgerlichen Demokratie in eine rechte Kritik hin­ überzuschwanken , d. h. aus einem Unzufriedenen mit der bürgerlichen De­ mokratie ein Gegner der Demokratie überhaupt zu werden. Wenn man etwa das Schicksal von Denkern wie Sorel, von bedeutenden Schriftstellern wie Bernard Sha w verfolgt, so sieht man bei beiden - freilich in sehr verschiede­ ner Weise - solche Zick-Zack-Bewegungen von einem Extrem zum anderen. Selbst in der Kritik der Gegenwart, die Romain Rollands bedeutendes Jugendwerk » Jean Christophe« gegeben h at, tauchen immer wieder, inmit­ ten des heftigen und wunderbar aufrichtigen demokratischen Protestes gegen die Zeit, einzelne Denkmotive der Kritik der Demokratie von rechts auf. Diese kompliz ierte Verschlungenheit der Motive darf aber den Blick für das Wesentliche nicht trüben. Jeder Schriftsteller ist ein Sohn seiner Zeit. Die widerspruchsvollen Tendenzen der Zeit - der Verfaulungsprozeß der impe­ rial istischen Periode und der demokratische Protest der werktätigen Massen, die literarische Dekadenz und die Sehnsucht nach Volkstümlichkeit - wir­ ken widerspruchsvoll und einander kreuzend auf ihn ein. Wohl lösen sich, wie Marx und Engels festgestellt haben, in den großen Krisenzeiten des Klassen­ kampfes manche der besten ideologischen Vertreter der herrschenden Klasse von dieser ab, jedoch auch ein solcher Ablösungsprozeß ist sehr kompliziert und voller Widersprüche. Es ist also für den Schriftsteller sehr schwer mög­ lich, sich von den Strömungen und Schwankungen seiner Zeit und in ihnen

3 10

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

von denen der Klasse, zu der er gehört, wirklich zu befreien. Diese Befreiung, diese Stärkung der demokratischen Tendenzen wurde sehr gehemmt durch die ideologische Schwäche der linken Flügel der mittel- und westeuropäischen Sozialdemokratie. Während es den Bolschewiki in Rußland gelang, in Lenins Schriften eine Strategie und Taktik auszuarbeiten, die den konsequenten Kampf um die Befreiung des Proletariats mit dem Kampf um die D emokra­ tie in revolutionärer Weise verband, war gerade diese Seite einer der schwäch­ sten Punkte der radikalen Oppositionen in der sonstigen Sozialdemokratie, und diese Schwäche vererbte sich auch auf die jungen kommunistischen Par­ teien. Die Tapferkeit und Folgerichtigkeit einer aus dem Kleinbürgertum entstehenden demokratischen Opposition wird stets sehr weitgehend von der konsequenten und revolutionären Haltung der Arbeiterparteien bestimmt. Und gerade hier versagten die radikalen Flügel der mittel- und westeuro­ päischen Sozialdemokratie. Man denke nur an das eine Beispiel der Dreyfu s­ Kampagne in Frankreich. Der demokratische Protest, der sich in ihrem Ver­ laufe erhob, war für die französische Literatur von höchster B edeutung. Schriftsteller wie Zola und Anatole France haben sich im Laufe dieser Pro­ testbewegung energisch politisiert. Und es ist gar keine Frage, daß diese ihre Aktivierung, besonders bei France, einen bedeutenden Aufschwung auch für ihr literarisches Schaffen bedeutet hat. Aber es bleibt dabei die Tatsache be­ stehen, daß die Dreyfus-Kampagne nur vom rechten Flügel der französi­ schen Sozialdemokratie wirklich unterstützt wurde, während die Linken auf dem Standpunkt einer sektiererischen Neutralität standen. Es bedarf keiner ausführlichen Analyse, um zu zeigen, daß d�r neue Schwung, den die Pro­ duktion solcher Schriftsteller wie Zola und France durch die Teilnahme an der demokratischen Protestbewegung gegen die heraufziehende imperialisti­ sche Reaktion erhielt, wesentlich größer und tiefer gewesen wäre bei einem wirklichen ideologischen Rückhalt in einer revolutionär-marxistischen Arbeiterpartei. Darum muß die historische Untersuchung dieser Strömungen sehr energisch auf die Hauptsache sehen und die Verworrenheit der einzelnen Schriftsteller in vielen weltanschaulichen und politischen Fragen als ihren Tribut an die Zeit betrachten. Dazu gehört - um nur einige wesentliche Punkte hervor­ zuheben - einerseits die Unfähigkeit vieler bedeutender Sd1riftsteller, zwi­ schen ihren wirklich demokratischen Bestrebungen und dem faulen und kom­ promißlerischen Liberalismus ihrer Klasse einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen. (Sogar in so bedeutenden Werken wie dem » Untertan « Heinrich Manns ist diese Verschwommenheit der Grenzen in der Form einer Verschö-

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

3II

nerung der Schwächen des deutschen Liberalismus sichtbar.) Andererseits ver­ fallen sehr viele Schriftsteller der romantisch-reaktionären Kritik an der Demokratie. Der große Einfluß Nietzsches auf die wichtigsten oppositio­ nellen Schriftsteller der imperialistischen Periode hat seine Wurzeln in dieser Verworrenheit. Er wird in den romanischen Ländern durch den Einfluß der syndikalistischen Opposition gegen den Opportunismus der Sozialdemokratie noch verstärkt. Weltanschaulich äußert sich die Kompliziertheit dieser Lage darin, daß be­ deutende Schriftsteller, die die Wirklichkeit realistisch wiedergeben, in ihrer bewußten Weltanschauung den skeptisch-agnostizistischen Theorien der bür­ gerlichen Klasse ihrer Zeit weitgehende Konzessionen machen. Man darf sid1 natürlich die Wechselwirkung zwischen der Weltanschauung eines Schrift­ stellers und seiner Produktion nicht als geradlinig und einfach denken. Aber ganz ohne Einfluß auf die Produktion, auf die Art des Realismus, auf das Vertrauen zu der eigenen Erfindungsgabe in der realistischen Reproduktion der Wirklichkeit usw., bleibt diese weltanschauliche Einstellung in den meisten Fällen doch nicht. Die Schwierigkeit der richtigen Analyse besteht in diesem Falle darin, die agnostizistisch-skeptische Weltanschauung der Schriftsteller nicht zuständlich, nicht statisch zu nehmen, sondern stets genau zu untersuchen, worauf sich die Zweifelsucht richtet, woher die Richtung des Skeptizismus kommt und wohin sie weist. Lenin hat in seiner Analyse der schriftstellerischen Tätigkeit Alex­ ander Herzens mit unvergleichlicher Schärfe auf zwei Tendenzen des Skep­ tizismus hingewiesen, deren Unterschied gerade für unsere jetzige Unter­ suchung ausschlaggebend ist. Er zeigt, daß es auf der einen Seite einen Skeptizismus gibt, der weltanschaulich den Übergang der bürgerlichen Klasse von der revolutionären Demokratie zum faulen und verräterischen Libera­ lismus begleitet und befördert ; daß es aber auf der anderen Seite eine skep­ tische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft gibt, die sich in der Richtung von der bürgerlichen Demokratie zum Sozialismus hin bewegt. Das letztere war der Fall bei Herzen. Und wenn man, durch d iese grundlegende Unterschei­ dung Lenins aufmerksam gemacht, die bedeutenden Schriftstell er des demo­ kratischen Protestes in der imperialistischen Periode näher betrachtet, so findet man zwar die enge Verschlungenheit, die komplizierte Mischung bei­ der Formen des Skeptizismus bei sehr vielen Schriftstellern, man muß aber zugleich bei den bedeutenden das tendenzielle Übergewicht der zweiten Form ebenfalls feststellen. Ganz besonders ist dies sichtbar in der Entwicklung von Anatole France.

3 12

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

In der schriftstellerischen Bearbeitung der Geschichte spielt diese demokra­ tische Protestbewegung eine außerordentlich wichtige Rolle. Ja, in ihr und nur in ihr ist ein neuer Typus des historischen Romans entstanden, der heute, hauptsächlich in der Literatur der deutschen antifaschistischen Emigration, zu einem Zentralproblem des Schrifttums unserer Tage geworden ist. Bis zu die­ ser Zeit spielen die historischen Romane bedeutender Schriftsteller nur eine mehr oder weniger episodische Rolle auch in dem Lebenswerk ihrer Verfasser. Es ist aber doch notwendig, auf diese Vorläufer der Literatur unserer Zeit wenigstens andeutend hinzuweisen. Hier ist vor allem die Spätzeit Victor Hugos zu nennen, dessen » 1 79 3 « vielleicht die erste bedeutende h istorische Dichtung ist , in der der neue Geist des protestierenden Humanismus die Geschichte der Vergangenheit zu bewältigen versuchte und dabei auch schrift­ stellerisch andere Wege ging als der von uns bereits analysierte historische Roman der älteren und jüngeren Zeitgenossen Victor Hugos. In mancher Hinsicht auch andere Wege als die Romane von Victor Hugo selbst. Nicht, daß Hugo mit allen seinen früheren romantischen Traditionen gebrochen hätte. In gewissem Sinn ist » 1 7 9 3 « ein letzter Nachklang des romantischen historischen Romans. Die alte Art Victor Hugos, durch großzügige dekora­ tive und rhetorische Kontraste die mangelhafte innere Bewegung des Lebens zu ersetzen, bleibt auch hier bewahrt. Aber zwischen seinen romantischen Romanen im schulmäßigen Sinn und diesem hat Hugo doch »Les Miserables« geschrieben, und so stilisiert-romantisch in diesem Werk das Volksleben auch gesehen und gestaltet sein mag, es gibt doch in einem ganz anderen Sinne ein Bild des Volkes als irgendein Werk eines anderen Romantikers (den jüngeren Hugo mitinbegriffen) . Diese Tendenzen erhalten eine Steigerung im Spätwerk. Schon die Tatsache, daß in einer Zeit, die es für besonders modern hielt, die Französische Revo­ lution wissenschaftlich (wie Taine) oder literarisch (wie die Goncourts) zu verleumden, Victor Hugo ihre - wenn auch romantisch monumentalisierte - Verherrlichung schreibt, zeigt diese Tendenz gegen den allgemeinen Strom. Sie erscheint noch dadurch gesteigert, daß Hugo sich für das Terrorjahr 1 7 9 3 und nicht nur für 1 7 8 9 begeistert. Hier sind, trotz aller - von Lafargue vielfach richtig kritisierten - Schwankungen Hugos, wichtige, in die Zu­ kunft weisende Tendenzen der Neubelebung der revolutionären Demokratie vorhanden. Vor allem darin, daß Hugo wirklich tragische Konflikte, die auf dem Boden dieser Revolution erwachsen, literarisch gestaltet. Allerdings oft mehr rhetorisch als realistisch. Und diese Rhetorik ist nicht bloß ein Über­ bleibsel aus der romantischen Periode, sondern der deutliche Ausdruck für

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode die Schranken seiner humanistischen Konzeption : für die metaphysische Ab­ straktheit seines Humanismus. Aus dieser Abstraktheit entstehen die End­ konflikte, die seine Helden in den tragischen Untergang führen. Aus den wirklichen, menschlichen und historischen Kollisionen des Aristokraten und des Priesters, die sich auf die Seite der Revolution gestellt haben, werden bei beiden ausgeklügelte Pflichtenkonflikte auf dem Boden dieses abstrakten Humanismus. In der imperialistischen Periode selbst sind es vor allem die historischen Romane von Anatole France, die eine solche selbständige und neue Stellung beziehen. Auch bei France ist, besonders in seiner Jugend, eine gewisse subjek­ tive Willkür in der Behandlung der Geschichte sichtbar, sie ist aber meilen­ weit entfernt von den Tendenzen etwa Flauberts und Meyers, ja man kann sagen, sie ist ihnen geradezu entgegengesetzt. In den historischen Gestalten von Anatole France erhält der humanistisch-kämpferische Skeptizismus eine klarere und künstlerisch vollendetere Darstellung als bei vielen seiner Nach­ folger. Bei France ist zum erstenmal das Zurückgreifen der opponierenden demokratischen Schriftsteller auf die Weltanschauung der Aufklärung sicht­ bar. Dieses Zurückgreifen ist für den bürgerlichen Ideologen unter den ge­ gebenen sozialen und ideologischen Bedingungen der imperialistischen Periode der nächstliegende und sichtbareste Weg, um eine feste oppositionelle Position gegen die reaktionären Tendenzen der Zeit zu beziehen. Diesen Weg sind später auch Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger gegangen. Die Schwie­ rigkeiten und Widersprüche, die aus der Beurteilung und Gestaltung der Probleme unserer Zeit vom Standpunkt des Aufklärertums aus entspringen, werden wir später ausführlich analysieren. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß France die Aufklärung viel weniger als seine Nachfolger in der Forn1 einer abstrakten und geschlossenen Weltanschauung nimmt (Kampf von Ver­ nunft und Unvernunft bei Feuchtwanger), sondern mehr als überlegen ab­ wehrende skeptische Attitude nicht nur den offen reaktionären Tendenzen der Zeit, sondern - dies ist seine besondere Note - auch den Schranken und der Problematik der bürgerlichen Demokratie gegenüber. Aus diesem Geist ist die historisch echte und leuchtend humanistische, unvergeßbare Gestalt des Abbes Jerome Coignard entstanden. Aus diesem Geist heraus richtet sich Frances Skeptizismus gegen mittelalterliche und neuzeitliche Geschichtslegenden aller Art. Aber die Zertrümmerung solcher Legenden ist bei ihm von einem unver­ gleichlich echteren historischen Geist erfüllt als bei den meisten Schriftstellern seiner Zeit. (Man denke nur an die bewußten Modernisierungen der Ge­ schichte bei Shaw - mit Ausnahme der Johanna -, die ja ebenfalls im

3 14

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

Kampf gegen Geschichtslegenden entstanden sind.) Und auch das Prinzip der Menschlichkeit ist in den Werken von Anatole France weit weniger abstrakt, als dies bei der Rezeption der Ideologie der Aufklärung in unserer Zeit all­ gemein der Fall zu sein pflegt. Denn France rezipiert auch in einer sehr per­ sönlichen Weise den epikuräischen Materialismus des 1 8. Jahrhunderts, und das Menschliche, das bei ihm siegt, hat niemals Fleisch und Blut verleugnet. Im Gegenteil : es ist ein Prinzip der Entlarvung einer jeden aufgeblähten Asketik. Eben deshalb hält sich auch France von der reaktionären Geschichts­ legende, die den Materialismus mit Egoismus gleichsetzt, weit entfernt. So ist sein Brotteaux im Revolutionsroman »Die Götter dürsten« nicht nur menschlich lebenswahr, sondern auch aus echtem Verständnis der historischen Widersprüche dieser Periode gestaltet. Die Kritik der bürgerlichen Demokratie ist an sich kein besonders neues Motiv der Literatur der imperialistischen Periode. Die verschiedensten ro­ mantisch-antikapitalistischen, auch offen reaktionären Richtungen stellen diese Kritik theoretisch wie schriftstellerisch in den Vordergrund. Die be­ sondere Eigenart Anatole Frances besteht darin, daß er diese Frage auch in seiner Jugend nicht in romantischer Weise aufwarf. Und in seiner letzten Periode, nach den Erfahrungen der Dreyfus-Kampagne, erhält diese Ten­ denz bei ihm eine resolut über die bürgerliche Demokratie, in die sozialisti­ sche Zukunft hinausweisende Richtung. Darum ist sein Zurückgreifen auf die Problematik der Französischen Revo­ lution etwas ganz Neues in der Literatur der imperialistischen Periode. Der sowjetische Kritiker Fradkin hat in seiner P.a rallele zwischen » 1 7 93 « von Victor Hugo und »Die Götter dürsten« von Anatole France geistvoll und richtig den ausschlaggebenden Gegensatz hervorgehoben : Victor Hugo ist mit den politisch-sozialen Zielsetzungen der Jakobiner wesentlich einverstan­ den, sieht dagegen ihre tragische Problematik in ihrer Methode, im Terror. Anatole France wiederum hat an sich wenig gegen die Methode des Terrors einzuwenden, er erblickt jedoch eine unaufhebbare Widersprüchlichkeit in den sozialen Zielsetzungen der Jakobiner : die von den besten unter ihnen so heroisch und aufopferungsvoll umkämpfte »Freiheit, Gleichheit und Brüder­ lichkeit« führt, solange die wirtschaftliche Grundlage des Kapitalismus uner­ schüttert bleibt, zu einem wachsenden Elend der befreiten werktätigen Mas­ sen. Der Heroismus der Jakobiner, der bei France plastisch zum Ausdruck kommt, erscheint also in einer tragischen Problematik. Der soziale Inhalt dieser Tragik enthält aber kein Moment der Aussichtslosigkeit in sich, kein » ewiges« Dilemma, wie bei Victor Hugo, sondern eine unausgesprochene,

H umanistiscbe Protestliteratur in der imperialistischen Periode

315

aber um so deutlichere Perspektive der Zukunft. Und weil France diese große Übergangskrise so sieht, kann er sich eine menschenschaffende Objek­ tivität den Gegnern der Revolution gegenüber gestatten, ohne diese Grund­ linie seiner Parteilichkeit im geringsten abschwächen zu müssen. Es ist klar, daß die vorwärtsweisenden Übergangserscheinungen in Deutsch­ land unmöglich eine mit France auch nur vergleichbare historische Weitsicht und Progressivität haben konnten. Es erscheint uns aber trotzdem als not­ wendig, auf einige Haupterscheinungen kurz, eher andeutend als darstellend, hinzuweisen, nachdem wir die Hauptvertreter der Niedergangstendenzen des historischen Romans verhältnismäßig eingehend behandelt haben, damit nicht der Anschein entstehe, als ob diese Periode in Deutschland überhaupt keine Gegenbewegung gehabt hätte. Eine solche beginnt schon bald nach der Niederlage der achtundvierziger Revolution. Ihre Hauptgestalt ist Wilhelm Raabe. Auch im Lebenswerk die­ ses Schriftstellers spielt die historische Thematik nur eine episodische Rolle.1 Die historische Sicht Raabes zeigt große Vorzüge und deutlich gezogene Schranken. Seine vielleicht positivste Eigenschaft ist die leidenschaftliche Empörung über die deutsche Misere. Diese attackiert er in seinen Gegenwarts­ romanen vor a llem als die erniedrigende Spießerei der deutschen Kleinstaat­ lichkeit. Dazu kommt ein gesunder plebejischer Sinn, der ihn dazu führt, die Ursachen der Verkommenheit vorwiegend »oben«, die Möglichkeit einer Er­ neuerung vorwiegend » unten« zu suchen und zu gestalten. Wenn aber aus alledem für die Geschichte eine I dealisierung der mittelalterlichen unabhän­ gigen Städte entsteht, so wird auch die Schranke sichtbar, die ihn hindert, ein Bild der Vergangenheit zu entwerfen, das seiner kritischen Darstellung der Gegenwart völlig gleichwertig wäre ; um so mehr, als Raabe den Gegen­ satz von »oben« und »unten« in der Gegenwart viel schärfer und reicher abgestuft wahrnimmt als in der Vergangenheit, wo das Idealisieren der - oft sehr zweifelhaften - Städteherrlichkeit seinen Blick trübt. Wirklich fruchtbar wird sein kritischer Humor vor allem dort, wo er sein zentrales Thema, das Bekämpfen der deutschen Misere, in der Vergangenheit wiederfindet. So vor allem in der Erzählung »Die Gänse von Bützow«. Raabe zeigt die spießbürgerliche Miserabilität einer deutschen Kleinstadt an­ hand eines Doppelkontrastes : einerseits zum fernen Hintergrund der Fran1 Die Grundfragen seiner literarischen Wirksamkeit h ab e ich in den »Deutschen

Realisten des 1 9 . Jah rhunderts« analysiert (B erlin 1 9 5 1 , 1 9 5 6 ; jetzt in : Werke Band

7,

»Deutsche Literatur in zwei Jah rhunderten«, Neuwied 1 9 64) .

Der historische Roman des demokratischen Hiimanismus zösischen Revolution und der aus ihr entspringenden großen Kriege, anderer­ seits zum höhen kulturellen Niveau jener Intellektuellenschicht, deren Bil­ dung die deutsche Klassik bestimmt hat. Diese allgemeinen Kontrastmotive ergeben dann ganze Reihen sehr konkreter und sinnfälliger Kontraste in den Gestalten, Situationen und bis hinunter zur Sprache. Diese ist die eines mit der ganzen zeitgenössischen Literatur intim vertrauten Schulmeisters, des Ich-Erzählers des Ganzen. In ihr entfaltet sich der Widerspruch zwischen der fürchterlichsten Kleinlichkeit der Menschen und Begebenheiten und der Ge­ hobenheit von Gedanken und Gefühlen, Zitaten und der Sprache fortlaufend weiter und schafft eine im besten Sinne ironische künstlerische Atmosphäre. Dazu kommt, daß die kleinlich-tyrannische Obrigkeit des Städtchens und die kleinlich-feige oder kleinlich-intrigante Gegenbewegung der Bevölkerung ununterbrochen vom Schatten der heroischen Taten und Menschen der Fran­ zösischen Revolution gefärbt sind : die kleinliche Furcht der Herrscher und die feige und zaghafte Auflehnung gegen sie bei den Unterdrückten, die ununterbrochen die eigene »Tollkühnheit« eitel und zugleich angstvoll be­ spiegeln, beschwören fortlaufend diese Schatten herauf. Die » Revolte« des Städtchens gegen eine sinnlose, ungerechte Verfügung über das Recht der Gänse auf die Straße steigert noch handlungsmäßig diese Kontraste. Ironie und Selbstironie dieser Erzählung schaffen indessen keine romantische Formauflösung, sondern ein zugleich abgestuftes und harmonisiertes Zeit­ kolorit ; sie drücken die Vielfältigkeit und Einheitlichkeit in den Widersprüchen dieser Periode der deutschen Entwicklung und, dadurch vermittelt , in ihrer Stellung zur Gegenwart aus. Ironie und Selbstironie richten sich nicht, wie die reaktionäre Literaturgeschichte es darzustellen pflegt, gegen die Französische Revolution ; im Gegenteil, sie kritisieren das kleinlich-servile Verhalten der deutschen Bürger und Kleinbürger, das in der Kontrastierung zu den großen welthistorischen Ereignissen, zu der geistigen Höhe der eigenen Kultur nur um so miserabler wirkt. So, als Ruf zur Selbstkritik und Selbstverwandlung eines Deutschlands, in welchem die Anfänge der späteren kritiklosen Ver­ äußerlichung und überhebung der Bismarckzeit schon wirksam zu werden begannen (die Erzählung entstand am Vorabend des preußisch-österreichi­ schen Krieges), ist sie eine Vorläuferin des späteren Humanismus. Diese ihre Grundtendenz zeigt sich darin, daß die Ichfigur der Erzählung, die nicht in Preußen spielt, in einem Abschlußbrief das berühmte Zitat von Mirabeau über Preußen » Pourriture avant maturite« - schriftstellerisch gut vorberei­ tet - an unmißverständlich auffallender Stelle einflicht. Fast zwei Jahrzehnte später wird dieses Motiv zum zentralen Ideengehalt

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode eines kleinen historischen Meisterwerks : des » Schach von Wuthenow« von Theodor Fontane. Auch bei Fontane spielt die historische Thematik neben der zeitgenössischen nur eine Episodenrolle. Freilich sind seine Anfänge, ist seine Periode der B alladen wesentlich historisch orientiert ; auch der Roman­ schriftsteller beginnt mit einem großen Geschichtsroman »Vor dem Sturm « . Hier i s t jedod1 , trotz Fontanescher Originalität i n vielen Details, das wirklich Neue seiner Kunst noch nicht offenbar. Vor allem nicht dem Ideengehalt nach. Da Fontane, ebenso wie vor ihm Willibald Alexis im »Isegrimm «, den nicht uninteressanten reaktionären Sonderling von Marwitz zur Zentralfigur erhebt, versperrt er sich den Weg, die wirklich progressiven Tendenzen der Befreiungskriege, jene Tendenzen, die in Scharnhorst und Gneisenau ihren Ausdruck fanden, sowie die plebejisch-rebellischen Elemente der Bewegung, für deren Eigenart Raabe sehr viel Verständnis zeigt, zu gestalten. Die Erzählung » Schach von Wuthenow« zeigt dagegen bereits den echten und reifen Fontane. Vor allem darin, daß er, der dichterische Verherrlicher des alten und neuen Preußen, hier bereits jene tödlich treffende Kritik des preußischen Menschentypus, der preußischen »Haltung« als erstarrter mora­ lischer Norm, als lebensformierenden und -tötenden Prinzips, ansetzt, die später in »Irrungen, Wirrungen« und »Effi Briest « ihren dichterischen Gipfel­ punkt erreichen sollte. t In bestimmtem Sinne ist bei Fontane das historische Präludium stärker, jedenfalls eindeutiger als die menschlich vielleicht noch reicher differenzierte Gestaltung in den späteren Gesellschaftsromanen. Hier kehrt sich - als Aus­ nahme, die die Regel bestätigt - unsere oft hervorgehobene Gegenüberstel­ lung von geschichtlichem und gesellschaftlichem Stoff um : diesmal zeigt gerade das historische Thema einen stärkeren, eine entschiedenere Stellungnahme erzwingenden Widerstand gegen die Ansichten, die Neigungen und das Tem­ perament des Schriftstellers als das zeitgenössische. Der Widerspruch, die Ausnahmehaftigkeit läßt sich unschwer aufzeigen. Wenn Fontane in seinen Gegenwartsromanen das zugleich starre und brüchige Wesen der preußischen » Haltung «, deren unmenschliche Wesensart aufzeigt, so kann er die Folgen nur an - wenn aum nom so typischen - privaten, rein persönlimen Schick­ salen sinnfällig mamen. Er müßte das leidenschaftliche Pathos des Willens, die Gesellschaft radikal zu verändern, besitzen, um auch die geschichtlichen 1 Die Entwicklungsprobleme Fontanes, vor allem d iesen für Fontane so fruchtbaren

Widerspruch, h abe ich in meinem Buch »Deutsche Realisten des 1 9 . JahrhundertS « ausführlich b ehandelt.

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Folgen wenigstens als Perspektive den Werken einzuverleiben. Und nichts stand der Persönlichkeit des alten Fontane ferner als ein solches Pathos ; ob­ wohl manche seiner Briefe zeigen, daß eine derartige Erkenntnis ihm keines­ wegs fremd war. »Schach von Wuthenow« spielt jedoch am Vorabend der Schlacht von Jena. Das hat zur Folge, daß die Atmosphäre der nahenden Katastrophe selbst untrennbar-organisch mit jener Lebensgeschichte zusammenhängt, die die eigentliche Fabel dieser Erzählung ausmacht. Fontanes Meisterschaft zeigt sich nicht nur darin, daß der ganze innere Konflikt Schachs moralisch eine typische vorjenaische Erscheinung in der herrschenden Schicht Preußens ist und als solche auf den Leser wirkt, sondern auch darin, daß der ganze Gang der Handlung, die mit dieser scheinbar lose verknüpften Zustandsschilderun­ gen, Gespräche, Typenkontraste usw. unauffällig, »von selbst« sich stei­ gernde Variationen dieses Themas ergeben : warum die Schlacht von Jena zu einer Katastrophe des friderizianischen Preußen werden mußte. Zwischen Raabe und Fontane besteht subjektiv zweifellos kein Zusammenhang : objek­ tiv ist es aber sicher kein Zufall , daß Raabes Erzählung im zitierten Aus­ spruch Mirabeaus vom Verfaulen Preußens vor seiner Reife ausklingt, wäh­ rend derselbe Satz einen Auftakt in der Erzählung Fontanes bildet. Diese Tendenz, dieser geistige Gehalt verknüpft beide Schriftsteller bei allen sonstigen weltanschaulichen wie stilistischen Gegensätzen und macht aus ihnen beiden Vorläufer des streitbaren Humanismus der imperalistisd1en Periode. Wir haben uns hier nicht die Aufgabe gest.e llt, die Entwicklung dieses neuen Typus des historischen Romans in seiner Genesis von Schritt zu Schritt historisch zu verfolgen. Ihrer ideellen Bestrebungen wegen sei hier nur Ricarda Huch erwähnt. Auch darum, weil die meisten ihrer historischen Romane (nicht die gesellschaftlid1en ihrer Anfänge) schon deutliche Ten­ denzen zur späteren - von uns später ausführlich kritisierten - historischen Belletristik zeigen. Wir müssen uns auf den historischen Roman des kämpfe­ rischen, antifaschistischen Humanismus konzentrieren. Wir können dies um so mehr tun, als gerade hier alle diese Tendenzen konzentriert vereinigt sind und eine Analyse und Kritik dieser Literatur ebensosehr die Analyse und Kritik der typischen Erscheinungsformen des historischen Romans unserer Zeit wird, wie früher die Analyse von Scott beziehungsweise von Flaubert die Analyse der typischen Züge je einer Entwicklungsperiode des histori­ schen Romans gegeben hat. Indem dieser historische Roman die wesentlichen antibarbarischen Tendenzen

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode der Periode, die sich im sterbenden Kapitalismus entwickeln können, in sich vereinigt, zeigt er in wachsendem Maße den ideologischen Einfluß auf, den die Verwirklichung des sozialistischen Humanismus in der Sowjetunion auf die besten Vertreter der westlichen Intelligenz ausübt. Dieser Einfluß ver­ schlingt sich naturgemäß in den Werken der Schriftsteller mit ihrer immer schärfer werdenden Kritik der faschistischen Barbarei, gibt dieser Kritik eine hellere, hoffnungsfreudigere Perspektive auf die Zukunft der Menschheit. Um die Tiefe dieser Einwirkung des sozialistischen Humanismus richtig ein­ zuschätzen, wird es vielleicht genügen, wenn wir auf die früher angeführten zwei Arten des Skeptizismus hinweisen. Gewiß muß man die positiven Seiten auch der Skepsis von Anatole France immer wieder hervorheben. Es ist jedoch ebenso unzweifelhaft, daß im historischen Roman von heute, am klarsten bei Heinrich Mann, aber auch bei Feuchtwanger und anderen, ein ganz ande­ rer Ton in der Behandlung der Perspektive der Menschheitsentwicklung vor­ herrscht. Und man müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß gerade hier, gerade in der entscheidenden künstlerischen wie weltanschaulichen Frage, die Einwirkung des in der Sowjetunion realisierten Sozialismus außerordent­ lich bedeutend ist. Der humanistische Protest gegen die Barbarei des imperialistischen Zeitalters tritt desto offenkundiger, klarer und kämpferischer hervor, je deutlicher die imperialistische Barbarei offen ihre brutalste Aufgipfelung im Faschis­ mus zeigt. Mit dem Vordringen des Faschismus, im Kampf gegen ihn, wird der Humanismus der demokratischen Opposition immer breiter und tiefer politisch, immer sozialer; seine bedeutenden Vertreter erheben sich zu immer höheren Positionen der Kritik ihrer Zeit. Freilich entsteht notwendigerweise während dieses selben Prozesses eine Differenzierung innerhalb der demo­ kratischen Opposition. Die Verschärfung der Gegensätze schreckt einen Teil ihrer früheren Mitkämpfer ab, ja treibt sie zuweilen sogar ins Lager der Gegner des menschlichen Fortschritts. Aber die Hauptlinie der Entwicklung ist gerade an dem ideologischen und künstlerischen Wachstum solcher starken Persönlichkeiten zu erkennen, wie es Romain Rolland oder Heinrich und Thomas Mann sind. Der Sieg des Hitlerfaschismus in Deutschland ist ein Wendepunkt der Ent­ wicklung nicht nur für Deutschland, vor allem aber doch für den oppositio­ nellen Humanismus der bedeutenden deutschen Schriftsteller. Die Bildung der Volksfront gegen den Faschismus ist nicht nur politisch ein Ereignis von welthistorischer Tragweite, sondern bedeutet auch weltanschaulich und schrift­ stellerisch den Anfang einer neuen Periode in der deutschen Literatur. Bei

320

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

den bedeutendsten Vertretern der humanistischen Opposition, den wichtig­ sten Kämpfern gegen den Faschismus ist eine außerordentliche Höher­ entwicklung der weltanschaulichen Klarheit, der breiten und weiten histo­ rischen Betrachtung der Ereignisse der Gegenwart und der Wege, die zu dieser Gegenwart geführt haben, sichtbar. Es wäre ein kleinlicher und enger, ein sektiererischer Gesichtspunkt, diese Erhöhung des gesellschaftlich-welt­ anschaulichen Niveaus der deutschen Literatur daran messen zu wollen, wie weit sich ihre bedeutenden Vertreter bewußt dem Marxismus als Weltanschau­ ung, dem Kommunismus als politischem Programm annähern. Die wesent­ liche Linie der weltanschaulichen und politischen Auswirkung der Volksfront bedeutet eine Gärung, eine Weiterentwicklung der Schriftsteller in einem organischen Sinn. Es handelt sich darum, daß bei bedeutenden Schriftstellern, die ihr ganzes Leben lang mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger entschieden in Opposition zu den herrschenden reaktionären Strömungen ihres Landes gestanden haben, unter dem Einfluß der Katastrophe Deutsch­ lands infolge der Hitlerherrschaft, unter dem Einfluß der Erfolge der Volks­ front in Frankreich und im revolutionären Befreiungskampf des spanischen Volkes, unter dem Einfluß des Sieges des Sozialismus in der Sowjetunion der Geist der revolutionären Demokratie wieder erwacht ist. Dieser Prozeß ist besonders für Deutschland von allerhöchster politischer Wichtigkeit und ist zugleich im deutschen Dichten und Denken etwas außer­ ordentlich Kompliziertes und Schwieriges. Denn gerade Deutschland ist unter den zivilisierten Ländern dasjenige, das die allerschwächsten revolutionär­ demokratischen Traditionen besitzt. Heinrich Mann hat dies in einem seiner Artikel über diese Frage in sehr klaren Worten ausgesprochen : »Es wird die Revolution sein. Die Deutschen haben noch niemals eine gemacht, erlebte Bilder entstehen in ihnen nicht, wenn das Wort fällt. Sogar die Arbeiter, so tapfer und klug sie kämpfen, lassen den letzten Abschnitt des Kampfes scheinbar bei sich selbst noch im Dunkeln.« Die bitteren Erfahrungen mit einem nicht unwesentlichen Teil der liberalen Bourgeoisie und ihrer Intelli­ genz in Deutschland (man denke bloß an Gerhart Hauptmanns Schicksal im Faschismus), die täglich neuen Erfahrungen des Differenzierungsprozesses im Lager der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verteidiger der Volksfront in Frankreich und Spanien erwecken in den scharfäugigen und ehrlich konse­ quenten Schriftstellern in wachsendem Maße das Verständnis für die Not­ wendigkeit einer Kritik des Liberalismus vom Standpunkt der revolutionä­ ren Demokratie , vom Standpunkt der entschiedenen Verteidigung, des reso­ luten Ausbaus der Volksfront.

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

32 1

D iese Kritik muß weitestgehend auch eine Selbstkritik sein, und sie ist es auch in den meisten Fällen in mehr oder weniger bewußter Weise. Man lese, was Heinrich Mann in dem Aufsatz, aus dem wir eben zitiert haben, über die vergangene Periode sagt und halte diese Sätze gegen die von uns früher an­ geführten, um die Linie dieser Kritik und Selbstkritik ganz klar zu erfassen : » Der Liberalismus und ein, wenn auch beschränkter Humanitarismus waren es, die das kapitalistische System, als es noch möglich war, zur Not erträglich machten, es aufhellten, so daß Aufschwünge des Gewissens und der Menschen­ liebe dennoch vorkamen. « Heinrich Mann wirft mit solchen Betrachtungen die spezifisch heutigen Pro­ bleme der revolutionären Demokratie in einer sehr entschiedenen Weise auf. Denn so wichtig dieser Appell an die revolutionär-demokratischen Instinkte aller vom reaktionären Monopolkapital materiell und kulturell unterdrück­ ten, entrechteten und ausgebeuteten Teile des Volkes ist, so wichtig ist es, zu betonen, daß dieses Wiedererwachen des revolutionär-demokratischen Geistes heute unter ganz besonderen Bedingungen erfolgt. Diaz sprach deshalb mit vollem Recht von einer Demokratie vollständig neuen Typus, deren Verwirk­ lichung das Ziel der spanischen Volksfront ist. Um eine solche neue Demo­ kratie kämpft die Volksfront in allen Ländern . Und wenn wir früher die kleinliche und engherzige Zumutung, die Bedeutung der großen antifaschi­ stischen Schriftsteller an ihrer Annäherung an die Weltanschauung des Mar­ xismus zu messen, abgelehnt haben , so bedeutet dies nicht, daß die Auseinan­ dersetzung mit den Problemen des Sozialismus nicht einen wichtigen Prüf­ stein für die Echtheit und Aufrichtigkeit der revolutionären Demokratie unserer Tage abgeben würde. Und nicht bloß unserer Tage. Die Kompliziertheit und Schwierigkeit der Entwicklung der revolutionären Demokratie im 1 9 . Jahrhundert ist eng mit der Tatsache verbunden, daß nach dem Aufstand Babreufs, nach den Auf­ ständen der Lyoner und der Schlesischen Weber, nach der Chartistenbewegung usw. niemand mehr ein konsequenter revolutionärer Demokrat sein konnte, der sich zur Frage der Emanzipation des Proletariats ablehnend verhielt. (Dies war für die Jakobiner noch möglich.) So schwach die revolutionär­ demokratischen Traditionen in Deutschland auch gewesen sind, so zeigt doch die politische Geschichte und vor allem die Literaturgeschichte des 1 9 · Jahr­ hunderts in Deutschland interessante und bedeutende Auseinandersetzungen revolutionärer Demokraten mit dem Problem des Sozialismus, welche stets mit einer bejahenden Antwort auf die große Frage der Epoche geendet haben. So bei Georg Büchner, so bei Heinrich Heine, so bei Johann Jacobi. Diesen

322

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

Weg gehen die wichtigen antifaschistischen Schriftsteller der deutschen Volks­ front, diese Traditionen erhalten einen zeitgemäßen Widerhall in ihren Schriften. Und dies ist selbstverständlicherweise kein ausschließlich deutsches Problem. Mag man in Frankreich die Entwicklung des Leiters und des Helden der bewaffneten Barrikadenkämpfe, Blanquis, verfolgen oder an die Entwicklung solcher Schriftsteller wie Zola oder Anatole France denken, überall sieht man dasselbe Problem und dieselbe Richtung (nicht denselben Inhalt) in den Ver­ suchen, es zu lösen. Nodi deutlicher ist dieser Zusammenhang zwischen revolu­ tionärer Demokratie und Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der rus­ sischen Entwicklung von 1 8 4 0 bis 1 8 8 0 zu sehen. Man braucht nur an Gestal­ ten wie Belinskij und Herzen, wie Tschernyschewskij, Dobroljubow, Salty­ kow-Schtschedrin zu denken, um diesen Zusammenhang ganz klar zu sehen. Diese Auseinandersetzung ist nicht rein theoretischer Art, sondern ein leben­ diges Ringen mit wirklichen Problemen des Lebens . Die Wirklichkeit des Hitlerfaschismus, die Wirklichkeit der spanischen Revolution, die Wirklich­ keit des Sozialismus in der Sowjetunion, die Wirklichkeit des heldenmütigen Kampfes der deutschen Arbeiter : das sind die großen Tatsachen, an denen der revolutionäre Demokratismus bei den besten deutschen Schriftstellern er­ starkt, sich eine Tradition bildet und sie auf alle Gegenstände des deutschen Lebens anzuwenden sucht. Der Sozialismus erscheint dabei als ein zentrales Problem des Volkslebens : als die Frage des materiellen und kulturellen Wohls der breiten Masse der Werktätigen. Um diesen Fragenkomplex als zentral zu erleben und zu wissen, braucht man keineswegs Anhänger des Sozialismus, geschweige denn Anhänger des Marxismus zu sein. Thomas Mann schrieb z. B. in den zwanziger Jahren : » I ch sagte, gut werde es erst stehen um Deutschland und dieses werde sich selbst gefunden haben, wenn Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben werde, - eine Begegnung, die übrigens im Begriffe sei, sich zu vollziehen. Ich vergaß, hinzuzufügen, daß eine einseitige Kenntnisnahme unfruchtbar bleiben müßte. « Selbstverständlich spielt dabei das Vorbild der Sowjetunion eine große Rolle. Und natürlich erleichtert die Aneignung des Marxismus jedem bedeutenden und ehrlichen Denker die geistige Bewältigung dieser Probleme. Aber der Marxismus ist - typisch angesehen - nicht der Anfang, sondern im besten Fall der Abschluß dieses Weges. Primär ist die ehrliche, konsequente und lebendige Auseinandersetzung mit den wirklich brennenden Problemen des aktuellen Volkslebens. Und die welthistorische Aktualität des Sozialismus äußert sich gerade darin, daß jeder ehrliche Intellektuelle, der die Probleme

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

323

der Volksfront, der Befreiung seines Volkes vom wirklichen oder drohenden Joch des Faschismus ernst nimmt , sobald er irgendeine Frage konkret ins Auge faßt, praktisch auf das Problem des Sozialismus stößt. Diese Erfah­ rung hat bereits Zola in seiner letzten Periode gemacht. Aber damals stand die Frage im Leben selbst lange nicht so aktuell und lebendig wie heute, so daß Zola sich in utopische Träumereien, in eine abgeschwächte Wieder­ belebung des utopischen Sozialismus verirren konnte. Die heutige brennende Aktualität aller Probleme des Sozialismus unter­ streicht gerade die ungeheure praktisch-politische Bedeutung dieser Wieder­ belebung der revolutionären Demokratie. Denn die Aktualität des Sozialis­ mus bedeutet gerade, daß seine Probleme aus dem Leben, aus den lebendigen Erfahrungen der werktätigen Massen herauswachsen, und es kommt darauf an, jene Forderungen des Übergangs zu verwirklichen, die den wirklichen aktuellen Wünschen und Erfahrungen der werktätigen Massen entsprechen. Die Verbundenheit der revolutionären Demokratie mit allen Schichten des werktätigen Volkes, ihre Feinfühligkeit seiner gegenwärtigen, objektiven wie subjektiven Entwicklungsreife gegenüber ist einer der wichtigsten Faktoren der heutigen Übergangszei t. Dies muß um so stärker betont werden, als in vielen Kreisen der Sozialdemokratie eine Projektemacherei mit einer uto­ pischen » Planwirtschaft« als pseudo-radikale Forderung auftaucht und an­ archistische Wirrköpfe und trotzkistische Schädlinge die Parole von der so­ fortigen Verwirklichung des Sozialismus zur Sprengung der Volksfront und damit zur Verhinderung des wirklichen, erst letzten Endes im Sozialismus gipfelnden revolutionären Kampfes gegen den Faschismus benutzen. Erst mit dieser Erkenntnis der ungeheuren Bedeutung der lebendigen Tradi­ tionen der revolutionären Demokratie ist der Prozeß der Bolschewisierung der kommunistischen Parteien Europas wirklich in einen reifen Zustand ge­ treten. Denn, wer den Unterschied zwischen den Bolschewiki und den linken Sozialdemokraten des außerrussischen Europa in der Vorkriegszeit aufmerk­ sam studiert, wird finden, daß eine der wesentlichen Differenzen gerade darin liegt : die Bolschewiki haben die Traditionen der revolutionären Demokratie wirklich in ihrer Theorie und in ihrer Praxis aufgehoben (auch im Sinne des Aufbewahrens und auf eine höhere Stufe Hebens), während in den westlichen linken Oppositionsbewegungen diese Traditionen teils verlorengegangen, teils zur Vulgärdemokratie entartet sind. Die Geschichte der deutschen antifaschistischen Emigranten der Schriftstel­ ler könnte man also in folgender Weise kurz zusammenfassen (wobei man sich dessen bewußt sein muß, daß eine kurze Zusammenfassung immer eine

3 24

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

gewisse Vereinfachung mit sich bringt) : aus Deutschland sind vorwiegend liberale Intellektuelle, teils mit gewissen demokratischen Neigungen, aus­ gewandert, sie haben sich aber unter dem Einfluß der ungeheuren Ereignisse der vergangenen vier Jahret in der Richtung der revolutionären Demokratie energisch weiterentwickelt. Seit der Vorbereitungsperiode der achtundvier­ ziger Revolution, als sich unter der Führung von Marx eine revolutionäre Demokratie in Deutschland herauszukristallisieren begann, gibt es zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine solche Bewegung. In dieser Hinsicht beleuchtet die Wendung in der politischen Weltanschauung der deutschen Emigration eine Schicksalswende, die sich in der Geschichte des deutschen Volkes vorbereitet. Dieser Weg zur revolutionären Demokratie ist selbstverständlich sehr un­ gleichmäßig und widerspruchsvoll. Die großen inneren wie äußeren Schwie­ rigkeiten, mit denen die Entfaltung der Revolution verbunden ist, schrecken notwendigerweise viele Intellektuelle und Schriftsteller ab ; sie führen dazu, daß sich ihre liberalen Anschauungen metaphysisch verhärten und mit einer ideologischen Gloriole umgeben werden. In der deutschen Literatur zeigen die letzten historischen Werke Stefan Zweigs ein solches hartnäckiges Stehen­ bleiben beim liberalen Humanismus eines großen Teiles der westlichen In­ telligenz der Vorhi tlerzei t. In seinem Buch über Erasmus von Rotterdam stellt Zweig Humanismus und Revolution einander ausschließend gegenüber : »Aber der Humanismus ist seinem Wesen nach nie revolutionär . . . « Damit fixiert Zweig in einer schein­ philosophischen Weise den falschen Humani�mus der liberalen deutschen Bourgeoisie. Die wirklichen großen Traditionen des europäischen Humanis­ mus waren im Gegensatz zu dieser Auffassung immer revolutionär. Der beste Teil der europäischen Intelligenz hat in der Französischen Revolution die Verwirklichung der Ideale des Humanismus gesehen, jene »herrliche Morgenröte«, von der noch der alte, der müde und enttäuschte Hegel stets mit Rührung und Enthusiasmus sprach. Erst als die deutsche Bourgeoisie sich dem Bismarckschen Bonapartismus unterwarf, begann jener inhalts­ entleerte, formalistische Klassizismus und Humanismus in den Universitäten und Gymnasien zu herrschen, der sich scheu vor dem Volk und den Volks­ bewegungen verbarg, der die revolutionär-demokratischen Inhalte aus dem Humanismus entfernte und ihn damit zu einer matten und bürgerlichen, einer liberalen Wohlanständigkeit erniedrigte. 1

Gesdtrieben Winter 1936/3 7 (Anm. der Redaktion) .

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

j25

Freilich steht Stefan Zweig, wenn er auch in seinen letzten Werken objektiv diesen zutiefst reaktionären Pseudohumanismus mit gewaltigen Prätentionen erneuert, als ehrlicher und vieles sehender Schriftsteller hoch über dem Typus dieses durchschnittlichen liberalen Akademismus. Vor allem sieht er die Gren­ zen des von ihm in letzter Zeit konsequent verherrlichten Humanistentypus zuweilen sehr klar, und sein Fehler besteht in erster Linie darin, daß er nicht imstande ist, aus seinen klaren Einsichten die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Er zeichnet also einerseits Erasmus von Rotterdam als vorbildlichen Typus des Humanisten. Andererseits aber sieht er sehr klar die Grenzen die­ ses ganzen Typus : »Aber . . . was in den Tiefen der Massen urgründig waltet, das wissen sie nicht und wollen sie nicht wissen. « Hier spricht Zweig einen wichtigen Zusammenhang klar und schön aus, gerade den Zusammenhang, der für die bedeutenderen und konsequenteren humanistischen Antifaschisten den Ausgangspunkt ihrer Selbstkritik, ihrer ideologischen und politischen Weiterentwicklung gebildet hat. Aber Zweig zieht nicht wie diese, wie vor allem Heinrich Mann, mutig die Konsequenzen aus der Erkenntnis, daß jener alte Lieblingstyp des Humanismus, den er mit großer Liebe in der Gestalt des Erasmus nachzeichnet, durch seine Fremdheit gegenüber den Problemen des Volkslebens nicht nur notwendig zur Nieder­ lage verurteilt, sondern in den wesentlichen Fragen des Humanismus be­ schränkter und begrenzter ist, also niedriger steht als diejenigen, die den Mut und die Fähigkeit haben, ihre Ideen aus der lebendigen Berührung mit den Problemen des Volkslebens zu schöpfen. Und dieser Gegensatz bezieht sich nicht bloß auf die heutige Erneuerung des Humanismus, sondern auch auf dessen erstes historisches Auftreten. Schon dadurch, daß Zweig aus Erasmus den vorbildlichen Typus des Humanisten macht, verzerrt er das Geschichtsbild, geht er an dem kämpferischen , mit den Problemen des Volkslebens tief verwachsenen Typus des Humanisten achtlos vorbei. Engels stellt in seiner begeisterten Analyse der großen Männer dieser Periode gerade die Leonardo da Vinci und Dürer als große Typen dar. Un d wenn er auch aus seinem Manuskript den Namen von Erasmus gestrichen hat, so treffen seine abschließenden Bemerkungen den Typus, um den es sich in Zweigs Erasmus handelt, sehr genau. »Stubengelehrte«, sagt er, »sind die Ausnahmen : entweder Leute zweiten oder dritten Rangs oder vorsichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen. « In dieser Frage mischen sich bei Zweig in sehr charak teristischer Weise zwei heterogene Strömungen : die modernen, »wissenschaftlich« maskierten Vor­ urteile dem Volk gegenüber (Volk als »irrationale« Masse) und die Ideen der

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Erneuerung der Aufklärung. Wir haben schon darauf hingewiesen und wer­ den in den folgenden Betrachtungen noch wiederholt darauf zurückkommen müssen, daß die Erneuerung der Aufklärungsphilosophie nicht nur gesell­ schaftlich notwendig, sondern auch fortschrittlich gewesen ist. Wenn die anti­ faschistischen Intellektuellen den barbarisch irrationalistischen, demagogischen Rauschmitteln der faschistischen Propaganda » die Vernunft« gegenüberstel­ len, so ist das richtig und vorwärtsweisend. Aber dieses Prinzip bleibt nur so lange richtig und progressiv, so lange es nicht metaphysisch formal überspannt und gerade durch diese Überspannung mit modernen, auf dem Boden des Niedergangs der bürgerlichen I deologie entstandenen Vorurteilen erfüllt wird. Solche Vorurteile sind vor allem die, daß das Volk, die Masse das Prinzip der Irrationalität, des bloß Instinktiven gegenüber der Vernunft vertritt. Durch eine solche Auffassung des Volkes zerschlägt der Humanismus seine besten antifaschistischen Waffen. Denn der Ausgangspunkt des Faschismus ist gerade eine solche » Irrationalität« der Masse , und mit seiner rücksichtslosen Demagogie zieht er nur konsequent die Folgerungen aus dieser Auffassung. Die wirksame Entlarvung der Volks­ feindlichkeit des Faschismus muß sich also auf die Unhaltbarkeit, auf die Lügenhaftigkeit gerade dieses Arguments konzentrieren, muß die schöpfe­ rischen Kräfte des Volkes gegen die faschistische Verleumdung in Schutz nehmen, muß nachweisen, wie alle großen Gedanken und großen Taten, die die Menschheit bis jetzt produziert hat, gerade auf dem Boden des Volks­ lebens entstanden sind. Wird dagegen die humanistische Vernunft der Irrationalität des Volkes metaphysisch ausschließend gegenübergestellt, so muß notwendigerweise eine I deologie des Verz i chts, des Rückzugs des Huma­ nismus aus der Arena der Kämpfe, die das Schicksal der Menschheit entschei­ den, entstehen. Diese I deologie des Verzichts drückt sich im Erasmusbuch Stefan Zweigs darin aus, daß es Vernunft und » Fanatismus« einander ausschließend gegen­ überstellt, daß es im letzteren den » Widergeist der Vernunft« erblickt. Nun ist klar, daß der Kampf gegen den Fanatismus und für Toleranz im Mittel­ punkt der I deologie des Humanismus schon der Renaissance und vor allem der Aufklärung gestanden hat. Es wäre aber historisch völlig falsch, den sozialen Inhalt dieser Gegenüberstellung in der wirklichen Aufklärung zu übersehen : unter Fanatismus verstanden die Aufklärer den religiösen Fana ­ tismus der Verteidiger des Mittelalters und seiner sozialen und ideologischen Überreste ; Toleranz bedeutete für sie, ein freies Kampffeld gegen die Mächte des Feudalismus zu gewinnen. Aber es wäre zumindest übertrieben, zu

HumanistisdJe Pro testliteratur in der imperialistischen Periode sagen, daß die Aufklärer in ihrer Forderung der Toleranz selbst tolerant im Sinne von Erasmus-Zweig gewesen wären. Es genügt, an das » ecrasez Pin­ H.me ! « Voltaires zu denken. Die politisch-soziale Forderung der Toleranz schließt selbstverständlich die fanatisch energische Vertretung des humanisti­ schen Standpunkts nicht aus. Und Stefan Zweig befindet sich in einem ge­ waltigen Irrtum , wenn er meint, daß Voltaire, Diderot oder Lessing in ihrer Weltanschauung und ihrer Handlungsweise nach seiner psychologisch-meta­ physischen Antinomie : Vernunft oder Fanatismus gelebt, gedacht und gehan­ delt hätten. Die starren Anschauungen über diesen Gegensatz, die Zweig vermittels des Idealisierens der historisch-notwendigen Sd1wächen der interessanten Renais­ sancegestalt des Erasmus ausführt, drängen geradlinig in die Richtung eines lib eralistischen K.ompromisses. Zweig faßt die Ansd1auungen des Erasmus, mit denen er sich solidarisiert, folgendermaßen zusammen : »Seiner Überzeu­ gung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil dod1 alle in der Domäne des Menschlichen liegen ; fast jeder Widerstreit könnte vergleichs­ weise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Ober­ treiber den kriegerischen Bogen.« (Von mir hervorgehoben, G. L.) Diese Anschauungen sind ein altes Gemeingut des abstrakten Pazifismus. Sie erhal­ ten aber eine außerordentliche politische und weltanschauliche Bedeutung dadurch, daß sie von einem führenden deutschen antifaschistischen Humani­ sten zur Zeit der Hitlerdiktatur in Deutschland, zur Zeit des heroischen Be­ freiungskampf es des spanischen Volkes ausgesprochen werden. Die Quelle solcher Anschauungen ist eine Unkenntnis des Volkes, ein Miß­ trauen dem Volk gegenüber ; ein daraus entstandener falscher und abstrakter Geistesaristokratismus. Es ist wiederum ohne Zweifel, daß Tendenzen zu einem solchen Aristokratismus des Geistes, insbesondere bei den Humanisten der Renaissance und auch noch bei denen der Aufklärung, zuweilen vorhan­ den waren. Aber erstens waren diese Tendenzen nicht die herrschenden. Zwei­ tens entsprangen sie mit historischer Notwendigkeit aus der Schwäche jener Volksbewegungen, auf die die politischen, sozialen und weltanschaulichen Forderungen des Humanismus sich damals hätten stützen müssen. Aus dieser historischen Lage, aus diesem glorreichen Pioniertum den demokratischen Re­ volutionen gegenüber kann man aber, ohne den Zusammenhang auf den Kopf zu stellen , ohne den wirklichen Inhalt des aufklärerischen Humanismus in sein Gegenteil zu verkehren, heute, da gewaltige Volksmassen für die Ver­ wirklichung der humanistischen Ideale kämpfen, nicht eine Strategie und

328

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

Taktik des Humanismus machen. Bestimmte humanistische Forderungen buch­ stabengetreu zu befolgen ist heute eine schwere Sünde gegen den wirklichen Geist des Humanismus. Selbstverständlich kann jede Anschauung Zweigs mit bestimmten Zitaten unterstützt werden. Aber diese Zitate stammen eben ihrem Geiste nach aus der angedeuteten historischen Lage der großen Humanisten. Und wenn Zweig ausführt, » daß niemals ein Ideal breiten Volksmassen voll­ kommen genüge tut, das einzig die allgemeine Wohlfahrt ins Auge faßt« , s o schlägt e r den echtesten humanistischen Traditionen geradezu ins Gesicht. D as entscheidende Motiv der Entwicklung des antifaschistischen Humanismus besteht gerade in der Überwindung solcher Anschauungen. Es hat heute kei­ nen Sinn mehr, Zitate aus den ersten Jahren n ach Hitlers Usurpation der Macht anzuführen, um die damals noch allgemeine Vorherrschaft der libe­ ralen Vorurteile zu bekräftigen. Es ist vielmehr wichtig und notwendig, auf den außerordentlich weiten Weg hinzuweisen, den die antifaschistische In­ telligenz Deutschlands in diesen Jahren zurückgelegt hat. Sie hat - und dies ist die Hauptsache - das Vertrauen auf eine grundlegende Erneuerung Deutschlands aus den Kräften des deutschen Volkes wiedergewonnen . Hein­ rich Mann, der auch in dieser Hinsicht der fortgeschrittenste und entschiedenste Führer des antifaschistischen Schrifttums ist, verfolgt mit einer hellsehe­ rischen Aufmerksamkeit die menschlichen, die heroischen, die kulturell und humanistisch bedeutsamen Züge, die der revolutionär-antifaschistische K ampf des deutschen Volkes gegen die faschistische B arbarei von Tag zu Tag deut­ licher offenbart. Wir können hier nur ein Beispiel anführen, in welchem Hein­ rich Mann sehr deutlich exemplifiziert, wie aus dem heroischen Verhalten der deutschen Antifaschisten der neue Typus des D eutschen bis in seine Sprache hinein entsteht. »Edgar Andre, ein Hamburger Hafenarbeiter , ist in seinem letzten Kampf und angesichts des Todes so verehrungswürdig geworden, wie Deutsche seinesgleichen es jetzt werden. Es ist der Deutsche in neuer, herr­ licher Gestalt. Das gibt es sonst nicht, es mußte schwer erworben werden : die Kraft der Gesinnung mitsamt der Höhe und Reinheit des Ausdrucks. Hier hat m an den Tonfall des Helden und Siegers über den Tod hinaus. Die Worte sind aufbewahrt für Zeiten, in denen das siegreiche Volk zurückblicken wird auf seine großen B eispiele. Denn es ist w ahr, daß nur die echte Erkenntnis und eine aufopfernde Gesinnung in den Mund eines Menschen diesen Tonfall legen, und in sein Herz diesen Mut.« Hier hat man die klare Stimme der neuerwachten revolutionären Demokratie Deutschlands. Solche Aussagen im Schrifttum der deutschen Emigration sind aus der Seele des kämpfende:'l deutschen Volkes erstanden.

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

3 29

Diese große und wichtige ideologische Entwicklung in der antifaschistischen Emigration hat den historischen Roman in den Mittelpunkt des Interesses der deutschen Literatur gerückt. (Die Tatsache, daß einzelne antifaschistische Schriftsteller, insbesondere Feuchtwanger, schon vor der Hitlerzeit historische Romane geschrieben haben, ändert an dem hier analysierten Tatbestand nichts Wesentliches ; es sind dies Strömungen, die in diesen Hauptfluß der Entwicklung münden.) Die zentrale Stellung, die die historische Thematik im Roman einzunehmen beginnt, ist dabei keineswegs zufällig ; sie hängt mit den wichtigsten Bedingungen des antifaschistischen Kampfes zusammen. Die Demagogie des Faschismus hat sehr geschickt eine Reihe der Fehler aller linken Parteien und Strömungen benutzt. Vor allem ihre Enge, und zwar so­ wohl ihre Enge in der Art des Appells an den ganzen Menschen mit allen seinen Fähigkeiten und Bestrebungen, wie, im Zusammenhang damit, die Enge ihrer Auffassung der deutschen Geschichte , der Verbundenheit der heutigen Lebensprobleme des deutschen Volkes mit seinem historischen Ent­ wicklungsgang. Dimitroff hat über beide Seiten dieses zusammenhängenden Fragenkomplexes in seinen Reden auf dem vrr. Weltkongreß der Komintern grundlegende Fest­ stellungen gemacht. Er sagt : »Der Faschismus entfacht nicht nur die in den Massen tief verwurzelten Vorurteile, sondern er spekuliert auch auf die besten Gefühle der Massen, auf ihr Gerechtigkeitsgefühl und mitunter auf ihre revolutionären Traditionen. « Und in engem Zusammenhang mit dieser Frage kommt D imitroff auch auf das Problem der Geschichte zu sprechen : »Die Faschisten durchstöbern die ganze Geschichte jedes Volkes, um sid1 als Nachfolger und Fortsetzer alles >Erhabenen und Heldenhaften< in seiner Vergangenheit hinzustellen, und benutzen alles, was die nationalen Gefühle des Volkes erniedrigte und beleidigte, als Waffe gegen die Feinde des Faschis­ mus. In Deutschland werden hunderte Büdier herausgegeben, die nur ein Ziel verfolgen - die Geschichte des deutschen Volkes auf faschistisdie Art zu ver­ fälschen . . . In diesen Büdiern werden die größten Männer aus der Vergan­ genheit des deutschen Volkes als Faschisten und die großen Bauernbewegun­ gen als direkte Vorläufer der faschistischen Bewegung hingestellt. « Diese Ausführungen sind klare und theoretisch richtige Zusammenfassungen eines sehr wesentlichen Teiles der objektiven Kampflage zwischen Faschis­ mus und Antifaschismus. Und es ist aus dieser Lage heraus verständlich, daß das Problem der Geschichte, und insbesondere ihrer schriftstellerischen Be­ arbeitung, immer mehr in den Mittelpunkt des antifaschistischen Kampfes rücken muß . Wenn die antifaschistische Literatur Deutschlands die großen

330

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

Gestalten der humanistischen Entwicklung zu neuem Leben erweckt, wenn Cervantes, Henri 1v. und Montaigne, Josephus Flavius, Erasmus von Rot­ terdam usw. in den Büchern der deutschen antifaschistischen Schriftsteller lebendig werden, so ist es ganz klar, daß hier eine Kriegserklärung des Hu­ manismus an die faschistische Barbarei vorliegt, daß die Thematik der anti­ faschistischen Schriftsteller eine kämpferische, eine aus den politischen und sozialen Forderungen der Gegenwart entsprungene ist. Noch deutlicher ist dies sichtbar, wenn die historischen Romane der Antifaschisten auf die Pe­ riode der großen Bauernaufstände zurückgreifen. Und diese Gegenwartsnähe, Gegenwartsbedingtheit der historischen Thematik ließe sich auch an einer ganzen Reihe von scheinbar entlegeneren Themen nachweisen. Wenn Hein­ rich Mann den Kampf um die Konstituierung der französischen Nation h isto­ risch darstellt, so ist er in seiner Thematik ebenso deutsch und ebenso aktuell, wie es zu seiner Zeit Schiller mit seiner »Jungfrau von Orleans « gewesen ist. Bei einzelnen historischen Romanen der deutschen Antifaschisten ist sogar die ganze geschichtliche Thematik nur eine dünne Hülle, durch die der sati­ risch tödlich getroffene Hitlerfaschismus für jeden Leser sofort sichtbar wer­ den muß (»Der falsche Nero «). Schon diese ganz allgemeine Charakteristik der Themen des deutschen anti­ faschistischen historischen Romans zeigt einen scharfen Gegensatz zu der von uns im früheren Kapitel behandelten Periode. Die dort vorwaltende Haupt­ krankheit des historischen Romans, die Beziehungslosigkeit der historischen Vergangenheit zur Gegenwart, scheint hier überwunden zu sein. Zwar wird auch hier die Vergangenheit mit der Gegenwart kontrastiert, aber es handelt sich dabei nicht mehr um eine dekorative G egenüberstellung des male­ risch Poetischen und des grau Prosaischen. Der Gegensatz bezweckt hier vielmehr etwas Politisch-Soziales : aus der Erkenntnis der großen Kämpfe der Vergangenheit, aus der Bekanntschaft mit den großen Vorkämpfern des Fortschritts in vergangenen Zeiten sollen den Menschen der Gegenwart, inmitten der wüsten Schrecken des faschistischen Lebens, durch Aufzeigung des Weges, den die Menschheit gegangen ist und weitergehen muß, Mut und Trost im Kampfe gespendet, Ziele und I deale für diesen Kampf gegeben werden. Es ist auffallend, freilich nid1t zufällig, daß in der Thematik des deutschen antifaschistischen Humanismus die deutsche Geschichte eine untergeordnete Rolle spielt. Unter den Motiven, die hierzu geführt haben, hat der betonte Internationalismus der antifaschistischen Schriftsteller eine ausschlaggebende Bedeutung. Die Romane Feuchtwangers haben gerade diesen K ampf von

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

331

engem Nationalismus und kämpferischem Internationalismus zum Haupt­ thema. Heinrich Manns Internationalismus hat ebenfalls alte , aber tiefer und organischer in der Entwicklung Deutschlands selbst liegende Wurzeln. Hein­ rich Mann hat als Essayist und Publizist immer wieder auf den Kontrast der politischen Entwicklung Frankre ichs und Deutschlands hingewiesen und immer wieder die demokratischere Entwicklung Frankreichs dem progressi­ ven Bürgertum Deutschlands als Vorbild hingestellt. Darin offenbaren sich - Heinrich Mann vielleicht unbewußt - alte demokratische Traditionen der deutschen Geschichte. Von Börne und Heine angefangen bis zu den » Deutsch-Französischen Jahrbüchern « war dieser Kontrast einer der ideo­ logischen Zentralpunkte im Kampf um die Sammlung der demokratischen Kräfte Deutschlands von 1 8 4 8 . Und noch in der brieflichen Kritik an Franz Mehrings » Lessinglegende « weist Engels darauf hin, daß ein durchgehendes Gegenüberstellen der großzügigen politischen Entwicklungslinie der franzö­ sischen Geschichte mit der immer wieder abgebrochenen, im Sumpf stecken­ gebliebenen, kleinlid1en deutschen Geschichte außerordentlich aktuell und lehrreich sei. Der Roman »Henri IV. « Heinrich Manns ist im Lebenswerk des Autors eine Fortsetzung seiner publizistischen Propaganda der Popularisie­ rung der französischen Demokratie für die deutsche Intelligenz ; in der Ge­ schichte der deutschen revolutionären Demokratie ist dieser Roman eine zeit­ gemäße Erneuerung der großen ideologischen Kämpfe der dreißiger und vier­ ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Aber selbstverständlich ist dies nicht das alleinige Motiv. Eine große Rolle spielt die Armut der deutschen Geschichte an wirklich bedeutenden demo­ kratisch-revolutionären Ereignissen. Und diese Armut wirkt sich bei den heutigen antifaschistischen Schriftstellern mit doppelter Stärke darum aus, weil sie eine monumentale, sofort aus den großen Linien der Entwicklung verständliche, allnationale Wirkung erstreben. Sie fühlen sich deshalb zu sol­ chen Themen hingezogen, in denen der Kampf um die humanistischen Ideale sich in einer monumental zusammengefaßten, großzügigen Weise äußert. Diese Tendenz begegnet sich mit der Absicht, in der Geschichte abschrek­ kende Gegenbilder der Hitlerherrschaft zu entdecken und pathetisch oder satirisch zu entlarven. Nicht nur Feuchtwangers Neroroman entspricht diesen Tendenzen ; auch in der Gestalt des Herzogs von Guise bei Heinrich Mann sind sehr deutlich solche Absichten sichtbar. Das sind wichtige positive Züge. Die Entfremdung des historischen Romans vom Leben der Gegenwart wird durch solche Tendenzen wirksam aufgehoben. Es wäre aber oberflächlich, den Übergangscharakter dieser Literatur nicht zu

332

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

sehen : wir haben in den vorangegangenen Bemerkungen den Weg auf­ gezeigt, den die besten deutschen Schriftsteller von einem oft sehr zaghaften Liberalismus in der Weimarer Zeit bis zu· ihrem heutigen revolutionären Demokratismus zurückgelegt haben. Es ist klar, daß sich in der Literatur nicht nur das bereits Erreichte, das Endresultat widerspiegelt ; sondern immer zu­ gleich der Weg, mit allen seinen sehr komplizierten Schwankungen, Rück­ fällen, Ungleichmäßigkeiten schriftstellerisch zum Ausdruck kommt. Dabei muß noch besonders betont werden, daß das vollständige Zurücklegen dieses Weges weltanschaulich-schriftstellerisch notwendig langsamer erfolgt als unmittelbar politisch. Die großen Ereignisse unserer Zeit verlangen von den Schriftstellern mit dramatischer Plötzlichkeit sofortige Stellungnahmen, und viele gerade der bedeutendsten unter ihnen wachsen sehr rasch infolge der außerordentlichen Verantwortung, die auf ihnen liegt, infolge der außer­ ordentlichen Anforderungen, die der Tag an sie stellt. Und es ist unvermeid­ lich, daß diese Entwicklung ungleichmäßig erfolgt. Ein Schritt vorwärts in dieser Richtung zur revolutionären Demokratie kann unmöglich sofort und mit einem Schlag die Revision sämtlicher philosophischen und ästhetischen Anschauungen mit sich bringen, die mit der eben politisch überwundenen Stufe bei einem Schriftsteller verbunden waren. Dazu kommt noch, daß so bedeutende Werke wie die historischen Romane der antifaschistischen Schrift­ steller unmöglich von einem Tag zum anderen entstehen können. Sie tragen also vielfach in ihrer ursprünglichen Konzeption noch die Merkmale von Entwicklungsphasen an sich, die die Schriftsteller selbst bereits überwunden haben, und der adäquate Ausdruck der letzten Entwicklungsstufen gerade der bedeutendsten und fortschrittlichsten antifas chistischen Schriftsteller kann sich erst in ihren kommenden Werken zeigen. (Wir werden diese verschiede­ nen Entwicklungsstufen später bei dem Vergleich des ersten und zweiten Bandes von Feuchtwangers Josephusroman ausführlich untersuchen.) Dieser Übergangscharakter drückt sich in den historischen Romanen vor allem darin aus, daß der revolutionäre Demokratismus vielfach mehr Forde­ rung geblieben als konkrete Gestaltung geworden ist. Es ist eine Sehnsucht nach inniger Verbundenheit mit dem Volk vorh anden, eine Anerkennung der Bedeutung des Volkes in politischer, des Volkslebens in gestalterischer Hin­ sicht, aber noch nicht die konkrete Gestaltung des Volkslebens selbst als der Grundlage der Geschichte. Wir werden uns mit dieser Frage anläßlich der Analyse der einzelnen bedeutenden historischen Romane dieser Periode ein­ gehend beschäftigen. Hier muß nur kurz darauf hingewiesen werden, daß dieser Übergangscharakter, diese gestalterisch-schriftstellerisch noch unvoll-

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

333

kommene Überwindung der Volksfremdheit der modernen bürgerlichen Lite­ ratur tief auf die künstlerische Eigenheit dieser Werke einwirkt. Hier ist der Punkt, wo die literarischen Kompositionsprinzipien der bürger­ lichen Dekadenz in die Werke auch der bedeutenden Antifaschisten eindrin­ gen, beziehungsweise in ihnen noch weiter wirksam bleiben. Wir heben nur einen - unserer Ansicht nach freilich ausschlaggebenden - Punkt hervor : nämlich die Kühnheit der schriftstellerischen Erfindungsgabe , die Fähigkeit, mit historischen Tatsachen, Charakteren und Situationen frei walten zu kön­ nen, ohne sich dabei von der historischen Wahrheit zu entfernen, ja gerade um die spezifischen Züge, die besonderen Charakteristika einer historischen Epoche energisch hervorzuheben. Die innige Vertrautheit mit dem Leben des Volkes ist die seinsmäßige Voraussetzung einer wirklichen schriftstellerischen Erfindungsgabe. In der späteren bürgerlichen Literatur spiegelt sich die Volks­ fremdheit der Schriftsteller, wie wir bereits gesehen haben, einerseits darin, daß sie ängstlich an den vom zeitgenössischen (oder historischen) Leben real überlieferten Tatsachen kleben, andererseits darin, daß sie in der dichterischen Erfindungsgabe nicht die höchste schriftstellerische Form der richtigen Wider­ spiegelung der objektiven Wirklichkeit erblicken, sondern etwas rein Subjek­ tives, das sie von der einzigen Wahrheit des Tatsächlichen willkürlich ent­ fernt. (Es ist für unsere jetzigen Betrachtungen gleichgültig, ob die einzelnen Schriftsteller oder Richtungen diese subjektiviert aufgefaßte Phantasie be­ j ahen oder verneinen.) Das so entstehende falsche Dilemma faßt Alfred Döblin in einer Abhand­ lung über den historischen Roman sehr plastisch zusammen : »Der heutige Roman, nicht nur der historische, unterliegt zwei Strömungen, einer von der Märchenseite her, der anderen von der Berichtseite her. Das sind Strömun­ gen, die nicht aus der Luft einer Ksthetik fließen, sondern aus der Realität unseres Lebens stammen. Wir tragen mehr oder weniger die Neigung zu beiden Strömungen in uns. Aber wir täuschen uns nicht , wenn wir sagen : die aktiven fortschreitenden Schichten drängen heute nach der Berichtseite, die nichtaktiven beruhigten und gesättigten nach der Märchenseite.« Auf dieser Grundlage formuliert Döblin das Dilemma des heutigen Romans und mit ihm des historischen wie folgt : »Der Roman steht im Kampf der beiden Ten­ denzen : Märchengebilde mit einem Maximu m an Verarbeitung und einem Minimum an Material und - Romangebilde mit einem Maximum an Mate­ rial und einem Minimum an Bearbeitung. « Diese Betrachtungen Döblins sind - einerlei, o b man mit seinen Ausführun­ gen einverstanden ist oder nicht - von großer typischer Bedeutung für die

3 34

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

gegenwärtige Lage des historischen Romans. Döblins Bestreben ist es, theo­ retisch die Scheidewand zwischen historischem Roman und Leben niederzu­ reißen. Von diesem Standpunkt aus bekämpft er mit Recht die dekadent­ bürgerliche Theorie vom historischen Roman als eigenem Genre : »Es besteht nämlich kein prinzipieller Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem historischen Roman«, und er kritisiert, ebenfalls mit vollem Recht, die heute modische historische Belletristik, die »nicht Fisch noch Fleisch« ist. Er sagt über den Verfasser solcher Werke : » Nicht leistet er ein sauber dokumen­ tiertes Geschichtsbild, und nicht leistet er einen historischen Roman. Gegen diese Vermantschung und gleichzeitige Verramschung von Geschichtsstoffen wendet sich natürlich der Geschmack.« Damit wäre für Döblin die Möglichkeit gegeben, zu einer wirklichen Theorie des historischen Romans durchzudringen. Was ihn daran hindert, ist die moderne falsche und subjektivistische Auffassung vom Wesen und der Funk­ tion der dichterischen Phantasie. Er wendet sich mit Recht gegen die vielen Verfälschungen der Geschichte durch die Schriftsteller, er plädiert mit Recht für eine echte und wahrheitsgemäße Auffassung der Geschichte. Aber nach Döblins Auffassung wird gerade mit dieser Ehrlichkeit, mit diesem Bestreben, die Wirklichkeit wahrheitsgemäß wiederzugeben, der Boden der Dichtung im traditionellen Sinne verlassen. » Im Augenblick, wo der Roman die genannte neue Funktion einer speziellen Wirklichkeitsentdeckung und -darstellung er­ langt hat, ist der Autor schwer Dichter oder Schriftsteller zu nennen, sondern er ist eine besondere Art Wissenschaftler.« Diese Wissenschaft ist jedoch auf die Feststellung der Tatsachen beschränkt. Döbli.n entfernt die Phantasie, die Erfindungsgabe als rein subjektiv nicht nur aus der Dichtung , sondern auch aus der Wissenschaft. »Blicken wir also auf die Geschichtsschreibung, so stellen wir fest : ehrlich ist nur Chronologie. Bei der Aufreihung der Daten fängt schon das Manöver an. Un d klar herausgesagt: mit Geschichte will man etwas.4r Bevor wir auf diesen letzteren, außerordentlich wichtigen Ausspruch Döblins näher eingehen, müssen wir nur kurz aufzeigen, wie er aus dieser Theorie für die Literatur alle Konsequenzen zieht. Er sagt über die Lage des heutigen Romans : » Er vermag nicht mit der Photographie und den Zeitungen zu konkurrieren. Seine technischen Mittel reichen nicht aus . « Hier verfällt Döb­ lin in das weitverbreitete naturalistische Vorurteil, die Photographie (und die Zeitung !) für wirklichkeitstreuer anzusehen als die tiefe bildnerische Ge­ staltung der Wirklichkeit. Wichtiger indessen ist die Theorie, die die Treue gegenüber den Tatsachen der Aktivität im gesellschaftlichen Kampf sd1roff gegenüberstellt. Döblin ist

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

335

selbst ein viel zu aktiver Schriftsteller und verbindet viel zuviel kämpfe­ rische Absichten mit seiner eigenen Literatur, als daß er sich mit einer solchen Feststellung beruhigen könnte. Er selbst spricht von der »Parteilichkeit des Tätigen «, und zwar in einem bej ahenden Sinn. Wie ist dies mit seiner Theo­ rie und Praxis zu vereinen ? Mit der Praxis insofern, als die Schriftsteller, die aktiv wirken wollen, in Fällen des praktischen Hervortretens ihre theo­ retischen Vorurteile einfach beiseite schieben. Damit wäre die Frage im we­ sentlichen gelöst, wenn es ihnen wirklich gelingen würde und gelingen könnte, diese Vorurteile einfach links liegenzulassen. Dann käme es sehr wenig dar­ auf an, was für eine Theorie von ihnen nebenbei, in theoretischen Artikeln verkündet wird. Leider ist der Fall nicht so einfach. Denn das, was Döblin hier erkenntnis­ theoretisd1 über die B eziehung von Wissenschaft und Kunst zur Wirklichkeit erzählt, ist keine ausgeklügelte Theorie, sondern ein ziemlich treues Spiegel­ bild des allgemeinen Lebensgefühls der meisten Schriftsteller aus der hinter uns liegenden Periode. Wahrheitsgemäß treue Auffassung der Wirklichkeit und aktives Eingreifen in die Ereignisse bilden tatsächlich für die modernen Schriftsteller ein unlösbares Dilemma. Wodurch wird nun dieses Dilemma gelöst? Ohne Frage durch das Leben selbst, durch die Verbundenheit mit dem Leben des Volkes . Der Schriftsteller, der mit den wirksamen Tendenzen des Volkslebens innig vertraut ist, sie gewissermaßen am eigenen Leibe mit­ erlebt, fühlt sich selbst nur als durchführendes Organ dieser Tendenzen ; seine Wiedergabe der Wirklichkeit erscheint in seinen eigenen Augen nur als eine Reproduktion dieser Tendenzen selbst, auch dann, wenn er keine einzige Tatsache aus der Wirklichkeit so wiedergibt, wie sie sich ihm unmittelbar darbietet. »Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär«, sagt Balzac. Die Objektivität des großen Schriftstellers ist die objektive und zugleich lebendige Verbundenheit mit den großen Tendenzen der geschichtlichen Ent­ wicklung selbst. Und die »Parteilichkeit des Tätigen « ? Diese erwächst ebenso organisch aus dem Kampf der historischen Kräfte in der objektiven Wirk­ lichkeit der menschlichen Gesellschaft. Es ist ein moderner Fetischismus, zu glauben, daß die in der Geschichte wirksamen Tendenzen eine von den Men­ schen gänzlich unabhängige Gestalt, eine von ihnen völlig abgetrennte Ob­ jektivität besäßen. Sie sind, bei all ihrer Objektivität, bei aller Unabhängig­ keit ihrer Existenz vom menschlichen Bewußtsein , vielmehr nur die wirklich lebendigen Zusammenfassungen von menschlichen Bestrebungen, die aus den­ selben gesellschaftlich-ökonomischen Gründen entstehen und denselben

Der historische Roman des demokratischen H 11manismus gesellschaftlich-geschichtlichen Zielen zustreben. Für die Menschen, die mit dieser Wirklichkeit innig und lebendig verbunden sind, bilden richtige Er­ kenntnis und praktische Tätigkeit keinen Gegensatz, sondern eine Einheit. Mit Recht hat Lenin gegen Struve, der den bürgerlichen Begriff der toten »wissenschaftlichen Objektivität« in die revolutionäre Arbeiterbewegung hin­ einschmuggeln wollte, gesagt: »Andererseits schließt der Materialismus sozu­ sagen das Element der Parteilichkeit in sich ein, indem er verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen auf den Standpunkt einer gewissen gesellschaftlichen Gruppe zu treten. « Lenin spricht nur mit der wissenschaftlichen Klarheit des dialektischen Mate­ rialismus das aus, was alle bedeutenden Vertreter der revolutionären Demo­ kratie - mögen sie praktische Politiker, Dichter oder Denker gewesen sein in ihrer Praxis stets getan haben. Der Unterschied des Marxisten von dem nichtmarxistischen oder vormarxistischen revolutionären Demokraten besteht darin, daß diesem die sozialen und erkenntnistheoretischen Zusammenhänge, die der Einheit seiner Theorie und Praxis zugrunde liegen, nicht bewußt sind, daß er diese Einheit zumeist auf der Grundlage eines »falschen Bewußt­ seins«, oft von Illusionen erfüllt, vollzieht. Aber die Erfahrungen, vor allem der Literaturgeschichte, beweisen, daß , wenn der Schriftsteller tief im Volks­ leben wurzelt, wenn er aus dieser Vertrautheit mit den wichtigsten Fragen des Volkslebens heraus schafft, er auch mit einem » falschen Bewußtsein« zu den wirklichen Tiefen der historischen Wahrheit durchdringen kann. So Walter Scott, so Balzac, so Leo Tolstoi. Und die Objektivität der dichteri­ schen Phantasie, die mit dieser »Parteilichkeit des Tätigen « aufs innigste ver­ knüpft ist, beruht gerade darauf, daß in ihr, bei fortwährender Veränderung der »Tatsachen« des unmittelbar gegebenen Lebens, die großen objektiven Gesetzmäßigkeiten, die wirklich entscheidenden historischen Entwicklungs­ tendenzen zum Ausdruck gelangen. Der Übergangscharakter des humanistischen historischen Romans unserer Tage zeigt sich ferner in der relativen Zufälligkeit seiner Thematik. Wir haben früher die objektiven historischen Gründe, die diese Zufälligkeit ver­ ursacht haben, hervorgehoben, aber es ist eines, etwas als gesellschaftlich­ geschichtlich verursacht anzusehen, und ein anderes, in dieser Erscheinung den adäquaten Ausdruck einer historisch richtigen Strömung zu erblicken. G erade hier ist der Übergangscharakter zwar deutlich sichtb ar , er erscheint aber in sehr komplizierten Formen. Man muß sich davor hüten, die hier vorhandene Zufälligkeit der historischen Thematik mit der der vergangenen Periode zu verwechseln. Wir haben freilich gesehen, daß die von uns ausführlich zitierte

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

337

Theorie Feuchtwangers mit den Theorien der bürgerlidien Dekadenz von der Subjektivierung der Gesdiichte im engsten Zusammenhang steht; Feudit­ wanger beruft sich auch in dieser Schrift ausführlich und zustimmend auf Nietzsdie und Croce. Aber es wäre vollständig falsch, den zweifellos vor­ handenen historischen Subjektivismus Feuchtwangers mit dem Flauberts, Jacobsens oder Conrad Ferdinand Meyers gleidizusetzen. Es ist hier ein tief­ gehender Gegensatz des geschichtlich-politischen Inhalts vorhanden. Und die­ ser politische Inhalt wirkt sich dahin aus, daß Feuchtwanger im Laufe seiner Entwicklung in wachsendem Maße eine organische Thematik erstrebt und sich ihr fortschreitend nähert. Seine ersten historischen Romane entsprechen, wie wir später sehen werden, noch weitgehend seiner »Kostüm-Theorie« in bezug auf die Geschichte. Schon das Josephus-Flavius-Thema bedeutet aber einen unvergleichlich höheren Grad der historischen Objektivität : der Kampf von Nationalismus und Internationalismus mag in der konkreten Darstellung Feuchtwangers stellenweise sehr modernisiert sein, der Gegensatz selbst liegt aber doch im historischen Stoffe selbst und ist von Feuditwanger - gegen seine Theorie - doch mehr aus diesem herausentwickelt als subjektivistisch in ihn hineingetragen. Hier ist der scharfe Gegensatz des historischen Romans der Humanisten unserer Tage zu dem historischen Roman der Niedergangs­ periode der Bourgeoisie klar sichtbar. Damit ist aber die Zufälligkeit der Thematik noch lange nicht vollständig überwunden. Wir haben bereits davon gesprochen, daß der antifaschistische Roman nur sehr selten die deutsche Gesdiidite zu seinem Gegenstande er­ wählt. D arin liegt aber ohne Zweifel eine Schwäche des antifaschistischen Kampfes selbst. Dimitroff hat mit großem Recht auf die außerordentlidie politisd1e und propagandistische Bedeutung der Verfälschung der deutschen Geschichte durch die Faschisten hingewiesen. Die Schwäche der linken oppo­ sitionellen Bewegungen in Deutschland bestand schon lange darin, daß sie zu den großen nationalen Problemen der deutschen Geschichte eine abstrakte, abstrakt verneinende Haltung eingenommen haben. Dies zeigte sich bereits in dem Verhalten von bedeutenden Revolutionären wie Johann Jacobi und Wilhelm Liebknecht zu der nationalen Seite der Kriege Bismarcks, die immer­ hin die Herstellung der deutschen Einheit zustande gebracht haben. Es ent­ stand in der deutschen Arbeiterbewegung die für die spätere Entwicklung verhängnisvolle Lage, daß die richtigen Stellungnahmen von Marx und Engels so gut wie unbekannt geblieben sind und in den breiten Massen ein er­ seits die ideologische Kapitulation vor den Erfolgen der »Realpolitik« Bis­ marcks (Lassalle und Schweitzer) , andererseits die abstrakten, provinziell-

