Frauensuchtarbeit in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme 9783839432853

What is the current status of services for women with dependency issues? What have they achieved? A critical survey and

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Frauensuchtarbeit in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme
 9783839432853

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
THEORETISCHE BEZÜGE UND FORSCHUNGSASPEKTE DER FRAUENSUCHTARBEIT
Gender und illegale Drogen: ein Überblick
Die Enstehung der Frauensuchtarbeit in Deutschland
Die Säulen der Frauensuchtarbeit
Die Einflüsse der feministischen Arbeit auf die Suchthilfe in Deutschland
Frauen, Gewalterfahrungen und der Konsum von Alkohol und anderen Drogen
Trauma und Bindungsstörungen bei Frauen
Sucht und Traumafolgestörungen bei Frauen
Schwangerschaft und Mutterschaft bei drogenabhängigen Frauen
Lebenssituation und Alltagsbewältigung von Frauen in der Straßen-Drogenszene
Wirkfaktoren in der sozialtherapeutischen Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen
PRAXIS DER FEMINISTISCHEN SUCHTARBEIT
Ambulante Beratungspraxis der Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA
Drogenhilfe – unter Umständen einmal anders
Das Angebot des MutterKindWohnens für substituierte Frauen und ihre Kinder
Süchtige und traumatisierte Klientinnen in der ambulanten Suchtberatung
Das Gruppenprogramm „Sicherheit finden“ für Mädchen
Erfahrungen aus der Mädchensuchtarbeit
Ambulante Rehabilitation in der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FrauenTherapieZentrums – FTZ München
Lebenswelten suchtmittelabhängiger Frauen mit Komorbidität
Arbeit! Um jeden Preis?
Begleitete Selbsthilfe in der Frauensuchtarbeit
Angehörige Frauen von suchtkranken Menschen
Basler 8 – ein Kooperationsmodell feministischer mädchen- und frauenbezogener Sozialer Arbeit und Suchthilfe
WEITERENTWICKLUNG DER FRAUENSUCHTARBEIT
Herausforderungen an die Zukunft der Frauensuchtarbeit
Autorinnen

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Martina Tödte, Christiane Bernard (Hg.) Frauensuchtarbeit in Deutschland

Gender Studies

Martina Tödte, Christiane Bernard (Hg.)

Frauensuchtarbeit in Deutschland Eine Bestandsaufnahme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3285-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3285-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Christiane Bernard & Martina Tödte | 9

THEORETISCHE BEZÜGE UND FORSCHUNGSASPEKTE DER F RAUENSUCHTARBEIT Gender und illegale Drogen: ein Überblick

Christiane Bernard | 15

Die Enstehung der Frauensuchtarbeit in Deutschland

Frauke Schwarting | 45 Die Säulen der Frauensuchtarbeit

Elke Peine | 67 Die Einflüsse der feministischen Arbeit auf die Suchthilfe in Deutschland

Martina Tödte | 89 Frauen, Gewalterfahrungen und der Konsum von Alkohol und anderen Drogen

Irmgard Vogt | 101 Trauma und Bindungsstörungen bei Frauen

Silke Birgitta Gahleitner | 125 Sucht und Traumafolgestörungen bei Frauen

Sybille Teunißen & Wibke Voigt | 141 Schwangerschaft und Mutterschaft bei drogenabhängigen Frauen

Martina Tödte, Silvia Kaubisch & Anne Leuders | 163 Lebenssituation und Alltagsbewältigung von Frauen in der Straßen-Drogenszene

Christiane Bernard | 185

Wirkfaktoren in der sozialtherapeutischen Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen

Ludwiga Langgassner | 209

PRAXIS DER FEMINISTISCHEN SUCHTARBEIT Ambulante Beratungspraxis der Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA

Renate Kreke & Christa Heedt | 233 Drogenhilfe – unter Umständen einmal anders

Silvia Kaubisch & Anne Leuders | 253 Das Angebot des MutterKindWohnens für substituierte Frauen und ihre Kinder

Elke Rasche & Sabine Heintze | 271 Süchtige und traumatisierte Klientinnen in der ambulanten Suchtberatung

Elke Peine & Antje Homann | 281 Das Gruppenprogramm „Sicherheit finden“ für Mädchen

Susanne Herschelmann | 301 Erfahrungen aus der Mädchensuchtarbeit

Antje Lind | 309 Ambulante Rehabilitation in der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FrauenTherapieZentrums – FTZ München

Claudia Sußmann | 319 Lebenswelten suchtmittelabhängiger Frauen mit Komorbidität

Gertrud Umminger | 325 Arbeit! Um jeden Preis?

Rena Töpfer | 337 Begleitete Selbsthilfe in der Frauensuchtarbeit

Christrun Oelke | 347 Angehörige Frauen von suchtkranken Menschen

Verena Dethlefs | 355

Basler 8 – ein Kooperationsmodell feministischer mädchen- und frauenbezogener Sozialer Arbeit und Suchthilfe

Bärbel Köhler | 371



WEITERENTWICKLUNG DER FRAUENSUCHTARBEIT Herausforderungen an die Zukunft der Frauensuchtarbeit

Martina Tödte & Christiane Bernard | 385 Autorinnen | 411

Einleitung C HRISTIANE B ERNARD & M ARTINA T ÖDTE

Seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren hat sich die Frauensuchtarbeit in Deutschland einer geschlechterdifferenzierten Analyse von Drogenkonsum und Sucht gewidmet und die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen, gesellschaftlichen Zuschreibungen, Bewertungen und Diskriminierungen für diese Phänomene deutlich gemacht. Es ist ihr Verdienst, dass es heute fachlich unumstritten ist, dass zentrale Unterschiede in den Konsummotiven und Konsummustern, den Lebensrealitäten und Suchterkrankungen – d.h. den Einstiegswegen, Ursachen, Verläufen, Ausstiegsfaktoren etc. – von Frauen und Männern existieren, die eine geschlechtersensible Betrachtung, Beratung und Behandlung erfordern. In kritischer Abgrenzung zur traditionellen, „geschlechtsneutralen“ Suchtund Drogenhilfe1 und ihrer Gleichsetzung von weiblichen und männlichen Bedürfnissen hat sich in den letzten gut drei Jahrzehnten eine differenzierte und professionalisierte Praxis der frauenbezogenen Suchtarbeit entwickelt und etabliert. Deren feministische Konzepte reflektieren die einschränkenden und widersprüchlichen Zuschreibungen an Weiblichkeit, Frausein und Frauenleben, die Bedeutung von struktureller Gewalt gegen Frauen, von biografischen Gewalterfahrungen, Traumatisierungen, Ungleichbehandlungen und Entwertungen im Hinblick auf „Drogen- und Suchtkarrieren“ von Frauen und setzen diese in der praktischen Arbeit um. Der vorliegende Sammelband gibt erstmals einen umfassenden Überblick über Geschichte und Hintergründe der Frauensuchtarbeit in Deutschland und beleuchtet, was aus den ursprünglichen Konzepten der Gründerfrauen geworden

1

Die Drogenhilfe wird hier als Teil des Gesamtsystems der Suchthilfe verstanden; als jener Teil, der sich auf Hilfen für Konsument_innen von illegalisierten Substanzen bezieht.