Der historische Roman des demokratischen Humanismus moralisierenden Oppositionstheorien Liebknechts verbreitet worden sind. Und die späteren Oppositionsbewegungen gegen Imperialismus, Chauvinis­ mus, Reaktion usw. in Deutschland kranken fast überall an einer solchen abstrakt-moralisierenden Einseitigkeit, an einer Abneigung , konkret auf die Probleme der deutschen Geschichte einzugehen und die Propaganda der Reaktion auf diesem Gebiet mit den Waffen einer wahrhaft patriotischen Ideologie historisch wie dichterisch zu bekämpfen. Es bleibt ein unvergäng­ liches Verdienst Franz Mehrings, daß er, fast als einziger, diesen Kampf konkret und energisch aufgenommen hat. Die Erfahrungen des Kampfes gegen den Faschismus müssen hier zu einer Kritik an der eigenen früheren Praxis der demokratischen Linken führen. (Die Kommunistische Partei Deutschlands, in der die Luxemburgschen Tra­ ditionen auch in der nationalen Frage während der Weimarer Zeit sehr lange lebendig geblieben sind, ist selbstverständlich an dieser Lage ebenfalls mit­ schuldig.) Die Aufgabe, die dabei entsteht, ist nicht nur die, die faschistischen Geschichtsfälschungen zu entlarven, sondern, weit darüber hinaus, die Tra­ ditionen der revolutionären Demokratie in Deutschland wissenschaftlich und dichterisch wiederherzustellen und den Nachweis zu führen, daß die Ideen der revolutionären Demokratie nicht ein »Import« aus dem Westen gewesen sind, sondern aus den Klassenkämpfen Deutschlands herauswuchsen, daß die Größe gerade der größten Deutschen mit dem Schicksal dieser Ideen stets aufs innigste verknüpft gewesen ist. Es ist also die große Aufgabe des anti­ faschistischen Schrifttums, die I deen der revolutionären Demokratie, die Ideen des kämpferischen Humanismus dem deutschen Volke nahezubringen, gerade indem man sie als notwendige und org � nische Produkte der deutschen Entwicklung selbst darstellt. Es ist klar , daß gerade der historische Roman in einem solchen antifaschistischen Kampf eine ungeheure Rolle spielen kann und sicherlich noch spielen wird. Es ist aber ebenso klar, daß er bis jetzt diese Bedeutung noch nicht erlangt hat. Freilich widersprechen die schriftstellerischen Traditionen Deutschlands einer solchen Fragestellung. Es ist auffallend, eine wie geringe Rolle die deutsche historische Thematik in der sonst sehr bedeutenden historischen Dichtung Deutschlands (speziell im Drama) spielt. Es darf aber nicht vergessen werden, daß man die Lage eines Schiller oder Georg Büchner unter gar keinen Um­ ständen mit der eines heutigen antifaschistischen Emigranten vergleichen kann und darf. Damals gab es lebendige Massenbewegungen nur im Ausland. Es war also verständlich und richtig, daß dem deutschen Publikum diese fremde Thematik mit ihrem dem heimatlichen verwandten Problem entgegen-

Humanistische Protestliteratur in der imperialistischen Periode

3 39

gehalten wurde. Heute aber ist die antifaschistische Emigration die weithin klingende Stimme des Befreiungskampfes von Millionen deutscher Werk­ tätiger. Und diesem lebendigen Kampf entsprechend ist nun tatsächlich die revolutionäre oder reaktionäre Gestaltung und Propagierung der deutschen Geschichte ein hie Rhodos, hie salta. Mit der Eroberung der deutschen Geschichte erobert die deutsche revolu­ tionäre Demokratie die Konkretheit ihres nationalen Charakters, ihrer na­ tionalen Führerrolle. Es ist die große Aufgabe des Tages, wissenschaftlich und dichterisch nachzuweisen, daß die revolutionäre Demokratie der einzige Weg zur Rettung Deutsd1lands ist. Aber um dies den breitesten Massen ver­ ständlich zu machen, muß gerade die faschistische demagogische Theorie von dem »Westlichen Importcharakter« der progressiven und revolutionären Ideen in Deutschland durch positive Leistungen zertrümmert werden. Man gestatte uns ein Beispiel. Dem inneren Wesen nach ist das zentrale Problem des Feuchtwangerschen Josephus-Flavius-Romans ein sehr wesent­ liches deutsches Problem. Der Kampf zwischen den Aufgaben von Nationa­ lismus und Internationalismus spielt in der konkreten deutschen Geschichte eine ungeheure Rolle, nicht erst seit der Entstehung der revolutionären Arbei­ terbewegung. Schon die Französische Revolution hat die tragische Kollision in dieser Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Man denke nur an Georg For­ ster und die Mainzer Jakobiner. Aber wer die damalige Geschichte Deutsch­ lands kennt, weiß, daß das Schicksal Forsters zwar nur eine extreme, aber auch eine gerade in ihrer Extremheit typische Zuspitzung einer in dieser Periode allgemeinen tragischen Kollision gewesen ist. Und der wirklich lebendige , reiche und konkrete Zugang zu den menschlichen Typen und zu der zugleich gesellschaftlich-politischen Bedeutung des Josephus-Flavius­ Problems geht gerade durch die Vermittlung solcher Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge sind aber den breiten Massen Deutschlands, auch der deut­ schen Intelligenz, so gut wie vollständig unbekannt. Es ist darum unver­ meidlich, daß so wichtige Gestaltungen wie dieser Roman Feuchtwangers zwar menschlich ergreifen, zwar sehr tiefe aktuell-politische Probleme auf­ rühren, aber in nationaler, in national-historischer Hinsicht in der Luft schweben bleiben. Jener unmittelbare und sofort erfaßbare Zusammenhang mit dem nationalen Leben der Gegenwart, der bei Scott oder Balzac oder Tolstoi vorhanden war, fehlt und muß unter diesen Umständen fehlen. Und durch diesen Mangel bietet die antifaschistische Emigration der nationalen Demagogie des Faschismus eine unverteidigte Flanke dar. Ein drittes Moment, das den Übergangscharakter des antifaschistischen histo-

Der historische Roman des demokratischen H umanismtes rischen Romans beleuchtet, ist sein Streben nach historischer Monumentalität. Auch dieser Roman geht von den großen Geschichtshelden aus und läßt diese nicht, wie der klassische Typus des historischen Romans, aus dem konkreten historischen Boden des Volkslebens heraus wachsen. Auch hier ist freilich, bei scheinbarer Ahnlichkeit mit der vorangegangenen Periode des historischen Romans, der Unterschied zu unterstreichen. Dieses Streben zur Monumen­ talität ist, wie betont wurde, nicht dekorativ-malerisch. Es entspringt aus den kämpferisch-aufklärerischen Traditionen der bedeutenden Humanisten unserer Tage. Sie machen sich und ihren Lesern die großen Kämpfe der Ge­ schichte dadurch verständlich, daß sie sie auf den Kampf von Vernunft und Unvernunft, von Fortschritt und Reaktion reduzieren. Wir wiederholen : in diesem energischen und kämpferischen Wiederaufnehmen der Verteidigung der Traditionen des menschlichen Fortschritts , ihrer Verteidigung im Zeit­ alter der Renaissance und der Aufklärung, entsteht eine wichtige Wendung in der Geschichte der Literatur. Es ist nach der unfruchtbaren Skepsis, nach dem erbitterten oder später sogar behaglich resignierten Sich-Abfinden mit der kapitalistischen Wirklichkeit, also nach der literarischen Dekadenz der erste Kampfruf zur Verteidigung der menschlichen Kultur. Aber durch die allzu rasche, allzu abstrakte Verflüchtigung der konkreten geschichtlid1en Klassenkämpfe in Probleme des Gegensatzes von Vernunft und Unvernunft geht wiederum vieles von der Verbundenheit mit dem wirk­ lichen Volksleben verloren. Die lebendige Bedeutung solcher großen abstrak­ ten Zusammenfassungen, wie es die Theorien der großen Aufklärer gewesen sind, beruht gerade darauf, daß sie Zusammenfassungen wirklicher Probleme, wirklicher Leiden und Hoffnungen des Volkes waren, daß sie jederzeit aus dieser abstrakten Form in die konkrete Sprache konkreter, d. h. gesellschaft­ lich-geschichtlicher Probleme rückübersetzt werden konnten, daß sie den Zu­ sammenhang mit diesen Problemen nie verloren haben. Dem Inhalte, der Tendenz nach ist dieser Zusammenhang in der Literatur der antifaschistischen Emigration zweifellos vorhanden. Jedoch die Zuspitzung auf diesen abstrak­ ten Kampf abstrakter Prinzipien bringt in der konkreten Darstellung zu­ weilen eine Entfernung vom Leben mit sich, die zu einem Verwischen der wirklichen Gegensätze, ja sogar mitunter zu einer Verzerrung der vom Ver­ fasser selbst heiß ersehnten Ziele führt. So formuliert Feuchtwanger in seiner Abhandlung über den historischen Roman diesen Gegensatz in einer geradezu gefährlichen Weise, so daß in dieser Formulierung, ganz anders als in seiner Produktion, ein volksfremder, aristokratischer Sinn zum Ausdruck kommt. » Sowohl der Historiker wie der Romandichter sieht in der Geschichte den

Humanistische Protestliteratur in de r imperialistischen Pe riode

Kampf einer winzigen , urteilsfähigen und zum Urteil entschlossenen Minori­ tät gegen die ungeheure, kompakte Majorität der >B lindenDie Götter dürstenIch selber habe zu Anfang des Krieges seine Ursachen nicht besser gekannt als Sie (Josephus, G. L.), vielleicht auch habe ich sie nicht besser kennen wollen . . . Es ging damals . . . nicht um Jahve und nicht um Jupiter : es ging um den Preis des Ols, des Weins, des Korns und der Feigen. Hätte Eure Tempel­ aristokratie< , wandte er sich mit freundlicher Belehrung an Joseph, >nicht so gemeine Steuern auf unsere mageren Produkte gelegt und hätte Ihre Regie­ rung in Romuns nicht so niederträchtige Zölle und Abgaben aufgebrummt, dann wären Jahve und Jupiter noch lange ausgezeichnet miteinander ausgekommen . . . Lassen Sie mich, einen einfachen B auern, Ihnen sagen : Ihr Buch mag ein Kunstwerk sein, aber wenn man es gelesen hat, weiß man über das Warum und Wieso des Krieges kein Deut mehr als vorher. Das Wichtigste haben Sie nämlich leider ausgelassen.du bist nichts weiter, Prinz, als was das gute Volk aus dir gemacht hat. Des­ wegen kannst du dennoch höher sein, denn das Geschaffene ist manchmal höher als der Künstler. Weh aber dir, wenn du ein Tyrann würdest ! < « Leider bleibt aber diese richtige Erkenntnis auch bei Heinrich Mann nur Erkenntnis und hat keinen entscheidenden Einfluß auf die Handlungsführung und Kom­ position seines Romans. Er empfindet am tiefsten von allen heute lebenden Schriftstellern diesen Zusammenhang und die Notwendigkeit seiner Gestal­ tung. Er gibt dementsprechend seinem Henri 1v. die nationalen Züge des französischen Volkes und gestaltet diese in einer dichterisch hinreißenden Weise. In allen Szenen, in denen sein Held mit dem Volk in Berührung kommt, kommt auch das populäre Wesen dieser Gestalt in einer einfachen und künstlerisch überzeugenden Weise zum Vorschein. Aber diese Teile des Romans sind doch die knappsten, die am meisten bloß referierenden, am we­ nigsten handlungsmäßig gestalteten. Dies ist an sich natürlich das gute Recht eines jeden Epikers. Keine wirkliche Erzählung wäre möglich ohne solche referierenden Zusammenfassungen nicht entscheidender Zeitspannen oder minder wichtiger Begebenheiten. Nur ist es stets charakteristisch und aus­ schlaggebend, was zum Gegenstand der ausführlichen Erzählung und was zu dem des abgekürzten Referates wird. Jedoch auch bei Heinrich Mann

Die biographische Form und ihre Problematik fällt die Rolle der Beziehung zum Volk nur allzuoft in die Rubrik der bloßen Referate , und selbst dort, wo sie wirklich erzählt wird, bleibt sie zu­ meist episodisch. Man nehme ein Beispiel aus der ersten Jugend Henris. Hein­ rich Mann faßt zusammen : » Er schlief mit seinen Leuten im Heu, wenn es gerade so kam, zog auch die Kleider nicht aus, wusch sich nicht viel öfter als sie, roch und fluchte wie sie. « Dann kommen die Beziehungen zu Conde, zu Coligny in ausgeprägt gestalteter Weise, obwohl gerade Mann sehr gut weiß, daß die vorhandenen volkstümlichen Züge der Hauptgestalt sich wirk­ lich ausleben. Denn das Volk, seine Lei den und Freuden, seine eigenen spon­ tanen und bewußten Bestrebungen können infolge der biographischen Form nur insofern gestaltet werden, als sie direkt mit der Person Henris IV . in B eziehung stehen. Von den Volksströmungen, die auf ihn zustreben, die ihn auf diese Höhe heben, die seinen endgültigen Sieg in gefährlichen Lagen er­ möglichen, kann also nur sehr wenig dichterisch gestaltet werden. Zu wenig, um diesen Sieg aus dem Leben des französischen Volkes heraus zu erklären. Die Basis der Erklärung, die biographisch-psychologische Darstellung des Helden ist aber, so schön sie an sich sein mag , doch zu schmal und schwach, um diesen dichterischen Beweis überzeugend führen zu können. Khnlich steht es um die Josephus-Flavius-Romane Feuchtwangers. In den Gesprächen, die Josephus insbesondere mit Justus von Tiberias führt, tau­ chen oft kluge und richtige Reflexionen über diese Beziehung auf. Wenn aber Josephus mit sehr kompromißlerischen Vorstellungen in das revolutionär gärende Jerusalem kommt und sich dort an die Spitze des entschieden natio­ nalistischen Flügels schwingt, so stellt sich Feuchtwanger eine Aufgabe, die mit den Mitteln der biographischen Methode in überzeugender Weise, ohne tiefe menschliche Herabsetzung seines Helden, nicht lösbar ist. Denn stellen wir uns die Gestaltung dieser Episode in der klassischen Weise vor. Wir würden anhand der Schicksale lebendig gestalteter Menschen eine breite Schilderung darüber erhalten, wie sich das jüdische Volk in verschiedene Parteien und Strömungen differenziert. Wir würden die menschlich und poli­ tisch hinreißende Wirkung des entschlossenen nationalen Widerstandes er­ leben, und aus der Wechselwirkung mit diesem bewegten Strom des Volks­ lebens könnte uns die Verwandlung von Josephus menschlich wie politisch vollständig begreiflich gemacht werden. Feuchtwanger gestaltet aber, wie wir gezeigt haben, dieses Volksleben nur in sehr abstrakt-allgemeiner Weise. Der in Jerusalem angekommene Josephus kommt nur mit den Vertretern der konservativen Tempelaristokratie in eine solche Berührung, die uns in kon­ kret menschlicher Weise gezeigt wird. Dadurch erhält sein Umfall den unange-

Der historische Roman des demokratischen Humanismus nehmen Beigeschmack der Handlung eines enttäuschten Strebers. Und Ahn­ liches finden wir in den anderen Lebenskrisen desselben Helden. Die Verteidiger der gegenwärtigen biographischen Form des historischen Romans werden uns hier vielleicht entgegenhalten, daß aus dem Leben dieser Gestalten tatsächlich nur diese Züge historisch überliefert seien, daß wir über die Figuren des Volkslebens zu wenig wüßten, um sie lebendig gestalten zu können. Ein solcher Einwand ist aber nicht stichhaltig. Für eine Zeit, über deren Volksleben wir gar nichts wissen, gilt der Einwand Sainte-Beuves gegen Flauberts »Salammb&«, daß eine solche Periode für uns dichterisch nicht wirklich lebendig gemacht werden kann. Aber die große Aufgabe des historischen Romans besteht gerade in der dichterischen Erfindung solcher Gestalten aus dem Volke , die dessen inneres Leben, die in ihm waltenden wichtigen Strömungen lebendig verkörpern. Es ist selbstverständlich, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung im all­ gemeinen, als Wissenschaft der herrschenden Klassen, diese Momente des Volkslebens zumeist bewußt vernachlässigt, verschwiegen, oft sogar verleum­ derisch verzerrt hat. Der historische Roman, als starke künstlerische Waffe der Verteidigung des menschlichen Fortschritts, hat gerade hier eine große Aufgabe, diese wirklichen treibenden Kräfte der menschlichen Geschichte in ihrer Wirklichkeit wiederherzustellen, sie für die Gegenwart zum Leben zu erwecken. Das hat der klassische historische Roman getan. Der gegenwärtige historische Roman der antifaschistischen Humanisten stellt sich inhaltlich dieselbe Aufgabe. Auch er verteidigt die Prinzipien des menschlichen Fort­ schritts gegen ihre imperialistische Verleumdung und Verzerrung, gegen die faschistischen Versuche, sie zu vernichten. Aber er faßt heute diese Aufgabe noch zu abstrakt auf. Aus den Lebens­ bedingungen der hervorragenden Intellektuellen der imperialistischen Periode erwächst naturgemäß der Glaube, daß die in der Gesellschaft vereinsamte, zur Gesellschaft in Opposition stehende Intelligenz die wirkliche, die eigent­ liche Trägerin der Ideale des Humanismus sei. Aber so naturgemäß diese Überzeugung aus dem Boden dieser gesellschaftlichen Lage herauswächst, so sehr ist sie mit den liberalen Traditionen der Entfremdung vom Volk be­ lastet, durch sie verbogen und verzerrt. Die große Wendung, die diese Schriftsteller in den letzten Jahren vollzogen haben, hat s ie - in allererster Linie Heinrich Mann - weit über diese liberalen Traditionen der Volksent­ fremdung hin ausgeführt. In den gedanklichen Problemen , die sich in diesen historischen Romanen stellen, ist diese Wendung sehr deutlich sichtbar ; wie­ der am deutlichsten bei Heinrich Mann. Aber die künstlerische Konzeption

Die biographische Form und ihre Problematik der biographischen Methode im historischen Roman stammt bei ihnen einer­ seits noch aus Überresten der alten Auffassung von Fortschritt und Humanis­ mus und steht andererseits dem entgegen, daß ihr neues, revolutionär­ demokratisches Lebensgefühl sich mit voller Kraft in ihren Werken aus­ leben und adäquat zum Ausdruck kommen kann. In der biographischen Form drückt sich jenes Lebensgefühl aus, das den menschlichen Fortschritt ausschließlich oder vorwiegend auf ideellem Gebiet erblickt und als Träger dieses Fortschritts die mehr oder weniger isolierten großen Männer der Geschichte auffaßt. Dadurch entsteht die künstlerisd1 unlösbare Aufgabe der unmittelbaren Verknüpfung der detaillierten Dar­ stellung des Privatlebens eines Menschen mit der überzeugenden Gestaltung der Genesis großer, sogar zur » Zeitlosigkeit« vergrößerter I deen. Da wir es hier mit wichtigen Schriftstellern zu tun haben, bedarf es keiner ausführ­ lichen Analyse, um zu zeigen, daß diese Züge des privatmenschlichen Lebens sehr oft dichterisch echt und fein gestaltet werden. In dieser Hinsicht er­ reichen sowohl Bruno Franks » Cervantes« als auch die Romane Lion Feucht­ wangers eine nicht unbeträchtliche Höhe der menschlichen Wahrheit und psychologischen Tiefe. Wiederum muß auch hier die ganz besondere Bedeutung Heinrich Manns hervorgehoben werden. Schon in der Konzeption ; denn sein Henri IV. ist in viel stärkerem Maße als die Gestalten seiner Zeitgenossen ein konkreter Mensch, Sohn seines Landes und seiner Zeit. Sein Verwachsensein mit dem zeitgenössischen Volksleben ist, wie wir gezeigt haben, ebenfalls viel stärker. Infolge dieser stärkeren und lebendigeren Volkstümlichkeit ist bei Heinrich Mann eine wunderschöne Gestalt entstan den : voll von persönlichem Charme, von Ehrlichkeit, Mut, Intelligenz, Schlauheit, von der Fähigkeit, mit jedem Menschen in seiner Sprache zu sprechen, von theoretischer wie politischer Weit­ sicht, menschlicher Duldsamkeit und starkem Willen im Durchsetzen seiner großen Ziele. Und auch die Erziehung des leichtsinnigen und leichtlebigen Jünglings durch die harten Tatsachen des Lebens zu einem solchen Repräsen­ tanten der besten und volkstümlichsten Züge des französischen Volkes ist voll von echten dichterischen Schönheiten. Heinrich Mann gelingt es auch, diese Entwicklung nicht in einer lehrhaften und pedantischen Geradlinigkeit, son­ dern in der wirklichen psychologischen Kompliziertheit des Lebens zu ge­ stalten. Die sich aufwärtsbewegende Entwicklungslinie von Henri IV. geht sehr verschlungene Wege, enthält viele Zweifel, Verzweiflungen und Irrun­ gen. All dies bezeichnet einen wirklichen Gipfelpunkt der gegenwärtigen Literatur. Dabei muß noch ganz besonders hervorgehoben werden, daß es

390

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

Heinrich Mann hier gelungen ist, eine wirklich lebensvolle positive Gestalt zu schaffen, in der sich die besten menschlichen Eigenschaften jener Kämpfer konzentrieren, die seit Jahrhunderten die menschliche Kultur im Kampf gegen die Reaktion weitergeführt haben, die heute diese Kultur gegen die faschi­ stische Barbarei verteidigen. Aber Heinrich Manns Roman ist nicht bloß ein hinreißendes Porträt. Er stellt sich die Aufgabe, eine große historische Wendung in der Geschichte des französischen Volkes darzustellen . Di ese Wendung wird in der Geschichte durch den übertritt Henris IV. zum Katholizismus verkörpert, durch jene Periode der religiösen Toleranz, die die Generationen lange Periode der Bür­ gerkriege zwischen Hugenotten und Katholiken abgelöst hat und der Frank­ reich seinen außerordentlichen Aufschwung bis in die Zeit Ludwigs X I V . ver­ dankt. Diese Wendung kommt bei Heinrich Mann unvergleichlich schwächer zum Ausdruck als die Persönlichkeit von Henri I V . selbst. Das historisch Neue und Bedeutende an Henri IV. ist, daß er aufhört, bloß Führer einer Partei, der Hugenotten, zu sein, und mit Hilfe nicht nur der Hugenotten, sondern auch der anderen fortschrittlichen Elemente des Landes diese Festi­ gung der nationalen Einheit durch religiöse Toleranz erreicht. Diese große Wendung kommt aber in Manns Gestaltung zu kurz. Sie taucht info lge der ganzen Konzeption des Romans nur in einer biographisch-psychologischen Weise , in der Form von einsamen Reflexionen des Helden auf. Freilich wird sie biographisch vorbereitet. Henri trifft sich nach der Vergif­ tung der Mutter im geheimen mit Coligny. Der A dmiral sagt über Pari s : » >Man haßt uns, weil man d i e Religion haßtDahin hätte es niemals kommen dürfenwir alle sind Franzosen .< - Coligny antwortete : >Die einen aber erwarben sich den Himmel, die anderen die Verdammnis. Das soll be­ stehen bleiben - so wahr die Königin, Ihre Mutter, dieses Glaubens lebte und gestorben ist .< - Der Sohn der Königin Jeanne senkte die Stirn. Es gab nichts zu erwidern, sobald der große Mitstreiter seiner Mutter sie ins Feld führte. Die beiden, der Alte und die Tote, standen zusammen gegen ihn, sie waren Zeitgenossen und von der gleichen unerschütterlichen Festigkeit der Meinungen. « Die tiefe Fremdheit zwischen Henri u n d Coligny tritt hier stark hervor, um so mehr, als Heinrich Mann in der vorangegangenen Wirtshausszene seinem Henri ein lebendiges Bild vom Haß der Pariser gegeben hat. Aber auch hier muß sich der Gegensatz in das Gebiet der einsamen Reflexion flüchten, muß •

.

.

Die biographische Form und ihre Problematik

39 1

eine stumme Gedankenbegleitung bleiben für die von nun an sehr lebhaft, sehr breit erzählten Erlebnisse Henris am Hof. Und auch nach seiner Flucht vom Hof, auch zur Zeit seines offenen Kampfes bleiben sie einsame Refle­ xionen eines isolierten Genies, das - durch ein Wunder der Geschichte zum Führer seines Volkes wird. »Führer der Protestanten sollte er sein : das ist jetzt für ihn ein anderer , sein Vetter Conde, der früher da war. Der ist eifervoll, vorschnell und sieht nicht hinaus über den Krieg der Parteien. Dem Schwachkopf vertraut ihr, gute Leute von der Religion ! Der lebt noch immer in den Zeiten des Herrn Admiral. Begreift nicht, daß es dasselbe wäre, das Königreich aufzuteilen wegen der Religion, als wenn man es zerreißt, um des eigenen Vorteils willen, wie der Irrwisch. « D i e Zeiten des Admirals Coligny sind vorbei : das ist die große historische Wahrheit, die zu gestalten Heinrich Mann sich zur Aufgabe gemacht hat. Denn nur auf Grundlage dieser Wendung der Zeiten ist es möglich, daß die Gedanken von Henri IV. nicht die eines einsamen und exzentrischen Grüblers bleiben, sondern sich siegreich in den Bürgerkriegen durchsetzen und für eine längere Aufschwungsperiode zum Leitfaden der Geschichte Frankreichs wer­ den. Das Geheimnis seines Sieges liegt also, wie bei jedem historisch bedeut­ samen Menschen, darin, daß er das Drängen des Volkslebens zu einer histo­ rischen Wendung verstanden, bewußt gemacht und in Taten umgesetzt hat. Bei Heinrich Mann bleibt aber diese Wendung eine biographische Tatsache im Leben von Henri IV. Darum wirkt dessen Sieg lange nicht so überzeugend wie seine psychologische Entwicklung, wie seine Erziehung. Wir glauben nicht mehr ausführlich wiederholen zu müssen, daß der Grund für diese Schwäche des bedeutenden Romans eben darin liegt, daß der biographisch-psycholo­ gische Weg zu dieser Erkenntis viel zu schmal ist ; es kann nicht überzeugend wirken, wenn eine noch so tiefe und richtige Erkenntnis eines einsamen be­ deutenden Menschen alle Widerstände im eigenen und im feindlichen Lager überwindet. Der Sieg der I deen von Henri IV. könnte nur dann durchschlagkräftig wir­ ken , wenn wir von den verschiedensten Strömungen im französischen Volks­ leben durch lebendige Gestaltung von Menschenschicksalen, die mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger entschieden in diese Richtung drängen, erfahren hätten, wenn wir Henri IV. als den Führer dieser Strömungen dich­ terisch erleben würden. Das heißt, wenn uns der Unterschied zwischen der Periode Colignys und der Periode Heinrichs von Navarra als der zweier Entwicklungsstufen des Volkslebens schriftstellerisch gestaltet klargemacht worden wäre. Das geschieht nicht und kann notwendigerweise in der biogra-

392

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

phischen Form der Gestaltung nicht geschehen, so fein auch Heinrich Mann die bereits aufblitzenden Unterschiede des Temperaments, der spontanen Lebensanschauung zwischen Heinrich und seiner Mutter, zwischen ihm und dem Admiral psychologisch analysiert. Dabei ist diese Tendenz der französischen Entwicklung sogar in ihren Wider­ spiegelungen in den herrschenden Kreisen sichtbar. Aber bestimmte abstrakt­ humanistische Vorurteile machen Heinrich Mann diesen Tendenzen gegen­ über befangen. Er sieht nicht, daß die Einführung der religiösen Toleranz durch Henri IV. nur ein Schritt auf dem Wege der damals progressiven Er­ richtung des absoluten Königtums in Frankreich gewesen ist, daß seine Über­ windung der Periode Colignys eine Etappe im Kampf zwischen absolu­ tem Königtum und Feudalismus war. Dieser Kampf geht in Frankreich in einer sehr komplizierten, sehr ungleichmäßigen Weise vor sich. Es ist keine Frage, daß bei Catharina von Medici ebenfalls solche Probleme, solche Be­ strebungen aufgetaucht sind, daß sie objektiv in bestimmter Hinsicht zeit­ weilig Vorläuferin der Bestrebungen von Henri IV . gewesen ist. Wir meinen ? ie Periode, in der sie mit Hilfe des großen bürgerlichen Kanzlers L'Hospi­ tal die Hugenotten zur Brechung des Übergewichts der Guisen benützt hat, in der sie, gestützt auf L'Hospital und die Partei der »Politiker«, das Gleich­ gewicht der extremen religiösen Parteien zur Stärkung des französischen Absolutismus auszunutzen bestrebt war. Die historischen Ursachen , die zum Scheitern dieser Pläne Catharinas geführt haben, gehen über den Rahmen dieser Abhandlung hinaus. Wichtig ist für uns die Betonung der Tatsache, daß die Partei der » Politiker« und die Figur L'Hospitals bei Heinrich Mann voll­ ständig fehlen. Daß sie in der Biographie des Helden keinen Platz erhalten, ist richtig. Aber gerade dies enthüllt die historische Schwäche der biographi­ schen Form des Romans, denn so wird der genialen Psychologie von Henri Iv. eine Tendenz aufgebürdet, die in Wahrheit eine wichtige objektive Tendenz der Zeit und dadurch die wirkliche Voraussetzung seines letzthinni­ gen Sieges war. (Aus unseren vorangegangenen Darlegungen folgt notwendig, daß wir die Aufgabe eines historischen Romans aus dieser Zeit weniger in der Gestaltung L'Hospitals und seiner Freunde sehen als vielmehr in der jener realen Volksströmungen, deren politischer Ausdruck ihre Tätigkeit war.) Aus dieser verengenden und abstrahierenden Konzeption folgt auch, daß die so widerspruchsvolle und bedeutende Gestalt der Catharina von Medici bei Heinrich Mann nicht zu ihrem historischen Recht kommt. Sie wird in diesem Roman zu einer Art stark stilisierter phantastischer Hexe, zu einer Verkör-

Die biographische Form und ihre Problematik

393

p erung des bösen Prinzips. Hier bilden die aufklärerischen Traditionen Heinrich Manns ein Hindernis für die wirkliche dichterische Erfassung der historischen Wirklichkeit. All dies ist zugleich Ursache und Folge der bio­ graphischen Form des historischen Romans. Die noch vorwaltenden Tenden­ zen zur Abstraktheit führen zu dieser Form. Die Form wiederum aber muß diese Tendenzen noch steigern , da die verschiedenen Gestalten durch sie ver­ einfacht werden ; sie verlieren ihre konkrete und komplizierte eigene Dialek­ tik der Bewegung dadurch, daß sie nur Planeten sind, die um die Sonne des Helden der Biographie kreisen. Die schwachen Seiten dieses bedeutenden Werkes mußten schon deshalb scharf betont werden, weil es sich nicht um das individuelle Versagen Heinrich Manns in einem vereinzelten Fall handelt, sondern darum, welche Schranken die biographische Methode des historischen Romans sogar einem so bedeuten­ den Schriftsteller wie Heinrich Mann setzt; und zwa r selbst auf einer Ent­ wicklungsstufe seiner Fähigkeiten, auf der seine außerordentlichen Gaben rd er Menschengestaltung in gesteigerter Form, in größter Reife und Kraft hervortreten. Diese Schwäche der biographischen Form des Romans läßt sich verallgemeinernd so aussprechen, daß die privatpersönlichen , rein psycho­ logisch-biographischen Züge eine p roportional unrichtige Breite, ein falsches Übergewicht erhalten. Dadurch kommen die großen historisch treibenden Kräfte zu kurz. Sie werden allzu summarisch, allzusehr nur in bezug auf die biographisch im Mittelpunkt stehende Persönlichkeit dargestellt. Und durch diese falsche Verteilung der Gewichte kann die große historische Wendung, die den eigentlichen zentralen Inhalt solcher Romane bildet, nicht so stark zur Geltung kommen, wie es ihr ihrer wirklichen B edeutung nach zukommen würde. Aber diese falsche Proportion wirkt auch auf die psychologische Darstellung selbst zurück. Auch in ihr gelangen die vom Standpunkt der großen Linie der Entwicklung weniger wichtigen Züge und Episoden zu einem Über­ gewicht. Und die falsche Proportion auf diesem Gebiet bringt sogar in dieses sonst meisterhaft erzählte Werk einen gewissen Charakter der bloßen Zu­ standsschilderung hinein. Dies ist bei allen Romanen biographischer Art zu beobachten. Dieses überwuchern der ausschmückenden Züge hat nun in der Psychologie zur Folge, daß die großen Krisen und Wendungen, auch wenn sie Krisen und Wendungen der biographisch im Zentralpunkt stehenden Per­ son sind, in der Darstellung zu kurz, zu summarisch abgemacht werden. Die heutigen bedeutenden Schriftsteller haben eine - berechtigte - Ab­ neigung vor dem überwuchern des Psychologischen. Sie versuchen die psycho-

3 94

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

logische Entwicklung ihrer Helden in lebendige Handlung umzusetzen. Das ist eine sehr gesunde, sehr fortschrittliche Tendenz der besten Vertreter der Literatur unserer Tage. Aber die biographische Form bildet mit ihrer not­ wendigen handlungsmäßigen Enge auch hier ein Hindernis für die Entfaltung dieser gesunden dichterischen Tendenz. Denn diese biographische Form bringt es dann mit sich, daß die wichtigsten Wendungen im Leben der Helden doch in Form einer einsamen Grübelei, der einsamen Auseinandersetzung mit sich selbst erscheinen, wie wir dies eben am Beispiel Heinrich Manns ge­ zeigt haben. Und die - wir wiederholen : berechtigte - Abneigung gegen den Psychologismus der niedergehenden bürgerlichen Literatur hat dann eine falsche Abbreviatur solcher großen Krisenmomente zur schriftstellerischen Folge. Solche Momente des Versagens bedeutender Schriftsteller gerade in den Punkten, wo sie die wichtigsten historischen Wendungen im Leben ihrer Hel­ den gestalten wollen, sind keine individuelle schriftstellerische Schwäche, sind aber auch kein Zufall, sondern die notwendige Folge der biographischen Form im historischen Roman , besser gesagt : j ener weltanschaulichen Tenden­ zen, die diese Schriftsteller noch immer zu der biographischen Form des historischen Romans verleiten.

IV

Der historische Roman Romain Rollands

Wir haben uns bis jetzt - mit bewußter Einseitigkeit - auf die deutsche Form des historischen Romans beschränkt. Das war notwendig, denn sie beherrscht heute das S chicksal des historischen Romans. Diese Strömung im historischen Roman unserer Zeit ist ohne Zweifel die herrschende, aber keines­ wegs die einzige wichtige. Wir haben schon früher gelegentlich auf die B e­ deutung der Romane von Anatole France hingewiesen, insbesondere auf den hervorragenden, echt historischen Typus der Gestaltung des Abbes Jerome Coignard. Der hier eingeschlagene Weg hat unmittelbar vor dem imperia­ listischen Weltkrieg eine sehr wichtige Fortsetzung erfahren in dem schönen historischen Roman des großen Humanisten Romain Rolland, in »Meister Breugnon«. Die Zusammenstellung dieser Werke soll keinerlei Zusammenhang im eng philologischen Sinne der literarischen »Beeinflussung« Romain Rollands durch Anatole France behaupten. Wir glauben, im Gegenteil, daß ein solcher »Ein­ fluß«, wenn er überhaupt vorhanden war, ganz minimal und sicher nicht

Der historische Roman Romain Rollands

39 5

ausschlaggebend für die Entstehung dieses Romans gewesen ist. Daß gleich­ wohl beide Werke vom Standpunkt der Theorie und Geschichte des histori­ schen Romans zusammengehören, daß Romain Rolland hier in bestimmtem Sinne diese Linie Anatole Frances fortsetzt, hat tieferliegende, objektive, ge­ sellschaftlich-geschichtliche Gründe. Sowohl die großen Vorzüge wie die später festzustellenden gestalterischen Schranken dieser außerordentlich interessanten Romane hängen vielmehr mit den besonderen Bedingungen des Kampfes um den Humanismus und die Volkstümlichkeit in der Literatur des vorkriegsimperialistischen Frankreich zusammen. Die Kette der Revolutionen, die der Begründung der dritten Republik vorangegangen sind, hat das politische Bewußtsein der Schriftsteller, auch jener, die lange Zeit bewußt » apolitisch« gewesen sind , auf eine ganz andere Höhe gehoben, als es die deutsche Entwicklung, selbst bei den hervor­ ragendsten, politisch interessiertesten Schriftstellern, zu vollbringen imstande war. Selbstverständlich sind die allgemeinen Einwirkungen der Ökonomie des Imperialismus in ihren Grundzügen die gleichen gewesen. Alle Probleme der literarischen Form, die aus der Ungunst der kapitalistischen Gesellschaft für die Kunst entstanden sind und die die Epoche des Imperialismus gesteigert und auf höherer Stufe reproduziert hat, gelten auch für Frankreich. Da wir diese Probleme ausführlich behandelt haben, brauchen wir auf sie hier nicht zurückzukommen. Wir konnten ja im vorigen Kapitel feststellen, daß be­ stimmte reaktionäre Wesenszüge der Vorbereitung des Imperialismus und des Imperialismus selbst gerade in der französischen Literatur besonders prä­ gnant hervorgetreten sind. Unter anderem auch die für unser Problem sehr wichtige Verwandlung der revolutionären Demokratie in einen feigen und kompromißlerischen, mit jeder reaktionären Ideologie kokettierenden Libe­ ralismus. Für uns sind aber hier in erster Linie bestimmte spezifische Züge der fran­ zösischen Entwicklung, die für die Literatur auch positive Konsequenzen haben, wesentlich. Wir heben nur die mit unserem Problem besonders ver­ bundenen kurz hervor. Vor allem die größere, viel unmittelbarere Leben­ digkeit der großen Tradition der bürgerlich-demokratischen Revolution. Solche Verherrlichungen der Revolution wie der Roman » 1 793 « von Victor Hugo, wie die Revolutionsdramen Romain Rollands wären im zeitlich ent­ sprechenden Deutschland nicht nur von den Schriftstellern aus unmöglich gewesen, sondern hätten auch unter den Lesern keine entsprechende Wirkung gehabt. Man denke nur daran, wie im imperialistischen Deutschland die Ge­ schichtsschreibung der Sozialdemokratie (Blos, Cunow, Conradi usw.) ihren

Der historische Roman des demokratischen Humanismus ganzen »Marxismus« in Bewegung setzte, um die revolutionären Seiten dieser Periode als für die Gegenwart längst überwundene » Unreife« erscheinen zu lassen. Bei allen ideologischen Schwächen von Jaures kann man dessen histo­ rische Konzeption keinen Augenblick mit diesen auch nur vergleichen. Die wenigen Deutschen - wie Franz Mehring -, die anders über die Französi­ sche Revolution dachten, waren isolierte Ausnahmen, während in Frank­ reich eine verhältnismäßig breite Schicht von bürgerlichen Gelehrten (z. B . Aulard und seine Schule) bestrebt war, die wahre Geschichte der Französi­ schen Revolution, auch die ihrer plebejisch-revolutionären Seiten, wissen­ schaftlich zu erforschen. Die bedeutenden progressiven Schriftsteller Frankreichs erleben die bürger­ lich-demokratische Revolution als ein Stück ihres noch lebendigen, noch wirk­ samen Erbes. Und das Fortleben dieses Erbes schlägt zugleich eine Brücke zum erlebten Verständnis der Vorbereitungsideologie der Revolution : zur Aufklärung und, über sie hinaus, zu den progressiven, revolutionären, volks­ tümlichen geistigen Strömungen der Renaissance. Dieser Zusammenhang bestimmt auch, daß die materialistischen Traditionen in der französischen Literatur als die des lebensfrohen Epikureismus der geistvollen und großen Männer des 1 6. bis 1 8 . Jahrhunderts weiterleben können, während in der deutschen Intelligenz die lebendige Nachwirku ng Feuerbachs so gut wie ganz aufgehört hat, der philosophische Materialismus von Marx und Engels unbekannt und unverstanden bleibt (oder nur in grober Vulgarisierung zur Kenntnis gelangt) und als Materialismus im all­ gemeinen nur der öde Schematismus eines �üchner oder Moleschott im Be­ wußtsein der Intelligenz lebt. In Frankreich ist der Faden der Tradition des geistvollen Epikureismus nie vollständig gerissen. Dieses Weiterleben des Erbes von Rabelais und Diderot, natürlich auch von Montaigne oder Vol­ taire , braucht bei den Schriftstellern unserer Zeit selbstverständlich kein kon­ sequenter philosophischer Materialismus zu sein. Es kommt schriftstellerisch nicht so sehr auf die philosophische Folgerichtigkeit als vielmehr darauf an, wie dieser Geist des aufklärerischen Epikureismus in der Welt- und Men­ schengestaltung fruchtbar wird. Wir haben bereits auf die unsterbliche Figur des Jerome Coignard hin­ gewiesen, und die Hauptgestalt von Romain Rollands historischem Roman, der Handwerker-Künstler Colas Breugnon, erhält ebenfalls aus dieser Quelle seine besten geistigen und menschlichen Werte. Es entsteht in beiden Fällen em heiterer, überlegener und harmonischer Respekt vor der Wirklichkeit, ein geistiges, seelisches und künstlerisches Fruchtbarwerden durch die naiv

Der historische Roman Romain Rotlands

3 97

selbstverständliche und doch schlaue, sich selbst bewahrende Hingabe an ihren unerschöpflichen Reichtum. Colas Breugnon drückt dieses Lebensgefühl sehr schön aus, wenn er von seinem Verhältnis zur Kunst und zur Natur sagt : » Was die Kunst betrifft, so habe ich sehr oft ihr Geheimnis enträtselt : denn ich bin ein alter Fuchs, i ch kenne alle Schliche, und i ch lache i n meinen B art, wenn ich sie schal finde. Aber was das Leben betrifft, so ziehe ich oft den kürzeren. Es überlistet unsere Schalkheit, und seine Erfindungen über­ treffen bei weitem die unseren.« Natürlich ist dieses Weiterleben stets zugleich ein Neubearbeiten ; und den allgemeinen Richtungen der imperialistischen Periode entsprechend ist ein solches Neubearbeiten des Erbes sehr oft mit reaktionären Tendenzen ver­ mischt. So schlägt häufig der urwüchsige, aber nicht konsequente Materialis­ mus in eine Naturmystik um, die nicht immer ganz frei von reaktionären Elementen ist. Man kann nun diese komplizierte Mischung von Fortschrittlichkeit, von Ver­ suchen , auch über die Schranken der bürgerlichen Demokratie hinauszugehen, und von reaktionärer Kritik an den großen revolutionären Überlieferungen am besten an der breiten Wirkung beobachten, die die Ideen des Syndikalis­ mus - besonders in ihrer Sorelschen Fassung - auf die französische Intelli­ genz ausgeübt haben. Es ist leicht, die reaktionären Tendenzen bei Sorel auf­ zudecken und zu kritisieren. Man muß aber zugleich sehen, daß bei den be­ deutendsten Schriftstellern dieser Zeit die Wirkung solcher Ideen stets davon ihren Ausgang nimmt, daß ihr demokratischer Sinn von den Ereignissen und Ergebnissen der bürgerlich-demokratischen Revolution unbefriedigt bleibt, die unauflösbaren Widersprüche der bürgerlichen Demokratie sehr lebhaft empfindet und aus diesen Widersprüchen keinen rettenden Ausweg sieht - nur den des syndikalistischen Mythos . Die gelegentlichen Berührungen mit der syndikalistischen Ideologie im » Jean Christophe « haben zweifel los hier ihre Quelle. Und daß es sich auch bei dieser Wirkung in erster Linie nicht um einen literarischen Einfluß der syndikalistischen Theorien, sondern um die notwendige gedankliche Widerspiegelung der gesellschaftlichen Lage Frankreichs handelt, zeigt die von uns bereits kurz berührte Auffassung der Revolution in Anatole Frances »Les dieux ont soif« , dessen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft keine syndikalistischen Grundlagen hat. Alle diese widerspruchsvollen Stellungnahmen zeigen ihre seinsmäßige Ein­ heit besonders stark im politischen Leben, in der Haltung des besten Teils der französischen Intelligenz zur dritten Republik. In ruhigen, »nonnalen« Zeitläufen herrscht das Moment der Enttäuschung, der ironischen Kritik an

Der historische Roman des demokratischen Humanismus den Mängeln und Schranken der bürgerlichen Demokratie vor. Diese Kritik, in der bei den Besten die Enttäuschung an den Ergebnissen der bürgerlichen Revolution, die Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Gesellschaft auch in ihrer entwickeltesten demokratischen Form zum Ausdruck kommt, kann sehr leicht den Anschein einer Gleichgültigkeit der Demokratie, der Republik als Staatsform gegenüber erwecken. Aber die neueste Geschichte Frankreichs zeigt, daß jedesmal, wenn Verschwörung oder Angriff der Reaktion eine krisenhafte Lage in der Republik hervorbringen , der beste Teil der Intelli­ genz, der begabtesten und weitblickendsten Schriftsteller diese seine » splendid isolation « verläßt, um sich am aktiven Kampf zur Rettung der Demokratie zu beteiligen. So verhielten sich France und Zola und manche andere zur Zeit der Dreyfus-Kampagne; so verhielten sich die besten Geister der Demo­ kratie in Frankreich beim Offenbarwerden der faschistischen Aggression . Und gerade dieses Auftreten der besten Schriftsteller geschieht im Zusam­ menhang mit der Bewegung der werktätigen Massen. Es ist ebenso bezeich­ nend für das wilhelminische Deutschland, daß Heinrich Manns politische Radikalisierung ihn innerhalb breiter Schichten der Intelligenz in eine weit­ gehend isolierte Position gebracht hatte, wie es für die französische Entwick­ lung charakteristisch ist, daß Zola und France, Barbusse und Romain Rolland gerade nach ihrem scharfen politischen Auftreten und infolge dieses Au f­ tretens eine wachsende Autorität und Popularität errungen haben. D arüber sollen natürlich die heftigen Angriffe der zahlreichen und nicht bedeutungs­ losen reaktionären Schriftsteller gegen sie, die fast zum Pogrom gesteigerte Hetze gegen Zola usw. nicht vergessen werden. Aber gerade diese leiden­ schaftlichen Kämpfe um den gesellschaftli cli en Inhalt der Literatur unter­ scheiden das wilhelminische Deutschland scharf von der französischen De­ mokratie. Gerade Heinrich Mann hat diesen Unterschied in seinen publizisti­ schen und literaturkritischen Aufsätzen oft hervorgehoben und den Grund der Überlegenheit der französischen Literatur in eben diesem Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben gefunden. Dieser heftige Charakter der Teilnahme der Literatur an den wichtigen Tages­ kämpfen um die Demokratie hat jene führende Rolle des historischen Ro­ mans in der Literatur, wie er sie im Deutschland der Nachkriegszeit erlangt hat, verhindert. Für Romain Rolland ist der historische Roman in noch höhe­ rem Maße ein episodischer Teil seines Lebenswerkes, als er es für Anatole France gewesen ist. Wohl spielt die Geschichte, insbesondere die der Gipfel­ punkte des schöpferischen Humanismus und die der großen Revolution, bei ihm eine entscheidende Rolle. Aber die erste behandelt er in interessanten und

Der historische Roman Romain Rollands

399

tiefschürfenden essayistischen Monographien, die zweite in dem großangeleg­ ten Zyklus seiner historischen Dramen. In beiden Fällen ist die Wahl der literarischen Form nicht zufällig. Die Entscheidung für den wissenschaftlich fundierten und mit den Ober­ zeugungsmitteln echter Wissenschaftlichkeit arbeitenden Essay offenbart Romain Rollands energische Ablehnung der modischen historischen Belle­ tristik. Gerade aus seinen reichen künstlerischen Erfahrungen weiß er, daß man auch die persönliche menschliche Größe, die individuelle menschliche Tragik eines Michelangelo, Beethoven oder Tolstoi nur durch eine gedul­ dige, gründliche und sachliche wissenschaftliche Analyse ihrer Zeit und ihrer Werke aufdecken und verständlich machen kann. Ebensowenig ist die dramatische Behandlung der Revolutionsthematik zu­ fällig. Romain Rolland will weniger die gesellschaftliche Dialektik der Schranken der bürgerlichen Revolution , die Notwendigkeit der Enttäuschung an der Verwirklichung ihres sozialen Gehalts fühlbar machen, wie es Anatole France getan hat ; obwohl die politischen wie sozialen Fragen der Revolution selbstverständlich im Mittelpunkt dieser Dramen stehen. Er will mehr die ungeheure Explosion der durch die Revolution freigemachten menschlichen Leidenschaften in ihrer tragischen Verflochtenheit und Wechselwirkung ge­ stalten. In einer von den entsprechenden historischen Lagen und den Persön­ lichkeiten der Schriftsteller modifizierten Weise steht Romain Rolland zur Periode der Französischen Revolution ein wenig ähnlich, wie Stendhal zur Renaissance gestanden hat. Auch Romain Rolland sieht in der Revolutions­ zeit eine tragische Schule der bis ans Ende gehenden Leidenschaften. Er selbst sagt über sein Verhältnis als Dramatiker zu dieser Geschichte : »Sie ist für mich ein Reservoir der Leidenschaften und der Naturkräfte . . . Ich bemühe mich nicht, sie ähnlich zu machen ; denn sie sind ewig . . . Die künstlerische Macht des Dramas der Geschichte beruht weniger darauf, was sie war, als darauf, was sie immer ist. Die Windhose von > 1 79 3 < geht noch immer in der Welt um. « Aus wesentlich anderem Geist ist der historische Roman »Meister Breugnon« entstanden. Nach den eigenen Worten Romain Rollands ist er eine Art Zwischenspiel zwischen seinen großen epischen und dramatischen Zyklen, eine Nebenlinie, eine Episode in seiner Gesamtproduktion. Diese Feststellung seiner Genesis und seiner Stelle im Lebenswerk des Dichters soll seine künst­ lerische Bedeutung nicht herabsetzen. Sie bestätigt nur von neuem die gesell­ schaftlich-geschichtliche Rolle des historischen Romans im französischen Hu­ manismus unserer Tage.

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Es ist ein Zwischenspiel, ein heiteres, ein lebensbejahendes, wenngleich seine Handlung - wie, beiläufig gesagt, auch die der » Rotisserie de la reine Pedauque « - voll von traurigen, ja tragischen Ereignissen ist. Diese Span­ nung, der aus ihr entspringende Triumph des Lebens ist gerade das Ent­ scheidende : hier bricht der alte lebensbejahende epikureische Materialismus, die große Tradition der französischen Humanisten durch. Das historische Thema ist schon darum nicht zufällig, weil in ihm, in dem Zurückverlegen der Handlung in die Zeit der Regentschaft unter dem jungen Ludwig xm., die Kontinuität dieses Lebensgefühls im französischen Volk zum Ausdruck kom­ men soll. Ja , nach Romain Rollands Absicht handelt es sich um viel mehr als um eine nicht unterbrochene historische Entwicklung. Die Weltanschauung dieses gro­ ßen Humanisten, sein Glaube an die Ewigkeit menschlicher Gefühle und Leidenschaften geht auch hier über die bloße Kontinuität hinaus. »Bonhomme vit encore«, schreibt er als Motto über diesen Roman, und in dem Vorwort, in welchem er das unveränderte Erscheinen dieses knapp vor dem imperiali­ stischen Weltkrieg vollendeten Werkes begründet, tut er es damit, daß er sagt, die Enkel Colas Breugnons, die in der blutigen Epopöe des Weltkrieges Helden und Opfer gewesen sind, hätten der Welt gerade die Richtigkeit dieses Mottos bewiesen. Colas Breugnon ist also von seinem Dichter nicht nur als Sohn seiner Zeit, einer längst vergangenen Zeit, sondern zugleich auch als ewiger Typus kon­ zipiert. Zugleich - und dies ist das entscheidende Moment - als Typus des französischen Volkslebens . Während bei Anatole France die epikureische Lebensweisheit und die fröhliche Bejahung des Lebens »trotz alledem« der geistige Besitz eines deklassierten Intellektuellen des 1 8 . Jahrhunderts waren, senkt sich diese Weltanschauung bei Romain Rolland noch tiefer ins Volk herab. Colas Breugnon, der Handwerker-Künstler, nährt seinen Geist und seine Weltanschauung zwar auch aus der Literatur, aber seine Weisheit ist im wesentlichen doch eine urwüchsigere, eine unmittelbarer aus dem Leben, aus dem Volksleben herausgewachsene. Hier liegt eine unvergängliche Schönheit dieses Werkes, die es zu einem einzigartigen Produkt in unserer Zeit macht. Romain Rolland idealisiert nirgends seinen Helden. Er stellt sogar absichtlich eine ganze Reihe von nega­ tiven Zügen in den Vordergrund : eine gewisse Verbummeltheit , eine lässige Bequemlichkeit der Lebensführung usw. Colas Breugnon ist nichts weniger als ein auf Vollkommenheit stilis ierter » I dealheld« ; seine Fehler und Vor­ züge entsprechen keineswegs jenen Bildern, in denen man das französische

Der historische Roman Romain Rollands

401

Volk zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Lagern z u verherrlichen pflegte. Bricht aber Romain Rolland mit allen Traditionen der Schönfärberei dem Volk gegenüber, so steht er in noch schärferem Gegensatz zu jenen modernen literarischen Richtungen, die die naturwahre Abbildung des Volkes im Her­ vorheben der menschlichen Roheit suchen ; wenn sie auch für diese dann zu­ tage tretenden Züge der Unmenschlichkeit die »Umstände« verantwortlich machen. Romain Rollands Porträt eines Volkshelden hat durchgehend den Charakter der Derbheit, der Robustheit, zugleich jedoch - und untrenn­ bar von dieser Art der Lebensäußerungen, die hier viel mehr als ihre Form ist - zeigt die Hauptgestalt überall eine außerordentliche menschliche Echt­ heit, Feinheit und Zartheit in ihren Beziehungen zu anderen Menschen, eine schlichte, kluge und schlaue Entschlossenheit, die aber in Momenten der wirklichen Erprobung, der wirklichen Gefahr zu wahrem Heroismus, zu heldenhafter Standhaftigkeit emporwächst. Szenen wie die des Wiedersehens mit und des Abschieds von der Jugendgeliebten, deren Vorgeschichte die er­ griffen humorvolle Schilderung dieser Liebe bildet, wie die des Abschieds von seiner tüchtigen prosaischen Frau, mit der er sein ganzes Leben lang in humo­ ristischem Unfrieden gelebt hat, finden wir kaum bei einem Schriftsteller der Gegenwart. Man muß schon zu den Szenen aus dem Volksleben Gottfried Kellers zurückgreifen, um ein Maß für diesen Humanismus der Volkstümlich­ keit zu finden . Schon damit ist die einzigartige S tellung des historischen Romans von Romain Rolland in der Produktion unserer Zeit klar bezeichnet. Seine Art der Dar­ stellung bildet , wie wir sehen, vielfach geradezu einen polaren Gegensatz zu der der deutschen antifaschistischen Humanisten. Was die größte Schwäche ihrer Werke, selbst so bedeutender wie des »Henri IV . « Heinrich Manns, ausmacht, das Fehlen des konkreten Volkslebens in seiner urwüchsigen, menschlich-reichen Fülle, ist gerade der außerordentliche Vorzug dieses Ro­ mans. Und dieser Gegensatz verdient um so mehr betont zu werden, als die Frage der Volkstümlichkeit heute, in der Periode der kämpferischen Samm­ lung aller Kräfte der Demokratie gegen den Faschismus, von noch höherer Aktualität ist, als sie es zur Entstehungszeit des »Meister Breugnon « war. Freilich besteht der Gegensatz nicht nur in dieser Hinsicht, in der eine ge­ waltige Überlegenheit Romain Rollands seinen deutschen antifaschistischen Mitstreitern gegenüber zutage tritt. Der Gegensatz ist auch in der Stellung dieser beiden Typen des historischen Romans zu den politisch-sozialen Kämp..., fen der dargestellten Zeit und - dadurch vermittelt - zu den Klassen-

Der historische Roman des demokratischen Humanismus kämpfen der Gegenwart sichtbar. Wir werden in den folgenden Darlegungen detailliert auseinandersetzen, wieso diese B eziehung im historischen Roman der deutschen Antifaschisten allzu direkt ist und welche nachteiligen Folgen diese Direktheit für die lebenswahre Darstellung der Vergangenheit hat. Der historische Roman der deutschen antifaschistischen Schriftsteller gibt die Poesie des Kampfes für den Humanismus, für die Kultur, gegen Reaktion und Barbarei; er leidet aber vorläufig daran, daß diese Poesie noch abstrakt und nicht von den wirklichen Volkskräften gespeist ist. Ganz anders bei Romain Rolland. Wir haben die hohe und lebensvolle Poesie der Volkstümlichkeit in seinem Roman bereits hervorgehoben. Diese beruht aber auf einem bewußten, zur Weltanschauung erhobenen Abseits den poli­ tischen Kämpfen der dargestellten Zeit gegenüber. Nicht, daß Colas Breugnon und sein Dichter in diesen Kämpfen nicht parteilich wären. Ihre Stellungnahme beinhaltet aber eine schroffe, plebejisch mißtrauische Ableh­ nung beider kämpfenden Parteien der Zeit, sowohl der Katholiken wie der Protestanten. Romain Rolland läßt seinen Helden sagen : »Die eine Partei ist so viel wert wie die andere; die bessere ist auch nicht den Strick wert, mit dem sie aufgehängt werden soll. Was geht es uns an, ob dieser oder jener Taugenichts am Hofe seine Gaunerstüc:ke spielt? « Und an anderer Stelle noch deutlicher : » Gott schütze uns vor unseren Beschützern ! Wir werden uns schon selbst beschützen. Arme Schafe ! Wenn wir uns nur gegen den Wolf ver­ teidigen müßten, wir würden uns schon zu helfen wissen. Aber wer wird uns vor dem Schäfer besd1ützen? « Und Romain Rolland läßt seinen Helden diese Anschauung nicht nur wiederholt aussprechen, sondern zeigt im _ Laufe der Handlung an schlagenden Beispielen, wie die Plebejer jener Zeit mit diesem ihrem doppelseitigen Mißtrauen Recht gehabt haben und wie sie dieses Mißtrauen bald schlau, bald entschlossen in Taten umzp setzen ver­ suchten. Die große dichterische Weisheit Romain Rollands zeigt sich unter anderem auch darin, welche Periode der französischen Geschichte er zur Gestaltung dieses plebejischen Mißtrauens gegen alles, was » oben« geschieht, ausgewählt hat. Die große Periode der Hugenottenkämpfe ist vorbei. Die Zeit der letzten Entscheidungsschlachten zwischen absolutem Königtum und aus dem Feuda­ lismus erwachsenen Parteiungen, die Zeit der Fronde, der Cevennenkämpfe, ist noch weit. Die Parteien bestehen. Ihre Zusammenstöße laufen aber »oben« auf Hofintrigen, »unten« auf Plünderung des Volkes hinaus, gleichviel, ob es sich um Schützlinge oder Feinde handelt. Der kluge Plebejer Colas Breug­ non beurteilt diese Kämpfe seiner Zeit im wesentlichen richtig ; insbesondere,

Der historische Roman Romain Rollands wenn man hinzufügt, daß er seine Verehrung für Henri 1v. sehr warm aus­ drückt, daß er in diesem »seinen Mann« erblickt. Man würde aber - glaube ich - den dichterischen Intentionen Romain Rol­ lands Unrecht tun, wenn man bei dieser vorübergehenden, nur für eine be­ stimmte Phase gültigen Berechtigung des Standpunktes seines Colas Breugnon stehenbleiben würde. Wir wiederholen : es zeigt die hohe dichterische Weisheit Romain Rollands, daß er einen historischen Stoff gewählt hat, bei welchem alle Argumente seines Helden, seine Gedanken und seine Handlungen von der damaligen Wirklichkeit selbst bestätigt erscheinen. Aber der Dichter wollte hier etwas. anderes, breiteres und tieferes sagen ; er wollte seine Schluß­ folgerungen keineswegs auf die konkrete Zeitspanne der Wirksamkeit seines Helden beschränken. Erinnern wir uns an seine im vorigen Kapitel zitierten Ausführungen über de Costers Roman, insbesondere an sein Lob, daß dieser im niederländischen Freiheitskampf zwar gegen Rom, aber keineswegs für Genf gewesen ist. Und wenn wir nun diese Auffassung mit der im Vorwort zu »Meister Breugnon« über die Gegenwärtigkeit dieses Typus zusammenhalten, so sehen wir, daß Romain Rolland im Verhalten seines Helden zu den » oben« kämpfenden Parteien der Zeit Ludwigs xm. nicht nur ein konkret historisch verständliches Gefühl liebevoll darstellen, sondern auch der Nachwelt eine Idealfigur des richtigen plebejischen Standpunktes vorhalten will. Knapp nach der Beendigung dieses Romans ist der imperialistische Weltkrieg ausgebrochen. Jedem ist das männliche, tapfere und opferreiche Auftreten Romain Rollands gegen das Weltgemetzel in lebhafter und dankbarer Er­ innerung. Aber Romain Rolland weiß heute, nach den Erfahrungen des ver­ gangenen, geschichtlich so inhaltsvollen Jahrzehnts, das er mit der Auf­ nahmefähigkeit eines bedeutenden Dichters und Denkers durchlebt hat, daß das »Au dessus de la melee« seinen Kampfgeist gegen den imperialistischen Krieg nur sehr unvollkommen ausgedrückt und Möglichkeiten zu großen Mißverständnissen , ja Verzerrungen seiner Absichten eröffnet hat. Romain Rollands zeitweiliger abstrakter Pazifismus war mit dem der ande­ ren, auch wenn sie sich seine Schüler und Anhänger nannten, nie wirklich in­ nerlich verwandt. Gerade der »Breugnon« zeigt die grundlegend verschiede­ nen sozialen und weltanschaulichen Quellen seiner spezifischen, persönlichen Stellungnahme. Und dieser plebejische, dieser aus einem tiefen und echten spontanen Volksempfinden stammende Zug unterscheidet seine Position scharf von Stellungnahmen, die dem Wortlaut nach an die seine anzuklingen scheinen.

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Man braucht nur den »Erasmus« Stefan Zweigs in Gedanken neben »Meister Breugnon« zu stellen, damit der Gegensatz klar ins Auge springt. Dort ein überfeinertes, ängstliches und nervöses Zurückschrecken vor j eder Entschei­ dung, die typische Intellektuelleneinbildung, daß das so entstehende vorsich­ tige Balancieren zwischen »einerseits« und »andererseits « ein wirkliches Sich­ erheben über gedankliche Widersprüche, über soziale Gegensätze sei. Hier ein kräftiges plebejisches Ablehnen der widerwärtig kleinlichen, das Volk glei­ chermaßen aussaugenden Hofschranzen und Abenteurer, ein Verwerfen der beiden kämpfenden Parteien, das diese im gegebenen Fall klug überlistet und das, wenn möglich und notwendig, aud1 zum Knüppel und zum Schwert seine Zuflucht nimmt. Dort ein raffiniertes und feines Produkt ' des dekaden­ ten Liberalismus einer einst revolutionären bürgerlichen Intellektuellenschicht. Hier ein noch nicht zur bewußten Aktivität der demokratischen Revolution herangereiftes, urwüchsig-plebejisches Rebellentum. Die künstlerische Blässe und Zerbrechlichkeit bei Zweig, die blühende Fülle der Farben bei Rolland spiegeln klar und adäquat diesen Gegensatz wider. Der »Meister Breugnon« und die ganze ihm entsprechende Entwicklungs­ phase seines Verfassers haben mit dessen sogenannten Anhängern nichts zu tun. Das Buch ist ein Teil der literarischen Abbildung jener bäuerlich-ple­ bejischen Stimmungen , deren bedeutende Objektivationen im historischen Ro­ man wir bereits kennengelernt haben ; Erscheinungen wie bestimmte Seiten von Tolstois »Krieg und Frieden«, wie de Costers »Ulenspiegel « . Aber auch hier handelt e s sich nur u m die Verwandtschaft gesellschaftlicher Strömungen, die miteinander nur die allgemeinen und nicht die konkreten Merkmale teilen, deren künstlerische Abbil d ungen deshalb sehr große Ver­ sd1iedenheiten zeigen müssen. Romain Rolland hat nicht den blindwütenden, künstlerisch in Naturalismus umschlagenden spontanen Haß de Costers . Seine Stellung z u den Parteien » oben« i s t mehr eine geistig überlegene Ver­ achtung als ein pathetischer Haß. Sein Colas Breugnon steht - unbeschadet seines Plebejertums - in geistiger und menschlicher Hinsicht einem Jerome Coignard näher als dem modernen Eulenspiegel. Und diese geistige und menschliche Verwurzeltheit seines Helden aus dem Volk im Mutterboden der Entstehung des neuen Humanismus entrückt auch die Darstellungsart Romain Rollands den naturalistischen Exzessen der fleischlichen Lust und der Grau­ samkeit bei dem bedeutenden belgischen Dichter . Die Lust Colas Breugnons an Weib und Wein und gutem Essen strahlt überall in den zarten Pastell­ farben eines menschlich durchleuchteten, menschlich durchgebildeten, zugleich ein wenig verschmitzten Epikureismus. Die größere Derbheit des Colas

Der historische Roman Romain Rollands

Breugnon seinem gebildeteren Bruder aus dem 1 8 . Jahrhundert gegenüber ist eine glückliche Transposition in plebej ische Sphären, aber die humanistische Grundgesinnung bewährt sich und verstärkt sich in ihr. Diese beiden Werke spiegeln das Beste wider, was der humanistische Protest gegen die kapitalistische Gegenwart in Frankreich hervorgebracht hat. Sie spiegeln aber zugleich auch die damalige gesellschaftlich-geschichtlich be­ dingte Schranke dieses humanistischen Protestes wider. Die epikureische Weisheit und Überlegenheit ist in beiden Fällen ein Widerschein des in Ironie und Humor gehüllten Verzichts auf ein Durchdringen, auf ein Verändern der feindlichen und niedrigen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und dieser Verzicht erhält einen deutlichen künstlerischen Ausdruck darin , daß in solchen Werken das Ganze der geschichtlichen Wirklichkeit, wenn überhaupt, so nur in viel blässeren, abgedämpfteren Umrissen erscheint als die humanistische Haupt­ gestalt selbst ; daß solche Werke, so lebensvoll umrissen viele Nebengestalten, so kräftig ausgeführt viele Einzelszenen auch sein mögen, in ihrer Gesamtheit mehr Porträts als Weltbilder geben. Romain Rolland unterstreicht dieses Porträthafte noch durch die Ich-Form der Erzählung. Es ist betontermaßen weniger das Bild der Zeit, das er nach­ zeichnet, als deren Spiegelung im Leben und in den Erlebnissen Colas Breug­ nons. Dadurd1 erhält aber das Werk, trotz der Mannigfaltigkeit der inter­ essanten B egebenheiten, etwas Stillstehendes, Statisches. Die Entwicklung in diesem Roman ist nur scheinbar ein Fortschreiten in der Zeit und in den Geschehnissen. Ihr inneres Wesen ist mehr eine Enthüllung. Wir sehen, wie sich - indem der Dichter mit erfahrener Hand den Pinsel des Lebens führt - das Porträt Colas Breugnons Zug um Zug bereichert. Wenn das Bild fertig ist, sdiließt auch der Roman. Wir fühlen aber : es ist nichts wesentlich Neues geschehen . Nur sehen wir jetzt das Porträt klarer und verständnisvoller als am Anfang. Aber das Modell ist auch damals das gleiche gewesen. Colas Breugnon macht keine Entwicklung durch. Und zwar nicht in dem Sinne, wie wir dies bei den » w elthistorischen Individuen « als Nebenfiguren hervor­ gehoben haben, wo die Entfaltung, das Off enbarwerden ihrer menschlid1en Eigenschaften eine Antwort auf die im Laufe des Romans aufgetauchten ge­ sellschaftlich-geschichtlichen Fragen erteilt, also ein Moment der objektiven Dynamik der Geschichte bildet, sondern in einem viel eigentlicheren , wört­ licheren Sinn. Denn in Breugnons Gestalt, in seiner Psychologie, in der Ent­ wicklung seines Charakters sind hier alle menschlichen wie historischen Pro­ bleme konzen triert enthalten. Frage wie Antwort sind in seiner Lebens­ beschreibung und nur in ihr gegeben. Im Roman geschieht dementsprechend

Der historische Roman des demokratischen Humanismus vieles, aber alles doch nur, um dieselbe Haltung des Helden zum Leben von möglichst vielen Seiten her zu zeigen. Der Roman hat in diesem Sinne keine Handlung. Alles äußerlich Handlungshafte soll ja nicht Menschen wei­ terführen, nicht die Krise eines Weltzustandes aufdecken, sondern nur ein menschliches Verhalten erklären. Romain Rolland ist ein Schriftsteller, der die besten und edelsten Traditio­ nen der klassischen Kunst lebendig in sich aufgenommen und zu nutzvollem Besitz gemacht hat. Aber die Ungunst der Zeit hat ihn doch von der klassi­ schen Tradition des historischen Romans weit abgetrieben. Seine bedeutende Menschlichkeit und Künstlerschaft offenbaren sich in der inneren Vollendung, die er trotz dieser Ungunst der Zeitumstände seinem historischen Roman dennoch verliehen hat. Aber diese Vollendung ist auf der Grundlage eines - bewußten und tief künstlerischen - Verzichts erreicht worden, des Ver­ zichts auf ein umfassendes historisches Weltbild, des Verzichts darauf, den historischen Aufschwung unbekannter menschlicher Kräfte im Volk leben­ dig, anhand der Wechselwirkung aller Teile der Gesellschaft zu gestalten. Die artistische Weisheit dieses Verzichts kann nicht genug bewundert werden. Die Wahl der dargestellten Zeit erscheint auch von hier aus wieder als hohe künstlerische Klugheit : nach den knappen Andeutungen des Dichters bedauert es der Leser nicht allzu sehr, statt eines Bildes dieser Periode das Porträt Colas B reugnons erhalten zu haben. Aber mit dem Maßstab der Geschichts­ bilder der Klassiker des historischen Romans, des Gesellschaftsbildes im » Jean Christophe« gemessen, liegt in dieser Weisheit der Wahl doch auch eine Resi­ gnation, eine artistische Selbstbeschränkung.Diese Artistik zeigt sich auch in der Sprache. Romain Rolland hat Colas Breugnon durch dessen eigene Worte geschildert. Auch dadurch erhält das Porträt etwas sehr unmittelbar Echtes. Gleichzeitig wird das urwüchsige Ple­ bejertum des Helden durch die taktvoll erneuerte alte Sprache ständig und lebendig hervorgehoben. Es ist aber doch unvermeidlich, daß diese Sprache für den heutigen Leser einen leichten , mitunter kaum fühlbaren Neben­ geschmack des Künstlichen, des artistisch Gemachten erhält. Und beide Fol­ gen der gleichzeitigen I ch-Erzählung, sowohl diese Gebundenheit an die alter­ tümliche Sprache als auch die früher hervorgehobene Statik der Porträt­ artigkeit, unterstreichen den artistischen, experimentartigen Charakter dieses schönen Romans. Es ist eine der vielen tragischen Erscheinungen unserer Zeit, daß eine so hohe Gestaltung des alten urwüchsigen Plebejertums nicht ohne diese Untertöne des bloß Artistischen entstehen konnte.

Humanismus im historischen Roman Perspektiven der Entwicklung des neuen Humanismus im historischen Roman v

Wir sehen : alle formalen wie inhaltlichen Probleme des historischen Romans unserer Tage konzentrieren sich um Fragen des Erbes . Der Kampf um die Liquidierung des politischen, ideologischen und künstlerischen Erbes der Pe­ riode des niedergehenden Kapitalismus, der Kampf um die Erneuerung und fruchtbare Weiterbildung der Traditionen der großen fortschrittlichen Perioden der Menschheit, des Geistes der revolutionären Demokratie, der künstlerischen Großzügigkeit und Volkstümlichkeit des klassischen histori­ schen Romans bestimmt alle ästhetischen Probleme, alle ästhetischen Wer­ tungen auf diesem Gebiet. Schon diese Fragestellung und - wie wir hoffen - ihre Darlegung in den vorangegangenen Analysen zeigen, wie wenig diese Fragen rein ästhetische Probleme sind. Die künstlerische Form, als konzentrierte und gesteigerte Widerspiegelung der wichtigen, der gesetzmäßigen wie individuellen Züge der objektiven Wirklichkeit, läßt sich nie isol iert, nie rein als solche behan­ deln. Gerade die Geschichte des historischen Romans zeigt am deutlichsten, wie offenkundig sich hinter scheinbar bloß formalen, bloß kompositionellen Problemen - z. B. hinter der Frage, ob die bekannten großen Gestalten der Geschichte Haupthelden oder nur Nebenfiguren sein sollen - weltanschau­ lich-politische Probleme von höchster Wichtigkeit verbergen. Ja, die ganze Frage, ob der historische Roman ein eigenes Genre, mit eigenartigen künst­ lerischen Gesetzmäßigkeiten, ist o der ob er sich hinsichtlich der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Romans von diesem prinzipiell nicht unterscheidet, kann ebenfalls nur im Zusammenhang der allgemeinen Stellungnahme zu den entscheidenden weltanschaulichen und politischen Problemen gelöst werden. Wir haben gesehen, daß die Entscheidung aller dieser Fragen von der Stellung . der Sch riftsteller zum Volksleben abhängt. Die Anknüpfung an die Tradi­ tionen des klassischen historischen Romans ist keine ästhetische Frage in einem engen, zunftmäßigen Sinne. Es handelt sich nicht darum, daß Walter Scott oder Manzoni ästhetisch höher stünden als etwa Heinrich Mann, oder we­ nigstens liegt der Akzent nicht darauf; sondern es geht darum, daß Scott und Manzoni, daß Puschkin und Leo Tolstoi das Volksleben in einer tieferen und echteren, menschlicheren und konkreter geschichtlichen Weise erfaßt und gestaltet haben als selbst die bedeutendsten Schriftsteller unserer Tage, sowie darum, daß die klassische Form des historischen Romans eine adäquate

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Weise des Ausdrucks für die Lebensgefühle seiner Autoren war, daß die klas­ sische Art der Fabel und Komposition gerade dazu angelegt war, das Wesent­ liche, den Reichtum und die Vielfältigkeit des Volkslebens als Grundlage des Wandels in der Geschichte sinnfällig zu machen. Dagegen stoßen wir im historischen Roman auch der bedeutenden Schriftsteller der Gegenwart jeden Augenblick auf einen Widerstreit zwischen dem weltanschaulichen Gehalt, dem menschlichen Lebensgefühl, das ausgedrückt werden soll , und den schrift­ stellerischen Ausdrucksmitteln. Wenn also die Kritik an die hervorragenden Werke der heutigen Schriftsteller mit dem ästhetischen Maßstab herantritt, den sie aus dem Studium und der Analyse der Klassiker des historischen Romans und der Gesetzmäßigkeiten von Epik und Dramatik überhaupt gewonnen hat, so ist sie dazu in doppelter Hinsicht berechtigt. Erstens ist die Tatsache, daß irgendeine literarische Rich­ tung mit gesellschaftlich-geschichtlicher Notwendigkeit entstanden ist, daß sie ein notwendiges Produkt der ökonomischen Entwicklung und der Klassen­ kämpfe ihrer Zeit ist, noch kein Richtmaß für ihre ästhetische Beurteilung. Freilich predigen der reaktionär-relativistische Historismus und die ebenso relativistische Vulgärsoziologie das Gegenteil. Seit Ranke sagen alle mecha­ nistischen Vulgarisatoren, daß jedes Produkt der geschichtlichen Entwicklung »gleich unmittelbar zu Gott« oder, in vulgärsoziologischer Phraseologie, zum »Klassenäquivalent « sei. Das klingt - je nachdem, wie man es will entweder außerordentlich » tief« im Sinne eines mystischen Irrationalismus der Geschichtsauffassung oder außerordentlich »wissenschaftlich« im Sinne einer vulgär-bürgerlichen, liberal-menschewistischen Fortschrittstheorie. Aber durch beide Auffassungen wird der wirkliche Zusammenhang zwischen Kunst und Wirklichkeit zerrissen. Die Kunst erscheint gleichzeitig als fata­ listische und als rein subjektive Ausdrucksweise einer Individualität. Sie ist so keine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit. Und die Kriterien der echten Ästhetik der Kunst gegenüber entstammen gerade aus diesem wesent­ lichen Grundzug der Kunst. Gerade weil der historische Roman die Entwick­ lung der historischen Wirklichkeit selbst künstlerisch widerspiegelt und ge­ staltet, ist der Maßstab für seinen Inhalt und für seine Form dieser Wirklich­ keit selbst zu entnehmen. Diese Wirklichkeit ist ab er die des sich ungleich­ mäßig und krisenhaft entwickelnden Volkslebens . Wenn selbst Schriftsteller wie Flaubert oder Conrad Ferdinand Meyer aus tiefen und notwendigen Gründen der Entwicklung der Gesellschaft, des durch diese Entwicklung de­ terminierten ideologischen Niedergangs ihrer Klasse nicht mehr in der Lage sind, die wirklichen Probleme des Volkslebens in ihrem entfalteten Reichtum

Humanismus im historischen Roman zu erblicken, wenn sie dementsprechend aus der Armut, aus der gesellschaft­ lich-geschichtlichen Dürftigkeit des von ihnen wahrgenommenen Geschichts­ bildes eine »neue« Form des historischen Romans machen, so ist die marxi­ stische Asthetik verpflichtet, diese Armut und Dürftigkeit nicht nur gesell­ schaftlich-genetisch zu erklären , sondern auch ästhetisch an den höchsten An­ forderungen der künstlerischen Widerspiegelung der historischen Wirklichkeit zu messen und als zu leicht zu befinden. Mit dieser Proklamation des Rechts der Kritik, die künstlerischen Produkte ganzer Perioden zu beurteilen und zu verurteilen, deren gesellschaftlich­ geschichtliche Notwendigkeit selbstverständlich anerkannt wird (auf welcher Anerkennung sogar die ganze ästhetische Beurteilung beruht), ist das Problem des historischen Romans unserer Tage indessen keineswegs erschöpft. Denn wir haben wiederholt den tiefgehenden ideologischen Gegensatz festgestellt, der die schriftstellerisd1e Tätigkeit der bedeutenden Vertreter des historischen Romans unserer Zeit von derjenigen der bürgerlichen Dekadenz trennt. Die Aufgabe der Beurteilung dieses historischen Romans ist also eine viel kom­ pliziertere. Der klassische Maßstab steht dieser Produktion keineswegs so schroff und fremd gegenüber wie der Produktion des beginnenden künst­ lerischen Niedergangs der bürgerlichen Literatur und insbesondere der Pro­ duktion der ausgeprägten Dekadenz. Zwischen der klassischen Periode des historischen Romans und dem historischen Roman unserer Zeit bestehen auch tiefgehende und entscheidende Übereinstimmungen. Beide sind bestrebt, das historische Volksleben in seiner Bewegtheit, in seiner objektiven Wirklichkeit und zugleich in seiner lebendigen Beziehung zur Gegenwart darzustellen. Diese lebendige politische und weltanschauliche Beziehung zur Gegenwart ist ein weiteres wichtiges weltanschauliches Moment, das die heutige Pro­ duktion unserer Humanisten mit der klassischen Periode innerlich ver­ bindet. Aber die Ungleichmäßigkeit der historischen Entwicklung macht diese Be­ ziehung außerordentlich kompliziert. Und zwar in beiden entscheidenden Fragen, sowohl in der Frage der Volkstümlichkeit als auch in der der Bezie­ hung zur Gegenwart. Es ist interessant und charakteristisch, daß die An­ schauungen vieler Humanisten der Gegenwart in politisch-weltanschaulicher Hinsicht viel radikaler sind als die der Klassiker. Man braucht nur an den Gegensatz zwischen dem gemäßigten Tory Walter Scott und dem revolutio­ nären Demokraten Heinrich Mann zu denken. Aber die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung drückt sich darin aus, daß Walter Scott trotzdem lebens­ mäßig mit dem Volksleben viel enger verwachsen und viel vertrauter war,

410

Der historische Roman des demokra tischen Humanismus

als es der hervorragende Schriftsteller der imperialistischen Periode ist, der im Leben mit der durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung des entwickelten Kapitalismus geschaffenen Isolierung des Schriftstellers vom Volksleben, der weltanschaulich mit der Überwindung der im Imperialismus immer reak­ tionärer werdenden l iberalen Ideologie zu kämpfen hat. Die Verbundenheit mit dem Volksleben war für die Schriftsteller der klas­ sischen Periode des historischen Romans noch eine gesellschaftl ich gegebene, natürliche Tatsache. Erst in der Periode, in der sie gelebt haben, begannen die Kräfte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung des Kapitalismus auf Literatur und Kunst einen entscheidenden Einfluß in der Richtung der Isolierung der Schriftsteller vom Volksleben auszuüben. Bei vielen Schriftstellern der da­ maligen reaktionären Romantik ist dieser Einfluß bereits deutlich fühlbar, er wird jedoch erst in einem späteren Zeitpunkt zur herrschenden Grundl age der ganzen Literatur. Die Humanisten unserer Zeit gehen in ihrer Produktion gerade von einem Protest gegen die entmenschenden Wirkungen des Kapitalismus aus. In die­ sem Protest spielt die tragische Entfremdung des Schriftstellers vom Volks­ leben, seine Isoliertheit, sein Auf-sich-selbst-Gestell tsein, eine außerordent­ l ich wichtige Rolle. Es liegt aber im Wesen der Lage, daß dieser Protest sich nur allmählich, ungleichmäßig und widerspruchsvol l von der Abstraktheit zur Konkretheit entwickeln kann. Und zwar nicht nur aus dem allgemeinen Grunde, daß die Konkretheit der Verbindung und der Vertrautheit mit dem Volksleben nur allmählich, nur schrittweise überhaupt erobert werden kann, sondern teilweise wegen der inneren Dialektik des Kampfes dieser Schrift­ steller gegen die gesellschaftlich isolierte Lage der Literatur im Imperia­ l ismus. Diese Dialektik bestimmt die Langsamkeit und Ungleichmäßigkeit der Ab­ rechnung mit der liberalen Ideologie des Imperialismus . Gerade weil in den echten Schriftstellern dieser Zeit ein glühender Wunsch zur Überwindung der Isoliertheit der Literatur, des aus ihr folgenden Asthetizismus, der künst­ lerischen Selbstgefälligkeit und Selbstgenügsamkeit brannte, mußten sie in ihrem Wunsch nach einer aktiven gesellschaftlichen Wirksamkeit der Litera­ tur in der Gesellschaft ihrer Zeit - so wie sie eben war - nach Anschluß, nach Verbündeten suchen. Dieses Suchen hat zur Folge, daß sich die Schrift­ steller mit Leidenschaft an gesellschaftliche Strömungen, an menschliche Auße­ rungsformen klammem, in denen für sie die leiseste Hoffnung verborgen zu sein scheint, daß sie zu einer Teilnahme am Protest gegen die Unmenschlich­ keit der gesellschaftlichen Gegenwart zu bewegen sein könnten.

Humanismus im historischen Roman

41 1

So war die Wiedererweckung des revolutionär-demokratischen Geistes in der deutschen Literatur außerordentlich schwierig. Der liberale Kompromiß auf der einen, die boheme-anarchistische abstrakte Negation auf der anderen Seite stellten seiner Entwicklung die verschiedensten Hindernisse in den Weg. Wenn wir nun bei der Analyse der Entwicklung der wichtigsten antifaschi­ stischen Schriftsteller den verschiedenartigsten Versuchen eines Anschlusses an solche Strömungen bei ungenügender kritischer Beurteilung, ja zuweilen kritikloser Überschätzung begegnen, so müssen wir dies aus der allgemeinen Entwi cklungslinie Deutschlands (und in vieler Hinsicht, wenn auch nicht so prägnant, des übrigen Westeuropa) begreifen. Der Sturz des Hohenzollern­ regimes und die Weimarer Republik konnten in dieser Hinsicht eine be­ stimmte Weiterentwicklung, aber keine radikale Wendung bringen. Diese ist erst durch den Sieg der faschistischen Barbarei in Deutschland selbst , durch die Erfahrungen und Siege der Volksfront in Frankreich und Spanien ein­ getreten . Es wäre aber falsch, in jener vorangegangenen literarischen Produktion, die überall die Spuren dieses langsamen Entstehens des revolutionär-demokrati­ schen Geistes zeigt, ausschließlich Schwächen zu sehen. Es ist hier nicht mög­ lich, die deutsche Literatur der vorfaschistischen Zeit ausführlich zu analy­ sieren, um so weniger, als deren wesentliche Leistungen außerhalb des Rah­ mens unserer Untersuchung liegen. Es sei aber, um diese Auffassung der all­ gemeinen Lage der humanistisch protestierenden Literatur zu beleuchten, ge­ stattet, ein Beispiel anzuführen : das Beispiel Thomas Manns. Wenn dieser große Schriftsteller in seinem Jugendwerk eine harte und tiefe Selbstkritik des auf sich selbst gestellten Schriftstellertums gibt und diesem Typus nun den einfachen und tüchtigen B ürger kontrastierend gegenüberstellt, so wäre es ganz flach und falsch, hierin etwas Negatives zu sehen. Thomas Mann deckt mit einer äußerst feinen und komplizierten Dialektik tiefgehende Wi­ dersprüche des bürgerlichen Lebens, der bürgerlichen Kulturlosigkeit auf, er bekämpft eindeutig den herrschenden Menschentypus des deutschen Kapita­ lismus. Aber gerade je tiefer er die Problematik der isolierten Literatur sieht, je klarer er das Sichzurückziehen des Schriftstellers in einen die ganze Gegen­ wart abstrakt verneinenden » Elfenbeinturm « ablehnt, desto mehr ist er ge­ zwungen, überall in der Wirklichkeit nach - wenigstens relativ - positiven Menschentypen Umschau zu halten. Seine schriftstellerische Ehrlichkeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß er den auf einer Stelle als positiv dargestellten Typus in anderen Zusammenhängen wieder ironisch kritisiert und damit sei­ ner Bejahung starke Vorbehalte hinzufügt, so daß sein künstlerisches Schaffen

412

Der historische Roman des demoleratischen Humanismus

niemals zu einer Verherrlichung der Gegenwart, zu einer Apologetik herab­ sinkt. In alledem muß man historisch eine Doppeltendenz wahrnehmen. Einerseits bemüht sich Thomas Mann, wie jeder bedeutende Schriftsteller, ein allseitiges und umfassendes Bild der Gesellschaft seiner Gegenwart zu bekommen und zu gestalten. Zu der Universalität dieses Bildes gehört, daß die verschieden­ artigsten, auch die als Träger feindlicher Prinzipien empfundenen Menschen als Menschen lebendig und vielseitig, nicht plakathaft karikiert gestaltet werden. In dieser Hinsicht sind sowohl Thomas Mann als auch einige seiner bedeutenden Zeitgenossen weit über den Horizont der Vorurteile der libe­ ralen Bourgeoisie hinausgegangen. Andererseits aber spiegelt sich in der Art, wie diese Typen menschlich und künstlerisch erfaßt werden, die langsame und widerspruchsvolle Form der Loslösung von den bürgerlich-reaktionären Vorurteilen der wilhelminischen Periode wider. Wir betonen nochmals : nicht darin liegt das Zeichen dieser langsamen und zaghaften Überwindung der Vorurteile, daß auch feindliche Typen menschlich gestaltet werden, sondern in einem unkritischen Verhalten zu solchen Typen in ihrer sozialen und menschlichen Totalität, in dem Nichterkennen der gesellschaftlichen und menschlichen Schranken solcher Typen. Es genügt, wenn wir uns hier auf die Darstellung des friderizianischen Preußen, der friderizianischen Tra ditio­ nen durch Thomas Mann im ersten Weltkrieg berufen, um diese Lage ganz scharf zu sehen. Aber - freilich in weniger ausgeprägter Weise - wir finden solche Formen der Auffassung und Gestaltung in bezug auf Vertreter der liberalen Bourgeoisie selbst in der früheren Periode Heinrich Manns ; in bezug auf menschlich anständige, altehrwürdige Typen des deutschen Militärs bei Arnold Zweig usw. Diese Art der dichterischen Auffassung der \Virklichkeit hat selbstverständlich ihre politischen und weltanschaulichen Wurzeln. Auch hier genügen einige Beispiele ; es genügt, wenn man sich auf die falsche Be­ urteilung Bismarcks oder Nietzsches beruft, in welchen Fällen sich auch noch heute bestimmte Vorurteile der überwundenen Periode oder doch Überreste dieser Vorurteile zeigen. Dieser langsame und widerspruchsvolle Weg der Überwindung der liberalen, volksentfremdeten Ideologie spiegelt sich nun auch in den historischen Roma­ nen der antifaschistisd1en Humanisten wider. Wenn wir früher ausführ­ lich als eine der wichtigsten Schwächen dieser Produktion nachgewiesen h aben , daß sie die Probleme des Volkslebens aus der Sicht des » Oben« gestaltet, wobei das Volk selbst nur in direkter Beziehung zu dem, was sich »oben«

Humanismus im historischen Roman

413

abspielt, eine Rolle erhält, so haben wir das deutlid1e schriftstellerische Bild der noch nicht völlig überwundenen liberal-bürgerlichen Traditionen vor uns . Die künstlerische Wendung zu den Traditionen des historischen Romans vom klassischen Typus ist also in erster Linie keine ästhetisch-künstlerische Frage. Sie ist vielmehr eine notwendige Konsequenz des entschiedenen und voll­ ständigen Sieges, den der Geist der revolutionären Demokratie, der konkreten und innigen Verknüpftheit mit dem Schicksal des Volkes bei den bedeuten­ den Vertretern des Humanismus zu erringen im Begriffe steht. (Unsere frühe­ ren Analysen haben dem Leser hoffentlich hinreichend klar gezeigt, daß jene neuere plebejische Tradition in den romanischen Ländern, deren Etappen die Namen Erckmann-Cha trian, de Coster und Romain Rolland bezeichnen, in künstlerisch ganz entgegengesetzter Weise gleichfalls an einem Mangel an historischer Konkretheit leidet. Das weltanschaulich-künstlerische Problem der Wiedererweckung des Geistes des klassischen historischen Romans gilt also auch hier und ist ebenfalls mit der politisch-sozialen Konkretisierung der revolutionären Demokratie verbunden. Nur haben die literarischen Folge­ rungen, die daraus zu ziehen sind, einen anderen, oft geradezu entgegen­ gesetzten Charakter.) Mit diesem Problemkomplex ist die Frage der Beziehung zur Gegenwart ganz nahe verbunden. Nochmals muß hier der Gegensatz des heutigen histo­ rischen Romans zu seinen unmittelbaren Vorgängern scharf hervorgehoben werden. Der historische Roman der Humanisten unserer Tage ist mit den großen aktuellen Problemen der Gegenwart eng verbunden. Dieser histori­ sche Roman befindet sich - sehr im Gegensatz etwa zu dem vom Typus Flauberts - auf dem Wege, d ie Vorgeschichte der Gegenwart zu gestalten. Diese seine Aktualität im großen geschichtlichen Sinne ist einer der größten Fortschritte, die der historische Roman der antifaschistischen Humanisten vollzogen hat; sie bezeichnet den Beginn einer Wende in der Geschichte des historischen Romans. Aber doch nur den Beginn einer Wende. Denn die Wen­ dung selbst führt wiederum zu den Traditionen des klassischen historischen Romans zurück. Der Unterschied, der heute noch zwischen beiden besteht, ist von uns in Einzelausführungen mehrmals hervorgehoben worden. Kurz reka­ pituliert, besteht er darin, daß der historische Roman der heutigen Humani­ sten vorläufig nur noch die abstrakte Vorgeschichte der ldeen ist, die die Gegen­ wart bewegen, und noch nicht die konkrete Vorgeschichte des Schicksals des Volkes selbst, die eben der historische Roman in seiner klassischen Periode gestaltet hat. Aus der mehr i deenhaft-allgemeinen als konkret-historischen Beziehung die-

Der historische Roman des demokratischen Humanismus ser Produktion zur Gegenwart folgt notwendigerweise eine stellenweise Ver­ zerrung bestimmter historischer Persönlichkeiten oder Strömungen, also ein Abweichen von jener großartigen Treue zur historischen Wirklichkeit, die die Stärke des klassischen historischen Romans gewesen ist. Aber darüber hinaus wirkt diese allzu ideenhafte und darum allzu direkte Beziehung zur Gegenwart auf die Gesamtheit der dargestellten Welt in einer abstrahierenden Weise. Ist der historische Roman, wie er es bei den Klassikern gewesen ist, konkrete Vorgeschichte der Gegenwart, so ist künstlerisch das in ihm dar­ gestellte Volksschicksal Selbstzweck. Die lebendige Beziehung zur Gegenwart spricht sich in der gestalteten Bewegung der Geschichte selbst aus, ist also im künstlerischen Sinne objektiv, wird künstlerisch zur reinen Gestalt und sprengt niemals den menschlich-historischen Rahmen der dargestellten Welt. (Daß dies nur innerhalb der Grenzen des »notwendigen Anachronismus« ge­ schehen kann, haben wir früher ausführlich dargelegt . ) Die heute vorherr­ schende direkte und ideenhafte Beziehung zur Gegenwart weist dagegen im­ manent die Tendenz auf, die Darstellung der Vergangenheit in ein Gleichnis der Gegenwart zu verwandeln, der Geschichte unmittelbar ein » Fabula docet« abzuringen, was dem Wesen der historischen Konkretheit des Inhalts und der wirkilchen, nicht formellen Abgeschlossenheit der Gestaltung widerstreitet. Es klingt vielleicht paradox, aber es ist tatsächlich so, daß gerade diese direkte Beziehung zur Gegenwart auch auf die in den Vordergrund gestellten Gegenwartsprobleme abstrahierend und darum abschwächend wirkt. Am deutlichsten ist dies in Feuchtwangers neuem Roman »Der falsche Nero « sichtbar. Es gibt kein anderes künstlerisches Produkt unserer Gegenwart, das . aus einem so glühenden Haß gegen den Faschismus entstanden wäre. Das satirische Pathos dieses Hasses, mit welchem Feuchtwanger einen sehr weiten Schritt vorwärts in der Richtung der revolutionär-demokratischen Art der Bekämpfung des Feindes getan hat, ist aber nicht der alleinige Vorzug dieses Werkes. Feuchtwanger gestaltet hier Volksbewegungen mit einer größeren Konkretheit als in seinen Josephus-Flavius-Romanen, sogar als im zweiten Teil dieses Zyklus. Diese Volksbewegungen sind zwar auch von den Draht­ ziehern im Hintergrund und den Führern im Vordergrund aus gesehen und dargestellt, aber sie haben doch einen viel höheren Grad der Konkretheit und der Differenzierung erlangt als die in seinen früheren Werken. Trotz einer solchen größeren Lebendigkeit und Konkretheit ist dieses interessante Werk doch nur ein großes Gleichnis : wir erleben, wie, durch großkapitalistische In­ trigen angezettelt, ein pathetischer Hanswurst sich an die Spitze einer Volks­ bewegung schwingt, wie er lange Zeit hindurch diktatorische Macht aus-

Humanismus im historischen Roman übt, wie seine Macht bei der Ernüchterung des Volkes zusammenbricht. Eine tödlicher treffende Satire auf Hitler, auf seine vornehmen und pöbelhaften Helfershelfer ist bis jetzt noch nicht geschrieben worden. Infolge der scharfen und sofort einleuchtenden Durchschlagskraft di eser Sati re kommt dem » Fal­ schen Nero » eine wichtige Rolle im antifaschistischen Kampf zu. Was fehlt aber diesem interessanten und wirksamen Werk ? Wir glauben : gerade die tiefste und konkreteste Beziehung zur Gegenwart. Es gibt nur den unmittelbaren Gefühlen gegen den Hitlerismus Ausdruck. Denn die wirk­ liche, tieferliegende Frage, die alle wahren Demokraten aufs tiefste bewegt, ist die : wie konnte diese Mörderbande zur Herrschaft in einem Land wie Deut� chland gelangen ? Wie war es möglich, daß hier eine Bewegung entstand, in der Tausende und Abertausende überzeugter Menschen fanatisch für die Sache dieser feilen und mörderischen Söldner des Kapitalismus gekämpft haben ? Das Rätsel dieser Massenbewegung , das Rätsel dieser Schmach für Deutschland enthüllt der satirische Roman Feuchtwangers eben nicht. Es wi rd in ihm als eine einfache Tatsache hingenommen, daß das Volk zeitweilig auf die plumpeste Demagogie hereinfällt. Wie aber diese plumpe Demagogie eine solche Wirkung auf Millionenmassen ausüben konnte, wird nicht einmal als Frage aufgeworfen, geschweige denn beantwortet. Und das Aufwerfen dieser Frage von höchstem Rang ; es ist die Frage der konkreten Perspektive des Zusammenbruchs der faschistischen Mordherrschaft. Daß dem so ist, zeigt der Roman Feuchtwangers selbst. Da er die geschichtlich-gesellschaftliche Entstehung der Herrschaft seines fal­ schen Nero nicht konkret aufgezeigt hat, ist er auch nicht in der Lage, den Zusammenbruch gesellschaftlich-geschichtlich konkret zu gestalten. Es ge­ schieht ein » Wunder« : ein satirisches Lied geht von Mund zu Mund, entlarvt die innere Hohlheit des Usurpators und seiner Bande, das Volk wird er­ nüchte-rt, die barbarische Diktatur bricht zusammen. Diese Zukunftsperspek­ tive drückt nicht mehr, wie die sonstigen satirischen Teile des Romans es durchaus tun, die Gefühle der fortgeschrittenen antifaschistischen Kämpfer aus, sondern - sehr gegen die Absicht Feuchtwangers - die Gefühle jener, die im Faschismus weniger eine konkrete politisch-soziale Strömung des im­ perialistischen Zeitalters als vielmehr eine »soziale Krankheit«, eine Art »Massenwahnsinn « sehen und deshalb tatenlos auf eine » Gesundung«, eine »Ernüchterung« des Volkes, mit einem Wort : auf einen automatischen Zu­ sammenbruch des Hitlerregimes, auf ein Wunder warten . Man sieht : die konkrete Beziehung zur Gegenwart oder, was damit gleich­ bedeutend ist , die konkrete Vertrautheit mit dem Volksleben läßt sich durch

Der historische Roman des demokratischen Httmanismus nichts ersetzen. Auch nicht durch eine gedanklich noch so hochstehende, schrift­ stellerisch noch so blendend ausgedrückte abstrakte Beziehung zur Gegenwart. Dieses Problem muß immer wieder betont werden, denn mit ihm entscheidet sich in jeder Periode auch das künstlerische Schicksal des historischen Romans. Das Selbständigwerden des historischen Romans als besonderen Genres, das bei Feuchtwanger - b esonders in seinen theoretischen 1\.ußerungen - eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, ist auch heute ein Symptom für die Schwäche dieser Beziehungen. Diese Schwäche entspringt ganz entgegen­ gesetzten Gründen als denen, die in der Periode des beginnenden Nieder­ gangs des bürgerlichen Realismus wirksam waren ; aber da sie doch eine Lockerung dieser alles entscheidenden Beziehung ist, muß sie künstlerisch­ formal ebenfalls problematische Folgen zeitigen ; wenn auch der konkrete Charakter dieser Problematik wesentlich anders geartet ist. In beiden Fäl­ len muß eine Modernisierung entstehen und mit ihr im historischen Roman selbst ein Verblassen, ein Abstraktwerden der echten historischen Gestalten. Die Wahrheit dieses Zusammenhangs läßt sich auch an positiven Gegenbeispie­ len erhärten. Erstens sehen wir, daß im historischen Roman selbst Gestaltun­ gen von größerer Tragweite, von entschiedenerer Durchschlagskraft entstehen, wenn die Beziehung des Schriftstellers wenigstens zu bestimmten Seiten des Volkslebens der Gegenwart tiefer, komplizierter, wen.i ger direkt, abstrakt, gleichnishaft ist. Dies kommt in interessanter und für die neue Position dieses historischen Romans charakteristischer Weise gerade bei den positiven Ge­ stalten am deutlichsten zum Ausdruck. Schon die bloße Tatsad1e, daß po­ sitive Gestalten überhaupt geschaffen wer? en können, ist außerordentlich wichtig. Seit dem Michel Chrestien Balzacs und dem Palla Ferrante Stendhals hat der moderne bürgerliche Roman keine positive Gestalt eines Helden, der am öffentlichen Leben aktiv teilnimmt, schaffen können. Aber auch Balzac und Stendhal mußten, als klare und konsequente Realisten, aus diesen ihren demokratischen und volkstümlichen Helden Episodengestalten machen. Erst die Politik der antifaschistischen Volksfront und der in ihr erneuerte Geist der revolutionären D emokratie haben es möglich gemacht, die Sehn­ sucht eines Volkes nach seiner Befreiung in positiven Gestalten zu verkör­ pern. Das ist die außerordentliche historische, politische wie auch künstlerische Bedeutung solcher Figuren wie vor allem des Henri IV. von Heinrich Mann. Diese positiven Gestaltungen sind politisch vertiefte Polemiken gegen den verlogenen demagogischen Führerkult der Faschisten ; und zwar ist ihre pole­ mische Wirkung auch politisch desto breiter, tiefer und treffender, j e höher die positive Personengestaltung künstlerisch steht. Denn erst dadurch können

Humanismus im historischen Roman sie weithin sichtbare Verkörperungen der wirklich tiefen Sehnsucht breitester Volksmassen nach einer positiven Lösung der fürchterlichen Krise sein, die das deutsche Volk im Laufe seiner langen und schweren Geschichte erlebt hat. Die Verwurzeltheit solcher Gestalten in diesen Volksstimmungen ist desto tiefer, je weniger direkt die Gestaltung ist. Auf diese Weise nimmt sie die verschiedenartigsten, verborgensten, nach Licht und Wort ringenden Bestre­ bungen des Volkes in sich auf ; auf diese Weise spricht sie nicht nur das aus, was heute bereits bewußt auf der Oberfläche des Lebens liegt, sondern greift in die wirkliche Entstehungsgeschichte der Unterdrückung, der Entartung und des Weges zur Befreiung hinein und schafft Vorbilder, die das Bewußtwerden, das Entschlossenerwerden der Befreiungssehnsucht beschleunigen. Die Cervantes-Gestalt von Bruno Frank ist eine ernste Abrechnung mit der Losgerissenheit des deutschen Schri fttums vom Volksleben. Während aber diese Selbstkritik der Schriftsteller bisher vorwiegend elegisch und satirisch zum Ausdruck kam (am tiefsten und erschütterndsten im »Tonio Kröger« Thomas Manns) , wird hier das positive Gegenbeispiel gestaltet. Und indem es Frank an vielen Stellen seines Romans gelingt, die menschliche Seite eines großen Schriftstellers zu gestalten, der in erster Linie Kämpfer war und für den die Literatur - die Literatur auf der höchsten Stufe ihrer kulturellen und künstlerischen Vollendung - einen organischen, einen alles krönenden Teil, aber eben doch nur einen Teil seiner gesellschaftlichen Tätigkeit aus­ machte, zeigt er aus dieser Entfremdung einen Weg ins Freie, sowohl für die Schriftsteller selbst wie für die Massen, die eine solche Literatur, solche Schriftsteller schmerzlich entbehrt haben, wenn ihnen dies auch zumeist nicht bewußt war und ihnen erst jetzt bewußt werden konnte, was ihnen eigentlich gefehlt hat. Noch prägnanter ist der Zusammenhang von politisch-polemischer Wirkungs­ kraft und künstlerischer Höhe der Gestaltung in der Figur des Henri IV. von Heinrich Mann. Hier steht seit langer Zeit zum ersten Male eine zugleich volkstümliche und bedeutende, kluge und entschlossene, schlaue und dabei unerschüttert vorwärtsschreitende, tapfere Gestalt vor uns. Und Heinrich Mann hebt, wie wir gesehen haben, gerade das hervor, daß Henri Iv. seine Kraft und Geschicklichkeit aus seiner Verbundenheit mit dem Volksleben schöpft, daß er zum Führer des Volkes geworden ist, weil er die Fähigkeit hat ) die wirkliche Sehnsucht der Volksmassen feinfühlig zu erlauschen, tapfer upd klug zur Erfüllung zu bringen. Gerade die künstlerische Feinheit dieser Gestaltung trifft den Hitlerkult viel tödlicher als zumeist der direkte Angriff. Denn diese Gestaltung Heinrich Manns deckt den Zusammenhang zwischen

D e r histo rische Roman des demok ra tischen Humanis mus

Volk und Führer auf, antwortet also - indirekt polemisch - auf die Frage, die die Massen ernsthaft bewegt : was der soziale Inhalt, was die menschliche Wesenheit des Führertums in Wirklichkeit ist. Wenn man diese indirekte Polemik Manns mit seiner direkten Hitler-Satire in der Gestalt des Herzogs von Guise vergleicht, sieht man die politisch größere Durchschlagskraft der künstlerisch höheren Gestaltungsweise. Diese Bemerkungen dürfen natürlich nicht als Herabsetzung der negativen, der satirischen Gestaltung des Feindes mißverstanden werden. Sie kritisieren bloß die Schranken des allzu direkten, des unhistorischen Herantretens an diese Fragen. Gerade die Erfahrungen der klassischen Literatur zeigen, auf welcher künstlerischen Höhe, wie historisch, wie alle wichtigen Bestimmungen umfassend solche negativen Gestaltungen möglich sind. Die große Bedeutung der positiven Gestaltungen vor allem Heinrich Manns besteht darin, daß hier beträchtliche Schritte getan sind, die direkte und abstrakte und darum un­ historische, bloß gleichnishafte Beziehung zur Gegenwart zu überwinden. Beträchtliche Schritte sind getan. Aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende gegangen. Bruno Frank und selbst Heinrich Mann haben, wie wir gesehen haben, eher Porträts geschaffen als wirkliche Zeitgemälde. Die Volkstüm­ lichkeit ihrer Helden ist, soweit sie sich menschlich , als Eigenschaft des gestal­ teten Individuums äußert, wahr und echt. Der wirkliche Boden, die wirkliche Wechselwirkung mit allen Volkskräften ist jedoch nicht gestaltet. Darum fehlt - auch politisch, auch polemisch - die organische Verbindung mit dem Volksleben ; es fehlt die konkrete Vermittlung zwischen der konkreten Volks­ strömung und dem führenden Helden. Erst wenn das gesellschaftlich-geschicht­ liche und nicht bloß das individuell-biographische Wie der Entstehung des positiven, des volkstümlichen Helden gestalterisch klargelegt wird, kann sich auch die vollwertige politische Wirkung einstellen : die schriftstellerische Ent­ larvung der Pseudohelden des Faschismus. Diesen Schritt hat das Leben bereits getan, und die schriftstellerische Tat eines Heinrich Mann besteht darin, daß er diesen Schritt des deutschen Lebens richtig gesehen und künstlerisch gestaltet hat. Das Weitergehen auf diesem Wege wird ebenfalls nur infolge dieser wachsenden Verbundenheit mit dem Volksleben möglich sein. So korrigiert und leitet das Leben das Schaffen der wirklichen Schriftsteller. Und die Erkenntnis dieser korrigierenden Wirkung führt uns zu dem zweiten positiven Gegenbeispiel, das wir in der Frage der Beziehung zur Gegenwart im Schrifttum unserer Tage beobachten können. Wir haben im früheren Ka­ pitel gezeigt, wie in den Werken von Maupassant und Jacobsen bei ihrer

Humanismus im historischen Roman thematischen Wendung zur Gegenwart die unmittelbaren Erfahrungen des Lebens viele j ener falschen Vorurteile korrigiert haben, die sich im selbständig gewordenen historischen Roman zu einer abstrahierenden Praxis versteiften ; wie bei ihnen in ihren besten Gegenwartsromanen ein » Sieg des Realismus « zustande kommen konnte. Einen solchen »Sieg des Realismus « kann man gerade bei Feuchtwanger oft beobachten. Man kann gegen die Auffassung des Faschismus sowohl im »Erfolg« wie in den »Geschwistern Oppenheim« sehr vieles einwenden. Un d es wäre interessant zu zeigen, wie sich diese falschen Auffassungen des Faschismus in seinen historischen Romanen ver­ größert und vergröbert zeigen . Aber das für uns Wesentliche liegt nicht darin, sondern in der Tatsache, daß Feuchtwanger in diesen Romanen wirklich lebendige und wirklich volkstümliche Gestalten geschaffen hat, Gestalten, in denen die besten gegen die faschistische Barbarei rebellierenden Volkskräfte plastisch und überzeugend zum Ausdruck gekommen sind. Gestalten wie die Johanna Krain im »Erfolg« oder den jungen Gymnasiasten Bernhard Oppenheim finden wir in keinem der historischen Romane Feuchtwangers . Vor allem in diesen Gestalten, aber auch in manchen anderen seiner Gegen­ wartsromane, kommen die bedeutenden , durch falsche Theorien und zeit­ genössische Vorurteile oft getrübten Fähigkeiten dieses Schriftstellers un­ gebrochen zum Vorschein. Feuchtwanger bekennt sich zum historischen Ro­ man, weil in dessen abgeschlossenem Material die künstlerische Arbeit leichter zu sein und bessere Erfolge zu verheißen scheint. Uns scheint, daß gerade diese »Leichtigkeit«, dieser ungenügende Widerstand des historischen Mate­ rials gegen falsche Konstruktionen eine der Quellen der Mängel di eser Romane ist, während die widerspruchsvolle Härte des lebendigen Lebens der Gegenwart dem Schriftsteller, der im Kampf mit ihr steht, die Entfaltung seiner höchsten gestalterischen Fähigkeiten abzwingt. Dieser Zusammenhang ist kein zufälliger. Wenn wir die deutsche Literatur der imperialistischen Periode als Ganzes betrachten, so müssen wir sagen, daß der historische Roman - trotz des Glanzes, den die Figur des Henri rv. aus­ strahlt - nichts aufweisen kann, was sich mit den monumentalen historischen Darstellungen der Gegenwart, mit den »Buddenbrooks « von Thomas Mann, mit dem Romanzyklus Heinrich Manns über das wilhelminische Deutschland usw., messen könnte. Und ebenso ist die Lage in der Literatur der Nach­ kriegszeit. Der » Zauberberg« Thomas Manns, der Weltkriegszyklus Arnold Zweigs, die antifaschistischen Romane Feuchtwangers bezeichnen Höhepunkte der Gestaltung, mit denen im historischen Roman eben nur »Henri IV. « verglichen werden kann .

420

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

In dieser literaturgeschichtlichen und ästhetischen Tatsache kommt ein wich­ tiges Problem der gesellschaftlichen Mission der Literatur zum Ausdruck. Worauf beruht die große Bedeutung der eben aufgezählten Romane ? Darauf, daß ihre Autoren bemüht gewesen sind , die konkrete historische Genesis ihrer Zeit gestalterisch aufzuweisen. Das eben ist es, was dem historischen Roman des deutschen Antifaschismus bis jetzt fehlt und worin seine zentrale künst­ lerische Schwäche l iegt. Das große Problem, vor das der antifaschistische Hu­ manismus gestellt ist, liegt in der Aufgabe, jene gesellschaftlich-geschichtlichen und menschlich-moralischen Kräfte aufzuzeigen, deren Zusammenspiel die Katastrophe Deutschlands vom Jahre 1 93 3 möglich gemacht hat. Denn erst das wirkliche Verständnis dieser Kräfte in ihrer ganzen Kompl iziertheit und Verschlungenheit kann zeigen, wie jene Kräfte konkret gel agert sind, welche konkrete Entwicklungsrichtungen sie nehmen können, um zum revolutionären Sturz des Faschismus zu führen. Der immer stärker erwachende Geist der revolutionären Demokratie in den besten Vertretern der literarischen Volks­ front gegen den Faschismus muß immer energischer in diese Richtung drängen und damit die noch vorhandenen weltanschaulichen und literarischen Tra­ ditionen des Liberalismus der imperialistischen Periode überwinden. Der historische Roman des antifaschistischen Humanismus birgt die Gefahr in sich, den Weg eines geringeren Widerstandes einzuschlagen. Er gibt den Schriftstellern die Möglichkeit, der Frage der historischen Genesis der Gegen­ wart in der Richtung der Abstraktion, der abstrakten Vorgeschichte der Pro­ bleme auszuweichen. Das Aufzeigen dieser Gefahr, die ideologische und künstlerische Kritik der Schwächen, die dar�us folgen, daß sie dieser Gefahr erliegen, bedeutet keine Ablehnung des historischen Romans, seiner großen künstlerischen, kulturellen und politischen Bedeutung für die Gegenwart. Ganz im Gegenteil. Erst wenn diese konkrete historische Genesis der Gegen­ wart im Geist der Schriftsteller sich schriftstellerisch , d. h. in der Form der Gestaltung von Menschen und Schicksalen, im Geiste der revolutionären De­ mokratie geklärt hat, öffnet sich die wirkliche Perspektive für die Entwick­ lung des historischen Romans im engeren Sinne. Wenn wir hier einige der bedeutendsten Schöpfungen der Gegenwart dem historischen Roman unserer Zeit vergleichend gegenübergestellt haben, so taten wir das hauptsächlich deshalb, um den stärker historischen Geist dieser Werke den historischen Ro­ manen gegenüber hervorzuheben. Das schriftstellerische Bewußtwerden dieses historischen Geistes und seine Umsetzung in die Praxis werden erst die Ver­ gangenheit für den antifaschistischen Humanismus im wahren Sinne des Wortes erobern .

Humanismus im historischen Roman

42 1

Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche Kritik an den oben aufgezählten bedeutenden Gegenwartsromanen zu üben. Auch diese sind Produkte ihrer Zeit, und wenn sie auch im Kampf gegen den Imperialismus, gegen den Strom des Niedergangs des Realismus in der imperialistischen Periode ent­ standen sind, konnten sie unmöglid1 von den Schwächen und Schranken des Realismus dieser Zeit völlig unberührt bleiben. Aber bei aller Kritik, die hier möglich und notwendig ist, ist es auffallend, daß viele der bedeutend­ sten dieser Werke dem kl assischen Typus des Gesellschaftsromans vielfach näher stehen als die historischen Romane des Antifaschismus der ihnen ent­ sprechenden Klassik. Unsere bisherigen Erörterungen haben gezeigt, warum dies so sein mußte ; sie haben gezeigt, daß die Ursache hierfür keine rein ästhetische ist, sondern daß gerade der stärker historische Geist in der Auf­ fassung der Gegenwart, der aus der Breite und Fülle der Erfahrungen und Erlebnisse der Schriftsteller heraus zum Fundament dieser Werke geworden ist, ihre Größe ausmacht. Dieser historische Geist ist das große neue Prinzip, das B alzac von Walter Scott gelernt und an alle wirklich großen Vertreter des modernen Gesell­ schaftsromans weitergegeben hat. Der Niedergang des Realismus äußert sich stets in der Lockerung, in dem Abstraktwerden , in der Verflüchtigung dieses historischen Geistes der Gestaltung der Gegenwart, in der metaphysischen Auffassung ihrer Probleme, ihrer Menschen und Schicksale. Der moderne Gesellschaftsroman ist ebenso ein Kind des klassischen historischen Romans, wie dieser aus den großen Gesellschaftsromanen des 1 8 . Jahrhunderts heraus­ gewachsen ist. Die entscheidende Frage der Entwicklung des historischen Romans unserer Tage ist die zeitgemäße Wiederherstellung dieser Ver­ bindung. Diese Wiederherstellung führt künstlerisch notwendig zu einer Renaissance des klassischen Typus des historischen Romans. Aber sie wird und kann keine rein ästhetische Renaissance sein. Nur die konkrete schriftstellerische Stellung der Frage : wie ist das Hitlerregime in Deutschland möglich gewesen? kann ästhetisch zu einer Erneuerung des klassischen Typus des historischen Romans, zu einem künstlerisch wirklich vollendeten historischen Roman führen. Die Persp ektive der Entwicklung des historischen Romans hängt also von der Wiederaufnahme der klassischen Traditionen, von dem fruchtbaren An­ treten des klassischen Erbes ab. Wir haben wiederholt nad1gewiesen, daß es sich dabei nicht um eine ästhetische Frage, nicht um eine formale Nachahmung der Gestaltungsart Scotts oder Manzonis, Puschkins oder Tolstois handelt. Und gerade hier, wo wir die Frage der Perspektive der Entwicklung des

422

Der historische Roman des demokratischen Humanismus

historischen Romans in einen so engen Zusammenhang mit dem Problem stellen, wie das klassische Erbe anzutreten sei, müssen wir energisch hervor­ heben, daß dieses Erbe einerseits in dem volkstümlid1en, demokratischen und eben deshalb wirklich und konkret h istorischen Geist des klassischen Erbes liegt, andererseits, und im engen Zusammenhang damit, in der hohen künst­ lerischen Konkretheit der Formgebung. Aber Volkstümlichkeit, demokrati­ sd1er Geist, konkreter Historismus haben in unserer Zeit einen radikal ande­ ren Inhalt als in der Zeit der Klassiker des historischen Romans. Und zwar nicht nur in der Sowjetunion, wo der radikal andere Inhalt aus dem sieg­ reichen Sozialismus notwendig folgt, sondern auch für die kämpfenden de­ mokratischen Humanisten im kapitalistischen Westen. Der klassische historische Roman hat die Widersprüche des menschlichen Fort­ schritts gestaltet, hat diesen Fortschritt mit historischen Mitteln gegen die ideologischen Angriffe der Reaktion verteidigt, er hat in diesem Kampf den notwendigen Untergang der alten, urwüchsigen Demokratie, die großen heroischen Krisen der Menschheitsgeschichte dargestellt. Aber seine historische Perspektive konnte nur der notwendige Untergang der heroischen Periode, der notwendige Gang der Entwicklung in die kapitalistische Prosa sein. Der klassische historische Roman gestaltet die Abendröte der heroisch-revolutio­ nären Entwicklung der bürgerlichen Demokratie. Der heutige h istorische Roman entsteht und entwickelt sich inmitten der Morgenröte einer neuen Demokratie. Dies bezieht sich nicht nur auf die Sowjetunion, wo die stürmische Entwicklung und der energische Aufbau des Sozialismus eine neue, in der Menschheitsgeschichte noch nicht dagewesene Blüte der höchsten Form der Demokratie, die sozialistische Demokratie, her­ vorgebracht haben. Auch der Kampf der revolutionären Demokratie der Volksfront ist nicht einfach eine Verteidigung der vorhandenen Errungen­ schaften der demokratischen Entwicklung gegen die Angriffe der faschistischen oder faschisierenden Reaktion. Er ist auch dies, er geht aber in der Vertei­ digung der Demokratie über diese Grenzen hinaus und muß, um sie wirk­ sam zu verteidigen, sehr oft über diese Grenzen h inausgehen ; er muß der revolutionären Demokratie neue, höhere, entwickeltere, allgemeinere, demo­ kratischere und sozialere I nhalte geben. Die sich vor uns entfaltende Revo­ lution in Spanien zeigt am deutlichsten diese neue Entwicklung. S ie zeigt , daß eine Demokratie neuen Typus zu entstehen im Begriff ist. Der Kampf um diese neue Demokratie, die in der ganzen Welt eine begei­ sterte Wiederbelebung und Höherentwicklung der Traditionen der revolutio­ nären Demokratie mit sich bringt, erweckt überall einen ungeahnten und

Humanismus im historischen Roman außerordentlichen Heroismus im ganzen Volk. Wir stehen inmitten einer heroischen Periode, und zwar einer solchen, deren Heroismus nicht auf histo­ risch-notwendigen Illusionen beruht, wie der der Puritaner in der englischen, der Jakobiner in der Französischen Revolution, sondern eine wirkliche Er­ kenntnis der Bedürfnisse des werk tätigen Volkes und der Entwicklungsrich­ tung der Gesellschaft zur Grundlage hat. Dieser Heroismus beruht deswegen nicht auf Illusionen, weil seine historischen B edingungen nicht so beschaffen sind, daß eine Periode der prosaischen Ernüchterung seinen Sieg fortsetzen müßte. Der Heroismus der Puritaner in England, der Jakobiner in Frank­ reich hat - sehr gegen den heroischen Willen der revolutionären Kämpfer der Prosa der kapitalistischen Ausbeutung zum Sieg verholfen. Der Herois­ mus der Kämpfer der Volksfront ist dagegen ein Kampf um die wahren Interessen des ganzen werktätigen Volkes, um die Schaffung von materiellen und kulturellen Lebensbedingungen, die sein menschliches Wachstum in jeder Hinsicht garantieren können. Diese Perspektive, daß der Heroismus des Kampfes nicht eine - zwar histo­ risch notwendige - Episode, aber eben doch nur eine Episode im Siegeszug der kapitalistischen Prosa sein muß, ändert die Stellung auch zur Vergangen­ heit. Wenn ein heutiger Schriftsteller, befruchtet von den Erfahrungen der heroischen Kämpfe des Volkes gegen die imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung in der ganzen Welt, die historischen Vorläufer dieser Kämpfe schildert, so kann er dies aus einem ganz anderen, wahreren und tieferen historischen Geist heraus schildern, als es Walter Scott oder B alzac tun konn­ ten, vor deren Augen die heroischen Perioden der Menschheit als historisch berechtigte, historisch notwendige Episoden und Zwischenspiele, aber doch nur als Episoden und Zwischenspiele erscheinen konnten. Diese durch die Ereignisse der Entwicklung der letzten Jahre gewonnene neue Perspektive bedeutet nicht nur die Möglichkeit einer vertieften Auffas­ sung der historischen Vergangenheit, sondern zugleich auch die Ausbreitung des Gestaltungsfeldes unserer konkreten Vorgeschichte. Es sei hier nur auf ein Beispiel hingewiesen. In der bürgerlichen Literatur hat bisher die orien­ talische Thematik notwendig einen exotisch-exzentrischen Charakter gehabt. Der Import indischer oder chinesischer Philosophie in die Niedergangsideo­ logie der Bourgeoisie konnte diese Exotik nur steigern. Jetzt dagegen, da wir Zeitgenossen der heroischen Befreiungskämpfe des chinesischen, des indi­ schen usw. Volkes sind, münden alle diese Entwicklungen konkret und darum dichterisch gestaltbar in d en gemeinsamen Strom der Geschichte der Befrei­ ung der Menschheit. Und im Lichte dieser gemeinsamen Richtung erhellt sich

Der historische Roman des demokratischen Humanismtts die Vergangenheit dieser Völker in einer neuen Weise oder kann sich wenig­ stens durch die Arbeit ihrer bedeutenden Dichter in ganz neuer Weise er­ hellen. Die Herrschaft der Prosa nach dem Niedergang der heroischen Periode be­ ruht darauf, daß die ungeheuren heldenhaften Anstrengungen des Volkes objektiv nur die Folge hatten, daß eine Form der Ausbeutung durch eine an­ dere abgelöst wurde. Objektiv-gesellschaftlich ist selbstverständlich der Sieg des Kapitalismus über den Feudalismus ein großer geschichtlicher Fortschritt. Und die großen Vertreter des klassischen historischen Romans haben auch ge­ stalterisch diese Fortschrittlichkeit anerkannt. Aber gerade weil sie wirklich große Schriftsteller waren, weil sie das Schicksal des Volkes wirklich tief mitempfanden, konnten sie unmöglich unbedingte Verherrlicher des kapita­ listischen Fortschritts sein. Sie gestalteten zusammen mit dem ökonomischen Fortschritt stets die fürchterlichen Opfer, die er das Vol k gekostet hat. Die großen Vertreter des klassischen historischen Romans kommen aus dieser Erkenntnis der Widersprüchlichkeit der Fortschrittsbewegung nicht zu einer kritiklosen Verherrlichung der Vergangenheit. Aber trotzdem drücken ihre Werke deutlich die Trauer über das Vergehen vieler Momente in der Ver­ gangenheit aus : erstens über die Vergeblichkeit der heroischen Aufschwünge in den vergangenen Befreiungsbewegungen des Volkes, zweitens über den Untergang vieler primitiv-demokratischer Institutionen und mit ihnen ver­ bundener menschlicher Eigenschaften, die die Fortschrittsbewegung mitleids­ los zertrümmert hat. Diese Trauer ist bei wirklich bedeutenden Schriftstel­ lern, bei Schriftstellern mit einem wirklich lebendigen historischen Sinn, sehr zwiespältig und widerspruchsvoll , dialektisch ; denn diese Schriftsteller emp­ finden gleichzeitig mit der menschlichen, ästhetischen und ethischen Abnei­ gung gegen die siegreiche kapitalistische Prosa nicht nur deren Notwendig­ keit, sondern auch, daß ihr notwendiger Sieg - trotz aller Scheußlichkeiten, mit denen er verbunden ist - doch ein Schritt vorwärts in der Entwicklung der Menschheit bleibt. Diese Zwiespältigkeit fällt für den heutigen Schriftsteller weg. Seine Per­ spektive der Zukunft, die nicht auf Illusionen, aber auch nicht auf einem ernüchterten Erwachen aus zerbrochenen revolutionären Illusionen beruht, zeigt keinerlei Degradation der heroischen und menschlichen Erscheinungen des Lebens vom Standpunkt der siegreichen Zukunft, sie zeigt, im Gegenteil , eine breitere Entfaltung, eine größere Vertiefung aller wertvollen Eigen­ schaften des Menschen, die im Laufe der bisherigen Entwicklung hervor­ getreten sind, ihre Erhebung auf ein höheres Niveau.

Humanismus im historischen Roman Es genügt, auf ein B eispiel hinzuweisen, um diesen Unterschied der Per­ spektive, der ein Unterschied der Entwicklung der historischen Wirklichkeit ist, zur Evidenz zu bringen. Wir haben im ersten Abschnitt dieser Arbeit Maxim Gorkis schöne Analyse der Romane Coopers angeführt. Aus dieser Analyse geht die zwiespältige Haltung der Klassiker des historischen Romans klar hervor. Sie müssen den Untergang der menschlich edlen Indianer, des einfach anständigen , einfach heldenhaften »Lederstrumpf« als notwendigen Fortschritt bejahen, können aber nicht umhin, die menschliche Minderwertig­ keit der Sieger zu sehen und darzustellen. Das ist das notwendige Schicksal einer jeden primitiven Kultur, die mit dem Kapitalismus in Berührung kommt. Nun hat Fadejew in seinem neuen Romanzyklus ein gewaltiges, thematisch ähnliches Problem aufgeworfen, wenn auch - in den bisher veröffentlichten Teilen seines Werkes - noch nicht gelöst : nämlich das Schicksal des noch fast urkommunistisch lebenden Stammes der Überreste der Udehe, der in eine B erührung mit der proletarischen Revolution gerät. Es ist klar, daß diese Berührung das ökonomische wie sittliche Leben des Stammes in einer vehe­ menten Weise umgestalten muß ; es ist aber ebenso klar, daß diese Umgestal­ tung eine vollkommen entgegengesetzte Richtung einnehmen muß wie die von Cooper als erschütternd tragisch geschilderte. Die revolutionäre Befreiung des Volkes vom Joch des Kapitalismus bringt in außerordentlich b reiten Massen und in sehr tiefer Weise einen heroischen Aufschwung hervor. Aber - und dies ist das Wesentliche - dieser Auf­ schwung ist keine Episode, auf welche ein neues Niederdrücken der Volks­ energien folgen würde, sondern er räumt, im Gegenteil, gerade alle Hinder­ nisse, die vor der Entfaltung der menschlichen Energien in den Volksmassen stehen, hinweg ; er schafft Institutionen, die diese Entfaltung der Energien des Volkes ökonomisch wie kulturell beschleunigen und vertiefen helfen. Diese Persp ektive der wirklichen und dauernden B efreiung des Volkes ändert die Zukunftsperspektive der historischen Romane ; sie gibt ihrer B eleuchtung der Vergangenheit einen ganz anderen Gefühlsakzent, als ihn der klassische histo­ rische Roman besessen hat und besitzen konnte ; sie läßt in der Vergangenheit g::i.nz neue Tendenzen und Züge entdecken, die der klassische historische Ro­ man nicht gekannt hat und nicht kennen konnte. In dieser Hinsicht wird der neue, aus dem volkstümlichen und demokratischen Geist unserer Zeit ent­ stehende historische Roman geradezu im Gege nsatz zum klassischen stehen. Es ist aus dem bisher Ausgeführten verständlich, daß diese neue Perspektive nicht nur für die Schriftsteller der Sowjetunion besteht, sondern auch für die

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Humanisten der antifaschistischen Volksfront; obwohl selbstverständlich diese Tendenzen in der Sowjetunion objektiv wie subjektiv deutlicher und stärker entfaltet sein müssen. Aber der Kampf um eine Demokratie neuen Typus, die Klarheit über die Verbindung der Probleme dieser Demokratie mit der ökonomischen und kulturellen Befreiung der Ausgebeuteten, wie wir sie in den Schriften Heinrich Manns besonders prägnant gesehen haben, zeigen, daß diese Perspektive auch eine Realität für die Kämpfer der Volksfront ist. Sie kann also auch eine Realität für ihre Literatur werden. Die Verwirklichung dieser Tendenzen muß notwendigerweise tiefgehende Veränderungen auch in künstlerisch-formaler Hinsicht am Roman überhaupt und damit auch am h istorischen Roman vollziehen. Ganz allgemein gespro­ chen kann man diese Tendenz als eine Tendenz zum Epos bezeichnen. Diese Tendenz ist in einigen der besten Produkte der neuesten Zeit stark spürbar. Man denke an bekannte Seiten von Heinrich Manns »Henri Quatre « . Diese Tendenz entsteht mit einer tiefen historischen Notwendigkeit. In ihr spricht sich in künstlerischer Hinsicht jener historische Tatbestand aus, von welchem ausgehend wir den entstehenden neuen historischen Roman auch als im Gegensatz zum klassischen stehend bezeichnet haben. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es sich hier nur um eine Tendenz handelt. Das Auf­ hören des antagonistischen Charakters der Widersprüchlichkeit, mit seinen Konsequenzen für alle Lebensäußerungen der Menschen, kann nur im entfal­ teten Sozialismus ein die Struktur und Bewegung des gesellschaftlichen Lebens bestimmendes Prinzip werden. Solange es eine kapitalistische Wirtschaft gibt, muß der Antagonismus der Widersprüche herrschen. Freilich, die konkrete und reale Zukunftsperspektive der Befreiung ergibt ein anderes subjektives Verhalten zum widerspruchsvollen Entwicklungsgang der Geschichte, ohne freilich dessen reale Wesensart aufheben zu können. Deshalb kann es sich bei solchen Stilwandlungen nur um eine Tendenz handeln. Wir sind noch weit entfernt davon, die kapitalistische Prosa als eine voll­ ständig vergangene, wirklich nur der Vergangenheit angehörende Periode der Menschheitsentwicklung ansehen zu können. Die Tatsache, daß die Über­ windung der Überreste des Kapitalismus in der Okonomie und in der I deo­ logie eine zentrale Aufgabe der Politik der Sowj etunion im Inneren bildet, zeigt, daß die kapitalistische Prosa auch in der sozialistischen Wirklichkeit noch immer ein zwar besiegter und zum endgültigen Untergang verurteilter, aber vorläufig doch noch i mmer vorhandener Faktor der Wirklichkeit ist. Was Marx von den rechtlichen Institu tionen gesagt hat, gilt weitgehend auch für die literarischen Formen. Sie können nicht höher stehen als die Gesell-

Humanismus im histo rischen Roman

schaft, die sie hervorbringt. Ja, da sie die tiefsten menschlichen Gesetzmäßig­ keiten, Probleme und Widersprüche einer Epoche behandeln, sollen sie auch nicht höher stehen, etwa in dem Sinne, daß sie die kommenden Perspektiven der Entwicklung als in die Gegenwart hineinprojiziertes Sein utopisch-roman­ tisch vorwegnehmen. Ihre Bedeutung liegt gerade in ihrem Realismus, in ihrer tiefen und treuen Widerspiegelung dessen, was wirklich ist. Denn in dem, was wirklich ist, sind die in die Zukunft führenden Tendenzen realiter stär­ ker und deutlicher enthalten als in den schönsten utopischen Träumen oder Projektionen. Selbstverständlich besteht diese Beschränkung in gesteigertem Maße für die antifaschistische Literatur des Westens. Dort herrscht ja das kapitalistische System in seiner widerwärtigsten, barbarischsten , unmenschlichsten Form. Die Volksfront kann heute im besten Falle, wie in Spanien, nur alle Kräfte der Demokratie zum Widerstand gegen den Faschismus sammeln. Aber der Sieg, die Befreiung des Volkes vom faschistischen Joch, der neue Gesellschafts­ zustand der Demokratie und gar die Abschaffung der Ausbeutung, ist heute bestenfalls Kampfobjekt, in den meisten Fällen bloß reale Zukunftsperspek­ tive. Daß in den kapitalistischen Ländern unter diesen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen eine Literatur dieser Art, wie wir sie im antifaschi­ s tischen historischen Roman kennengelernt haben, entstehen konnte, ist ein sehr wichtiges Zeichen der Zeit, der heranreifenden revolutionären Lage, der ungeheuren internationalen Bedeutung des siegreichen Aufbaus des Sozia­ lismus in der Sowj etunion. Aber die Anerkennung dieser ganz neuen Lage darf uns dennoch nicht dazu verleiten, Perspektiven und Tendenzen gedank­ lich in vorhandene Wirklichkeiten zu verdrehen. Darum ist heute der Gegensatz des historischen Romans zu dem historischen Roman des klassischen Typus nur ein sehr relativer. Der tendenzielle Gegen­ satz mußte energisch hervorgehoben werden, damit nicht das Mißverständnis entstehe, wir wünschten eine formale Wiedererweckung, eine künstlerische Nachbildung des klassischen historischen Romans. Das ist unmöglich. Die Verschiedenheit der historischen Perspektiven bedingt eine Verschiedenheit auch in den künstlerischen Kompositionsprinzipien, in den Prinzipien der Charakterisierung. Je mehr diese Perspektiven, diese Tendenzen sich in Rea­ lität verwa ndeln, je mehr deshalb die allgemeine Entwicklung des Romans in der Richtung der Epopöe tendenziell fortschreitet, desto größer wird dieser Gegensatz. Wie weit es sich um einen ganz radikalen Kontrast handeln wird, darüber sich heute den Kopf zu zerbrechen, wäre mü ßig. Dies um so mehr, als die Hauptfront des Kampfes auch auf künstlerischem

Der historische Roman des demokratischen Humanismus Gebiet die der Überwindung des schädlichen Erbes ist. Wir haben gezeigt, daß im neuen historischen Roman in vieler Hinsicht gegensätzliche Tendenzen zu denen des Niederganges des bürgerlichen Realismus vorhanden sind. Diese Tendenzen sind aber bis jetzt nirgends wirklich bis ans Ende durchgeführt. Die Liquidierung des schädlichen Erbes ist noch lange nicht vollendet. Und wir haben gesehen , daß die ideelle wie künstlerische Problematik des histori­ schen Romans unserer Tage sehr wesentlich von der radikalen Abrechnung mit dieser ideologischen und künstlerischen Erbschaft abhängt. Dabei muß noch besonders hervorgehoben werden, daß das utopische Vorwegnehmen der Zukunftsperspektive, deren Verwandlung in ein vorgebliches Sein, sehr leicht einen Rück.fall in den Stil der niedergehenden Periode infolge eines Ab­ stumpfens der in der Wirklichkeit real wirksamen antagonistischen Wider­ sprüche herbeiführen kann. In diesem Kampf wird das Studium des klassischen historischen Romans eine außerordentliche Rolle spielen. Nicht nur deshalb, weil wir in ihm einen schriftstellerischen Maßstab von sehr hohem Niveau für unsere Gestaltung der realen Tendenzen des Volkslebens besitzen, also einen Maßstab für die Volkstümlichkeit des historischen Romans, sondern auch deswegen, weil in­ folge dieser Volkstümlichkeit der klassische historische Roman die allgemeinen Gesetze der großen Epik in einer vorbildlichen Form zur Geltung brachte, während die Lebensabgerissenheit des Romans der Niedergangsperio de gerade diese allgemeinen Gesetze der Erzählungskunst von der Komposition und der Charakterisierung bis zur Wortauswahl in hohem Maße zersetzt hat. Gerade die Perspektive einer Rück.kehr des Romans zur echt epischen Größe, zur Eposartigkeit muß diese allgemeinen Gesetze der großen Erzählungskunst wiedererweck.en, sie wieder ins Bewußtsein rufen, wieder in Praxis umsetzen, wenn diese nicht in widerspruchsvoller Problematik sich selbst auflösen soll. Diese Problematik können wir gerade an dem höchsten Produkt des moder­ nen historischen Romans, am »Henri IV. « Heinrich Manns, beobachten, wo die großzügige Eposartigkeit des positiven Helden, die Monumentalität des erzählenden Stils in einem seltsamen, ungelösten Widerspruch zu der not­ wendigen, unvermeidlichen und unaufhebbaren Kleinlichkeit der biographi­ schen Darstellungsweise steht. Und in einer ganz anderen , aber in einem großen historischen Sinne ähnlichen Weise konnten wir diese künstlerisch in die Zukunft weisende Kraft, wider­ spruchsvoll vereinigt mit einer spezifischen Gegenwartsproblematik, am »Meister Breugnon« Romain Rollands kenntlich machen. Der historische Roman unserer Zeit muß also vor allem seinen unmittelbaren

Humanismus im historischen Roman Vorgänger radikal und schroff negieren und dessen Traditionen aus dem eigenen Schaffen energisch ausmerzen. Die im Zusammenhang damit ent­ stehende notwendige Annäherung an den historischen Roman klassischen Typs wird, wie unsere Bemerkungen gezeigt haben, keineswegs eine einfache Renaissance dieser Form, keineswegs eine einfache Bejahung dieser klassi­ schen Traditionen sein, sondern, wenn man mir hier diesen Ausdruck aus der Terminologie Hegels gestattet, eine Erneuerung in der Form der Negation der Negation.

BALZAC U N D DE R FRAN ZO S I S CHE REALI S MUS

433 Vorwort

Die in diesem kleinen Buch gesammelten Artikel habe ich vor beiläufig fünf­ zehn Jahren geschrieben. Es kann die Frage auftauchen, warum ich sie gerade jetzt herausgebe. Im ersten Moment scheint es, als hätten sie überhaupt keine Aktualität. Weder Thema noch Ton kommen im wesentlichen der all­ gemeinen Stimmung entgegen. Ich glaube aber, ihre Aktualität besteht gerade darin, daß sie sich - ohne eine ins Detail gehende Polemik zu sein - ge­ wissen, noch heute sehr verbreiteten literarischen und weltanschaulichen Strömungen entgegenstellen. Wenn wir die Frage literaturgeschichtlich formulieren, dann heißt sie etwa : ist Balzac oder Flaubert die Spitzenerscheinung, der typische Klassiker des 1 9 . Jahrhunderts? Dieses Urteil ist nicht nur eine Sache des Geschmacks, sondern führt zu allen zentralen Problemen der Asthetik des Romans. Es taucht die Frage auf, ob die Einheit oder das Auseinanderklaffen von äußerer und innerer Welt die gesellschaftliche Grundlage der künstlerischen Größe, der allumfassenden Kraft des Romans ist ; ob der bürgerliche Roman in Gide, Proust und Joyce kulminiert, oder aber schon viel früher - in Balzac, Stendhal und Tolstoi - seinen ideellen und künstlerischen Gipfel erreicht hat, dem heute nur einzelne, gegen den Strom ankämpfende große Künstler, wie Thomas Mann , nahekommen. Hinter diesen beiden ästhetischen Anschauungen steht die Anwendung zweier verschiedener Geschichtsauffassungen in bezug auf das Wesen und die ge­ schichtliche Entwicklung des Romans. Da aber der Roman das führende, herrschende Genre der modernen bürgerlichen Kunst ist, weist dieser Gegen­ satz auf die Entwicklung der Literatur, ja sogar der ganzen Kultur hin. Auch die geschichtliche Frage lautet : führt der Weg der Kultur auf- oder ab­ wärts ? Zweifellos : er führte und führt durch finstere Zeiten. Doch es ist Aufgabe der Geschichtsbetrachtung, zu entscheiden, ob die Verfinsterung des Horizontes, der die »Lehrjahre des Gefühls« zum erstenmal einen adäquaten Ausdruck gaben, ein endgültiges, fatales Schicksal ist, oder aber ein Tunnel, aus dem es, obwohl er lang ist, doch einen Ausgang gibt? Die bürgerliche Ästhetik und Kritik sah keinen Ausweg aus diesem Dunkel. Sie betrachtete die Dichtun g nur als Erleuchtung des Innenlebens, als klare Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit (bestenfalls als Trostgesang, als ein nach außen projiziertes Wunder) . Aus dieser Geschich tskonzeption folgt logisch

434

Balzac

und der französisdJe Realismus

notwendig, daß Flauberts Werk, insbesondere »Lehrjahre des Gefühls «, als größte Leistung der modernen Romanliteratur zu gelten hat. Diese Konzep­ tion erfaßt naturgemäß alle Details der Literatur. Ich bringe nur ein Bei­ spiel : der wirkliche i deelle und psychologische Inhalt des Epilogs von »Krieg und Frieden« ist jener Prozeß, der nach den Napoleonischen Kriegen die entwickeltste Minderheit der russischen Adelsintelligenz, freilich nur eine verschwindende Minderheit, zum Dekabristenaufstand, zum tragisch heroi­ schen Vorspiel des hundertjährigen Befreiungskampfes des russischen Volkes geführt hat. Davon hat die alte Geschichtsphilosophie und Asthetik nichts gemerkt. Für sie nahm der Epilog die matten Farben der Flaubertschen Trostlosigkeit an, zeigte das Scheitern des ziellosen Suchens und der ver­ geblichen Anläufe der Jugend, das Versinken in die farblose Prosa des bür­ gerlichen Familienlebens . Und ähnliches gilt für fast alle Detailanalysen der bürgerlichen Asthetik. Der Gegensatz zwischen dem Marxismus und der Geschichtsauffassung der letzten fünfzig Jahre, deren weltanschauliches Wesen darin besteht, daß sie die Geschichte als die Wissenschaft der einheitlichen Aufwärtsbewegung der Menschheit leugnet, bedeutet einen scharfen, objektiven Gegensatz auch in allen Fragen der Asthetik. Die marx istische Geschichtstheorie, als die u m­ fassende Lehre vom notwendigen Weg der Menschheit bis zum heutigen Tage, als die Lehre von der Perspektive der Zukunft, ist ein geschichtlicher Weg­ weiser. Aber dieses Wegweisen, das sid1 aus der Erkenntnis der Gesetz­ mäßigkeit ergibt, bedeutet bezüglich der einzelnen Erscheinungen, der ein­ zelnen Etappen, durchaus keine Sammlung von Rezeptvorschriften ; der Mar­ xismus ist kein B aedeker der Geschichte, so � dern ein Aufzeigen des geschicht­ lichen Entwicklungsweges. Freilich erschöpft diese allgemeine Feststellung durchaus nicht die Wegweiser­ rolle des Marxismus. Der Marxismus zeigt den Weg auch in allen Einzel­ heiten, allen Tagesfragen. In ihm vereint sich die stete Einhaltung der Haupt­ richtung mit der ständigen theoretischen wie praktischen Rücksichtnahme au f die notwendigen Schwenkungen des Weges ; er ist eine auf festen Füßen ste­ hende Geschichtstheorie, deren Grundlage eine schmiegsam veränderliche Ge­ schichtserkenntnis , Geschichtsanalyse ist. Diese - scheinbare - Zweiheit, die in Wirklichkeit die Einheit der materialistischen Weltanschauung aus­ macht, ist zugleich auch der Leitfaden für die marxistische Asthetik und Lite­ raturtheorie. Es ist kein Zufall, daß die großen Marxisten auch in der Asthetik Anhänger des klassischen Erbes sind. Dieses klassische Erbe bedeutet ihnen aber durch-

Vorwort

43 5

aus nicht die Rückkehr zur Vergangenheit, die gerade sie, infolge einer not­ wendigen Konsequenz ihrer Geschichtstheorie, für unwiederbringlich ver­ gangen und unerweckbar halten. Das In-Ehren-Halten des klassischen Erbes in der .Asthetik bedeutet ebenfalls, daß die Marxisten den wirklichen Haupt­ faktor der Geschichte sehen, die Hauptrichtung der Entwicklung, die wirkliche B ahn der Geschichtskurve, deren Formel sie kennen, und daß sie eben des­ halb nicht bei jeder Kurvenbiegung in der Richtung der Tangente hinaus­ schnellen, wie dies die bürgerlichen Denker zu tun pflegen, weil sie die Haupt­ richtung nicht kennen und die Existenz einer Hauptrichtung theoretisch leugnen. Für die .Asthetik ist das klassische Erbe jene große Kunst, die die Totalität des Menschen, den ganzen Menschen im Ganzen der gesellschaftlichen Welt darstellt. Hier bestimmt ebenfalls die allgemeine Philosophie, der proleta­ rische Humanismus die zentrale Problemstellung. Die marxistische Geschichts­ theorie analysiert den ganzen Menschen, seine Entwicklungsgeschichte, die teilweise Verwirklichung seiner Vervollkommnung respektive seine Zerstük­ kelung in den verschiedenen Perioden, und versucht , die verborgene Gesetz­ mäßigkeit dieser Beziehungen festzustellen ; das Ziel des proletarischen Hu­ manismus ist der Mensch in seiner Ganzh eit, die Wiederherstellung der menschlichen Existenz in ihrer Totalität im Leben selbst, die praktische, wirk­ liche Aufhebung der durch die Klassengesellschaft bewirkten Verkrüppelung und Zerstückelung eben dieser Existenz. Diese theoretischen und praktischen Perspektiven bestimmen jene Kriterien, auf deren Grundlage die marxistische .Asthetik zu den Klassikern zurückgreift und zugleich inmitten der gegen­ wärtigen literarischen Kämpfe neue Klassiker auffindet. Die Griechen, Dante, Shakespeare, Goethe, Balzac, Tolstoi, Gorki sind zugleich adäquate Bilder einzelner großer Etappen der Menschheitsentwicklung und Wegweiser im ideologischen Kampf um die Totalität des Menschen. Diese Gesichtspunkte geben ein B ild auch der kulturellen und literarischen Entwicklung des 1 9 . Jahrhunderts . Im Liebte dieser Gesichtspunkte erhellt es sich, daß die wirklichen Fortsetzer des zu Beginn des Jahrhunderts groß­ artig ansetzenden französischen Romans nicht Flaubert und vor allem nicht Zola sind , sondern die russische (und teilweise die skandinavische) Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte. Wenn wir den geschichtlich gefaßten Gegensatz zwischen Balzac und dem französischen Roman der Mitte und zu Ende des Jahrhunderts in eine rein ästhetische Sprache übersetzen, so gelangen wir zu dem Gegensatz zwischen Realismus und Naturalismus . Daß wir hier von einem Gegensatz sprechen,

Balzac und der franz ösisch e Realismus

mag einem Teil der heutigen Schriftsteller und Leser zunächst vielleicht para­ dox erscheinen. Sie haben sich an das Hin- und Herschaukeln der Mode zwi­ schen der Scheinobjektivität des Naturalismus und der Fata-Morgana-Sub­ jektivität des Psychologismus oder des abstrakten Formalismus gewöhnt. Und wer von ihnen den Realismus überhaupt anerkannt, faßt sein eigenes falsches Extrem als ein Hinüberwachsen in den Realismus, als eine neue Abart des Realismus auf. In Wirklichkeit jedoch ist der Realismus nicht irgendeine Art von »mittlerem Weg« zwischen falscher Objektivität und falscher Subjek­ tivität, sondern , im Gegenteil, gerade ein richtiges, die Lösung in sich tragen­ des tertium datur gegenüber jenen Pseudo-Dilemmas, die aus den falsch ge­ stellten Fragen der im Labyrinth Herumirrenden erwachsen. Der Realismus ist die Erkenntnis, daß die künstlerische Schöpfung weder ein toter Durch­ schnitt ist, wie dies der Naturalismus meint, noch ein sich selbst zersetzendes, ins Nichts zerfließendes individuelles Prinzip, die mechanisch outriene, überspannte Zu-Ende-Führung des Einmaligen, des Sich-nie-Wiederholen­ den. Die zentrale Kategorie und das Kriterium der realistischen Literatur­ auffassung : der Typus in bezug auf Charakter und Situation ist eine eigen­ tümliche, das Allgemeine und das Individuelle organisch zusammenfassende Synthese. Der Typus wird nicht infolge seiner Durchschnittlichkeit zum Typus, aber auch nicht durch seinen nur - wie immer vertieften - indivi­ duellen Charakter, sondern dadurch, daß in ihm alle menschlich und gesell­ schaftlich wesentlichen, bestimmenden Momente eines geschichtlichen Ab­ schnitts zusammenlaufen, sich kreuzen, daß die Typenschöpfung diese Mo­ mente in ihrer höchsten Entwicklungsstuf� , in der extremsten Entfaltung der in ihr sich bergenden Möglichkeiten aufweist, in der extremsten Dar­ stellung von Extremen , die zugleich Gipfel und Grenzen der Totalität des Menschen und der Periode konkretisiert. Der wirklich große Realismus stellt also den Menschen und die Gesellschaft nicht von einem bloß abstrakt-subjektiven Aspekt aus gesehen dar, sondern gestaltet sie in ihrer bewegten, objektiven Totalität. Vom Gesichtspunkt die­ ses Kriteriums aus bedeutet sowohl der Aspekt der einseitigen Verinner­ lichung als auch das einseitige Sich-nach-außen-Wenden für jede Kunstrich­ tung gleichermaßen eine Verarmung, eine Verzerrung. Der Realismus be­ deutet dagegen die Plastizität, das Herumgehen-Können um die Gestalt, das selbständige Leben der Menschen und der B eziehungen zwischen ihnen ; er bezeichnet durd1aus nicht ein einfaches Verwerfen des sich zusammen mit dem modernen Leben entwickelnden Kolorismus, des stimmungshaften und seelischen Dynamismus. Der Realismus stemmt sid1 nur dagegen, daß der

Vorwort

4 )• 7 1

Kultus der Farbe, der m omentanen Stimmung die Totalität der Menschen, die objektive Typenhaftigkeit der Menschen und Situationen zerstückelt. Die­ ser Kampf spielt im Realismus des 1 9 . Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Noch l ange bevor diese Frage in der Praxis der Kunst und der Literatur auf­ getreten wäre, stellte Balzac die ganze Problematik dieses Kampfes in der Tragikomödie des »Unbekannten Meisterwerks« prophetisch dar. Hier führt das malerische Experiment, der Versuch, durch die moderne impressionistische Farben- und Stirnrnungsekstase eine neue klassische Plastizität hervorzubrin­ gen, in das vollkommene Chaos. Das Gemälde des tragikomischen Helden, Frenhofer, ist ein Chaos unübersichtlicher Farben, aus denen sich - geradezu als zufälliger Überrest - ein vollkommen gemalter Frauenfuß heraussehen läßt. Der üb erwiegende Teil der modernen Kunst aber entsagt selbst den Kämpfen Frenhofers und begnügt sich damit, mit Hilfe neuer ästhetischer Theorien eine B estätigung für sein Stirnmungschaos zu finden. Die adäquate künstlerische Darstellung des ganzen Menschen ist die zentrale ästhetische Frage des Realismus. Aber das konsequente Zu-Ende-Führen des ästhetischen Gesichtspunktes geht, wie in jeder tiefschürfenden Kunstphilo­ sophie, über die reine Ästhetik hinaus : das Prinzip der Kunst ist, gerade in seiner tiefsten Reinheit, voll von gesellschaftlichen und moralischen, huma­ nistischen Gesichtspunkten. Die Forderung des Realismus nach Typengestal­ tung wendet sich gleichermaßen gegen die Richtungen, in denen das biologische Sein des Menschen, die physiologische Seite des Lebens, die Liebe über­ wuchern (wie bei Zola und seiner Schule), und gegen jene, die den Menschen nur auf seelische, psychologische Vorgänge sublimieren. Bliebe dieses Prinzip auf der Stufe des formalen ästhetischen Werturteils stehen, wäre es zweifel­ los willkürlich, denn nur vorn Gesichtspunkt des Gut-Geschrieben-Seins ist nicht einzusehen , weshalb der erotische Konflikt mit all seinen moralischen und gesellschaftlichen Bestimmungen höher stehen soll als die elementare Spontaneität der reinen Geschlechtlichkeit. Nur wenn sich uns der ganze Mensch als vor der Menschheit stehende gesellschaftliche und geschichtliche Aufgabe eröffnet, nur wenn wir den Beruf der Kunst darin sehen, die wich­ tigsten Wendepunkte dieses Prozesses mit dem Reichtum der in ihr wirksam werdenden Momente darzustellen, nur wenn die Ästhetik der Kunst die Aufgabe anweist, den Weg der Menschheit aufzudecken und zu deuten, nur dann kann der Lebensinhalt in wichtigere und wesenlosere Momente geord­ net werden, in solche, die den Typus und den Weg beleuchten, und in sold1e, die notwendig im Dunkel bleiben. Nur dann kann man einsehen, daß auch die bis in feinste Einzelheiten gehende und schriftstellerisch vollkommene

Balzac und der französische Realisnms Beschreibung von phys iologischen Prozessen - mag hier vom Geschlechtsakt, mag von Qual oder Leid die Rede sein - eine Nivellierung des gesellschaft­ lich-geschichtlichen und moralischen Wesens des Menschen hervorbringt. Sie ist nicht Mittel, sondern Hindernis dafür, die wesentlichen, den ganzen Weg beleuchtenden menschlichen Konflikte in ihrer Vielseitigkeit und Totalität zum Ausdruck zu bringen. Daher rührt es auch, wie die Studien dieses B andes zu zeigen versuchen, daß die neuen Inhalte und neuen Ausdrucksmittel des Naturalismus keine B ereicherung, sondern im Gegenteil eine Verarmung und Einengung der großen Literatur mit sich bringen. Scheinbar gleiche Gedankengänge traten in den schon früh einsetzenden Pole­ miken gegen den Zolaschen Naturalismus auf. Wenn der Psychologismus in seiner Kritik an Zola und an der Zola-Schule auch oft genug in Einzelfragen recht hatte, so stellte er aber dem falschen Extrem des Naturalismus ein ent­ gegengesetzes, ebenso falsches zur Seite. Denn das seelische, innerliche Leben des Menschen beleuchtet ebenfalls nur in organischer Verflochtenheit mit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Momenten die wesentlichen Züge der wesentlichen Konflikte. Davon getrennt, nur auf sich gestellt, nur die eigene immanente B ewegung entwickelnd, ist der Psychologismus ein um nichts we­ niger abstrakter Aspekt, eine um nichts weniger verzerrende und einengende Richtung in der Gestaltung des ganzen Menschen als der naturalistische Phy­ siologismus. Im ersten Augenblick ist hier die Lage, besonders aus dem Gesichtswinkel der heutigen Moden der bürgerlichen Literatur gesehen, weniger evident als beim Naturalismus. Jedem ist sofort klar, daß eine Darstellung des Coitus im Stil der Zola-Schule zwischen, sagen wir, Dido und Äneas oder Romeo und Julia viel mehr einander gleichen würden als Vergils und Shakespeares Gestaltungen der Liebeskonflikte, welche zugleich einen unerschöpflichen Reichtum vom Gehalt der Epochen, der Kulturen, ihrer Menschentypen zu­ tage förderten. Die reine Innerlichkeit aber steht scheinbar im diametralen Gegensatz zur Nivellierung ; bringt sie doch die einzigartigen, sich nie wieder­ holenden Züge der Individuen ans Tageslicht. Aber das extrem I ndividuelle ist gerade diesem Charakter zufolge von einer extremen Abstraktheit. Hier ist das geistreiche Chestertonsche Paradoxon ebenfalls gültig : »Das innere Licht ist die trübste B eleuchtungsart. « Es ist j edem klar, daß der grobe Phy­ siologismus der Naturalisten und die grobschlächtigen Darstellungen der Ten­ denzschriftsteller der wahren Gestaltung der Individualität des ganzen Men­ schen Gewalt antun. Doch nicht jeder sieht, obwohl es objektiv gerade ebenso wahr ist , daß die seelische Kleinkrämerei des Psychologismus, die Umgestal-

Vorwort

4 39

tung des Menschen in einen chaotischen Fluß von Vorstellungen, nicht weni­ ger jede Möglichkeit der dichterischen Gestaltung zerschlägt. Der uferlos da­ hinflutende Assoziationsstrom von Joyce schafft ebensowenig lebendige Men­ schen wie die Ideale und Karikaturen der kalten Konstruktionen Upton S inclairs. Hier ist nicht der Ort, dieses Problem in seiner ganzen Breite aufzurollen. Wir müssen nur auf einen wichtigen, heute allgemein vernachlässigten Ge­ sichtspunkt aufmerksam machen, daß nämlich die lebendige Gestaltung des ganzen Menschen nur dann möglich ist, wenn der Schriftsteller es sich zum Ziel setzt, Typen zu schaffen. Das beinhaltet den unzertrennbaren Zusam­ menhang zwischen dem Privatmenschen und dem Menschen des öffentlichen Lebens der Gesellschaft. Wir wissen : das ist der wundeste Punkt der moder­ nen bürgerlichen Literatu r ; nicht seit gestern, sondern beinahe seit dem Be­ stehen der modernen bürgerlichen Gesellschaft. An der Oberfläche des ge­ sellschaftlichen Lebens scheint es, als wären beide scharf voneinander ge­ trennt ; je mehr sich die moderne bürgerliche Gesellschaft entfaltete, desto stärker wurde der Schein, die Individuen seien voneinander isoliert, der Schein, als gehorchte �as innere Seelenleben, das eigentliche Privatleben einer eigenen autonomen Gesetzmäßi gkeit, als verliefen seine Erfül lungen und Tragödien immer unabhängi ger vom gesellschaftlichen Leben. Und dement­ sprechend entstand auf der anderen Seite der Schein, als könnte sich der Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben nur in pathetischen Abstrakt­ heiten äußern, deren adäquater literarischer Ausdruck entweder die Rhetorik oder die Satire wäre. Die unvoreingenommene Untersuchung des Lebens kann uns leicht zur Er­ kenntnis des wahren Sachverhaltes führen, zu einer Erkenntnis, die in den großen Realisten zu Anfang und in der Mitte des Jahrhunderts lebendig war und die Gottfried Keller sagen ließ : »Alles ist Politik.« Der große Schweizer Schriftsteller meinte damit nicht, daß alles unmittelbar Politik sei ; ganz im Gegenteil, seine Einsicht - so wie die Balzacs, Stendhals und Tolstois enthält die Erkenntnis, daß jede Handlung, jeder Gedanke und jedes Gefühl des Menschen - mag er es wollen oder nicht, mag er es wissen wollen oder sich davor verstecken - unzertrennlich mit dem Leben der Gesellschaft, mit ihren Kämpfen, ihrer Politik verwoben ist ; hier entspringen sie objektiv, und hier münden sie objektiv ein. Die großen Realisten erkennen und gestalten nun nicht nur diese Sachlage, sondern stellen sie auch als Forderung auf : sie wissen, daß diese - freilich aus gesellschaftlichen Gründen entstandene - Verzerrung der objektiven

44 0

Balzac 1m d der französische Re,i lismus

Wirklichkeit, dieses Entzweischneiden des ganzen Menschen in den Menschen des öffentlichen Lebens und in den Privatmenschen eine Verzerrung und Ver­ stümmelung des menschlichen Wesens bedeutet. Sie p rotestieren also nicht nur als große Gestalter der Wirklichkeit, sondern auch als Humanisten gegen diesen notwendigen Schein der kapitalistischen Gesellschaft, gegen diese sich spontan bildende Oberfläche. Wenn sie als Schriftsteller tief schürfen, um den wirklichen Typus aufzufinden, d ann hal ten sie der modernen Gesellschaft zugleich den entlarvenden Spiegel vor, in dem wir heute den Gol gatha-Weg der Totalität des Menschen verfolgen können. Bei den großen Realisten, wie Balzac, Stendhal oder Tolstoi , steht also in dieser Frage ebenfalls ein tertium datur den beiden falschen Extremen der modernen Literatur gegenüber, das sowohl die ärmlich reine Gesellschaftlich­ keit der gutgläubigen Tendenzromane als auch den angeblichen Reichtum, den d as Schwelgen im Privatleben enthalten soll, als dichterische Abstraktion, als Verarmung der wirklichen Poesie des Leben entlarvt. Damit sind wir bei der Frage nach der Aktualität des großen Realismus an­ gelangt. Jede große Zeit ist eine Übergangszeit, ist die widerspruchsvolle Einheit von Krise und Erneuerung, von Zugrundegehen und Neuerstehen ; eine neue Gesellschaftsordnung und neue Menschen kommen immer in einem einheitlichen, wenn auch von Widersprüchen erfüllten Prozeß zustande. In einem solchen krisenhaften übergangszeitalter ist die Verantwortung der Literatur außerordentlich groß. Aber dieser Verantwortung kann allein der große Realismus genügen ; die abgeleierten Mode-Ausdrucksweisen hindern die Literatur immer mehr, jenen Platz ausz:ufüllen, der ihr geschichtlich an­ gewiesen ist. Es wird sicher niemanden überraschen, wenn wir uns aus dem Gesichtswinkel dieser Forderung gegen den sich pri vatisierenden Psy­ chologismus wenden. Es wird wohl eher ein Befremden hervorrufen, daß diese Studien scharf gegen Zola und den Zolaismus Stellung nehmen. Das Befremden wird hauptsächlich d adurch hervorgerufen werden, daß Zola ein linker Schriftsteller war und seine schriftstellerische Methode in erster Linie, wenn auch durchaus nicht ausschließlich, die linke Literatur be­ herrscht. Dies erweckt den Anschein, daß wir uns hier in Widersprüche ver­ wickeln, einerseits die Politisierung der Literatur fordern , andererseits aber der kämpfenden Literatur in den Rücken fallen. Dieser Widerspruch ist aber bloßer Schein ; er ist jedoch dazu geeignet, den wirklichen Zusammenhang von Weltansd1auung und Literatur zu beleuchten. Die jetzt berührte Frage hat (wenn wir von der russischen demokratischen Kritik absehen) Engels als erster aufgeworfen, gerade in der Gegenüber-

Vo rwo rt

44 1

stellung von Balzac und Zola. Engels zeigte, daß B alzac, obwohl politisd1 Legitimist, in seinen Werken gerade zur Entlarvung des royalistisch-feudalen Frankreich, zur mächtigsten, diditerisch hohen Gestaltung des Zum-Tode­ verurteilt-Seins der feudalen Ordnung gelangt ist. Dieser Zusammenhang (eine ins einzelne gehende Analyse wird der Leser in diesem Buch :finden) er­ weckt im ersten Augenblick wieder den Schein der Widerprüchlichkeit. Es könnte scheinen, als wäre die Weltanschauung, die politisdie Stellungnahme für den ernsten, großen Realisten irrelevant. Das ist aber nur ein - freilich nicht ganz einfacher - Schein. Denn in bezug auf die Selbsterkenntnis der Gegenwart ist für die Gesdiichte das Weltbild entscheidend, das das Werk gibt, ist das entscheidend, was es verkündet ; wie weit sich dies mit den bewußt ausgedrückten Anschauungen des Künstlers im Einklang befindet, ist eine Frage zweiter Ordnung. Freilich taucht damit ein großes Problem der Literaturtheorie in den Klas­ sengesellschaften auf. Was Engels in bezug auf B alzac den » Sieg des Realis­ mus« nennt, gräbt bis an die Wurzeln der realistischen künstlerischen Gestal­ tung. Dieser Begriff zeigt die Bedeutung des wirklichen Realismus auf: den Wirklichkeitshunger, den Wirklichkeitsfanatismus des großen Künstlers und dessen moralische Seite : die schriftstellerische Ehrlichkeit. Wenn bei so großen Realisten wie Balzac, Stendhal oder Tolstoi die innere künstlerische Entwick­ lung der von ihnen erdaditen Situationen und Gestalten mit ihren gehätschel­ ten Vorurteilen, ja sogar mit ihren heiligen Überzeugungen in Widerspruch geraten, so werden sie keinen Augenblick zögern, Vorurteile und Überzeu­ gungen beiseite zu schieben, und werden das beschreiben, was sie wirklich sehen. Diese Grausamkeit dem eigenen unmittelbaren, subjektiven Weltbild gegenüber ist die tiefste schriftstellerische Moral der großen Realisten im scharfen Gegensatz zu jenen kleinen Schriftstellern, denen es geradezu immer gelingt, ihre Weltanschauung mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, das heißt sie dem entsprechend verzerrten, verbogenen Bild der Wirklichkeit aufzuzwingen. Diese beiden Pole der sdiriftstellerischen Moral stehen mit der Zweiheit der wirklichen und der Pseudo-Gestaltung in engem Zusam­ menhang. Die Gestalten der großen Realisten, sind sie einmal in der Vision des Dichters aufgesprossen, leben ein von ihrem Sdiöpfer unabhängiges Leben : sie entwickeln sich in einer Richtung, erleiden ein Schicksal, das ihnen die innere Dialektik ihres gesellschaftlichen und seelischen Daseins vor­ schreibt. Wer die Entfaltung seiner eigenen Gestalten zu dirigieren imstande ist, kann kein wirklicher Realist, kein bedeutender Schriftsteller sein. All dies ist aber nur erst eine Besdireibung des Phänomens. Die Moral des

442

Balzac und der französische Realismus

Schriftstellers gibt Antwort auf die Frage : was er tun wird, wenn er die Wirklichkeit so und so sieht. Doch daraus wird noch nicht klar, wie und was er sieht. Hier tauchen die wichtigsten Fragen der gesellschaftlichen Bestimmt­ heit der künstlerischen Gestaltung auf. I m Verlauf dieser Studien wird im einzelnen aufgezeigt, welche grundlegenden Verschiedenheiten sich in der künstlerischen Gestaltungsweise der Schriftsteller ergeben , je nachdem ob die Schriftsteller am gesellschaftlichen Leben teilnehmen oder nicht, ob sie sich an seinen Kämpfen beteiligen oder bloße Beobachter sind. Die so entste­ henden Differenzen bestimmen vollkommen gegensätzliche Gestaltungspro­ zesse ; schon das das Werk auslösende Erlebnis hat eine andere Struktur, und dementsprechend verläuft auch die Gestaltung des Werkes verschieden. Und ob nun ein Schriftsteller dem Typus des in der Gesellschaft lebenden oder dem des nur beobachtenden angehört, ist keine psychologische, ja, selbst nicht ein­ mal eine typologische Frage, sondern es ist die Entwicklung der Gesellschaft selbst, die - freilich nicht automatisch, nicht fatalistisch - bestimmt, wer sich in welcher Richtung entwickeln wird. Nicht wenige kontemplativ veranlagte Schriftsteller hat der Strudel des gesellschaftlichen Lebens ihrer Zeit in das intensive Darin-Leben hineingeris­ sen, oder : Zola war seinen individuellen Neigungen nach auf das Handeln eingestellt, seine Zeit machte aus ihm einen bloßen Zuschauer, und als er dann doch dem Ruf des Lebens folgte, war dies vom Gesichtspunkt seiner schrift­ stellerischen Entwicklung aus schon zu spät. Aber auch das ist nur die formale Seite dieses Zusammenhanges, wenn auch nicht mehr die der abstrakten Form. Inhaltlich, entscheidend, das Wesen treffend wird das Problem nur dann, wenn wir uns konkret fragen : wo steht der Schriftsteller? was liebt, was haßt er? So gelangen wir zur tieferen Klärung der wirklichen Weltanschauung des Schriftstellers , zur Frage des d ichterischen Werts und der dichterischen Fruchtbarkeit der schriftstellerischen Weltanschauung. Jener Widerspruch, der sich uns vorher als der Widerspruch zwischen der Weltanschauung des Schriftstellers und der treuen Widerspiege­ lung der gesehenen Welt zeigte, klärt sich jetzt als weltanschauliches Problem auf: als Widerspruch zwischen der tieferen und der ob erflächlichen Schicht sei­ ner Weltanschauung. Realisten wie B alzac, Stendhal oder Tolstoi gehen in ihren letzten Frage­ stellungen immer von den größten aktuellen Problemen des Volkslebens aus, ihr schriftstellerisches Pathos wird immer von den aktuell schmerzlichsten Leiden des Volks durchglüht, diese bestimmen den Gegenstand und die Rich­ tung ihrer Liebe und ihres Hasses und durch diese hindurch : was sie in ihrer

Vorwort

44 3

dichterischen Vision sehen und wie sie es sehen. Wenn also, wie wir zeigten, im Verlauf des Gestaltungsprozesses die gedanklich formulierte Weltanschau­ ung der D ichter mit der in ihre Visionen gefaßten, gesehenen Welt in Wider­ spruch gerät, dann stellt es sich heraus, daß sie i n der ersteren ihre wirkliche Weltanschauung nur oberflächlich zu formulieren imstande waren und daß die wirkliche Ti efe ihrer Weltanschauung, das Verwachsen-Sein mit den großen Problemen der Zeit und den Leiden des Volkes nur im Wesen und Schicksal ihrer Gestalten einen adäquaten Ausdruck erhalten konnte. Niemand hat jene Qualen, die der Übergang zur kapitalistischen Produktion für alle Schichten des Volkes hervorruft, jene tiefe seelische und moralische Degradierung, die diese Entwicklung in allen Schichten der Gesellschaft not­ wendig begleitet, so tief durchlebt wie Balzac. Doch gleichzeitig durchlebte Balzac nicht nur die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Umbruchs, son­ dern auch die geschichtliche Wahrheit seines - letzten Endes - progressiven Wesens. Diesen Widerspruch seiner Erlebniswelt versuchte Balzac in ein auf dem Boden eines katholischen Legitimismus stehendes, mit englischem Tory­ Utopismus geziertes System zu zwängen. Dieses System wurde immer wieder von der Wirklichkeit der Gesellschaft seiner Zeit, von der diese Wirklichkeit spiegelnden Balzacschen Vision widerlegt. In dieser Widerlegung jedoch kam die wirkliche Wahrheit klar zum Ausdruck : die tiefe Erkenntnis Balzacs, welch wi derspruchsvoll progressiven Charakter die kapitalistische Entwick­ lung hat. Mutatis mutandis gilt dies auch für Tolstoi. Und dieser Widerspruch gipfelt bei dem Legitimisten B alzac darin, daß die einzigen wahren und reinen Helden seiner figurenreichen Welt die entschlossenen Kämpfer gegen Feudalismus un d Kapitalismus sind : Jakobiner und Märtyrer der Barrikaden­ kämpfe. So verflechten sich großer Realismus und volkstümlicher Humanismus zu einer organischen Einheit. Denn, wenn wir die klassischen Schriftsteller der bürgerlichen Literatur betrachten, die aus der das Wesen dieses Zeitalters bestimmenden gesellschaftlichen Entwicklung hervorgegangen sind, angefan­ gen bei Goethe und Walter Scott bis zu Tschechow und Thomas Mann, dann werden wir - mutatis mutandis - dieselbe Struktur der Grundprobleme vorfinden. Natürlich hat jeder große Realist seiner Zeit und seiner künst­ lerischen Individualität entsprechend diese Grundfrage anders angepackt. Aber allen ist gemeinsam : die Verwurzel ung in den großen Problemen ihrer Zeit und die unbarmherzige Gestaltung des wahren Wesens der Wirklichkeit. Seit der Französischen Revolution schreitet die Entwicklung der Gesellschaft in einer Richtung voran, die die Bestrebungen der echten Schriftsteller unum-

4 44

Balzac und der französische Realismus

gänglich in einen Widerspruch zur Literatur und zum Publikum ihrer Tage drängt. In der gesamten bürgerlichen Epoche konnte ein Schriftsteller nur im Kampf gegen diese Tagesströmungen groß werden. Seit Balzac wuchs der Widerstand des Alltags gegen die besten Tendenzen der Literatur, der Kultur und Kunst mehr und mehr. Doch immer fanden sich einzelne Schriftsteller, die in ihrem Werk gegen ihre Zeit den Hamletschen Befehl erfüllten : der Welt einen Sp iegel vorzuhalten und mit Hilfe dieses Spiegelbildes die Ent­ wicklung der Menschheit vorwärtszutreiben ; dem humanistischen Prinzip in einer widerspruchsvollen Gesellschaft, die einerseits das I deal des ganzen Menschen hervorbringt, es aber andererseits in der Praxis zerstört, zum Durchbruch zu verhelfen. Die Entwicklung des großen Realismus in Rußland nahm diese Probleme ais Ganzes auf und beantwortete sie auf einer historisch höheren Ebene. Diese skizzenhaften Bemerkungen waren notwendig, um unsere Schlußfolge­ rung aussprechen zu können. Noch nie brauchte die Welt eine realistische Literatur so nötig wie heute. Und vielleicht waren die Traditionen des großen Realismus noch nie unter so vielen gesellschaftlichen und künstlerischen Vor­ urteilen begraben. Deshalb halte ich die Berufung auf Balzac und Tolstoi, auf Stendhal und Tschechow für eine aktuelle Frage. Nicht, daß ich sie als zu kopierende Muster, als Modell hinstellen möchte. Beispielgebung ist nicht Nachahmung, sie führt aber zur richtigen Erkenntnis der Aufgabe, zum Studium der zur Lösung notwendigen Vorbedingungen. So half Goethe Wal­ ter Scott, so Walter Scott Balzac , so Balzac Dostojewskij. Aber Walter Scott ahmte Goethe ebensowenig nach wie Balzac Walter Scott, wie Dostoj ewskij Balzac. Der konkrete Weg der künstlerischen Lösung ist nur aus der Lieb e zum Volk, aus dem Haß seiner Feinde, aus der unbarmherzigen Aufdeckung der \Y/irklichh:eit und dem gleichzeitigen unerschütterlichen Glauben an den Fort­ schritt der Menschheit und der Nation zu gewinnen. Wenn wir zu einem Zeitpunkt, wo die Sehnsucht nach einer die heutige Lage tief beleuchtenden Literatur allgemein und der große Realismus berufen ist, in der demokratischen Erneuerung der Nationen eine führende Rolle zu spie­ len wie noch nie, wenn wir uns in diesem Zusammenhang auf B alzac und Stendhal (und auf die großen Russen) berufen und sie dem Zolaismus, dem Naturalismus gegenüberstellen, dann glauben wir auch eine aktuelle Auf­ gabe zu erfüllen, indem wir nämlich gegen gesellschaftliche und ästhetische Vorurteile kämpfen, die viele ausgezeichnete Schriftsteller daran gehindert haben, den für sie höchstmöglichen Realismus zu erringen. Wir wissen, daß die Entwicklung der Literatur und der Schriftsteller vor allem durch gesell-

Vor'T.v ort

44 5

schaftliche Kräfte gedrosselt worden ist : durch die Reaktion eines Viertel­ jahrhunderts, die zuletzt in das teuflische Zerrbild des Faschismus mündete. Die politische und gesellschaftliche Befreiung der Welt entfaltet sich immer stärker, aber die Nebel der Reaktion trüben noch immer das Denken großer Massen. Diese Situation legt der Literatur eine hohe Verantwortung auf. Dem Schriftsteller genügt ein politisch und gesellschaftlich klarer Blick allein nicht; für ihn ist der schriftstellerisch klare Blick ebenso unumgänglich nötig. Dieses kleine Buch möchte dazu nun einige Beiträge liefern. Budapest, Oktober 1 9 5 1

4 47 1

Die B auern

Balzac wollte in diesem, seinem bedeutendsten Roman der Spätzeit die Tra­ gödie des sterbenden aristokratischen Großgrundbesitzes schreiben. Der Ro­ man ist als Schlußstein jener Reihe von Werken konzipiert, in denen Balzac die Auflösung der aristokratischen Kultur Frankreichs durch den heranwach­ senden Kapitalismus schildert. Er ist wirklich der Abschluß dieser Reihe, denn hier werden die unmittelbaren ökonomischen Ursachen des Zugrundegehens der Aristokratie gestaltet. Davor gab Balzac das Bild der sterbenden Aristo­ kratie in Paris oder in entlegenen Provinzstädten. Hier führt er uns auf das ökonomische Schlachtfeld selbst : auf das Schlachtfeld zwischen dem aristo­ kratischen Großgrundbesitz und der B auernschaft. B alzac hat dieses Buch als eines seiner entschei denden Werke betrachtet. Er sagt, daß er es »seit acht Jahren hundertmal beiseite gelegt und hundertmal wieder vorgenommen habe, das wichtigste Buch von allen, die ich zu schrei­ ben beschlossen hatte . . « Doch trotz dieser ungemein sorgfältigen Vor­ bereitung, trotz dieser gründlichen Erwägung der Grundkonzeption hat Bal­ zac de facto den diametralen Gegensatz dessen gestaltet, was er beabsich­ tigte : er hat die Tragödie der Bauernparzelle geschrieben. Gerade in diesem Widerspruch zwischen Konzeption und Gestaltung, in diesem Widerspruch zwischen dem Denker, dem Politiker Balzac und dem Dichter der » Mensch­ lichen Komödie « liegt seine weltgeschichtliche Größe, jene Größe, die Engels in seinem Brief über Balzac grundlegend analysiert und klargelegt hat. Die ideologische Vorbereitung dieses Romans geht über jene von Balzac selbst genannten unmittelbaren Vorarbeiten weit hinaus. Schon in früher Jugend hat Balzac in einer B roschüre gegen die Aufteilung des Großgrund­ besitzes, für die Beibehaltung des Majorats Stellung genommen. Und lange bevor er die »B auern « vollendete ( 1 8 4 4), hat er in zwei utopischen Roma­ nen (»Der Landarzt«, I 8 3 3 ; »Der Dorfpfarrer«, I 8 3 9) seine ökonomisch­ soziale Anschauung von der gesellschaftlichen Funktion des Großgrundbesit­ zes und den gesellschaftlichen Pflichten der Grundbesitzer zu gestalten ver­ sucht. Auf die beiden Utopien folgt nun als Abschluß die Auflösung der Uto­ pie durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, das Scheitern der utopischen Vor­ stellungen an der Realität der Ökonomie. Die Größe Balzacs besteht gerade in dieser unnachsichtigen Selbstkritik seiner Anschauungen, seiner Lieblingswünsche und tiefsten Überzeugungen durch .