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ist, wie diese in der Praxis weiterentwickelt wurden, wo die Frauensuchtarbeit heute steht und welchen neuen Herausforderungen sie sich stellen muss, um Konzepte für eine zeitgemäße frauengerechte Prävention und Suchtarbeit entwerfen und weiterentwickeln zu können. Der Sammelband gliedert sich in drei Teilbereiche. Der (forschungs-)theoretische Teil gibt zunächst anhand von quantitativen und qualitativen empirischen Daten einen grundlegenden Überblick darüber, welche Bedeutung das (soziale) Geschlecht für den Konsum illegaler Substanzen, die damit verbundenen Auswirkungen und Herausforderungen hat (Christiane Bernard). Die sich anschließenden Beiträge von Frauke Schwarting und Elke Peine richten den Blick auf die Hintergründe, die Entstehung, Entwicklung, die Ziele und Prämissen der Frauensuchtarbeit und veranschaulichen die gemeinsamen Wurzeln feministischer Sucht- und Drogenhilfe. Martina Tödte zeigt nachfolgend die Errungenschaften der feministischen Arbeit auf, die in die „traditionelle“, nicht geschlechtsbezogene Suchthilfe eingeflossen sind und diese maßgeblich geprägt und bereichert haben. Mit den komplexen Zusammenhängen zwischen Gewalterfahrungen und dem Konsum psychoaktiver Substanzen bei Mädchen und Frauen sowie dem Hilfesuchverhalten betroffener Frauen beschäftigt sich der Beitrag von Irmgard Vogt. Den Zusammenhängen zwischen Geschlecht, Trauma und Bindungsstörungen und der Bedeutung, die Traumata für die Entwicklung, den Verlauf und die Bewältigung einer Suchtproblematik bei Frauen und damit für Beratung und Behandlung haben, widmen sich die Beiträge von Silke Birgitta Gahleitner sowie Sybille Teunißen & Wibke Voigt. Eine umfassende Einführung in die Thematik Schwangerschaft und Mutterschaft bei drogenanhängigen Frauen und die damit verbundenen spezifischen Herausforderungen an das Hilfesystem bietet der Beitrag von Martina Tödte, Silvia Kaubisch & Anne Leuders. Ergebnisse einer ethnografisch ausgerichteten Forschungsarbeit zur Situation und Alltagsbewältigung von Frauen in der Straßen-Drogenszene, mit der die spezifische Geschlechterstruktur und -hierarchie dieses Milieus und die damit zusammenhängenden Auswirkungen auf Drogenkonsumentinnen untersucht wurden, stellt Christiane Bernard vor. Den ersten Teil des Sammelbands, im Sinne eines Forschungs-Praxis-Transfers, rundet der Beitrag von Ludwiga Langgassner zu den Wirkfaktoren in der Therapie mit suchtmittelabhängigen Frauen ab. Der praxisorientierte Teil veranschaulicht einerseits die gemeinsamen Grundprinzipien feministischer Suchtarbeit, macht andererseits aber auch die Vielfältigkeit und Differenziertheit der frauenbezogenen Suchtarbeit anhand der unterschiedlichen Bereiche und Angebote deutlich. In Abgrenzung zum traditionellen Suchthilfesystem sind in den letzten gut drei Jahrzehnten Konzepte und

E INLEITUNG

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Angebote erarbeitet worden und Einrichtungen entstanden, mit denen feministische Denk- und Handlungsweisen in der praktischen Arbeit mit substanzkonsumierenden Frauen und Mädchen umgesetzt werden. Die Vielfalt der Beiträge spiegelt den Stand der fachlichen Um- und Auseinandersetzung und das konkrete Erfahrungswissen wider, greift aktuelle Themen aus der praktischen feministischen Suchtarbeit auf und richtet den Fokus dabei auch auf spezifische Aspekte und Zielgruppen von Frauen. Renate Kreke & Christa Heedt illustrieren anhand eines Fallberichts die konzeptionelle Grundlage und konkrete Praxis einer ambulanten Beratungsstelle für Mädchen und Frauen mit dem Schwerpunkt drogenabhängige schwangere Frauen, Mütter und ihre Kinder. Mit Angeboten für diese spezifischen Zielgruppen beschäftigen sich auch die beiden folgenden Beiträge: mit dem Angebot der Frühen Hilfen für drogenabhängige oder substituierte Frauen mit Kindern bis zu sechs Jahren (Silvia Kaubisch & Anne Leuders) und dem Angebot des Mutter-Kind-Wohnens für substituierte Frauen und ihre Kinder (Elke Rasche & Sabine Heintze). Elke Peine & Antje Homann richten den Blick auf die ambulante Arbeit mit sucht- und traumabelasteten Frauen und erläutern die wesentlichen Grundsätze eines integrativen Handlungskonzeptes, welches suchtspezifisches und traumaspezifisches Fachwissen in der frauenbezogenen ambulanten Suchthilfe verbindet. Auch Susanne Herschelmann befasst sich in ihrem Beitrag mit den Zusammenhängen zwischen Traumatisierung und Suchtentwicklung, jedoch bezogen auf die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen. Einen weiteren Beitrag zur Mädchensuchtarbeit liefert Antje Lind, die das Angebot der ambulanten Suchttherapie für suchtgefährdete oder substanzabhängige Mädchen und junge Frauen darstellt. Die Behandlung einer Substanzproblematik und komorbiden Störungen, oftmals Folge von Traumata, stehen auch im Fokus der beiden folgenden Beiträge: Claudia Sußmann beschreibt die ambulante Rehabilitation für Frauen mit einer legalen Substanzproblematik und komorbiden Störungen, Gertud Umminger stellt das Konzept und die Arbeit einer Therapeutischen Gemeinschaft für drogenabhängige, komorbid belastete Frauen vor. Rena Töpfer setzt sich in ihrem Beitrag hingegen, durchaus kritisch, mit der Bedeutung von Arbeit für die soziale Reintegration von suchtbelasteten Frauen auseinander und zeigt auf, welche Möglichkeiten abseits des ersten Arbeitsmarktes gefunden werden können, um Frauen die berufliche Reintegration zu erleichtern. Christrun Oelke und Verena Dethlefs richten mit ihren Beiträgen den Blick auf häufig vernachlässigte Aspekte der Suchthilfe: die begleitete Selbsthilfe und die Angehörigenarbeit mit Frauen. Ein Beispiel gelungener fachübergreifender Kooperation und Vernetzung innerhalb der feministischen Arbeit bildet den Abschluss des praxisorientierten Abschnitts (Bärbel Köhler).