Balzac und der französische Realismus die unerbittlich wahre Schilderung der Wirklichkeit. Wäre es Balzac gelun­ gen, sich über die Hinfälligkeit seiner utopischen Träume zu täuschen, hätte er nur das von ihm Gewünschte als Wirklichkeit gestaltet , so würde er heute keinen Menschen mehr interessieren, er wäre ebenso mit Recht verges­ sen wie die unzähligen legitimistischen Publizisten und Verherrlicher der Feudalzeit aus dieser Periode. Freilich, Balzac ist auch als Denker und Poli­ tiker niemals ein ordinärer, gedankenloser Legitimist gewesen. Auch seine Utopie ist nicht die Forderung, in irgendeiner Weise ins feudale Mittelalter zurückzukehren, sondern im Gegenteil : sie will die französische kapitalistische Entwicklung, insbesondere auf dem Gebiet der Landwirtschaft, in englische Bahnen l eiten. Balzacs gesellschaftliches I deal ist jener Klassenkompromiß zwischen Großgrundbesitz und Kapitalismus, der sich in England schon 1 699 in der » Glorreichen Revolution« verwirklicht hat, der dann zur Grundlage und zur Besonderheit der englischen Entwicklung wurde. Wenn Balzac zum Beispiel in seinem Aufsatz über die Aufgaben der royalistischen Partei nach der Julirevolution ( 1 840, also zur Zeit der Vorbereitung unseres Romans ge­ schrieben) die französische Aristokratie scharf kri tisiert, so tut er dies vom Standpunkt einer I dealisierung der englischen konservativen Aristokratie, der Tory. Er wirft den französischen Aristokraten vor, daß sie 1 7 89, statt die Monarchie und die Kontinuität der Entwicklung durch kluge Reformen zu retten, »kleine Intrigen gegen eine große Revolution« gesponnen hätten, daß sie jetzt, in der Gegenwart, auch nach den Lehren der Revolution nicht zu Tories , nicht zu Führern der B auernschaft geworden seien, daß sie keine Selbstverwaltung nach englischem Muster eingeführt hätten. Deshalb bestehe zwischen der Aristokratie und der bäuerlichen Masse keine Verbundenheit, keine Interessengemeinschaft. Deshalb habe die Revolution in Paris siegen können. »Denn« , sagt Balzac, »um eine Flinte zu ergreifen, wie es die Pariser Arbeiter getan haben, muß man sich in seinen eigenen Interessen bedroht memen. « Diese Utopie, die Gesetze der bürgerlichen Entwicklung Englands auf Frank­ reich übertragen zu können, ist keineswegs eine isol ierte Sondermeinung Bal­ zacs. Unmittelbar nach der achtundvierziger Revolution hat zum Beispiel der berühmte Politiker und Historiker Guizot eine Broschüre ähnlicher Rich­ tung veröffentlicht, deren utopischer Charakter von Marx vernichtend kriti­ siert wurde. Marx spottet über » das große Rätsel für Herrn Guizot, das er sich nur durch den überlegenen Verstand der Engländer zu entziffern weiß « . Und i m folgenden entziffert nun Marx d a s Rätsel der verschiedenen Entwick­ lung der bürgerlichen Revolution in England und Frankreich : »Diese mit der

Die Bauern

449

Bourgeoisie verbundene Klasse großer Grundbesitzer . . . befand sich nicht, wie der französische feudale Grundbesitz 1 789 im Widerspruch , sondern vielmehr in vollständigem Einklang mit den Lebensbedingungen der Bour­ geoisie. Ihr Grundbesitz war in der Tat kein feudales, sondern bürgerliches Eigentum. Sie stellten einerseits der industriellen Bourgeoisie die zum B etrieb der Manufaktur nötige Bevölkerung zur Verfügung und waren andrerseits imstande, dem Ackerbau diejenige Entwicklung zu geben, die dem Stande der Industrie und des Handelns entsprach. Daher ihre gemeinsamen Interessen mit der Bourgeoisie, daher ihre Allianz mit ihr. « Balzacs England-Utopie beruht auf der Illusion, daß eine »Zähmung« des Kapitalismus und der von ihm produzierten Klassengegensätze durch eine traditionelle und doch fort­ schrittliche Führung möglich sei. Diese Führung können nach B alzacs Ansicht nur das Königtum und die Kirche übernehmen. Der englisch-aristokratische Großgrundbesitz ist aber das wichtigste Zwischenglied in einem solchen Sy­ stem. Balzac sieht die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft in Frankreich mit großer Klarheit. Er sieht, daß die Periode der Revolutionen mit dem Juli r 8 3 0 keineswegs abgeschlossen ist. Seine Utopie, seine I deali­ sierung der englischen Zustände, seine romantische Erdichtung einer Harmonie zwischen Großgrundbesitz und Bauern in Englan d usw. stammen aus dieser Verzweiflung über die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft, deren reale Bewegungen Balzac in allen Einzelheiten mit unbestechlichem Realismus be­ obachtet. Ehen weil er der Ansicht ist, daß die konsequente Weiterentwick­ lung des Kapitalismus, die parallele konsequente Weiterentwicklung der De­ mokratie unweigerlich zu Revolutionen führen muß, in denen früher oder später die bürgerliche Gesellschaft notwendig untergeht, klammert sich seine Verehrung an alle historischen Gestalten, die einen Versuch gemacht haben, diesen revolutionären Prozeß aufzuhalten, ihn in »geordnete Bahnen « zu lenken. B alzacs Napoleon-Verehrung steht zwar vielfach in Widerspruch zu seiner England-Utopie, sie ist aber gerade in dieser Widersprüchlichkeit eine notwendige Ergänzung im historischen Weltbild des Dichters . Die beiden utopischen Romane wollen vor allem die ökonomische Überlegen­ heit des Großgrundbesitzes vor der Parzelle erweisen. Balzac sieht klar und richtig bestimmte Momente der ökonomischen Überlegenheit des rationell geführten Großgrundbesitzes (Möglichkeit systematischer Investitionen, Vieh­ zucht im großen Maßstabe, rationelle Waldkultur, systematische Bewässe­ rung usw.). Er sieht aber nicht - er will es in diesen beiden Romanen nicht sehen -, daß die Schranken des Kapitalismus, entsprechend variiert, für die Rationalität des lan dwirtschaftlichen Großbetriebes ebenso bestehen wie für

450

Balzac und der französische Realismus

die Parzelle. Balzac schafft in »Der Dorfpfarrer« ganz künstliche , untypische Bedingungen, um seine Utopie an einem real scheinenden Experiment als möglich und vorbildlich zu zeigen. Diese Verzerrung wesentlicher Bestim­ mungen der ökonomischen Wirklichkeit ins Untypische kommt bei Bal­ zac außerordentlich selten vor. Wenn Balzac solche Verzerrung aber gerade in dieser Frage wiederholt unternimmt, dann zeigt er, daß hier die zentrale Stelle seiner Verzweiflung an der Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft liegt, daß er hier das Problem von Sein oder Nichtsein der Kultur erblickt. Denn die Frage des Großgrundbesitzes ist für Balzac nicht nur die Frage von Revolution oder Evolution, sondern zugleich die von Kultur oder Un­ kultur. Einerseits hat Balzac eine schauernde Angst vor der kulturzerstö­ renden Wirkung der revolutionären Massenbewegungen. (Er berührt sich in dieser Frage mit den Angstvisionen des politisch radikaleren Heinrich Heine.) Andererseits ist die Entlarvung der tiefen Unkultur des Kapitalismus ein wesentliches Moment seiner Schilderung des zeitgenössischen Frankreich. Im Fangnetz dieser Widersprüche ist B alzac nun gezwungen, die vergangene aristokratische Kultur zu idealisieren. » Sein großes Werk«, sagt Engels, »ist ein ständiges Klagelied über den unvermeidlichen Verfall der guten Gesell­ schaft. « Wo Balzac aber als Denker und Politiker doch einen Ausweg sucht, tut er das in dieser Richtung : der Rettung des Großgrundbesitzes als Grund­ lage jener breiten materiellen Möglichkeiten, jener ungestörten Muße, die die aristokratische Kultur Frankreichs vom Mittelalter bis zur großen Revolution hervorgebracht habe. Man lese den einleitenden großen Brief des royal isti­ schen Schriftstellers Emile Blondet (»Die Bauern«), um diesen Standpunkt Balzacs klar zu erkennen. Die theoretische Grundlage der Balzacschen Utopie ist, wie wir schon gesehen haben, widerspruchsvoll genug. Und wie sehr Balzac auch gegen seine sonstige Gewohnheit in diesen Romanen die Wirklichkeit pädagogisch-propagandi­ stisch ins Untypische umbiegt, so kommt der große Realist, der unbestechliche Beobachter doch überall zum Vorschein und verschärft dadurch die sowieso vorhandenen Widersprüche. Balzac betont stets und in diesen Werken ganz besonders, daß die Religion, der Katholizismus, die einzige ideologische Grundlage für die Rettung der Gesellschaft sei. Zugleich sieht Balzac aber ein , daß die einzige Grundlage, auf die er bauen kann, der Kapitalismus mit allen seinen Konsequenzen ist. Die I ndustrie kann nur auf Konkurrenz be­ gründet sein, führt Balzacs utop ischer Held Doktor Benassis (»Der Landarzt«) aus und zieht aus dieser Anerkennung des Kapitalismus alle ideologischen Konsequenzen : »Um heute d ie Gesellschaft zu stützen, haben wir kein an-

Die Bauern

45 1

deres Mittel mehr als den Egoismus. Das Individuum glaubt nur an sich selbst . . . Der große Mann, der uns aus dem großen Schi ffbruch, dem wir entgegensteuern, retten wird, wird sich gewiß des Individualismus bedie­ nen , um die Nation wieder aufzubauen. « Aber sogleich, nachdem er dies festgestellt hat, stellt er Glauben und Interessen in schroffen Gegensatz zu­ einander. »Aber anstatt Glauben, haben wir Interessen. Wenn jeder nur an sich selbst denkt und an sich selbst glaubt, wie wollen Sie da viel Bürgermut antre ff en, da die Vorbedingung zu dieser Tugend in der Selbstentäußerung liegt ? « Dieser unversöhnliche Widerspruch, der i m Sprachrohr von B alzacs utopi­ schen Anschauungen so schroff zutage tritt, äußert sich in der ganzen Kom­ position dieser beiden Romane. Denn wer führt bei B alzac diese Utopien durch ? Es wäre an und für sich noch nicht überraschend, daß es besonders einsichtsvolle einzelne Persönlichkeiten sind. Wir befinden uns ja noch in der Periode des utopischen Sozialismus und man kann Balzac ebenso den Traum von einem einsichtsvollen Millionär zugestehen wie seinem älteren Zeit­ genossen Fourier. Freilich besteht ein entscheidender Unterschied darin, daß Fouriers sozialistische Utopien im Zeitalter der kaum beginnenden Arbeiter­ bewegung entstanden sind, während B alzac utopische Auswege zur Rettung des Kapitalismus in der Zeit der stürmischen Vorwärtsentwicklung des Kapi­ talismus erdichtet. Aber Balzac hat außerdem noch , und dazu war er als Dichter gezwungen, Millionäre gestaltet. Und diese Gestaltung ist für die Widersprüchlichkeit der Balzacschen Utopie außerordentlich charakteristisch. Die Helden beider Romane, Dok tor B enassis und Veronice Graslin (»Der Dorfpfarrer«), sind Büßende. Beide haben im Leben eine große Sünde be­ gangen, beide haben dadurch ihr persönliches Glück zugrunde gerichtet ; beide betrachten ihr Leben als abgeschlossen, ihre Tätigkeit als religiöse Buße nur auf dieser Grundlage vermag der große Realist Balzac sich Menschen vorzustellen, die geneigt und geeignet sind, seine Utopie Leben werden zu lassen. Schon diese Anlage der Hauptgestalten ist eine - unbewußte - Selbst­ kritik an der Realität der Konzep tion. Nur der Entsagende, nur wer auf persönliches Glück verzichtet, vermag in der kapitalistischen Gesellschaft selbstlos und aufrichtig dem Gemeinwohl zu dienen : dies ist unausgesprochen der Inhalt der Fabeln in den utopischen Romanen Balzacs. Und Balzac steht mit dieser entsagenden Stimmung nicht allein unter den Großen der bürger­ lichen Literatur in der ersten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts. Auch der alte Goethe betrachtet die Entsagung als das große Grundgesetz der Wirksamkeit

452

Balzac und der französische Realismus

von höher veranlagten, edlen, der Gesellschaft dienenden Menschen ; sein letzter großer Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre« führt den Untertitel » Die Entsagenden«. Balzac aber geht in dieser unausgesprochenen Selbst­ kritik seiner utopischen Konzeptionen noch weiter. In »Der Dorfpfarrer« erzählt ein junger Ingenieur, der Gehilfe von Veronice Graslin, seine Erleb­ nisse aus der Julirevolution : »Nur noch unter dem schmutzigen Hemd gibt es Patriotismus ; das ist Frankreichs Untergang. Die Julirevolution ist die freiwillige Niederlage derjenigen, die durch Namen, Vermögen und Talent zu den oberen Zehntausend gehören. Die opfernden Massen haben den Sieg über die reichen geistigen Schichten davongetragen, denen Aufopferung un­ sympathisch ist . « Balzac verrät also durch die Konzeption seiner Fabel d i e verzweifelte Über­ zeugung, daß diese Utopien sich gegen die ökonomisch notwendigen Instinkte der herrschenden Klassen richten, daß sie unmöglich zu typischen Normen für die Handlungen dieser Klassen werden können. Dieser Unglaube an die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Träume spiegelt sich in der gesamten Komposition der beiden Romane. Die atypischen Helden und ihr atypischer Lebenslauf rücken sehr stark in den Mittelpunkt und verdecken zugleich viel­ fach die eigentliche Absicht: die Segnungen des rationell geleiteten Groß­ grundbesitzes zu schildern. Und diese Schilderungen selbst verraten eine bei Balzac sonst sehr ungewohnte Hast der Durchführung , ein möglichst schnelles Hinweggleiten über Details, ein Herausgreifen einzelner, atypischer Episoden zur Beleuchtung des Ganzen. Mit einem Wort : Balzac schildert hier nicht einen gesellschaftlichen Prozeß, nicht die gesellschaftliche Wechselwir­ kung zwischen Großgrundbesitz, B auernschaft und Landarbeitertum, sondern gibt eine fast rein technologische Beschreibung der großen Vorteile seiner Wirtschaftskonzeption. Diese Vorteile setzen sich aber, wieder sehr gegen die sonstigen dichterischen Gewohnheiten Balzacs, in einem luftleeren Raum durch. Die Landbevölkerung wird überhaupt nicht geschildert. Wir hören von dem allgemeinen Elend vor Beginn der Experimente und hören dann von dem allgemeinen Wohlstand und der allgemeinen Zufriedenheit nach ihrer Durchführung. Ebenso wird der kommerzielle Erfolg der Unternehmungen als selbstverständlich vorausgesetzt und nur als Resultat geschildert. Dieses Abweichen Balzacs von seiner sonstigen Art des Schaffens zeigt, wie wenig Vertrauen er selbst zu seinen Utopien hatte, obwohl er sie, außerhalb seiner Gestaltungen, sein Leben lang konsequent vertreten hat. Erst in dem Roman »Die Bauern « geht Balzac nach langen Vorbereitungen an die Schil­ derung der lebendigen Wechselbeziehung zwischen den Klassen auf dem

Die Bauern

453

Lande heran. Hier wird die Landbevölkerung in reicher Typik dargestellt, nicht mehr als abstraktes, passives Objekt utopischer Experimente, sondern als tätiger und leidender Hel d. Indem B alzac auf dem Gipfel seiner schöpfe­ rischen Reife mit der ihm eigenen Gestaltungsweise an das Problem heran­ geht, gibt er als Dichter eine vernichtende Kritik jener Konzeptionen, die er als Denker und Politiker lebenslänglich vertreten hat. Denn auch hier steht B alzac unentwegt auf dem Standpunkt der Verteidigung des Großgrund­ besitzes. Der aristokratische Großgrundbesitz des Grafen Montcornet »Les Aigues « ist in B alzacs Augen die Konzentration einer jahrhundertealten, der einzig möglichen Kultur. Und der Kampf um Sein oder Nichtsein dieser »Basis der Kultur« bildet nun den Mittelpunkt der Handlung, die mit einer völligen Niederl age des Großgrundbesitzes , mit der Zerteilung in kleine Bauernparzellen endet ; als eine Etappe jener Revolution, die 1 78 9 begann und nach B alzacs Perspektive mit dem Untergang der Kultur abschließen wird. D iese Perspektive ergibt den tragisch-elegischen, pessimistischen Grundton des ganzen Romans. Balzac wollte hier eben die Tragödie des aristokratischen Großgrundbesitzes und damit die Tragödie der Kultur schreiben. Mit tiefer Melancholie erzählt Balzac am Schluß des Romans, daß das al te Schloß niedergerissen, der Park verschwunden und nur ein kleiner Pavillon von der alten Herrl ichkeit übriggeblieben ist. »Dieses Geb äude beherrschte die Landschaft, oder besser gesagt die Kleinwirtschaft, die an die Stelle der Landschaft getreten war. Das Bauwerk wirkte wie ein Schloß, so elend waren die ringsherum verstreut liegenden Häuschen, die so gebaut waren, wie eben die Bauern b auen . « Aber die dichterische Ehrlichkeit des Realisten Balzac kommt auch in dieser Schlußelegie zum Ausdruck. Er sagt zwar mit aristo­ kratischem Haß : »Das Land gl ich der Musterkarte eines Schneiders«, aber fügt hinzu : »Der B auer hatte von der Erde Besitz ergriffen als Sieger und Eroberer. Schon war sie in mehr als tausend Parzellen zerlegt worden und die Bevölkerung zwischen Conches und Blangy hatte sich verdreifacht.« B alzac geht nun an die Gestaltung dieser Tragödie des aristokratischen Großgrundbesitzes mit dem ganzen Reichtum seiner schriftstellerischen Mit­ tel heran. Obwohl er die landhungrigen Bauern mit dem größten politischen Haß schildert, als einen »Robespierre mit einem Kopf und mit zwanzig Mill ionen Armen «, kommt er als realistischer Gestalter zu einer großzügigen und proportionell richtigen Gestaltung der kämpfenden Kräfte auf dem Lande, der kämpfenden Kräfte für und gegen den Großgrundbesitz. Er spricht dieses Programm der dichterischen Gerechtigkeit im Roman selbst

454

Balzac und der französische Realismus

klar aus. »übrigens darf der Erzähler nie vergessen, daß es s ein Amt ist, j edem Teil gerecht zu werden ; der Unglückliche wie der Reiche sind vor seiner Feder gleich ; für ihn besitzt der Bauer das Grandiose seines Elends wie der Reiche das Kleinliche seiner Lächerlichkeit, und schließlich hat der Reiche Leidenschaften, der Bauer nur Bedürfnisse, er ist also doppelt arm, und wenn seine zerstörenden Tendenzen aus politischen Gründen auch un­ barmherzig unterdrückt werden müssen, nach menschlichem und göttlichem Recht ist er verehrungswürdig .« Der Reichtum und di e Richtigkeit der Gestaltung B alzacs zeigt sich gleich darin, daß er den Kampf um den aristokratischen Großgrundbesitz von Anfang an nicht nur als den Kampf zwischen Großgrundbesitzer und Bau­ ern darstellt, sondern drei gegeneinander kämpfende Lager gestaltet : neben Großgrundbesitzer und Bauer treten die ländlichen und kleinstädtischen Wucherkapitalisten. Alle drei Lager sind mit dem ganzen Reichtum der ver­ schiedenen Typen ausgestattet, die dazu gehören, die diesen Kampf mit öko­ nomischen, ideologischen, staatlichen usw. Mitteln unterstützen. Der Kreis des aristokratischen Großgrundbesitzers Montcornet reicht bis in die Pariser Ministerien, in die ländlichen Präfekturen, in die obersten Sphären der Justiz ; er besitzt selbstverständlich die Unterstützung der bewaffneten Macht, die ideologische Unterstützung der Kirche (Abbe Brossette) und der royalisti­ schen Publizistik (Blondet). Noch reicher und vielfältiger gestaltet B alzac das Lager des Wucherkapitals . Er zeigt einerseits den dörflichen Kulakenwucherer, der die B auern durch kleine Anleihen ausplündert und in lebe� slängliche Abhängigkeit bringt (Rigou), andererseits den mit ihm verbündeten kleinstädtischen Holzhändler, den ehemaligen Verwalter von Les Aigues (Gaubertin) . Um diese beiden Figuren gruppiert Balzac nun mit großartiger Erfindungsgabe das ganze System der provinziellen Sippschaftskorruption. Gaubertin und Rigou haben die gesamte untere Verwaltung, das gesamte provinzielle Finanzleben in der Hand. Durch kluges Verheiraten ihrer Söhne, Töchter und Verwandten, durch geschickte Placierung ihrer Anhänger schaffen sie sich ein Netz von B eziehungen , das ihnen erlaubt, sowohl bei der Verwaltung selbst alles durch­ zusetzen, als auch den Markt der Provinz zu beherrschen. Montcornet ist zum Beispiel nicht imstande, das Holz seiner Wälder unter Umgehung dieser Clique zu verkaufen ; ja, die Sippschaft hat die Macht, Montcornet, nach­ dem er Gaubertin wegen Veruntreuungen von dem Verwalterposten gejagt hat, einen neuen Verwalter aus derselben Clique, einen Spitzel und Agen­ ten von Gaubertin-Rigou zuzuschieben. Diese Sippschaft h at ihre m aterielle

Die Bauern

45 5

Basis in der Ausplünderung der Bauern durch Hypotheken, durch Beherr­ schung des Marktes, durch kleine, wucherische Anleihen, durch kleine Ge­ fälligkeiten in der Verwaltungspraxis (Befreiung vom Militärdienst) usw. Und diese Macht ist so groß, daß die Gaubertin-Rigou seelenruhig auf die guten, aber entfernteren Beziehungen Montcornets zu höheren Verwal­ tungsstellen pfeifen. »Und was den Justizminister anlangt«, sagt Rigou, » die wechseln häufig ; wir aber, wir werden immer hier sein. « Von den beiden einander bekämpfenden Ausbeutercliquen ist also auf dem aktuellen Schlachtfeld die wucherkapitalistische Provinzsippschaft mächtiger. Balzac ist über diese Tatsache tief entrüstet, er schildert aber - wie immer - das wirkliche Kräfteverhältnis mit großer Realistik, indem er überall die realen Machtverhältnisse und Machtkämpfe in ihrem wirklichen Wechselspiel ge­ staltet. Das dritte Lager, die Bauern, steht im Kampf gegen beide Gruppen der Aus­ beuter. Die Sehnsucht des Politikers Balzac wäre gerade die, zwischen Groß­ grundbesitz und Bauernschaft ein B ündnis gegen das Wucherkapital zu stif­ ten. Er muß aber konkret und mit realistischer Wucht darstellen, wie die Bauern gezwungen sind, mit den Wucherern zusammenzugehen, obwohl sie diese Clique hassen, und mit ihnen gegen den Großgrundbesitz gemeinsame Sache zu machen. Der Kamp f der Bauern gegen die Überreste der feudalen Ausbeutung, der Kampf um ein Stück eigene Erde, um die eigene Parzelle macht sie zu Anhängseln, zu Handlangern des Wucherkapitals. Die Tragödie des sterbenden aristokratischen Großgrundbesitzes schlägt so in die Tragödie der Parzelle um : wie die Befreiung der Bauern von feudaler Ausbeutung durch die kapital istische Ausbeutung tragisch rückgängig gemacht wird. Das Dreieck dieser Lager, in dem jeder Teil die beiden anderen bekämpft, gibt die Grundlage für Balzacs Komposition. Und die Notwendigkeit dieses Doppelkamp/es von allen drei Seiten bei dem jeweiligen ökonomisch not­ wendigen Vorherrschen der einen Seite des Kampfes macht diese Komposi­ tion so reich und vielfäl tig. Die Handlung wandert hin und her zwischen A delsschloß und Bauernschenke, zwischen Kulakenwohnung und Kleinstadt­ cafe usw., aber gerade dieses unruhig sprunghafte Hin und Her der Schau­ plätze und handelnden Personen ist die Basis für die reiche und genaue Widerspiegelung der Grundfaktoren des Klassenkampfes im französischen Dorf. Balzac selbst steht bedingungslos auf der Seite des Adels. Der Gestalter Balzac aber läßt die Kräfte aller Beteiligten sich ungehemmt und vollständig entfalten. Wenn er die absolute Abhängigkeit der B auern von den Rigou-

Balzac und der französische Realismus Gaubertin und Co. in allen Verzweigungen gestaltet, wenn er das Wucher­ kapital haßvoll als Todfeind des Adels schildert, dann trifft dieser - aus falscher Quelle herrührende, politisch falsch begründete - Haß dichterisch ins Zentrum der Tragödie der Bauernparzelle in den vierziger Jahren. Nach Balzacs Anschauungen hat die Französische Revolution von 1 7 89 all diese übel verursacht, sowohl die Parzellierung des Großgrundbesitzes als auch das Heranwachsen des Kapitals, das Balzac - für diese Zeit, für Frank­ reich berechtigt - vorwiegend als Wucherkapital betrachtet. Die Entste­ hung der bürgerlichen Vermögen in den Stürmen der Französischen Revolu­ tion durch Aneignung von Nationalgütern , durch Spekulation mit dem ent­ werteten Geld, durch wucherische Ausnützung des Warenmangels, des Hun­ gers, durch mehr oder weniger betrügerische Heereslieferungen usw. ist bei Balzac ein zentrales Problem in der Geschichte der französischen Gesell­ schaft. Man denke nur an die Entstehungsgeschichte des Vermögens von Goriot, von Rouget (»Ein Junggesellenheim«), von Nucingen usw. Auch hier haben die zentralen Figuren, der Kulakenwucherer Rigou wie der kleinstädtische Kaufmann Gaubertin, ihre großen Vermögen durch Aus­ nutzung solcher Möglichkeiten während der Revolution und der Napoleo­ nischen Periode erworben. Besonders in der Entstehungsgeschichte des Gau­ bertinschen Vermögens schildert Balzac mit großer Feinheit, wie der alt­ modische Betrug des adeligen Grundbesitzers durch die Machenschaften eines kapitalistischen Verwalters in die neuen Formen der betrügerischen und wu­ cherischen Spekulation hinüberwächst, wie aus diesem Geld häufenden, be­ trügerischen und kriechenden Bedienten des Adels der selbständige und den Adel besiegende Spekulant wird. B alzac beschreibt die Korruption und Pseudokultur dieses neuen Reichtums mit bitterer Ironie, aber gerade deshalb mit großer Lebenswahrheit. Er beschreibt zugleich mit großer Wahrheitsliebe jene realen ökonomischen und gesellschaftlichen Momente, die den Sieg die­ ser Wucherer über die adligen Montcornets unvermeidlich machen. Wie stets gestaltet Balzac nicht nur die Niederlage des Adels, sondern zu­ gleich die Unvermeidbarkeit dieser Niederlage. Der Kampf geht darum, ob Montcornet seinen Grundbesitz behält oder ob die großangelegte Parzellie­ rungsspekulation der Gaubertin-Rigou gelingen wird. D ie Unvermeidbarkeit ihres Sieges beruht darin, daß die Aristokratie nur die Erhaltung, nur ein ruhiges Verzehren ihrer Renten anstrebt, während bei der Bourgeoisie eine stürmische Akkumulation des Kapitals vor sich geht. Freilich bildet die wu­ cherische Ausplünderung der B auern die ökonomische Grundlage dieser Akkumulation : die wachsende Verschuldung der bereits existierenden Par-

Die Bauern

457

zellen (Rigou hat 1 5 0 o o o Franc in solchen Hypotheken angelegt) ; die Spe­ kulation auf die kommende Ausbeutung der Parzellen des Montcornetschen Gutes, die notwendi g wucherhafte Übersteigerung der Preise für die kleinen Parzellen , wodurch die kleinen B auern von vornherein den Rigou-Gauber­ tin auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind. Die B auern stehen also zwischen zwei Feuern. Der Politiker Balzac möchte diesen Kampf gern so sehen, als ob die Bauern von der Demagogie und von den Intrigen der Gruppe Gaubertin-Rigou verführt wären, als ob » schlechte Elemente« innerhalb der B auernschaft (Tonsard, Fourchon) zu diesem Kampf aufhetzen würden. In Wirklichkeit zeigt Balzac aber die ganze Dialek tik der notwendigen Abhängigkeit der B auern von dem kulakisch-kleinstädtischen Wucherk apital, zeigt, wie die Bauern trotz ihres h aßvoll empfundenen Gegensatzes zu den Wucherern ökonomisch notwendig dazu getrieben werden, die G eschäfte eben dieser Wucherer zu besorgen. Balzac beschreibt zum B ei­ spiel einen Bauern, der mit Rigous »Hilfe« eine Parzelle erworben hat. » In der Tat hatte Courtecuisse, als er das Gütchen La B achelerie kaufte, zum B ourgeois, wie er sich gerühmt h atte, >aufsteigen< wollen. Jetzt mußte seine Frau Mist schleppen ! Sie und Courtecuisse standen vor Tagesanbruch auf, gruben ihren reichlich gedüngten Garten um und erreichten einige Frucht­ ernten, ohne damit mehr als die Zinsen des Restkaufgeldes an Rigou bezahlen zu können . . . Der gute Mann hatte seine drei von Rigou gekauften Morgen beackert und gedüngt, der an das Haus anstoßende Garten begann Erträge zu bringen, und dabei mußte er immer die Zwangsversteigerung befürchten ! . . . Diese zehrenden Sorgen hatten diesem kleinen runden Manne mit dem früher lachenden Gesicht ein düsteres, stumpfes Aussehen verliehen, das ihn einem Kranken gleichen ließ, der von einem Gift oder einem chronischen Leiden verzehrt wird . « Diese Abhängigkeit vom Wucherer, deren ökonomi­ sche Grundlage eben die »Selbständigkeit« der Parzelle ist, der Wunsch des landlosen B auern, zum Besitzer, zum »Bourgeois« zu werden, äußert sich auch in einer ganzen Reihe unvergüteter Arbeiten, die die Bauern für ihre Aus­ beuter zu leisten gezwungen sind. Balzac stellt hier, wie Marx sagt, » treffend dar, wie der kleine Bauer, um das Wohlwollen seines Wucherers zu bewah­ ren, diesem allerlei Arbeiten umsonst leistet und ihm damit nichts zu schenken glaubt, weil seine eigene Arbeit ihn selbst keine bare Auslage kostet. Der Wucherer seinerseits schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe. Er erspart bare Auslage von Arbeitslohn und verstrickt den B auern, den die Entziehung der Arbeit vom eignen Feld fortschreitend ruiniert, tiefer und tiefer in das Fangnetz der Wucherspinne« .

Balzac und der französische Realismus Selbstverständlich entsteht auf diesem Boden ein tiefer Haß der B auern gegen ihre Ausplünderer. Aber dieser Haß ist n icht nur infolge der ökono­ mischen Abhängigkeit ohnmächtig, sondern auch infolge des bäuerlichen Landhungers, infolge der unmittelbar drückenden Ausbeu tung durch den Großgrundbesitz. Dadurch werden die B auern, unbeschadet ihres Hasses gegen die Kulakenwucherer, doch zu deren Handlangern und Verbündeten gegen den Großgrundbesitz. Balzac erzählt ein sehr interessantes Gespräch über dieses Thema. »>Glaubst du wirklich, daß Les Aigues aufgeteilt , ver­ kauft werden wird um deiner verdammten Nase willen?< antwortete Four­ chon. >Wie? Seit dreißig Jahren saugt euch der alte Rigou das Mark aus den Knochen, und ihr habt immer noch nicht kapiert, daß die Bourgeois schlim­ mer sein werden, als die großen Herren waren? . . . Bauer wird immer Bauer bleiben ! Siehst du denn nicht (aber du verstehst ja nichts von Politik !), daß die Regierung nur deshalb so hohe Steuern auf den Wein gelegt hat, um uns unser bißchen Geld wieder abzunehmen und uns im Elend festzuhalten? Bourgeois und Regierung, das ist ein und dasselbe. Was sollte aus ihnen wer­ den, wenn wir alle reich wären ? Würden sie ihr Feld selber bestellen? Wür­ den sie das Getreide selber schneiden? Sie brauchen die Elenden ! < . . . >und doch muß man mit ihnen zusammen j agenweil sie den Großgrundbesitz zerschlagen wollen ; gegen die R igous werden wir schon nachher losgehn !«< Und unter den gegebenen französischen Klassenver­ hältnissen hat Tonsard recht, und seine Anschauung muß sich in der Wirk­ lichkeit durchsetzen. Freilich schweben einzelnen B auern revolutionäre Gedanken vor : eine Wie­ derholung und radikale Durchführung der Bodenaufteilung wie durch die Französische Revol ution von 1 793 . Auch Tonsards Sohn äußert ähnliche revolutionäre Anschauungen : » Ich sage, daß ihr den Bourgeois in die Hände arbeitet. Die Leute von Les Aigues in Schrecken setzen, damit ihr eure Rechte behaltet, schön ! Aber sie aus dem Lande treiben und sie zwingen, daß sie Les Aigues verkaufen, das geht gegen unsre eigenen I nteressen. Wenn ihr dazu mithelft, daß die großen Güter aufgeteilt werden , wo sollen dann die Nationalgüter herkommen, die man sich bei der nächsten Revolution kaufen kann? . . . So würdet ihr die Güter für eine Lappalie haben, wie Rigou sie bekommen hat ; wenn ihr sie aber den Bourgeois in den Rachen werft, dann werden sie sehr mager und sehr teuer sein, wenn sie sie wieder ausspucken ; ihr werdet ebenso für sie arbeiten, wie alle die, die jetzt für Rigou arbeiten.« Die Tragik dieser B auern liegt darin, daß aus der revolutionären Bourgeoisie

Die Bau ern

459

von 1 7 8 9 bereits das Geschlecht der Gaubertin-Rigou geworden, das fran­ zösische Proletariat aber noch nicht so weit entwickelt ist, um gemeinsam mit den Bauern revolutionär vorzugehen. Diese gesellschaftliche Isolierung des rebellierenden Bauern spiegelt sich in der sektiererischen Verworrenheit, in der scheinradikalen Abwartetaktik seiner Anschauungen. Die reale Bewe­ gung der ökonomischen Kräfte zwingt die Bauern in dieser Periode, zähne­ knirschend und haßerfüllt die Geschäfte der Rigou zu besorgen. Die ver­ schiedensten politischen Folgen dieser ökonomischen Lage machen aus Rigou, » den die Bauern wegen seiner \Vuchergeschäfte verwünscht hatten « , den Repräsentanten » ihrer politischen und finanziellen Interessen . . . Für ihn, wie für gewisse Pariser B ankiers, bedeckte die Politik mit dem Purpur der Popularität schmachvolle B etrügereien« . Er ist der ökonomische und poli­ tische Repräsentant des bäuerlichen Landhungers, » obwohl er nicht gewagt hätte, nach Sonnenuntergang über die Felder zu gehen , aus Furcht, in eine Falle zu geraten und durch einen Unfall getötet zu werden. « Aber die Tragödie i s t stets die Kreuzung zweier Notwendigkeiten, und für die Bauern muß die Parzelle aus Rigous Händen mit allen ihren fürchter­ lichen Belastungen doch besser scheinen als gar keine Parzelle und nur Land­ arbeit auf dem Gut Montcornets. Wie Balzac sich einzureden versuchte, daß die B auern gegen den Großgrundbesitz nur » aufgehetzt« seien, so möchte er auf der anderen Seite die Möglichkeit einer patriarchalisch »wohltätigen« Beziehung zwischen Großgrundbesitz und Bauernschaft wahrhaben. Wie die Wirkli chkeit im ersten Fall aussieht, haben wir bereits gezeigt. Die zweite I llusion zerreißt B alzac nicht weniger unbarmherzig. Zwar erwähnt er einmal, daß insbesondere die Gräfin Momcornet zur »Wohltäterin« der Gegen d geworden ist, aber - und dies ist bei Balzac stets ein Zeichen des schlechten Gewissens und des Unglaubens an die eigene Behauptung er konkretisiert nicht, worin diese »Wohltätigkeit« besteht. Und in einem Gespräch mit dem Abbe Brossette, in dem der Abbe die Gräfin auf die Pflichten der Reichen den Armen gegenüber aufmerksam macht, »antwortete die Gräfin doch mit dem fatalen >Wir wollen sehen< der Reichen, das ein genügendes Versprechen enthält, um sich einem Anspruch an ihren Geld­ beutel entziehen zu können, und das ihnen erlaubt, später mit gekreuzten Armen vor j edem Unglück zu stehen unter dem Vorwande, daß es nun einmal geschehen sei « . Dieser Abbe Brossette vertritt ebenso wie die Priester i n den utopischen Romanen B alzacs, ein »soziales Christentum«, das dem Lamennais' verwandt ist. Nur, daß hier , wo Balzac nicht nur predigt, sondern gestaltet, die Hoff-

Balzac und der französische Realismus nungslosigkeit dieser I deologie auch dem Pfaffen zum Bewußtsein kommt. » >Das Festmahl Belsazars wird das ewige Symbol der letzten Tage einer Kaste, einer Oligarchie, einer Herrschaft bleiben ! . . . Wenn es dein heiliger Wille ist, mein Gott, die Armen loszulassen wie einen Mahlstrom, um die Gesellschaftsordnung umzuwandeln, dann begreife ich, daß du die Reichen ihrer Blindheit über­ lässest !Sie glauben wirklich an das, was Sie schreiben?< fragte Vernou Luvien spöttisch, >aber wir sind Händler in Worten und leben von unserem Handel . . . Artikel, die heute gelesen, morgen vergessen werden, h aben in meinen Augen keinen andern Sinn, als daß man sie bezahlt.«< Die Journalisten und Schriftsteller sind dabei die Ausgebeuteten : ihre Fähig­ keiten werden zur Ware, zum Spekulationsobjekt des Literatur-Kapitalis­ mus. Aber sie sind durch den Kapitalismus prostituierte Ausgebeutete : sie

Verlorene Illusionen

47 5

wollen selbst z u Ausbeutern oder wenigstens z u Zwischenmeistern der Aus­ beutung aufsteigen. Vor dem Eintritt Lucien de Rubempres in den Journa­ lismus gibt ihm sein Kollege und Mentor, Lousteau, Verhaltungsmaßregeln : »Kurzum, mein Lieber, in der Literatur heißt das Geheimnis des Erfolges nicht Arbeit, sondern Ausbeutung fremder Arbeit. Die Eigentümer der Zei­ tung sind Unternehmer, wir sind die Maurergehilfen. Je mittelmäßiger daher ein Mensch ist, desto rascher kommt er zum Ziel ; ist er doch bereit, wenn es sein muß, Kröten h erunterzuschlucken, auf alles einzugehen, den kleinen Leidenschaften der Sultane der Literatur zu schmeicheln . . . Heute macht Sie Ihr Gewissen noch streng, aber morgen wird es sich vor denen krümmen, die Ihnen den Erfolg unter den Händen hinwegnehmen, die mit einem Wort Ihnen das Leben geben können und das Wort nicht sprechen werden ; denn, glauben Sie mir, der Schriftsteller in Mode ist hochfahrender und härter gegen den Nachwuchs als der blutsaugerischste Verleger. Wo der Verleger nur einen Verlust sieht, fürchtet der Autor einen Nebenbuhler : jener weist ihn nur ab, aber dieser vernichtet ihn.« Diese inhaltliche Weite des Themas, die Kapitalisierung der Literatur von der Papierproduktion bis zur lyrischen Empfindung, bestimmt, wie stets bei Balzac, die künstlerische Form der Komposition. Die Freundschaft David Sechards und Lucien Rubempres, die zerstörten Illusionen ihrer gemeinsamen schwärmerischen Jugend, d as Ineinandergreifen ihrer Charaktergegensätze bestimmen die großen Konturen der Handlung. Balzacs Genialität kommt gleich in diesem grundlegenden Schema der Komposition zum Ausdruck. Er schafft Gestalten, in denen einerseits die inhaltliche Spannung des Themas als menschliche Leidenschaft, als individuelle Bestrebung zum Ausdruck kommt : Davi d Sechard erfindet eine neue billige Art der Papierherstellung und wird von den Kapitalisten geprellt, während Lucien die subtilste Lyrik auf den Markt des Pariser Kapitalismus trägt. Andererseits kommt im Gegensatz der beiden Charaktere der äußerste Kontrast der Möglichkeiten, auf die Kapita­ lisierung mit all ihren Scheußlichkeiten zu reagieren, menschlich-plastisch zum Ausdruck. David Sechard ist ein puritanischer Stoiker, während in Lucien die hypersensitive Genußsucht, der haltlos gewordene, verfeinerte Epikureis­ mus der nachrevolutionären Generation ihre vollendete Verkörperung findet. Balzacs Kompositionsart ist nie pedantisch, sie hat nie jene trockene » Wis­ senschaftlichkeit« seiner Nachfolger. Das Aufrollen der materiellen Pro­ bleme geschieht bei ihm stets in untrennbarer organischer Verknüpftheit mit den Folgen der individuellen Leidenschaften seiner Helden. Und dennoch

Balzac und der französische Realismus steht hinter dieser Komposition, die scheinbar nur vom Individuellen aus­ geht, stets eine tiefere Erkenntis der gesellschaftlichen Zusammenhänge , eine richtigere Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen als hinter der pedantischen »Wissenschaftlichkeit« der späteren Realisten . Balzac kom­ poniert hier so, daß das Schicksal Luciens und damit das Zur-Ware-Werden der Literatur im Zentrum der Handlung steht, während die Kapitalisierung des materiellen Unterbaus der Literatur, die k apitalistische Ausplünderung des technischen Fortschritts nur einen episodischen Schlußakkord abgibt. Diese Kompositionsart, die scheinbar die logische und sachliche B eziehung von materieller B asis und Überbau auf den Kopf stellt, ist aber nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftskritisch von höchster Weisheit. Künst­ lerisch, da die Vielfalt im wechselvollen Schicksal von Luciens Kampf um den Ruhm ganz andere Möglichkeiten zum Aufrollen einer bunten und be­ wegten Totalität bietet als der kleinlich-gaunerhafte Kampf der Provinz­ kapitalisten, die den Erfinder Sechard erfolgreich prellen ; gesellschafts­ kritisch, da im Schicksal Luciens die ganze Frage der Kulturzerstörung durch den Kapitalismus zur Geltung kommt. Der resignierende Sechard empfindet ganz richtig, daß es im wesentlichen doch nur auf die materielle Ausnutzung seiner Erfindung ankommt und das B etrogenwerden nur ein persönliches Mißgeschick ist. Dagegen wird im Zusammenbruch Luciens zugleich die Er­ niedrigung und Prostitution der Literatur durch den Kapitalismus gestaltet. Der Kontrast zwischen den beiden Hauptgestalten bringt die beiden Haupt­ tendenzen der ideologischen Reaktion auf das Zur-Ware-Werden der Ideo­ logie glücklich zum Ausdruck. Sechards Linie is.t die der Resignation. Die Resignation spielt in der bürgerlichen Literatur des 1 9 . Jahrhunderts eine sehr große Rolle. Der späte Goethe ist einer der ersten, der diesen Ton als Anzeichen für die neue Periode der bürgerlichen Entwicklung an­ schlägt. Balzac geht in seinen didaktisch-utopischen Romanen zumeist den Weg Goethes : Menschen, die auf ihr persönliches Glück verzichtet haben oder ver­ zichten mußten, sind in der bürgerlichen Gesellschaft die einzigen, die ge­ sellschaftliche, nicht-egoistische Ziele verfolgen. Sechards Resignation hat freilich einen etwas anderen Akzent: er gibt den Kampf auf, verzichtet auf die Durchsetzung irgendwelcher Ziele und will in Ruhe und Abgeschiedenh eit nur seinem persönlichen Glück leben . Wer sauber bleiben will, muß sich aus dem Getriebe des Kapitalismus zurückziehen : das ist der Sinn , wenn Sechard gar nicht ironisch, gar nicht Voltairianisch » seinen Garten bebaut«. Lucien dagegen stürzt sich ins Pariser Leben ; er will dort die Rechte und die Macht der reinen Dichtung durchsetzen. Dieser Kampf macht ihn zu einer

Verlorene Illusionen

4 77

der vielen Gestalten jener nach-Napoleonischen Jünglinge, die in der Restau­ rationsperiode seelisch verkommen und untergehen oder durch Anpassung an den Schmutz der unheroisch gewordenen Epoche emporsteigen ; einer aus der Reihe der Julien Sorel, Rastignac, de Marsay, Blondet usw. Lucien nimmt a ber in dieser Reihe eine ganz eigenartige Stellung ein. Mit großer Fein­ fühligkeit und Kühnheit gestaltet Balzac hier den neuen, spezifisch-bürger­ lichen Typus des Dichters : den Dichter als .i\olsharfe für die verschiedenen Winde und Stürme der Gesellschaft, ein haltloses und richtungsloses, über­ empfindliches Nervenbündel ; einen Typus des Dichters, der in dieser Periode nur vereinzelt auftaucht, der aber für die spätere Entwicklung der bürger­ lichen Dichtung (von Verlaine bis Rilke) außerordentlich typisch wird ; als Typus der diametrale Gegensatz zu dem Dichter, den Balzac selbst von der Literatur fordert, dessen Vorbild er in diesem Roman als Selbstporträt in der Figur des d'Arthez gestaltet hat. Aber gerade diese Wesensart Luciens ist nicht nur von außerordentlich typischer Wahrheit, sondern ergibt auch die beste handlungsmäßige Basis für die allseitige Entfaltung der Widersprüche in der Kapitalisierung der Literatur. Der innere Widerspruch zwischen Luciens dichterischen Fähigkeiten und seiner menschlichen Haltlosigkei t macht ihn zum geeigneten Spielball aller vom Kapitalismus ausgenutzten dichterischen und politischen Ten denzen innerhalb der Literatur. Und diese Mischung von Haltlosigkeit und Sehnsucht n ach Reinheit, nach einem ehrlichen Leben und zugleich von maßlosem, aber schwankendem Ehrgeiz und feinnerviger Ge­ nußsucht bestimmt die Möglichkeit seines blendenden Aufstiegs, seiner raschen Selbstprostitution und sein er schließlichen schmählichen Niederlage. Balzac moralisiert nie über sein e Helden, er gestaltet die objektive Dialektik ihres Aufstiegs oder Untergangs und motiviert beides stets aus der Totalität der Charaktere in Wechselwirkung mit der To talität der objektiven Umstände und nicht aus der isolierten B ewertung » guter« und »schlechter« Eigenschaf­ ten. Der sich durchsetzende Rastignac ist um nichts unmoralischer als Lucien, aber eine andere Mischung von Begabung und Demoralisierung läßt aus ihm einen klugen Nutznießer derselben Wirklichkeit werden , an der Lucien trotz seines naiv-immoralistischen Machiavellismus äußerlich wie innerlich schei­ tert. Der bissige Aphorismus Balzacs aus der Melmoth-Novelle, daß die Men­ schen entweder Kassierer oder Defraudanten, d. h. entweder ehrliche Dumm­ köpfe oder Gauner seien, bewahrheitet sich in unendlich abgestuften Varia­ tionen in dieser tragikomischen Epopöe von der Kapitalisierung des Geistes. So ist das letztlich zusammenhaltende Prinz ip dieses Romans der gesellschaft­ liche Prozeß selbst. Der Vormarsch und der Sieg des Kapitalismus bilden

Balzac und der französische Realismus die eigentliche Handlung. Luciens individueller Zusammenbruch erh ält die letzte Wahrheit dadurch, daß dieser Zusammenbruch das typische Schicksal des reinen Dichters, der echten dichterischen Begabung im entfalteten Kapi­ talismus ist. Dennoch aber ist Balzacs Komposition auch hier nicht abstrakt­ sachli ch ; es handelt sich nicht um einen Roman des » Gegenstandes« , eines »Abschnittes« der Gesellschaft wie bei späteren Schriftstellern, obwohl Bal­ zac mit der raffiniertesten Handlungsführung alle Momente der Kapitalisie­ rung der Literatur aufmarschieren und nur diese Momente des Kapitalismus auf der Szene agieren läßt. Dieses » Gesellschaftlich-Allgemeine« tritt bei Balzac nie direkt in den Vordergrund. Seine Menschen sind nie bloße »Figuren«, die bestimmte Seiten der zu beschreibenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausdrücken. Die Gesamtheit der gesellschaftlichen Bestimmungen drückt sich ungleichmäßig, kompliziert, verworren, widerspruchsvoll in dem Gewirr von persönlichen Leidenschaften und zufälligen Geschehnissen aus. Die Bestimmung der einzelnen Menschen und Situationen erfolgt jedesmal aus der Gesamtheit der gesellschaftlich bestimmenden Kräfte, nie einfach und direkt. So ist dieser so tief allgemeine Roman zugleich und untrennbar der Roman eines einzi gen eigenartigen Menschen. Lucien de Rubempre handelt - scheinbar - selbständi g gegen die inneren und äußeren Mächte, die seinen Aufstieg verzögern, die - scheinbar - aus zufälligen persönlichen Umstän­ den oder Leidenschaften seinen Weg fördern oder hemmen, die aber immer erneut und immer in anderer Gestalt aus dem Boden desselben gesellschaft­ lichen Seins aufsteigen, das seine Bestrebungen determiniert. Diese vielfältige Einheit ist das Eigenartige ;:'.!.n der dichterischen Größe Bal­ zacs. Sie ist zugleich der dichterische Ausdruck für die Größe und Richtigkeit seiner Anschauungen über die Bewegung der Gesellschaft. Balzac hat im Gegensatz zu sehr vielen großen Romanschriftstellern keine »Maschinerie« (man denke an den Turm in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«). Denn jedes » Zahnrad« der »Maschine« seiner Handlung ist ein vollständig abgerundeter lebendiger Mensch mit spezifischen eigenen Interessen, Leidenschaften , mit Tragischem und Komischem usw. Ein Element aus diesem Gesamtkomplex von Sein und Bewußtsein bringt ihn mit dem gegebenen Handlungskomplex des Romans in Verbindung, aber ganz von seinen eigenen Lebenstendenzen aus. Da aber dieser Zusammenhang organisch aus den Interessen und Leiden­ schaften der Figur herauswächst, ist sie lebendig und notwendig. Die eigene, breite innere Notwendigkeit gibt der Gestalt die Fülle des Lebens, macht sie nicht maschinenhaft, nicht zu einem bloßen Bestandteil der Handlungsfüh­ rung. Diese Konzeption der Balzacschen Figuren bestimmt zugleich die Not-

Verlorene Illusionen

47 9

wendigkeit ihres Hinausragens aus der Handlung. So breit und weit B alzacs Handlungen auch angelegt sind, sie bewegen eine solche Masse von Figuren - und zwar von Gestalten, die diese vielseitige Fülle des Lebens besitzen -, daß sich in der Handlung selbst immer nur einige wenige voll ausleben kön­ nen. D ieser scheinbare Mangel der Balzacschen Romankomposition, auf dem aber ihre Lebensfülle beruht, macht den Zyklus zur notwendigen Form. Die bedeutenden und typischen Gestalten, die im jeweiligen Roman nur einzelne Seiten ihres Wesens episodisch entfalten können, ragen heraus, fordern Ge­ staltungen, in denen Handlung und Thema so gewählt sind, daß dort gerade sie im Mittelpunkt stehen und die Totalität ihrer Möglichkeiten und Eigen­ schaften entfalten können. (Man denke an Figuren wie Blondet, Rastignac, Nathan , Michel Chrestien usw.). So wird der zyklische Zusammenhang von der Notwendigkeit der Charaktergestaltung bedingt, ist also niemals trok­ ken-pedantisch wie die meisten Zyklen auch bedeutender Schriftsteller. Denn die Teile des Zyklus sind niemals durch die Menschen nur äußerlich bezeichnende Bestimmungen determiniert, also weder nur durch Zeitabsd:mitte noch durch rein gegenständliche Abgrenzungen. Die Allgemeinheit ist also bei Balzac stets konkret, real, seinshaft. Sie beruht vor allem auf der tiefen Auffassung des Typischen bei den einzelnen Gestal­ ten. Auf der Tiefe, die einerseits das Individuelle nicht verblassen läßt, nicht aufhebt, sondern im Gegenteil unterstreicht und konkreter macht, die ande­ rerseits die Beziehungen der einzelnen Figur zur gesellschaftlichen Umgebung, deren Produkt sie ist, in welcher und gegen welche sie handelt, sehr verwik­ kelt, aber doch klar und übersichtlich in Erscheinung treten läßt. Aber weder das Typische der Gestalt noch das ihrer Beziehung zur gesellschaftlichen Um­ welt läßt sich auf irgendein Schema reduzieren. Ein abgerundeter Charakter handelt in einer konkret vielfältigen gesellschaftlichen Wirklichkeit : es ist immer das Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung, das mit der Ganzheit eines Charakters verknüpft ist. Die Genialität der Balzacschen Erfindungs­ gabe besteht gerade in einer solchen Auswahl und Bewegung der Figuren, daß jeweils die im Mittelpunkt der Handlung steht, deren individuelle Eigen­ schaften am besten geeignet sind, die jeweils entscheidende Seite des gesell­ schaftlichen Prozesses möglichst vielfältig in klarem Zusammenhang mit dem Gesamtprozeß zu beleuchten. Die Zyklusteile werden also als Geschichten in­ dividueller Schicksale selbständig und lebendig. Diese Individualität strahlt aber stets das Licht des gesellschaftlich Typischen, des gesellschaftlich All­ gemeinen aus, das jedoch von dieser jeweiligen Individualität nur begrifflich, nur durch nachträgliche Analyse ablösbar ist. Im Werk selbst sind beide un-

Balzac und der französische Realismus lösbar vereint wie das Feuer mit der Wärme, die es ausstrahlt ; so in » Ver­ lorene Illusionen « die Verknüpfung von Luciens Charakter mit der Kapita­ l isierung der Literatur. Solche Kompositionsweise setzt eine außerordentliche Breite in der Funda­ mentierung von Charakterzeichnung und Handlungsführung voraus. Diese Breite ist auch notwendig, um der Zufälligkeit in der Verknüpfung von Personen und Begeb enheiten, mit der Balzac, wie jeder echte große Epiker, außerordentlich souverän umgeht, den zufälligen Charakter zu nehmen, um die Zufälligkeit zur Notwendigkeit zu erheben. Nur die Breite und Vielfalt der Beziehungen schafft einen Spielraum, in dem der Zufall sich dichterisch produktiv auswirken und in dem er dann doch aufgehoben werden kann. » In Paris dürfen nur Leute mit großem Verkehr auf den Zufall rechnen ; je mehr Beziehungen man hat, desto größer wird die Aussicht auf Erfolg, auch der Zufall hält es mit den stärksten Bataillonen .« Balzacs Form der dichte­ rischen Aufhebung des Zufalls ist also noch » altmodisch« und unterscheidet sich grundsätzlich von der Art neuerer Schriftsteller. I n dem Vorwort zum B eispiel, das Sinclair Lewis zu »Manhattan Transfer« von Dos Passos schrieb, kritisiert er die » alte« Art des Handlungsaufbaus ; er spricht vorwiegend über Dickens, die Tendenz seiner Kritik richtet sich aber auch gegen Balzac. Er schreibt : »Und die klassische Methode - o ja, sie war sehr mühsam auf­ getakelt ! Durch ein unglückliches Zusammentreffen mußte Mr. Jones zugleich mit Mr. Smith in einer Postkutsche befördert werden, damit etwas recht Peinliches und Unterhaltsames passieren konnte. In >Manhattan Transfer< laufen die Personen einander entweder gar i:i.icht über den Weg, oder es ge­ schieht auf die natürlichste Weise. « Hinter dieser modernen Konzeption steht - freilich bei den meisten Schriftstellern unbewußt - eine oberflächliche, undialektische Auffassung der Kausalität und des Zufalls. Der Zufall wird in einen Gegensatz zur kausalen Verknüpfung gebracht und man meint, daß ein Zufall aufgehört hat, zufällig zu sein, wenn man seine unmittelbaren Veranlassungen kausal aufdeckt. Damit ist aber für die künstlerische Moti­ vierung nichts oder nur sehr wenig geschehen. Man denke in eine beliebige tragische Verwicklung einen noch so wohlbegründeten Zufall hinein, er würde nur grotesk wirken, und keine Kette der kausalen Begründung könnte ihn zur Notwendigkeit erheben. D ie beste und begründetste Terrainbeschreibung, die Achilles in der Verfolgung Hektors das Bein brechen ließe, die glänzend­ ste medizinisch-pathologische Darstellung, die Antonius vor seiner Rede auf dem Forum an Halsentzündung erkranken machte, würde nur als groteske Zufälligkeit erscheinen. Dagegen wirken die grob gezimmerten, kaum

Verlorene Illusionen begründeten Zufälle in der Katastrophe Romeos und Julias nicht zufällig. Warum ? Selbstverständlich deshalb, weil die Notwendigkeit, die diesen Zu­ fall aufhebt, in der Verwiddung und Vereinigung eines ganzen Systems von Kausalreihen besteht, weil erst die Notwendigkeit einer ganzen Entwicklungs­ richtung die echte dichterische Notwendigkeit ergibt. Die Liebe von Romeo und Julia muß tragisch enden, und diese Notwendigkeit hebt erst den zu­ fälligen Charakter aller jener Anlässe auf, die die einzelnen Etappen dieser Entwicklung unmittelbar kausal hervorrufen. Ob und wie weit diese Anlässe - isoliert betrachtet - motiviert werden, ist eine sekundäre Frage. Der eine Anlaß ist nicht weniger zufällig als der andere, und der Dichter hat das Recht, aus den gleich viel oder gleich wenig zufälligen Veranlassungen die dichterisch wirksamste auszuwählen. Und Balzac bedient sich dieser Freiheit mit der größten Souveränität, mit einer ebenso großen Souveränität wie Shakespeare. Die dichterische Gestaltung der Notwendigkeit beruht bei Bal­ zac auf einer breiten und tiefe n Erfassung und Darstellung jener Entwick1 ungsrichtung, deren konkrete Verkörperung das jeweilige Thema bildet. Durch die breite und tiefe Auffassung der Charaktere, durch die Breite und Tiefe der Gesellschaftsschilderung, durch die feine und vielfältige Verknüp­ fung der Gestalten mit der gesellschaftlichen Grundlage und Umwelt ihres Handelns, schafft Balzac einen weiten Spielraum, innerhalb dessen sich Tau­ sende von Zufällen, deren Gesamtwirkung aber doch eine tiefe Notwendig­ keit ergibt, ruh ig kreuzen mögen. Die wirkliche Notwendigkeit liegt also in unserem Fall darin, daß Lucien in Paris zugrunde gehen muß. Jeder Schritt, jedes Moment des Auf- und Abstiegs seiner Lebenskurve enthüllt immer tiefere gesellschaftliche und psy­ chologische Bestimmungen dieses notwendigen Zusammenhanges. Nach der Anlage des Romans führt jeder Zufall zu diesem Ziel und jede einzelne Er­ scheinung, die die Notwendigkeit zu enthüllen verh ilft, ist an sich zufällig. Dieses Hervortreten der tiefsten gesellschaftlichen Notwendigkeit geschieht bei B alzac immer durch Handlung, durch energische, zumeist auf eine Kata­ strophe hin konzentrierte Zusammenballung der Ereignisse. Die umständ­ liche B reite der Beschreibung, die sich manchmal zu förmlichen Abhandlun­ gen über eine Stadt, eine Wohnungseinrichtung, ein Restaurant usw. aus­ wachsen, ist niemals bloße B eschreibung. Hier wird immer wieder die Breite und Vielfalt jenes Spielraumes entwickelt, in dem sich dann die Katastrophe entladen kann . Diese kommt zumeist »plötzlich«, unerwartet, aber diese Plötzlichkeit ist nur Schein . Denn inmitten der Katastrophe enthüllen sich mit großer Deutlichkeit Einzelzüge, deren Vorhandensein auf geringerer In-

Balzac und der französische Realismus tensitätshöhe wir schon längst beobachtet haben. Es ist für B alzac sehr cha­ rakteristisch, daß sich in diesem Roman zwei große Wendungen im Verlauf von einigen Tagen, ja sogar von einigen S tunden abspielen. Ein paar Tage gemeinsamen Aufenthalts in Paris genügen, damit Lucien und Louise de B argeton sich gegenseitig als Provinzler erkennen und sich als solche von­ einander abwenden. Die Katastrophe spielt sich während eines gemeinsamen Theaterbesuchs ab. Noch katastrophenhafter ist der journalistische Aufstieg Luciens. An einem verzweiflungsvollen Nachmittag liest er dem Journalisten Lousteau seine Gedichte vor, dieser nimmt ihn mit zum Verleger, in die Re­ daktion, ins Theater, Lucien schreibt seine erste Theaterkritik und wacht am anderen Tage als bekannter Journalist auf. Die Wahrheit solcher Katastro­ phen ist gesellschaftlich-inhaltlich : die Wahrheit der gesellschaftlichen Kate­ gorien, die letzten Endes diese Wendungen notwendig bestimmen. Und die Form der Katastrophe schafft eine konzentrierte Wirksamkeit der wesent­ lichen Bestimmungen, sie läßt ein überwuchern unwesentlicher Details nicht zu. Die Frage nach dem Wesentlichen und Unwesentlichen ist eine andere Seite des schriftstellerischen Problems der Zufälligkeit. Literarisch ist jede Eigen­ schaft eines Menschen zufällig, ist jeder Gegenstand bloßes Requisit, wenn der entscheidende Zusammenhang nicht dichterisch, nicht handlungsmäßig zum Ausdruck kommt. Deshalb steht die Breite der Anlage in B alzacs Ro­ manen in keinem Gegensatz zu ihren explosionsartigen, von Katastrophe zu Katastrophe sich bewegenden Handlungen. Im Gegenteil. B alzacs Handlun­ gen setzen gerade diese Breite in der Fundamentierung voraus, denn ihre Verflochtenheit und Spannung, die immer neue und neue Züge der Gestalten ans Tageslicht bringt, offenbart doch nie etwas radikal Neues, sondern macht nur handlungsmäßig alles explicit, was in der Breite der Anlage implicit bereits enthalten ist. Deshalb tragen Balzacs Gestalten - dichterisch gesehen - niemals zufällige Züge, denn sie haben keine, auch noch so äußerliche Eigenschaft, der im Handlungsverlauf nicht an irgendeinem Punkt eine ent­ scheidende Bedeutung zukommen würde. Und eben deshalb ergeben B alzacs Beschreibungen nie ein »Milieu« im Sinne der späteren positivistischen Sozio­ logie, eben deshalb sin d die sehr ausführlich beschriebenen Wohnungsein­ richtungen usw. niemals Requisiten. Man denke nur daran, welche Rolle die vier Anzüge Luciens in der ersten Pariser Katastrophe spielen . Er hat zwei aus Angouleme mitgebracht und auch der bessere erweist sich beim ersten Spaziergang in Paris als unmöglich. Der erste Pariser Anzug ist eine mangel­ hafte und löcherige Rüstung im ersten Kampf, den Lucien in der Loge der

Verlorene Illusionen Marquise d'Espard mit der Pariser Gesellschaft zu bestehen hat. Der zweite Pariser Anzug wird für diese Etappe zu spät fertig und wandert während der asketisch-dichterischen Periode in den Schrank, um dann beim journa­ listischen Umschwung ganz kurz zum Vorschein zu kommen. Eine solche handelnd-dramatische, wesentliche Bestimmungen enthüllende Rolle spielen sämtliche Dinge, die B alzac »beschreibt« . Balzac gibt seiner Handlung breitere Grundlagen als jeder Schriftsteller vor oder nach ihm, aber bei ihm spielt alles handlungsmäßig mit. Ein solches allseitiges Wirksam-Werden von vielfach bestimmten Ganzheiten entspricht vollkommen der Struktur der objektiven Wirklichkeit, deren Reichtum wir eben mit unseren stets zu abstrakten, stets zu starren und geradlinigen, zu einseitigen Gedanken niemals adäquat widerspiegeln und erfassen können. B alzacs Vielfalt kommt der obj ektiven Wirklichkeit näher als irgendeine andere Art der Gestaltung. Jedoch, je mehr Balzacs Methode der objektiven Wirklichkeit selbst nahekommt, desto weiter ist sie von der gewohnten , all­ täglichen durchschnittlichen Art der unmittelbaren Widerspiegelung der ob­ jektiven Wirkl ichkeit entfernt. B alzacs Methode hebt gerade die bornierten, gewohnheitsmäßigen, routinehaften Schranken dieser Unmittelbarkeit auf. Und weil diese Methode damit gegen die Bequemlichkeit der gewohnten Be­ trachtung der Wirklichkeit verstößt, wird sie von vielen als »übertrieben«, »überladen « usw. empfunden. Gerade die Größe des Balzacschen Realismus steht in scharfem Widerspruch zu den Denk- und Erlebnisgewohnheiten einer Zeit, die immer mehr auf die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit ver­ zichtet und entweder in den unmittelbaren Erlebnissen oder in ihrem Auf­ bauschen zu Mythen das Letzte erblickt, was wir von der Wirklichkeit er­ fassen können. Freilich geht Balzac hinsichtlich der Breite, Dichte, Vielfalt usw. seiner Wider­ spiegelung der Wirklichkeit über die Unmittelbarkeit hinaus. Er hält sich auch im Ausdruck nicht an die Schranken der durchschnittlichen Wirklich­ keit. D'Arthez-B alzac sagt in unserem Roman : »Und was ist Kunst? Nichts anderes als konzentrierte Natur.« Aber diese Konzentration ist niemals fo r­ mal, ist, im Gegenteil, die höchste inhaltliche Steigerung des gesellschaftlichen und menschlichen Wesens einer Situation. B alzac ist einer der geistreichsten Schriftsteller, die je gelebt haben. Sein Geist beschränkt sich aber nicht auf schlagend witzige Formulierungen, sondern zeigt sich in dem frappanten I n­ Erscheinung-Treten des Wesentlichen, in der höchsten Spannung seiner Gegen­ sätzlichkeit. Zu Beginn seiner Karriere muß Lucien einen Artikel gegen Na­ thans Roman schreiben, gegen ein Buch, das er bewundert. Einige Tage spä-

Balzac und der französische Realismus ter soll er in einem zweiten Artikel gegen den ersten polemisieren. Der jour­ nalistische Neuling Lucien steht anfangs ratlos vor diesem Problem. Einmal klärt ihn Lousteau , das andere Mal Blondet über seine Aufgabe auf. Beide Male wird uns eine blendende, literaturgeschichtlich und ästhetisch glänzend belegte Abhandlung vorgelegt; Lucien ist nach Lousteaus Vortrag ganz er­ schüttert. »>Aber, was du mir sagstist ja vollständig richtig und vernünftig.< >Könntest du sonst das Buch Nathans in Stücke reiß en ?< fragte Lousteau. « Auch nach Balzac haben viele Schriftsteller die Gesinnungslosig­ keit des Journalismus geschildert, haben beschrieben, wi e Artikel gegen die Überzeugung ihrer Schreiber entstehen. Aber nur Balzac deckt die Tiefe des journalistischen Sophismus völlig auf, wenn er blendend spielerisch unab­ hängig von jeder Überzeugung - je nach den Korrup tionsbedürfnissen das tiefste Pro und Kontra einer Frage nebeneinander aufmarschieren läßt ; indem er die große Begabung der kapitalistisch korrumpierten Schriftsteller gestaltend aufzeigt und zugleich gestaltet, wie diese aus dem Sophismus, aus der Fähigkeit, bei jeder Frage je nach Bedarf das Pro oder Kontra blendend und überzeugend auszudrücken, ein Gewerbe, eine Virtuosität machen. Durch diese Höhe des Ausdrucks wird Balzacs Börse des Geistes zu einer tiefen Tragikomödie des Geistes der bürgerlichen Klasse. Während die späteren realistischen Schriftsteller die bereits vollzogene Kapitalisierung des bürgerlichen Geistes beschreiben, gestaltet Balzac die ursprüngliche Akku­ mulation in der ganzen düsteren Pracht ihrer Scheußlichkeit. Es ist noch nicht eine routinenhafte Selbstverständlichkeit, daß der Geist zur Ware geworden ist, und er hat noch nicht die routinierte Langeweile der bereits maschinen­ haft produzierten Ware. Das Zur-Ware-Werden des Geistes geschieht vor unseren Augen als neues, dramatisch-spannendes Ereignis. Lousteau oder Blondet waren gestern das, was Lucien im Roman wird: Schriftsteller, die ihre Kunst und ihre Überzeugung zur Ware werden lassen müssen . Der beste Teil der nachrevolutionären Intelligenz trägt hier seine Gefühle und Gedan­ ken auf den Markt, die beste Nachblüte jener I deen und Empfindungen, die die bürgerliche Intelligenz seit der Renaissance produziert hat. Und es ist nicht nur eine epigonenhafte Nachblüte. Der Geist der B alzacschen Gestalten, wenn ihre Dialektik auch ununterbrochen in eine sophistische Spielerei mit der Gegensätzlichkeit des Daseins umschlägt, hat eine solche B reite und Weite, steht jeder provinziellen Borniertheit so meilenweit fern, wie es in der französischen Entwicklung bisher noch nicht möglich war. Daß diese Blüte des Geistes zugleich der übelste Sumpf der Korruption, der Selbst­ prostitution, der gegenseitigen Depravation ist, das gerade macht die in der

Verlorene Illusionen Geschichte der bürgerlichen Literatur unerreichte Tiefe dieser Tragikomödie aus. Also gerade die Tiefe des Realismus entfernt Balzac so sehr vom Ab photo­ graphieren der durchschnittlichen Wirklichkeit. Denn diese inhaltlich be­ s timmte Konzentration gibt bereits ohne jede romantische Zutat dem gan­ zen Bild eine düstere und grausige Phantastik. In seinen bedeutenden und gelungenen Werken nimmt Balzac nur in diesem Sinne Anregungen der Ro­ mantik auf und wird dabei nicht zum Romantiker. Seine Phantastik ist nur ein radikales Zu-Ende-Denken der Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit über die Schranken ihrer alltäglichen oder sogar realen Ver­ wirklichungsmöglichkeit hinaus ; so zum Beispiel wenn Balzac in der Mel­ moth-Novelle das Seelenheil zu einem Börsenartikel macht, dessen Kurs, in­ folge zu rasch aufeinanderfolgender Angebote, von der anfänglichen Höhe rapid heruntersinkt. Die Gestalt des Vautrin ist die Konzentration dieser Balzacschen Phanta­ s tik. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser » Cromwell des Bagno« gerade in j enen Romanen Balzacs auftritt, in denen die typischsten Gestalten der jun­ gen nachrevolutionären Generation die Wendung vom Ideal zur Wirklichkeit vollziehen. So erscheint Vautrin in der kleinen Pension, in der Rastignac seine ideologische Krise erlebt; so taucht er am Ende der »Verlorenen Illu­ sionen« auf, als Lucien, von allen Hoffnungen betrogen, materiell und mo­ ralisch zugrunde gerichtet, Selbstmord begehen will. Er erscheint hier mit derselben begründet-unbegründeten Plötzlichkeit, mit der Mephisto in Goethes » Faust«, mit der Luzifer in Byrons »Kain« auf die Szene springen. Vautrins Funktion in der »Menschlichen Komödie« entspricht der Mephistos und Luzifers in den Mysterien von Goethe und Byron. Aber der Wandel der Zeiten hat den Teufel, das negative Prinzip, nicht nur der übermenschlichen Größe und Glorie entkleidet, ins nur Irdische ernüchtert, sondern hat auch das Wesen seiner » Verführung« und die Methoden dieser Verführung verwan­ delt. Für Goethe, der doch - so sehr sein Alter in die nachrevolutionäre Zeit hineinragt und so großartig er die tiefsten Probleme dieser Periode gestaltet hat - die große Umwälzung der Welt seit der Renaissance noch immer im positiven Sinne auffaßt, für Goethe ist Mephisto » ein Teil von jener Kraft, die stets das B öse will und s tets das Gute schafft«. Bei B alzac lebt dieses Gute nur noch in phantastischen Träumen. Die mephistophelische Kritik Vautrins ist nur das brutale und zynische Aussprechen dessen, was in dieser Welt jeder tut und jeder tun muß, der sich nicht selbst zum Untergang ver­ urteilt. » Sie haben nichts «, sagt er zu Lucien, »sie sind in der Lage der Medici,

Balzac und der französische Realismus

Richelieus, Napoleons im Anfang ihres Ehrgeizes, die alle für ihre Zukunft den Preis zahlten: Undankbarkeit, Verrat und Widersprüche der heftigsten Art. Wer alles haben will, muß alles wagen. überlegen wir. Streiten Sie über die Spielregeln, wenn Sie sich an den Spieltisch setzen? Die Regeln sind ge­ geben, Sie nehmen sie an. « Der tiefe Zynismus dieser Gesellschaftsauffassung besteht doch nur in ihrem I nhalt. Solche I nhalte wurden oft auch vor B alzac ausgesprochen. Aber die wesentliche Verführung Vautrins liegt darin, daß er diese Weisheit, die jeder Kluge hat, ohne I llusion, ohne ideologische Ver­ brämung ausspricht. Die » Verführung« liegt darin, daß die Weisheit Vautrins der Weisheit der reinsten und heiligsten Gestalten der Balzacschen Welt gleicht. Ich führe nur ein B eispiel an. In dem berühmten Brief, den die »heilige« Madame de Mortsauf an Felix de Vandenesse schreibt, sagt sie über die Gesellschaft : »Das einzige, was mir als feststehend erscheint, ist ihr Vorhandensein. Im Augenblick, da Sie sie als gegeben hinnehmen, anstatt abseits zu leben, müssen Sie die vorhandenen B edingungen gutheißen. Zwi­ schen ihr und Ihnen wird morgen ein Kontrakt unterschrieben.« Das ist reich­ lich verschwommen-poetisch ausgedrückt. Der nackte Sinn dieser Worte ent­ spricht doch aber dem, was Vautrin zu Lucien sagt. Wie ja auch Rastignac mit Staunen bemerkt, daß die zynische Weisheit Vautrins inhaltlich gleich ist mit den geistreichen Aphorismen der Vicomtesse de B eauseant. Diese Einheit in der Beurteilung des Wesens der kapitalistischen Wirklichkeit zwischen der Blüte der aristokratischen Intelligenz und dem entsprungenen Häftling er­ setzt die theatralisch-mystischen Attribute seines mephistophelischen Wesens. Er heißt nicht umsonst im Jargon des Bagno und der Spitzel : »Betrüg den _ Tod.« Er steht wirklich mit dem diabolischen Grinsen der bitteren B alzac­ schen Weisheit auf dem Friedhof aller I llusionen einer jahrhundertelangen glorreichen Entwicklung : die Menschen sind entweder Dummköpfe oder Schurken. Die Düsterheit dieses Bildes bedeutet aber nicht : Pessimismus im Sinne des späten 1 9 . Jahrhunderts. Die großen Dichter und Denker dieser Entwicklungs­ etappe der bürgerlichen Klasse lehnen jede flache Apologie des kapitalisti­ schen Fortschritts, jede widerspruchslose, glatt evolutionäre Fortschritts­ mythologie mit kühner und tiefer Kritik ab . Gerade durch diese Tiefe und Vielseitigkeit geraten sie in eine widerspruchsvolle Position : ihre kritische, stolze Anerkennung, ihre gedanklich-dichterische Erfassung der Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung paart sich notwendig mit haltlosen Illu­ sionen. In unserem Roman ist die Gestaltung des Kreises um d' Arthez die dichterische Form solcher Illusionen, so wie in »Rameaus Neffe« Diderot

Verlorene 1 llusionen selbst als Gesprächspartner diese Illusionen verkörpert. Dichterisch wird in beiden Fällen der verruchten Wirklichkeit die Existenz einer anderen, bes­ seren Art der Wirklichkeit entgegengehalten. Die Schwäche dieser dichteri­ schen Argumentation hat bereits Hegel in seiner Analyse von Diderots Mei­ sterwerk schlagend nachgewiesen : » So steht die allgemeine Wirklichkeit des verkehrten Tuns der ganzen realen Welt entgegen, worin jenes Beispiel also nur etwas ganz Vereinzeltes, eine Espece ausmacht, und das Dasein des Guten und Edlen als eine einzelne Anekdote, sei sie fingiert oder wahr, dar­ stellen, ist das Bitterste, was von ihm gesagt werden kann.4( Und Hegel er­ kannte schon bei Diderot ganz klar, daß die Stimme der weltgeschichtlichen Entwicklung im Negativen, im Bösen und Verkehrten und nicht in dieser isolierten Gestaltung des Guten zum Ausdruck kommt. Das verkehrte Be­ wußtsein sieht nach Hegel den Zusammenhang oder wenigstens die Wider­ sprüchlichkeit des Zusammenhanges, während sich das illusionäre Gute an herausgegriffene und isolierte Einzelheiten halten muß. »Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der anderen, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahr­ heit. « Aber selbstverständlich darf man, trotz aller Illusionen, den Diderot des Dialoges, oder den d'Arthez-Balzac dieses Romans der dichterisch gestalte­ ten negativen Welt nicht starr gegenüberstellen. Der Grundwiderspruch liegt eben darin, daß Balzac mit all diesen d'Arthezschen Illusionen doch eben die » Verlorenen Illusionen« gestaltet hat. Diderots und B alzacs Bewußtsein um­ fassen also sowohl das Positive als auch das Negative der von ihnen gestalte­ ten Welt, sowohl die Illusionen als auch ihre Zerstörung durch die kapita­ listische Wirklichkeit. Indem sie so gestaltend aussprechen, was die kapita­ listische Welt ist , erheben sich beide Dichter nicht nur über jene illusionären Standpunkte, die von ihren Sprachrohren in diesen Werken vertreten wer­ den, sondern zugleich auch über den sophistischen Zynismus der von ihnen gestalteten echtgeborenen Vertreter des Kapitalismus. Dieses Aussprechen der Wirklichkeit ist die höchste Stufe der Erkenntnis, zu der es ein bürgerlicher Dichter oder Denker bringen kann, solange es ihm die gesellschaftliche Ent­ wicklung nicht gestattet, den bürgerlichen Klassenboden zu verlassen. Freilich steckt auch in dem Aussprechen selbst ein unablösbarer Kern von idealisti­ schen Illusionen. Hegel kennzeichnet diese Illusionen am Schluß seiner Dide­ rot-Analyse darin, daß die klare Erkenntnis dieser Widersprüche bereits ein reales Hinausgehen des Geistes über sie bedeute. »Die ihrer selbstbewußte und

Balzac und der französische Realismus sich aussprechende Zerrissenheit des Bewußtseins ist das Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst ; es ist zugleich das sich noch vernehmende Verklingen dieser ganzen Verwir­ rung.« Es ist eine offenkundige und typisch idealistische Illusion zu glauben, daß Widersprüche der Realität durch gedankliche Überwindung real über­ wunden werden können ; j a, auch die gedankliche Überwindung von real noch unüberwindlichen Widersprüchen wird sich stets als illusionär erweisen. Aber diese Illusion, die konkret ausgesprochen oder systematisiert verflachte und fast immer mehr oder weniger reaktionäre Inhalte aufnimmt, ist nicht nur gesellschaftlich notwendig als »Begründung« für die sozial notwendige und fortschrittliche Bejahung der Ganzheit der gesellschaftlichen Entwicklung bei rücksichtsloser Entlarvung aller Scheußlichkeiten und Verworfenheiten ihrer zeitgenössischen Etappe. Darüber hinaus birgt sich in ihr der richtige und fortschrittliche Glaube, daß die Menschheitsentwicklung als Ganzes unmög­ lich sinnlos sein könne, daß die heroischen Anstrengungen des menschlichen Fortschritts von der Renaissance bis zur Aufklärung und zur Französischen Revolution unmöglich nur die Nucingen und Co. als endgültige Triumpha­ toren hervorbringen konnten. Die Tatsache, daß Balzac, wie Engels richtig hervorhebt, »mit unverhohlener Verzückung« gerade die Todfeinde dieser Gesellschaft, die republikanischen Helden des Klosters Saint Mery gestaltet hat, ist der beste Beweis für den richtigen Kern seines Glaubens an die Mög­ lichkeit der Weiterentwicklung der Menschheit - allem Pessimismus der ge­ stalteten Welt, allen unvermeidlichen Illusionen seiner eigenen gesellschaft­ lichen Lage zum Trotz. Diese Illusionen bej ahen also mit falschen Begrün­ dungen die richtige Fortsetzung des großen Befreiungskampfes der Mensch­ heit. Balzacs verzweifelte Wahrhaftigkeit jusqu'au bout ist also eine wichtige , eine tragische Entwicklungsstufe des Humanismus. Im Zwielicht eines Über­ gangszeitalters, nachdem die Sonne des revolutionären bürgerlichen Huma­ nismus untergegangen ist und das Licht des aufsteigenden proletarischen Hu­ manismus noch nicht sichtbar war, ist diese Form der Kritik des Kapitalismus der sicherste Weg zur Bewahrung des großen bürgerlich-humanistischen Erbes, zum Hinüberretten seines besten Teiles m die neue Menschheitsent­ wicklung. Balzac hat m » Verlorene Illusionen« den neuen Typus des Desillusions­ Romans geschaffen, aber sein Werk wächst weit über jene Formen hinaus, die dieser Romantypus im 1 9 . Jahrhundert erhalten hat. Der Unterschied, der die Einzigartigkeit von Balzacs Lebenswerk unterstreicht, ist, wie gezeigt wurde, ein historischer: Balzac gestaltet die ursprüngliche Akkumulation des

Verlorene Illusionen Kapitalismus am menschlichen Geiste, seine Nachfolger, auch die größten wie zum B eispiel Flaubert, stehen bereits vor der vollzogenen Tatsache der Subsumtion aller menschlichen Werte unter die kapitalistische Warenbezie­ hung. Bei Balzac haben wir also die bewegte Tragödie des Entstehens vor uns, bei seinen Nachfolgern die tote Tatsache des Vollzugs, die lyrische und ironische Trauer über den Vollzug. Balzac gestaltet den Kampf gegen die kapitalistische Degradierung des Menschen, seine Nachfolger schildern nur eine kapitalistisch degradierte Welt. D ie von Balzac überwundene, in ein aufgehobenes Moment der Gesamtbetrachtung aufgehobene Romantik schlägt bei seinen Nachfolgern unaufgehoben, lyrisch und ironisch in den Realismus hinein, überwuchert ihn , verdeckt die großen bewegenden Kräfte der Ent­ wicklung und gibt elegische und ironische Stimmungen und Eindrücke an Stelle der bewegten Objektivität der Sache selbst. Die kämpferische Verbun­ denheit mit dem großen B efreiungskampf der Menschheit muß zu einer Trauer über die kapitalistische Versklavung gedämpft werden ; der kämpfe­ rische Zorn über die Depravation verwandelt sich in ohnmächtige, überlegene, abseitige Ironie. So hat B alzac diesen Romantypus nicht nur geschaffen, son­ dern seine höchsten Möglichkeiten erfüllt. Die Weiterführung ist, trotz aller hohen dichterischen Fähigkeiten der Nachfolger, doch ein künstlerischer Ab­ stieg, freilich ein gesellschaftlich-geschichtlich notwendiger Abstieg.