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Der abschließende Teilbereich des Sammelbands reflektiert neue Herausforderungen und erforderliche Weiterentwicklungen der frauenbezogenen Suchtarbeit. Der ausführliche Beitrag von Martina Tödte & Christiane Bernard basiert z. T. auf den Ergebnissen einer vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Fachkonferenz zum Thema „Generationenwechsel und Qualitätssicherung in der Frauensuchtarbeit“, die unter Beteiligung der zehn autonomen feministischen Suchthilfeeinrichtungen Deutschlands im Juli 2015 stattfand. Erstmals wurde mit dieser zweitägigen Tagung ein bundesweiter Rahmen für den Dialog zwischen Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Generationen über Positionen feministischer Suchtberatung und -behandlung geschaffen, Arbeitsansätze und -ziele auf ihre Aktualität hin reflektiert und zukünftige Herausforderungen und Perspektiven der Frauensuchtarbeit diskutiert. Basierend auf den Tagungsergebnissen diskutiert der Beitrag die Herausforderungen, aber auch Chancen, die sich mit dem Generationenwechsel in der feministischen Suchtarbeit verbinden. Nach mehr als dreißig Jahren Frauensuchtarbeit in Deutschland wollen wir mit der hier vorgelegten Bestandsaufnahme den aktuellen Stand der Wissenschaft und Praxis der interessierten (Fach-)Öffentlichkeit in gebündelter Form verfügbar machen. Damit soll der Sammelband auch eine in den letzten zwanzig Jahren entstandene Lücke schließen. Denn: Die Mehrheit der einschlägigen Publikationen stammt aus den Anfängen der Frauensuchtarbeit, neuere Veröffentlichungen existieren kaum oder liegen nur verstreut in Form von „grauer“ Literatur vor. Eine Bestandsaufnahme, wie wir sie hier vornehmen, kann dabei immer nur eine vorübergehende sein: Geschlechterverhältnisse und Deutungen – auch in ihren Bedeutungen für Substanzkonsum und Sucht – unterliegen immer auch gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Als Herausgeberinnen möchten wir uns sehr herzlich bei allen Autorinnen bedanken, die durch ihre Beiträge, Diskussionen, ihre Begeisterung für das Vorhaben und ihre Bereitschaft zur Überarbeitung ihrer Texte dieses Buch erst möglich gemacht haben. Wir wissen um die Zeit und Energie, die – außerhalb ihrer Arbeitszeit – in diesen Sammelband geflossen sind. Besonders bedanken möchten wir uns auch bei den Kolleginnen der „ersten Generation“ – ohne sie wäre die Frauensuchtarbeit, wie sie heute besteht, nicht denkbar.



Theoretische Bezüge und Forschungsaspekte der Frauensuchtarbeit





Gender und illegale Drogen: ein Überblick C HRISTIANE B ERNARD

Die Forschung der letzten Jahre hat, bestätigt durch Praxiserfahrungen, eine Fülle von Erkenntnissen hervorgebracht, die deutliche Geschlechterunterschiede im Umgang mit psychoaktiven Substanzen belegen. Dies betrifft neben den Konsummustern, den Ursachen, Motiven, Einstiegswegen, Verläufen und Ausstiegswegen auch die psychosozialen und gesundheitlichen Risiken und Folgen des Substanzkonsums. Dabei beeinflussen neben den biologischen Faktoren, also den hormonellen, anatomischen oder genetischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern, insbesondere die durch Geschlechterrollen, Rollenerwartungen, Geschlechterstereotype und die geschlechtliche Identität geprägten Erfahrungen und Lebenssituationen den Konsum psychoaktiver Substanzen und die Risiken für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit. Insofern stellt der Drogenkonsum ein geschlechtsgeprägtes Phänomen dar: Geschlechterdifferenzen umfassen dabei den „gesamten Drogenentwicklungsverlauf vom Einstieg bis zum Ausstieg“ (Zurhold 2000: 161). Das Wissen um diese Geschlechterunterschiede ist eine wesentliche Voraussetzung, um Präventions- und Hilfeangebote zielgruppengerecht und -sensibel gestalten zu können und damit nicht nur deren Akzeptanz und Zugänglichkeit, sondern auch deren Wirksamkeit zu erhöhen. Anhand von empirischen Daten beleuchtet der nachfolgende Beitrag, welche Bedeutung die Kategorie Gender1 für den Konsum illegaler Substanzen sowie die damit verbundenen Auswirkungen und Herausforderungen hat. Neben epi-

1

In Abgrenzung zum biologischen Geschlecht (engl. sex) bezeichnet Gender das soziale Geschlecht und verweist auf die soziale Konstruktion von geschlechtsbezogenen Rollen und Attributen, die durch gesellschaftliche Strukturierungen, Aushandlungen und Bedeutungszuschreibungen hergestellt werden und insofern veränderbar sind.



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demiologischen Daten zum Konsum illegaler Drogen und Daten zu problematischen Konsummustern werden motivationale Hintergründe, verschiedene Risiken des Drogenkonsums sowie Ausstiegsbedingungen geschlechtsbezogen betrachtet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die hier primär herangezogenen epidemiologischen Daten und amtlichen Statistiken als Indikatoren (und nicht als tatsächliches Abbild) der Drogengebrauchssituation und geschlechtsbezogener Unterschiede zu begreifen sind: Mit ihnen können verschiedene Aspekte des Hellfelds des Konsums und der damit verbundenen Problemlagen betrachtet werden. Ergänzend hierzu werden deshalb Untersuchungen der StraßenDrogenszene in Frankfurt am Main herangezogen, die Einblicke in Geschlechterunterschiede abseits offizieller Statistiken vermitteln.

K ONSUMMUSTER Verschiedene internationale epidemiologische Vergleichsstudien zeigen übereinstimmend auf, dass nicht nur Konsumerfahrungen (Lebenszeitprävalenz), sondern auch ein regelmäßiger und intensiver Konsum illegaler Substanzen unter Männern deutlich stärker verbreitet ist als unter Frauen (vgl. u. a. Degenhardt et al. 2008) – diese Geschlechterunterschiede treffen auch auf Jugendliche zu (vgl. u. a. Hibell et al. 2012). Anhand der beiden wichtigsten nationalen Repräsentativerhebungen zum Substanzkonsum in der erwachsen und jugendlichen Bevölkerung – dem Epidemiologische Suchtsurvey (aktuell: Kraus et al. 2014) und der Studie zur „Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland (aktuell: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA 2012) – lassen sich diese Geschlechterunterschiede auch für Deutschland feststellen. Konsumerfahrungen und aktueller Konsum Nach den aktuellen Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurvey (Kraus et al. 2014) haben in Deutschland knapp ein Fünftel der erwachsenen Frauen und mehr als ein Viertel der erwachsenen Männer schon einmal eine illegale Droge konsumiert (s. Abb. 1). Fast immer handelt es sich hierbei um Cannabis, während nur etwa jede zwanzigste Frau und jeder dreizehnte Mann (auch) über Konsumerfahrungen mit anderen illegalen Substanzen verfügt. Am häufigsten betrifft dies Kokain und Amphetamine, gefolgt von Ecstasy, psychoaktiven Pilzen und LSD. Nur sehr selten liegen Konsumerfahrungen mit Heroin, anderen Opiaten oder Crack vor: Für Frauen bewegt sich hier die Lebenszeitprävalenz zwi-



G ENDER UND ILLEGALE D ROGEN : EIN Ü BERBLICK

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schen 0,2 % (Crack) und 0,8 % (andere Opiate), bei den Männern liegen die entsprechenden Werte zwischen 0,5 % und knapp über 1 %. Insgesamt haben damit rund 1,5 Mal mehr Männer Konsumerfahrungen mit illegalen Drogen; 1,6 Mal mehr Männer als Frauen haben schon einmal eine andere illegale Substanz als Cannabis konsumiert. Abbildung 1: Konsum illegaler Substanzen bei 18- bis 64-jährigen Frauen und Männern in Deutschland: Lebenszeit-, 12-Monats- und 30-Tages-Prävalenz (Anteile in %)

Lebenszeit

12 Monate

2,1

3,7

3,3

0,7

1,5

1,2

1,1 0,5

andere als Cannabis

3

Cannabis

6

3,3

illegale Substanz

6,4

4,8

Männer

andere als Cannabis

7,8

Cannabis

18,6

illegale Substanz

19,3

Frauen

andere als Cannabis

27,5

Cannabis

28,3

illegale Substanz



30 Tage

Deutlicher fallen die Geschlechterunterschiede für den Konsum im zurückliegenden Jahr aus (s. Abb. 1): Doppelt so viele Männer wie Frauen haben in diesem Zeitraum eine illegale Substanz bzw. Cannabis konsumiert, für den Konsum anderer illegaler Drogen liegt der Prävalenzwert der Männer sogar dreimal höher als der Wert der Frauen. Wiederum etwas niedriger fallen die Prävalenzunterschiede zwischen den Geschlechtern für den Konsum illegaler Substanzen insgesamt, Cannabis und anderer illegaler Substanzen bezogen auf den Zeitraum des zurückliegenden Monats (aktueller Konsum) aus. Auch die aktuelle „Drogenaffinitätsstudie“ (BZgA 2012) belegt vergleichsweise deutliche Geschlechterunterschiede für den Konsum illegaler Substanzen unter 12- bis 17-Jährigen sowie 18- bis 25-Jährigen: Wie in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung lassen sich für sämtliche Indikatoren höhere Werte bei den männlichen Befragten beobachten (s. Abb. 2).



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Abbildung 2: Konsum irgendeiner illegalen Substanz unter 12- bis 17-jährigen und 18- bis 25-jährigen Mädchen/Frauen und Jungen/Männern: Lebenszeit-, 12Monats und 30-Tages-Prävalenz sowie regelmäßiger Konsum (Anteile in %) 18- bis 25-Jährige

12- bis 17-Jährige

Mädchen

Frauen

Jungen

9,1

Männer

45,6 6,6

5,1

3,1

2,8 1,3

1,3 0,5

33,7

18,3 10,2

7,5

5,4

4,1

2

Männliche 12- bis 17-Jährige besitzen 1,8 Mal häufiger als ihre Altersgenossinnen Konsumerfahrungen mit illegalen Drogen, die 12-Monats- und 30Tagesprävalenz liegen bei ihnen mehr als doppelt so hoch. Am größten fallen die Geschlechterunterschiede in dieser Altersgruppe jedoch für den regelmäßigen Konsum, d.h. den mindestens zehnmaligen Konsum einer illegalen Substanz innerhalb der letzten 12 Monate, aus: Bei den Jungen liegt dieser Wert 2,6 Mal höher als bei den Mädchen. Demgegenüber tendenziell etwas geringer ausgeprägt sind insgesamt die Geschlechterdifferenzen bei den jungen Erwachsenen (18- bis 25-Jährige): Nahezu die Hälfte der jungen Männer und ein Drittel der jungen Frauen haben schon einmal eine illegale Droge konsumiert, womit der Wert der Männer den der Frauen um das 1,4-Fache übertrifft. Die Werte für den Konsum innerhalb des zurückliegenden Jahres und Monats liegen bei den männlichen 18- bis 25-Jährigen jeweils rund 1,8 Mal höher. Erneut ist auch hier die größte Differenz für den regelmäßigen Konsum zu beobachten, die vergleichbar hoch wie bei den 12- bis 17-Jährigen ausfällt. Etwas detaillierte Informationen eröffnet die Drogenaffinitätsstudie bezogen auf den Konsum illegaler Substanzen im zurückliegenden Jahr. Für beide Alterskohorten ist, nicht überraschend, sowohl eine höhere Verbreitung des Konsums von Cannabis als auch von anderen illegalen Drogen als Cannabis unter männlichen Befragten festzustellen. Der jeweils größte Geschlechterunterschied zeigt sich für den Konsum illegaler Substanzen außer Cannabis: Unter den 12bis 17-Jährigen übertrifft dieser Wert bei den männlichen Befragten den der



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weiblichen Befragten um das Vierfache (1,6 % vs. 0,4 %), bei den 18- bis 25Jährigen um mehr als das Dreifache (4,3 % vs. 1,3 %). Cannabis wiederum wurde von den 12- bis 17-jährigen Jungen mehr als doppelt so häufig wie von den Mädchen innerhalb der letzten 12 Monate konsumiert (6,2 % vs. 2,8 %), während bei den jungen Erwachsenen der Wert der Männer den der Frauen um das 1,8-Fache übertrifft. Insgesamt zeigen somit die epidemiologischen Daten, dass sowohl Konsumerfahrungen, insbesondere aber ein häufiger und regelmäßiger Konsum illegaler Substanzen unter Jungen/Männern deutlich stärker verbreitet ist als unter Mädchen/Frauen. Was die Lebenszeit- und die 12-Monats-Prävalenz betrifft, zeigen sich die größten Geschlechterunterschiede in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen, die geringsten unter den 18- bis 25-Jährigen. Bezogen auf den aktuellen Konsum (30-Tages-Prävalenz) fällt die Geschlechterdifferenz ebenfalls am geringsten, wenngleich nach wie vor deutlich, bei den jungen Erwachsenen aus, am größten hingegen in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen. Die bedeutsamen Unterschiede zwischen der Lebenszeit-, der 12-Monatsund der 30-Tages-Prävalenz machen zudem deutlich, dass ein experimenteller, vorübergehender Konsum illegaler Substanzen das weitaus häufigste Konsummuster in der Gesamtbevölkerung ist – bei den weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen fallen diese Prävalenzunterschiede noch etwas deutlicher aus als bei Jungen und Männern. Problematischer Konsum: Missbrauch und Abhängigkeit Forschungsarbeiten belegen, dass „zwischen den Polen einer totalen Drogenabstinenz und extremer Drogenabhängigkeit eine breite Palette unterschiedlichster Formen des Drogengebrauchs“ (Kemmesies 2004: 13) existiert. Viele Konsumierende weisen einen dynamischen Wechsel zwischen intensiven, reduzierten und abstinenten Konsumphasen auf (vgl. Zurhold 2000). Jedoch entwickelt ein, wenngleich in Relation zur Gesamtgruppe der Konsumerfahrenen gesehener kleiner Teil, riskante und problematische Konsummuster. Nach den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurvey (Kraus et al. 2014) weisen in Deutschland 1,7 % der erwachsenen Männer und 0,4 % der erwachsenen Frauen einen problematischen Cannabiskonsum (Missbrauch oder Abhängigkeit nach DSM-IV) auf. Jeweils 0,1 % der Frauen haben einen problematischen Kokain- bzw. Amphetaminkonsum, bei den Männern trifft dies auf 0,5 % (Amphetamine) und 0,4 % (Kokain) zu. Ein problematischer Konsum anderer illegaler Substanzen (z. B. Heroin und andere Opiate) wird mit dem Epidemiologischen Suchtsurvey nicht erfasst: Bevölkerungsbefragungen sind nicht