[1935]

III

Balzac als Kritiker Stendhals

Am 2 5 . September 1 8 40 veröffentlicht der auf dem Gipfel seines Ruhms stehende Balzac eine begeisterte, außerordentlich tiefe Kritik über den Roman »Die Kartause von Parma « des damals noch keineswegs anerkannten Sten­ dhal. Ende Oktober antwortet Stendhal auf diese Kritik in einem ausführ­ lichen Brief, in dem er die Punkte bezeichnet, wo er die Kritik B alzacs ak­ zeptiert, und jene, wo er seine eigene schöpferische Methode gegen B alzac verteidigt. Diese kritische Begegnung der beiden größten französischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts ist von außerordentlicher Bedeutung, obwohl, wie wir später sehen werden, Stendhals Brief etwas diplomatisch gehalten ist, die Opposition gegen Balzac nicht so offen aus­ spricht, wie dies Balzac in seiner Kritik an Stendhal getan hatte. Dennoch geben die genannten Schriften ein sehr deutliches Bild von der wesentlichen Übereinstimmung der beiden großen Schriftsteller in bezug auf das zentrale Problem des großen Realismus und zugleich von den besonderen Wegen, auf denen beide diesen großen Realismus gesucht haben. Balzacs Kritik ist ein Muster an konkreter Analyse eines großen Kunstwerks. Es gibt in der gesamten kritischen Literatur wenig Fälle , in denen die we­ sentlichen Schönheiten eines Kunstwerks mit so liebevollem Eingehen, mit einer so zarten und kongenialen Einfühlungsgabe aufgedeckt worden sind. Balzacs Kritik ist das Muster einer Kritik vom Standpunkt des großen, den­ kenden Künstlers, der sich seiner Kunst bewußt ist. Und die Bedeutung dieser Kritik wird in keiner Hinsicht dadurch herabgesetzt, daß Balzac trotz dieser bewundernswerten Gabe, die Absichten Stendhals zu verstehen und verständ­ lich zu machen, gerade den tiefsten Absichten Stendhals gegenüber blind ist : ihm seine eigene schöpferische Methode aufzuzwingen versucht. Diese Grenze ist keine persönliche Grenze B alzacs. Die Kritiken großer Künstler über eigene und fremde \Verke sind gerade deshalb so lehrreich, weil eben diese notwendige und fruchtbare Einseitigkeit ihre Grundlage bil­ det. Wir können aus diesen Kritiken nur dann wirklich lernen, wenn wir sie nicht als einen abstrakten Kanon betrachten, sondern den spezifischen Ge­ sichtspunkt, der sie bestimmt, scharf herausarbeiten. Denn die Einseitigkeit eines so großen Künstlers wie Balzac ist stets, wie wir sagten, notwendig und fruchtbar : gerade auf diese Einseitigkeit gründet sich B alzacs Fähigkeit, das Leben in seiner Totalität zu gestalten.

Balzac als Kritiker Stendhals

49 1

Die Tatsache, daß er sich mit dem einzigen ebenbürtigen zeitgenössischen Schriftsteller auseinandersetzt, zwingt Balzac gleich am Anfang der Kritik dazu, seine eigene Stellung in der Literaturgeschichte, in der Stilentwicklung des Romans genauer zu bestimmen, als er es sonst getan hat. In der Einleitung zur »Menschlichen Komödie« berührt Balzac im wesentlichen nur seine Stel­ lung zu Walter Scott, bezeichnet die Momente, in denen er Scotts Lebenswerk fortsetzt, und jene, in denen er über Scott h inausgeht. Hier gibt er nun eine außerordentlich tiefe Analyse der Stilrichtungen des Romans in seiner Zeit. Die konkrete Tiefe dieser Stilanalyse wird für den verständnisvollen Leser dadurch nicht im geringsten beeinträchtigt, daß die Terminologie Balzacs ziemlich unexakt, stellenweise sogar irreführend ist. Der wesentliche Gehalt dieser Analyse läßt sich darin zusammenfassen, daß Balzac drei große Stilrichtungen des Romans unterscheidet. Diese Richtungen sind : erstens die »Literatur der Ideen«, worunter Balzac im wesentlimen die Literatur der französischen Aufklärung versteht; Voltaire oder Lesage von den Alten, S tendhal und Merimee von den Neuen sind in seinen Augen die größten Repräsentanten dieser Richtung. Zweitens die »Literatur der Bilder« (images), worunter Balzac hauptsächlich die Romantiker versteht, Schriftsteller wie Chateaubriand, Victor Hugo usw. Und drittens eine Rich­ tung, die eine Synthese der bei den ersteren versucht, von Balzac hömst un­ glücklich »literarischer Eklektizismus« genannt. (Dieser Ausdruck stammt wahrscheinlich aus seiner übertriebenen Hochachtung für die zeitgenössi ­ schen Philosophen vom Typus Royer-Collards.) Zu dieser Rimtung zählt Balzac sich selbst, Walter Scott, Frau de Stael, Cooper, George Sand. Diese Namensliste zeigt genau , wie einsam Balzac sich in seiner Zeit gefühlt hat. Denn konkrete Außerungen über die hier aufgezählten Schriftsteller, zum Beispiel die außerordentlich interessante Kritik an Cooper in der »Revue Parisienne «, beweisen, daß Balzacs Einverständnis mit ihnen in den wesent­ lichen Fragen der schöpferischen Methode nicht sehr weit ging. Er sah sich aber hier, wo er seine s chöpferisme Methode als große historische Rimtung vor dem einzigen Schriftsteller von gleichem Rang verteidigen wollte, ge­ zwungen, auf eine Ahnenreihe und auf gleichstrebende Schriftsteller zu ver­ weisen . Balzac arbeitet den Gegensatz seiner Richtung zu der der »Literatur der Ideen« am schärfs ten heraus. Verständlicherweise, denn gerade hier kommt der Gegensatz zu Stendhal zum Ausdruck. Balzac sagt : » Ich glaube nicht, daß ein Bild der modernen Gesellschaft möglich is t mit der strengen Ver­ fahrensweise der Literatur des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts . Die Einführung des

492

Balzac und der französische Realismus

dramatischen Elementes, des Bildes, des Gemäldes, der B eschreibung, des Dia­ logs scheint mir unvermeidlich in der modernen Literatur. Gestehen wir es aufrichtig, >Gil Blas< ist als Form ermüdend : die Häufung der Ereignisse und der I deen hat irgend etwas Unfruchtbares. « Und wenn B alzac gleich darauf Stendhals Roman als Meisterwerk der »Literatur der Ideen « bezeich­ net, so betont er außerdem, daß Stendhal den beiden anderen Schulen gewisse Konzessionen gemacht habe. Wir werden im folgenden sehen : Balzac hat einerseits außerordentlich großes Verständnis dafür, daß Stendhal in künst­ lerischen Einzelheiten weder der Romantik noch der von B alzac vertretenen Richtung irgendwelche Konzession macht ; andererseits aber kritisiert er in den letzten Fragen der Komposition, in Fragen, die sich bereits unmittelbar mit der Weltanschauung berühren , Stendhal gerade wegen dieser Konzes­ sionslosigkeit. Es handelt sich hierbei um eine zentrale Weltanschauungs- und S tilfrage des gesamten 1 9 . Jahrhunderts : um die Frage der Auseinandersetzung mit der Romantik. Kein großer Schriftsteller, der nach der Französischen Revolu­ tion gewirkt hat, konnte dieser Auseinandersetzung entgehen, die bereits in der Weimarer Periode Goethes und Schillers beginnt und ihren l iterarischen Höhepunkt in Heines Kritik der Romantik erreicht. Das Grundproblem die­ ser Auseinandersetzung besteht darin, daß die Romantik als Strömung kei­ neswegs nur eine l iterarische Richtung war. In der romantischen Weltanschau­ ung kam eine spontane und tiefe Empörung gegen den rapid sich entwickeln­ den Kapitalismus zum Ausdruck, selbstverständlich in einer außerordentlich widerspruchsvollen Form. Gerade die extremen Romantiker wurden zu feu­ dalen Reaktionären und christlichen Obskuranten. Aber im Hintergrund der Bewegung stand eben diese spontane Rebellion gegen den Kapitalismus. Und für die großen Schriftsteller dieser Epoche, die einerseits nicht über den bür­ gerlichen Horizont hinausgehen konnten, andererseits ein umfassendes und wahrhaftes Weltbild erstrebten, ergab sich daraus ein eigenartiges Dilemma. Sie konnten unmöglich Romantiker im Schulsinne des Wortes sein, denn dann hätten sie die Vorwärtsbewegung der Zeit nicht verstehen und verfolgen können. Sie konnten aber an der romantischen Kritik des Kapitalismus und der kapitalistischen Kultur unmöglich achtlos vorbeigehen, ohne in die Ge­ fahr zu geraten, blinde Verherrlicher der bürgerlichen Gesellschaft, Apolo­ geten des Kapitalismus zu werden. Sie alle mußten also danach streben, die Romantik zu einem aufgehobenen Moment ihrer Weltanschauung zu machen. Und man muß hinzufügen, daß diese Synthese keinem der großen Schrift­ steller dieser Periode restlos und ohne Widerspruch geglückt ist. Sie alle

Balza c als Kritiker Stendhals

49 3

schöpfen ihre größten schriftstellerischen Werte aus den für sie objektiv un­ lösbaren, aber mutig zu Ende geführten Widersprüchen der gesellschaftlichen und geistigen Lage. Balzac gehört zu jenen Schriftstellern, bei denen diese Rezeption der Ro­ mantik und zugleich der Versuch einer Überwindung in der breitesten und bewußtesten Form vor sich ging. Stendhal dagegen lehnt die Romantik bewußt, von vornherein ab. Er ist in seiner Weltanschauung wirklich ein bewußter und großer Nachfolger der Aufklärungsphilosophie. Dieser Gegen­ satz drückt sich selbstverständlich in der schöpferischen Methode der beiden Schriftsteller mit großer Schärfe aus. Stendhal gibt zum Beispiel einem jun­ gen Schriftsteller den Rat: wenn er ein gutes Französisch schreiben wolle, dürfe er keine modernen Schriftsteller lesen, sondern möglichst Autoren aus der Zeit vor 1 700 ; um richtig denken zu lernen, solle er »De l'esprit« von Helvetius und B entham studieren. Dagegen ist die literarische Anerkennung bekannt, die Balzac, bei aller Kritik, den bedeutenden Romantikern von Chenier und Chateaubriand an gezollt hat. Dieser Gegensatz liegt, wie wir sehen werden, den entscheidenden Kontroversen zwischen Balzac und Stend­ hal zugrunde. Wir mußten diesen Gegensatz gleich zu Anfang hervorheben, denn erst da­ durch erhält das Lob, das Balzac dem Roman Stendhals zollt, eine so außer­ gewöhnliche Bedeutung. Es ist nicht nur menschlich bewundernswert, mit wel­ chem Pathos und Gedankenreichtum, wie völlig neidlos B alzac für die An­ erkennung seines einzigen wirklichen Rivalen in der Literatur kämpft. (Die Geschichte der bürgerlichen Literatur kennt sehr wenige Beispiele einer sol­ chen sachlichen Hingebung.) Die Kritik Balzacs, seine Begeisterung ist des­ halb so bewundernswert, weil er sich hier für die Geltung eines Werks ein­ setzt, das seinen eigenen Bestrebungen aufs tiefste entgegengesetzt ist. Immer wieder lobt Balzac mit größter Begeisterung den schlanken, gerad­ linigen, nur das Wesentliche berücksichtigenden Aufbau von Stendhals Ro­ man. Mit einer gewissen Berechtigung nennt er den Aufbau dramatisch und empfindet diese Rezeption des dramatischen Elements als eine Annäherung des Stendhalschen Stils an den seinen. Und er lobt Stendhal in diesem Zu­ sammenhang gerade deshalb, weil es bei diesem keine »hors d'revre« , keine »Einlagen « gibt. »Nein, die Personen handeln, denken nach, empfinden, und das Drama schreitet immer fort. Der Dichter, dramatisch durch seine Ideen, beugt sich nicht von seinem Weg, um die kleinste Blume zu pflücken, alles hat die Rapidität eines Dithyrambus. « Und auch sonst hebt Balzac überall mit größtem Nachdruck diese Schlankheit, diese Geradlinigkeit und Episoden-

4 94

Balzac und der französische Realismus

losigkeit von Stendhals Komposition hervor. In diesem Lob kommt die Ge­ meinsamkeit bestimmter Grundströmungen der beiden großen Romanschrift­ steller zum Ausdruck. Oberflächlich gesehen liegt gerade hier ein großer sti­ listischer Gegensatz zwischen dieser aufklärerischen Schlankheit Stendhals und der romantisch vielfältigen, fast unübersichtlichen Fülle und Verschlun­ genheit der Balzacschen Kompositionsweise. Jedoch in dieser Gegensätzlich­ keit ist zugleich die tiefste Verwandtschaft verborgen : auch Balzac bückt sich (in seinen gelungenen Werken) nie, um eine am Wege blühende Blume zu pflücken ; auch er gestaltet das Wesentliche und nur das Wesentliche. Unter­ sc..liied und Gegensatz liegen allerdings darin, welche Vorstellung Stendhal von diesem Wesentlichen hat und welche Balzac. Diese Vorstellung ist bei Balzac viel komplizierter, verwickelter, weniger auf einige große Momente zusammengedrängt als bei Stendhal. Die leidenschaftliche Tendenz auf das Wesentliche, die leidenschaftliche V er­ achtung eines jeden kleinlichen Realismus ist das künstlerische Verbindungs­ glied zwischen Balzac und Stendhal bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Welt­ anschauung und ihrer schöpferischen Methode. Deshalb muß B alzac in seiner Analyse des Stendhalschen Romans auf die tiefsten Fragen der Form zu spre­ chen kommen, auf Fragen, die auch heute noch in höchstem Grade aktuell sind. Als Künstler sieht B alzac den untrennbaren Zusammenhang zwischen glücklicher Wahl des Themas und gelungener Komposition sehr klar. B alzac legt so das größte Gewicht darauf, ausführlich zu beweisen, eine wie große Künstlerschaft Stendhal zeigt, wenn er seinen Roman in Italien, an einem kleinen italienischen Hof spielen läßt. B alzac hebt mit Recht hervor, daß Stendhals Schilderung weit über den Rahmen der Intrigen an einem kleinen Fürstenhof hinausgeht. S tendhal hat die typische Struktur des modernen Absolutismus aufgezeigt, er hat die ewigen Typen, die auf der Grundlage dieses gesellschaftlichen Seins entstehen müssen, auf der höchsten menschlichen Höhe und in der typischsten Weise gestaltet. Er hat, sagt B alzac, den moder­ nen » Principe« geschrieben - »den Roman, den Machiavelli geschrieben hätte, wenn er aus dem Italien des 1 9 . Jahrhunderts verbannt leben würde« -, ein im besten Sinne des Wortes typisches Buch : »Endlich erklärt dieses Buch ausgezeichnet alle Leiden, die die Kamarilla Ludwigs xm . Richelieu angetan hat. « Diese großzügige Typik erreicht Stendhal, nach Balzac, gerade dadurch, daß er die Handlung nach Parma, auf einen Schauplatz k leiner Interessen und kleinlicher Intrigen verlegt. Denn, führt Balzac weiter aus, die Gestaltung solcher gewaltigen Interessen , wie sie im Kabinett Ludwigs XIV. oder Napo-

Balzac als Kritiker Stendhals

49 5

leons verhandelt wurden, hätte notwendig eine Breite der Ausführung, eine Fülle der sachlichen Erklärungen erfordert, die die Handlungsführung außerordentlich erschwert hätten. Dagegen ist der Staat Parma leicht über­ sichtlich und das Parma Stendhals erklärt die innere typische Struktur aller absoluten Höfe. Balzac spricht hier einen sehr wesentlichen kompositionellen Zusammenhang des großen Realismus im bürgerlichen Roman aus. Der Romancier als »Historiker des privaten Lebens« (Fielding) muß das innere Getriebe der Gesellschaft, die inneren Gesetze ihrer Bewegung, ihrer Entwicklungstenden­ zen, ihres unmerklichen Wachstums und ihrer revolutionären Konvulsionen gestalten. Die großen geschichtlichen Ereignisse, die großen welthistorischen Figuren sind in den seltensten Fällen geeignet, die Typik in der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gestalterisch auszudrücken. Es ist zum Beispiel keineswegs zufällig, daß Napoleon in Balzacs Werk nur sehr selten und immer nur episodisch auftritt, obwohl der Napoleonismus, das Prinzip der Napoleonischen Monarchie der gesellschaftliche Hauptheld vieler Romane Balzacs ist. Und Balzac betrachtet es als Dilettantismus der Romanschrift­ steller, wenn sie anders verfahren, wenn sie den äußerlich sichtbaren Glanz, die extensive Größe der welthistorischen Ereignisse zum Thema wählen an Stelle des intensiven Reichtums der typischen Entwicklung aller gesellschaft­ lichen Momente. In einer ebenfalls in der »Revue Parisienne« erschienenen Kritik an Eugen Sue stellt Balzac die Gestaltungsweise Walter Scotts der Sues als Beispiel gegenüber; er sagt: »Der Roman kann nur nebenbei eine große Figur zulassen. So erscheinen Cromwell, Karl n., Maria Stuart, Lud­ wig XI., Elisabeth , Richard Löwenherz, alle großen Personen, die der Be­ gründer des Genres auf die Szene führt, nur für einen Augenblick, wenn die Verwicklung, das Drama des Erzählers ihnen entgegenkommt, wie in dieser Zeit die Menschen und die Dinge auf diesen Punkt gestrebt haben. Man hat in der Fülle der zweitrangigen Gestalten von Walter Scott gelebt. Man hat die Interessen aller Figuren miterlebt, als sich ihnen die große historische Figur nähert. Scott hat niemals ein ungeheures Ereignis zum Gegenstand seiner Dichtung gemacht ; aber er hat minuziös ihre Ursachen entwickelt, in­ dem er den Geist und die Sitten seiner Zeit geschildert hat, indem er das soziale Milieu gestaltete, statt sich in die hohe Region der großen politischen Tatsachen zu setzen. « Hier sieht Balzac in Stendhal einen Bundesgenossen, einen Mitkämpfer: einen Schriftsteller, der sowohl den kleinlichen Realismus, die kleinliche Stimmungsmalerei als auch die leere extensive historische Monumentalität ver-

Balzac und der französische Realismus achtet, der ebenso wie er danach trachtet, durch gewissenhaftes Auf decken der wirklichen Ursachen des gesellschaftlichen Geschehens das typische Wesen jeder gesellschaftlichen Erscheinung herauszuarbeiten. Hier begegnen sich die beiden größten französischen Realisten des vergangenen Jahrhunderts : in der Abwehr aller Tendenzen, den Realismus von dieser wesentlichen Höhe herabzuziehen. B alzac bewundert an Stendhals Roman in erster Linie die Gestaltung außer­ gewöhnlicher Menschen. Auch in dieser Hinsicht berühren sich die letzten Bestrebungen der beiden großen Realisten sehr eng. B eide betrachten es als ihre Aufgabe, große Typen der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten ; aber die Konzeption des Typischen hat weder bei Balzac noch bei Stendhal irgend etwas mit der Durchschnittlichkeit der Gestalten im späteren , nach­ achtundvierziger westeuropäischen Realismus zu tun. Unter einer typischen Figur verstehen beide einen ungewöhnlichen Menschen, der alle wesentlichen Momente einer bestimmten Entwicklungsstufe, einer bestimmten Entwick­ lungstendenz, einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und deren wesent­ licher Richtung in sich vereinigt. In Balzacs Augen ist Vautrin der typische Verbrecher und nicht irgendein durchschnittlicher Kleinbürger, der zufällig Schnaps zu trinken beginnt und im zufälligen Rausch einen Menschen oder mehrere erschlägt, wie später der Naturalismus das Problem des Typi­ schen in solchem Fall zu lösen pflegt. Und Balzac bewundert gerade die Energie, mit der Stendhal die beiden Herzöge von Parma, den Minister Mosca, die Herzogin von Sanseverina, den Revolutionär Ferrante Palla zu solch typischen Figuren gestaltet. B esonders interessant und bezeichnend für die Sachlichkeit, mit der Balzac die Fragen des großen Realismus betrachtet, ohne sich im geringsten um seine persönlichen Verdienste zu kümmern, ist die neidlose Anerkennung, die er gerade für diese letzte Figur empfindet : er betont, daß er selbst, in der Figur des Michel Chrestien, eine ähnliche Ge­ stalt wie hier Stendhal angestrebt habe ; dieser habe ihn aber in der Gestal­ tung weit übertroffen. Je tiefer Balzac jedoch auf die Kompositionsprobleme des Stendhalschen Romans eingeht, desto schärfer müssen die Unterschiede zwischen seiner Kompositionsweise und der Stendhals zum Ausdruck kommen. Wir haben gesehen , mit welcher wohlbegründeten Begeisterung Balzac die Schilderung des Hofes von Parma in Inhalt und Form von Schritt zu Schritt verfolgt. Diese Begeisterung führt ihn aber zu dem wichtigsten Einwand gegen Sten­ dhals Komposition. Er sagt, dieser Teil sei der eigentliche Roman. Die Vor­ geschichte, Fabrice del Dongos Jugend, hätte nur sehr kurz erzählt werden

Balzac als Kritiker Stendhals

4 97

dürfen, die Schilderung der Familie del Dongo, des Mailänder Hofes unter Eugen B eauharnais usw. gehört nach Balzacs Ansicht ebenfalls nicht in den Roman und auch nicht der gesamte Schluß, die Periode nach Moscas und der Herzogin von Sanseverina Rückkehr nach Parma, die Erzählung der Liebe zwischen Fabrice und Clelia und wie Fabrice ins Kloster geht. Hier will B alzac seine Kompositionsweise Stendhal aufdrängen. Die meisten Romane B alzacs haben eine viel größere Abrundung der Fabel und eine stärkere Einheitlichkeit der in ihr waltenden Stimmung als die Romane Stendhals und die Romane des 1 8 . Jahrhunderts. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, geht B alzac dieser Kompositionsart aus dem Weg. Er gestaltet irgendeine räumlich und zeitlich stark konzentrierte Katastrophe oder eine Häufung von Katastrophen und stattet dieses Bild mit einem intensiv ein­ heitlichen S timmungszauber aus. Auf diese Weise, indem er bestimmte Kom­ positionsformen des Shakespearschen Dramas und auch der klassischen No­ velle für die Romanform auswertet, sucht er eine künstlerische Abwehr der zerfließenden Formlosigkeit des modernen bürgerlichen Lebens. Diese Kom­ positionsform hat notwendig zur Folge, daß eine Reihe von Gestalten sich in einem solchen Roman unmöglich ausleben kann. Balzacs Prinzip der zykli­ schen Komposition, das mit späteren Formen des Romanzyklus, zum Beispiel bei Zola, nichts Gemeinsames hat, b eruht künstlerisch darauf, daß diese nicht zu Ende geführten Gestalten nun in den Mittelpunkt anderer Werke gestellt werden, wo Lebensatmosphäre und Lebensstimmung gerade dieser Gestalt geeignet ist, den Mittelpunkt der Handlung zu ergeben. Man denke daran, wie B alzac Vautrin, Rastignac, Nucingen, Macime de Trailles usw. in »Vater Goriot« als dramatische Figuren auftreten läßt, um ihre wirkliche Erfüllung, ihr wirkliches Zu-Ende-Leben, dann in anderen Romanen zu ge­ stalten. Die Welt Balzacs ist in der Tat wie die Hegels : ein Kreis, der aus lauter Kreisen besteht. Stendhals Kompositionsprinzip ist völlig entgegengesetzt. Auch er hat, wie Balzac, das Bestreben, stets eine Gesamtheit zu gestalten, er will aber stets die wesentlichen Momente einer Epoche (der Restauration m » Rot und Schwarz«, des italienischen Kleinstaat-Absolutismus in »Die Kartause von Parma «, des Julikönigtums in » Luden Leuwen«) in die B iographie eines bestimmten Typus von Menschen hineindrängen. Diese biographische Form, die Stendhal aus der früheren literarischen Entwicklung übernimmt, hat aber bei ihm eine besondere, ganz eigenartige Bedeutung. Stendhal gestaltet einen bestimmten Menschentypus, dessen verschiedene Vertreter, trotz großartiger Individualisierung, trotz genau gestalteter Verschiedenheit der Klassen-

Balzac und der französische Realismus zugehörigkeit und der Lebensumstände, im Grunde ihres Wesens und in ihrem Verhalten zur ganzen Epoche doch tief verwandte Züge aufweisen. (Julien Sore!, Fabrice del Dongo, Lucien Leuwen.) Das Schicksal dieser Menschen soll gerade die Niederträchtigkeit, die kleinliche Widerwärtigkeit der ganzen Epoche demonstrieren, einer Epoche, in der es für die großen Nachkommen der heroischen Periode der Bourgeoisie, der Periode der Revolution und Napoleons keinen Platz mehr gibt. Alle diese Helden Stendhals retten ihre seelische Integrität dadurch, daß sie aus dem Leben gehen. Die Hinrichtung Julien Sorels ist von Stendhal ganz offenkundig als Selbstmord gestaltet. Ebenso, wenn auch weniger pathetisch und dramatisch, gehen Fabrice und Lucien aus dem Leben. Diese weltanschaulich entscheidende Pointe hat Balzac überhaupt nicht be­ merkt, als er den Vorschlag machte, den Roman auf die Kämpfe am Hofe von Parma zu konzentrieren und zu reduzieren. Alles, was Balzac vom Standpunkt seiner eigenen Kompositionsart für überflüssig hielt, war für Stendhal sehr wesentlich. So der Anfang : die Napoleonische Periode mit dem in glänzenden Farben geschilderten Hof des Vizekönigs Eugen Beauharnais, als bestimmendes Moment für die seelische Struktur und Entwicklung von Fabrice. Und dazu war als Kontrast die plastisch-satirische Schilderung der Familie del Dongo - reicher italienischer Aristokraten, die sich zu Spionen des hassenswerten Feindes Österreich erniedrigt haben - unbedingt notwen­ dig. Und ebenso steht es aus Gründen , die wir eben angeführt haben, mit dem Schluß, mit der Endentwicklung von Fabrice. Balzac bleibt seinem eigenen Kompositionsprinzip treu, wenn er die Mög­ lichkeit erwägt, aus Fabrice den Helden eines eigenen Romanes zu machen, » Fabrice oder der 1 taliener des I 9 . Jahrhunderts«. »Wenn man aber«, sagt Balzac, » diesen jungen Mann zur Hauptfigur des Dramas macht, so wäre der Autor verpflichtet gewesen, ihm einen großen Gedanken zu geben, ihn mit einem Gefühl auszustatten, das ihn jenen großen Gestalten, die ihn umgeben, überlegen macht, und das fehlt hier. « Balzac sieht nicht, daß diese Eigen­ schaft, die Fabrice befähigt, Hauptheld des Romans zu sein, nach Stendhals Weltanschauung und Kompositionsart in Fabrice vorhanden war. Die von Balzac geforderten Typen des Italieners des 1 9 . Jahrhunderts sind bei Sten­ dhal viel mehr Mosca und Ferrante Palla. Fabrice nimmt bei Stendhal des­ halb die zentrale Stelle ein, weil er , trotz fortwährender Anpassung seiner äußeren Lebensführung an die Wirklichkeit, doch jene letzte Kompromiß­ losigkeit gegen die Niedrigkeit der Zeit repräsentiert, die auszudrücken das wesentliche dichterische Bestreben Stendhals war. (Ich will nur beiläufig auf

Balzac als Kritiker Stendhals

4 99

das fast komische Mißverständnis Balzacs hinweisen, wenn er Fabrices Ins­ Kloster-Gehen religiös, katholisch motiviert sehen will. Eine solche Möglich­ keit, die B alzac sehr nahestand - man denke an die Bekehrung der George­ Sand-Figur Mademoiselle de la Touche in »Beatrix« -, liegt völlig außer­ halb jener Welt, die Stendhal gestaltet hat.) Es ist bei dieser Lage der Dinge verständlich, daß B alzacs Kritik in Stendhal sehr zwiespältige Empfindungen erweckte. Selbstverständlich war der ver­ kannte, nur von einer fernen Zukunft Verständnis und Anerkennung erwar­ tende Schriftsteller tief bewegt von dieser leidenschaftlichen Begeisterung des größten lebenden Schriftstellers für sein Werk. Er empfand auch, daß Balzac der einzige war, der in vielen Punkten die wesentlichen Absichten seines Schaffens richtig verstanden und ausgezeichnet analysiert hatte. Ins­ besondere fühlte sich Stendhal darin völlig verstanden, wie B alzac seine Themawahl, die Verlegung der Fabel an einen kleinen italienischen Hof, interpretiert hatte. Trotz dieser aufrichtigen und tiefen Freude über Balzacs Kritik bezieht Stendhal eine zwar höflich und diplomatisch ausgedrückte, aber sachlich außerordentlich entschiedene Oppositionsstellung insbesondere gegen die stilistischen Einwände B alzacs. B alzac kritisiert nämlich am Schluß der Abhandlung Stendhals Stil ziemlich scharf. Selbstverständlich hat B alzac wiederum ein tiefes Verständnis für die großen schriftstellerischen Fähigkeiten Stendhals, in erster Linie für die Fähigkeit, Menschen mit kurzen und knappen Strichen , das Wesentliche her­ vorhebend, zu charakterisieren. »Wenige Worte genügen für H. Beyle, der seine Figuren durch die Aktion und durch den Dialog charakterisiert ; er er­ müdet nicht durch Beschreibungen, er eilt dem Drama zu und erreicht es durch ein Wort, durch eine Reflexion.« Auch in dieser Hinsicht empfindet B alzac Stendhal als ebenbürtig, während er gerade in bezug auf die Charak­ terisierung an den Schriftstellern, die er zu seiner eigenen literarischen Rich­ tung zählt, scharfe Kritik zu üben pflegt. So hat er wiederholt die Dialoge Walter Scotts kritisiert. So bekämpft er, ebenfalls in der »Revue Pari­ sienne«, die Manier Coopers, Gestalten durch wiederkehrende Redensarten zu charakterisieren. B alzac verweist darauf, daß sich zwar einzelne Beispiele dafür auch bei Scott finden lassen, aber »der große Schotte hat dieses Mittel, welches kleinlich ist und Unfruchtbarkeit, Trockenheit des Geistes zeigt, nie­ mals mißbraucht. Das Genie besteht darin, jede Situation durch Worte, welche die Charaktere der Figuren enthüllt, zu beleuchten und nicht darin, die Figur durch eine Phrase, die sich jeder Situation anpaßt, zu verhüllen « . (Auch diese Kritik Balzacs ist von höchster Aktualität, da seit dem Naturalismus und

5 00

Balzac und der französische Realismus

auch seit der Einwirkung Richard Wagners und anderer, die Charakterisie­ rung der Menschen durch »leitmotivartig« wiederholte Redensarten noch nicht aus der Mode gekommen ist. B alzac hebt mit Recht hervor, daß sich dahinter die Unfähigkeit zur wirklichen Gestaltung einer Figur in ihrer Bewegung und Entwicklung verbirgt.) Trotz dieser Anerkennung der großen Fähigkeit Stendhals, mittels der Sprache, mittels des Dialoges Menschen kurz und tief zu charakterisieren, ist Balzac mit dem Stil des Stendhalschen Romans gar nicht zufrieden. Er weist eine Reihe von stilistischen und sogar grammatikalischen Nachlässigkeiten nach. Aber dabei bleibt seine Kritik nicht stehen. Er verlangt von Stendhal eine sehr weitgehende stilistische Durcharbeitung seiner Werke. Er weist dar­ auf hin, daß Chateaubriand und de Maistre einzelne ihrer Werke sehr oft umgearbeitet haben, und schließt mit der Hoffnung, daß auch Stendhals Roman durch Überarbeitung »jene unangreifbare Schönheit erhalten wird, die Chateaubriand und de Maistre ihren Lieblingsbüchern gegeben haben«. Gegen dieses Stilideal empören sich nun alle schriftstellerischen I nstinkte und Überzeugungen Stendhals. Er gibt die Nachlässigkeit des Stils ohne wei­ teres zu. Sehr viele Seiten des Romans seien in der Form des ursprünglichen Diktats herausgegeben worden. »Ich sage es wie die Kinder : Ich werde es nicht wieder tun.« Aber d as Einverständnis beschränkt sich nur auf diesen Punkt. Die stilistischen Vorbilder, auf die Balzac hinweist, verachtet Sten­ dhal aus vollem Herzen. Er schreibt : »Als ich siebzehn Jahre alt war, hatte ich beinahe ein Duell wegen der >Atala< von Chateaubriand . . . De Maistre kann ich nicht ausstehen . . . Ohne Zweifel bin ich aus übertriebener Liebe zur Logik ein so schlechter Schriftsteller. « Und· er stellt zur Verteidigung seines Stils folgende Erwägung an : » Wenn Madame Sand die >Kartause< ins Französische übersetzt hätte, so hätte sie Erfolg gehabt. Aber, um das auszudrücken, was sich in den gegenwärtigen zwei Bänden befindet , hätte sie drei oder vier B ände gebraucht. Erwägen Sie diese Entschuldigung.« Und Stendhal charakterisiert den Stil von Chateaubriand und seiner Gesin­ nungsgenossen folgendermaßen : » I . Sehr viel kleine angenehme Sachen, die aber überflüssig zu sagen waren . . 2. Sehr viel kleine Falschheiten, die angenehm zu hören sind. « Diese Kritik am romantischen Stil ist, wie wir sehen werden, außerordentlich scharf. Aber dennoch hat Stendhal hier noch bei weitem nicht alles gesagt, was er gegen den Stilkritiker und auch gegen den Stilisten Balzac auf dem Herzen hatte. Ja, er versäumte die Möglichkeit nicht, an diese polemischen Bemerkungen Anspielungen auf seine unbedingte Hochschätzung einiger .

Balzac als Kritiker Stendhals

501

Werke von Balzac (»Die Lilie im Tal«, »Vater Goriot« ) anzuschließen. Das ist selbstverständlich nicht nur Diplomatie. Aber Stendhal verschweigt hier mit einer verständlichen Diplomatie, daß er die romantischen Elemente in Balzacs Stil ebenso verabscheut und verachtet wie den Stil der Romantiker im engeren Sinne. So sagt er an anderer Stelle über Balzac : » Ich nehme an, daß er seine Romane zweimal schreibt. Zuerst vernünftig, dann bekleidet er sie mit dem schönen neologischen S til, mit >patiments de l'ameil neige dans son cceur< und anderen schönen Sachen.« Und er verschweigt hier auch, wie sehr er sich selbst wegen jeder Konzession verachtet, die er diesem »neologischen Stil« macht. Von Fabrice heißt es einmal, daß er » die Stille hörend « spazierenging. Am Rand seines Exemplares notiert Stendhal nun folgende Entschuldigung an den Leser des Jahres 1 8 8 0 : »Um 1 8 3 8 gelesen zu werden, mußte man sagen : >die Stille hörendTotengespräche< von Fontenelle scheinen mir gut geschrieben . . . Ich lese häufig Ariosto, dessen Gesänge ich liebe.« Man sieh t : Balzac und Stendhal repräsentieren gerade in stilistischen Fragen zwei diametral entgegengesetzte Richtungen. Der Gegensatz kommt in allen Einzelproblemen scharf zum Ausdruck. Kritisiert Balzac den Stilisten Sten­ dhal, so schreibt er : »Seine langen Sätze sind schlecht konstruiert, seine kur­ zen Sätze ohne Rundung. Er schreibt ungefähr in der Art von Diderot, der kein Schriftsteller war.« (Hier geht B alzac infolge der scharfen Gegnerschaft zu Stendhals S til bis zur absurden Paradoxie. In seinen anderen Kritiken gibt es gerechtere B ewertungen Diderots. Allerdings steckt auch in dieser Paradoxie eine wirkliche Stiltendenz Balzacs.) Stendhal sagt dagegen : »Was die Schönheit des Satzes, seine Rundung, seinen Rhythmus betrifft (wie in

5 02

Balzac und der französische Realismus

der Leichenrede m >Jacques der FatalistLa Peau de Chagrin< weiter und beschäftigte mich damit die übrige Zeit, wie ich denn in der Nacht auch mit dem zweiten Teil fertig wurde. Es ist ein vortreffliches Werk neuester Art, welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es sich zwi­ schen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Energie und Geschmack hin und her bewegt und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesin­ nungen und Vorkommenheiten sehr konsequent zu brauchen weiß, worüber sich im einzelnen viel Gutes würde sagen lassen . « Goethe sieht also klar, daß Balzac die romantischen Elemente, das Groteske, das Phantastische, das Bizarr-Häßliche, das ironisch oder pathetisch übersteigerte usw. nur im Dienst der realistischen Wiedergabe wesentlicher, gesellschaftlich-menschlicher Zu­ sammenhänge verwertet. All das ist für Balzac nur Mittel , nur Umweg, um zu einem Realismus zu gelangen, der unter Aufnahme aller neuen Lebens­ momente die künstlerische Größe und die menschliche Bedeutsamkeit der alten hohen Literatur bewahrt. Ganz entgegengesetzt fällt Goethes Urteil über Victor Hugo aus. Er schreibt einige Monate früher an Zelter : »>Notre Dame de Paris< von Victor Hugo be­ sticht durch das Verdienst fleißiger wohlgenutz ter Studien der alten Lokalitäten, Sitten und Ereignisse ; aber in den handelnden Figuren ist durchaus keine Spur von Naturlebendigkeit. Es sind lebensunteilhafte Gliedermänner und -weiber, nach ganz geschickten Proportionen aufgebaut, aber außer dem hölzernen und stählernen Knochengerüst durchaus nur ausgestopfte Puppen, mit welchen der Verfasser auf das unbarmherzigste umgeht, sie in die seltsamsten Posi­ turen renkt und verrenkt, sie foltert und durchpeitscht, geistig und leiblich zerfleischt, freilich ein Nichtfleisch ohne Barmherzigkeit zerfetzt und in Lap­ p en zerreißt; doch das alles geschieht mit dem entschiedenen historisch-rheto­ rischen Talent, dem man eine lebhafte Einbildungskraft nicht absprechen kann, ohne die er solche Abominationen gar nicht hervorbringen könnte . . . «

5 20

Balzac und der französische Realismus

Natürlich kann Zola nicht ohne weiteres mit Hugo identifiziert werden. Ja, Hugo hat später eine gewisse Entwicklung auf den Realismus hin durch­ gemacht. »Die Elenden« oder » 1 79 3 « stehen in der Menschengestaltung ungleich höher als »Notre D ame von Paris « ; obwohl Flaubert über das erste unwillig bemerkt hat, daß derartige Gesellschafts- und Menschenschilderun­ gen in einer Zeit, in der Balzac gewirkt hat, eigentlich schon unstatthaft seien. Aber das Grundgebrechen, die Darstellung der gesellschaftlichen Umgebung unabhängig von den Menschen und, dadurch verursacht, das Verwandeln der Figuren in Marionetten , konnte Hugo nie überwinden. Mit einigen Milde­ rungen gilt die Kritik des alten Goethe für Hugos gesamte Romanproduk­ tion. Mit dem Sich-Anschließen an diese Tradition übernimmt auch Zola die Unlösbarkeit des Problems, wirklich tiefe und mitreißende Menschen zu gestalten. Seine naturalistische Treue für die biologisdi-psychologische und »soziologisdie« Einheit des Durchschnittsmenschen bewahrt ihn zwar vor der Willkür Victor Hugos in der Behandlung der Personen. Aber eben diese setzt einerseits seiner Menschengestaltung sehr enge Grenzen, und die Durchführung der beiden entgegengesetzten Prinzipien, des Naturalismus und der romantisdi-rhetorischen Monumentalität, reproduziert andererseits bei Zola die Hugosche Diskrepanz zwischen Mensch und Umwelt auf einer anderen, höheren Stufe ohne irgendeine Möglichkeit, sie künstlerisch zu über­ winden. So gehört das Schicksal des Sdiriftstellers Zola in die große Reihe der Künst­ lertragödien des 1 9 . Jahrhunderts ; Zola steht in der Reihe jener bedeutenden Persönlichkeiten, die sowohl mensdilich als audi ihrem Talent n ach zum Größten berufen waren, die aber an der Vollendung ihres Werkes, an der Schaffung einer wirklich realistischen Kunst durch die ungünstigen Umstände des Kapitalismus gehemmt oder gehindert wurden. Diese Tragik ist in Zolas Schaffen besonders offenkundig, um so mehr, als dem Menschen Zola die Ungunst des Kapitalismus nichts anhaben konnte. Ehrlich, unerschrocken, kompromißlos ging er seinen Weg. Er führte in der Jugend einen tapferen Kampf für die neue Literatur und neue Kunst (für Manet und den Impressionismus). Er stand seinen Mann, als es später galt, die reaktionäre Verschwörung zwischen Klerikalismus, Generalstab und deren Helfershelfern zu bekriegen. Weder die Gefängnis-Drohungen der Be­ hörden noch das Wutgeheul der reaktionären Presse, der von der Demagogie irregeführten Massen konnten seinen Mut wankend machen. Zolas entschlossener Kampf für die gute Same des Fortschritts wird viele

Zum hundertsten Geb1-1rtstag Zolas

521

seiner Werke überleben, wird seinen Namen m der Geschichte neben Vol­ taire, dem Verteidiger von Calas und Schicksalsgenossen, stellen. Inmitten der Verlogenheit und Korruption der Dritten Republik, inmitten des viel­ fachen Verrats der sogenannten Demokraten an den Traditionen der Großen Französischen Revolution steht die bedeutende Gestalt Zolas als Vorbild des tapferen und überzeugten demokratischen Bürgers, der - wenn er auch das Wesen des Sozialismus nicht verstand - durch die sozialistischen Forderun­ gen des Proletariats niemals von der Verteidigung der Demokratie abwendig gemacht werden konnte.

AN HAN G

525

Faust-Studien

Puschkin nennt den » Faust« eine Ilias des modernen Lebens. Das ist aus­ gezeichnet gesagt, es bedarf zur richtigen Konkretisierung nur der Unter­ streichung des Wortes »modern« . Denn im Leben der Gegenwart ist es nicht mehr wie in der Antike möglich, alle Bestimmungen des Gedankens und der dic..literischen Gestaltung unmittelbar vom Menschen aus zu entwickeln. Ge­ dankliche Tiefe, Totalität der gesellschaftlich-menschlichen Kategorien und künstlerische Vollkommenheit sind hier nicht mit naiver Selbstverständlich­ keit vereinigt, sie ringen vielmehr heftig miteinander. Aus der Goethesd1en Vereinigung dieser widerstrebenden Tendenzen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges Gebilde entstanden. Goethe selbst nennt es eine » in­ kommensurable Produktion« . Gestaltet wird das Schicksal eines Menschen, und doch ist der Inhalt des Ge­ dichts das Geschick der ganzen Menschheit. Die wichtigsten philosophischen Probleme einer großen Übergangsepoche werden vor uns gestellt, aber nicht bloß gedanklich, sondern unzertrennbar vereinigt mit sinnlich packenden (oder zumindest leuchtend dekorativen) Gestaltungen letzter menschlicher Beziehungen . Diese Beziehungen werden nun in steigendem Maß problema­ tisch. Eine ungebrochene sinnlich-geistige Einheit kann nur im ersten Teil vorwalten. Gedankengehalt, Aufdeckung gesellschaftlich-geschichtlicher und naturphilosophischer Zusammenhänge belasten, ja sprengen immer stärker die sinnliche Einheit der Formen und der Gestalten. Das ist der allgemeine Prozeß der Entwicklung der Literatur im 1 9 . Jahrhundert, der die Geschlos­ senheit und Schönheit der Formenwelt zerstört, sie der Unerbittlichkeit des neuen großen Realismus opfert und damit das »Ende der Kunstperiode« her­ beiführt. Es ist kein Zufall, daß die Vollendung des zweiten Teils des » Faust« fast gleichzeitig mit dem Erscheinen von Balzacs »Das Chagrinleder« erfolgt : jener Realismus, der die » Kunstperiode« ablöst, entsteht hier in noch phan­ tastisch-romantischen Formen, während dort der große Realismus der »Kunst­ periode« in phantastisch-allegorischen Formen Abschied nimmt. Bei Balzac : phantastisches Prelude zum modernen Roman, worin das Real-Gespen­ s tische des kapitalistischen Lebens zum Ausdruck kommt. Bei Goethe : phan­ tastische Schlußakkorde der letzten Periode der Formvollendung in der bür­ gerlichen Literatur. Balzac wie Goethe erleben gleicherweise dieses über-

5 26

A nhang

quellen des neuen Lebens, das Zerreißen der Dämme der alten Formen durch diese Sturmflut. Aber Balzac sucht die inneren Kraftlinien dieses Ober­ quellens selbst zu ergründen, um aus ihrer Erkenntnis eine neue epische Form entstehen zu lassen ; Goethe unternimmt eine Stromregulierung durch alte, neugebildete Formen. Eine solche ist jedoch nicht adäquat erreichbar. So paradox es auch klingen mag : Balzacs endgültige Lösung steht den großen - modernen - Tradi­ tionen der Epik näher als der » Faust« irgendeiner überlieferten Form­ gebung. Schon der erste Teil wächst über den Rahmen von Epik oder Dra­ matik hinaus, noch viel mehr der zweite : er ist weder dramatisch noch episch, noch weniger aber eine Summe von lyrischen Stimmungsbildern, wie das spätere 1 9 . Jahrhundert sie im Anschluß gerade an » Faust« geschaffen hat (Lenau). Es ist eine » inkommensurable Produktion«.

1

Zur Entstehungsgeschichte

Eine solche Bezeichnung - »inkommensurable Produktion« - ist aber für die Literaturgeschichte keine Bestimmung, sondern ein Problem. Das » In­ kommensurable« ist nur dann nicht bloße Kuriosität, nur dann nicht bloß einfache biographische Tatsache, wenn sich in ihm ein wichtiger historischer Prozeß in dauernder Vorbildlichkeit spiegelt, wenn es nicht ein individueller verzweifelter Ausweg aus persönlich schwer oder gar nicht lösbaren Pro­ blemen ist, sondern gerade in seiner Einzig � rtigkeit, in seinem überschreiten der Normen sich als notwendig erweist. Darum - und nicht aus rein philologischen Gründen - ist gerade hier die Entstehungsgeschichte wichtig. Der alte Goethe hat immer wieder behauptet, daß die Konzeption des » Faust« schon seit fünfzig bis sechzig Jahren für ihn feststand. Ober die Richtigkeit dieser Behauptung gibt es große Streitig­ keiten unter den Literaturhistorikern. Wir halten diesen Streit für müßig : Goethe hat sowohl recht wie unrecht. Ohne Frage hat er den » Faust« schon in seiner Jugend als Weltgedicht empfunden, gerade diese Möglichkeiten, die in der Sage stecken, haben ihn angezogen. Aber es unterliegt ebenfalls keinem Zweifel, daß er nicht das gleiche Gedicht geschrieben h at, das ihm in der Jugend vor Augen stand. Das Wachsen des » Faust« mit dem Leben und den Erfahrungen Goethes ist nicht einfach ein Reifen, eine Entwicklung des ur­ sprünglichen Keims, es ist zugleich eine radikale Umwandlung. Darum wider­ spricht der Kontinuität der Arbeit am » Faust« nicht die Tatsache, daß Goethe

Fattst-S tudien

5 27

sie wiederholt für Jahrzehnte aufgegeben, daß er das Werk längere Zeit als notwendiges Fragment betrachtet hat, ebensowenig, wenn Goethes gleich­ zeitige Aufzeichnungen bezeugen, daß ursprünglich gar kein einheitlicher » Faust«-Plan existierte, sondern nur einzelne Szenen ausgeführt und an­ einandergereiht wurden. (In einzelnen Fällen war sogar die richtige Reihen­ folge unbestimmt. Die Szene » Wald und Höhle« erscheint zuerst im Fragment von 1790, erhält aber ihre richtige Stelle erst 1 8 0 8 . ) Und noch sehr spät ent­ stehen einschneidende Änderungen, so besonders bei dem Auftreten Helenas im zweiten Teil, dessen dramatische Begründung zur Erfindung der »Klas­ sischen Walpurgisnacht« geführt hat. All dies schließt eine feststehende, wenn auch Wandlungen unterworfene Grundidee nicht aus. Um so weniger, als die I dee hier nicht im Sinne einer begrifflichen Formulierung verstanden werden darf, sondern als konkrete Bestimmung, als Horizont, als Perspektive der Entwicklung einer bestimmten Gestalt. Bei Beibehaltung der sehr allgemein vorgestellten Umrisse ihres Schicksals waren leise » Unterirdische« Umwand­ lungen der Probleme, ja ihre allmähliche Umkehrung ins Gegenteil möglich, ohne daß sie die Einheit der Faustfigur zu vernichten brauchten. Die Sage als Grundlage erleichtert eine solche Entstehungsgeschichte. Gorki hat durchaus recht, wenn er meint, daß solche Sagen wie die vom Faust »nicht >Früchte der Phantasie< sind, sondern vollkommen gesetzmäßige und notwendige Übertreibungen der realen Fakten «. Es sind große reale historische Lebenstendenzen, welche die dichterische Arbeit des Volkes auf das Wesen gebracht und auf diesem Niveau zu Gestalten verdichtet hat. In solchen Gestalten sah der junge Goethe die tiefsten Probleme einer Epoche lebendig, sinnlich greifbar und doch alle Tiefen spiegelnd vor sich, und z.u­ gleich sah er in ihnen die Sinnbilder der quälendsten Fragen seines eigenen Lebens und seiner eigenen Zeit. Diese I dentifizierung des eigenen Schicksals mit der Sage und die daraus fol­ gende allmähliche originelle Umwandlung der Sage ist also keine » Introjek­ tion«, kein unberechtigtes Hineintragen der eigenen Subjektivität in einen fremden Stoff, sondern eine eigenartige und selbständige Weiterbildung des Selbstbewußtseins des nationalen Lebens, ja des Lebens der Menschheit über­ haupt. Die Zeit Goethes, besonders die des jungen Goethe, besaß noch diese Fähigkeit zum organischen Ummodeln der folkloristischen Traditionen des Mythos. Besonders der junge Goethe unterscheidet sich von seinen meisten Zeit- und Altersgenossen dadurch, daß seine Lieblingsthemen solch populäre Mythen (Faust, der Ewige Jude, Prometheus) oder historische Gestalten sind, an denen die Volksüberlieferung mitgearbeitet hat (Mahomet, Cäsar, Götz

528

Anhang

von Berlichingen) und bei denen die Gestalt oder wenigstens die Periode eine solche Aura der populären Tradition besitzt. Er steht damit in schroffem Gegensatz zu den thematisch zufälligen dramatisierten Geschichtsanekdoten oder vereinzelten Lebenstatsachen in der Produktion des »Sturm und Drang«. Eine solche Aura der Volkstradition ist für derart große Themen außer­ ordentlich günstig. Sie läßt die Verbindung der Sage mit der Gegenwart lebendig wachsen, ohne den organischen Zusammenhang der Sage aufzu­ heben, da die ummodelnde Wirksamkeit der Folklore an großen Themen ununterbrochen wirksam ist und die Tätigkeit eines bedeutenden Dichters zur legitimen Fortsetzung der poetisch-gedanklichen Arbeit des Volkes wer­ den kann. Und auf diese Weise, als organische Fortsetzung der Volkstradi­ tion, enthält auch die neue Konzeption des individuellen Dichters die innere Möglichkeit zu wachsen und sich zu wandeln, dabei die menschlichen Kon­ turen der Hauptgestalt nur verändernd, ohne sie zu zerstören. Doch selbstverständlich ist - je nach Epoche - Sage nicht gleich Sage. Jede hat verschiedene Grade der Lebendigkeit, des Verwurzeltseins in der Gegen­ wart und darum verschiedene Möglichkeiten der inneren Umbildung. Die Sagen, an die der junge Goethe anknüpft, sind - mit den beiden entschei­ denden Ausnahmen » Götz« und »Faust« - biblisch-religiös im weitesten Sinne des Worts oder antik. Sie sind also aus j enen sich wandelnden Vor­ stellungsmassen entstanden, deren erste die Revolutionen des Mittelalters, der entstehenden neuen Zeit bis zu der Cromwells, beherrscht hat, die aber im Deutschland des jungen Goethe - trotz dem großen Anfangserfolg des Klopstockschen »Messias« - abzuklingen � egann, deren zweite von der Renaissance an ein Banner der geistigen Erneuerung Europas war und die in der Französischen Revolution und unter Napoleon zur Grundlage der letzten » heroischen Illusion« in Westeuropa wurde. Es ist kein Wunder, daß in Deutschland, das in dieser Zeit seit der Reformation und dem B auernkrieg zum erstenmal zu einem geistigen Leben erwachte, alle ideologischen Elemente der bürgerlichen Revolution - oft ohne als solche erkannt zu werden - gewissermaßen in der Luft lagen und das Schaffen d es jungen Goethe befruchteten. Aber die reale Unreife der bürgerlichen Revo­ lution, ihr weites Entferntsein in der Zukunft, wirkt auf die Lebendigkeit der alten Sagenstoffe zurück, läßt ihre Gestalten verblassen. So entstehen aus diesen Themenkreisen beim jungen Goethe nur lyrische Fragmente, nur Ge­ fühle und Gedanken ; und die gefühlten Gedanken werden lebendiger als die handelnden Menschen. Große vollendete Werke entstehen, keineswegs zufällig, aus den beiden Aus-

Faust-Studien

5 29

nahmen, die n icht allgemein-europäisch, sondern spezifisch deutsch sin d : aus » Götz « und » Faust«. (Goethe bestätigt in »Dichtung und Wahrheit« selbst den gleichzeitigen und gleichartigen Ursprung dieser Stoffwahl.) Das An­ knüpfen an die Sage und an eine halb sagenhafte Vergangenheit bezeugt den tiefen Instinkt des jungen Goethe für Aktualität in einem hohen Sinn. Seine Straßburger Begeisterung für das » Gotische« hat nichts mit Mittelalter zu tun, ist kein Vorläufertum der Romantik. Goethe greift in den beiden großen Jugendentwürfen, die er wirklich ausgeführt hat, vielmehr auf die ersten (und letzten) großen Kämpfe zurück, in denen sich Deutschland aus dem Mittelalter herauszulösen trachtet : auf Reformation, deutsche Renais­ sance, auf den Kampf zwischen Kleinfürstentum und Adel, auf den Bauern­ krieg. (Das Gedicht » Hans Sachsens poetische Sendung«, 1 776, ist ein Nach­ klang dieser Bestrebungen.) Schon in der Wahl solcher Themen äußert sich die Genialität des jungen Goethe : seine Vorwürfe sind nicht abgelegenen, bloß privaten Charakters, sondern fallen spontan, aus dem persönlichen Erlebnis unmittelbar heraus­ wachsend, mit den wichtigsten nationalen Tendenzen zusammen . Das gei­ stige Erwachen des bürgerlichen Deutschlands - ein weit vorgeschobener Posten seines politischen Erwachens - wird von dieser Poesie zu seinen Ur­ sprüngen zurückgeführt : in die Zeit, in der einst der Faden der organischen Entwicklung zerriß. Ihr dichterisches Lebendigmachen soll ideologisch dazu führen, daß der Faden der Geschichte wieder geknüpft werde . Das Zurück­ gehen in diese Vergangenheit ist in Wahrheit ein notwendiger Anlauf zum Neuen, ein Sichbesinnen auf das historische Erbe. Kein Volk kann sich ohne diese Bedingung erneuern. Es ist jedoch für die Art seiner Erneuerung entscheidend wichtig, wo und wie es an die Vergangenheit anknüpft, was es als Erbe betrachtet. Die Rückwen dung zum Mittelalter in der Romantik ist einerseits ein Symp tom der reaktionären Tendenzen in der nationalen Erneuerung, anderseits eine schwere Schädigung und Irreführung der späteren deutschen ideologischen Entwicklung. Friedrid1 Hebbel, der von einem radikal-demokratischen Denken stets weit entfernt war, lehnt den­ noch diese Rückwendung zum Mittelalter leidenschaftlich ab. Er sieht Shake­ speares Größe darin, daß er nicht auf veraltete Momente der alten englischen Geschichte zurückgriff, sondern auf den Krieg der Rosen, dessen Fol gen in seiner Gegenwart noch lebendig fühlbar gewesen sind. Und das gleiche for­ dert er von der Beziehung der deutschen Dichter zur deutschen Geschichte : » Ist es denn so schwer zu erkennen, daß die deutsche Nation bis jetzt überall keine Lebens-, sondern nur eine Krankheitsgeschichte aufzuzeigen hat, oder

5 30

A nhang

glaubt man allen Ernstes, durch das In-Spiritus-Setzen der Hohenstaufen­ Bandwürmer, die ihr die Eingeweide zerfressen haben, die Krankheit heilen zu können ? « Der alte Goethe ist bei der Lektüre von Werken Walter Scotts zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Er bewundert nicht nur die dichterischen Fähigkeiten Scotts, sondern vor allem den Reichtum der englischen Geschichte selbst. Und er stellt ihr die Armut der deutschen gegenüber, eine Ursache, weshalb fast sofort nach dem » Götz von Berlichingen« wegen der Dürftigkeit der deutschen historischen Thematik eine Wendung ins Private erfolgte. »Götz « und » Faust« gehören nach der Geschichtsauffassung des jungen Goethe als »Selbsthelfer in wilder anarchischer Zeit« sowohl objektiv wie subjektiv historisch zusammen: beide gehören der Reformationszeit an; beide sind zugleich historisch sinnliche Ausdrucksformen für die nationale und politische, für die weltanschauliche Freiheitssehnsucht des jungen Goethe, die in ihrer Vielseitigkeit und Tiefe, in ihrem Pathos und ihren Schranken für einen ganzen Zeitabschnitt in Deutschland Symbol des Wunsches nach Be­ freiung gewesen ist. Was » Götz« politisch und sozial für den jungen Goethe repräsentierte, hat » Faust« für alle Probleme der Weltanschauung und ihrer Umsetzung ins Leben bedeutet. Darum ist die gedanklich und politisch tief verworrene D ialektik der Frei­ heit im » GÖtZ « ein wichtiger Schlüssel dafür, warum der Jugendentwurf des »Faust« unvollendet bleiben mußte. Die Schranken in der Auffassung der deutschen Geschichte, der menschlichen Freiheit und ihres politischen Aus­ drucks - die der junge Goethe mit den wichtigsten I deologen seiner Jugend­ zeit, mit Herder und Justus Möser, teilt -: sind nicht so sehr individuelle Beschränktheiten und Befangenheiten einzelner Persönlichkeiten, wie viel­ mehr eine notwendige ideologische Spiegelung der Entwicklung Deutschlands selbst. Im Gegensatz zu England und Frankreich im Westen, zu Rußland im Osten, wo überall die staatliche Vereinigung der Nation bereits im wesent­ l ichen vollzogen war, als die ökonomische Entfaltung des Kapitalismus eine bürgerlich-demokratische Revolution auf die Tagesordnung gestellt hatte, trägt die Entwicklung Deutschlands den Widerspruch in sich, daß die ent­ stehende bürgerliche Gesellschaft erst die nationale Einheit zu schaffen hat, daß die Herstellung der nationalen Einheit die Zentralfrage der bürgerlich.­ demokratischen Revolution wird (Lenin) . Diese eigenartige Lage in Deutschland, die eigenartige Folge der verspäteten Entwicklung des Kapitalismus, wirkt abschwächend auf die revolutionär­ demokratischen Tendenzen. Im Deutschland des jungen Goethe waren jene plebejischen Massen, die in England unter den Puritanern, in Frankreich unter

Faust-S tu dien

53 1

den Jakobinern die demokratische Revolution gegen die Bourgeoisie durch­ setzten, nicht einmal im Keim vorhanden. Darum konnte die Ideologie selbst der am weitesten vorgeschobenen Vorhut nicht jene Kühnheit haben , die für die Vorbereitungszeit der Revolution in Frankreich und in England so charakteristisch ist. Eine revolutionäre Kühnheit taucht nur bei vereinzelten, isolierten, einflußlosen Außenseitern auf. Ein wirkliches Programm für die revolutionär-demokratische Umwandlung Deutschlands konnten erst die theoretischen Führer des deutschen Proletariats aufstellen : im Kommunisti­ schen Manifest, in der Neuen Rheinischen Zeitung. Darum kann das Wiederanknüpfen an die früheren Revolutionen erst hier, in Engels' »Bauernkrieg«, einen konsequenten und historisch richtigen Aus­ druck erhalten. (Allerdings hat er in der demokratischen Bewegung der vier­ ziger Jahre einzelne Vorläufer; so Zimmermann.) Für den jungen Goethe ist ein Verständnis des Bauernkrieges als demokratische Revolution und im Zu­ sammenhang damit der demokratischen Revolution als Grundlage des be­ freiten und vereinheitlichten Deutschlands unmöglich. Goethe hat von An­ fan g bis zu Ende, wie die meisten b edeutenden Aufklärer, ein ablehnendes Ver­ halten zur Revolution überhaupt, zur demokratischen Revolution insbeson­ dere. Er hat, wie die bedeutenden Aufklärer, große und warme Sympathien für das unterdrückte Volk ; er kritisiert wie diese scharf seine Unterdrücker ; er hat ein wirkliches Verständnis für das heroische Dulden und auch für die heroische Auflehnung der Einzelgestalten. Aber die revolutionäre Umwand­ lung selbst der verwerflichsten Gesellschaftsordnung »von unten« geht ihm gegen den Strich . Das aufständische Volk betrachtet er, wie seinerzeit Hobbes, als »puer robustus sed malitiosus«, als »kräftigen, aber bösartigen Burschen«. Trotz dieser unüberwindbaren Schranke gerät die - spät entstandene, rascli entwickelte - deutsche Aufklärung bald unter den Einfluß der plebejischen Kritik des Fortschritts in der kapitalistischen Zivilisation. Lessing steht noch im wesentlichen kritisch-ablehnend zu Rousseau. Herder und Goethe (wie der junge Kant) verdanken ihm Entscheidendes. Natürlich kann man den jungen Goethe nicht ohne weiteres als Rousseau-Schüler betrachten ; aber sein deut­ scher Patriotismus, seine Erbitterung über die Zerrissenheit des Vaterlandes wendet sich, oft mit Rousseauschen Akzenten, gegen die Sieger im Bauern­ krieg, gegen die Nutznießer der Reformation, gegen die Fürsten, gegen die an den deutschen Hö fen betriebene Politik, Moral, Kultur und Zivilisation. Daß diese Kritik »von unten« bei Goethe zu einer Verteidigung der Adelsdemo­ kratie der Götz, Sickingen usw. wird, trübt die Perspektive, macht sie ver-

532

Anhang

worren, idealisiert den reaktionären Helden seiner Jugend, den Marx einen »miserablen Kerl « genannt hat. Aber aus diesem plebejisch-Rousseauschen Haß entsteht ein unerbittlich wahrhaftiges Bild der oberen Welt, der Welt der kleinen Höfe : ihrer Hohlheit und Verdorbenheit, ihres kleinlichen Egois­ mus, ihrer Vernichtung der besten Kräfte des Deutschtums. Und wenn das positive Gegenbild, das gesunde Unten, politisch falsch im Kleinadel versinn­ bildlicht wird, so sind die meisten schönen und echten Züge dieses Gegenbilds die bürgerlich-plebejische Schlichtheit und Ehrlichkeit, die Auflehnung gegen die Pseudokultur der Höfe. In dieser Hinsicht vermittelt der » Götz« zwi­ schen Lessings »Emilia Galotti« und Schillers »Kabale und Liebe« , so fern dem jungen Goethe auch das Anklagepathos beider steht. Götzens Raubrittertum ist für den jungen Goethe nur Symbol, Ausdruck für das ungezähmte, durch nichts gehemmte Freiheitsbedürfnis des neuen Men­ schen, der sid1 auf sich selbst besinnenden ideologischen Vorhut der bürger­ lichen Gesellschaft in Deutschland. Die Unentwickeltheit der sozialen und politischen Differenzierung - » man kann weder von Ständen noch von Klassen sprechen, sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungebore­ nen Klassen«, sagt Marx - hat die Isoliertheit, das Auf-sich-selbst-Ange­ wiesensein der Ideologen zur Folge. Die Fein de stehen im höfischen Feudalis­ mus klar vor ihnen. Als bürgerliche Revolutionäre wollen sie das Spießertum der entstehenden bürgerlichen Klasse ausrotten. Aber die Masse der Intellek­ tuellen ist teils höfisch verseucht, teils versunken im wurzellosen Epigonentum einer verflachten Aufklärung (auch eine Anpassung an das Spießertum) . So entsteht das Ideal des »Selbsthelfers «. U�d die dichterische Genialität des jungen Goethe zeigt sich darin und bringt einen » Sieg des Realismus« darin hervor, daß er trotz dieser lyrischen Befangenheit für seinen Helden, trotz der Idealisierung seiner Gestalt nicht nur die Niederlage, sondern auch deren Notwendigkeit klar sieht, daß er - gegen seine Befangenheit - ihre sozial­ historischen Bestimmungen dichterisch aufdeckt. Mag er die Auflehnung des Götz und ihren Ausgang subjektiv wie immer bewerten, ihre Gestaltung ist lebenswahr und historisch echt. Darum konnte Marx bei aller scharfen Ab­ lehnung der Götz-Gestalt sich zu dem Goetheschen Werk bejahend verhalten . Die Idee des »Selbsthelfers « ist im » Faust« noch breiter und tiefer angelegt. Schon die Sage ergibt für Goethe die Notwendigkeit, die Universalität der Fragestellung zu übernehmen. Insofern ist sicherlich die späte Erinnerung Goethes richtig, daß die Gestaltung sowohl der » großen « wie der »kleinen Welt«, des öffentlichen wie des individuellen Lebens, von vornherein be­ absichtigt gewesen war. Und wie die spätere Ausführung (Akt 1 und 1v des

Faust-Studien

533

zweiten Teils) zeigt, konnte die » große Welt« im » Faust« keine andere sein als jene, die in dem höfischen Leben im » Götz« geschildert wurde. Ihre Ab­ lehnung ist auch fünfzig bis sechzig Jahre später nicht weniger entschieden geworden, nur die Illusionen über die ritterlichen » Selbsthelfer« sind spurlos verschwunden : die Ritter erscheinen hier ebenso als eine Auflösungserschei­ nung wie die Höfe, die Kirche usw. Diese Erkenntnis ist aber das Produkt einer langen Entwicklung. Die An­ spielungen auf die » große Welt« im »Urfaust«, im Fragment des »Ewigen Juden « zeigen, daß ein Universalismus in der Darstellung des deutschen r 6. Jahrhunderts, der Zeit der Geburtswehen und des Abortus eines neuen Deutschlands damals nur eine verbreiterte Dublette des Götz-Hintergrunds hätte ergeben können. Der Faust des ersten Fragments hätte an dieser Welt ebenso scheitern müssen wie Götz, wie Werther an dem aus diesen Wirren entstandenen Deutschland zugrunde gingen. Das ist freilich noch kein hinreichender Grund, daß der » Faust« des jungen Goethe unbedingt Fragment bleiben mußte. Es gibt keinen dokumentarischen Beweis dafür, daß die erste Konzeption des » Faust« nicht tragisch war, frei­ lich auch keinen für das Gegenteil. Die Gemeinsamkeit des historischen Hin­ tergrunds zwischen »Götz« und » Faust« äußert sich in den unmittelbar the­ matischen Konsequenzen nur streckenweise, hat aber doch Folgen für die bei­ den Jugendwerken gemeinsame tragische Atmosphäre. Im » Faust« sind aller­ dings Probleme von einer ganz anderen Weite und Tiefe aufgeworfen, und die Unlösbarkeit (beziehungsweise die bloß tragische Lösbarkeit) der gemein­ samen sozial-historischen Fragen erschöpft noch lange nicht jene Komplexe, die Goethe radikal umdenken, umempfinden mußte, um zum eigentlichen » Faust«-Kern zu gelangen . Die Frage der erkennenden Beziehung zur Natur, die der Erkenntnis über­ haupt, die des Verhältnisses von Erkennen zur Praxis (alle drei Fragen bil­ den letzthin nur eine) stehen hier im Vordergrund. Schon die Sage hat alle diese Probleme aufgeworfen, jedoch in einer verzerrten Form. Nicht zufällig. Denn alle Überlieferungen der Faustsage stammen »aus Feindesland « : es sind Lutheraner, begeisterte Anhänger der Reformation, die die Renaissance­ legende - die tragischen Konflikte der schrankenlosen Forderungen des aus dem Mittelalter befreiten Menschen nach Allwissenheit, nach unbeschränkter Aktivität, nach unbegrenztem Genuß des Lebens - vom Standpunkt der religiösen Sündhaftigkeit solcher Bestrebungen behandelten, die aus dem tragischen Helden der Renaissance ein abschreckendes Beispiel modelten. Natürlich schimmert die ursprüngliche Größe und Tiefe der Renaissancesage

5 34

Anhang

auch aus diesen Verzerrungen hervor ; natürlich hat ein großer Dichter wie Marlowe sehr früh den Versuch gemacht, den Geist des wahren Ursprungs zu beleben. Doch war dieser Versuch einer Wiederherstellung der ursprüng­ lichen Tiefe der Sage dichterisch und denkerisch nicht gewaltig genug; er blieb zu oft in äußerlichen, zauberhaften, scharlatanhaften, großsprecherischen magisch-mystischen Zügen der Bearbeitung stecken, so daß seine Gegenwir­ kung nicht durchschlagend und dauerhaft sein konnte. Die großen deutschen Aufklärer Lessing und Goethe kannten Marlowe über­ haupt nicht und traten an die Faustsage selbständig heran, um ihren echten Gehalt vom Geist der Aufklärung her zu retten. Diese Art der Erneuerung war durchaus organisch und berechtigt. Denn die Aufklärung ist wirklich der legitime Erbe der Renaissance. Dieser Versuch mußte aber zugleich eine radi­ kale Umgestaltung der Grundkonzeption mit sich bringen, da infolge der mehr als zweihundertjährigen Entwicklung alle wichtigen Probleme der Faustsage (die der schöpferischen Individualität, die von Gut und Böse, von Erkenntnis und Leben usw.) inzwischen ganz anders gestellt wurden. Lessings Plan bedeutet eine radikale Anderung der Sage im Sinne der Blüte der Aufklärung : die Versuchung zum Bösen versinkt zu einem bloßen Schein ; Fausts Abenteuer mit dem Teufel, sein Bündnis mit ihm ist ein bloßer Traum ; die Beziehung der Erkenntnis zum Leben ist letztlich unproblematisch. Der junge Goethe steht viel unmittelbarer zu der Sage. Aber indem er hier weniger kritisch im Sinne der Aufklärung ist als Lessing, hat er zugleich - freilich nur im Keim - eine andere, tiefere Beziehung zum Bösen und dessen widerspruchsvoller Rolle in der Geschichte der Menschheit. In die­ sem Zwiespalt spiegelt sich die Entwicklung· der deutschen Aufklärung. Beim jungen Goethe und bei Herder entstehen aus bestimmten Auflösungstenden­ zen der Aufklärung, unter den spezifischen Bedingungen Deutschlands, die ersten Übergänge zur i dealistischen Dialektik. Diese Vorwärtsbewegung des bürgerlichen Denkens zu ihrem letzten Gipfelpunkt erscheint zuweilen unter sehr rückläufigen (oft freilich zwiespältigen, nur rückläufig scheinenden) Um­ ständen. Die immer stärker auf dämmernde Erkenntnis vom Widerspruch als Grundlage des Lebens und der Erkenntnis steht hier im Mittelpunkt. Hier ist nicht der Ort, die Geschichte dieser Anfänge der Dialektik in Deutschland auch nur andeutungsweise zu analysieren ; wir müssen uns auf ein paar Hin­ weise beschränken. Da ist vor allem die Hamannsche Erneuerung der coin­ cidentia oppositorum (der Einheit des Widersprüchlichen) , die Hamann und der junge Goethe von Giordano Bruno zu übernehmen meinen ; da ist der unterirdische Einfluß von Vico, bei dessen erster Lektüre in I talien Goethe

Faust-S tzedien

535

an Hamann erinnert wird, obwohl dieser in jeder Hinsicht nur ein ab­ geschwächter Nachklang des großen I talieners ist ; da ist die - als solche nicht bewußte - Dialektik der großen Aufklärer selbst, vor allem die Rous­ seaus; da ist der Einfluß Spinozas, der selbst ebenfalls in der Richtung der Dialektik wirkt. Alle diese Gedankenströme beeinflussen die Weltanschauung des jungen Goethe aufs tiefste. So tritt die deutsche Aufklärung mit Hamann, Herder und vor allem mit Goethe in eine neue, widerspruchsvoll höhere Entwicklungsphase. Die Ent­ deckung, daß der Widerspruch das Zentrum von Leben und Erkenntnis ist, ist untrennb ar verbunden mit der Historisierung des ganzen Leb enspro­ zesses. Die Entwicklung in Natur und Gesellschaft wird zum Zentralpro­ blem, und mit ihm nehmen die Deutschen führenden Anteil an jener Um­ gestaltung der Philosophie, die in Hegel gipfelt, an der Schaffung einer neuen Geschichtswissenschaft. Diese ist freilich teilweise eine Fortsetzung und Weiterbildung von Aufklärungstendenzen (Montesquieu, Gibbon usw.), teilweise bildet sie aber den Historismus als universelle Weltanschauung her­ aus. Darin geht nun diese B ewegung weiter als die Aufklärung, sie verwertet Erkenntnisse der international heranwachsenden Revolution in den Natur­ wissenschaften, nützt das Entstehen der Entwicklungslehre in der Biologie aus usw. Alle diese Tendenzen leben im jungen Goethe vorerst freilich bloß intuitiv­ verworren. Ihre gefühlsmäßig festgehaltene Totalität bestimmt Goethes Stel­ lung zur Faustsage. Sie führen das Faustthema zu ganz anderen Tiefen und Höhen, als es im » Götz« möglich war, verknüpfen es jedoch ebenso stark mit der Zeit, sowohl mit der der Sage wie mit der Goethes. Die Beschäftigung des jungen Goethe mit Gottfried Arnolds Ketzergeschichte, mit Paracelsus, Hel­ mont usw. bildet ideenmäßig ebenso den Ausgangspunkt für die Aufnahme des Faustthemas, wie die Selbstbiographie Götz von Berlichingens das Götz­ drama hervorgerufen hat. So steht der junge Goethe der ursprünglichen Sage viel näher als Lessing, und zwar nicht nur in einer dichterisch viel innigeren Anlehnung an deren Hand­ lungsmomente, sondern vor allem in der Erneuerung des Renaissancegeistes, des ursprünglichen, von den lutheranischen Bearbeitungen verschütteten Ideengehalts. Aber diese Erneuerung erfolgt aus dem Geist der deutschen Aufklärung, aus den B estrebungen jener Epoche des Übergangs zum dialek­ tischen Denken, über die wir soeben gesprochen haben. Das bewußte Heraus­ bilden dieser neuen Weltanschauung ist die Grundlage der lebenslangen Arbeit Goethes am » Faust « ; seine Etappen bestimmen Gehalt und Form der

Anhang verschiedenen Entwicklungsphasen des Gedichtes. Dabei ist es charakteri­ stisch, daß die philosophische Entwicklung Goethes für den Übergang die entscheidende Rolle in diesem Umwandlungsprozeß spielt; das Umdenken des historisch-sozialen Komplexes bildet nur einen Teil dieser Arbeit. Wir werden die Ergebnisse dieser Lebensarbeit Goethes an den wichtigsten Problemkomplexen, Gestalten usw. eingehend untersuchen müssen. Hier grei­ fen wir nur - vorwegnehmend und mit bewußter Einseitigkeit - jene ein­ zelnen Momente heraus, die geeignet sind, die wichtigsten Wendepunkte im Wachstum der Dichtung zu beleuchten. Das ist vor allem das Erkenntnisproblem : die Erdgeist-Szene, die den phi­ losophischen Hauptinhalt des » Urfaust« ausmacht. Das entstehende Streben zum dialektischen Denken stoßt hier vorerst schroff, vermittlungslos mit der metaphysischen Denkweise zusammen. Das gefühlsmäßige Aufdämmern der neuen Denkmethode führt beim jungen Goethe zu einer bedingungslosen Ab­ lehnung alles schulmäßigen, scholastisch-metaphysischen Denkens. In dieser Opposition nähert sich der junge Goethe sehr der Ablehnung des damaligen schulmäßigen Denkens durch die ersten Naturphilosophen der Renaissance­ zeit. Er kann also die tiefsten Konflikte seiner eigenen gedanklichen Ent­ wicklung seinem Renaissancehelden ohne historische Verfälschung in den Mund legen. Goethe ist damals noch weit entfernt von der späteren innigen Verknüpfung des Verstandes mit der Vernunft, von der Einordnung des intuitiven Wissens in den Gesamtprozeß des Erkennens, von einem richtigen Verständnis für die unaufhebbare Notwendigkeit der Reflexion und ihrer Kategorien bei gleichzeitiger Unvermeidlichkei t ihrer Überwindung. Darum stellt der junge Goethe - wie Hamann, Jacobi, Lavater und andere Jugend­ genossen - intuitives Wissen und zergliedernde Reflexion einander schroff ausschließend gegenüber. Für seinen noch überwiegend gefühlsmäßigen Standpunkt bedeutet die Ahnung der Dialektik : ein intuitives Erfassen der bewegenden und bewegten Einheit der Welt bei unbedingtem Verwerfen der trennenden Bestimmungen des Verstandes und in polarem Gegensatz zu ihnen. Während aber Hamann und mit ihm die meisten Zeigenossen des jungen Goethe aus dieser Intuitionslehre, die sie auf dieser Stufe erstarren ließen, zu reaktionären Konsequenzen getrieben wurden, sucht Goethe den Weg zu einer wirklichen Erkenntnis der bewegten Widersprüchlichkeit des Lebens. Es ist aus »Dichtung und Wahrheit« zu ersehen, daß dieses Suchen, das mit ihm notwendig verknüpfte Verwerfen der zeitgenössischen Wissen­ schaft den wichtigsten Punkt der Anknüpfung an die Faustsage geb ildet hat. Doch schon in diesem frühen Stadium kann man die kritische Besonnenheit

Faust-Studien

5 37

des jungen Goethe beobachten. Sein Faust geht diesen Weg viel radikaler zu Ende als Goethe selbst. Aus diesem Radikalismus entsteht die Tragik der Erdgeist-Szene. Die Sehnsucht Fausts ist die gleiche wie die des jungen Goethe : eine Philosophie der Natur, die zu einem vollständigen Mitleben mit der Bewegtheit der Natur führt, eine Philosophie, die über das bloß Kontem­ plative, Tot-Objektive, aus der Unverbundenheit der Naturerkenntnis mit der menschlichen Praxis hinausführt. Darum sagt Faust nach der berauschen­ den Erkenntnis der makrokosmischen Zusammenhänge im Sinn der Natur­ philosophie der Renaissance voll tiefer Enttäuschung : Welch Schauspiel ! Aber ach ! ein Schauspiel nur ! Wo faß ich dich, unendliche Natur? In der Sehnsucht, zu dieser Erkenntnis zu gelangen, beschwört Faust den Erdgeist. Aber hier öffnet sich der tragische Abgrund. Umsonst fühlt sich Faust dem von ihm zitierten Erdgeist unendlich nah, dieser zerschmettert ihn mit den Worten : Du gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir ! S o weht ein tragischer Geist i m » Urfaust« ebenso wie 1m »Götz « . E s ist - worüber wir später ausführlich sprechen werden - kein Zufall, daß die jugendliche Gestaltung des tragischen Konflikts zwischen Mann und Frau in der Gretchen-Tragödie hier die dissonanteste, die zerreißendste Form erhal­ ten hat. Sie beherrscht die erste Fassung des Fragments, den »Urfaust « . Und ihre Gestaltung ist, wenn wir die Liebestragödie unmittelbar, an sich be­ trachten, schon hier vollständig. Was später hinzugefügt worden ist, ordnet nur diese Tragödie in die großen geschichtsphilosophischen Zusammenhänge der Weltanschauung des reifen Goethe ein. Ohne diese Zusammenhänge muß sie aber ein düster-tragisches Kolorit haben. Es ist nur konsequent, daß im »Urfaust« am Schluß über Gretchen nur die Worte des Mephistopheles »Sie ist gerichtet ! « erklingen ; die Antwort von oben - » Ist gerettet ! « - steht erst in der endgültigen Fassung von 1 8 0 8 . Zwischen der Wiederaufnahme der Arbeit a m » Faust«, die zum Fragment von 1 7 90 führt, liegt das Weimarer Ministertum Goethes und seine Flucht nach Italien. Der Versuch Goethes, seine Weltanschauung in politische Aktivi­ tät umzusetzen, ist gescheitert und hat zu einer tiefen Enttäuschung geführt ; freilich, wie dies bei Goethe selbstverständlich, zugleich zu einer großen