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dazu geeignet, den problematischen Konsum gesellschaftlich besonders stigmatisierter Substanzen (wie Opiate, aber auch bspw. Crack) abzubilden. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass insbesondere Konsumierende mit intensiven/problematischen Gebrauchsmustern in diesen Studien unterrepräsentiert sind, da Personen, die keinen festen Wohnsitz haben oder institutionell untergebracht sind (stationäre Drogenbehandlung, Strafvollzug etc.), also gerade diejenigen, unter denen problematische Konsummuster vermutet werden können, von diesen Befragungen nicht erfasst werden. Zum anderen basieren die Daten auf den Selbstangaben der Befragten: In diesem Zusammenhang ist von einem „Underreporting“ auszugehen, d.h., dass Befragte dazu neigen, den Konsum – insbesondere stigmatisierter Substanzen – zu verneinen oder das Ausmaß nach unten zu „korrigieren“. Bereits die oben dargestellten geringen Konsumprävalenzen für Heroin, andere Opiate und Crack machen deutlich, dass die Erfassung eines problematischen Konsums dieser Substanzen über das Epidemiologische Suchtsurvey nicht möglich ist. Es ist insofern von einem vergleichsweise großen Dunkelfeld auszugehen, d.h., dass die Verbreitung des Konsums illegaler Substanzen, insbesondere eines problematischen Konsums, höher liegen dürfte, als dies Bevölkerungsumfragen abbilden. Eine bessere Annäherung an das Ausmaß eines problematischen Konsums und bestehende Geschlechterunterschiede bieten Behandlungsstatistiken. Auch in diesen Statistiken zeigt sich eine deutliche Überrepräsentanz von Männern: Sie machen sowohl den Großteil unter den, aufgrund von psychoaktiven Substanzen in einem Krankenhaus Behandelten aus, als auch unter der Klientel der ambulanten und stationären Sucht- und Drogenhilfe. Die aktuellen Zahlen der „Krankenhausstatistik“ (Statistisches Bundesamt 2015) zeigen, dass von den rund 100.000 registrierten Behandlungen im Zusammenhang mit psychoaktiven Substanzen knapp drei Viertel auf männliche Patienten entfallen.2 Am geringsten fällt der Anteil an Frauen bei den Kokain(17 %) und Cannabis-Behandlungen (19,5 %) aus, während sich mit 55 % der deutlich größte Anteil an Frauen findet, die wegen Sedativa oder Hypnotika in einem Krankenhaus behandelt wurden – in der Mehrheit der Fälle dürfte es sich allerdings um einen ärztlich verschriebenen und insofern nicht um einen illegalen Substanzkonsum handeln. Bei den übrigen Stoffgruppen bewegt sich der An-

2

Eigene Berechnung: Als Berechnungsgrundlage dienten die Fälle mit einer Diagnose nach ICD 10, F11-16 und F19 („Psychische und Verhaltensstörung durch Opioide“, „Cannabinioide“, „Sedativa oder Hypnotika“, „Kokain“, „andere Stimulanzien“, „Halluzinogene“ und „multiplen Substanzgebrauch“) sowie einer ICD 10, T40 Diagnose („Vergiftung durch Betäubungsmittel und Psychodysleptika“).



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teil an weiblichen Behandelten zwischen 21 % (Halluzinogene) und 30 % (Stimulanzien). Eine noch deutlichere Überzahl an Männern lässt sich für die ambulanten und stationären Einrichtungen der Sucht- und Drogenhilfe anhand der Deutschen Suchthilfestatistik (Braun et al. 2014) ablesen: Unter den erfassten Behandlungen wegen Opioiden, Cannabis, Sedativa/Hypnotika, Kokain, Stimulanzien, Halluzinogenen oder anderen psychotropen Substanzen liegt der Frauenanteil bei lediglich gut einem Fünftel, dies gilt für den ambulanten und stationären Bereich gleichermaßen. Vergleichbar mit den Krankenhausbehandlungen lässt sich auch bei den Behandlungen in der ambulanten und stationären Suchthilfe der geringste Anteil an Frauen für Kokain (ambulant: 15 %, stationär: 13 %) und Cannabis feststellen (ambulant und stationär: jeweils 16 %). Bei Behandlungen wegen Opioiden machen Frauen in beiden Behandlungssettings rund ein Viertel aus. Gleiches gilt für stationäre Behandlungen wegen Stimulanzien, während der entsprechende Anteil für Behandlungen im ambulanten Setting um wenige Prozentpunkte höher, bei knapp einem Drittel, liegt. Erneut zeigt sich einzig bei Problemen im Umgang mit Sedativa/Hypnotika ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis: Mit rund 60 % machen Frauen die Mehrheit der Behandelten aus.3 Insgesamt zeigen die Daten zu den Behandlungen in Krankenhäusern und im Suchthilfesystem somit eine größere Geschlechterdifferenz als die Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen. Einerseits deutet dies darauf hin, dass Männer aufgrund intensiverer Konsummuster auch häufiger als Frauen drogenbezogene Problematiken entwickeln, die entsprechende Behandlungen notwendig machen.4 Andererseits ist diesbezüglich zu vermuten, dass Frauen höhere Barrieren für eine Behandlungsaufnahme überwinden müssen und sich für sie deshalb eine schlechtere Versorgungslage ergibt. In diesem Zusammenhang belegen Forschungsarbeiten, dass sich Frauen und Männer hinsichtlich der Inanspruchnahme von Hilfe und Behandlung in ihren subjektiven Bedarfen unterscheiden. Hierfür ursächlich sind Differenzen in den Lebenslagen, dem Gesundheitsverhalten und der Krankheitsbewältigung, den Ressourcen, Zielen und Präferenzen sowie dem Vorhandensein weiterer genderbezogener Barrieren. Mittag/Grande (2008) weisen beispielsweise darauf hin, dass Hilfen für Frauen sehr viel differenzierter sein müssen als Hilfen für Männer.

3

Eigene Berechnungen auf Grundlage des Tabellenanhangs im Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) (Brand et al. 2015).

4

Wenngleich unter Vorbehalt zu betrachten, deuten darauf auch die dargestellten Daten des Epidemiologischen Suchtsurvey zu Missbrauch und Abhängigkeit hin, die ebenfalls sehr deutliche Prävalenzunterschiede zwischen Frauen und Männern aufzeigen.



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Vielfältige Kritik hat vor allem die androzentrische Ausrichtung der Suchtkrankenhilfe erfahren, die zu einer Unterrepräsentanz und Benachteiligung von Frauen im Hilfesystem führt. Die starke Orientierung des Hilfesystems an männlichen Normen und Bedarfen ist einerseits durch das historische Erwachsen des Suchthilfesystems aus der Trinkerfürsorge bedingt (siehe dazu den Beitrag von Schwarting in diesem Band), resultiert andererseits aber vor allem aus dem lange Zeit fehlenden Blick für Geschlechterdifferenzen: Frauen, die illegale Drogen konsumieren, wurden traditionell in Forschung und Praxis ignoriert. Illegaler Substanzkonsum galt als „Männerphänomen“, Frauen waren kaum sichtbar. Forschungsarbeiten fokussierten entweder ausschließlich auf Männer oder bezogen Frauen nur „zufällig“ und in Einzelfällen ein, ohne Geschlechterunterschiede zu untersuchen (vgl. Ettore 1992, Bernard 2013). Insofern handelte es sich de facto um eine männerbezogene Forschung, mit der Motive, Verlaufsformen, Risiken, Ausstiegsmuster etc. untersucht wurden; die hieraus abgeleiteten Präventionsund Hilfeangebote waren dementsprechend auf eine männliche Klientel zugeschnitten. Erst die feministische Suchtarbeit machte, basierend auf praktischen Erfahrungen, auf diese gravierenden Missstände aufmerksam und beförderte damit auch die Entwicklung eines wissenschaftlichen Bereichs, der die Relevanz eines geschlechtersensiblen Blicks auf das Drogengebrauchsphänomen betonte und die spezifische Situation von Frauen untersuchte.5 Heute wissen wir um die vielfältigen geschlechtsbezogenen Unterschiede, die den Drogenkonsum und dessen Verlauf, die damit einhergehenden Risiken, ebenso wie die Inanspruchnahme von Hilfe und die Ausstiegsprozesse prägen.

M OTIVATIONALE UND PSYCHOSOZIALE H INTERGRÜNDE FÜR DEN D ROGENKONSUM Der Beginn des Drogenkonsums kann durch vielfältige Motive gekennzeichnet sein. Anhand der Fachliteratur lassen sich im Wesentlichen vier Motivlagen differenzieren (vgl. u. a. Kemmesies 2004, Zurhold 2000); diese können sich beim Einstieg in den Drogenkonsum durchaus überlagern und auch im weiteren Konsumverlauf wandeln: 1) Eine „normale“, alltägliche Motivlage mit dem bedeutsamsten Motiv der Neugierde.

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Zahlreiche Beiträge in diesem Sammelband veranschaulichen dies eindrücklich.

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2) Eine problembehaftete psychosoziale Motivlage, die im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen (Viktimisierungserfahrungen, Traumata, Trennungen, Konflikte etc.) steht und in deren Rahmen der Substanzkonsum die Funktion einer Selbstmedikation bzw. einer Überlebensstrategie erhält. 3) Eine subkulturell orientierte Motivlage, mit der der Drogenkonsum als Symbol für Grenzüberschreitungen, Handlungsfreiräume und als Distinktionsmittel gegenüber konventionellen Werten, Normen und Lebensstilen dient. 4) Eine durch das soziale Umfeld (Peergroup, Herkunftsfamilie, Partner_in) bedingte Motivlage aufgrund des Eingebundenseins in drogennahe Sozialkontexte. Die genannten Motivlagen sind genderspezifisch geprägt: So steht der Einstieg in den Drogenkonsum bei Frauen häufiger im Zusammenhang mit einem Drogen konsumierenden Partner, bei Männern hingegen eher im Zusammenhang mit der Peergroup (vgl. Hser et al. 1987, Ziehlke 1998, Haas 2005, Bernard 2013). Forschungsarbeiten zeigen zudem auf, dass der Beginn des Drogenkonsums bei Frauen häufiger als bei Männern im Zusammenhang mit negativen Erlebnissen und psychischen Belastungen steht und insofern eine stärkere problemorientierte Motivlage aufweist (vgl. u. a. Lind-Krämer/Timper-Nittel 1992, Inciardi et al. 1993). Anhand von Behandlungsdaten lassen sich im Geschlechtervergleich deutlich stärkere biografische Belastungen bei Frauen feststellen: Sie sind häufiger mit einem oder zwei suchtbelasteten Elternteilen aufgewachsen, waren häufiger in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht und haben häufiger physische und sexuelle Gewalt sowie weitere schwer belastende Ereignisse im Leben erfahren (vgl. Rosenkranz et al. 2013). Insgesamt sind sie auch deutlich stärker als Männer von psychischen Belastungen und Symptomen betroffen (vgl. ebd.) – zu einem nicht unwesentlichen Teil in Form von Posttraumatischen Belastungsstörungen durch sexualisierte Gewalterfahrungen (vgl. Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2004). Der Konsum von Drogen spielt für beide Geschlechter in der Bildung und Aufrechterhaltung einer Geschlechtsidentität (‚doing gender with drugs’) eine wichtige Rolle (vgl. zusammenfassend: Ernst/Stöver 2012): Holzschnittartig lässt sich sagen, dass er in männlichen Lebenskonzepten als Mittel zur Demonstration von Stärke, als Symbol von Grenzüberschreitung und Risikosuche, als Kommunikations- oder Rückzugsmittel, als Hilfe bei der Emotionsbewältigung oder als „soziales Schmiermittel” fungiert. Der Drogenkonsum ist ein „wesentlicher Bezugsrahmen für Männlichkeitskonstruktionen und -inszenierungen: Einflüsse von und Mythen über Drogen bedienen bzw. kompensieren Vorstellungen tradierter



24 | C HRISTIANE B ERNARD Männlichkeitsbilder von Stärke, Unverwundbarkeit, Vitalität, Tatendrang und Wertvorstellungen, die von externer Erfolgssuche gekennzeichnet sind.“ (Ebd.: 1)

Demgegenüber spielt der illegale Substanzkonsum für Frauen eine eher indirekte Rolle in der Geschlechterkonstruktion: Drogenkonsum und der damit einhergehende deviante, subkulturelle Lebensstil werden vor allem als Protestsymbol im Sinne einer Auflehnung gegen die traditionelle weibliche Geschlechterrolle interpretiert (wenngleich Drogen, wie beispielsweise Stimulanzien, durchaus genutzt werden können, um dem weiblichen Schönheitsideal „Schlank sein“ zu entsprechen).6 Der illegale Drogenkonsum kann folglich sehr unterschiedliche Intentionen und Funktionen für beide Geschlechter erfüllen. Abhängig von geschlechtsbezogenen gesellschaftlichen Rollenerwartungen und -zuschreibungen wird der Drogenkonsum von Frauen und Männern gesellschaftlich sehr unterschiedlich bewertet: Frauen, die illegale Drogen konsumieren, sind nicht nur deutlich stärker von Zurechtweisungen, moralischen Verurteilungen und sozialen Stigmatisierungsprozessen betroffen, sondern auch schneller Zuschreibungen von Krankheit und Defiziten ausgesetzt, als dies bei Männern der Fall ist (vgl. Zurhold 2000: 170). Verschiedene Autorinnen sprechen in diesem Zusammenhang von einer „doppelten Devianz“ (Broom/Stevens 1991) der Frauen unterliegen, da sie mit dem Konsum illegaler Drogen nicht nur gegen gesetzliche Normen verstoßen, sondern sich auch konträr zu den mit der Frauenrolle verknüpften gesellschaftlichen Erwartungen verhalten und sich so über gesellschaftlich-moralische Standards hinwegsetzen. Diese Stigmata haben wiederum erheblichen Einfluss auf die Entwicklungsverläufe von Frauen, da sie ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl schwächen (vgl. u. a. Zurhold 2000). Auch der weitere Verlauf des Drogenkonsums muss geschlechtersensibel verstanden werden. In verschiedenen Studien zeichnet sich ab, dass die „Drogenkarrieren“ von Frauen komprimierter verlaufen: Sie scheinen schneller als Männer kompulsive Gebrauchsmuster zu entwickeln, aufgrund ihrer stärkeren gesellschaftlichen Stigmatisierungen eine schnellere Einbindung in den subkulturellen Kontext der Drogenszene zu erfahren, sich aber auch frühzeitiger an Hilfe- und Behandlungsinstitutionen zu wenden (vgl. u. a. Anglin et al. 1987 a; b, Hser et al. 1987; 2004, Inciardi et al. 1993, Vogt/Sonntag 2007). Im Unter-

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Kontrastierend hierzu gilt insbesondere der Konsum/Missbrauch von Medikamenten als konform mit der weiblichen Rolle und den hiermit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen an weibliches Verhalten: als unauffällige, passive Form der Problembewältigung, als Mittel zum Funktionieren und Ertragen von belastenden Rollenanforderungen etc.