Anhang Bereicherung seiner Erfahrungen, seines historisch-sozialen Horizonts, deren bewußte Konsequenzen sich jedoch erst viel später zeigen. Die Weimarer Zeit ist aber zugleich die seiner Wendung zur systematischen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, der Oberwindung des gefühlsmäßigen Intuitismus der Jugendzeit. Diese Beschäftigung geht vorerst von praktischen B edürfnissen aus, führt jedoch schon in Weimar und I talien zu wichtigen Entdeckungen auf dem Gebiet der neuen Naturlehre, zu der Auffassung der Natur als einheit­ lichem Entwicklungsprozeß (Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer­ knochens, Urpflanze usw.). Obwohl sich diese großartigen Anfänge seiner endgültigen Weltanschauung bereits in der Weimarer Zeit herauszubilden begannen, ist der italienische Aufenthalt für Goethe vor allem eine Restaurierung, eine Konsolidierung der eigenen Persönlichkeit, seine Wiederherstellung als Dichter, sein Wieder­ anknüpfen an die vielfach unterbrochene schöpferische Produktion. Es ist darum keineswegs zufällig, daß in Italien das produktive Hauptgewicht nicht auf einem neuen Schaffen liegt, sondern auf dem Zuendeführen alter, in und sogar vor der Weimarer Zeit begonnener Fragmente : » lphigenie«, »Egmont« , »Tasso« und »Faust« . Von allen diesen Werken ist nur der » Faust« nicht zu Ende geführt worden. Wiederum nicht zufällig. Die Arbeit am Jugendfragment zeigt eine radikale weltanschauliche Wendung, jedoch noch nicht die Fähigkeit, diese wirklich zu Ende führen zu können. Die Szene »Wald und Höhle« sowie das erste Frag­ ment des Dialogs zwischen Faust und Mephistopheles lassen bereits ganz klar die Richtung erraten, in die j ene Wendung geht: das spätere Weltgedicht be­ ginnt seine Konturen zu erhalten, der » Faust«-Entwurf beginnt über die reine Tragik des »Urfaust« hinauszuwachsen. Das ist, wie wir später seh en werden, kein oberflächliches Leugnen der Tragik. Goethes Lebenswerk ent­ hält zumindest ebenso viele und tiefe Tragödien wie das anderer großer Dich­ ter. (»Egmont« und » Tasso« erhalten ja gerade in dieser Zeit ihre endgültige Form.) Aber das Tragische ist für Goethe nidu mehr ein letztes Prinzip ; er sieht eine Weltentwicklung, die durch einzelne Tragödien siegreich hindurch­ geht. Diese Wendung äußert sich am klarsten in der neuen Szene »Wald und Höhle« . (Dabei ist es für den Übergangszustand, in dem sich Goethe damals befindet, sehr charakteristisch, daß diese entscheidende Szene der Gretchen­ Tragödie im Fragment von 1 790 noch einen rein zufälligen, den psycholo­ gischen Ablauf der Tragödie störenden Platz erhält ; erst 1 8 0 8 erscheint sie, ohne .Änderung, aber an richtiger Stelle, als weltanschaulicher und mensch-

Faust-Studien

5 39

lieh-dramatischer Wen depunkt.) Hier hat uns nur die rein weltanschauliche Seite zu beschäftigen . Faust flüchtet in die Natur und :findet nun eine ganz andere Antwort auf seine Frage an den Erdgeist. Fausts Worte spiegeln die neue Naturauffassung Goethes, die er in Weimar erworben, in Italien weiter­ gebildet und vertieft hat. Diese Worte beziehen sich unmittelbar auf den Erdgeist, sind eine unmittelbare philosophische und poetische Fortsetzung und Überwindung der ersten tragischen Begegnung im »Urfaust« : Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust, \Vie in den Busen eines Freunds, zu schauen. Damit ist der erste Schritt in der Richtung zur Umwandlung des » Faust« zu jenem Weltgedicht getan, das jetzt vor uns liegt. Aber in Italien und in der unmittelbar folgenden Weimarer Zeit war Goethe noch lange nicht in der Lage, alle Folgerungen aus seinem neuen Weltgefühl zu ziehen, es auf alle Erscheinungen der Natur und des Menschenlebens poetisch und philosophisch anzuwenden. Dazu war einerseits das Erlebnis der politischen Umwälzung in Europa vom Ausbruch der Französischen Revolution bis zum Sturz Napo­ leons notwendig, anderseits der bewußte Anschluß an die entstehende neue dialektische Philosophie in Deutschland. Nach der Rück.kehr aus Italien geht Goethe scheinb ar sowohl politisch wie phi­ losophisch einen entgegengesetzten Weg. Er ist entsetzt, im wörtlichen Sinne außer sich, über die Französische Revolution ; er betont, überbetont sogar oft den reinen empirischen Charakter seiner Naturforschung, er will sich von jedem Einfluß der philosophischen Verallgemeinerung fernhalten . Es ist ver­ ständlich, daß in diesem Übergangsstadium das Weltgedicht » Faust« nicht voll­ endet werden konnte : das Fragment von r 79 0 ist in bestimmtem Sinn noch fragmentarischer als der » Urfaust«. Es enthält, wie gezeigt wurde, einzelne wichtige Szenen, die in die Richtung der Weiterentwicklung weisen, ohne daß es Goethe gelungen wäre, die philosophische und poetische Bedeutung dieser neuen Momente in ihren Konsequenzen zu zeigen. Anderseits läßt er, im Gefühl der be g innenden Ü berwindung der reinen Tragik des »Urfaust«, die

Anhang Schlußszenen der Gretchen-Tragödie weg ; das Fragment schließt mitten in der Gretchen-Tragödie, ohne ihr einen dichterisch-organischen Abschluß zu geben. Die Wirklichkeit hat sehr bald gezeigt, daß die oberflächlichen Symptome, in denen sich die neue Entwicklungsetappe Goethes äußert, nur einen Schein darstellen und die entscheidenden, vorerst unterirdischen Ströme verdecken. über den Wandel der Stellung Goethes zur Französischen Revolution können wir hier nicht ausführlich sprechen ; wir müssen uns wiederum auf die Her­ vorhebung einiger ausschlaggebender Momente beschränken. Dabei ist es vor allem wichtig, daß die erste große Erschütterung Goethes nicht von der Fran­ zösischen Revolution selbst, sondern von dem Halsbandskandal ( 1 7 8 5 ) aus­ ging, der Goethe die tiefe Korruption der französischen herrschenden Ober­ schicht, das Unterwühltsein des ganzen Regimes enthüllte. Es ist allgemein be­ kannt, daß Goethe sich zu den plebej ischen Tendenzen in der Französischen Revolution ablehnend verhielt. Es ist aber ebenfalls bekannt, wie er bereits bei der Kanonade von Valmy ( 1 79 2 ) deutlich wahrgenommen hat, daß hier eine neue Epoche der Weltgeschichte begann. Und einige Jahre später fängt er an, die aus der Französischen Revolution hervorgehende neue bürgerliche Ge­ sellschaft und ihren Staat mit wachsender Sympathie anzusehen, die ihren Gipfelpunkt in der Verehrung Napoleons, in der Parteinahme für ihn und gegen das Deutschland seiner Zeit erreichte. Goethes Ablehnung bezieht sich also nur auf die plebejischen Methoden bei der Durchführung der Revolution, auf bestimmte plebejische Forderungen ; den wesentlichen sozialen Inhalt der Französischen Revolution hat er jedoch in steigendem Maße bejaht. Charak­ teristisch ist, was Goethe (in emem später weggelassenen Bruchstück) den Mephistopheles sagen läßt: Bestünde nur die Weisheit mit der Jugend Und Republiken ohne Tugend, So wär die Welt dem höchsten Ziele nah. (Daß hier unter » Tugend« die Robespierresche Phase der Revolution zu ver­ stehen ist, bedarf wohl keines Kommentars.) Die antiphilosophischen Tendenzen Goethes nach der italienischen Reise sind noch mehr nur ein Schein. Sehr bald, in der Freundschaft mit Schiller, be­ ginnt für Goethe eine Periode intensiver Auseinandersetzung mit der klassi­ schen deutschen Philosophie in ihrer entscheidenden Entwicklungsperiode : zur Zeit des Auftretens Fichtes und des jungen Schelling, der Entstehungszeit von Schillers ästhetischen Schriften ; zur Zeit des beginnenden Übergangs der

Faust-Studien

541

deutschen Philosophie vom subjektiven Idealismus Kants und Fichtes zum objektiven Idealismus Schellings und Hegels ; zur Zeit der Herausbildung der idealistischen Dialektik. Goethe schließt sich niemals irgendeiner Strömung dieser Philosophie vollständig an, er hat aber eine tiefe Sympathie mit den naturphilosophischen Bestrebungen des jungen Schelling und zeigt später in seinem Denken weitgehende Parallelen mit der objektiven Dialektik Hegels. Wie sehr die antiphilosophischen Tendenzen der Zeit nach der Italienreise Oberflächenerscheinungen, bloßer Schein gewesen sind, zeigt am klarsten die literarische Wirkung des » Faust«-Fragments von 1 790. Es wurde in litera­ rischen Kreisen ziemlich kühl aufgenommen : der bedeutende Philologe Heyne, Wieland, Schillers Jugendfreund Huber und auch Schiller selbst in seiner vor­ philosophischen Periode äußerten sich kritisch und zurückhaltend . Dagegen haben alle bedeutenden Vertreter der klassischen deutschen Philosophie, Fichte, Schelling und Hegel, das Fragment enthusiastisch aufgenommen und seine Bedeutung als Weltgedicht sofo rt erkannt. Und diese Wirkung blieb keines­ wegs auf die führenden Spitzen der philosophischen Umwälzung beschränkt, sie durchdrang vielmehr die ganze jugendliche Anhängerschaft dieser Be­ wegung. Als Goethe 1 8 06 ein Gespräch mit dem Historiker Luden hatte, erzählte ihm dieser von der Stimmung der philosophischen Jugend in seiner Studienzeit angesichts des »Faust«-Fragments . Die Schüler Fichtes und Schel­ lings hätten so gesprochen : »In dieser Tragödie, wenn sie einst vollendet erscheine, werde der Geist der ganzen Weltgeschichte dargestellt sein ; sie werde ein wahres Abbild des Le­ bens der Menschheit sein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfas­ send . In Faust sei die Menschheit idealisiert; er sei der Repräsentant der Menschheit. « Sie nannten das »Faust«-Fragment mit Anspielung auf Dante eine » divina tragoedia « . I n diesem Widerhall der Tragödie bei den Trägern der philosophischen Be­ wegung ist das Zusammentreffen mit der Entwicklung Goethes selbst, wie sie soeben von uns skizziert wurde, deutlich wahrnehmbar. Wenn Goethe sich nunmehr bewußt der Philosophie zuwendet, so muß wiederholt werden, daß er sich keinem der entstehenden Systeme bedingungslos anschloß, wohl aber sich von dem Gesamtprozeß der neuen objektiven Dialektik befruchten ließ. Es ist kein Zufall, daß dieser Übergang zugleich den endgültigen Bruch mit seinen Jugen dtendenzen und ihren gedanklichen und literarischen Repräsen­ tanten mit sich bringt, vor allem mit Herder. Dieser Bruch bezieht sich aber nur auf bestimmte spezifische Tendenzen der Spätphase der deutschen Auf-

542

Anhang

klärung. Mit der Ideologie der Aufklärer selbst hat Goethe nie gebrochen. Seine Philosophie ist ein Hinüberwachsen des aufklärerischen Denkens in die Dialektik mit einem viel unversehrter bewahrten Aufklärungserbe, als man es sogar bei Hegel beobachten kann : ein radikaler Bruch, wie bei Schelling, liegt bei Goethe vollständig fern. So ist er eine lebendige Brücke, das Organ eines persönlichen Hinüberleitens der I deologie des achtzehnten Jahrhunderts in die des neunzehnten. Darin liegt die Einzigartigkeit seiner weltanschaulichen Position : die Überlieferung von Montesquieu und Voltaire, von Diderot und Rousseau stirbt in ihm nie ab (Tendenzen zum Materialismus inbegriffen), aber seine Endentwicklung reicht hinüber bis zu Hegel und Balzac und streift zuweilen auch die Ge­ dankenkreise der Utopisten. Das Bewußtsein dieser philosophischen Umwälzung bildet die ideologische Grundlage zur Vollendung des ersten Teils von » Faust« ( 1 8 06, veröffentlicht 1 8 0 8 ) . Was im Fragment nur angedeutet war, ist hier zur gestalteten Wirk­ lichkeit geworden. Goethe führt die ersten großen Gespräche zwischen Faust und Mephistopheles aus und rückt damit die Rolle des Mephistopheles in der Gretchen-Tragödie erst in die richtige Beleuchtung : die Gretchen-Tragödie hört auf, Mittelpunkt zu sein, sie wird zu einer entscheidenden tragisd1en Etappe auf dem Lebensweg Fausts, auf dem Entwicklungsweg der Mensch­ heit. Auch der »Prolog im Himmel«, mit dem der große Kampf zwischen Gut und Böse über das Schicksal eines einzelnen Menschen hinausgehoben wird, entsteht erst in dieser Periode. » Faust« wird erst jetzt ausgesprochen zum Weltgedicht; die unbedingte Notwendi�keit eines abschließenden zwei­ ten Teils, sowohl in weltanschaulich-inhaltlicher wie in künstlerischer Hin­ sicht, entspringt erst aus dieser Auffassung und Bearbeitung des ersten Teils . Und tatsächlich wird schon jetzt die Arbeit am zweiten Teil begonnen. (Hauptsächlich arbeitet Goethe an der Helena-Episode, wahrscheinlich ist aber auch manches andere in dieser Zeit entstanden.) Trotzdem folgt vor der Ausarbeitung des zweiten Teils wieder eine große Pause. Erst um 1 8 1 6 be­ ginnt die neue ernste Arbeit der detaillierten Komposition und der wirklichen Ausführung, die jedoch erst in den allerletzten Lebensjahren Goethes zum Abschluß gelangt. Dabei ist es durchaus kein Zufall, daß jene Teile des Ge­ dichts, die sich politisch, sozial und historisch mit der Welt des »Götz « be­ rühren (1 . und I V . Akt des zweiten Teils), am allerspätesten ihre endgültige Fassung erhalten haben. Hier hatte Goethe die schwersten i nneren Kämpfe zu bestehen, um seine Anschauungen über die Geschichte endgültig zu klären. Der Schluß des Ganzen stand schon lange klar vor seinen Augen und

Faust-Studien

543

war im wesentlichen viel früher fertig, ebenso der Umweg Fausts über die Erneuerung d er Antike. D er alte Goethe formuliert den Sinn der Aktion des zweiten Teils als >Taten­ genuß und Schöpfungsgenuß « im Gegensatz zum »Lebensgenuß « des ersten Teils. Um aber die beiden ersten gedanklich und dichterisch klar zu fassen, war eine endgültige Ansicht über die ganze Geschichtsperiode von der Fran­ zösischen Revolution bis zur Restauration, eine Perspektive der Konsequen­ zen der kapitalistischen Entwicklung notwendig. Denn erst von hier aus konnte die Geschichtsauffassung der Jugendzeit, die ihren dichterischen Aus­ druck im » Götz von Berlichingen« erhielt, endgültig überwunden werden. Die politisch-sozialen Elemente des zweiten Teils des » Faust« stellen, wie wiederholt gesagt wurde, dieselbe Welt dar wie das Jugendwerk. Aber Ge­ schichtsauffassung und -perspektive sind vollständig anders geworden. Und dementsprechend führt die D arstellung dieses Geschichtsbildes über den engen, spezifisch deutschen Rahmen hinaus, allerdings ohne seinen spezifisch deutschen Charakter aufzuheben : Goethe kritisiert hier nicht mehr nur die besonderen Verfallserscheinungen des deutschen Feudalismus, sondern gibt ein tiefes und umfassendes Bild vom Verfall des Feudalismus, von seinem Verfaulen im höfischen Leben, und zeigt zugleich jene Kräfte auf, die ihn wirklich in die Luft sprengen : die Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus. D arum kann Goethe zu Eckermann mit Recht sagen, daß die Grundkonzeption auch des zweiten Teils sehr alt sei. »Aber«, fügt er hinzu, » daß ich ihn jetzt ( 1 8 29) schreibe, nachdem ich über die weltlichen Dinge so viel klarer geworden, mag der Sache zugute kommen. «

II

Das Drama der Menschengattung

Das Fragment von 1 7 90 bringt einen Dialog zwischen Faust und Mephisto­ pheles, der mit den folgenden, für die Neufassung des ganzen Werkes pro­ grammatischen Worten Fausts beginnt: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End' auch ich zerscheitern.

5 44

Anhang

Hier ist die spezifische Problemstellung, durch die der » Faust« zu einem einzigartigen Weltgedicht wurde, klar ausgesprochen : im Mittelpunkt steht ein Individuum, dessen Erlebnisse, dessen Schicksal und Entwicklung zugleich den Fortgang und das Geschick der ganzen Gattung darstellen sollen. Dies bedarf noch einer bestimmten Konkretisierung. Denn jede echte und tief typisd1 gestaltete Figur der Dichtung reicht bis an die Probleme der ganzen Menschheit. Aber sie tut es gewissermaßen nur mit einer Seite ihres Wesens, nur als Ausdruck ihrer höchsten dichterischen Entfaltung, nur als horizont­ artige Verallgemeinerung des ganzen Werkes. Um ein wirklich gestalteter Mensch zu sein, muß jede Figur der Literatur gerade spezifisch, besonders sein, darf die Allgemeinheit nur durchschimmern lassen. Anderseits : jedes pedantische enzyklopädische Streben nach Abbildung der ganzen Welt, des ganzen Weltprozesses zerstört die poetische Lebendigkeit der Gestalten und Situationen. Das geschieht sogar bei einem so großen Dichter wie Milton, und erst recht bei Klopstock. Dante jedoch gestaltet die Einheit des Prozesses, die Hierarchie oder objektiven Wirklichkeit nur in den subjektiven Stimmungen und Reflexionen der Ich-Gestalt und ihrer Führer, Vergils und Beatrices : der lebendige Reichtum, die menschliche Bewegtheit, die innere Dramatik der dargestellten Welt kommt in den vielen hunderten an Dante vorüberziehen­ den konkreten Einzelgestalten zum Ausdruck. Gegenüber dem Vorwurf einer Faust-Tragödie rücken - bei allen säkular be­ dingten Gegensätzen - » göttliche« un d »menschliche Komödie« zusammen. Die Odyssee Fausts von der Unseligkeit zur Erlösung soll nämli ch, so wie sie ist, eine Abbreviatur der Menschheitsentwicklung selbst sein, ohne dabei die Individualität, die historische und menschliche Konkretheit des Helden auf­ zuheben, ohne die einzelnen Etappen seines Weges zu einer gedanklich ab­ strakten Allgemeinheit zu verflüchtigen. Diese Konzeption hebt den » Faust« aus der Reihe der andern großen epischen und dramatischen Meisterwerke heraus und macht aus ihm eine »inkommen­ surable Produktion«. Aber - in scheinbar paradoxer, tatsächlich sehr natür­ licher Weise - gelangen wir erst von hier zum Verständnis der verborgenen Zusammenhänge seiner Komposition, können wir erst von hier aus die histo­ rischen Wurzeln der Dichtung aufdecken. Goethes »Faust« und Hegels »Phänomenologie des Geistes « gehören als die größten künstlerischen und gedanklichen Leistungen der klassischen Periode in Deutschland zusammen. (Es ist interessant zu bemerken, daß die » Phäno­ menologie « fast gleid1zeitig, 1 8 07, mit dem ersten Teil des » Faust« vollendet wurde.) Engels charakterisiert die für uns hier wesentlich methodologische

Faust-Studien

54 5

Seite von Hegels Werk als eine »Parallele der Embryologie und Paläontolo­ gie des Geistes«, als eine » Entwicklung des individuellen Bewußtseins durch seine verschiedenen Stufen, gefaßt als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchgemacht«. Aber Hegels »Phänomenologie« ist nur das prägnanteste, alle Tendenzen der Zeit zusammenfassende, auf das damals erreichbare höchste Niveau gehobene Produkt. Die Strömungen, die hierher führen, sind schon lange vorher sicht­ bar. Herders » Ideen« waren bereits der erste Anlauf dazu, nur mußte Her­ der an seinem Unverständnis der dialektischen Probleme scheitern. In der idealistischen Dialektik tritt der Gedanke der im Individuum abgekürzt er­ scheinenden Geschichte keimhaft bereits bei Kant und Fichte auf, Schelling faßt schon den Geschichtsprozeß in Natur und Gesellschaft als eine i.Odyssee des Geistes« auf, als dessen Heimkehr zu sich selbst, und er betrachtet die einzelnen Stufen, die das philosophische Denken von der Wahrnehmung bis zur adäquaten Erkenntnis der Welt durchläuft, als Epochen. Alle diese Tendenzen sind aber nur keimhaft, und ihre wirkliche Vollendung, ihre konsequente methodologische Durchführung erhalten sie erst in Hegels »Phänomenologie«. Hier kreuzen und durchdringen sich drei zusammen­ hängende Konzeptionen der Geschichte : erstens die geschichtliche Erhebung des einzelnen Menschen von der einfachen Wahrnehmung der Welt bis zu ihrer vollendeten philosophischen Erkenntnis ; zweitens die geschichtliche Erhebung der Menschheit von ihren primitivsten Anfängen bis zur Kultur­ höhe der Hegelschen Gegenwart : zur Großen Französischen Revolution, ihrer Überwindung durch Napoleon und jener modernen bürgerlichen Gesell­ schaft, die sich aus diesem Erdbeben aufrichtet. Und endlich, drittens, wird diese ganze geschichtliche Entwicklung als das Werk des Menschen selbst aufgefaßt : der Mensch schafft sich selbst durch seine Arbeit. Marx hebt als Charakteristikum der Größe dieses Werkes besonders hervor, daß Hegel » das Wesen der A rbeit faßt und den gegenständlichen Men­ schen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift«. Dieser Prozeß ist nach Marx nur dadurch möglich, daß der Mensd1 »wirklich alle seine Gattungskräfte . . herausschafft«. Damit ist auch das Problem des » Faust« philosophisch allgemein formuliert. Wie im einzelnen Menschen diese Gattungskräfte entstehen, sich entwickeln, welche Hindernisse sie über­ winden, welche Schicksale sie erleiden, wie die naturhaft und historisch-sozial gegebene Welt als von ihm unabhängige Wirklichkeit auf ihn einwirkt und wie sie zugleich das Produkt oder (im Falle der Natur) der Gegenstand seiner .

Anhang

sich selbst schaffenden Tätigkeit ist, woher dieser Weg seinen Ausgangspunkt nimmt und wohin er führt - dies ist das Thema des » Faust«. Selbstverständlich ist das Individuum bei Goethe noch mehr als bei Hegel der unmittelbar sichtbare Träger des dargestellten Prozesses. Für Hegel ist das individuelle Bewußtsein ein verkürztes Abbild der Entwicklung des Ge­ schlechts ; darum verkörpern sich bei ihm die einzelnen Etappen des Entwick­ lungsweges in gedanklich prägnant, individuell charakterisierten » Gestalten des Bewußtseins«. Soll aber das Gattungsschicksal als eine Abbreviatur im Individuellen erscheinen, dann kann die gedankliche Reihe der aufeinander­ folgenden Kategorien und Etappen der verkürzt dargestellten Gattungs­ entwicklung nicht das objektiv logische Aufeinander und Auseinander der absoluten Philosophie haben. Diese ihre Abfolge muß auseinandergerissen und durch eine andere, neue, durch die Entwicklung des individuellen Be­ wußtseins bedingte ersetzt werden. Obwohl auf diese Weise für das normale logische Denken eine Willkür zu entstehen scheint, muß die neue Ordnung, die verkürzte Spiegelung des Ganzen (der Gattung) im einzelnen, die Not­ wendigkeit dieser verzerrt scheinenden Spiegelung in der Verkürzung, aus der eigenen Logik dieser Entwicklung erkannt werden. Das Verwirrende im Reigen der » Gestalten des Bewußtseins « in der »Phäno­ menologie des Geistes «, wo auf den Diderotschen Rameau der Pariser terreur folgt, um von Antigone abgelöst zu werden, klärt sich auf, wenn wir ihn von diesem Gesichtspunkt, von der Logik dieser Abbreviatur aus, betrachten und in den einzelnen konkreten Etappen das streng ordnende Prinzip erkennen. So ist auch die Komposition des »Faust« aufgeb �ut. Goethe hat sich stets da­ gegen gewehrt, daß er im » Faust« irgendeine » Idee« zu verkörpern versucht habe. Derartige Aussprüche Goethes widersprechen nur scheinbar seiner Ab­ wehr gegen reine Empiriker. Wenn beispielsweise der Historiker Luden jede philosophische Erklärung des Fragments von 1 7 90 ablehnte und wollte, daß man sich nur an das einzelne halte, verwies Goethe dagegen auf die Bestre­ bungen der Philosophen, den gedanklichen Mittelpunkt seines Werkes aufzu­ decken. »Was aber hat dieses Bedürfnis erzeugt? Doch ohne Zweifel das Frag­ ment selbst. Das einzelne, das Ihnen zu genügen scheint, hat andere nicht be­ friedigt, und doch haben sie das Büchlein nicht hinweggeworfen, sondern sie haben es festgehalten, oder es von neuem und abermals wieder in die Hand genommen. Es muß also etwas in dem Büchlein sein und durch das Büchlein hindurchgehen, was auf den Mittelpunkt hinweist, auf die Idee, die in allem und jedem hervortritt. « Goethe gibt hier eine deutliche Beschreibung dessen, was er als dichterische Idee anerkennt: einen unsichtbaren Mittelpunkt, in

Faust-S tu dien

547

dem sich das Zentralproblem seiner Weltauffassung konzentriert, von wo aus, ohne daß der Mittelpunkt ausdrücklich gestaltet oder gar gedanklich ausge­ drückt wäre, der Zusammenhang aller Teile übersichtlich und verständlich wird, die gattungsmäßige Allgemeinheit erlangt, ohne die unmittelbare Sinn­ lichkeit der Individualisierung zu verlieren. Diese Komposition Goethes gewinnt ihre innere Wahrheit aus dem - nicht mechanischen, nicht schematischen - Zusammenfallen der Entwicklungs­ probleme von Individuum und Gattung. Der Dichter Goethe geht vom Indi­ viduum Faust aus, und jeder Schritt, den das Werk macht, muß sich von hier aus bewahrheiten, sonst ist die Einheit der Einzelperson zerrissen. Aber der dialektische Gang innerhalb der einzelnen Entwicklungsstadien, ihre Auf­ einanderfolge, die als überflüssig oder selbstverständlich übersprungenen Zwischenetappen, dieser dialektische Gang geht schon über das Individuum hinaus und trägt seine Wahrheit in der historisch-sozialen, in der anthropo­ logischen Entwicklung der Gattung selbst. Aus dieser zur künstlerisch-organischen Einheit gebrachten dialektischen Zwei-Einheit von Individuum und Gattung entsteht die Phantastik der Handlungskomposition. Die Gesamthandlung bleibt zuweilen beharrend, wo das Individuum ungeduldig an den Kerkerstäben der schlechten Gegenwart rüttelt ; sie stürmt mit Siebenmeilenstiefeln, wenn die Entwicklung der Gat­ tung einen Sprung tut. So erleben wir auch im » Faust« eine ebenso phan­ tastisch sprunghafte, subjektiv-objektive Zeit und Zeitabfolge wie in der » Phänomenologie« . Goethe ist sich dessen auch bewußt. Bei Herausgabe des Helena-Fragments ( 1 8 2 6) schreibt er an Wilhelm von Humboldt : » Ich habe von Zeit zu Zeit daran fortgearbeitet, aber abgeschlossen konnte das Stück nicht werden als in der Fülle der Zeiten, da es denn jetzt seine volle 3 000 Jahre spielt, von Trojas Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Dies kann man also auch für eine Zeiteinheit rechnen, im höheren Sinne ; die Ein­ heit des Orts und der Handlung ist aber auch im gewöhnlichen Sinn aufs ge­ naueste beobachtet. « Diese Phantastik hat gerade in Goethes Realismus ihre Wurzeln. Goethe übersteigert das Gattungsmäßige nie, er läßt es nie zu einem selbständigen Wesen gegenüber dem Individuum erstarren, noch die Besonderheit der Ein­ zelfiguren überdecken. Die Realität der Menschengattung betrachtet Goethe nüchtern und realistisch. Er sagt : »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht. « Und gerade zur Zeit der Arbeit am » Faust« schreibt er an Schiller, daß die Natur

Anhang » deswegen unergründlich ist, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, ob­ gleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte«. Die Phantastik des Gattungsmäßigen, die auf dieser weltanschaulichen Grundlage entsteht, dient dazu, ein reales, aber von jeder naturalistischen Kleinlichkeit befreites Milieu zu schaffen, indem aus der phantastischen Situation und aus den durch sie erhobenen individuellen Charakteren sich die Erhebung der Probleme auf die Höhe und Typik des Gattungsmäßigen zwanglos ergibt. So ist der Gang der dichterischen »Phänomenologie« der menschlichen Gat­ tung in Fausts individuellem Bewußtsein und Schicksal frei, bewegt, fern von pedantischer Logik, von pedantischer »Komplettheit«, ungebunden und romantisch schwebend, balladesk Zwischenstufen überspringend, zugleich aber von tiefer historischer und sozialer Notwendigkeit und gerade darum menschlich echt : Individualität und Gattung gleicherweise umspannend. Goethe nennt den »Faust« eine Tragödie. Er ist in Wirklichkeit mehr als das : er ist die gleichzeitige Setzung und Aufhebung des Tragischen. Das indivi­ duelle Schicksal Fausts umfaßt mehr als eine Tragödie (Erdgeist, Gretchen, Helena, Schluß), aber für den Entwicklungsweg der Gattung ist jede von ihnen nur ein Durchgangsstadium. Diese Stellung des reifen Goethe z um Tragischen wurde oft - zuweilen sogar von ihm selbst - mißverstanden. Er schreibt gelegentlich an Schiller, daß die Tragödie ein »pathologisches Inter­ esse« voraussetze, und er sei überzeugt, daß » ihn der bloße Versuch « , Tragi­ sches zu gestalten, »Zerstören könnte« . Schiller erkennt in diesem Fall das Wesen Goethes besser als er selbst. »In allen Ihren Dichtungen«, schreibt er, »finde ich die ganze tragische Gewalt und Tief� , wie sie zu einem vollkom­ menen Trauerspiel hinreichen würde ; im Wilhelm Meister liegt, was die Empfindung betrifft, mehr als eine Tragödie. « Und er sagt zusammenfas­ send, wenn Goethe keine Tragödie schreiben könne, » so müßte der Grund nicht in den poetischen Erfordernissen liegen«. Jahrzehnte später, beim Ab­ schluß des zweiten Teils, ist sich Goethe über seine Stellung zum Tragischen bereits viel klarer. Er schreibt an Zelter, daß ihm » das Unversöhnliche ganz absurd vorkomme« und daß deshalb » der rein tragische Fall ihn nicht interessiere«. Hier ist der philosophische Standort des Weltgedichts schon bewußt fest­ gelegt. Goethe ist gleich weit entfernt von der falschen Tiefe, von dem ein­ seitigen Pessimismus des 1 9 . Jahrhunderts (der zuweilen die Aufschrift Pan­ tragismus führt) wie von dem flachen Optimismus der liberalen Literatur und Philosophie derselben Zeit, die die Notwendigkeit des Tragischen überhaupt leugnen oder bestenfalls subjektivieren wollte. Goethe und Hegel sehen hier

Faust-Studien

5 49

gerade das Problem von Gattung und Individuum. Der Weg der Gattung ist untragisch, er führt aber durch unzählige, objektiv notwendige, individuelle Tragödien. Goethe wie Hegel besitzen die Überzeugung der Aufklärung, daß das Men­ schengeschlecht grenzenlos vervollkommnungsfähig ist, wenn es sich einmal aus den mittelalterlichen Fesseln befreit hat. Diese Überzeugung haben beide unzähligemal ausgesprochen. Wir erinnern nochmals an Goethes Ausspruch bei Valmy und an die Stelle, die in Hegels Philosophie die » herrliche Mor­ genröte« der Französischen Revolution einnimmt. Aber dieser Aufklärungs­ glaube an den Fortschritt des Menschengeschlechts erhält bei ihnen eine wesentliche Abwandlung und Eigenart durch die historischen Ereignisse, die sie durchlebt haben. Die konkreten Widersprüche der aus der Französischen Revolution hervorgehenden kapitalistischen Gesellschaft rücken in den Mit­ telpunkt ihrer Weltwahrnehmung und ihres Weltdenkens. Diese Wider­ sprüche wollen sie nun weder verschmieren oder abschwächen noch ihren dissonanten Charakter als letztes Prinzip der Geschichte anerkennen. Damit ist der denkbar höchste bürgerliche Standpunkt zum Fortschritt der Mensch­ heit errungen, erst den sozialistischen Utopisten, wie Fourier, ist ein anderer, höherer Standpunkt zu den Widersprüchen der vorsozialistischen Zeit, ins­ besondere zu denen des Kapitalismus, möglich. Diese Auffassung bedingt für Goethe und Hegel die Verschiedenheit der Be­ trachtung von individuellem Geschick und Gattungsschicksal. Gegenüber dem ersten sind sie beide von einer großartigen Unsentimentalität. Goethe sagt gelegentlich zu Eckermann (dies die ergänzende, andere Seite des eben zitier­ ten Zelter-Briefs) : »Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außer­ ordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter von­ nöten . . . « Hegel drückt den gleichen Gedanken in seiner Geschichtsphilosophie so aus : »Das Besondere hat sein eigenes Interesse in der Wel tgeschichte ; es ist etwas Endl iches und muß als solches untergehen. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Aber im Kampfe, im Untergang des Besonderen resultiert das Allgemeine.« So ent­ steht für Goethe wie für Hegel der unaufhaltsame Fortschritt der Menschen­ gattung aus einer Kette von individuellen Tragödien ; die Tragödien im Mikrokosmos des Individuums sind das Offenbarwerden des unaufhaltsamen Fortschritts im Makrokosmos der Gattung : dies ist das gemeinsame philoso­ phische Moment im » Faust« und in der »Phänomenologie des Geistes«. Au s der dichterischen Gestaltung einer solchen Wechselwirkung zwischen

Anhang

5 50

Individuum und Gattung entsteht die balladeske Phantastik als adäquat poetisches Ausdrucksmittel dieser widerspruchsvollen Einheit. Das wurde von den meisten Auslegern inhaltlich wie formal mißverstanden, vor allem von F. Th. Vischer, der stets - kantianisch - an Übergänge und Entwicklungs­ etappen, die vom Gattungsstandpunkt über ein solches Niveau hinausgehen müssen, den Maßstab der rein individuellen Moral anlegte. So bemängelte er den Anfang des zweiten Teils, wo Ariel und die Elfen, das Moraljenseitige der Natur und des naturhaften Ablaufs der Menschenentwicklung symboli­ sierend, Faust über die Gretchen-Tragödie hinweghelfen : Ob er heilig, ob er böse, Jammert sie der Unglücksmann. Vischer fehlt hier -die Gestaltung der Reue bei Faust. Goethe hat sie aber im Lauf der Gretchen-Tragödie wiederholt mit großer Stärke gestaltet : in der Szene »Trüber Tag « ; in Fausts Versuch, Gretchen zu retten; im Scheitern dieses Versuchs, der in dem verzweifelten Ausruf Fausts seinen Höhepunkt hat : »Oh, wär' ich nie geboren ! « Vischer übersieht ebenso, daß die Gretchen-Tragödie nur den Gipfel der tragischen Widersprüche in der Etappe des »Lebensgenusses«, der » kleinen Welt« bil det; er übersieht, daß gerade eine gattungsmäßige Entwicklungs­ notwendigkeit das Hinausgehen über diese ganze Welt erfordert. Dieses Hinausgehen ist nicht nur für Gretchen, sondern auch für Faust selbst tra­ gisch (worüber wir später ausführlich sprechen werden) , für das Schicksal der Gattung jedoch ist - unbekümmert um die individuellen Tragödien gerade ein solches Weitersehreiten notwendig. Eben in dieser Notwendigkeit steckt eine tiefere Tragödie Fausts als die der bloß individuell moralischen Reue, wie sie Goethe im Weislingen, Clavigo usw. behandelt hat. Vischers Einwand will Faust auf das Niveau Weislingens herunterzerren. Es ist also nur folgerichtig, daß die Gestaltung der »großen Welt« , des » Taten- und Schöpfungsgenusses« mit der phantastischen Szene Ariels und der Elfen einsetzt, in der dieses überindividuelle, übermoralische Erheben der Gattung über das individuelle Schicksal mit großer poetischer Deutlichkeit ausgesprochen wird. (Es ist interessant, daß in den ersten Entwürfen Goethes noch individuell-moralische Probleme auftauchen, diese aber während der Arbeit entfernt werden.) Die phantastische Gestaltung des » Faust« ist aber darüber hinaus historisch. Und zwar in einem sehr weiten und freien Sinn : es ist der Historismus einer

Faust-Studien

551

Volkssage, die selbst in ihren kühnsten empirischen Unwahrscheinlidikeiten nie den realen Boden der Geschichte verläßt, die nur ihre wesentlichen Be­ stimmungen lyrisch, pathetisch oder satirisch vergrößert, ohne damit jemals das echte Zeitkolorit abzustreifen. Goethes dichterische Arbeit, so sehr sie sich im einzelnen von der Sage entfernt, viele ihrer überlieferten Momente ins Gegenteil verkehrt, setzt hier die Arbeit des Volkes an einer großen, sein Schicksal repräsentierenden Gestalt fort ; sie verstärkt die sagenschaffende historische Volksphantasie, rettet sie hinüber in die Dichtung und verewigt sie. Denn Goethes Änderungen an der Sage sind zumeist Reinigungen von ihren orthodox-lutheranischen Verzerrungen, von den so in ihr entstandenen Schlacken. Deshalb sind nicht nur die realen Personen des Dramas, wie \Vag­ ner, Valentin usw., von einer tiefen historischen Echtheit, sondern auch Mephistopheles ist ein gotisches Gespenst des 1 6. Jahrhunderts : Im Nebelalter jung geworden, Im Wust von Rittertum und Pfäfferei . . . Diese historische Phantastik hat aber in der »kleinen« und in der »großen Welt« verschiedene Funktionen. Goethe hat sich zu Eckermann über diesen Stilunterschied zwischen dem ersten und zweiten Teil klar geäußert : »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv ; es ist alles aus einem befangeneren, leiden­ schaftlicheren Individuum hervorgegangen . . . Im zweiten Teil aber ist fast gar nichts Subjektives ; es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leiden­ schaftslosere Welt . . . « Im ersten Teil haben wir - trotz der Rolle des Mephistopheles - eine ganz geschlossene, historisch echte Welt der Wirklichkeit vor uns, in die, ziemlich deutlich geschieden, das Phantastische hineinspielt, teils in besonderen, auf Phantastik angelegten Szenen (Hexenküche, Walpurgisnacht), teils infolge eines Hinüberwachsens realistischer Genrebilder ins Gespenstische (Auerbachs Keller). Aber die Grundlage bildet eine realistische Darstellung des deut­ schen 1 6. Jahrhunderts wie im »Götz « , nur aufgeregter, dramatischer, poetisch gehobener. Die Goethesche Objektivität der »großen Welt« verträgt einen so gearteten Realismus nicht mehr. Gestaltet werden nunmehr die wesentlichen, typischen Bestimmungen und nur diese. Der Realismus Goethes erstrebt hier eine Dar­ stellung, in der ein solches Milieu, das als gegeben und wirklich gestaltet wird, ein reales Gegenspiel zu den Handlungen des Individuums Faust ergeben kann. D arum ist hier - bei aller inhaltlichen historischen Wahrheitstreue -

Anhang

5 52

von Phantastik durchtränkt : es gibt keine Grenze mehr zwischen real und gespenstisch ; es steht eine gespenstische Wirklichkeit vor uns. Diese Gestaltungsweise ist mit der Objektivität, mit dem Vorherrschen des Gattungsschicksals eng verknüpft. Der naive Historismus des ersten Teils schlägt um in einen reflektierten Historismus, die unmittelbare Geschichte in eine erlebte Geschichtsphilosophie. Dieser Wandel bestimmt nun Aufbau, Ton und Stil. Der erste Teil ist ein balladeskes Drama, vielfach im Stil des » Sturm und Drang«, aber stets etwas unmittelbar Dramatisches. Im zweiten Teil ist auch das Dramatische reflek­ tiert. Das bedeutet keine Verwandlung ins Epische, denn der zerfallende Feudalismus des 1 6 . Jahrhunderts (der Periode des Götz) erscheint vor uns als dramatisch bewegte Gegenwart, als Komplex vor uns handelnder Men­ schen, nicht aber als Bericht über etwas Vergangenes seitens eines gegenwärti­ gen Erzählers. Doch die spätere Entwicklung (das Heute Goethes) durch­ leuchtet die dichterisch heraufbeschworene Gegenwart des 1 6. Jahrhunderts und macht sie transparent. Nicht etwa, indem soziale Kategorien oder Empfindungen der Goetheschen Gegenwart in sie hineingetragen würden, sondern indem die nur vom Standort der fortgeschrittenen Geschichte aus sichtbare Auflösung des Feudalismus bereits den offenen Charakter ihrer Gespensterhaftigkeit zeigt: die unmittelbar gestaltete Gegenwart ist also die der historisch richtig gesehenen Götz-Periode. Diese wird jetzt nicht mehr vom Standpunkt der aufständischen Ritter gesehen, sondern aus einer weiten historischen Perspektive, in der auch die Lieblingshelden der Goetheschen Jugend als Auflösungserscheinungen, als Gespenster unter Gespenstern er­ scheinen. Die Gesamtheit der gestalteten Gege nwart offenbart so Bestim­ mungen, die an sich zwar schon damals vorhanden waren, die aber erst die spätere Geschichte für uns sichtbar und leuchtend gemacht hat. Darum ist das historische Fundament des zweiten Teils (1. und IV. Akt) ein grotesker Totentanz, in dem - wie in den alten Totentänzen - nicht bloße Indivi­ duen, sondern soziale Typen auftreten, ein Totentanz, in dem die Menschen selbst als Gespenster erscheinen, so daß Mephistopheles mit vollem Recht

alles

sagen kann : Hier braucht es, dächt' ich, keine Zauberworte, Die Geister finden sich von selbst zum Orte. Auch die Verteilung dieses Materials auf zwei Akte ist nicht zufällig oder nur technisch bedingt. Es handelt sich vielmehr um den geschichtsphilosophi­ schen Rhythmus, um den gesellschaftlich-menschlichen Inhalt des zerfallen-

Faust-S tttdien

553

den Mittelalters . Im ersten Akt wird diese gespenstische Welt, der Goethe dann im dritten das echte Zeitalter der Ritterlichkeit, der Entstehung der neuen Poesie, der Entdeckung der individuellen Liebe und der Menschen­ würde der Frau gegenüberstellt, ideologisch durch den Geist der Antike ge­ sprengt. Im vierten Akt entsteht in historisch richtiger Weise als feudal privi­ legiertes » Intermundium« im Schoß des Feudalismus dessen wirklicher Totengräber, der Kapitalismus . Die ideologische Sprengung hat aber eb enfalls ihre realökonomische und von Goethe richtig erfaßte Vorgeschichte : die Erfindung und Einführung des Papiergeldes durch Mephistopheles. (Warum hier dieser und nicht, wie bei der kapitalistischen Entwicklung der Produktivität, Faust selbst der Initiator ist, darüber werden wir später ausführlich sprechen.) Die tiefe Einsicht Goethes zeigt sich darin, daß das Chaos des sich zersetzenden Feudalismus durch die Vorherrschaft des Geldes - das Papiergeld ist hier nur ein sichtbares Symbol für das Geld überhaupt - ohne Umwälzung der ökonomischen und sozialen Produktionsbedingungen nur größer werden kann ; die Herrschaft des Geldes beschleunigt nur den Verfall des Feudalismus. Sogar der Kaiser muß nach dem ersten Rausch über die Wirkung des Papiergeldes feststellen : Ich merk' es wohl, bei aller Schätze Flor : Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor. Und der vierte Akt zeigt ein weiteres höheres Stadium der Auflösung : aus dem Kampf aller gegen alle, aus den Bürgerkriegen des ausgehenden Mittel­ alters, entsteht jener Zustand der Erstarrung, den Deutschland nach der Nie­ derlage des Bauernkriegs, nach dem Dreißigjährigen Krieg durchleben mußte - die Macht der zu kleinen Fürsten gewordenen einstigen Vasallen bei einer bloß dekorativen Zusammenfassung der zerrissenen und ohnmächtigen Nation im Kaisertum. Inmitten dieser Auflösung leuchtet die antike Schönheit auf. Und zwar wie­ der zweimal : einmal gespenstisch, das zweitemal als Realität. Das Zitieren der Helena hat Goethe aus der Sage übernommen, jedoch nahm er hier die geistig weitestgehende Umänderung vor. In der Sage wird Helena von Mephistopheles als teuflisches Gespenst zitiert; ihr Erscheinen und ihr Zu­ sammenleben mit Faust bedeutet für diesen den Gipfel seiner » epikureischen« Ausschweifungen. Die Helena-Episode der Sage ist also, in den uns überlie­ ferten Fassungen, ein wichtiges Moment des Kampfes der Lutherisd1en Re­ formation gegen den Geist der Renaissance.

Anhang

554

Goethe kehrt nun dieses Verhältnis vollständig um. Die Gedanken der Refor­ mation selbst, die Bestrebungen der im damaligen Deutschland entstehenden halbmystischen Naturphilosophie sind auf der Stufe des zweiten Teils längst überwunden. Helena bedeutet für Goethe wirklich die Wiedergeburt der An­ tike, durch die die mittelalterliche Gespensterwelt als das, was sie ist, entlarvt wird, jene Wiedergeburt, deren allmählich aufsteigendes und erstarkendes Licht das Reich der Finsternis endgültig verscheucht. Darum ist es sehr wichtig, daß - in schroffem Gegensatz zur Sage - Helena beide Male von Faust ins Leben gerufen wird . Schon das erstemal, als nur ihr Schatten beschworen werden soll, kann Mephistopheles nur Ratschläge erteilen und Faust auf die Schwierigkeit der Aufgabe aufmerksam machen : Denkst Helenen so leicht hervorzurufen Wie das Papiergespenst der Gulden? Bei der wirklichen Wiedererweckung Helenas ist Mephistopheles em ohn­ mächtiger und unbeteiligter Zuschauer, und es wird wiederholt ironisch unter­ strichen, daß er als mittelalterliches Gespenst n ichts mit der Antike zu tun hat und auch nichts zu tun haben kann. Zuerst wird also Helenas Schatten beschworen, und zwar zu einer Unter­ haltung der höfisch-feudalen Gesellschaft, die Paris und Helena zu sehen wünscht. Goethe hebt mit großer Deutlichkeit den Gegensatz zwischen Faust und dessen ganzer mittelalterlicher Umgebung, Mephistopheles eingeschlos­ sen, in der Beziehung zu Helena hervor. Ihr Erscheinen ist für sie alle eine gleichgültig aufgenommene Zerstreuung unter den vielen anderen höfisd1en Belustigungen ; Paris und Helena werden vom Standpunkt der höfischen Schönheitsbegriffe bekrittelt ; » hübsch, wenn auch nicht eben fein« finden sie die Zuschauer. Die Wiedererweckung der Antike kann eben für den nieder­ gehenden feudalen Absolutismus nichts wirklich Befruchtendes, kein neues Element der Wirklichkeit bedeuten. Faust dagegen sieht schon im Schatten der Helena die aufsteigende langersehnte neue Realität : Hier faß ich Fuß ! Hier sind es Wirklichkeiten ! Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, Das Doppelreich, das große, sich bereiten ! So fern sie war, wie kann sie näher sein ! Ich rette sie, und sie ist doppelt mein . . . Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren.

Faust-Studien

555

Der Versuch Fausts, den Schatten Helenas zu erobern, endet mit einer Kata­ strophe. Im bewußtlosen Faust lebt nur die einzige Sehnsucht : zur wirk­ lichen Helena, zur Leben gewordenen antiken Schönheit zu gelangen. Die zweite Erscheinung Helenas soll gerade diese Realität im Gegensatz zur Schattenhaftigkeit der ersten gestalten. Goethe h at an diesen Übergängen sehr lange mit vielfach gewechselten Ent­ würfen gearbeitet, damit, wie er an Zelter schreibt, » Helena « als dritter Akt sich ganz ungezwungen anschlösse und, genugsam vorbereitet, nicht mehr phantasmagorisch und eingeschoben, sondern in ästhetisch-vernunftgemäßer Folge sich erweisen könnte« . Was ist nun dieses ästhetisch Vernunftgemäße? Goethe stellt sich die Aufgabe, zu zeigen : erstens, daß Helena, die antike Schönheit, nicht als Zauberei, als Blendwerk vorgegaukelt wird, sondern wirklich naturhaft entstanden ist, zweitens, daß sie für das Leben der Gegen­ wart das geistig-menschliche Fundament, den Ausgangspunkt für das wirk­ lich fruchtbare Neue bildet, und endlich drittens, daß sie - aus eben den gleichen Gründen - zugleich vergangen und gegenwärtig ist. Die klassische Walpurgisnacht, die diese Bestimmungen entwickelt, ist deshalb keine sym­ bolisch-phantastische Episode, wie es die mittelalterliche im ersten Teil war, in der Mephistopheles den vorübergehenden Erfolg erringt, Faust durch wüste Sinnenausschweifungen von der Gretchen-Tragödie abzulenken, sondern sie ist die organische, ideell-ästhetische Vorbereitung der realen Erscheinung Helenas. (Dies mit den oben angedeuteten Einschränkungen verstanden.) Die klassische Walpurgisnacht drückt demgemäß die » phänomenologische« Entwicklungsgeschichte der Gattung am klarsten aus. Sie ist subjektiv der Weg Fausts zu Helena, zugleich aber objektiv die Entwicklung der griechi­ schen Schönheit aus ihren primitiven, noch bloß naturhaften, teilweise orien­ talischen Anfängen. Dies im einzelnen nachzuweisen, wäre die Aufgabe eines ausführlichen Kommentars. Goethes ursprünglicher Plan war, daß Faust in die antike Unterwelt hinabsteigt und von Proserpina die Wiedererweckung Helenas ins Leben als Gnade erwirkt. Später hat er diesen Plan geändert. Faust steigt zwar durch die Walpurgisnacht hinunter zu Proserpina, aber die Szene zwischen beiden wird uns nicht vorgestellt. Dafür erscheint am Schluß, aus dem organischen Spiel der Naturkräfte geboren, die siegreiche Schönheit Galateas. D er Weg von den Greifen, Sphinxen, Zwergen des Anfangs bis zum Triumphzug der meergeborenen Schönheit: das ist die Erfüllung des Goethe­ schen Programms in dem oben zitierten Brief an Zelter. Wenn nun Helena im dritten Akt leibhaftig erscheint, ist ihre Gegenwart nicht mehr das Ergebnis einer Zauberei, sondern das Resultat jenes Naturprozesses, den wir in der

Anhang klassischen Walpurgisnacht erlebt haben. Ist einmal die Schönheit naturhaft ge­ boren, so ist Helenas Erscheinen kein größeres Wunder als die Geburt G alateas. Der Inhalt der Helena-Szenen ist die Geburt des Neuen, des spezifisch Mo der­ nen aus der Aneignung der Antike durch die Menschheit, die sich aus dem Mittelalter befreit. Helena ist jetzt real, kein Phantom mehr - aber was für eine Realität hat sie? Schon die klassische Walpurgisnacht schwankt zwischen Traum und Wirklichkeit und hat eine »phänomenologisch«-phantastische Zeitfolge. Sie beginnt bereits mit dem Ende der antiken Freiheit : der - nach Winckelmann und auch Goethe - Grundl age der griechischen Harmoni e und Formvollendung. Wenn also nach dem Untergang der wirklichen Antike, lange nach der Schlacht bei Pharsalos, auf dem Schlachtfeld, wo der antike Republikanismus endgültig zugrunde ging, der Prozeß der Entstehung der antiken Schönheit vor unsern Augen dramatisch rekapituliert wird, so schwankt dieser Vorgang notwendig zwischen Traum und Wirklichkeit und seine Akteure zwischen wirklichen Gestalten und Erinnerungsphantomen . Die Realität der Helena-Szenen ist also nur eine dünne Oberfläche der er­ scheinenden, der zu Gestalt gewordenen antiken Schönheit, ein Schleier, hin­ ter dem vergangene und noch ungeborene Kräfte um die Zukunft der Mensch­ heit streiten. Helena tritt zwar mit der Würde und Majestät einer wirklichen Königin auf, gegenwartserfüllt, der unwiderstehlichen Macht ihrer Schönheit sicher; wenn aber Mephistopheles-Phorkyas sie in einem Wortduell an die eigene Vergangenheit erinnert, an die verschiedenen, einander teilweise widersprechenden Sagen, aus denen sie zu dieser unvergleichlichen symboli­ schen Gestalt zusammengewoben wurde, wird ihr das eigene Dasein unheim­ lich, schemenhaft, irreal : Ich als Idol ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. Noch deutlicher kommt diese Stimmung der Irrealität am Anfang der Euphorion-Szene zum Ausdruck. Die Tragik der Tendenzen Euphorions ist nod1 nicht zutage getreten, alles scheint noch schön und hoffnungsvoll, als Faust bereits das deutliche Gefühl einer sich notwendig auflösenden Traumwelt hat : Wäre das doch vorbei ! Mich kann die Gaukelei Gar nicht erfreun.

Faust-S tu dien

5 57

Aber diese Irrealität hat einen völlig entgegengesetzten Charakter wie die am kaiserlichen Hof. Hier eine empirische Wirklichkeit, die aus innerer Verfault­ heit gespentisch phosphoresziert - dort das ideell Höchste eines jahrhunderte­ langen Ringens der modernen Menschheit um Licht, Klarheit und Schönheit ; das erhabenste Ideal der Wirklichkeit als wirklich gesetzt, aber nur gesetzt, nicht empirisch wirklich seiend. Und eben deshalb von der Wirklichkeit wie­ der aufgehoben, zerstört. Diese Zerstörung ist die Funktion der Euphorion-Szene. über die I dentität oder Nicht-Identität Euphorions mit Byron ist sehr viel geschrieben worden. Ohne Frage gab Byrons Tod bei Missolunghi den Euphorion-Szenen die end­ gültige Kristallisationsform. Aber die bloße philologische Erklärung dieser Gestalt durch Rückbeziehung auf Byron erklärt den geschichtsphilosophischen und poetischen Gehalt der Szenen nicht hinreichend. Dazu muß man im Auge behalten, wie Goethe Byron gesehen, weshalb er in ihm den Repräsentanten je­ ner neuen Zeit erblickt hat, die über die Erneuerung der Antike hinwegschrei­ tet und einer neuen, von neuen Tragödien erfüllten Zukunft entgegenführt. In einem Gespräch mit Eckermann sagt Goethe : »Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen sol­ chen mußte ich haben.« (Es ist also jede Erklärung falsch, die hier eine Ver­ söhnung zwischen Klassik und Romantik sucht.) Noch konkreter spricht Goethe in einem früheren Gespräch aus, wie er diese nicht antike und nicht romantische Modernität Byrons auffaßt. Er formuliert Byrons » Symbolum« so : » Viel Geld und keine Obrigkeit. « Er sieht also in ihm den größten Ver­ treter eines liberal-anarchistischen Individualismus, den ideologischen Reprä­ s entanten des entstehenden kapitalistischen Zeitalters, das die letzte Renais­ sance der Antike, die Periode Goethes und Napoleons, ablöst. Goethe empfindet sehr stark, daß dieses neue Zeitalter nicht mehr das seiner eigenen dichterischen Blüte ist. Er empfindet aber ebenso deutlich, daß hier etwas Berechtigtes, Fortschrittliches, in geschichtsphilosophischem Sinn zu Be­ jahendes vor ihm steht. Darum verteidigt er Byron stets gegen die philiströ­ sen Einwände Eckermanns, der bestreitet, daß Byron für die »reine Men­ schenbildung« gewinnbringend sei. »Da muß ich Ihnen widersprechen«, sagt Goethe, »Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden. « D iese Gestalt, das Symbol des heraufziehenden neuen Zeitalters, sprengt die klassische Traumwelt, ebenso wie die antike Schönheit die mittelalterliche Gespensterwelt gesprengt hat.

Anhang

Schon vor dem Auftreten Euphorions sagt Phorkyas-Mephistopheles : Macht euch schnell von Fabeln frei ! Eurer Götter alt Gemenge, Laßt es hin, es ist vorbei. So steht in Euphorion die Ideologie der neuesten Zeit fertig da, wenn auch in einer tragisch unterliegenden Form, aber in einer Weise, daß aus einem Unter­ gang notwendig wieder neue Aufschwünge folgen müssen, daß die unter­ gehende Gestalt vom selben Boden, der sie hervorgebracht hat, immer wieder neu reproduziert werden muß. Darum schließt der Klagegesang des Chors über Euphorions tragischen Tod mit den Worten : Wem gelingt es? - Trübe Frage, Der das Schicksal sich vermummt, Wenn am unglückseligsten Tage Blutend alles Volk verstummt. Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt : Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt. Diese Konzeption ist tief und großartig. Ihr spezifisch Goethescher Charakter liegt darin, daß die Erneuerung der Antike mit einer gewissen Einseitigkeit nur von der ästhetisch-sittlichen Seite genommen wird, als Gewand der letz­ ten » heroischen Illusionen« ; die Antike des revolutionären Terrors und auch die der ganz anders gearteten Napoleonischen Periode fehlt in diesem symbo­ lisch gestalteten Goetheschen Geschichtsbild, obwohl es objektiv ohne diese historische Entwicklung unmöglich seine philosophische und poetische Höhe hätte erreichen können. Goethe ist in dieser Frage weit weniger entschieden als der späte Hegel, für den die Französische Revolution als Vergangenheit, als notwendiges Kettenglied der historischen Dialektik unentbehrlich war ; in der »Phänomenologie« ist die Französische Revolution sogar das unmittel­ bare Fundament der Gegenwart, der anbrechenden neuen Zeit. Goethe hat den sozialen und politischen Inhalt der Französischen Revolution stets be­ jaht, und seine Bejahung nimmt mit dem Alter immer entschiedenere Formen an, aber den politisch-revolutionären Weg der Umwälzung lehnt er immer ab. Darin bleibt er bis an sein Lebensende Sohn der Aufklärung. Es sei aber

Faust-Studien

5 59

hier nicht vergessen, daß die in ihrer Zukunftsperspektive viel entwickelteren französischen Erben der Aufklärung, die großen Utopisten, den politisch­ revolutionären Weg ebenfalls immer als ungangbar und schädlich bezeichnet haben. Demnach kommt Goethes positive Stellungnahme zum Inhalt der Französischen Revolution im » Faust« nur gelegentlich und indirekt zum Aus­ druck, so in der Walpurgisnacht des ersten Teiles, wo die französischen Emi­ granten, die verschiedenen Sorten der Ci-devants, in der verachtungsvollsten Weise verspottet werden, so gelegentlich in den Euphorion-Szenen, so, wie wir später sehen werden, als Perspektive im letzten Monolog Fausts. Darum fehlt in dem Geschichtsbild des zweiten Teils das politische Handeln. Es ist selbstverständlich, daß Faust am kaiserlichen Hof überhaupt nicht handeln kann. Die hinterlassenen Fragmente zeigen das noch schärfer als der Text selbst. In einem Entwurf läßt Goethe seinen Faust dem Kaiser hochflie­ gende Pläne vortragen. Der Kaiser hört ganz verständnislos zu. Als Mephi­ stopheles bemerkt, daß die Lage vollkommen unhaltbar wird, nimmt er die Gestalt Fausts an, schwatzt allerhand Unsinn, worauf Kaiser und Hof von der Tiefe und Großartigkeit des neuen Zauberers entzückt sind. Und gar als Faust nach dem Verschwinden der Antike ins Leben zurückkehrt, interessiert ihn nur der ökonomisch-technische Kampf der Unterwerfung der Natur. In den vorbereitenden Szenen zu dieser letzten Etappe fällt der menschlich resignierende Ton Fausts auf. Er lehnt jeden Genuß ab : »Genießen macht gemein.« Er kümmert sich um keinen Ruhm : »Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« Goethe läßt sogar Mephistopheles die Verführungsszene Christi durch den Satan parodieren und dem Faust »die Reiche der Welt und ihre Herrlich­ keiten« anbieten, doch Faust lehnt ab und will nichts als ein Tätigkeitsfeld für seine neuen Pläne. Auch hier sind einzelne Fragmente deutlicher als das Werk selbst; in einem kommt es sogar zum Bruch mit Mephistopheles. Diese Auffassung der gesellschaftlichen Praxis durch den alten Goethe ist in der Faustliteratur vielfach kritisiert worden, vor allem durch F. Th. Vischer, der sogar einen Plan entwirft, wie Goethe den zweiten Teil hätte schreiben müssen. Er fordert Fausts Teilnahme am Bauernkrieg, und zwar als Libera­ len, der alle »Greuel « der Revolution vermeiden will ; Mephistopheles jedoch, mit dem Faust schon früher gebrochen hat, soll sich in die aufständische Be­ wegung einschleichen, sie als »Radikaler« auf die Spitze treiben, »Exzesse« verursachen, die Faust zwar nicht will, für die er aber verantwortlich ist. Die Reue darüber soll die Läuterung Fausts hervorrufen. Abgesehen von der sub­ jektivistisch moralisierenden Enge dieser Auffassung - wir haben gesehen, daß Goethe für den zweiten Teil solche Kategorien der bloß individuellen

5 60

Anhang

Moral, wie Reue, von vornherein ablehnt -, kommt darin eine liberale Ge­ schichtsphilosophie z� m Ausdruck, nach der die wirklichen Vertreter des mephistophelischen Prinzips die plebejischen Revolutionäre, die Münzer und Robespierre, gewesen wären. Bei allem Unverständnis für die Bestrebungen der konsequent revolutionären Demokratie steht Goethe turmhoch über einer solchen Auffassung. Ver­ wandte Stimmungen tauchen zwar gelegentlich in dem Jugendwerk »Götz von Berlichingen« auf, haben aber dort, da es sich um das Werk eines vor­ revolutionären Aufklärers handelt, noch eine ganz andere Bedeutung. Das Vischersche Ideal ist in Klingers » Faust« verwirklicht worden, in dem die Enttäuschung, das Irrewerden eines Stürmers und Drängers an der Französi­ schen Revolution deutlich zum Ausdruck kam. Goethe konnte unmöglich den Weg der demokratischen Revolution suchen, aber man findet in seinen ent­ scheidenden Werken auch niemals einen reaktionären oder liberalen Kampf gegen sie. Der geniale Ausweg, den er findet und der selbstverständlich un­ möglich von utopischen Elementen frei sein kann, ist eben der der Entwick­ lung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus. Es ist charakteristisch, d aß auch dieser Ausweg von Vischer mißbilligt wird. Er meint, Faust dürfe durch eine praktische Tätigkeit die Versöhnung h er­ beiführen, » aber nur nicht durch eine prosaisch-industrielle«. Der liberale Vischer, der zum Kapitalismus als Gesamterscheinung unvergleichlich positi­ ver und unkritischer steht als Goethe, kritisiert also - kleinbürgerlich­ romantisch - gerade das Großartigste am Schluß des » Faust« : das Entdecken eines neuen praktischen Heroismus, eines neuen. und tiefen tragischen Kon­ flikts mitten im Zentrum der kapitalistischen Prosa. Obwohl aber Vischer gerade an den dichterisch großartigsten Momenten des zweiten Teils achtlos vorübergeht, sieht er doch, trotz liberal-romantischer Voreingenommenheit, wenigstens den Tatbestand selbst richtig. Der reak­ tionäre Romantiker der imperialistischen Periode, Friedrich Gundolf, ist so tief empört über die Abwendung Goethes von seinem jugendlichen » Titanis­ mus«, daß er nicht einmal den Text des Schlusses richtig aufzunehmen im­ stande ist und meint, Faust trete am Schluß in einen » Staatsdienst« . Der Abschluß des zweiten Teils ist organisch aus der Gesellschaftsbetrachtung des alternden Goethe gewachsen. Wer dessen Aussprüche aus den letzten Jahrzehnten kennt, dem kommt dieser Schluß keineswegs überraschend. Goethe lehnt die unklaren I llusionen der Befreiungskriege ironisch ab, meint aber später, daß die guten Chausseen und die Eisenbahn notwendig die Einheit Deutschlands herbeiführen würden ; er interessiert sich leidenschaftlich für

Faust-Stu dien

jede neue technisch-ökonomische Errungenschaft des Kapitalismus und spricht einmal den Wunsch aus, noch die Schaffung des Donau-Rhein-Kanals, des Suezkanals und des Panamakanals erleben zu können. Hierher gehört auch die im damaligen Deutschland sehr seltene, neidvoll anerkennende Stellung zu dem beginnenden Aufschwung in den Vereinigten Staaten. Aus dieser Perspektive entsteht bei Goethe die Illusion, daß die politische Re­ volution bei einem so ungehemmten und großartigen Aufschwung der Pro­ duktivkräfte überflüssig werden könnte. Hier ist eine der wichtigsten Ein­ seitigkeiten und Schranken seiner Weltanschauung, die sich auch in seiner Naturphilosophie, in seiner Auffassung der Dialektik, in der Oberbetonung der Evolution, in der Ablehnung jeder »Katastrophentheorie« spiegelt. (Die Feststellung dieser Einseitigkeit soll aber nicht verhüllen, welch großen Schritt vorwärts die Naturphilosophie Goethes etwa gegenüber Cuvier bedeutet hat.) Und gerade diese Einseitigkeit ist bei Goethe am engsten mit seiner oft hervorgehobenen, einzigartigen Position verbunden, mit der spezifischen Art, in der er eine Brücke von der Aufklärung ins 1 9 . Jahrhundert schlägt. Ab er wie immer man diese Schranke Goethes auch kritisieren mag, sicher ist, daß die dichterische »Phänomenologie des Geistes« mit der realen Entwick­ lung der Produktivkräfte als j ener Macht schließt, die aus dem phantasmago­ rischen Dasein des Feudalismus in die Welt der wirklichen Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten, in die wirkliche Welt der menschlichen Tätigkeit führt. Der teuflische Charakter der kapitalistischen Form dieses Fortschrittes wird bei Goethe, wie wir weiter sehen werden, durch nichts beschönigt ; aber zugleich wird gezeigt, daß hier erst das echte Feld der menschlichen Praxis eröffnet wird. Auf die tragisch unlösbare Renaissancefrage des Anfangs, auf die Tragik der Erdgeist-Szene gibt erst dieser praktisch-prosaische Schluß die adäquate Antwort. Indem Goethe bei seiner Faust-Konzeption sich weniger an den Aufklärungsbegriff der Erkenntnis hält als Lessing, vielmehr stärker an die Renaissancetraditionen anknüpft, erhält er ein Sprungbrett zu der modernen, durch die Entwicklung der Industrie entfalteten Einheit von Theorie und Praxis. Freilich ist hier nur die Perspektive der Antwort vorhanden. Goethes Hori­ zont reicht über den Kapitalismus nicht hinaus. Seine tiefe denkerische und dichterische Ehrlichkeit führt deshalb zu einer Darstellung in nackten, unüber­ brückbaren Gegensätzen. Demnach ist die kapitalistische Praxis zwar die Er­ füllung von Fausts Lebenssehnsucht, aber zugleich und davon untrennbar ein neues, maximal-aktives Tätigkeitsfeld für Mephistopheles, nachdem dieser in den antiken Szenen fast zum bloßen Zuschauer herabgesunken war. So

Anhang erscheint die Gestalt dieser neuesten Zeit in zwiespältigen, widerspruchsvollen Formen. Einerseits haben wir die revolutionäre Jünglingshaftigkeit Eupho­ rions vor uns, anderseits Faust als hundertjährigen erblindeten Greis. Goethe empfindet, ohne hier zur begrifflichen historischen Klarheit gelangen zu kön­ nen, das kapitalistische Zeitalter zugleich als alt und jung, zugleich als Anfang und Ende. In allen diesen Komplexen sind die Widersprüche klar gestaltet, aber sie bleiben nicht nur unaufgelöst, sondern stehen einander so schroff dissonant gegenüber wie sonst nie bei Goethe. Die Perspektive der Lösung der tragi­ schen Widersprüche in Fausts letztem Monolog ist ausdrücklich eine bloße Zukunftsperspektive. Die hoffnungsvollen Worte Fausts stehen in schrillem Gegensatz zu der tatsächlichen Lage, in der sie gesprochen werden : Lemuren graben auf Mephistopheles• Anweisung das Grab Fausts, während er von großen produktiven Arbeiten träumt, die die Menschheit aufwärts führen. Die christlich-himmlische Transzendenz des letzten Abschlusses folgt, wie wir noch ausführlich sehen werden, gedanklich und ästhetisch notwendig aus die­ sen Endresultaten der Goetheschen Geschichtsphilosophie, aus der prinzipiel­ len Unlösbarkeit der Widersprüche des Lebens auf jenem realen Boden, der dem Denker und Dichter Goethe bekannt ist. Alle Kritiken also, die einen bloß irdischen Schluß verlangen, sind nur scheinbar radikaler, als Goethe es war ; im wesentlichen steht hinter ihnen eine flachliberale Weltauffassung : die Forderung, alle Widersprüche des kapitalistischen Lebens in der kapita­ listischen Gesellschaft selbst zur » Versöhnung« zu bringen. Goethes Ansicht ist unvergleichlich tiefer : er glaubt an einen unverderblichen Kern im Men­ schen, in der Menschheit und ihrer Entwicklung ; er glaubt an die Rettung dieses Kerns auch in (und vor allem trotz ) der kapitalistischen Entwicklungs­ form.

III

Faust und Mephistopheles

Der Kampf um den inneren Kern des Menschen ist der Gegenstand der eigentlichen Handlung des » Faust«, deren historisch-sozialen Rahmen wir bis jetzt skizziert haben. Dieser Kampf konzentriert sich in dem Duell Faust­ Mephistopheles. Was ist sein Gegenstand? Welche sind seine Hauptetappen? Mephistopheles spricht sein Programm im »Prolog im Himmel« klar aus : »Staub soll er fressen, und mit Lust. « Dies Programm gründet sich auf seiner Auffassung des Menschen und des menschlichen Gebrauchs der Vernunft :

Faus t-S tudien

Er nennt's Vernunft und braucht's allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. Damit ist Lebensanschauung und Richtung des Wollens klar umrissen. Die konkrete Durchführung - gerade hierin zeigt sich Goethes dichterische Tiefe - schillert in den verschiedensten Farben und läßt sich nie auf ein abstraktes Prinzip zurückführen. So entsteht aus Mephistopheles eine leben­ dige dichterische Gestalt, nidlt die b loße Verkörperung des bösen Prinzips. Darum sind alle Versuche, seine Gestalt zu » definieren«, müßig und irre­ führend. Viel wichtiger ist es, seinen Aktionsradius, sein Kraftfeld zu bestimmen. Sein Ziel ist, wie in der Sage, die Seele Fausts zu erringen. Aber in der k onkreten Durchführung zeigt sich die tiefe weltanschauliche Abwendung Goethes von der Sage. Diese ist noch weitestgehend mittelalterlich, sie geht aus von den selbständigen und scharf getrennten Prinzipien des Guten und Bösen im Kampf um die menschliche Seele. Auch das Traumstück Lessings behält Elemente dieser schroffen undialektischen Trennung der beiden kämpfenden Kräfte, nur daß Lessing, im Sinn der Blüte der Aufklärung, hier nur einen Scheinkampf sieht. Bei Goethe wird das Duell ganz innerlich. Mephistopheles besitzt nur inso­ fern Macht, als sein Wesen ein Moment der seelisch-h istorischen Entwicklung Fausts selbst bildet. Und die große dichterische Leistung Goethes besteht gerade darin, daß Mephistopheles trotzdem nicht zu einem bloßen Bestandteil der Innerlichkeit Fausts wird, sondern eine Gestalt von ausgeprägten, selb­ ständigen Konturen. Aber dadurch ist das Menschenjenseitig-Teuflische bei Mephistopheles bewußt eliminiert. (Aus diesem Grund fällt alles .i\ußerlich­ Magische aus der Sage bei Faust weg ; im Laufe der Arbeit wurde die Be­ seitigung immer energischer durchgeführt ; man vergleiche etwa die Szene »Auerbad1s Keller« im Urfaust und in der späteren Ausführung.) Ja, Goethe geht sogar so weit, daß Mephistopheles wiederholt sein eigenes Wesen als Teufel ironisch aufhebt und verleugnet (beispielsweise in der Hexenküche) oder ernsthaft ausspricht, daß der Weg Fausts zur Erlösung oder zur Ver­ dammn is nur von Faust selbst und gar nicht vom Teufel oder von teuflischen Einflüssen abhängt. So sagt er am Schluß seines großen Monologs nach der Zwiesprache mit Faust : Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben, Er müßte doch zugrunde gehn !

A nhang

Diese Tendenz zur Aufhebung der jenseitigen Gestalten wird von den Be­ kenntnissen Faust zu einer ausschließlich diesseitigen Welt, von einer Leug­ nung eines jeden Jenseits wirksam unterstützt. Im großen Dialog des Anfangs sagt Faust zu Mephistopheles ; Das Drüben kann mich wenig kümmern ; Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern, Die andre mag darnach entstehn . Aus dieser Erde quillen meine Freuden, Und diese Sonne scheinet meinen Leiden ; Kann ich mich erst von ihnen scheiden, Dann mag, was will und kann, geschehn. Davon will ich nichts weiter hören . . . Und noch entschiedener am Schluß des .zweiten Teils : Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe sich hier um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen ! Sowohl Faust wie Mephistopheles sind also im Grunde genommen Atheisten. Und man kann wieder sehen, wieviel Goethe aus der historischen Echtheit der Sage gewonnen hat. Faust kann mit solchen Worten jede Jenseitigkeit zer­ stören, die Handlung radikal ins Irdische konzentrieren, und doch verliert er nicht das historische Kolorit. Denn solche Gedanken entsprechen - trotz spezifisch Goethescher Färbung - dem Zeitalter eines Paracelsus, Giordano Bruno oder Baco von Verulam. Mit alledem ist aber bei Goethe die Sage auf einen Kampf um die Bewahrung und Fortentwicklung des humanen Kerns gegen die teuflischen, die satani­ schen Möglichkeiten im Menschen selbst verinnerlicht. In der Goetheschen Faustdichtung tritt Satan selbst nicht auf. Wohl aber in später weggelassenen Fragmenten zur Walpurgisnacht. Die dichterisch groß­ artigen Strophen, die Goethe dem Satan in den Mund gibt, zeigen dessen Wesen als nackte Goldgier und nackte Sexualität. Das Streben nach diesen beiden » höchsten Gütern« ist die Weisheit des Satans, also die reine, die

Fattst-S tudien absolute Vollendung dessen, was Mephistopheles in den von uns bereits zitier­ ten Worten als Gebrauch der menschlichen Vernunft charakterisiert. Mephi­ stopheles ist ein bloß untergeordneter Vertreter dieses Prinzips, aber gerade weil er in der Unterweltshierarchie tiefer als Satan steht, ist er vergeistigter und geistreicher als dieser. Er muß die teuflischen Prinzipien geistig so subli­ mieren, um mit Faust auf ein gemeinsames Aktionsfeld zu gelangen, um an die inneren Probleme Fausts, wenn auch oft nur äußerlich heranzureichen. Er muß also die satanische » Weisheit« in menschliche Sprache verdünnen. Nur auf diese Weise kann das mephistophelische Prinzip ein bewegendes Mo­ ment der Faustsehen (der Goetheschen) Innerlichkeit selbst werden. Darum konnte Goethe der Kritik Amperes zustimmen, der in Mephistopheles Goe­ thesche Züge entdeckte. Darum sind viele Repliken Mephistopheles' sachlich richtig, ja drücken tiefe Überzeugungen Goethes aus. Goethe kann Mephisto­ pheles beispielsweise im »Maskenzug« ( 1 8 1 8 ) auftreten lassen und eine seiner innersten Überzeugungen von ihm aussprechen lassen : Ich macht' ihm deutlich, daß das Leben Zum Leben eigentlich gegeben . . . So lang man lebt, sei man lebendig ! Nur die genaue Funktion im gegebenen, konkreten Entwicklungsstadium entscheidet darüber, ob ein Gefühl, ein Gedanke, eine Tat menschlich oder teuflisch ist. Ja, zuweilen läßt sich diese Entscheidung gar nicht aus dem isolierten Moment treffen, sondern nur aus der später sichtbar werdenden Richtung des Weges, der sich hier o ffenbart. Diese Dialektik ist die Grundlage von Goethes unerschütterlichem Zukunfts­ glauben an die Menschheit. Aus dem Kampf des Guten und Bösen entsteht die Entwicklungsrichtung nach vorwärts ; auch das Böse kann Vehikel des ob­ jektiven Fortschritts sein. Der berühmte Ausspruch des Mephistopheles über sich selbst : »Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, ist nur der prägnanteste Ausdruck dieser Goetheschen Welt­ anschauung. Freilich ist diese keineswegs eine Originalerfindung Goethes. Sie ist bei vielen Aufklärern, besonders bei jenen, die ein lebendiges Interesse für die spezifischen Seiten der kapitalistischen Entwicklung gehabt haben (Mandeville) , klar ausgesprochen worden. Zur Grundlage des neuen dialek­ tischen Fortschrittsglaubens nach der Französischen Revolution ist diese An­ schauung aber erst im »Faust« und in der Geschichtsphilosophie Hegels als »List der Vernunft« geworden.