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schied zu Männern geschieht dies bei ihnen offenbar häufiger aus einer Eigenmotivation heraus, seltener aufgrund von äußerem, beispielsweise justiziellem Druck oder wegen beruflicher Schwierigkeiten. Dies bestätigen auch die Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (Brand et al. 2015): Während Frauen häufiger als Männer über ärztliche/psychotherapeutische Praxen, Suchtberatungs/behandlungs-stellen sowie tendenziell häufiger über niedrigschwellige Suchthilfeangebote und als Selbstmelderinnen den Zugang zum ambulanten Setting finden bzw. weitervermittelt werden, stehen die Vermittlungswege bei Männern eher im Zusammenhang mit Arbeits- oder Ausbildungskontexten oder einem Krankenhausaufenthalt. Zudem haben Männer deutlicher häufiger als Frauen eine gerichtliche Behandlungsauflage – dies gilt sowohl für den ambulanten, wie für den stationären Bereich. Andere Studien deuten wiederum darauf hin, dass Frauen im Vergleich zu Männern später nach dem Einstieg in den Konsum abhängige Gebrauchsformen entwickeln, kürzere Phasen des exzessiven Konsums und ausgedehntere Phasen des kontrollierten Konsums und der Abstinenz durchlaufen. Insgesamt scheinen Frauen schnellere Wechsel in den Gebrauchsmustern aufzuweisen, die durch ihre jeweiligen Lebensumstände beeinflusst werden: Phasen eines intensivierten Konsums stehen oftmals in Zusammenhang mit einem Drogen konsumierenden Partner, emotionalen Belastungen und kritischen Lebensereignissen, während Phasen eines reduzierten Konsums durch gesundheitliche Probleme, Kriminalisierungserfahrungen, Inhaftierungen des Partners, Schwangerschaft, Kinder oder durch den Wunsch nach Handlungskontrolle eingeleitet werden (vgl. zusammenfassend: Zurhold 2000: 162f.). Vermutlich resultieren diese voneinander abweichenden Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichen Substanzen, Konsumkontexten und Lebensrealitäten der in die Studien einbezogenen Konsumierenden. So ist anzunehmen, dass erstgenannte Forschungsergebnisse vor allem auf sozial marginalisierte Konsumentinnen der „klassischen” Szenedrogen Heroin und Kokain zutreffen, während die anderen genannten Erkenntnisse eher auf z. T. noch sozial integrierte Konsumentinnen übertragbar sind. So zeigt beispielsweise auch die geschlechtsbezogene Auswertung der Hamburger Basisdokumentation, BADO (Rosenkranz et al. 2013), dass Klientinnen, die wegen einer Heroin- oder Kokainproblematik ambulant behandelt werden, ein geringeres Durchschnittsalter als Klienten aufweisen, während sich für Cannabis und andere illegale Substanzen (Amphetamine, Halluzinogene etc.) ein umgekehrtes Verhältnis ergibt. Zudem liegt das Durchschnittsalter für den Erstkonsum illegaler Substanzen (mit Ausnahme von Cannabis) bei den wegen einer Opiatproblematik behandelten Frauen rund ein Jahr niedriger als unter den opiatabhängigen Männern. Des Weiteren lässt sich für die Gesamtgruppe der be-



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handelten Klientinnen und Klienten zwar feststellen, dass zwischen dem Erstkontakt zur Suchthilfe und der aktuellen Behandlung bei beiden Geschlechtern im Durchschnitt etwa sechs Jahre vergangen sind, allerdings bildet auch hier die Opiatklientel eine Ausnahme: Hier nehmen die Frauen mehr als zwei Jahre früher als die Männer Kontakt zur Suchthilfe auf.

R ISIKEN DES K ONSUMS : K RIMINALISIERUNG , M ORBIDITÄT UND M ORTALITÄT Der Konsum illegaler Substanzen ist mit verschiedenen Risiken verbunden, die sich für beide Geschlechter unterschiedlich darstellen. Zu einem nicht unerheblichen Teil sind die Risiken auf die Illegalität zurückzuführen: Die Drogenverbotspolitik erzeugt durch die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden vielfältige soziale Risiken und Ausschließungspraktiken und schafft eine Reihe gesundheitlicher Risiken. Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden Die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden resultiert im Wesentlichen einerseits aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) selbst, mit dem die Herstellung, der Besitz, Erwerb, Handel und die Weitergabe illegaler Substanzen strafbewehrt sind, andererseits aus der indirekten Beschaffungskriminalität, d.h. den Delikten zur Finanzierung illegaler Drogen. Dabei gelten leichtere Formen der indirekten Beschaffungskriminalität (wie Ladendiebstähle, Hehlerei, Betrug) und die Beschaffungsprostitution als typisch weibliche Strategien der Drogenbedarfsdeckung, während eine Finanzierung über schwere Beschaffungsdelikte (wie Einbrüche, Raub oder andere Formen der Gewaltkriminalität) und den Drogenhandel als typisch männliche Beschaffungsmuster gelten (vgl. u. a. Rosenbaum 1981, Kreuzer et al. 1991, Zurhold 1998). Grundsätzlich scheinen Männer häufiger illegale Quellen zur Drogenfinanzierung zu wählen, bei Frauen besteht die Beschaffungsdelinquenz überwiegend aus gewaltlosen Delikten (vgl. u. a. Zurhold 2000) bzw. greifen sie häufiger auf legale Finanzierungsmöglichkeiten zurück (vgl. Bernard 2013). Zahlreiche Forschungsarbeiten belegen mit Blick auf die geschlechterbezogenen Strategien der Drogenfinanzierung, dass ein erheblicher Anteil der Frauen im Rahmen der Beschaffungsprostitution physische und/oder sexuelle Gewalt erfährt (vgl. Church et al. 2001, Kurtz et al. 2004). Diesbezüglich wird auch ein enger Zusammenhang zwischen Viktimisierungserfahrungen in der Kind-



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heit/Jugend und Gewalterlebnissen in der Prostitution konstatiert (vgl. Zurhold 2005). Richtet sich der Blick darauf, wie sich die Kriminalisierung von Drogen konsumierenden Frauen und Männern in den Statistiken der Strafverfolgungsbehörden niederschlägt, so zeigt sich auch hier, dass die Drogenkriminalität ein überwiegend männliches Verhaltensmuster ist. Gleichwohl: Kriminalstatistiken, auf die im Folgenden überwiegend zurückgegriffen wird, bilden nur einen spezifischen Ausschnitt der Drogenkriminalität ab – jenen Ausschnitt, der in die Aufmerksamkeit der strafrechtlichen Kontrolle gerät und registriert wird. Es handelt sich insofern um Statistiken, die durch die strafrechtliche Sanktionspraxis gefiltert sind. Auch hierfür kann das Geschlecht als Einflussfaktor angenommen werden, da fraglich ist „wie übereinstimmend oder differenzierend einzelne Instanzen der Strafverfolgung männliches und weibliches Drogenverhalten beurteilen, ob polizeiliche Kriminalsierungen von Männern und Frauen von der Justiz in gleicher Weise übernommen oder korrigiert werden und mit welchen Sanktionen ihnen begegnet wird“ (Pilgram/Stummvoll 2005: 160).