5 66

Anhang

So entsteht ein Kampf mit ständig schwankenden Ergebnissen, eine ununter­ brochene Gefahr für Faust: im Bösen können Keime des Guten verborgen sein, aber zugleich kann im erhabensten Gefühl Satanisches stecken, oder es kann Satanisches daraus werden. Dieses Bala � cieren auf des Messers Schneide macht die innere Dramatik der Faustdichtung aus. Aber wie in j eder dramati­ schen, tragischen Weisheit entsteht aus diesem ständigen, gefahrvollen Schwanken kein Nihilismus : Goethe hebt den moralisch-sozialen Relativis­ mus dichterisch ebenso als Moment in die Gesamtdialektik auf, wie dies Hegel philosophisch tut. Es ist kein Zufall, daß diese neue Form der Dialektik des Guten und Bösen von den scharfsinnigsten Beobachtern der kapitalistischen Entwicklung zuerst wahrgenommen wurde. Die nackte Goldgier Satans ist etwas Breites und All­ gemeines, etwas, das für alle Klassengesellschaften gültig ist. Erst bei Mephi­ stopheles wird die spezifisch kapitalistische Bedeutung des Geldes als »Ver­ längerung« des Menschen, als seine Macht über Menschen und Umstände dar­ gestellt : Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, Als hätt' ich vierundzwanzig Beine. Der junge Marx hat die Bedeutung dieser Stelle für die Charakteristik des Kapitalismus erkannt. Er analysiert sie in seinen » ökonomisch philosophi­ schen Manuskripten« folgendermaßen : »Was du � ch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d. h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Gel­ des selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigen­ schaften des Geldes sind meine - seines Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet. Ich - meiner Indivi­ dualität nach - bin lahm ; aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das Gel d ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich überdem der Mühe, unehr­ lich zu sein ; ich werde also als ehrlich präsumiert ; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein ? Zudem kann er sich die geistreichen Leute kaufen, und wer die Macht über

Faust-Studien

die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche ! Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, be­ sitze ich nicht alle menschlichen Vermögen ! Verwandelt also mein Geld nicht alle Unvermögen in ihr Gegenteil ? « Betrachtet m an die magischen Wirkungen des Mephistopheles, insbesondere im ersten Teil, so hat man, dem Wesen nach, diese durch Marx analysierte zauberhafte Vergrößerung des menschlichen Aktionsradius durch das Geld vor sich. Im zwei ten Teil tritt, wie wir gesehen haben, Mephistopheles in den antiken Partien sehr zurück. In den anderen Szenen des zweiten Teils kon­ kretisiert s ich jedoch, entsprechend der Verwandlung der ganzen Szenerie in die der »großen Welt«, diese seine Rolle ins ausgesprochen Gesellschaftliche. So wird, wie wir bereits gesehen haben, Mephistopheles in der zerfallenden feudalen Welt zum Erfinder des Papiergeldes, des Symbols der Geldherr­ schaft über diese Verhältnisse überhaupt, die durch das Eindringen des Gel­ des ohne Umwälzung der Produktionsverhältnisse, ohne Entwicklung der Produktionskräfte zu einer beschleunigten Erstarrung und Verfaulung ge­ führt werden. Endlich erlangt Faust durch diese Magie des Mephistopheles sein Tätigkeits­ feld zur Unterwerfung der Natur unter die menschliche Praxis. Hier jedoch wird Mephistopheles wieder ein unabtrennbarer Genosse seines erhabensten Strebens. Durch Mephistopheles' Hilfe entsteht nicht nur das kapitalistische » Intermundium« im Feudalismus, sondern auch dessen Ausbreitung; seine Blüte ist dieser Hilfe des Teufels schuldig. Faust läßt einen Hafen bauen und entfaltet einen lebhaften Handel, dessen durchführendes Organ Mephisto­ pheles auf diese Weise ist : Das freie Meer befreit den Geist . . . D a fördert nur ein rascher Griff, Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff, Und ist man erst der Herr zu drei, D ann hakelt man das vierte bei ; D a geht es denn dem fünften schlecht, Man hat Gewalt, so hat man Recht. Man fragt ums Was, und nicht ums Wie. Ich müßte keine Schiffahrt kennen : Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

5 68

Anhang

Eine ähnliche Hilfe leistet er dem Faust, als diesem der idyllische Kleinbesitz von Philemon und Baueis zur Abrundung seiner Güter im Wege steht. Faust möchte die armen alten Leute entschädigen und anderswo verpflanzen. Sie willigen aber nicht ein, und so endet die von Mephistopheles und dessen Ge­ hilfen durchgeführte Enteignung mit Brand und Totschlag. überall kommen in der Hilfe, die Mephistopheles Faust leistet, und ohne die Fausts großes Werk undurchführbar wäre, jene Züge zum Vorschein, die die sogenannte »ursprüngliche Akkumulation« des Kapitals charakterisieren und von den bedeutenden englischen Schriftstellern des 1 8 . Jahrhunderts belletristisch und publizistisch ausgezeichnet dargestellt worden sind: aber erst in Mephistophe­ les konzentrieren sich alle diese Züge in einer symbolischen dichterischen Ge­ stalt. Daß bei Mephistopheles die teuflisch-zynischen Momente des Kapitalismus auf diese Weise in den Vordergrund treten, bedeutet nun nicht, daß er etwa der »Repräsentant« des Kapitalismus oder auch nur seiner »schlechten Seiten« wäre ; die gewissermaßen kapitalistische Basis der Mephistopheles-Figur muß hier deshalb energisch hervorgehoben werden, weil in der Faustliteratur - mit Ausnahme der von uns zitierten Bemerkungen von Marx - das Ver­ ständnis für dieses entscheidende Moment seines Charakters naturgemäß voll­ ständig fehlt. (Daß einzelne romantisch-reaktionäre Kritiker, wie W. von Schütz, diese Fragen streiften, besagt sehr wenig, da sich bei ihnen alles in Verzerrungen zeigt.) D as von Goethe gestaltete geistig moralische Duell zwi­ schen Faust und Mephistopheles reicht aber notwendigerweise weit über diese von uns skizzierte Basis hinaus, wenn man auch den größten Teil seiner Er­ scheinungen durch mehr oder minder komplizierte Vermittlungen auf sie zu­ rückführen kann. Dieses Duell erstreckt sich auf alle wichtigen Fragen des menschlichen Lebens. Es zeigt im Einwirken der mephistophelischen Elemente und Tendenzen auf Fausts Seele ein bewegt dramatisches Auf und Ab, und erst der ganze Ablauf des Kampfes erteilt die Antwort auf die Wette zwi­ schen Gott und Teufel, zeigt die Lösung des Schicksals von Faust, ergibt die Goethesche Perspektive der Zukunftsaussichten des Menschengeschlechts. Gold und Geschlechtlichkeit : darauf reduziert sich die » Weisheit« des Goethe­ schen Satans ; sein Ziel, dem die Magie, der Zynismus von Mephistopheles dienen, ist die Vertierung der Menschheit, das Aufrichten eines »geistigen Tierreichs« (Hegel) . Hier ist der Unterschied zur Sage besonders augenfällig. Für die mittelalter­ liche Religiosität - und die Luthersche Orthodoxie bewahrt in dieser Hin­ sicht sehr viel aus dem Mittelalter - ist die Sinnlichkeit, das naturhafte

Faust-Studien

Dasein des Menschen sündhaft ; dementsprechend ist auch die Natur selbst ein Herrschaftsbereich des Teufels ; der Satan ist Herr des Diesseits, » der Reiche der Welt und ihrer Herrlichkeiten«, und nur indem der Mensch den aszeti­ schen Geboten des christlichen Jenseits folgt, kann er den Teufel bezähmen. Für die Aufklärung hingegen, für den aus ihr herausgewachsenen Goethe be­ steht eine völlig entgegengesetzte Beziehung zur Natur, sowohl zur äußeren Natur, die das Feld der menschlichen Erkenntnis und Tätigkeit bildet, wie für des Menschen eigenes naturgegebenes Wesen. Beide sind für Goethe die organische Grundlage jeder menschlichen Entwicklung und Größe. Darum steht Goethe nicht nur feindlich zu den offen hervortretenden Überresten der mittelalterlichen Weltanschauung, sondern lehnt auch bei seinen sonst pro­ gressiven Zeitgenossen alles ab, was nur entfernt daran erinnert. Darum ist es auch völlig falsch, aus dem » Faust« irgendeinen wesentlichen Zusammenhang zwischen Goethe und Kant herauslesen zu wollen, wie dies viele Ausleger tun. Goethe lehnt einerseits von früher Jugend an die Kantsche Unerkennbarkeit der Natur, des Dinges an sich ab (er schreibt z. B. in einem Briefgedicht an Merck : » Sieh, so ist die Natur lebendig - unverstanden, doch nicht unver­ ständlich«) ; aber womöglich noch leidenschaftlicher lehnt er die Kantsche Auffassung vom »radikal Bösen« in der empirisch-sinnlichen Natur des Menschen ab. Scheinbar widerspricht dieser Gegenüberstellung die von uns bereits analy­ sierte tragische Erdgeist-Szene. Aber es muß hier nochmals hervorgehoben werden, daß der Erdgeist über sich selbst nichts anderes aussagt, als das, was den Kernpunkt der Naturphilosophie Goethes bildet : die ununterbrochene Wandlung und Selbsterneuerung der Natur. Und worin lehnt der Erdgeist die Verwandtschaft mit Faust ab? Welche Erkenntnis hält er für unmög­ lich? Die unmittelbar mystische Identifikation von Mensch und Natur, die der junge Goethe hier als heroischen, tragisch vergeblichen Weg der Erkennt­ nis gestaltet und zugleich überwindet. Auch diese Überwindung ist uns bereits bekannt. Ihre erste Etappe ist die Szene »Wald und Höhle«, in der die jugendliche Form der Unmittelbarkeit bereits überholt und der wirkliche Weg zur Naturerkenntnis beschritten ist. Aber Faust (und mit ihm Goethe) befindet sich noch, nach Goethes eigenen Worten, im »philosophischen Naturzustand« : diese Erkenntnis vermag für das Leben Fausts noch nicht als Richtschnur zu dienen. Sie führt ihn im Gegenteil in eine andere Tragik. (Wir werden später sehen, daß diese Szene nicht zufällig die Peripetie der Gretchen-Tragödie bildet.) Auch der nächsten Etappe, die Erö ffnungsszene des zweiten Teils, sind wir in

5 70

Anhang

unseren Betrachtungen bereits begegnet. Goethe zeigt hier die menschenjen­ seitige, moraljenseitige Heilkraft der Natur. Er gibt hier aber zugleich eine deutlichere und konkretere Antwort auf das tragische Dilemma der Erdgeist­ Szene. Der geheilte Faust sieht den Aufgang der Sonne. Geblendet von ihren Strahlen - wie seinerzeit von der Erscheinung des Erdgeistes -, muß er sich wegwenden. Hier entsteht j edoch kein tragischer Konflikt mehr. Faust meint nicht mehr, daß er von der Erkenntnis und vom Genuß der Natur ausge­ schlossen ist. Er bleibt - »die Sonne mir im Rücken« - in freudig erkennen­ dem Verhalten der Natur gegenüber : »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« Hier ist die Neugeburt der Naturphilosophie in enger Verbindung mit dem Entstehen der neuen Schönheitslehre dichterisch gestaltet : jene Periode in der Entwicklung der Naturerkenntnis, die der junge Marx den » aufrichtigen Jugendgedanken« Schellings genannt hat. Und das Ganze b il­ det ebenso das philosophische Vorspiel zur Helena-Tragödie, wie »Wald und Höhle« die Peripetie der Gretchen-Tragödie war. Die beiden eben erwähnten Szenen, so wichtig sie für die Gesamtkomposi­ tion auch sind, sind zusammenfassende Ruhepunkte, Wendepunkte, über­ legungspunkte und nicht an und für sich dramatisch. Beide sind monologisch aufgebaut ; in beiden ist Mephistopheles n icht anwesend. (In »Wald und Höhle« erscheint er später, in der letztgenannten Szene überhaupt nicht.) Nur am Anfang des » Faust« ist das erkennende Verhalten zur Natur Mittelpunkt der Tragik ; erst am Ende tre ff en Naturerkenntnis und gesellschaftliche Praxis zusammen und bilden die Grundlage zur letzten entscheidenden Ausein­ andersetzung zwischen Faust und Mephistopheles. Die richtige Erkenntnis der Goetheschen Beziehung zur Natur ist nicht nur für den weltanschaulichen Aufbau des » Faust« sehr wichtig; sie ist unerläß­ lich für das Verstehen des Verhältnisses zwischen Faust und Mephistopheles. Es gibt nämlich eine ganze - von Kuno Fischer eingeleitete - Schule von Fausterklärern, die Mephistopheles als Abgesandten des Erdgeistes auff as­ sen. Abgesehen von der praktischen Wertlosigkeit dieser Hypothese (sie macht den Prolog im Himmel sinnlos und zeigt allenfalls, daß Goethe so nachlässig gearbeitet hat, daß er Überreste einer überwundenen Auffassung unver­ ändert in dem umgestalteten Werk stehenließ) , verkehrt sie die ganze Goethesche Naturauffassung ins Christlich-Mittelalterliche : denn in diesem Fall ist der Erdgeist kein Naturprinzip, sondern ein Prinzip des Teuflischen. Das ist eine Wiedergeburt der lutherisch-orthodoxen Ten denzen in der üb er­ lieferten Faustsage und hat mit Goethe nichts zu tun. Die Goethesche Naturauffassung hat als Zentralgedanken die Unabhängig-

Faust-S tu dien

571

keit der Natur vom Menschen, von seinen moralischen und anderen Gesichts­ punkten. Allerdings folgt aus der Tatsache, daß sich die so aufgefaßte Natur in der Anfangsszene des zweiten Teils heilend äußert, keineswegs eine idylli­ sche Naturauffassung Goethes. Der Abschluß der ganzen Tragödie ist viel­ mehr ein heftiger und abwechslungsreicher Kampf des Menschen mit den Naturkräften . Und wenn Mephistopheles am Ende die Zerstörung von Fausts ganzem Lebenswerk durch die Naturkräfte als Perspektive aufstellt, so drückt er damit - sarkastisch übertrieben, aber doch richtig - eine Seite der Natur und Goethes Auffassung über sie aus. Goethe selbst spricht davon, daß seine Balladendichtung ein künstlerisch anregendes Moment zur Wiederauf­ nahme der Arbeit am » Faust« gebildet hat. Man muß nur an Balladen wie »Erlkönig « denken, um zu erkennen, wie sehr Goethe auch die nichtidyllische, die unheimlich schöne, die lockend und drohend zerstörerische Seite der Natur sah und dichterisch adäquat gestaltete. Freilich stellen diese Balladen Goethes nicht nur die Natur an sich, sondern auch die innere und äußere Wechselwirkung zwischen ihr und dem Menschen dar. Dabei ist für Goethe immer der Kampf um das Beherrschen der Natur wichtig ; wesen dich sind immer jene tragischen und tragikomischen Konflikte, die aus der Entfesselung von Kräften entstehen, die selbsttätig zerstörerisch wirksam sind, wenn ihr innerstes Geheimnis, ihre Gesetzlichkeit vom Men­ schen nicht erkannt wird (Zauberlehrling) . Auch hier läuft der grundlegende Gedankengang Goethes parallel mit dem Hegels ; im menschlichen Handeln entsteht objektiv immer wieder etwas an­ deres, als die Menschen in ihrer Leidensd1aft gewollt haben ; die Bewegung, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geht von den Leidenschaften der Individuen aus, ihre Resultate gehen jedoch über die Individuen hinaus und mad1en den handelnden Menschen von den Konsequenzen seiner eigenen Taten abhängig. Diese Auffassung durchzieht den ganzen Aufbau des » Faust« und ist mit ein Grund, weshalb Goethe über die bloß individuelle Moral denkerisch und gestalterisch hinausgehen mußte. Mephistopheles sagt : Am Ende hängen wir dod1 ab Von Kreaturen, die wir machten . Im Netz solcher Bestimmungen lebt der Mensch nach Goethes Auffassung ; er ist zugleich selbst ein Stück Natur, ein Mikrokosmos, in dem die gleichen Naturkräfte wirksam sind wie im Makrokosmos. Die menschlichen Leiden­ schaften betrachtet Goethe als eine Art von Naturkräften, die - unmittelbar

5 72

Anhang

angesehen - aus unbekannten Ursprüngen entstehen, an emem (zufällig scheinenden) Anlaß sich entzünden und, freigelassen, einem nicht berechen­ baren Ziel entgegenstürmen. Aber die Leidenschaft ist für Goethe nur naturhaft, nicht einfach identisch mit der Natur. Die Leidenschaften umspannen ja d as ganze Kulturleben, be­ ziehen sich auf deren höchste Objekte ; ein Fortschritt der Kultur, zugleich aber auch ihre Gefährdung, ihre Zerstörung, ihre Verwandlung in Chaos und B arbarei ist unmöglich ohne Leidenschaft. Das Beherrschen der Leidenschaft, ihre Veredlung, ihre Lenkung zu den wirklich großen Zielen der mensch­ lichen Gattung : das ist Goethes Ethik ! Goethe ist nie amoralisch, wie es kan­ tianische Spießbürger gemeint haben ; noch weniger asozial, wie es radikale Philister behaupteten. Seine Moral sucht den Weg, auf welchem jede Leiden­ schaft sich im Interesse der Gattung ausleben, entwickeln kann. Unter Be­ herrschung der Leidenschaften versteht er nicht ihre engherzig aszetische Unterdrückung wie Kant, sondern es schwebt ihm - wie den großen Renais­ sancemenschen, wie auch Fourier - ein Zustand der Menschen und mensch­ lichen B eziehungen vor, in dem die Wechselwirkung der Menschen untereinan­ der, die Erprobung der Leidenschaften in der menschlichen Tätigkeit die Menschen zum wirklichen Bewußtsein ihrer selbst, das heißt zum vollständi­ gen Entfalten all ihrer Fähigkeiten, zum harmonischen Gleichgewicht der sich auslebenden Leidenschaften führen würde, und zwar so, daß die innere Harmonie des Menschen die Triebkraft seines Einklangs mit seinen Mitmen­ schen sei. Goethe ist sich des notwendig konfliktreichen, ja tragischen Charakters dieser _ Bestrebungen in seiner Zei t klar. Aber die Erkenntnis der Tragik bedeutet für ihn keinen Verzicht auf diese Bestrebungen. Teils entwirft er utopische Bilder von menschlichen Beziehungen, gesellschaftlichen Zuständen, in denen ihm solche Tendenzen realisierbar erscheinen (beide »Wilhelm Meister« sol­ len, in verschiedener Weise, die Frage beantworten), teils gestaltet er indivi­ duelle Wege, auf denen ein (relatives) Maximum, eine (relative) Unversehrt­ heit dieser Entwicklungsmöglichkeiten verwirklicht wird. » Faust« ist eine dichterische Synthese beider Tendenzen. Nur von hier aus betrachtet wird das Duell Faust-Mephistopheles verständ­ lich. Der »Prolog im Himmel « formuliert das Problem Gut-Böse (Gott­ Teufel) objektiv für das ganze Menschengeschlecht; das Schicksal Fausts er­ scheint hier nur als ein Beispiel. über diese Wette gibt es in der Faustliteratur verhältnismäßig wenig Streit, um so mehr über ihre subjektiv-moralische Verwirklichung. Es taucht bei den Kommentatoren immer wieder die Frage

Faust-Studien

573

auf, ob Mephistopheles nicht doch eigentlich die Werte mit Faust gewonnen habe, ob Fausts letzte Worte (»Verweile doch, du bist so schön ! «) nicht doch eine Erfüllung der Bedingungen bedeuten. In Wirklichkeit ist das Zusammentreffen Fausts und Mephistopheles' auch in der Wette nur eine Begegnung auf dem Kampffeld, ein Kreuzen der Waf­ fen ; obwohl sie sich zur Wette verstehen, verstehen sie unter den gleichen Worten völlig Entgegengesetztes. Mephistopheles bietet Faust die Lebens­ freuden, den vollen Genuß des Lebens an, was nicht nur zum bisherigen Gelehrtendasein Fausts positiv kontrastiert, sondern - abstrakt gesehen der Sehnsucht Fausts entspricht. Aber nur abstrakt gesehen. Konkret schwebt Faust etwas ganz anderes vor : nicht Lebensgenuß (dies ist nur Mittel und Weg), sondern Erfüllung, Entfaltung all seiner individuellen Möglichkeiten, ihre Erprobung an der Welt, Durchdringen, Erkennen und Unterwerfen der Wirklichkeit. Der sowohl von der abstrakten wie von der unmittelbar intui­ tiven Erkenntnis enttäuschte, zur Verzweiflung getriebene Faust ist leiden­ schaftlich anti-aszetisch gestimmt. Aber auch j etzt, obwohl er noch keine ' volle Klarheit über seine innersten Tendenzen hat, verachtet er den bloßen Hedonismus, den Lebensgenuß um des sinnlichen Genusses willen, das Leben im Sinne des Mephistopheles. Die Art, wie Goethe das Leben und den Lebensgenuß versteht, ist vielfach mißdeutet worden, obwohl er sich darüber immer wieder in der unzweideu­ tigsten Weise geäußert hat. Ich führe nur ein Beispiel an, eine Stelle aus einem Brief, in den ersten Weimarer Jahren an Lavater geschrieben : » So habe ich doch ein Musterstückchen des bunten Treibens der Welt recht herzlich mitgenossen. Verdruß, Hoffnung, Liebe, Arbeit, Not, Aben­ teuer, Langeweile, Haß, Albernheiten, Torheit, Freude, Erwartetes und Un­ versehenes, Flaches und Tiefes, wie die Würfel fallen . . . « Diese Goethesche Auffassung des Lebens, des Lebensgenusses klingt in Fausts Worten, die die Werte mit Mephistopheles einleiten : •





Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan ! Kannst du mich schmeichelnd je belügen, Daß ich mir selbst gefallen mag, Kannst du mich mit Genuß betrügen : Das sei für mich der letzte Tag ! Die Wette biet' ich !

Anhang

5 74

Das »Verweile doch« ist als die Erfüllung dieser Sehnsucht gedacht. Sie ist jedoch nach Goethes Auffassung der Wirklichkeit, seiner Wirklichkeit, nicht erfüllbar. Und sie wird auch im Gedicht nicht erfüllt. Die letzten Worte Fausts sind eine Phantasie, eine Zukunftsvision. In bezug auf diese, und nur auf diese, nicht auf die Gegenwart des erlebten Augenblicks, sagt er : Zum Augenblicke dürft' ich sagen : Verweile doch ! Du bist so schön . . . Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick. Goethe betont hier, wie in den unmittelbar vorhergehenden Versen, auch sprachlich die Ungegenwärtigkeit, das Optative der Erfüllung. (Er sagt : »möchte«, »dürfte«, »im Vorgefühl«.) Und das wird noch durch die Replik von Mephistopheles illustriert und unterstrichen. Für ihn ist die Begeisterung Fausts völlig unverständlich. Er sieh t hier überhaupt keine Erfüllung, keinen Lebensgenuß ; er betrachtet die Begeisterung des alten Faust als einen Zustand der Altersverwirrung : Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, Der Arme wünscht ihn festzuhalten. Der mir so kräftig widerstand, Die Zeit wird Herr, der Greis hier l iegt im Sand. Die Uhr steht still Hier ist der Ablauf des Kampfes zwischen beiden ganz klar : Faust hat nie­ mals, wie Mephistopheles mit ihm vorhatte, »Staub gefressen« ; die Erfüllung, die er in einer Vision, nicht in Wirklichkeit, vor sich sieht, hat mit jenem Lebensgenuß, den Mephistopheles meint, nichts zu tun und hat nie etwas da­ mit zu tun gehabt. In der Frage, was Lebensgenuß bedeutet, haben Faust und Mephistopheles stets aneinander vorbeigesprodien. Trotzdem ist ihr Duell kein Scheinkampf. Denn mephistophelische Momente sind auch in den erhabensten Augenblicken Fausts enthalten ; der zynische Hohn Mephistopheles' trifft oft ins Zentrum der seelischen Kämpfe Fausts ; es ist keineswegs immer entschieden, ob Mephistopheles im Einzelfall recht oder unrecht hat, ja ob er im Kampf überhaupt unterliegen wird. Freilich entsteht in verschiedenen Lagen eine verschiedene Nähe und Ferne, eine verschiedene Lagerung der spezifischen Gewichte. Und der Rhythmus von

Faust-Studien

575

Fausts Bedrohtsein durch Mephistopheles bildet keineswegs eine einfach ab­ steigende Linie, noch weniger ist dieser Rhythmus der gleiche, wie der der jeweiligen hohen oder niedrigen, privaten oder öffentlichen Sphären der Handlung. In der »Hexenküche«, in »Auerbachs Keller«, wie in der »Wal­ purgisnacht« (die ihrem ideellen Gehalt nach nur eine phantastische Poten­ zierung der beiden ersten Szenen darstellt) ist Mephistopheles der Führer, Faust hingegen ist ein manchmal interessierter, manchmal gelangweilter Zu­ schauer. Ebenso geht Faust - die Helena-Aufführung ausgenommen­ durch die Hofszenen mehr hindurch, als daß er sich an ihnen innerlich be­ teiligte ; Mephistopheles ist auch hier die aktive Hauptperson. Alle die hier auf gewirbelten niedrigen Instinkte der bloßen Sinneslust (Fressen, Saufen, Huren), alle kleinlichen Ambitionen der Karriere (in ihrer historischen Form als Zauberei, Scharlatanerie) berühren das Wesenszentrum Fausts nie ent­ scheidend. Andererseits ist. wie wir gesehen haben, die Rolle Mephistopheles' in der Wiedergeburt der Antike auf die eines Chores reduziert. Dabei muß hier zum Verständn i s der Goetheschen Auffassung von Lebensgenuß und Sinnlichkeit hervorgehoben werden, daß Goethe die Liebe Fausts zu Helena in antik naiver, offen zutage tretender, nichts verheimlichender Sinnlichkeit ge­ staltet, was die moralische Entrüstung beispielsweise F. Th. Vischers hervor­ gerufen hat. Der Gegensatz zwischen Faust und Mephistopheles ist also keineswegs der Gegensatz von Aszetik und Sinneslust, sondern die konkrete und reale Dialektik des Menschlichen und Teuflischen innerhalb des sinnlichen Lebensgenusses. Das Duell Faust-Mephistopheles hat dementsprechend - abgesehen von die­ sen, gerade in ihrer Negativität ästhetisch-moralisch äußerst wichtigen Zwi­ schenspielen - drei Höhepunkte : die Wette, über die wir soeben gesprochen haben, die Gretchen-Tragö die und die Etappe der praktischen Tätigkeit Fausts. In der Gretchen-Tragödie kulminieren alle Probleme der »kleinen Welt«, der Entwicklung der Persönlichkeit als solcher ; Gesellschaft und Geschichte figurieren nur als Hintergrund, als Milieu. Die Bedeutung dieser Tragödie ist, zumal der Abschluß des ganzen Werkes nur aus ihr verstanden werden kann, so groß, daß wir sie besonders behandeln müssen. Hier können wir nur der dem Mephistopheles zugewandten Seite einige Bemerkungen widmen. Wir sagten : Faust geht durch Auerbachs Keller als gelangweilter Zuschauer, die dort unverhüllt hervortretende bloße Sinnlichkeit hat mit seiner Sehn­ sucht nach Leben wenig zu tun. Dennoch - und dies ist ein sehr tief er, »phänomenologischer« Zug - beginnt die Liebe Fausts zu Gretchen nicht von

Anhang vornherein als jene hohe und entscheidende menschliche Beziehung, zu der sie im Lauf der Handlung wird. Faust durchläuft vielmehr alle wesentlichen Etappen der in dividuellen Liebe von der ordinärsten Sinnenlust mit ihren zynisch unmenschlichen Begleiterscheinungen bis zur echten und tragischen seelisch-sinnlichen Liebesleidenschaft. (Auch hier wird in der Entwicklung der Liebesleidenschaft Fausts die Entwicklungsgeschichte der Liebe im Menschen­ geschlecht in Abbreviatur dargestellt : das unterscheidet die Gretchen-Tra­ gödie von den anderen Gestaltungen der Liebe beim jungen Goethe.) Und da - worüber später ausführlich gesprochen wird - für die Liebe in der Klas­ sengesellschaft (besonders wenn, wie hier, gesellschaftliche Lage und Bildung der Liebenden sehr verschieden sind) Momente des Mephistopheles fast un­ austilgbar sind, wächst die Intensität des Kampfes zwischen Faust und Mephistopheles gerade mit dem Intensivwerden und der Höherentwicklung der Liebe. Darum nannten wir früher die Szene »Wald und Höhle« die Peripetie für die Liebe Fausts zu Gretchen . Faust flieht vor dieser Liebe in die Einsamkeit . Liebesenthusiasmus und Naturbetrachtung geben ihm jenen geistig-seelischen Aufschwung, in dem er die Erdgeist-Tragödie innerlich überwindet. Zugleich steht seine echte und hohe Liebe zu Gretchen in Flam­ men. Er flieht vor Gretchen, um sie zu schonen und zu retten, zugleich jedod1 brennt er in Sehnsucht nach ihr. Und wenn nun Mephistopheles hier jeden Aufschwung zynisch als Selbstbetrug entlarvt, wenn er nur das nackt sinn­ liche Fazit der Sehnsucht Fausts sieht, so trifft er, wenn auch nicht das innerste Zentrum, so doch wenigstens eine zentrale Frage des inneren Kon­ flikts bei Faust.

Mephistopheles: Verschwunden ganz der Erdensohn, Und dann die hohe Intuition (Mit einer Gebärde) Ich darf nicht sagen, wie - zu schließen. Pfui über dich ! Faust: Mephistopheles: Das will Euch nicht behagen; Ihr habt das Recht, gesittet pfui zu sagen . Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen, Was keusche Herzen nicht entbehren können. Das relative Recht Mephistopheles' ist hier klar. Sehr ähnlich in der erschüt­ ternden Prosaszene »Trüber Tag«, wo seine Worte » Sie ist die erste nicht« und »Wer war's, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du ?« wirklich das

Faust-S tu dien

5 77

Zentrum des moralischen Konflikts in Faust beleuchten, wo der von Reue zer­ rissene Faust kein Wort der Erwiderung finden kann, denn Mephistopheles ist ihm gegenüber ganz im Recht. Die Breite und die Tiefe der Goetheschen Gestaltung dieser Liebestragödie zeigt sich darin, daß durch sie sämtliche Probleme des moralischen Lebens, direkt oder indirekt, zur Sprache kommen, und daß Mephistopheles fast überall mit großer Berechtigung gegenüber den Skrupeln und dem Pathos Fausts seinen Zynismus geltend machen kann. Wir führen nur ein Beispiel an. Mephistopheles braucht von Faust zur Verführung Gretchens ein falsches Zeugnis über den Tod des Gatten der Marthe Schwerdtlein. Faust weigert sich zuerst, falsches Zeugnis abzulegen. Worauf Mephistopheles in interes­ santer und tiefer Weise nicht mit der praktischen Notwendigkeit zur Durch­ führung des Planes argumentiert, sondern ein für Faust viel zentraleres Pro­ blem aufwirft : 0 heil'ger Mann ! Da wär't I hr's nun ! Ist es das erste Mal in Eurem Leben, Daß I hr falsch Zeugnis abgelegt? Habt I hr von Gott, der Welt und was sich drin bewegt, Vom Menschen, was sich ihm in Kopf und Herzen regt, Definitionen nicht mit großer Kraft gegeben? Mit frecher Stirne, kühner Brust? Und wollt I hr recht ins Innre gehen, Habt I hr davon, Ihr müßt es grad' gestehen, So viel als von Herrn Schwerdtleins Tod gewußt ! S o wird von Mephistopheles die ganze Liebestragödie, i m weitesten Sinne des Wortes, umkreist. Er kann zwar nicht in den innersten Kern der Liebe ein­ dringen - er gesteht selbst, daß er auf Gretchen unmittelbar keinen Einfluß auszuüben vermag -, aber das Ganze ist doch überall durchsetzt von seinen teuflischen Wirkungen und Elementen. Sein furchtbares »Her zu mir ! « am Schluß des ersten Teils, das von manchen als ein voller Sieg über Faust aufgefaßt wurde, folgt ästhetisch-moralisch notwendig aus einer solchen Gesamtlage. Ganz anders, äußerlich monologischer, innerlich vielleicht noch dramatischer und tragischer, wickeln sich die Schlußzenen des zweiten Teils ab. Sie sind vorwiegend monologisch gestaltet, denn am entscheidenden inneren Kampf gegen Mephistopheles, am tragischsten Ringen Faustes mit ihm, nimmt Mephi­ stopheles persönlich nicht unmittelbar teil. Faust hat sich, wie wir gesehen haben, der Praxis, dem Beherrschen der Natur zugewandt. Sogar das ästhe-

Anhang tische Genießen der Welt hat er überwunden, es freilich als unverlierb ar auf­ gehobenes Moment mitgenommen. Aber die Praxis, der wirkliche, der einzig mögliche Ausweg des Menschengeschlechts aus dem teuflisch-magischen Chaos des Mittelalters, ist vom Geist des Mephistopheles noch stärker bedroht als die individuelle Liebe. Man denke an seine bereits analysierte, tief innerliche Beziehung zum Kapitalismus. Die Schuld Fausts - beispielsweise an der Vernichtung von Philemon und Baueis - ist hier nicht, wie in der Gretchen-Tragödie, individuell. Sie so aufzufassen ist die Flachheit der meisten Kommentatoren. Faust flucht zwar nach dem Tod von Philemon und B aueis auf Mephistopheles, aber seine fol­ genden inneren Kämpfe haben nichts mehr mit einer individuellen morali­ schen Reue zu tun wie zur Zeit der Rettungsversuche Gretchens : sie gehen tiefer, sie richten sich auf den Gesamtzusammenhang, auf die gesellschaftlich� menschliche Grundlage seiner ganzen Handlungsweise, seiner ganzen Situa­ tion, aus der die Vernichtung von Philemon und Baueis notwendig entsprang. Seine Betrachtungen gehen deshalb auch gar nicht mehr auf den auslösenden Einzelfall ein. Was Faust hier personifiziert entgegentritt, ist die Sorge. Diese ist ihrem geistigen Gehalt nach eine Abgesandte Mephistopheles' : Sinn und Inhalt ihres Auftretens ist die Vergeblichkeit aller menschlichen B estrebungen nach dem Besseren, nur daß bei ihr diese Tendenz nicht höhnisch-zynisch wie bei Mephistopheles zum Ausdruck kommt, sondern in offener, trostlos pessimisti­ scher Form. Sie verkörpert die innere Verzweiflung über die Unvollstreck­ barkeit der menschlichen Bestrebungen, über die Einsicht in deren - hege­ lianisch gesprochen - » schlechte Unendlichkeit«, ·deren prinzipielle Unvollen d­ barkeit : Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze ; Ewiges Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter . . . Er verhungert in der Fülle ; Sei es Wonne, sei es Plage, Schiebt er's zu dem andern Tage, Ist der Zukunft nur gewärtig, Und so wird er niemals fertig. Faust weist auch diese Versuchung, die in offene Trostlosigkeit gewendete zynische »Weisheit« des Mephistopheles entschlossen von sich, allerdings nicht

Faust-Studien

5 79

ohne zu fühlen, daß auch hier eine weitgehend zut reffende teuflische Karika­ tur seiner tiefsten Bestrebungen ausgesprochen wurde. Fahr hin ! Die schlechte Litanei, Sie könnte selbst den klügsten Mann betören. Denn er ist sich bewußt, unmittelbar vorher als tiefsten seelischen Inhalt aus­ gesprochen zu haben : Im Weitersehreiten find' er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick ! Die Sorge hat also keine seelische oder moralische Macht über Faust. Sie kann ihn nur physisch, nicht aber, wie die meisten anderen Menschen, geistig blind machen. Dieser siegreich bestandene Kampf verflicht sich aber sehr eng mit einem anderen, in dem Faust nur rein subjektiv, nur der Tendenz, nur dem Be­ streben nach, die Oberhand hat. Nach der Philemon-und-Baucis-Episode, vor dem Erscheinen der Sorge, nachdem er bereits verdächtig spukhafte Stimmen, darunter die der Sorge vor seiner Tür vernommen hat, will Faust ein Re­ sümee seines Lebens ziehen und ein neues Programm aufstellen : Noch hab' ich mich ins Freie nicht gekämpft. Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen, D ie Zaubersprüche ganz und gar verlernen. Stünd' ich, Natur, vor dir ein Mann allein, Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein. Das war ich sonst, eh' ich's im Düstern suchte, Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte. Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll. Es ist dies das erstemal, daß Faust ausdrücklich auf den Pakt mit Mephisto­ pheles zu sprechen kommt, daß er der mephistophelischen Magie zu entsagen entschlossen ist. Subj ektiv, in bezug auf seine inneren moralischen Probleme, gelingt es ihm in der Szene mit der Sorge ; er unterdrückt den Wunsch, sie mit Hilfe von Zaubersprüchen zu entfernen, aber er hat wenig Illusionen über die Mög-

5 80

Anhang

lichkeit seiner Befreiung von der Magie : »Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los.« Und als er die Versuchung der Sorge abweist, sich mit voller Energie seinem großen Werk widmet, das er noch vor seinem Tod unbedingt vollenden will, nimmt er, ohne sich zu bedenken, auch weiterhin die Hilfe des Mephistopheles und seiner Geis ter in Anspruch . Was ist nun diese Magie, welcher Faust, die Grenzen seiner Vollendbarkeit streifend, entsagen will und es nur zum geringsten Teil kann ? Der oberfläch­ liche moderne Geniekult sieht gerade in der Magie die » Obermenschlichkeit« Fausts. Nach Hermann Türk ist Faust nach dem Verzicht auf die Magie ein bloßer Philister. Das ist Schopenhauer und nicht Goethe; für jenen war das Genie ein »monstrum per excessum«, für Goethe eben der normale vollent­ wickelte Mensch. In Wirklichkeit und auch nach der Auffassung Goethes steht Faust nie höher als in den Szenen, in denen er sich von der Magie loszuringen sucht. Was nun Magie bedeutet, wird im » Faust« - dichterisch richtig - nie definiert. Faust selbst faßt sie, wie wir eben gesehen h aben, als Folge seines Pakts mit Mephistopheles auf, also als Summe und Prinzip jener Kräfte, durch die er alle seine Leistungen in ihrer spezifischen Form vollbrachte. Hier wird, da wir auf dem Gipfel und am Endpunkt der Dichtung stehen - bei der fruchtbaren technisch-ökonomischen Tätigkeit zur Beherrschung der Naturkräfte -, die bereits festgestellte kapitalistische Komponente in Mephi­ stopheles ausschlaggebend wichtig. Wir wiederholen : Meph istopheles ist nicht nur dies. Er ist in einer davon genial unzertrennlichen Weise zugleich ein mit­ telalterliches Gespenst. Und die Genialität der dichterischen Verallgemeine­ rung liegt gerade in der Weite und in den Grenzen seines Herrschaftsgebietes. E r beherrscht alle gesellschaftlichen Mächte, auch die in diese verwandelten Naturkräfte und menschlichen Leidenschaften, in denen Tendenzen oder wenigstens Möglichkeiten zum »geistigen Tierreich« obwalten. So ist Mephistopheles Gretchen gegenüber machtlos . »über die hab' ich keine Gewalt ! « sagt er. Nur durch Geschenke, durch Erweckung von Neugier, Eitelkeit, Putzsucht, durch Marthes Kuppelei, durch Aufstachelung aller schlummernden schlechten Instinkte kann er sich in ihre Nähe schleichen. Seine Macht besteht darin, daß er jede vorhandene schlechte Möglichkeit, jede verborgen schlu mmernde Tendenz zum Bösen ohne weiteres in effektive Wirklichkeit umzusetzen hilft ; seine Magie besteht in der grenzenlosen Be­ herrschung der dazu dienlichen äußeren Mittel, durch die alle nicht innerst seelischen Widerstände spielend überwunden werden. Aber Goethe unterstreicht immer, daß sich die magischen Gebilde Mephisto-

Faust-Studien pheles' ihrem wirklichen moralischen Wesen nach von den Menschen in nichts unterscheiden. So sind die »allegorischen Lumpen« Raufebold, Habebald und Haltefest, mit deren magischer Hilfe Mephistopheles den Sieg über den Gegenkaiser erficht und seine Piratenzüge sowie die Vernichtung von Philemon und Baueis durchführt, in ihrer Psychologie nichts anderes als verwilderte Landsknechte, und diese unterscheiden sich von den »redlichen Soldaten« jener Zeit mehr in Worten als im Wesen. (»Die Redlichkeit, die kennt man schon ; sie heißet : Kontribution.«) Nur die Vergrößerung der äußeren Macht des individuellen Aktionsradius läßt sie magisch er­ scheinen, und wir haben aus der Marxschen Interpretation der sechs Pferde des Mephistopheles hinreichend erfahren, was von dieser Magie gesellschaft­ lich zu halten ist. Wenn Faust sich also von der Magie befreien will, strebt er einem normalen menschlichen Leben zu, in dem er nur durch eigene Kraft, durch eigene Tätigkeit das nunmehr erkannte Richtige praktisch verwirklichen kann. Dies ist aber - das weiß Goethe und ahnt Faust - unmöglich. Faust müßte ohne Mephistopheles ' Hilfe zur verzweifelten Ohnmacht der Studierstube des Anfangs zurückkehren ; ob diese Rückkehr sich nun etwa als Annahme einer untergeordneten Ingenieurstelle in einem kapitalistischen Betrieb ausdrückte, hat für das Problem nichts zu besagen. In seiner leisen und behutsamen Art hat Goethe dieses Moment sowohl am Anfang wie am Schluß hervorgehoben. Im ersten großen Monolog Fausts, in dem er alle seine weltanschaulichen Konflikte aufzählt, sagt er unter anderem : Auch hab' ich weder Gut noch Geld Noch Ehr' und Herrlichkeit der Welt; Es möchte kein Hund so länger leben ! Drum hab' ich mich der Magie ergeben. Und vor der Szene der »Sorge« erscheint diese nicht allein, sondern sie ist nur eine von vier grauen Weibern ; drei von ihnen jedoch - » Mangel «, » Schuld « und »Not« - können Fausts Schwelle nicht überschreiten : »Drin wohnet ein Reicher . . . « Also nur weil Faust - auf mephistophelischer Grundlage reich und mächtig ist, braucht er sich bloß mit der Sorge, mit dem welt­ anschaulichen Pessimismus, nicht aber mit Mangel oder Not auseinander­ zusetzen. Noch deutlicher wird dies in einem später weggelassenen Bruchstück ausgesprochen. In ihm will sich Faust, wie bereits erwähnt, endgültig von Mephistopheles trennen. Der aber nimmt die Sache gar nicht tragisch :

Anhang Denn Rat denkt jeglicher genug bei sich zu haben ; Geld fühlt er eher, wenn's ihm fehlt. Goethe ist sich über diese Stellung des Individuums in der Klassengesellschaft, insbesondere im Kapitalismus, stets im klaren gewesen. Das ließe sich aus unzähligen Stellen seiner Werke, Briefe und Gespräche belegen. Wir führen nur ein sehr charakteristisches Beispiel an. Der alte Goethe hatte mit Soret ein eingehendes Gespräch über den »radikalen Narren« Bentham. Soret nahm diesen in Sdmtz und meinte, Goethe selbst würde, wenn er in England lebte, ebenfalls als Entlarver von Mißbräuchen auftreten. »Wofür halten Sie mich? « erwiderte Goethe, der nun ganz die Miene und den Ton seines Mephisto an­ nahm. »Ich hätte sollen Mißbräuchen nachspüren, und noch obendrein sie aufdecken und sie namhaft mad1en, ich, der ich in England von Mißbräuchen würde gelebt haben? In England geboren, wäre ich ein reicher Herzog ge­ wesen oder vielmehr ein Bischof mit jährlichen 30 oo o Pfund Sterling Ein­ künften.« Gerade die Praxis, bei der Faust endet und in der sich seine weltanschauliche Sehnsucht nach Vereinigung von Theorie und Praxis, nach praktischen Fort­ schritten für das Menschengeschlecht erfüllt, ist ohne die tatkräftige Hilfe von Mephistopheles objektiv unmöglich : eine Entwicklung der Produktiv­ kräfte in der bürgerlichen Gesellschaft ist eben nur kapitalistisch möglich. Darum ist Fausts Versuch, sich innerlich von der Magie abzuwenden, ver­ geblich. Darum ist sein Traum von der lichten Zukunft der Menschheit nur ein Traum. Aber der Inhalt des Traums ist sehr wichtig. Faust ist, wie Goethe, Gegner jeder Revolution. Hier jedoch, wo er - wenigstens subjektiv - mit der mephistophelischen Magie bricht, kommt zum erstenmal in seinem Streben nach den höd1sten Zielen des Menschengeschlechts, die er bis jetzt nur an sich, nur in seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung (allerdings für das Men­ sd1engeschlecht) verwirklicht hat, der bewußte Wunsch zum Ausdruck : auf Grund der Freiheit für diese Ziele gemeinsam mit seinen Mitmensd1e11 zu kämpfen. Darum ist sein letzter Monolog, der mit der » Erfüllung« der Wette schließt, so entscheidend wichtig - als höchste, emscheidenste Form der sub­ jektiven Absage vom teuflischen Prinzip : Eröffn' ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Da rase draußen Flut bis zum Rand,

Faust-Studien

Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. Ja ! Diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß : Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Wir wissen bereits, daß die Wirklichkeit in einem grellen Kontrast zu diesem Traum steh t : während Faust so spricht, graben die Lemuren auf Mephisto­ pheles' B efehl s ein Grab. Dieser durch nichts gemilderte oder (sichtbar) ver­ mittelte Gegensatz entspricht genau jener geistigen Doppelseitigkeit in der Beurteilung des kapitalistischen -Fortschritts, die wir bei Goethe wiederholt feststellen konnten. Goethe bringt, ohne das ökonomisch-soziale Leben des Kapitalismus durchschauen zu können, mit dichterischer Intuition dessen widerspruchsvolle Rolle in der Menschheitsentwicklung zur Gestalt. Der grausige Rhythmus der Vernichtung, der den Zukunftstraum Fausts begleitet und kommentiert, drückt Goethes Meinung gerade in der Ungelöstheit, in der Unlösbarkeit dieser Dissonanz adäquat aus. Dabei ist es wichtig, zu betonen : es handelt sich bei Goethe nie um eine romantische Trauer über die Vernichtung der vorkapitalistischen Idylle. (Darum gibt es bei Faust selbst keine Reue über die Schuld am Untergang von Philemon und Baueis.) Goethe steht zu den Problemen der kapitalistischen Entwicklung so wie Hegel oder Ricardo. Was die Gegensätze, die dichterisch in schneidendem Kontrast zueinander stehen, ideell vermittelt, i st : die objek­ tive Unablösbarkeit des mephistophelischen Prinzips von der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte, von der objektiv wichtigsten und in rich­ tiger Richtung gehenden menschlichen Praxis, von jenem Weg, der - das konnte Goethe, wie auch Ricardo und Hegel, nicht einmal ahnen - später dahin führt, daß auf diesem Boden Kräfte entstehen, die die Menschheit wirklich von Mephistopheles erlösen. Indem Faust aber die Durchführung seines Lebenswerks in die Hände Mephistopheles' legen muß, l egt er auch die Möglichkeit der dämonischen Verkehrung, ja - für das indivi duelle Leb ens­ werk, nicht für das der Menschheit - auch die Möglichkeit seiner Vernich­ tung in die Hände des Teufels.

A nhang

Die komplizierten Widersprüche sind von Goethes Standpunkt, vom höch­ sten Standpunkt des bürgerlichen Bewußtseins, objektiv unlösbar. Goethes dichterische Größe besteht darin : sie in ihrer durch nichts gemilderten Unlös­ barkeit hingestellt zu haben. Darin ist er wahr wie Ricardo und Hegel. Den grellen Dissonanzen der objektiven Wirklichkeit kann bei ihm nur der subjektive Traum von der Zukunft gegenübergestellt werden. Aber auch das ist nicht wenig. Besonders, weil der Widerspruch auch von innen verschärft wird : das Unversehrtbleiben des menschlichen Kerns in Faust beim Kampf mit Mephistopheles, ja das Klarer- und Reinerwerden dieses Kerns gerade in einer Lage, in der die äußere Unüberwindbarkeit Mephistopheles' vollständig offenbar wird, gibt auch objektiv eine Perspektive, eine reale Grundlage für den Glauben, daß die Menschheit - trotz Mephistopheles, trotz Kapitalismus - nicht zum Untergang ins Teuflische, zum »Staubfressen « verurteilt ist. Das war aber für Goethe die einzige »phänomenologisch« begründbare und darum gestalterisch überzeugende Hoffnung, die als Zukunftsperspektive ästhetisch beglaubigt werden konnte. Darum hat er mit vollem Recht - ohne in subjektivistische, Kantische Moralisiererei zu verfallen - im subjektiven Moment den Entscheidungspunkt für Fausts Erlösung erblickt. In einem Ge­ spräch mit Eckermann bezeichnet er die bekannten Zeilen des Schlusses als Schlüssel zum Verständnis des Ganzen : Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Eine objektive soziale Macht, die Mephistopheles auf der Goethe bekannten Erde erfolgreich hätte bekämpfen können, konnte er nicht sehen und wollte er darum auch nicht gestalten.

1v Die Gretchen-Tragödie Der » Urfaust« und noch das Fragment von 1 790 ist von der Gretchen-Tra­ gödie beherrscht. Und so sehr die spätere Vollendung die Proportionen ver­ schiebt, in der populären Vorstellung bleibt diese Präponderanz erhalten ; in der breiten Massenwirkung des » Faust« dominiert auch heute die Gretchen­ Tragödie neben der Tragödie des unmittelbaren Wissens und des Teufelspak­ tes . Mit weitgehender Berechtigung. Denn der unmittelbar dichterische Ein­ druck der »kleinen Welt«, in der das Gattungsmäßige nur einen Hintergnmd

Faust-Studien bildet, nur die Eigenart der typischen Charakterisierung und Handlungsfüh­ rung bestimmt, muß notwendig stärker wirken als der des streng objektivier­ ten, philosophisch-poetischen Tiefsinns der » großen WeltOdysse< und dem > Gil-Blas< auch nicht anders. « »Sie haben vollkommen recht«, sagte Goethe, » auch kommt es bei einer sol­ chen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen gleich einem unaufgelösten Problem die Menschen zu wieder­ holter B etrachtung immer wieder anlockt. « Das ist keine nac.li trägliche Rechtfertigung des bereits fast vollendeten Werks. Diese Gedankengänge tauchen vielmehr gerade in jener Zeit auf, in der Goethe an die entscheidende Weiterführung des Jugendfragments geht, den ersten Teil abschließt und einzelne Szenen des zweiten Teils auszuführen be­ ginnt. Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen, doch keineswegs aus­ schließlich in Hinsicht auf sie, arbeiten Goethe und Schiller den Unterschied und die notwendige Wechselwirkung zwischen epischen und dramatischen Prinzipien begrifflich klar heraus. In diesem Gedankenaustausch kommt Schiller auf das oben behandelte Problem der Selbständigkeit der Teile einer Gesamtkonzeption zu sprechen und erblickt in ihr ein wichtiges Charakteri­ stikum des Epischen. Er schreibt an Goethe : »Es wird mir aus allem, was Sie sagen, immer klarer, daß die Selbständigkeit seiner Teile einen Hauptcharak­ ter des epischen Gedichts ausmacht. « Einige Monate später wendet Goethe die­ sen Gedanken ausdrücklich auf die Komposition des » Faust« an. Er sdueibt an Schiller: »Sie treffen, wie es natürlich war, mit meinen Vorsätzen und Plänen recht gut zusammen, nur daß ich mir's bei dieser barbarisd1en Kom­ position bequemer mache und die höchsten Forderungen mehr zu berühren als zu erfüllen denke . . . Ich werde sorgen, daß die Teile anmutig und unter­ haltend sind und etwas denken lassen ; bei dem Ganzen, das immer ein Frag­ ment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen Gedichts zustatten kommen . « D i e weltanschauliche Grundlage dieser Gestaltungsweise ist uns bereits be­ kannt : Goethes Stellung zur Tragödie. Indem er die typischen Stufen der Menschheitsentwicklung als eine Kette von Tragödien empfand, deren Zu-

A n hang

sammenhang und Totalität jedoch nicht mehr tragisch ist, mußte aus dieser Weltauffassung, wenn sie eine extensiv wie intensiv universelle Gestaltung finden sollte, eine solche episch-dramatische Form herauswachsen : eine Form, in der keines der beiden Prinzipien überwiegt und die gegenseitige dialek­ tische Durchdringung beider eine einzigartige Einheit und dynamische Ba­ lance schafft. Denn es wäre oberflächl ich, das wechselseitige Verschlungen­ sein der beiden Prinzipien nicht bis in die kleinsten Details zu verfolgen, sich das Ganze des » Faust« etwa als einen epischen Kranz aus einzelnen Dramen oder als ein großes Drama vorzustellen, dessen Teile episch sind. Nein, jeder Teil ist dramatisch, denn das Schicksal eines Menschentypus (einer Entwick­ lungsstufe der Menschheit) entscheidet sich in ihm vor unseren Augen aus der immanenten Dialektik seiner inneren Widersprüche, und zwar meist tragisch, zumindest tragikomisch (nur die Komik des Auerbach-Kellers bildet eine Ausnahme) . Anderseits ist jeder Teil zugleich auch episch ; denn um der Ge­ stalt in wenigen Szenen die notwendige Beglaubigung der Typik einer Person und zugleich einer Entwicklungsstufe zu geben, muß die gesellschaftliche Um­ gebung der Konflikte, die ruhende Umwelt der gesellschaftlichen Gegen­ stände eine weit über das dramatisch Erforderliche, über das rein Drama­ tische hinausgehende episierende Komplettheit erhalten. So runden sich die einzelnen Teile zu selbständigen kleinen Welten, zu einer Selbständigkeit, die im echten Drama, auch in seiner breitesten Form, im Shakespeareschen, unmöglich ist. Die sehr breit ausgeführte Episode ist bei Shakespeare doch immer nur ein dynamischer Überl eitungspunkt, der aus Gründen dieser Funk­ tion im Gesamtaufbau (und der daraus folgenden inneren Bewegtheit und dramatischen Unruhe der Ausführung) niemals eine derartige, selbständige Abrundung erhalten kann. Ebenso verschlingen sich im Aufbau des » Faust« als Ganzem die epischen und dramatischen Prinzipien : in einem bestimmten Sinn kann man den ge­ samten » Faust« als einen großartig angelegten Erziehungsroman in der Art des »Wilhelm Meister« ansehen. Und wie jedes große epische Werk enthält dann diese » Ilias des modernen Lebens« eine ganze Reihe von Dramen. (Das hat bereits Aristotel es bei Homer, Schiller im »Wilhel m Meister« gefunden und hervorgehoben.) Hier im » Faust« aber ist die eigenartige Lage gegeben, daß solche Dramen im Gesamtgedicht nicht nur dem Keim, der Mögl ichkeit nach enthalten sind, sondern sich im Gedicht sel bst zur dramatischen Voll­ endung entfalten. Diese Doppelseitigkeit der Gesamtkonzeption wird auch durch das von u ns bereits hervorgehobene Moment eines » lntermittierens« des Dramatischen in

.F aust-S t u dien

einzelnen Szenen, ja in Szenenkomplexen, unterstrichen, wobei die Kompli­ ziertheit der Lage noch dadurch verstärkt wird, daß auch das » Intermittieren« des Dramatischen eine innerlich dramatische Form hat. Aber nicht nur diese ständige, plastische Gegenwärtigkeit der Aktion macht das dramatische Prin­ zip des Ganzen aus, sondern auch die Personenkomposition, das echte dra­ matische Zusammendrängen auf einen handelnden Helden. Faust ist im Ge­ dicht die gewichtigste, alle wesentlichen Bestimmungen der Handlung durch Taten auf sich und in sich konzentrierende Gestalt, keineswegs ein b loßes Lackmuspapier für Reaktionen auf Begeb enheiten wie der - echt romanhaft entworfene und darum von menschlich größeren Figuren stets überschattete - Wilhelm Meister. Diese wechselseitige Verschlingung und Durchdringung des epischen und dramatischen Prinzips ist eine allgemeine Tendenz der modernen Literatur, die im »Faust« nur ihre p rägnanteste und paradoxeste Form erhalten hat. Das moderne Drama wird - wie ich dies in anderen Studien wiederholt ausgeführt habe - zunehmend »romanisiert «, und Balzac betrachtet, mit Recht, im dramatischen Element ein wichtiges Unterscheidungszeichen des neuen Romans im Gegensatz zu dem des 1 8 . Jahrhunderts. Balzac beruft sich dabei vor allem auf Walter Scott. Unmittelbar ist dies zweifellos richtig. Es wäre aber falsch, Goethes Rolle in dieser Entwicklung - theoretisch wie praktisch - zu unterschätzen. Fast ein halbes Jahrhundert vor dem berüh mt gewordenen Vorwort Balzacs zur »Menschlichen Komödie« haben schon Goethe und Schiller das notwendige Ineinanderspielen von Epik und Drama­ tik eingehend als Wesenszeichen der damals entstehenden neuen Literatur behandelt. Und Goethes Schaffen spielt in der Entstehung dieser neuen Lite­ ratur eine entscheidende Vorläuferrolle. Wir sahen, daß Balzac beim Her­ vorheben des dramatischen Moments im Roman, das geistig mit seiner be­ wußten Historisierung auch des Gegenwartsromans identisch ist, unmittelbar auf Walter Scott B ezug nimmt. Man vergesse aber nicht, daß der eigentliche Vater des historischen Romans von Scott eben Goethes » Götz von Berlichin­ gen« gewesen ist. Goethes Schaffen, den » Faust« mit inbegriffen, kann nie verstanden werden, wenn man in ihm nicht auch ästhetisch die Brücke zwischen dem 1 8 . und 1 9 . Jahrhundert erblickt : die Vollendung, das über-Sich-Hinausgehen der Aufklärung und zugleich die geistige und ästhetische Vorbereitung für Walter Scott und Byron, für Balzac und Stendhal. Freilich darf man bei dieser wichtigen Verbundenheit auch die tiefe Kluft nicht übersehen, die Goethe von den typischen Vertretern der spezifisch

606

Anhang

neuen Literatur trennt. Der ästhetische Scharfblick des alten Goethe hat nicht nur die Bedeutung Byrons, Walter Scotts und Manzonis erkannt, sondern auch die Balzacs und Stendhals schon in deren ersten ausschlaggebenden Wer­ ken. Dennoch bedeutet Goethe auch den Scheidepunkt zwischen alter und neuer Kunst. Heine spricht sehr richtig über Goethe, wenn er sagt, daß mit dessen Tod das »Ende der Kunstperiode « eingetreten ist. (Ähnlich beurteilt Belinskij die Puschkin-Periode der russischen Literatur.) Die Vorherrschaft der Schönheit, der Harmonie in der dichterischen Linienführung ist bei Goethe wie bei Puschkin niemals eine rein ästhetische Frage, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Seins und des ihm notwendig entsprechenden vorwärtsweisenden Bewußtseins. Wenn in der späteren Dichtung die ästhe­ tische Fragestellung der Schönheit ohne einen solchen, ihre Notwendigkeit historisch begründenden gesellschaftlid1en Untergrund vorherrscht, muß not­ wendigerweise ein blasses Epigonentum entstehen : eine Kunst, abgerissen von den großen Problemen der Epoche. Goethes (und auch Puschkins) »Kunstperiode« ist gerade davon am wei­ testen entfernt. Es ist klar, daß ein Weltgedicht wie der »Faust«, in dem die größten Fragen eines gewaltigen historischen Übergangs mit der uns bereits bekannten Tiefe erfaßt sind, nichts mit formellem Ästhetizismus zu tun haben kann. Die Forderung der Schönheit ist bei Goethe nicht mehr rein naiv, spontan-organisch gewachsen wie in der Antike, wie (in bereits abgeschwäch­ ter Form) in der Renaissance. Bei aller Spontaneität im Streben nach Schön­ heit bedeutet diese Tendenz bei Goethe auch einen Kampf gegen seine Zeit, gegen die Kunstfeindlichkeit (die Menschenfeindlichkeit, die Mensd1enzer­ stückelung) des heraufziehenden Kapitalismus. Dieser Kampf hat eine doppelte Richtung und Funktion. Goethe ist bestrebt, gegen den Strom seiner Zeit jene menschliche Echtheit, jene einfach-unmittel­ bare, sinnlich-naive, sinnvoll-geistige, schlicht-moralische Äußerungsweise aufrechtzuerhalten, die den echten - nicht formalistischen, nicht höfisch ent­ stellten - Zauber der antiken Kunst ausmacht. Er fühlt aber zugleich, daß die entgegenwirkenden Tendenzen nicht einfad1 immer als sd1lechter Publi­ kumsgeschmack, Sensationslüsternheit, roher Stoffhunger und dergleichen aufgefaßt werden können, sondern aus dem vom Leben selbst produzierten Stoff stammen, der dem Dichter solche Themen und solche den Themen ge­ mäße Formen (Formlosigkeit) aufzwingt. Er betrachtet es deshalb als seine Aufgabe, im Leben selbst, und zwar in den wichtigen Lebensmomenten eben seiner Gegenwart, diese Schlichtheit des Menschlichen, diese Schlankheit der dichterischen Linienführung - die stets eine Widerspiegelung der mensch-

Faust-Studien liehen Lebensführung ist - zu entdecken und zu zeigen, daß diese Schönheit auch aus dem Leben der Gegenwart heraushebbar ist. Es g inge über den Rahmen dieser Studien, die diesbezüglichen Tendenzen Goethes in ihrer historischen Entwiddung darzulegen. Hier müssen wir uns mit einigen andeutenden Bemerkungen begnügen. So muß hervorgehoben werden, daß zwischen der Jugendentwicklung Goethes und seiner klassisd1en Perio de in dieser Hinsicht keineswegs eine so schroffe Wendung liegt, wie es in der bürgerlichen Literaturgeschichte zumeist dargestellt wird. Der Ausgang von der Volkspoesie, der für das Schaffen des jungen Goethe ausschlaggebend war, stützt sich mit an erster Stelle auf den als Volksdichter aufgefaßten Homer ; die Oden des Pindar, die g riechische Tragödie usw. spielten dabei neben Shakespeare und dem Volkslied ebenfalls eine richtungsweisende Rolle. Und die Hinwendun g zur Antike, b esonders in der Perio de der Zusammen­ arbeit mit Schiller, ist nie rein ästhetisch, geht nie von der isoliert aufgefaßten künstlerischen Form aus, sondern beginnt und endet stets bei der realistisd1en Betrachtung der Wirklichkeit, der Mensd1en und ihrer Beziehungen zuein­ ander. Die künstlerischen Formen sind für Goethe stets nur allgemeinste, abstrakteste Zusammenfassungen des menschlichen Wesens und menschlicher Beziehungen. So sagt er zum Beispiel : »Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist.« Innerhalb dieser Gesamtkonzeption nimmt die Antike für Goethe nicht nur wegen ihrer künstlerischen Formvollendung eine bevorzugte Stelle ein ; nicht im rein künstlerischen Sinn betrachtet er sie als ewiges Muster und Vorbild. Im Gegenteil : diese Formvollendung ist in Goethes Augen nur eine Folge­ erscheinung des Tatbestandes, daß das Wesen des Menschen und seiner Be­ ziehungen im antiken Leben - und darum in der antiken Kunst - einen reineren Ausdruck erhalten hat als in der von ihm erlebten Gegenwart. Goethe sieht in der b eginnenden Romantik Tendenzen dieser neuen kunst­ feindlichen Verwirrung dec; Lebens, des Lebensgefühls und damit der Kunst. Sein großer Aufsatz über Winckelmann faßt diese Tendenzen in der Form einer Proklamation des Positiven und einer programmatisd1en Abwehr des Negativen zusammen. Wir zitieren einige Ausführungen, in denen die Wurzeln des Goetheschen »Klassizismus« im Leben selbst und in sei ner richtigen weltanschaulichen und künstlerischen Spiegelung deutlich si..:h t­ bar werden : ». denn das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren •



60 8

Anhang

Ideen gar viele Bedingungen wi derstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommenen ·ZU verweilen . . . Dagegen tritt nun die Kunst ein ; denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkom­ menheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Be­ deutung aufruft . . . Ist es (das Kunstwerk, G. L.) einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor : denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt be­ seelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künf­ tige begriffen ist . « Dieser Humanismus Goethes u n d der Goethezeit - Humanismus a l s all­ seitige und tiefe Erkenntnis des Menschen vom physischen bis zum gesell­ schaftlichen Sein, von der einfachsten Praxis bis zu der in Kunst und Wissen­ schaft als Bewegkraft allseitiger Höherentwicklung -, dieser Humanismus gebraucht, wie Engels sagt, das Wort Mensch »in einem gewissen emphati­ schen Sinne«. Dieses Pathos ist ein Resultat der Französischen Revolution und seiner ideologischen Vorbereitung durch die Aufklärung. Einerseits erscheinen jetzt alle » äußerlichen« (ständischen, rassenmäßigen usw.) Unterschiede als nichtig vor dem allgemeinen Begriff, vor dem humanistisch konkretisierten I deal des Menschen. Andererseits entwickelt die Zeit den Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der menschlichen Macht, der Fähigkeit des Menschen, sich selbst und seine Umwelt vorbildlich umzugestalten. »Es (das Bewußtsein, G. L.) ist sich seiner reinen Persönlichkeit bewußt, und alle Realität ist nur Geistiges ; die Welt ist ihm schlechthin sein Wille und dieser ist allgemeiner Wille. Und zwar ist er nicht der leere Gedanke des Willens . . . sondern reel allgemeiner Wille . . . «, sagt Hegel in der »Phänomenologie« über die Französische Revolution. Die deutsche Klassik betont naturgemäß vor allem die intensive, nach innen gekehrte Seite dieser Entwicklung, dementsprechend den ästhetischen, mora­ lischen, allgemein kulturellen Charakter der Umwälzung und der Rolle des Menschen in ihr. Die zentrale Stelle von Kunst und Asthetik - Theorie und Praxis der »Kunstperiode« - beruht also auf einer solchen Erhöhung der Bedeutung des Menschen, auf einer solchen Forderung seiner Allseitigkeit und Harmonie als Ziel der Entwicklung von Gattung und Individuum, als

Faust-Studien Kampf gegen alles Alte und Neue, soweit in ihnen Tendenzen wirksam sind, diesen hohen B egriff zu verdunkeln und zu verwirren. Darum grenzt Engels Goethes Gebrauch des Wortes » Mensch « für diese Periode ab und trennt ihn energisch von der verblaßten und verwaschenen Terminologie der vierzi­ ger Jahre. (Daß später, bei noch stärkerer Verwandlung der historischen Umstände, die Entfernung von Goethes wirklicher Begriffsbildung noch grö­ ßer wurde, ist selbstverständlich .) Engels sagt über diese Terminologie : » Goethe gebrauchte sie freilich nur in °dem Sinne, wie zu seiner Zeit und spä­ ter auch von Hegel angewandt, wie d as Prädikat menschlich besonders den Griechen im Gegensatz zu heidnischen und christlichen Barbaren beigelegt wurde, lange bevor diese Ausdrücke durch Peuerbach ihren mysteriös-philo­ sophischen Inhalt erhielten. Bei Goethe namentlich haben sie meist eine sehr unphilosophische, fleischliche Bedeutung. « Auf der Grundlage einer solchen Weltanschauung kann Goethe im Leben seiner Gegenwart eine der antik-großzügigen Stilisierung würdige Mensch­ lichkeit entdecken und sie nunmehr ohne artistische Stilisierung darstellen. Diese Doppellinie des Goetheschen Klassizismus wird in der Elegie »Her­ mann und Dorothea« ausgesprochen : als Forderung der dichterischen Gegen­ wartsgestaltung selbst und zugleich als Bekenntnis des Dichters, der letzte Homeride zu sein. D as ist das Wesen der antiken »Stilisierung« auf dem Gipfelpunkt dieser Tendenzen, in der Zeit der Zusammenarbeit Goethes mit Schiller. Darum drücken die Schlußverse von Schillers »Spaziergang« diese gemeinsame Stimmung, die freilich Goethe viel adäquater als Schiller ge­ staltet hat, richtig aus : Und die Sonne Homers, siehe ! sie lächelt auch uns. Goethe und Schiller sind sich auch zur Zeit ihrer Zusammenarbeit darüber klar, und diese Klarheit steigert sich noch im alternden Goethe, daß sie ein Rückz ugsgefecht der wahren Kunst führen, daß sie sich in einer Defensive be­ finden ; sie sind aber mit heroischen Anstrengungen bemüht, die Positionen der wahren Kunst gegenüber den Zeittendenzen zu halten. Je stärker der Einfluß der allgemeinen Kapitalisierung in der Wirklichkeit vordringt, desto schwerer wird dieser Kampf, denn desto weniger ist es zwanglos möglich, aus dem Knäuel der immer abstrakter werdenden gesellschaftlichen Beziehungen die erstrebte Schönheit des menschlichen Wesens sinnfällig herauszuarbeiten, seine Einheit trotz der Zerstückelung durch die kapitalistische Arbeitsteilung . z u erblicken und künstlerisch zu gestalten.

610

Anhang

Die späte Weiterführung des »Wilhelm Meister« sprengt deshalb schon die Grenzen der für Goethe möglichen epischen Kunst, und es ist für Goethe charakteristisch, daß er sie mutvoll sprengt, denn Wahrhaftigkeit steht ihm stets höher als Formvollendung. Diese ist für ihn nur als Ausdruck der letzten Wahrheit über den Menschen wertvoll. Freilich gibt er auch hier die Form nicht kampflos preis. Er versucht, zur ältesten Form des Romans, mit sehr loser Handlungsführung und eingelegten selbständigen Novellen, zurück­ zukehren, um den gesellschaftlich außerordentlich kompliziert gewordenen Inhalt erzählerisch adäquat auszudrücken. Aber dieser ästhetische Kampf ist in den »Wanderjahren« vergeblich. Im » Faust« stellt Goethe, wie wir sahen, ein ganz spezifisches Problem. Schon das Thema - die Rettung des Kerns und nur des Kerns im Menschen, die Rettung des Menschengeschlechts bei tragischer Aufopferung des einzelnen macht eine antik sinnliche Vollendung unmöglich : eine unmittelbare Einheit von Innerem und Äußerem, von Moral und Tat, von Geist und Sinnlichkeit. Schon die genaue und klare Trennung der »kleinen « und der »großen« Welt zeigt diese Unmöglichkeit an. Die Antike kennt eine solche Trennung über­ haupt nicht. Für sie existiert die » kleine Welt« des individuellen Lebens nur, soweit sie in die » große« eingeht (Liebe in »Antigone«), und in der antiken » großen Welt« sind überall die Wurzeln aus dem persönlichen Leben der »kleinen Welt« unmittelbar sichtbar. Diese für die Kunst einzigartig günstige Lage geht (schon im Altertum) mit dem Verfall der antiken Städterepubliken verloren. Aber in der Renaissance erlebt sie in komplizierter und doch ästhetisch-menschlich unmittelbarer Weise bei Shakespeare eine Auferste­ hung. Der Kampf der bürgerlichen Klasse im Anfangsstadium bedeutet für die Thematik der Kunst eine schroffe Ablehnung der damaligen » großen Welt« des Feudalabsolutismus, dem die moralisch reinere, menschlich höher­ stehende »kleine Welt« des Bürgertums polemisch gegenübergestellt wird. Diese Kunst, die bei Fielding, Goldsmith und in Goethes »Werther« ihre Gipfelpunkte hat, spielt eine sehr große Rolle im Aufbau auch der Jugend­ dramen Goethes, im » Götz« und im »Egmont« . Die industrielle Revolution i n England u n d die Große Französische Revolu­ tion stellen jedoch die Eroberung der » großen Welt« durch das Bürgertum auf die Tagesordnung. Die Romantik im engeren Sinn tritt an diese Probleme mit verkehrtem, mit reaktionärem Bewußtsein und gibt deshalb notwendi­ gerweise, inhaltlich wie formal, verzerrte Spiegelungen der neuen gesell­ schaftlichen Situation. Erst bei Hoffmann und noch mehr bei Balzac werden d ie Probleme des neuen kapitalistischen, häßlichen Lebens, die Probleme

Faust-S tu dien

61 1

ihrer » großen Welt « aus dem Geist des neuen Materials entwickelt. Die so entstehende neue Asthetik und neue Kunst erwachsen also aus dem Schreck­ lichen und Grotesken, aus dem Verzerrt-Erhabenen und Schauerlich-Komi­ schen. Es ist die paradox-klassische künstlerische Vollendung der wachsenden Barbarei des kapitalistischen Zeitalters. Der alternde Goethe ist bemüht, die neue Zeit, so wie sie ist, soweit er sie versteht, wahrheitsgetreu zu gestalten, zugleich aber auch in diesem Material die noch vorhandenen Elemente der Schönheit kämpferisch zu entdecken. Es werden also von ihm die Probleme des kapitalistischen Lebens dargestellt, ohne ihr Wesen aufzuheben, abzuschwächen oder zu verfälschen, ohne irgend­ welche ästhetische Schönfärberei. Es soll aber zugleich das Ganze vom We­ sen, vom verborgenen menschlichen Kern aus gesehen werden und dieser Kern dann sinnlich vergegenwärtigt erscheinen, damit die Gesamtkomposition den­ noch den Gesetzen der alten, der menschlichen Schönheit unterworfen bleibe. Darum gehört das Bestreben Goethes auch dort, wo er (wie im zweiten Teil des »Faust«) tief auf die spezifischen Fragen der neuen Zeit eingeht, in die »Kunstperio de«. Schon in der Zeit ihrer Zusammenarbeit ist es Goethe und Schiller klar, daß die Schönheit, der sie zustreben, unmöglich die der reinen Antike sein könne. Schönheit ist für sie beide bereits ein Kampf mit der Barbarei, ein (partieller) Sieg über die Barbarei. Schiller charakterisiert diese neue Lage in einem Brief an Goethe, in der Zeit, als dieser gerade am Helena-Teil des » Faust« arbeitet, tief und erschöpfend, so daß seine Charakteristik in ihren Grundzügen auch für die spätere Periode, auch für den ganzen zweiten Teil gilt, obwohl in­ zwischen die Elemente des Barbarischen sich gesellschaftlich und künst­ lerisch verstärkt haben. Schiller schreibt : »Lassen Sie sich aber ja nicht durch den Gedanken stören, wenn die schönen Gestalten und Situationen kommen, daß es schade sei, sie zu verbarbarieren. Der Fall könnte Ihnen im zweiten Teil des >Faust< noch öfters vorkommen, und es möchte ein für allemal gut sein, Ihr poetisches Gewissen darüber zum Schweigen zu bringen. Das Barbarische der Behandlung, das Ihnen durch den Geist des Ganzen aufgelegt wird, kann den höheren Gehalt nicht zerstören und das Schöne nicht aufheben, nur es anders spezifizieren und für ein ande­ res Seelenvermögen zubereiten. Eben das Höhere und Vornehmere in den Motiven wird dem Werk einen eigenen Reiz geben, und Helena ist in diesem Stück ein Symbol für alle die schönen Gestalten, die sich hineinverirren wer­ den. Es ist ein sehr bedeuten der Vorteil, von dem Reinen mit Bewußtsein ins Unreinere zu gehen, anstatt von dem Unreinen einen Aufschwung zum Rei-

A nhang

612

nen zu sudien, wie es bei uns übrigen Barbaren der Fall ist. Sie müssen also in Ihrem >Faust < überall Ihr Faustrecht behaupten.« Man sieht, auch in ihrer klassisdien Periode lehnen Goethe und Schiller das B arbarische keineswegs blind und unbedingt, keineswegs »klassizistisch« ab. Freilidi muß hier innerhalb des B arbarismen differenziert werden. Goethe und Schiller betraditen hier die ganze neuzeitliche Kunst als problematisch, als barbarisch im Vergleich zur Antike, und es ist klar, daß der alte Goethe in der heraufziehenden neuen Kunst seiner Zeit mehr gesehen hat als eine bloß quantitative Steigerung dieser Tendenzen. Doch sowohl in der Schillerzeit wie später ist er sich darüber im klaren, daß große moderne Kunst ohne einen Zusdiuß von B arbarei unmöglich sei. Es handelt sich für ihn nur darum, aus allen diesen Tendenzen das zu retten, worin sich das ihm Wesentliche, die uns bereits bekannte Gestaltung des Menschen - wenn audi indirekt - auf­ bewahrt erhält. Darum schreibt Goethe in dieser Zeit (in seinen Anmerkun­ gen zu Diderots »Rameau«) über die notwendige Rezeption der fruchtbaren Kunsttendenzen bei Shakespeare und Calderon : » Uns auf der Höhe di eser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht « Dies ist nur möglich, weil die Goethesche Kunstauffassung immer einen Appell ans Leben enthält, freilich einen anderen, indirekteren als den des späteren Realismus eines Balzac. Der Unterschied ist, wie ihn Schiller, die Entwicklung vorwegnehmend, richtig sieht, daß Goethe vom Reinen ins Un­ reine hinabsteigt, während B alzac aus der immanenten Dialektik des Un­ reinen das Reine herauszuentwickeln bestrebt ist. Bei der Feststellung dieses Gegensatzes handelt es sich nicht um ein künstlerisches Werturteil, zumindest .

.

.

nicht in erster Linie, sondern vor allem um die Erkenntnis der notwendigen Kunsttendenzen zweier Perioden. Denn die Goethesche künstlerische Auffas­ sung der Wirklichkeit bedeutet, wie wir sahen, keine Abschwächung der Dis­ sonanzen des Lebens. Wohl aber - ebenfalls historisch bedingt - eine andere Stellung zu den Widersprüchen, die das Zeitalter vorwärtstreiben . Sie haben für Goethe ein ganz anderes Gewicht, als sie für die Aufklärung be­ sessen haben ; aber die Welt ist in seinen Augen noch nicht von den Wider­ sprüchen zerrissen, sondern wird in unaufhaltsamer Evolution in der Rich­ tung der Verwirklidiung der Vernunft bewegt. Darum ist bei ihm die Schön­ heit, die bei den Griechen naiv aus dem sinnlich wahrgenommenen Leben er­ wächst, nur hödiste Forderung, nur höchstes Erkenntnisprinzip der dichteri­ schen Gestaltung : aus der Betrachtung des Ganzen muß sich die Schönheit (Harmonie, Vernunft) ergeben, und da dies kein der Wirklichkeit fremdes

Faust-Studien Prinzip ist, sondern ihrem bewegten Ganzen entnommen wurde, muß es sich - freilich kompliziert, indirekt, mit barbarischen Zutaten - auf alle Einzel­ phänomene anwenden lassen. Dieser Weltanschauungsunterschied zwischen den später en großen Realisten und Goethe bedingt, daß er als letzter die ästhetischen Gesetze der »Kunst­ perio de« verteidigt und mit ihrer Hilfe eine abschließende große Kunst schafft, während sich jene heroisch kopfüber in die neue Wirklichkeit stürzen. Und es ist klar, daß, je älter Goethe wird, .d ie Prinzipien der » Kunstperiode« bei ihm um so prägnanter und defensiver hervortreten müssen. Sie erreichen im zweiten Teil des » Faust« ihren Gipfelpunkt. Es versteht sich von selbst, daß unsere Betrachtungen sich mehr auf den zwei­ ten als auf den ersten Teil beziehen, obwohl dessen allgemeinste Stilprobleme selbstverständlich ebenfalls durch diese historische Dialektik von Leben und Kunstform bedingt sind. Der erste Teil entspringt in seiner Grundform spon­ tan der Periode des »Sturm und Drang« - allerdings wird er erst in der Blütezeit der » Kunstperiode« vollendet. Aber diese Vollendung ist nur ein bewußtes, kunstvolles Weiterführen dessen, was Goethe in seiner Jugend instinktiv begann. Der erste Teil hat die höchste dramatische Form, die für den jungen Goethe un d seine Genossen im » Sturm und Drang« möglich war. Die Dramatisierung eines reichen und breit angelegten Lebens wurde im » Götz« zu einem dialogi­ sierten historischen Roman, in dem nur einzelne Teile dramatisch sind, und auch diese nicht immer von der Hauptfigur aus, ja oft völlig unabhängig von ihr. Im ersten Teil des » Faust« dagegen löst sich die Handlung in eine Reihe von mehr oder weniger kurzen, immer knappen Szenen auf, die alle, für sich genommen, dramatisch sin d ; sie besitzen fast ausnahmslos den balladesken Charakter eines beträchtlichen Teils der Goetheschen Lyrik. Auch diese ist nämlich selten wirklich zuständlich, viel weniger j edenfalls als bei den ande­ ren Lyrikern. Sie stellt zumeist einen innerlich dramatischen Augenblick der Spannung und seiner Lösung dar, und das Landschaftliche (oder der sonstige auslösende Anlaß) dient nur dazu, diese innere Bewegtheit, je nach der Art des lyrisch gestalteten Gefühls, zu beschleunigen oder zu hemmen. Bei Goethe gibt es demgemäß die fließendsten Übergänge zwischen Lyrik, Ballade und Dramatik. Sehr charakteristisch ist Goethes spätere Stilbeziehung zum Volkslied. Er sagt : »Eigentlichster Wert der sogenannten Volkslieder ist der, daß ihre Mo­ tive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vorteils aber könnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verstünde. Hierbei haben

Anhang

aber jene immer voraus, daß natürliche Menschen sich besser auf den Lako­ nismus verstehen als eigentliche Gebildete.« Dieses Streben nach Lakonismus ist einer der wichtigsten Wesenszüge der Goethesd1en Poesie. Der feinfühlige Wieland hat es bereits in seiner Rezension des »Götz« hervorgehoben. Es erhält seine reinste und vollendetste Form im ersten Teil, besonders in der Gestalt, in den Antworten Gretchens . Jede ihrer knappen Szenen ist eine notwendige Etappe ihres tragischen Weges, ein dra­ matischer, lyrisch zusammengefaßter, volksliedhaft knapper Knotenpunkt. Selbst wo die ganze Szene nur ein lyrischer Monolog ist (»Meine Ruh ist hin . . . « oder »Ach neige . . . «), ist sie ihrem Wesen nach nicht lyrisch, nicht bloß subjektiv oder zuständlich, sondern vorwärtsbewegend, plastisch und symbolisch, gestalterzeugend. Dabei ist bewundernswert, wie der leichtbeschwingte, vorüberhuschende lyrische Lakonismus Goethes zugleich überall auch der gesellschaftlichen Um­ welt jene Komplettheit und Abrundung gibt, die für den Gesamtplan des » Faust« unerläßlich war. Mit einem viel geringeren Aufwand an Zeit­ sdlilderung entsteht hier ein zumindest ebenso echtes und lebendiges Bild des r 6 . Jahrhunderts wie im » GÖtz«, überdies noch in einer dramatisch-balladesk bewegten, nicht bloß episch schildernden Form. Was dem jungen Goethe sonst nur gelegentlich gelang - eine echte szenische Dramatik aus dem Balladesken herauszuentwickeln wie in einzelnen Adelheid-Szenen des » Götz « -, das ist hier durchgehender und vollendet durchgeführter Stil. Es ist für Goethe charakteristisch, daß er sich stilistisch fast nie wiederholt, nie aus dem künstlerisch einmal Erreichten eine Routine (wenn auch auf sehr hohem Niveau) macht. Jedes seiner wichtigen \Verke hat einen ganz eigenen, aus Stoff und Gegenstand gewonnenen, organisch entwickelten Stil. Hier lebt sich jene Eigenart Goethes aus, die er später sein »gegenständliches Denken « nennt. Mit Leidenschaft verlangt er ein Erfinden und Gestalten aus dem Gegenstand und nicht aus dem Subjekt heraus. Hier sieht er, sogar mit einer gewissen überspitzenden Ungerechtigkeit, den entscheidenden Gegensatz zwi­ schen Dichter und Dilettanten : »Der Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern. Er flieht den Ch arak­ ter des Objekts. « Nur auf der Grundlage einer solchen gegenständlichen Art des Dichters war die Fortsetzung und Vollendung des ersten Teils möglich, obwohl es keinen ausgearbeiteten Plan des Ganzen gab, obwohl die Grundidee im Laufe des Entstehens wiederholt großen Veränderungen unterworfen wurde. Der junge Goethe hatte sicher nur in den allgemeinsten Umrissen eine Konzeption des

Faust-S tu dien Ganzen und arbeitete, indem er einzelne Szenen dichtete und sie aneinander­ reihte. Indem aber für ihn der neue Faust aus der Sage »gegenständlich« ge­ worden ist, entsteht in ihm eine künstlerische Wirklichkeit und Wahrheit, aus der die spätere Gedankenarbeit fast ohne Knderung des Dichterischen, bei ge­ ringfügigen Ausmerzungen wegen der anfänglich allzu großen Annäherung an die Sage, herausentwickelt werden konnte. Der balladeske Charakter des ersten Teils war eine ganz adäquate Form für die »phänomenologische« Entwicklung der »kleinen Welt« . Schwieriger und problematischer sind die Stilfragen des zweiten Teils. Dabei darf freilich nicht vergessen werden, daß die völlige Neuheit der Goetheschen Tendenz, das Geschick des Menschengeschlechts in das Schicksal eines Menschen sinnlich zusammenzudrängen, notwendigerweise ihre paradoxen Konsequenzen erst in der Gestaltung der » großen Welt« entfaltet. Deren adäquate künstlerisch e Darstellung, das Anerkennen und Herausarbeiten der großen objektiven Widersprüche der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, besonders in ihrer spezifisch kapitalistischen Form, drängt einerseits auf einen formspren­ gend grenzenlosen Umfang (»Menschliche Komödie« Balzacs), in dem das (das Geschlecht repräsentierende) Einzelbild notwendig verschwinden müßte ; anderseits würde, worüber eben gesprochen wurde, die Darstellung der ge­ sellschaftlichen Widersprüche in ihrer unmittelbaren Kraßheit, in der Reich­ haltigkeit ihrer Einzelbestimmungen über jene ästhetischen Grenzen hinaus­ gehen, die für Goethes Weltanschauung unübersteigbar waren. Da Goethe an der gedanklich-inhaltlichen Vollständigkeit der dargestellten Entwicklung des Menschengeschlechts festhält, aber gleichzeitig die - bereits problematisch gewordenen - Schönheitsforderungen der »Kunstperiode« ebenfalls und gerade in diesem Stoff verwirklichen will, entsteht hier ein eigenartiger, auch bei Goethe nie dagewesener, unwiederholbarer, dichterisch großartiger, jedoch (infolge der Lage, in der diese Dichtung entstand) nicht kanonischer, nicht vorbil dlicher Stil. Die Goethesche Bezeichnung von der »inkommensurablen Produktion« gilt in dieser vielfach schillernden Bedeu­ tung für den zweiten Teil viel mehr als für den ersten. Entscheidend ist hier die Auffassung des Menschen in der »großen Welt«, in der sein individuelles Schicksal nun schon unmittelbar eine Abbreviatur der Menschheitsentwicklung bilden muß. Diese Spiegelung ergibt notwen­ digerweise den Aspekt des Fragmentarischen für jeden Menschen und erst recht für jede seiner Taten, seine Gefühle oder Gedanken. Goethe hat diese neue Aufgabe, die zugleich eine gewisse Veränderung seiner weltanschau­ lichen Einstellung bedeutet, selbst deutlich gesehen. Er entwirft eine »Ab-

Anhang kündigung« für den zweiten Teil des » Faust«, deren gedanklich wie ästhe­ tisch entscheidende Zeilen lauten : Des Menschen Leben ist ein ähnliches Gedicht : Es hat wohl einen Anfang, hat ein Ende, Allein ein Ganzes f st es nicht. Goethe spricht hier die Paradoxie, die alle damaligen Kunstformen sprengende Eigenart seines Wollens klar aus. Denn gerade hierin - wie immer er auch, naturphilosophisch, das Vorübergehende, das ununterbrochen Wechselnde und sich Verwandelnde der Menschen feststellte - war für den Dichter stets jeder Mensch ein Ganzes, der nicht nur einen Anfang und ein Ende, sondern durch das ausgeleb te Schicksal eine vollendete und abschließende Kontur er­ hielt. Hier werden aber die Gestalten von vornherein und bewußt aus einem anderen, die individuellen Konturen auflösenden Aspekt gestaltet. Selbstverständlich ist diese neue Betrachtungsweise und ihr stilistischer Aus­ druck nicht auf einmal entstanden, sondern allmählich aus der Goetheschen Produktion herausgewachsen. Wir haben gesehen, wie der erste Teil organisch mit den Stilproblemen der Götzperiode verbunden ist. Der zweite Teil hat seine stilisierenden Vorläufer in Goethes »Maskenzügen « und vor allem in dem in seiner Art großartigen Fragment »Pandora« ( 1 8 07, also unmittelbar nach Abschluß des ersten Teils von » Faust« entstanden) . Wir können hier die Eigenart dieses Werkes Goethes, die weltanschaulichen und künstleri­ schen Einflüsse, die auf sie einwirkten, nicht näher behandeln ; auch hier müs­ sen wir uns auf einige Bemerkungen beschränken. Die sogenannten Neben­ produkte - hier die »Maskenzüge« - sind bei Goethe stets sehr wichtig, und ihre Bedeutung läßt sich keineswegs an ihrem unmittelbaren ästhetischen Wert ermessen. Goethe ist an gedanklich-dichterischen Erfahrungen in jeder Periode so reich, daß unmöglich alles in wichtige Hauptwerke eingehen kann. So entstehen bei ihm neben großen Fragmenten wichtiger Werke leicht hinge­ worfene Skizzen, die teils episodische, aber nicht unwichtige Lebenserfahrun­ gen festhalten, teils in ihrer hingeworfenen Eigenart Vorläufer oder Ver­ stärker später reif gewordener künstlerischer Tendenzen sind. Goethe weist einmal (in einem Brief an Zelter) auf die Bedeutung der Jugendskizze »Saty­ ros « für den ersten Teil des » Faust« hin. Die gelegentlichen höfischen »Maskenzüge« geben Goethe die Möglichkeit, auf einer anderen Entwicklungsstufe in solchen Nebenprodukten Ergebnisse seines Denkens und seiner dichterischen Welterfahrung auszusprechen. Diese

Faust-Studien »Maskenzüge« sind untereinander gedanklich wie ästhetisch außerordentlich verschieden, von verschiedenem Wert ; sogar in derselben Produktion lösen sich nichtssagende höfische Komplimente mit dem Ausdruck wichtiger und tiefer Gedanken ab. Gemeinsam ist ihnen nur die allegorische Form. Diese ist aber dort, wo Goethe dichterisch auf der Höhe steht, niemals nackt und kahl allegorisch. Sie ist einerseits dekorativ-dichterisch, indem sie die malerische Oberfläche, die malerische Geste wichtiger menschlicher Typen aufbewahrt, anderseits hat sie in ihrem Ausdruck, eben wegen dieser allegorisd1en Form, zuweilen eine hochstehende dichterisch lakonische Abstraktion. »Pandora « ist die erste Produktion Goethes, in der sich diese Tendenzen zu einer Dichtung von hohem Wert konzentrieren. Ihre Grundfrage ist eine Oberleitung, ein Vorspiel zum zweiten Teil des »Faust« . Es ist der Gegen­ satz von Kontemplation und Praxis, eine Frage, die Goethe von jeher leb­ haft beschäftigte. (Man denke an »Tasso« . ) Hier erscheint jedoch eine ganze Reihe von wichtigen und neuen dialektischen Momenten, die auf den ent­ stehenden zweiten Teil hinweisen, die in diesem auf höherer Stufe wieder aufgenommen werden. Wichtig ist dabei vor allem die viel stärkere Hervor­ hebung und Konkretisierung der Praxis in der Figur des Prometheus. Ander­ seits wirft j edoch Goethe schon hier die Frage der Grenzen einer bloßen Praxis auf, ihre Beziehung zur Vollendung der Entwicklung des Menschen, die relative Berechtigung von Epimetheus gegenüber Prometheus. Endlich sucht Goethe auch hier eine Synthese, eine höhere Einheit beider Extreme, hier noch - wenn auch schon weit weniger als diesseitig erfüllbar gedacht auf der Linie der »Lehrjahre «, der ästhetisch-ethischen Vollendung des Ein­ zelmenschen innerhalb einer kleinen Gemeinschaft von Mitstrebenden. »Pandora « ist Fragment geblieben. Offenbar war Goethe dichterisch stärker von der Fragestellung angezogen, als ihn gedanklich die für ihn damals mög­ lichen Antworten befriedigten. Der Form nach ist das Fragment antikisie­ rend gehalten, was schon durch das Thema bedingt war, aber es ist eine sehr eigenartige Antike, deren Stilgebung bereits die Formelemente der »Masken­ züge« in sich aufgenommen hat und in der Goethe resolut von den »barbari­ schen Avantagen« Gebrauch macht. Von großer Wichtigkeit ist, stilistisch angesehen, in dieser Übergangszeit die intensive Beschäftigung Goethes mit Calderon und mit der orientalisd1en Poesie, die er beide als zusammengehörig betrachtet. In beiden :findet er Elemente, die geeignet sind, hohe gedankliche Abstraktionen und sehr weit­ gehende Typisierung von Menschen und menschlichen Verhältnissen in einer dekorativ-dichterischen Art auszudrücken. Es darf jedoch nie vergessen wer-

61 8

Anhang

den, daß Goethe in allen diesen Tendenzen nur Ergänzungen, nur Brücken zur Zeit, zur zeitlich bedingten Eigenart seiner Thematik erblickt hat, nur »barbarische Avantagen«. Nie haben Spanien oder der Orient in Goethes Augen die Zentralstellung der griechischen Kunst verdunkelt ; nie hat er in dieser Hinsicht den romantischen Tendenzen entscheidende Konzessionen gemacht. Da er aber im �weiten Teil des » Faust« zu einem indirekten Aus­ drücken des Menschlichen gezwungen war, hat er hier Anknüpfungspunkte für den neuen einzigartigen Stil dieses Werkes gesucht. Diese vertiefte Form der »Maskenzüge« bildet die Grundlage des zweiten Teils. Das allegorische Element spielt naturgemäß eine große Rolle. Aber Goethes Konzeption der Allegorie ist stets dichterisch echt, über den norma­ len, kahlen Begriff dieser Form weit hinausgehend. Schon l ange Zeit vorher schreibt er an Meyer über die Allegorie : »Es sind alles bedeutende Figuren, sie bedeuten aber nicht mehr als sie zeigen, und ich darf wohl sagen, nicht mehr als sie sind. « In diesem Sinne sind viele Gestalten des zweiten Teiles allegorisch, was aber keinesegs bedeutet, daß sie bloße Chiffren für die Ent­ rätselung eines ihrer sinnlichen Erscheinungsweise fremden » Tiefsinns« sind, wie es nach vielen Kommentatoren der Fall sein soll. (Einzelne ironische Be­ merkungen des alten Goethe über »Hineingeheimnissen« sind mitschuldig an diesem Unfug.) Von nicht gelungenen Einzelheiten abgesehen, ist dieses Alle­ gorische ein hoher Grad einer direkten Typisierung der Gestalten, die das Wesentliche ihrer repräsentativen Rolle im Schicksal der Gattung klar und deutlich aussprechen, deren Gattungsmäßigkeit unmittelbar evident ist und nicht - wie sonst bei Goethe - durch allmähliche Entfaltung der Persön­ lichkeit, durch allmähliche Entwicklung des Gattungsmäßigen erst evident wird. Aus diesem Grunde können die meisten Szenen des zweiten Teiles nid1t jene unmittelbar hinreißende Wirkung auf Gefühl und Erlebnis haben wie fast der ganze erste Teil, wie die meisten anderen Dichtungen Goethes. Trotzdem ist aber die Legende von der Steife und Kälte sowie von der dichterischen Unverständlichkeit des zweiten Teiles eben nur eine Legende. Die Figuren sind allerdings sehr typisch gehalten, doch in ihrer Mehrzahl innerlich richtig und wahr ; die inneren Konflikte, Gegensätze, Widersprüche werden keines­ wegs abgedämpft oder der dekorativen Schönheit geopfert. Das Deutschland des 1 6. Jahrhunderts zeigt ein großartiges, umfassendes Bild, freilich keine intimen altdeutschen Genrebilder (wie im » Götz«), sondern ein großartiges historisches Fresko vom Totentanz des Feudalismus, ist jedoch nicht minder wahr als in dem Jugendwerk, eher im Gegenteil. Oder man nehme die Epi-

Faust-S tu dien

sode von Philemon und Baueis. Alle wesentlichen Motive und Bestimmungen der kapitalistischen Expansion, ihres vernichtenden Angriffes auf die vor­ kapitalistischen I dylle sind - menschlich, moralisch und dichterisch ent­ wickelt - vollständig da, durch nichts gemildert oder abgeschwächt; nur wiederum : kein Einzelleid und keine Einzelsünde wird gestaltet, sondern die monumentale Linie einer großen historischen Notwendigkeit. Die stilistischen Schwierigkeiten und Dissonanzen des zweiten Teiles liegen viel eher darin, daß die Gestaltungsweise, die Goethe infolge der neuen Weltanschauung, infolge der neuen Gegenständlichkeit aufgedrungen wurde, mit seinen alten dichterischen Eigenschaften, die bei ihm noch immer vor­ herrschten, in Widerspruch gerät. Der neue Stilwille knüpft an literarische Vorbilder an, die konsequenterweise ihre in einem so weitgespannten Rah­ men allegorisch zusammengefaßten Figuren mit einer breit strömenden male­ rischen Rhetorik sich ausleben und ausdrücken lassen. Goethe aber behält auch hier seinen alten Lakonismus. Mit dessen Hilfe entstehen mitunter wun­ dervolle balladeske Szenen, wie etwa die der vier grauen Weiber, von denen dann nur die Sorge bei Faust eintritt. Aber dieser Lakonismus, dieses kurze, knappe, fast Nebenher-Aussprechen entscheidend wichtiger Inhalte verursacht zuweilen, daß auf wichtige Momente ein ungenügendes szenisches Gewicht fällt, daß sie halb unvermerkt vorbeigehen und das Verständnis dessen hem­ men, was sie vermitteln sollen. Diese Dissonanz wird noch gesteigert durch Goethes Tendenz, in »leisen Zügen« zu gestalten, eine Tendenz, die in ihm schon in früher Jugend wirk­ sam war und auch im Alterswerk nicht ausstirbt. So sagt Goethe über seine dichterischen Absichten in einer viel früheren Novelle : »Leise Züge, die den Menschen bezeichnen, ohne daß gerade merkwürdige Begebenheiten daraus entspringen, sind recht gut des Aufbehaltens wert . . . nur derjenige, der im ruhigen Anschaun die Menschheit gerne faßt, wird dergleichen Züge will­ kommen aufnehmen. « D amit werden an den Leser sehr hohe Ansprüche ge­ stellt. Wir verweisen auf die von uns bereits ausführlich behandelte Stelle, wo Faust in den Wolken Gretchens Bild zu sehen meint. D a dies die einzige Er­ wähnung Gretchens im ganzen zweiten Teil ist, können nur Leser von großer und feiner menschlicher Aufnahmefähigkeit hier die Kontinuität miterleben. Auch hierin zeigt sich Goethe als letzter Vertreter der »Kunstperiode«. Er will das menschliche Innere, die menschlichen Beziehungen um jeden Preis nur gestaltend aussprechen und Kommentare vermeiden. »Deutlichkeit ist eine gehörige Verteilung von Licht und Schatten«, zitiert Goethe aus Hamann und spricht damit eine seiner wichtigsten darstellerischen Tendenzen

620

Anhang

aus. Aber dieses Prinzip, das der » leisen Züge«, läßt sich konsequent nur dort durchführen, wo der Lebensstoff der Dichtung - vom Aspekt des gestalte­ ten Menschen - wirklich homogen ist. Die dichterische Abstraktion auf die Gattungsmerkmale und der Rückweg von hier zur sinnlich erscheinenden menschlichen Singularität, deren Ausdruck eben die allegorisierende Tendenz ist, schafft nun eine szenische Atmosphäre, in der zwischen Individuum und historischer Umwelt diese Homogenität aufhört, in der die scharfen Lichter und die tiefen Schatten der gradheraus aussprechenden, direkt gedanklich kommentierenden, dekorativen Rhetorik (wie etwa bei Calderon) als das gegebene Ausdrucksmittel erscheinen. Goethe ist jedoch auch j etzt bestrebt, derartige künstlerisch schneidende Kontraste soweit wie irgend möglich zu vermeiden, seinen alten Stil der feinen Lichter und leisen Schatten - Gestal­ tungsmethoden der unmittelbar dargestellten Menschlichkeit, ohne Umwege über den »Kern « - aufrechtzuerhalten, auch die allgemeinsten Zusammen­ hänge der Gattungsentwicklung in die Sprache des (hier künstlich wieder­ hergestellten) Einzelmenschen zu übersetzen. So entstehen Diskrepanzen zwischen den objektiv notwendig gewordenen Forderungen des Ausdrucks und der subjektiv zwangsläufigen Sprechweise des Dichters. Goethes große Nachfolger empfinden diese Scheu nicht mehr. So bedeutende Gestalten wie Balzac oder Tolstoi haben nicht die geringsten Skrupel, wenn es gilt, einen für das Verständnis des Ganzen notwendigen gesellschaftlichen oder historischen Zusammenhang direkt klarzumachen, streckenweise den ge­ stalterischen Weg resolut aufzugeben und rein gedanklich erklärend vorzu­ gehen. Bei ihnen freilich, die die Formgrenzen qer »Kunstperiode« gesprengt haben und die kapitalistische Prosa auf ganz anderen Wegen zu überwinden versuchen, entstehen künstlerische Schwierigkeiten und Dissonanzen vollkom­ men anderer Art, deren Behandlung außerhalb des Rahmens dieser Betrach­ tungen liegt. Es ist also unrichtig, von einer sinkenden Schöpfer kraft Goethes im zweiten Teil des » Faust« zu sprechen oder gar dessen ganze Eigentümlichkeit aus ihr abzuleiten. Es ist aber unfraglich, daß der zweite Teil durchaus problemati­ schen Charakters ist. Diese Problematik, die bereits oben angedeutet wurde, liegt in der Konzeption, liegt in der paradox-dissonanten Beziehung von Lebensstoff und dichterischem Stil. Sowenig Goethe geneigt ist, den Weg der Rhetorik einzuschlagen : eine dekorative Typik, eine dekorative Hintergrund­ malerei mit Worten ist unausbleiblich. Die Gattungsmäßigkeit als zentrales Thema und Stilelement erfordert oft Übergänge, die, vom Einzelmenschen aus gesehen, schroff und abstrakt wirken müssen, deren vollständige mensch-

Faust-Studien

liehe Konkretisierung Goethe unmöglich immer glücken konnte. Und selbst, wenn sie innerl ich, dichterisch gelungen ist, setzt ihr Verständnis so viel vor­ aus, daß eine unmittelbare Wirkung nicht durchgehend entstehen kann. So läßt Goethe in der Begegnung Fausts mit Helena diese die neue Form der individuellen Liebe, die im Mittelalter entstand, erleben. Er gestaltet dies in sehr feiner und beziehungsreicher Weise, indem er Helena im Schloß Fausts plötzlich bemerken läßt, daß die Sprache den ihrem antiken Ohr unbekann­ ten Reim hat : »Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen.« Und Goethe führt uns nun die entstehende Liebe Fausts und Helenas so vor, daß in den Wechselreden beider nunmehr die gereimten Strophen der mittelalterlich neu­ zeitlichen, nicht antiken Poesie erscheinen : Helena : Faust:

Helena :

So sage denn, wie sprech' i ch auch s o schön? Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn. Und wenn die Brust vor Sehnsucht überfließt, Man sieht sich um und fragt wer mitgenießt.

Aber ein solches Zusammentreffen der dekorativ-allegorischen Bedeutsamkeit mit der (aus ihr quellenden) menschlichen Spontaneität kann selbstverständ­ lich nicht überall zu finden sein. Es gibt im zweiten Teil auch kalte, harte, menschlich übergangslose Partien, Teile, in denen das allegorische Element allzusehr überwiegt (Maskenzug im ersten Akt) . Und nicht alle dichterisd1en Werte Goethes können mit dem Gesamtstil des Ganzen zu vollem Einklang gebracht werden. Alle diese Dissonanzen zeigen, daß der zweite Teil des » Faust« wirklich Abschluß einer großen Epoche ist. Viele nennen seine Darstellungsart »Alters­ stil « . Mit relativer Berechtigung. Aber es handelt sich mehr um das Alter einer Welt als um das eines Menschen. Es ist die letzte künstlerische Voll­ endung des Nichtvollendbaren. In hoher Kunst die Selbstaufhebung der »Kunstperiode«. Wirklich eine »inkommensurable Produktion«.

Don Quijote

Der »Don Quijote« ist einer der größten Bucherfolge der Weltliteratur. Es gibt kaum Erwachsene und Kinder, die neben Gulliver und Robinson nicht auch den Don Quijote kennen und lieben. Die Gestalt des Haupthelden im Roman von Cervantes ging in das Bewußtsein der Menschheit als eine be­ sondere Figur ein; sie ist, wie auch Hamlet und Faust, aus unserem Leben nicht wegzudenken; sie verkörpert einen Typus, der die Menschen durch die Wandlungen der Zeiten begleitet ; sie hilft ihnen, das Leben richtig zu ver­ stehen. Erfolge solcher Art sind niemals zufällig. Sie lassen sich nicht allein aus der gesellschaftlichen Wahrheit oder aus dem Ideengehalt eines Werkes erklären. Die breiten Massen und besonders die Kinder erhoffen von der Literatur eine spannende Lektüre, und das mit Recht. Die durch die Jahrhun derte be­ währte Popularität von Cervantes basiert gerade darauf, daß »Don Quijote« eine ergreifende, hinreißende Lektüre ist, die der Leser kaum aus der Hand legen möchte, bei der er lacht oder weint, sich selber aber niemals gelangweilt fühlt. Er ist eines jener Bücher, nach deren Lektüre der Leser aufrichtig be­ dauert, daß die Handlung ein Ende nahm. Cervantes baut seinen Roman auf die wechselvolle, immer neue und neue Abenteuer bietende Mannigfaltigkeit. Zwar begeht sein Held - getreu seinem Charakter - immer wieder Narre­ teien derselben Art, da aber diese Narreteien un�versell sind und sich auf alle Gebiete des Lebens erstrecken, hat dies Moment des Beständigen nur die Aufgabe, Don Quijote in immer neue Abenteuer zu stürzen, wobei freilich die Abenteuer selbst keine Wiederholung erfahren. Cervantes läßt die ganze Gesellschaft seiner Zeit vor uns Revue passieren : vom herzoglichen Hof bis zu den Galeerensklaven, Adlige und ausgebeutete Bauern, verschiedene Vertre­ ter der Intelligenz und des Kleinbürgertums, Pfarrer und die wegen ihres Glaubens verfolgten Moren usw. Doch erschöpft sich die Mannigfaltigkeit des »Don Quijote« nicht darin, daß Cervantes sämtliche Schichten der Gesell­ schaft einer interessanten Übergangsepoche in ausgezeichnet individualisierten Gestalten vor uns erstehen läßt ; nicht einmal darin, daß die Buntheit der gesellschaftlichen Verhältnisse jener Epoche in mannigfaltigen Bildern an uns vorüberzieht. Cervantes ist ein wahrhaft großer Erzähler. Das bedeutet einerseits, daß er mit unerschöpflicher Phantasie immer wieder neue span­ nende Abenteuer erfindet, daß er seine Figuren in ihren Handlungen zeigt,

Don Quijote Situationen erfindet, in denen ihre Charakterzüge auf die spannendste Weise zum Vorschein kommen. Andererseits beherrscht er die vielstimmige Skala der wahrhaften Erzählungskunst in vollem Maß : es gibt keine Taten, Ge­ fühle und Stimmungen vom Erhabenen bis zum Possenhaften, vom Entsetz­ lichen bis zum Lachhaften, denen wir im Roman nicht begegneten. Der »Don Quijote« gehört zu jenen Büchern der Weltliteratur, die man mit dem größten Genuß liest, und dieser - im besten Sinne des Wortes - unterhaltsame Cha­ rakter ist untrennbar mit dem tiefen I deengehalt verbunden. Nicht umsonst war der »Don Quijote« stets das Lieblingsbuch der fort­ schrittlichsten Menschen. Für Marx repräsentierten Cervantes und Balzac die Gipfelpunkte der Romanliteratur. Als Dimitroff einst in Moskau vor anti­ faschistischen Schriftstellern einen Vortrag über Literaturpolitik hielt, sagte er: » Schreibt gegen den deutschen Faschismus eine Satire, wie der >Don Quijote< eine ist. « I n der Tat, vom unmittelbaren Ziel und Inhalt her gesehen ist der »Don Quijote « die vernichtendste literarische Satire, die jemals geschrieben wurde. Die modische Lektüre der Epoche des großen spanischen Schriftstellers Cer­ vantes waren die Ritterromane, die Auflösung der mittelalterlichen Dichtung in flache und leere Prosa ; die Darstellung einer verfälschten Welt, die die Menschen der Wirklichkeit entfremdete, ihrem Gefühlsleben und dadurch ihrer ganzen Haltung eine falsche Richtung wies. Der »Don Quijote« zeigt die zerstörende Wirkung dieser Romane unmittelbar. Die Hauptfigur ist ein an sich bescheidener, gebildeter, kluger Mensch mit feinem sittlichem Gefühl. Er wurde geradezu geschaffen, um eine nützliche Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Doch von der Lektüre der Ritterromane wird er verrückt. Er ver­ sucht, deren I deale in die Wirklichkeit umzusetzen. Unter diesem verheeren­ den Einfluß schlagen alle seine Taten in ihren Gegensatz um, das Erhabene wird lächerlich, die Gutmütigkeit schädlich, das edle Wohlwollen Unsinn. Der Roman von Cervantes hatte eine vernichtende Wirkung auf die ver­ höhnte Ritterliteratur. Die wahre Literatur feierte noch niemals solchen Triumph über verlogene Pseudoliteratur. Das Erscheinen des »Don Quijote« ( 1 60 5 - 1 6 1 5 ) bereitete den modischen Ritterromanen ein Ende. Gleichzeitig d amit trat der b ürgerliche Roman, die Literatur des kritischen Realismus, den Jahrhunderte währenden Triumphzug an. Und man kann sagen, daß diese Literatur kaum einen Schriftsteller von dauerhafter Bedeutung kennt, den der mächtige Anbeginn unberührt gelassen hat. Bei den großen englischen Meistern des kritischen Realismus (Swift, Fielding, Sterne usw.) ist auf Schritt und Tritt der unmittelbare Einfluß des »Don Quijote« zu spüren. Balzac führt

Anhang uns aus der Epoche der Restauration eine ganze Reihe legitimistischer Don Quijotes vor. Aber auch dort, wo dieser Einfluß nicht so unmittelbar war, bei Goethe oder in den Romanen der großen russischen Realisten, findet man die Spuren dieses großen Unterfangens von Cervantes. Wo von einem Einfluß die Rede ist, der jahrhundertelang anhielt, wo Ge­ stalten geschaffen wurden, die - über die Schranken der Literatur hinaus zum organischen Teil des Bewußtseins der Menschheit geworden sind, da geh t man fehl mit der Annahme, daß die Satire nur auf einen zeitgebundenen Inhalt ausgerichtet sei, nämlich auf die Vernichtung der modischen Ritter­ romane. (Obwohl diese Zeitströmung als Gegner dur chaus nicht zu unter­ schätzen war.) Deshalb sprachen wir bis jetzt über den unmittelbaren Inhalt dieses Romans. Deshalb unterstrichen wir, daß dieses Werk gleichzeitig die Schaffung des modernen Romans bedeutet. Es ist also über die satirische Zerstörung hinaus und zugleich mit ihr unzertrennlich verbunden auch eine positive Schöpfung. Wie entstand diese Verflechtung ? Für Cervantes war die Literatur i n erster Linie nicht als Literatur der Gegenstand eines satirischen Kampfes, sondern als Lebensfaktor, als ideologische Macht, die auf die gesellschaftlichen Hand­ lungen der Menschen aktiv einwirkt. Cervantes begründet demnach nicht nur den modernen Roman, sondern u nzertrennlich damit erkennt er auch mit voller Kl arheit die gesellschaftliche Rolle der neuen Literatur. Demzufolge wird das unmittelbar gesteckte Ziel in seiner Darstellung immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Zwar macht er ausgezeichnete satirische Beobachtun­ gen und Feststellungen über die Verlogenheit des Ritterromans. Doch besteht das Wesentliche seiner Gestaltung darin : zu zeigen, welches menschliche Ver­ halten sich im Don Quijote unter dem Einfluß der Lektüre von Ritterromanen herausbildet. Auch darin überragt Cervantes mit der Genialität des wahrhaft großen Schriftstellers bei weitem das durchschnittlich Gewohnte. Sicherlich fanden die Ritterromane viele tausende Leser, die sich den Kopf verdrehen und der Wirklichkeit entfremden ließen. Mit seiner dichterischen Erfindungskraft er­ faßt Cervantes jedoch weit mehr als nur diese Tatsache : er erfindet einen Menschen, der die Moral der Ritterromane in die Wirklichkeit versetzt, der die stilisierte mittelalterliche Lebensführung, die Gewohnheiten und Hand­ lungsweise dieser Romane im Leben zu verwirklichen trachtet. M an kann sich die Existenz eines solchen Menschen kaum vorstellen. Also erfand Cervantes gleich bei der Begründung des modernen Romans die dichterische Methode des wahrhaft großen bürgerlichen Romans und führte sie auch konsequent

Don Quijote durch. Sie lautet : die Prosa des bürgerlichen Lebens auf die Höhen des voll­ endet Poetischen in einer Weise zu erheben, daß man einen extremen Fall gestaltet, einen extremen Menschen mit seinen extremen Taten. Daraus ergibt sich die Atmosphäre des Ph antastischen in diesem Roman. Die Prosa des bür­ gerlichen Lebens erfährt eine farbige und reichhaltige diduerische Ge­ staltung. Wie läßt sich das aber mit dem Realismus vereinbaren ? Für den oberfläch­ lichen, am Naturalismus des dekadenten Bürgertums geschulten Gesd1mack ist das ganz und gar unmögl ich. Wer im Realismus nach Fotoaufnahmen sucht, wird sie bei Cervantes ebensowenig wie bei Swift und Saltykow-Sduschedrin finden. Für die nicht-formalistische und nicht-dekadente Betrachtung ist die Frage äußerst einfach. Die Wahrheit der Literatur ist mit der gesellschaftlichen Wahrheit des I nhalts identisch. Von diesem Standpunkt aus ist der Roman von Cervantes nicht nur der erste realistische Roman, sondern gleichzeitig auch einer der größten realistischen Romane aller Zeiten überhaupt. Weshalb ist das Phantastische dieser Art realistisch und dichterisch zugleich? Weil Cervantes nidu einen beliebigen extremen Charakter schildert und des­ sen extreme Taten, die einfach in eine beliebige Phantastik umschlagen. Für ihn ist das Extrem die dichterische Konzentration der gesellschaftlichen Be­ stimmungen, des gegebenen gesellschaftlichen Problems in einer Gestalt, in deren Handlungen und Abenteuern. Das Phantastische basiert einmal dar­ auf, daß Don Quijote nicht ein beliebiger Träumer ist, sondern eine seltene Persönlichkeit, die ihre sämtlichen Gefühle und Gedanken sofort in Taten umsetzt, die mit eiserner Konsequenz ihren Weg zurücklegt, einen Weg, der sich sowohl in seiner Gesamtheit als auch in seinen einzelnen Abschnitten un­ unterbrochen als falsch erweist. Andererseits sind auch die Erscheinungen der Außenwelt, in denen sich solche Konflikte zwischen I deologie und Wirklich­ keit ergeben, extrem, ohne freilich dabei ihren gesellschaftlichen Wirklichkeits­ charakter auch nur für einen Moment einzubüßen. Die gesellschaftliche Evi­ denz des Extremen ergibt sich teils aus der Haltung Don Quijotes, teils aus der - spontanen oder bewußten - Reaktion der in die Handlung einbezoge­ nen Personen. So ist das Phantastische bei Cervantes nichts anderes als die komprimierte Verwirklichung einer wahr erfaßten gesellschaftlichen Situation. Diese Ver­ dichtung der Form bedeutet aber zugleich ein neues Element des Inhalts : näm­ lich die Verschrobenhei t einer gesellschaftlichen Lage, einer menschlichen Haltung nicht auf abstrakte Weise, ausschließlich mit den Mitteln der bloßen Kritik aufzuzeigen, sondern durch die anschauliche Demonstration der hieraus

Anhang entstehenden endgültigen Konsequenzen. Und in einem solchen Fall stehen mit einem Schlag alle jene Züge vor uns, die wir sonst vielleicht gar nicht be­ merkt, jedenfalls in ihrer großen Bedeutsamkeit keinesweg erkannt hätten. Damit hat Cervantes für die Darstellungsart des modernen kritischen Realis­ mus einen neuen Weg gebahnt. Nicht nur in den Romanen Swifts und Voltai­ res, sondern auch in den phantastischen Novellen von Hoffmann, Balzac, Go­ gol können wir die Wirkung dieser Gestaltungsart spüren. Da es sich um große Schriftsteller handelt, kann natürlich die Wirkung nicht Nachahmung be­ deuten. Wie ist es nun aber möglich, daß diese groteske fixe I dee, wie sie Don Quijote beherrscht, in einem Roman von mächtigem Umfang, eine lange Reihe von Abenteuern hindurch sogar noch eine phantastische Steigerung erfährt? Wie ist es möglich, daß Don Quijote immer wieder dieselbe Position des B linden und Nichtverstehenden der Wirklichkeit seines Zeitalters gegenüber bezieht, ohne daß dadurch seine Haltung unwahrscheinlich werden müßte? Wie ist es möglich, daß so viele bittere und lächerliche Erfahrungen ihn nicht er­ nüchtern ? Just hierin äußert sich Cervantes' Tiefgründigkeit, seine typenschaffende Kraft in ihrer ganzen Größe. Er hat erkannt, daß gerade diese Haltung keine Ernüchterung kennt ; besteht doch ihr Wesen eben in der Unfähigkeit, von der Wirklichkeit zu lernen. Wenn die Riesen, gegen die Don Quijote zur Stoßlanze greift, sich als Windmühlen erweisen, so ist Don Quijote fest davon überzeugt, einem Zauber gegenüberzustehen. Wenn sich die große Liebe seines Ritterlebens - die poetisch-ätherische Dulcinea - als eine wuchtig-vierschrötige Bauernmagd entpuppt, so steht Don Quijote in seinem B ewußtsein wieder einem »Zauber« gegenüber. Die » echte« Wirklichkeit ist in seinen Augen : die der Riesen und der feenhaften Dulcinea; die » echte« Wirklichkeit ist für ihn das idealisierte Mittelalter. Und trotz der Prügel, die er bezieht, trotz d er Verhöhnungen, die ihm zuteil werden, dringt all das, was in der gesellschaft­ lichen Wirklichkeit seines Zeitalters tatsächlich existiert, nie bis zu seinem Be­ wußtsein vor. Damit hat Cervantes einen Typus entdeckt, der für die Ver­ haltensweise einer Menschengattung der Klassengesellschaft lange Zeit gültig ist. Denken wir daran, was Marx von der »Bergpartei« der achtundvierziger Revolution, ihren kleinbürgerlichen Demokraten sagte, die geradeso in der Traumwelt der großen bürgerlichen Revolution leben wie Don Quijote in der der Ritterromane. Marx schreibt : »Jedenfalls geht der Demokrat eben­ so makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, daß er siegen

Don Qz.eijote muß, nicht daß er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, daß die Verhältnisse ihm entgegenzureifen haben. « Gleichzeitig mit Cervantes kämpfte sein großer Zeit genosse Shakespeare in mächtigen Werken gegen die I deologie des untergehenden Feudalismus. Bald tragisch (Richard III. ) , bald komisch (Falstaff) führt er uns die typisch erfaß­ ten Gestalten des Zerfalls vor. Diese beiden großen Schriftsteller stritten in derselben Richtung, in der Richtung des Fortschritts. Ihre künstlerische Me­ thode ist aber eine radikal entgegengesetzte. Shakespeare führt uns überall das moralische Verkommen des Feudalismus vor. Dies steigert sich in Richard zum Teuflischen, verkommt in Falstaff zu einer lächerlichen Niederträchtigkeit. Cervantes greift die Frage mit derselben Tiefe und Wahrheitstreue von einer anderen Seite auf. Auch hier erfaßte Cervantes eine ernste und typische Frage der Entwicklung und stellte sie dar. Ähnlich können wir bei Balzac sehen, wie der moralische Auswurf der Royalisten den frischen Braten des aufwärtsstrebenden Kapita­ lismus verschlingt, während jene, die wirklich für die - reaktionäre - Sache des Legitimismus gekämpft und gelitten haben, beiseite geschoben im Elend verkümmern. Die Darstellung solcher Übergangszeiten sehen wir ebenso bei Turgenjew. In Don Quijote leben die größten - und einst fortschrittlichen - Tugenden der Ritterzeit kraftvoll weiter. Was sein Seelenleben betrifft, so bewahrt er diese Tugenden unerschütterlich in sich auf. Demzufolge findet bei ihm die Auflösung seiner Klasse nicht darin ihren Ausdruck, daß seine persönlichen Charakterzüge sich dem Niedrigen, Bösen oder Gemeinen zuwenden. Die Klassengesellschaft, der er mit Haut und Haaren angehört, ist für immer von der B ühne der Geschichte verschwunden, und so nehmen gerade seine posi­ tiven, gerade seine besten Eigenschaften den Charakter des Verkehrten, Ko­ mischen an, so oft seine Handlungen in B eziehung zur Gesellschaft stehen. » Vernunft wird Unsinn, Wohl tat Plage«, sagt Mephistopheles in Goethes »Faust«. Cervantes deckt hier mit genialer dichterischer Verallgemeinerung eine tief­ gründige Wahrheit auf : die Relativität, die gesellschaftlich-historische Ver­ änderlichkeit von Tugend und Verbrechen, von guten und schlechten Eigen­ schaften, von Erhabenem und Lächerlichem, von Tragischem und Komischem. Jede Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung stellt die Förderer dieser Ent­ wicklung vor neue Aufgaben ; Tugend kann nur sein, was der Entwicklung dienlich ist. Ja, selbst die angeblich »zeitlosesten « Begriffe der Ästhetik, nämlich das Tragische und das Komische, vermögen nur in diesem Zusam-

Anhang menhang einen konkreten Sinn zu gewinnen. Als Marx über die Zeit vor und nach der Französischen Revolution schrieb, beleuchtete er das Schicksal der Anhänger der alten Monarchie ; er zeigte, wie im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung, infolge dieser Entwicklung das Tragische zum Komischen wird. Diesen Prozeß schildert Cervantes künstlerisch. Und gerade die Ehrl ichkeit, Klugheit, Tapferkeit seines Helden rücken diese Wahrheit ins rechte L icht. Nicht persönliche Charaktermängel sind daran schuld, daß Don Quijote zu einer unwiderstehlich lächerlichen Figur wird, sondern ausschließlich die ge­ schichtliche Situation, in der seine hohen sittlichen Eigenschaften unweigerlich in verderbliche umschlagen müssen. Cervantes erfaßt auch hier die typischen Züge der Entwicklung von Jahrhunderten. Denken wir, um ein besonders extremes Beispiel zu wählen, an die Gestalt des Nagulnow in Scholochows »Neuland unter Pflug«. In ihm leben die besten Eigenschaften der Helden des Bürgerkrieges ; diese Eigenschaften be­ hält er unverändert bei, ohne Umbau, ohne Umerziehung, und so erweisen sie sich als schädlich, als gefährlich im Kampf um das Neue. Nagulnow wird zur tragikomischen Figur. Wir müssen es zu den »Betriebskosten « der großen gesellschaftlichen Umgestaltung rechnen, daß oft menschlich wertvolle Figu­ ren, ohne Nutzen zu bringen, ja gesellschaftlichen Schaden verursachend, zu­ grunde gehen. Was ist nun aber Don Quijote ? Ist er eine positive oder eine negative Ge­ stalt? (Bei Shakespeare ist dies eine einfache und klare Frage.) Selbst die größten bürgerlichen Dichter und Denker sind hier auf unlösbare Wider­ sprüche gestoßen. Heine zum Beispiel sagt über den Roman von Cervantes, daß er eine Satire auf die Begeisterung sei. Sogar ein so großer Dichter wie Heine stellt die Frage abstrakt und führt infolgedessen auf eine falsche Spur. Das Objekt der Satire von Cervantes ist nicht die Begeisterung im allgemeinen, sondern die von bestimmten Klasseninhalten erfüllte B e­ geisterung Don Quijotes, und die Satire wendet sich gegen diesen konkreten Inhalt. Daraus folgt natürlich die eigentümliche B eleuchtung der ganzen Welt des Romans. Der unvoreingenommene Leser lacht über Don Quijote, verlacht seine Weltanschauung, seine Zielsetzungen, fühlt aber gleichzeitig eine tiefe Sympathie für die moralische Reinheit dieser B egeisterung. Die Lösung des Rätsels gib t die Frage der Übergänge, in der sich klassen­ gesellschaftliche Formationen ablösen. Die Relativität der Tugenden hat heute einen ganz anderen Sinn. Hier kann also das B eispiel D on Quijotes nicht mehr angewendet werden. (Ist doch auch Scholochows Nagulnow ein treuer, aber auf Irrwege geratener Revolutionär.) Der Charakter der alten über-

Don Quijote gänge war ein ganz anderer : im Fortschritt waren sehr oft - gerade auf moralischem, gerade auf kulturellem Gebiet - Elemente der Rückentwick­ lung enthalten . Dies führt Engels sehr klar bei dem Verfall des Urkommunis­ mus aus und Coopers »Lederstrumpf« schildert diesen Übergang schön. Will man über den Roman von Cervantes ein auch nur einigermaßen um­ fassendes B ild erhalten, so darf man Don Quijotes Gegenpol und Gegen­ stück, Sancho Pansa, nicht außer acht lassen. Cervantes stellt nicht nur in einzelnen Abenteuern den gesunden B auernverstand des Schildknappen der Verrücktheit des Ritters gegenüber. (Dabei zeigt er wieder einmal geschicht­ lich tief und richtig, daß Sancho Pansa trotz alledem ein getreuer Gefährte Don Quijotes in allen Narreteien ist ; Sancho Pansa lacht zwar über Don Quijote, schließt sich ihm aber doch treu und brav an.) Aber dieser Gegen­ satz wird noch mehr vertieft. Don Quijote erleidet überall eine Schlappe. Als jedoch der herzogliche Hof in einer launischen Anwandlung Sancho Pansa zum Gouverneur macht, da erstickt die nüchterne Weisheit, mit der dieser alle kniffligen Fragen löst, jeden Versuch der Verhöhnung. Hier stehen wir - gerade in dem Sinne, in dem Don Quijote einen welthistorischen Gipfel­ punkt der satirischen Komik darstellt - dem anderen Extrem gegenüber : da belustigen wir uns über jene, die sich über Sancho Pansa amüsieren wollten. Auch darin i st Cervantes der B egründer des bürgerlichen realistischen Romans ; er sieht und zeigt die intellektuelle und moralische Überlegenheit des Volkes über die herrschenden Klassen. Cervantes schlägt hier als erster Töne an, die dann von Diderot und Walter Scott bis B alzac und Tolstoi bei allen echten Vertretern des kritischen Realismus zu vernehmen sind.

über einen Aspekt der Aktualität Shakespeares

In der Szenik werden Schicksale zu Bildern. Aber die Bühnenbilder, die wir gestern sahen und heute sehen, sind in den seltensten Fällen die Bilder der Shakespeareschen Schicksale. Denn was ist Szenik? Man verkündet : der geniale Regisseur setze das bloße Wortgefüge in visuelle B ildhaftigkeit um. In Wirklichkeit sind bei Shakespeare die eigentlichen Schicksale in den Dia­ logen selbst enthalten, und die Theaterszenen sind zumeist arn1selige Dupli­ kate oder mutwillige Zerstörung, Verfälschung des in Worten bereits voll­ endet Aufgebauten. Die Worte des Dialogs drücken die Spannungen im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft - Terrain und Vehikel seines Schicksals - aus und werden eben durch diese Spannung zu Bildern. Nicht Nachahmungen von Säulen­ hallen ergeben die Szenik der griechischen Tragödien. Es ist der Polisbürger, der, indem er zur Individualität reift, sein Dasein als Polisbürger sprengt, aber doch - innerlich - nie über die Polisbürgerschaft hinauslangen kann. So entsteht diese Szenik, die seelische Landschaft der griechischen Tragödien : noch geschlossen bei Aischylos, wo das Gottesurteil die tragische Rache in die Polisordnung zurückführt ; in höchster Spannung bei Sophokles, wo das Hin­ überwachsen von der Polismoral in individuelle Ethik eine einzigartige tragische Harmonie von Seele und Tat, von Persönlichkeit und Gesellschaft hat. Es entsteht eine innerlich reich gegliederte Geschlossenheit, die, bis auf Shakespeare, nie mehr ihresgleichen fand. Diametral entgegengesetzt ist die Szenik des modernen bürgerlichen D ramas. Die Gesellschaft hat unendlich an faktischer Macht gewonnen, hat aber ihre konkrete Physiognomie aus Polis (und Mittelalter) eingebüßt, sie erscheint als Milieu, das den Menschen als eine fremde und unausweichliche Gewalt gegenübersteht. Die menschliche Innerlichkeit ist zugleich an dieses Milieu gekettet und in ihm heimatlos. Ihr Bestreben ist, sich wenigstens innerlich von der so entstandenen Selbstentfremdung zu retten. Deshalb gewinnt hier zum erstenmal in der Geschichte des Dramas - das szenische Bild eine selb­ ständige Gestalt. Es besteht unabhängig vom Dialog, obwohl dieser nur innerhalb eines solchen Milieus möglich ist. Diese Szenik ist tief im gesell­ schaftlichen Sein des bürgerlichen Zeitalters verankert; sie drückt wie Friedrich Hebbel vor mehr als hundert Jahren gesagt hat, » die schreckliche Gebunden­ heit des Lebens in der Einseitigkeit« aus. Dieses Thema, die Entstellung und

ü ber einen Aspekt der Aktualität Shakespeares Entfremdung der menschlichen Persönlichkeit im Milieu der bürgerlichen Ge­ sellschaft, der tragische, komische und tragikomische Kampf dagegen wird von Hebbel und Ostrowski bis zu Tschechow und O'Neill von diesem Drama gestal­ tet. Darum ist es nur folgerichtig, wenn die praktischen Szeniker des Theaters dieser Periode eine Milieu bühne aufbauen, die auch durch die subjektivistische Verfeinerung zu einer Stimmungsbühne nie aufhört, milieuhaft zu sein. D ie Szenik Shakespeares ist ein großes tertium datur diesen beiden Extremen gegenüber. Sie hat die äußeren volkstümlichen Formen aus dem Mittelalter herübergerettet, um in ihnen, durch sie künstlerisch vermittelt, die neuen großen Tragödien von Individualität und Gesellschaftlichkeit in der Renais­ sance sich abspielen zu lassen. Shakespeares einzigartige Stellung unter seinen Zeitgenossen beruht einerseits darauf, daß er die bunte Volkstümlichkeit der Szenen nie durch einen » Klassizismus« abschwächt, andererseits, daß er in einer spannungsvoll-tragischen Atmosphäre die letzthinnige Harmonie der ethischen Einheit von Persönlichkeit und Gesellschaftlichkeit immer zur Herr­ schaft bringt. Die Renaissance hat in der Auffassung vom Menschen eine doppelte Linie. Sie erhebt zum erstenmal in der Geschichte die diesseitige Vollendung der menschlichen Individualität zum höchsten Wert. Zugleich jedoch begründet sie im Verhältnis des Menschen zur Welt, zur Natur und zur Gesellschaft jene spezifischen Verhaltensweisen, die später zu Gru nd­ lagen der Differenzierung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sein werden. So in Machiavellis Trennung der Ethik vom politischen Handeln, so bei Galilei in der Ansicht von der Natur als einem Buch, das im Alphabet der Geometrie geschrieben ist. Mit alledem steht aber die Renaissance, wie dies Engels richtig gesehen h at, noch diesseits der modernen Arbeitsteilung. Shakespeares besondere Note ist, daß bei ihm diese Diesseitigkeit vorherrscht. Nie ist, weder früher noch später, die Ungeteiltheit, die Unteilbarkeit des Menschen so gestaltet worden, der unaufhebbare Primat des menschlichen Kerns selbst vor allen seinen Objektivationen . Shakespeare kannte Machia­ velli, hatte viel von ihm gelernt, setzte sich auch mit ihm auseinander, aber bei allen seinen großen Gestalten wird das politische Handeln, das gesellschaft­ liche Schicksal in die ethisd1e Substanz der Individualität aufgesogen, er­ scheint als dessen Attribut oder Modus. In alledem ist eine tiefe und umfassende Weltanschauung enthalten, sie erscheint und äußert sich aber immer im Fluidum der aufbewahrten Volks­ tümlichkeit. Die äußere Szenik, die Szenik im theatralisd1-technischen Sinn teilt Shakespeare mit seinen Zeitgenossen. Bei den meisten von ihnen ist jedoch diese nicht mehr als eine traditionell gegebene Bühnenform für ihre

63 2

Anhang

Fabel und Figuren, bei Shakespeare dagegen erwächst aus dieser L age eine untrennbare Einheit des Inneren und des 1\ußeren. Dies konkret aufzuzeigen, wäre ein dickes Buch nötig. Ganz allgemein gesprochen handelt es s ich um die Rhythmik und die A tmosphäre der sich rasch wandelnden kurzen Szenen. Die Rhythmik der Schicksalskurve ist nämlich bei Sh akespeare n ie bloß eine große, allgemeine Linie - sie ist auch das -, sondern sie setzt sich aus viel­ farbigen explosiven Augenblicken zusammen, die unmittelbar in ihrem hie et nunc restlos aufzugehen scheinen. Ihr dramatisches Nacheinander, ihr wechsel­ seitiges, kontrastierendes Ergänzen ergibt aber letzten Endes eine neue gehaltbeladene Einheit. Das h at für die einzelnen, oft sehr kurzen Szenen, aus denen sich die Tragödie zusammensetzt, bedeutsame szenisch-stilistische Folgen. Vor allem ist jede dieser Szenen eine unaufhebbar selbständige Indi­ vidualität, eine in sich vollendete Monade : ihre Atmosphäre, ihr dialogisch pittoreskes Wesen, das innere Auf und Ab der in ihr konzentrierten seelischen Bewegungen machen eine direkte Subsumtion unter eine allgemeine G anzheit unmöglich. (Man denke dagegen an die Einheit des Hintergrundes in jeder griechischen Tragödie, an die, man könnte sagen, apriorische Stimmungs­ synthese, die jedes bürgerliche Drama beherrscht. B ei allen sonstigen Diver­ genzen stehen in dieser Hinsicht »Die Wildente«, »Der Kirschgarten «, » Moon for the Misbegotten« auf einer Ebene.) Die dramaturgische Synthese der Shakespeareschen Szenen ist dagegen eine aposteriorische. Sie baut sich aus der Wechselwirkung selbständiger, einmaliger Individualitäten auf. Der Ge­ gensatz von Kürze oder Länge, von konkretisierendem Stimmungsgehalt sind die ästhetischen Kräfte, die aus dieser Mannigfaltigkeit letzten Endes eine Ein­ heit schaffen. D abei ist die innere Homogeneität einer jeden Szene ebenfalls dynamisch : sie baut sich aus dem Dialog - und nur aus dem Dialog - auf. Selbst vehemente Naturereignisse, wie dem Sturm im »Lear«, sind mit allen Details, mit allen Steigerungen und Decrescendos an die dramatis personae, an die rein menschlichen Schicksale gebunden. Allerdings - und hier kommt Shakespeares radikale, bis zur Grausamkeit gehende Objektivität zur Gel­ tung - ohne auch nur für einen Augenblick zu subjektiven Stimmungen redu­ ziert zu werden. Die Grundlage einer solchen Szenik ist das Verhältnis des Menschen zur Welt (letzthin zur Gesellschaft), die Art, wie sich in der Tragödie die Einh eit von Bewährung und Untergang, von menschlicher Vollendung und Zerbrechen am Schicksal durchsetzt. Bei Shakespeare ist in dieser Frage die sich ent­ ladende Spannung tiefer greifend und explosiver als je früher oder später, jedoch zugleich von einer inneren Heiterkeit des Glaubens an die diesseitige,

ü ber einen Aspekt der Aktualität Shakespeares

633

wenn auch tragische, Unzerstörbarkeit der menschlichen Substanz durch­ drungen. Man hat seine Kunst oft mit Mozart oder Raffael, mit Bach oder Michelangelo, mit Beethoven oder Rembrandt verglichen. Bei Elementen des partiell Treffenden gehen aber alle diese Vergleiche an seiner qualitativen Ein­ zigartigkeit vorbei. Denn es handelt sich bei Shakespeare um eine untrennbare Einheit des Schreckens und der Heiterkeit, des Majestätischen und des Graziö­ sen, des Atmosphärisch-Malerisd1en u nd der streng gezogenen Linearität. Wie­ der ist diese Einheit primär nicht artistisch, sondern in der Weltsicht des Dich­ ters fundiert : die absolute Diesseitigkeit der menschlichen Vollendung muß jede, auch noch so ätherisch gemachte Theodizee aus der gestalteten Außenwelt entfernen und dem Menschen - gerade in einer solchen Wirklichkeit - ermög­ lichen, sein eigenes Leben, wenn auch tragisch, sinnvoll zu machen. Wenn Lessing nur die letzthinnige Verwandtschaft von Sophokles und Shakespeare festgestellt hätte, hätte er sich bereits als großer Kritiker erwiesen. Es ist bekannt : der echte Nachruhm des erfolgreichen Stückeschreibers Shakespeare beginnt erst relativ spät. Erst das bürgerliche Zeitalter hat ihn als Weltdichter anerkannt. Er steht als versunkenes goldenes Zeitalter der menschlichen Erfüllung einer Welt gegenüber, in der der Mensch einen ver­ zweifelten Kampf dagegen führen muß, daß seine Substanz nicht völlig zerbröckelt; als goldenes Zeitalter, das zugleich als fernes utopisches Ziel aus der Zukunft entgegenglänzt. Dieser doppelten Faszination kann sich die bürgerliche Welt nicht entziehen, immer wieder werden Versuche gemacht, diese entschwundene Zukunft in die graue Gegenwart hineinzuzaubern. Fast immer vergeblich. Schon Goethes » Götz von B erlichingen« war innerlich weit weniger eine Erneuer ung Shakesp eares als ein Vorläufertum zu Walter Scotts Romanen. Und fast alle folgenden - untereinander höchst verschiede­ nen - Versuche scheiterten daran, daß aus der dialogisch beschwingten Welt Shakespeares immer wieder ein gesellschaftlich-geschichtliches Milieu wurde, nicht selten dichterisch u nd dramatisch von beträchtlichem Wert, aber dennoch dieses heiß ersehnte menschlidi-dichterische Ziel verfehlend. (Beiläufig gesagt : wir sprechen hier nur von bedeutenden Versuchen, nicht von den zahlreichen akademistischen Nachahmungen. ) Es sind seltene Ausnahmen, wo wenigstens wirkliche Durchbrüche in dieser Richtung vollzogen wurden. So in der Kon­ zeption der Gestalten von Puschkins »Boris Godunow«, so in der Szenik von Büchners »Dantons Tod « . B eiden gelingt es vielfach, ihre historische Welt aus der Milieuhaftigkeit herauszuheben. Puschkin kommt mit einigen Gestalten und Szenen in die Nähe einer Shakespearschen Atmosphäre der Schicksals­ gestaltung, und Büchner erreicht im Entwurf und in der kompositionellen

Anhang Anordnung seiner Volksszenen etwas von dessen Rhythmik, indem auf die großen ideologischen Auseinandersetzungen der Protagonisten immer B ilder aus dem Pariser Volksleben folgen, in denen, ohne direkten B ezug darauf, allen aufgeworfenen Fragen die genaue soziale Antwort folgt. Es ist wohl kein Zufall, daß Puschkin wie Büchner Revolutionäre waren. Und es ist sicher nicht zufällig, daß in unseren Tagen der einzige echte Anlauf zur Shakespearschen Szenik ebenfalls von einem Revolutionär, von B recht unter­ nommen wurde. Freilich gab es immer wieder eine Opposition gegen die Milieubühne. Sie war aber fast immer abstrakt und darum künstlerisch ephemer. Wenn man nämlich nicht durchschaut, daß die Milieubühne in der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen fundiert ist, oder wenn man selbst in der Erkenntnis dieses Zusammenhanges bei einer bloß kontem­ plativen und darum hohlen Verneinung der Entfremdung stehenbleibt, degradieren sich die verschiedenen Formen der abstrakten Szenik zur rein artistischen, für die Zukunft von Drama und Bühne wenig belangvollen Experimenten. (Umgekehrt entsteht aus einem echten, wenn auch verzweif­ lungsvollen Kampf gegen die Entfremdung immer wieder ein bedeutendes Drama, freilich bürgerlichen Sinnes.) Die Anfänge und die mittlere Periode Brechts stehen szenisch weitgehendst unter dem Einfluß der abstrakten Oppo­ sition. Erst als er im Laufe des Kampfes gegen den Hitlerismus immer klarer die Rettung der menschlichen Substanz aus ihrer äußeren und inneren Gefähr­ dung als Zentralproblem der dramatischen Gestaltung erkannte, begann in seiner Szenik die Dualität von Mensch und Hintergrund zu verschwinden, die im Guten wie im Bösen schicksalhaft wirklich aktiv gewordenen Personen begannen ihr Wesen und Geschid� aus sich heraus, d. h. rein dialogisch auszu­ drücken. So entstanden Gipfelszenen, die sich auch von den besten bürgerlichen Dramen qualitativ unterscheiden, wie der Zweikampf der Mütter im » Kau­ kasischen Kreidekreis « , wie vor allem das Alarmtrommeln der stummen Toch­ ter von Mutter Courage. In Brechts heutiger Weltwirkung dominiert im stili­ stischen Sinne vorläufig die Abstraktheit seiner mittleren Periode, aus der freilich manche Elemente noch in der letzten weiter bestehen blieben. Aber die bloße Tatsache dieses beginnenden - durch den Tod B rechts leider stehen­ gebliebenen - Durchbruchs zeigt, daß die hohe Aktualität Shakespeares, als dichterisch effektivstes Gegengift gegen die Entfremdung in einer wirklich revo­ lutionären Aktivität zur lebendigen Kraft für die Erneuerung des Dramas, für die Überwindung der Milieuszenik gerade heute wirksam werden kann.

Namensverzeichnis

Addison, J. 24 5 , 24 8 Aischylos 1 1 4, 1 40, 1 4 5 , 6 3 0 Alexis, W . 8 0, 8 2 f., 3 1 7 Alfieri, V. 1 14 f„ 1 3 6, 1 99, 2 0 1 Ampere, J . J. 5 65 Andre, E. 3 4 3 Aristophanes l 40 Aristoteles 1 07, 1 09, 1 2 8 , 604 Arnim, L. A. 8 2, 3 02 Arnold, G. 5 3 5 Augustus, (Gajus Octavius) 3 8 5 Avenarius, R. 2 8 7 Baboeuf, F . N. 3 2 1 B achofen J. J. u 6, 6 3 3 B alzac, H . de 1 2, 3 6 f., 4 1 , 44, 47, 50 ff., 6 5 , 76 f. , 79, 8 6, 90 f., 98 ff., 1 0 1 ff., 1 0 5 , 1 07, 1 49, 1 5 2 , 1 72 f., 202 f., 220 f., 22 3 f., 2 3 1 , 2 3 4 f., 262, 280, 29 2, 29 5 ' 3 3 5 f., 3 3 9, 3 60 f., 3 65 , 3 74, 3 8 2, 4 1 6, 42 1 , 4 2 3 , 4 3 3-509, 5 1 2 ff., 5 1 5 ff., 5 1 8 ff ., 5 2 5 f., 5 4 2 , 605 f., 6 1 0, 6 1 2 , 6 1 5 , 620, 62 3 , 62 6 f., 629 Barbarossa 3 02 B arbusse, H. 3 9 8 B audelaire, P . Ch. Baumgarten, F. F. Beaumarchais, P. de Beckett, Th. 272, 2 7 5 Beethoven, L. van 3 99, 63 3 Behrisch, E. W. 5 8 9 Belinskij, W . G. 4 2 , 5 9, 8 6, 88 f., 1 60, 1 99 ff., 3 2 2 , 34 8 , 606 Bentha m, J. 470, 49 3 , 5 8 2

Bertram, E. 3 00 f., 3 02 f. Bismarck, 0. v. 2 1 9, 2 2 1 , 269 f., 276 f., 2 79, 3 1 6, 3 24, 3 3 7, 4 1 2 Blanqui, L. A. 3 22, 5 0 8 Blos, W . 3 9 5 Böme, L. 3 3 1 Boetie, E. de la 1 8 8 Boileau Despreaux, N. 2 3 Borgia, C . 2 3 4 Bouilhet, L . 2 8 1 Bourget, P. 2 29, 292 Brandes, G. 22 1 , 233 f., 267, 2 7 3 , 287 Brecht, B . 6 3 4 Brion, F . 5 8 9 Bruno, G. 5 3 4, 5 64 Büchner, G. 1 2 1 f. , 1 6 3 , 1 9 2 f., 3 0 1 , 3 3 8 , 3 9 6, 63 3 f. Bulwer, E. 298 Burckhardt, J. 209, 2 1 5 ff., 2 1 9 f., 270, 279 Burke, E. 1 0 , 24 Byron, G. G. N. 1 2, 40, 79, 4 8 5, 507, 5 5 7, 60 5 f. Cäsar, G. J. 2 3 8 , 3 8 5 Calas, J. 52 1 Calderon de la Barca, P. 1 2 5, 1 4 3 , 1 5 7, 1 8 5 , 6 1 2 , 6 1 7, 620 Calprenede, G. de Coste de 23 Carlyle, Th. 1 2, 3 6, 4 5 , 2 1 5 Cervantes, M. de 7, 1 07, 3 30, 3 64 f., 4 1 7, 472, 622 ff., 62 5 ff., 62 8 f. Chateaubria nd, F. R. 1 2 , 3 2, 7 3 , 9 3 , 227, 49 1 , 4 9 3 , 500, 502, 5 1 8

Namensverzeichnis Chatrian, A. 2 5 1 ff., 2 5 4 f., 2 5 7 ff., 2 60, 262, 2 6 5 , 2 8 8 , 34 � 349, 4 1 3 Chenier, A . 493 Chesterton, G. K. 4 3 8 Childe, G . 1 1 Choderlos de Laclos, P. A. 42 Cobbet, W. 1 2, 2 1 5 Coleridge S. T. 1 2 Coligny, G . de 390 f. Condorcet, M. J. A. 1 0, 3 3 , 1 94 Conradi 3 9 5 Constant, B. 4j3 Cooper, J. F. 42 , 5 2 , 77 f., 89, 1 8 0, 3 60, 4 2 5 , 49 1 , 499, 629 Coriolan 2 3 8 Corneille, P. 1 2 6, 1 8 5 , 1 9 3 ff., 1 9 8 Coster, Ch. d e 260, 2 6 2 ff., 2 65 ff., 2 68 , 2 8 8 , 404, 4 1 3 Cousin, V. 473 Croc� B. 2 1 9, 2 8 6, 3 0 5 , 3 3 7 Cromwell, 0 . 3 9, 4 5 , 62, 3 8 0, 3 8 3 ff. , 4 6 1 , 49 5 , 5 2 8 Cunow, H. 3 9 5 Cuvier, G . 96, 1 1 7, 5 6 1 Dahn, F. 2 2 2 , 2 8 2 , 2 9 8 ff. D'Annunzio, G. 2 79 Dante, Alighieri 272 , 43 5 , 544, 5 9 5 , 60 1 Danton, G. J. 1 2 1 , 2 5 4, 2 5 8 , 342 Darwin, Ch. R. 2 1 2 Daudet, A . 5 02 Defoe, D. 3 60 Diaz, J. 3 2 1 Dickens, Ch. 294, 29 6 , 5 1 7 f. Diderot, D. 8, 24, 3 2 7 , 3 96, 4 69, 472, 4 8 6 [ , 5 0 1 , 54 2, 54 6 , 6 1 2 , 629 Dilthey, W. 1 2

Dimitroff, G. 3 29, 3 3 7, 623 Dobroljubow, N. A. 3 2 2 Döblin, A. 3 3 3 f., 344, 34 7 Dos Passos, J. 4 8 o Dostojewskij, F. M. 444 Dreyfus, A. 3 1 0, 3 1 4, 39 8 , 5 1 5 Dürer, A. 3 2 5 Dumas, A. 5 1 3 Ebers, G. 2 2 2 , 2 8 2 , 2 9 8 ff. Eckermann, J. P. 6 5 , 5 4 3 , 549, 5 5 1 , 5 5 7, 5 8 4, 5 9 5 , 602 Elisabeth (Königin v. England) 39, 4 5 , 495 Engels, F. 6 5 , 68 ff., 1 1 6, 1 1 8 , 1 5 5 , 2 0 8 , 2 1 5 , 2 3 2 , 2 76, 29 5 , 3 09, 3 2 5 , 3 3 1 , 3 3 7 , 3 74 f„ 3 7 7 , 3 8 4, 3 9 6, 440 f., 44 7 , 4 5 0, 4 6 1 , 4 8 8 , 5 1 5 f „ 5 3 1 , 5 44, 5 8 6, 60 8 f., 629, 63 1 Erasmus v. Rotterdam, D. 3 24 f., 3 30 Erckmann, E. 2 5 1 ff ., 2 5 4 f., 2 5 7 ff., 260, 2 6 2 , 2 6 5 , 2 8 8 , 34 6 , 349, 4 1 3 Ernst, P. 1 70 Euripides 1 40, 1 4 5 > 2 3 1 Fadejew, A . 294, 42 5 Fechter, P. 30 1 Ferguson, A. 67 Feuchtwanger, L. 1 7 , 2 8 6, 29 5 , 3 29 f., 3 3 1 f., 3 3 7, 3 3 9 f., 34 5 , 3 5 4 ff„ 3 5 8 f., 3 5 9 ff., 3 66, 3 8 9 , 4 1 4 ff. , 4 1 9 Feuerbach, L . 3 96, 609 Fichte, J. G. 5 40 f. , 5 4 5 Fielding, H . 24, 7 5 , 8 0, 2 4 4 f., 49 5 , 6 1 0, 62 3 Fischer, K. 5 70

3 1 3, 3 5 2, 3 8 7,

3 60,

Namensverzeichnis

Flaubert, G. 1 0 3 , 209, 2 2 1 f., 2 2 3 ff., 2 2 6 f., 2 2 8 f. , 2 3 0 f., 2 3 2 ff., 2 3 5 ff . , 240 ff., 2 5 0 f., 262, 2 66 f., 2 69, 272 f., 274 ff. , 280 f., 2 8 3 f., 2 8 8 ff., 29 2 , 3 00, 3 06, 3 1 3, 3 1 8, 3 3 7, 3 5 4, 3 67, 4 0 8 , 4 1 3 , 4 3 3 ff., 4 8 9, 5 02, 5 1 2 , 5 1 4 f., 5 1 7 f., 5 20 Flavius, J. 3 3 0, 3 5 8 , 3 6 1 Fontane, Th. 3 1 7 f. Fontenelle, B. le Boivier de 5 0 1 Ford, J . 1 06, 1 3 5 f., 1 3 8 Forster, G. 3 3 9 Fouque, F . H . d e l a Motte 3 0 2 Fourier, Ch. 1 0, 1 2 , 3 4 , 2 1 1 , 4 5 1 , 5 0 2, 5 1 0, 5 49, 5 72 , 5 99 Fradkin, I . 3 1 4 France, A. 2 5 2, 29 1 , 3 1 0 f., 3 1 3 ff., 3 1 9, 3 2 2 , 3 4 2 f., 394 f., 3 97 ff., 400 Frank, B . 3 4 5 > 3 64 f., 3 8 9, 4 1 7 f. Franz-Josef 9 Franz II. 96 Freytag, G . 68, 1 00, 2 2 1 , 300 Friedrich II. v. Preußen 2 8 , 27 1 Galilei, G. 63 1 Gautier, T. 2 1 1 , 2 8 1 , 2 8 4 George, St. 3 00, 3 0 3 Gibbon, E. 1 0, 5 3 5 Gide, A. 43 3 Gneisenau, A. v. 29 , 3 1 7 Goethe, J. W. v. 7, 1 2, 26, 3 6 f„ 4 2 , 44, 5 0, 6 1 ff., 6 5 , 73 ff., 7 6 , 79-8 5 > 1 0 6, 1 3 2, 1 4 2 , 1 4 9, 1 5 6 - 1 5 9, 1 69, 1 72, 1 7 5 , 1 8 8 f., 1 90 ff., 1 99- 20 1 , 2 3 5 ' 2 3 9, 264, 2 76, 2 7 8 f., 3 03 , 3 69-3 72, 3 76 f., 4 3 5 , 443 f., 4 5 1 , 468 , 4 76, 4 8 5 , 492 5 1 9 f., 5 2 5 -62 1 , 624, 627, 63 3

Gobineau, J. A. 2 1 2 Gogol, N. W. 8 8 f., 1 8 0, 626 Goldsmith, 0 . 6 1 0 Goncourt, E. de 2 24, 2 8 1 , 29 1 , 3 1 2, 5 02 Gorki, M. 7 8 , 1 1 2, 1 5 0, 1 74, 1 8 0, 20 1 , 2 3 7, 42 5 , 4 3 5 , 5 27 Gouvion-Saint-Cyr, L. 5 0 1 Grillparzer, F. 1 62 Grimm, H. 3 0 1 Guizot, G . 3 6, 2 1 5 , 44 8 , 473 , 5 03 Gundolf, F . 3 00 f., 3 0 3 , 5 60 Gutzkow, K . 8 3 Guyau, J . M. 2 8 1 , 2 8 5 Hamann, J . G . 5 3 4 ff., 5 9 7, 6 1 9 Hannibal 2 2 7 f. Hauptmann, G. 1 1 5 > 1 3 9, 2 3 8 f„ po Hebbel, F. 80, 1 07, 1 1 9, 1 2 5 , 1 44, 147, 1 5 1 , 1 66, 1 8 1 f., 1 9 3 , 1 99, 2 3 8 f., 2 8 2 , 3 02 f., 5 29, 63 0 f. Hegel, G. W. F. 1 0, 1 3 , 1 9, 3 4 ff„ 4 3 , 4 7 f„ 5 7, 64, 68, 7 3 , 7 5 , 8 1 , 1 0 1 , 1 1 0 f., 1 1 3 , 1 1 6, 1 2 3 f., 1 3 2, 1 4 3 , 1 6 5 f., 1 8 2 , 1 99, 2 0 1 , 2 0 8 f„ 2 1 1 , 2 1 4, 2 62 , 3 24, 3 5 5 , 3 70, 3 7 3 , 429, 4 8 7, 497, 5 3 5 , 5 4 1 f., 5 44 ff„ 5 4 8 f., 5 5 8 , 5 6 5 f., 5 68, 5 7 1 , 5 8 3 f., 602 , 608 f. Heine, H. 3 0, 3 6, 68, 90, 276, 3 3 1 , 4 5 0, 492 , 606, 62 8 Helmont, J. B . 5 3 5 Helvetius, C. A. 493 Henault, Ch . J. F. 1 96 Henri IV., König v. Frankreich 1 9 3 , 3 30 Herder, J. G . 2 6, 5 3 0 f. , 5 3 4 f. , 5 4 1 , 545

Namensverzeichnis Heredia, J. M. 2 8 1 Herzen, A. 3 1 1 , 3 2 2 Heine, H. 5 4 1 Hitler, A. 1 3 , 4 1 5 Hobbes, Th. 5 3 1 Hölderlin, F. 5 5 , 3 0 1 , 3 2 2, 5 07 Hoffmann, E. Th. A. 299, 6 1 0, 626 Hofmannsthal, H. v . 2 1 9 Homer 4 8 , 5 5 f., 67, 7 4 , 9 3 , 1 5 5 , 3 77, 5 0 1 , 60 4 , 607 Huber, L. F. 5 4 1 Hueb, R . 3 1 8 Hugo, V. 8 6, 92 f ., 3 1 2 , 3 1 4 , 342 f ., 39 5 , 4 9 1 , 5 02, 5 07, 5 1 8 f. Humboldt, \V/. v . 5 4 7 Hume, D. 6 8 Hutten, U. v . 27 1 Huxley, A. 2 2 2 , 306 Huymans, J. K. 279 Ibsen, H. 1 4 8 , 1 5 0 f. Immermann, K. L. 29 4 Jacoby, J. 3 37, 5 3 6, 5 9 5 Jacobsen, J . P. 2 4 2 ff., 29 5 f., 3 00, 3 37, 4 1 8 Jaures, J . 3 9 6 Joyce, J. 3 4 7, 3 7 3 , 4 3 3, 4 3 9 Jung, C . G . 1 3 Kafka, F. 9 ff. Kant, I. 5 3 1 , 5 4 1 , 5 4 5 ' 5 69, 5 72, 584 Karl v. Burgund 302 Karl n . 4 9 5 Keller, G. 2 3 7, 2 6 8 , 27 5 , 29 1 , 299, 3 03 , 3 7 1 , 4 0 1 , 4 3 9 Kerr, A. 3 0 6

Klages, L. 1 3, 3 03 Kleist, H. v . 8 1 f. Klinger, F. M. 5 60 Klopstock, F. G. 5 2 8, 5 4 4 Körner, Th. Kugelmann, L. Lafargue, P . 3 1 2, 3 77, 5 1 5 Lamennais', H. F. R. de 4 5 9, 5 o 3 Lassalle, F. 1 3 2 , 3 3 7 Latouche, H. de 5 1 Lavater, J. C. 5 3 6, 5 7 3 , 5 8 5 Le Bon, G. 2 1 5 Lenau, N. 5 26 Lenin, W. I . 1 9, 5 3 f., 1 1 7, 1 20, 1 2 2 f., 2 5 9 f., 3 08 , 3 1 0 f., 3 3 6, 3 77 ff., 3 8 3 f., 5 3 0 Lenz, R . 5 8 5 f. Leonardo da Vinci 3 2 5 Lesage, A . R . 2 3 , 1 6 2 , 4 9 1 Lessing, G . E. 26 f., 80, 1 1 4 , 1 2 6, 1 4 2, 1 9 6 f . , 1 99 f., 3 27, 5 3 1 f., 5 3 4 , 5 6 1 , 5 63 , 5 8 5 f., 63 3 Lewis, �- 4 8 0 L'Hospital, M. d e 3 9 2 Liebknecht, W. 3 3 7 f., 377 Lifschitz, M . 3 5 Lillo, G . 8 Linden, \Y/. 3 0 1 Linguet, H . 3 1 Lisle, Ch. Leconte de 2 8 1 Löwenherz, R. 4 5 , 5 9, 4 9 5 Lope d e Vega Carpio, F . 1 8 5 , 3 64 Louis Philippe 1 o 1 , 5 1 4 Lucanus, M. A. 66 Luden, H. 5 4 1 , 5 4 6 Ludwig, 0. 5 5 , 1 5 2 , 1 5 4 , 1 7 3 , 1 8 4 , 3 84

Namensverzeichnis

Ludwig

x1. ,

König

63 9

v.

Frankreich

4 5 , 5 8 , 69 , 3 0 � 4 9 5

Ludwig

3 3 7, 3 5 9 , 3 7 3

König v . Frankreich

XIII . ,

König

x1v.,

v.

Frankreich

5 2 , 2 4 s , 3 9 0 , 494

Ludwig XVI . , König v. Frankreich 92

Ludwig

XVIII.

König v. Frankreich

473

Luther, M . 8 1 , Luxemburg, R. Machiavelli, N.

5 68 338

2 7 6, 2 8 7 , 3 8 2 ,

4 77, 49 4, 6 3 l

Maintenon, F. de 2 4 6 Maistre, J . M. Graf de 2 4 , 5 00 Makart, H. 3 0 0 Malthus, Th. R. 2 1 2 Mandeville, B . de 5 6 5 Mann, H . 1 7• 1 4 8 , 2 8 4 , 3 1 0 , 3 1 3 , 3 20 ff., J 2 5 > 3 2 8 , 3 3 0 f ., 3 4 l ff . , 3 4 5 , 3 p , 3 6 6 , 3 8 6 f. , 3 8 8 , 3 8 9 f „ 3 9 1 f . , 3 9 3 , 3 9 8 , 40 1 , 4 07, 40 9, 4 1 2 , 4 1 6 , 4 1 8 f . , 4 2 6, 4 2 8

Mann, Th .

ff.,

3 77 f . , 3 8 s , 3 9 6 ,

4 4 8 , 4 5 7 , 4 60 f . , 4 64

ff.,

4 69 , 4 7 1 ,

4 7 3 , 5 06, 5 1 5 , 5 3 2 , 5 4 5 , 5 66 f. ,

400 , 4 0 3 , 494

Ludwig

2 07 f ., 2 1 5 > 2 3 2 f . , 3 0 9 , 3 2 2 , 3 2 4 ,

1 1 f ., u 2, 3 1 9 , 3 4 8 , 3 79 ,

4 I I f . , 4 1 7, 4 3 3 , 4 4 3

Manet, E. 5 2 0 Manz oni, A. 9 ,

4 2 , 7 3 , 79 , 8 3 ff . , 8 7, 8 9 , 1 0 3 , 1 0 6 , 1 2 6 f . , 1 3 3 , 1 3 7 , f l 5 9 , 1 6 3 , 1 9 1 f . , 1 9 9 . , 2 6 7, 3 66,

4 07, 4 2 1 , 606

Marat, J. P. 9 0, 2 5 9 f . , 3 4 2 Maria Stuart 4 5 , 3 8 0 , 4 9 5 Marlborough, J. Ch. 2 4 6 f . Marlowe, Ch. 1 0 6, 5 3 4 Marx, K. 1 0, 1 3 , 2 5 , 3 0 , 3 6, 6 8 , 9 3 , I I 6 ff., 1 3 2 , 1 64, 1 6 9 , 1 9 1 , 204,

5 70, 5 8 1 , 62 3 , 62 6, 62 8 1 0 3 , 24 1 :ff . , 2 4 4 ,

Maupassant, G. de

2 5 0 , 2 9 5 f. , 3 00, 4 1 8

Maurois, A. 2 2 2 , 3 07 Mazarin, J. 5 1 Medici, C. v. 9 0, 1 0 2 , 3 9 2 , 4 8 5 Mehring, F. 3 3 1 , 3 3 8 , 3 7 8 , 3 9 6 Meine�e, F. 2 8 5 Meinhold, W. 2 3 7 f . Mer�, J. H. 5 6 9 Mereschkowskij, D. S. 3 04 f . Merim ee, P. 9 4 :ff . , 97, 1 3 1 , 1 3 3 , 1 4 3 , 3 66, 49 1

Metternich, K. L. M. V. Meyer, C. F. 20 9 , 2 4 1 ,

1 0, 3 02 2 67 f .,

2 6 9 :ff ., 272 if., 275 :ff . , 27 8 :ff . , 2 8 1 , 2 8 4 f. , 2 8 7

ff.,

2 9 0, 2 9 3 , 3 1 3 ,

3 3 7, 3 67 , 4 0 8 , 6 1 8

Michelangelo Buonarotti 3 99 , 6 3 3 Michels, R. 2 1 5 Milton, J. 5 44 Mirabeau, H. G. R. 2 5 9 , 3 1 6 Möser, J . 5 3 0 Moleschott, J . 3 9 6 Mommsen, Th. 2 1 4, 2 9 7 Montaigne, M. E. de 1 8 8 , 3 3 0, 3 9 6 Montesquieu, Ch. d e 2 4 , 5 0 1 , 5 3 5 , 542

Morgan, L. H . 6 8 Mozart, W. A . 6 3 3 Müller, F. v. 79 Münzer, Th. 5 60 Musil, R. 3 4 7 Musset, A. de 4 7 2

Namensverzeichnis

Napoleon 1 . , Kaiser der Franzosen 2 3 , 27, 29 f „ 3 1 , 5 2 , 1 0 2 , 1 2 1 , 2 1 9, 2 5 4, 3 8 3 , 449, 462 ff„ 472 ff „ 477, 4 8 6, 49 5 , 49 8 , 5 0 2 , 5 04 f., 5 0 8 , 5 1 1 , 5 1 3 f . , 5 2 8 , 5 3 9 f., 5 4 5 , 5 5 7 f. Nero, L. D„ römischer Kaiser 195 Nietzsche, F. 1 3 , 209, 2 1 2 , 2 1 5 , 2 1 7 ff., 2 2 0, 2 3 2 , 2 3 6, 2 8 6, 300 f. , 3 0 3 , 3 I I , 3 3 7, 4 1 2 Novalis, F. 8 2 , 302 O ' Neill, E.

63 l

Ostrowskij, A. Owen, R. 1 2

1 2 5 , 63 l

Paracelsus 5 3 5 , 5 64 P a r eto, V. 2 1 5 Pater, W. H. 298 f. Paulus, F. 1 3 Peter 1 . , Zar v. Rußland 8 7, 102 Petrus de Vinea 2 7 1 Phil i pp n. Kö n ig v. Spanien 3 64 Piloty, K. V. 3 00 Pindar 607 Pissarew, D. J. 2 5 1 f., 2 5 4 f. , 2 60 Platon 60 1 Plutarch 1 8 8 Pöhlmann, R . v. 2 1 4 Proudhon, P. J. 2 5 5 f. Proust, M. 4 3 3 Pugamhow, J . I., 8 5 , 87 Puschkin , A. 7, 9, 3 7 , 40, 42, 44 , 64 , 76, 79, 8 6 ff., 8 9, 1 0 3 , 1 06, 1 0 8 , 1 2 6, 1 4 2 , 1 5 6 f., 1 63 , 1 8 6, 1 9 1 ff., 1 9 5 , 2 0 1 , 2 3 8 f., 244 , 2 5 4, 346 f. , 3 8 3 , 407, 4 2 1 , 5 2 5 , 606, 63 3 f.

Raabe, W. 3 1 5 , 3 1 7 f. Rabelais, F. 1 07, 3 9 6, 470 Racine, J. B . 1 2 6, 1 8 5 > 1 9 5 , 5 0 1 Raffael 63 3 Ran k e, L. v. l O , 2 1 3 , 408 Rasin, St. T. 8 5 Radcliffe, A. 3 7 Rathenau, W . 3 5 3 Regler, G. 3 63 Regnier, H. de 2 1 9 Rembr an d t , H. van Rijn 63 3 Remusat, Ch . l 32 f. Renan, E. 209 Ricardo, D . 4 66, 5 06, 5 8 3 ff. Richardson, S. 5 8 5 Richelieu, A. J. D . v. 5 1 , 90, 4 8 6, 494 Ri ck ert, H. 28 5 Riegl, H. 2 1 4 Rilke, R . M. 477 Robespierre, M. M. I. de 90, 2 5 4 , 2 5 8 , 3 4 2 , 5 40, 5 60 Rodenbach, G. 299 Rolland,_ R. 2 3 7, 2 6 1 , 2 64 ff., 2 6 8 , 2 9 1 , 309, 3 9 4 ff., 398 f., 402 f.. 404 ff., 4 1 3 , 4 2 8 Rosenberg, A. 1 3 Rothschild, Meyer Amschel 90 Rouss eau, J. J. 42, 2 5 9, 464 f. , 5 3 l , 5 3 5 , 5 4 2 , 5 9 8 f. Royer-Collard, P. P. 473, 49 1 Sainte-Beuve, Ch. 2 2 2 f., 2 24 f., 2 2 6 ff., 2 3 1 , 2 3 3 f., 240 f. 3 8 8 Saint Evremond, Ch. M . d e 1 2 6 Saint-Hilaire, G . d e 5 0 3 , p l Saint Simon, C. H. de 2 5 5 , 5 02 Saltykow-Schtschedrin, M. 3 2 2 , 62 5

Namensverzeichnis Sand, G . 5 9, 4 9 1 , 5 0 0 Say, J. B . 47 3 Scharnhorst, G. J. D. v. 3 1 7 Schelling , F. W . J. 5 4 0 ff . , 5 4 5 , 5 7 0 Schiller, F. v . 7 9, 1 0 6, 1 3 9, 1 4 3 , 1 4 7 , 1 4 9, 1 5 7 f., 1 6 1 , 1 63 ff . , 1 7 8 , 1 89 f. , 1 9 1 f., 1 99 ff ., 3 30, 3 3 8 , 3 74 , 4 92, 5 0 7 f., 5 3 2 , 54 0 f. , 5 47 f., 5 8 5 f. , 60 1 , 60 3 ff ., 60 7 , 609, 6 1 l f. Schön e m a nn , L. 5 8 9 Schönkopf, K. 5 89 Schopenhauer, A. 1 4 8 , 2 1 3 , 3 0 2 ,

Sinclair, U. 4 3 9 Sismondi, J. Ch. L . d e 1 2, 3 1 , 5 0 2 Smollet, T. 2 4 , 8 0 , 2 44 Sm i th, A. 2 5 f. Sophokles 1 1 3 f., 1 1 6, 1 2 1 , 1 7 8 , 630, 633 Sorel, G. 3 09, 3 9 7 , 5 8 2 Spengler, 0 . 1 3 , 2 1 4 , 2 1 8 , 303 Sp i noz a, B . di 1 2 , 5 3 5 Stael-Holstein, G. de 4 9 1 Stalin, J. 3 77 St ee l e, R. 2 4 8

3 5 5, 5 80 Schütz, W. v . 5 68 Schweitzer, J. B . v . 3 3 7 Scott, W . 8 f., 1 1 f., 2 3 , 2 6, 3 6, 3 8 f. , 40 ff. , 43 ff., 4 6 f., 4 8 ff., 5 2 ff . , 5 5 , 5 7 f., 5 9 f., 6 2 f., 6 5 ff. , 68 f. , 7 1 ff ., 7 5 , 79 f., 8 2 ff ., 86 f., 88 f., 92 f. , 98 f., 1 00 f., 1 0 3 ff., 1 0 6 f., 1 42, 1 4 9, 1 63 , 1 8 0, 1 8 6, 1 89, 1 9 1 , 1 99, 20 3 , 2 20 f., 2 2 3 , 2 2 6, 229, 2 3 3 f . , 2 44 , 2 47 , 2 4 9, 2 5 4 , 2 6 7 , 2 7 3 , 2 77 f., 2 7 9 ff ., 29 4 , 300, 3 0 2 f., 3 1 8 , 3 3 6, 3 39, 3 4 5 f., 3 4 8 , 3 60, 3 62, 3 66 f., 3 8 2, 3 8 3 f., 4 0 7 , 4 09, 4 2 1 , 4 2 3 , 44 3 f . , 4 9 1 , 4 9 5 , 4 99, 5 30, 60 5 f., 629, 6 3 3 Scudery, M. de 2 3 Shakespeare, W. 7 , 3 7, 7 9, 1 0 6 f. , I I I f., 1 1 4 f., 1 1 8 , 1 2 2, 1 3 1 , 1 3 4 f . , 1 3 8 f., 1 4 1 f., 1 4 5 , 1 5 7 , 1 63 , 1 6 5 f. , 1 69, 1 72 f., 1 8 5 f., 1 8 7 f., 1 90 f., 1 93 f., 1 9 5 f., 220, 2 3 5 , 2 3 8 f., 4 3 5 , 4 3 8, 4 8 1 , 4 9 7 , 5 29, 60 4 , 60 7 , 6 1 0, 6 1 2 , 62 7 f., 6 3 0 , 63 2 ff . Shaw , G . B . 2 4 0, 297, 3 09, 3 1 3 Shelley, P . B . 1 2, 3 0 7

Stendhal (M. H. B eyle) 1 2, 30, 3 7, 4 0, 5 1 , 7 6, 7 9, 9 4 , 9 7 , 1 0 3 , 2 20, 2 7 6, 2 92, 3 6 5 , 3 99, 4 1 6, 4 3 3 , 4 39 ff. , 44 2, 444 , 4 63, 472 , 474 , 49 0 f., 4 92 ff . , 4 9 5 ff., 4 9 8 f., 5 00 ff., 5 0 3 , 5 0 4 f., 5 0 7 ff., 5 1 0 ff ., 5 1 3 , 606 Sterne, L. 62 3 St i fter , A. 299 f., 3 0 1 ff. Struve, P. B . 3 36, 3 8 3 Stuart, M . 4 8 , 5 8, 66, 69 Sue, E. 5 2, 4 9 5 Swift, J. 9 f., 2 4 , 2 4 8 , 62 3 , 62 5 f. Taine, H. 4 0, 5 8 , 209, 2 1 2, 2 1 5 , 2 2 0, 2 3 3 f., 2 67, 2 87 f., 292, 3 1 2, 5 14 Thackeray, W. M. 2 44 ff ., 2 4 7 ff . Thierry, A. 1 1 , 6 8 , 209, 2 1 2 , 5 0 3 Ti e ck, L. 8 2 Tolstoi, L. N . 8 , 1 2, 4 2, 5 2, 6 5 , 1 0 2 f. , 1 0 4 f., 1 3 0, 1 7 9, 2 4 9, 2 5 6 f., 2 5 8, 2 8 0 , 3 36, 3 3 9, 3 4 6, 3 4 8 , 3 5 1 , 360 , 3 77 , 3 8 3 , 3 99, 4 0 4 , 4 07, 4 2 1 , 4 3 3 , 4 3 5 , 4 3 9 f., 44 1 ff., 444 , 5 1 8 , 620, 629

Namensverzeichnis Tschechow, A. 44 3 f., 63 1 Tschemyschewskij, N. G. 299, 322 Türk, H . 5 8 0 Turgenjew, 1. 627 Vergil 67, 4 3 8 Verlaine, P . 477 Verulam, B. v. 5 64 Vi c o, G. B . 4 3 , 8 1 , 5 3 4 Vigny, A. 1 2, 8 6, 90 ff., 93 , 2 1 6, 273 , 277 Vischer, F. Th . 5 5 0, 5 5 9 f., 575 Vitet, L. 9 5 f., 1 3 1 ff., 1 4 3 Voltaire, F. M. A. 2 4 , 27, 1 2 6, 1 9 5 , 327, 3 96, 4 76, 4 9 1 , 5 0 1 , 5 2 1 , 5 4 2 , 5 8 5 , 626 Vulpius, Chr. 5 8 8

Wac:kenroder, W. H. 8 2 Wagner, R. 1 4 8 , 2 3 2 f., 2 8 2 , 2 8 4 , 5 00, 5 8 5 f. Walpole, H. 2 3 Wieland, Ch. M . 5 4 1 , 6 1 4 Wilde, 0. 279, 306 Wilhelm von Oranien 26 5 Winc:kelmann, J. J. 2 6, 5 5 6, 607 Young, E.

8

Zelter, K. F. 5 1 9, 5 4 8 f . , 5 5 5 , 6 1 6 Zimmermann 5 3 1 Zola, E. 1 oo, 220 ff., 2 3 l f . , 2 3 6, 2 4 3 , 2 49, 2 6 1 f., 267 f., 290, 2 92, 3 04 , 3 1 0, 322 f., 3 6 5 , 398, 4 1 2 , 4 3 5 , 4 3 7 f . , 44 0 ff ., 444 , 4 67, 4 97, 5 02, 5 1 0 ff. , 5 1 3 ff., 5 1 6 ff. , 5 2 0 Zweig, St. 3 2 4 f., 3 2 6, 3 4 1 , 4 0 4 , 4 1 9

Georg Lukacs Hg.

Festschrift

Frank Benseler. Hermann Luchterhand Verlag

Einleitung

Frank Benseler Ernst Fischer E rnest Ansermet Johan Vogt

Ein Lokalpatriot der Kultur Der Lehrer und die Schüler Anerkennung fü r Georg Lukacs Zusammenspiel zwischen Herz und Vers tand

Ideologie und Politik

Peter Ludz Jü rgen Rühle Werner Hofmann Hans Mayer Frank B enseler W. Abend roth Harry Pross Istvan Meszaros

Der Begriff der » demokratischen Diktatur« in d er politischen Philosophie von Georg Lukacs Partei und Parteilichkeit Was ist Stalinismus? Rhetorik und Propaganda Sprache und Gesellschaft Soziale Sicherheit in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg Ansichten zur zeitkritischen Funktion der westdeutschen Literaten Philosophie des » tertium datur« und des Ko-Existenz-Dialogs

Philosophie

Gershom K. Freyer Bro nislaw Baczko Alick West Paolo Rossi Leszek Kolakowski Wilhelm Szilasi Cesare Vasoli Hans Heinz Holz Adam Schaff Agnes Heller

Aufstieg und Sieg der Vernunft Kultu rkonfrontationen im Zeitalter der Aufklärung Adam Ferguson über die Geschichtlichkeit der Philosophie Ist verstehender Materialismus möglich ? Erfahrung und Denken Lukacs und Cramsci über Croce Bemerkungen zu Maurice Merleau-Ponty Ist die Frage nach dem Sinn des Lebens sinnvoll? Die moralische Sendung der Philosophie

Literatur und Kunst

Vittorio Santoli Cesare Cases Leo Löwenthal Ladislao Mittner Günth er Anders Lucien Goldmann Otto Fl ake R. Girardot R. W. Schnell Tibor Dery Ru dolf Hochhuth Jack Lindsay Georg Steiner Rosario Assu nto Bene Szabolsci Konrad Farner Leo Ko fler Guido Aristarco

G. G. Gervinus und J. Grimm Lessings Freigeist Gustav Freytag Die Geburt des Tyrannen aus dem Ungeist des Expressionismus Der verwüs tete Mensch - Döblins »Berlin - Alexanderplatz« Rationalismus und Dialektik - Bemerkungen zu Valerys » Faust« Der Fortuna t Sozialkritik in d er lateinamerikanischen Literatur Muzes Flöte über die Annehmlichkeit der Zivilisation Zur Theorie der Novelle Time in modern Literature A note on literature and post-history über die äs thetischen Gedanken Immanuel Kants Mozarts faustische Dramaturgie Die neue Gnosis - zur Ideologie der abstrakten Künstler Das Appollinische und das Dionysische Beiträge von Lukacs zum Film und zur Filmkritik

Georg Lukacs

Werke 7

I

Frühschriften

I

Die Seele und die Form en (19u) D i e Theorie des Romans ( 1 920) Anhang : Kleinere Schriften 1 909-1 920 2

Frühschriften

II

Geschichte und Klassenbewußtsein ( 1 9 2 3 ) Lenin ( 1 924) Anhang : Kleinere politische Schriften

Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten Goethe und seine Zeit Deutsche Realisten des 1 9 . Jahrhunderts TI10mas Mann 1 964. 626 Seiten, Leinen DM 5 8 ,-, Subskriptionspreis DM 5 2 , 5 0 8

Der junge Hegel

3 Kleine Schriften

und die Probleme der k apitalistischen Gesellschaft

Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur Existentialismus oder Marxismus Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx Anhang : Kleinere publizistische Schriften

9

Die Zerstörung der Vernunft 1 962. 7 5 8 Seiten, Leinen DM 5 8 ,-, Subskriptionspreis DM 5 2 ,20 IO

4 Probleme des Realismus

1

Essays über Realismus Marx und das Problem des ideologischen Verfalls Volkstribun oder Bürokrat? Wider den mißverstandenen Realismus Anhang : Aufsätze aus der Linkskurve

5 Probleme des Realismus

Beiträge zur Geschichte der �sthetik Die Sickingendebatte zwischen Marx­ Engels und Lassalle Friedricb Engels als Literaturtheoretiker und Literaturkritiker über die Kategorie der Beson derheit

und 1 2 Ksthetik 1 Die Eigenart des Ksthetischen II

II

Der russische Realismus in der Weltlite­ ratur. 1 964. 576 Seiten, Le inen DM 4 8 ,-, Subskriptionspreis DM 4 3 ,20

6 Probleme des Realismus

Probleme der Xsthetik

1 96 3 . 2 Halbbände, 1 8 20 Seiten, Leinen DM 1 3 0,-. Subskriptionspreis DM u 7,-

III

Der historische Roman Balzac und der französische Realismus Fauststu dien 1 9 6 5 . 642 Seiten, Leinen DM 60,-, Subskriptionspreis DM 5 4 ,-

Luchterhand