Der Anteil von Frauen unter den polizeilich registrierten erstauffälligen Konsument_innen harter Drogen beträgt 17 %. Noch niedriger – mit 13 % – fällt der Frauenanteil unter den wegen Drogendelikten ermittelten Tatverdächtigen aus (BKA 2015a). Dabei zeigt sich, dass der Frauenanteil tendenziell höher bei „leichten“ Delikten und niedriger bei schweren „Handelsdelikten ausfällt: So beträgt der Anteil von weiblichen Tatverdächtigen bei der direkten Beschaffungskriminalität noch 23 %, sinkt jedoch bei den Delikten „Unerlaubter Handel mit und Schmuggel von Rauschgiften, „Unerlaubter Handel, Herstellung, Abgabe und Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“, „Betäubungsmittelanbau, -herstellung und -handel als Mitglied einer Bande “ und „Abgabe, Verabreichung oder Überlassung von Betäubungsmitteln an Minderjährige auf 10 % bzw. 11 % (BKA 2015b). Insgesamt liegt bei Männern der Anteil von Drogendelikten an allen registrierten Straftaten bei 12,5 %, bei den Frauen lediglich bei 5,3 % (ebd.). Was die Daten der Strafverfolgung, d.h. die aufgrund von Verstößen gegen das BtMG Abgeurteilten7 und Verurteilten betrifft, so liegen hierfür die Frauen-

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Abgeurteilte umfasst alle Angeklagten, gegen die Strafbefehle erlassen wurden, also sowohl die Verurteilten – d.h. Angeklagte, gegen die nach allgemeinem Strafrecht eine Freiheitsstrafe, Strafarrest oder eine Geldstrafe (auch durch einen rechtskräftigen



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anteile vergleichbar niedrig: Sowohl bei den Abgeurteilten und Verurteilten nach dem BtMG als auch bei denjenigen, die aufgrund schwerwiegenderer BtMDelikte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, machen Frauen jeweils 10 % aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2016a). Bei den Frauen liegt damit der Anteil an wegen Drogendelikten Abgeurteilten und Verurteilten unter allen Strafverfahren gegen Frauen bei 3,6 % bzw. 3,7 %, bei den Männern demgegenüber mit 7,7 % (Abgeurteilte) bzw. 8,4 % mehr als doppelt so hoch. Was schließlich den Strafvollzug anbelangt, so liegt der Frauenanteil unter den wegen Drogendelikten Inhaftierten mit 6 % noch einmal niedriger – wenngleich unter den weiblichen Strafgefangenen 13,4 % aufgrund von BtMGVerstößen inhaftiert sind und dieser Anteil damit fast identisch mit dem Anteil bei den Männern (13 %) ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2016b). Insgesamt deuten die angeführten Daten darauf hin, dass Frauen zum einen seltener schwerwiegende Drogendelikte begehen, seltener aufgrund von Drogendelikten angeklagt und verurteilt werden und zudem deutlich seltener aufgrund einer Drogenstraftat inhaftiert sind. Auch andere Daten dokumentieren die geringeren Kriminalisierungs- und Inhaftierungserfahrungen sowie kürzere Haftzeiten bei Frauen. So lässt sich beispielsweise anhand der Deutschen Suchthilfestatistik (Brand et al. 2015) ablesen, dass gerichtliche Behandlungsauflagen im Zusammenhang mit dem BtMG zwischen 18 % und 27 % der im ambulanten Bereich wegen illegalen Drogen behandelten Männer betrifft, während dies bei den Frauen lediglich bei 8 % bis 11,5 % der Fall ist. Deutlich höher liegen für beide Geschlechter diese Anteile im stationären Bereich für die Opiatklient_innen: Hier haben 31 % der Frauen und 44,5 % der Männer eine Behandlungsauflage aufgrund eines BtM-Delikts. Deutlich zeigt sich anhand dieser Daten, dass Männer sehr viel häufiger als Frauen aufgrund von justiziellen Problemen und daraus resultierenden Behandlungsauflagen den Zugang zum Hilfe- bzw. Behandlungssystem finden. Detailliertere Erkenntnisse zu den Kriminalisierungs- und Inhaftierungserfahrungen von im ambulanten Suchthilfesystem betreuten Klientinnen und Klienten eröffnen die Daten der Hamburger Basisdokumentation (Rosenkranz et al. 2013). Hiernach wurden 57 % der Männer und 32 % der Frauen in ihrem Leben mindestens einmal gerichtlich verurteilt. Nicht überraschend, betrifft dies ganz überwiegend Klient_innen, die aufgrund illegaler Drogen eine Behandlung in Anspruch nehmen – hier besonders häufig die Opiatklientel, unter denen 84 % der Männer und 70 % der Frauen schon einmal verurteilt wurden. Bei 68 % der

Strafbefehl) verhängt wurde – als auch Personen, gegen die andere Entscheidungen (u. a. Einstellung, Freispruch) getroffen wurden.



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Opiatklienten und 57 % der Opiatklientinnen handelt es sich um eine Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts (Besitz oder Handel), 57 % der männlichen und 44 % der weiblichen Behandelten wurden schon einmal wegen Beschaffungskriminalität verurteilt. Auch was die bisherigen Haftstrafen anbelangt, übertreffen die behandelten Männer die Frauen deutlich – ihr Anteil liegt mit 44 % gegenüber 22 % doppelt so hoch. Dieser Geschlechtsunterschied findet sich in allen Haupt-Behandlungsgruppen, wobei wiederum die Opiatklientel am häufigsten betroffen ist: Unter ihnen waren 74 % der Männer und 51 % der Frauen schon einmal inhaftiert. Auch in der laufenden Betreuung spielen justizielle Probleme (wie Bewährungsauflage, laufende oder offene Gerichtsverfahren) bei vielen Klient_innen eine Rolle: mit 42 % sind Männer hier wiederum deutlich häufiger betroffen als Frauen (18 %). Noch einmal höhere Anteile an Drogenkonsumierenden mit Inhaftierungserfahrungen zeigen die Daten der Frankfurter Szenestudie (Werse/Egger 2015). Von den hierfür befragten Angehörigen der Frankfurter Straßen-Drogenszene geben 84 % der Frauen und 82 % der Männer Hafterfahrungen an. Während sich, ebenso wie für die generellen Hafterfahrungen, auch für die Häufigkeit der Inhaftierungen (∅: 4,6) keine signifikanten Geschlechterunterschiede feststellen lassen, so unterscheidet sich jedoch die bisherige Dauer der Inhaftierungen. Haben die Männer durchschnittlich insgesamt 55 Monate in Haft verbracht, so liegt dieser Wert bei den Frauen bei 27 Monaten. Diese Differenz kann wiederum als Indikator für die Schwere der Straftaten gelten: So zeigt sich anhand der Haftgründe, dass Frauen hier häufiger als Männer – mit 51 % gegenüber 37 % – Ersatzfreiheitsstrafen (Absitzen einer Geldstrafe, meist wegen „Schwarzfahrens“) und Drogenbesitz (15 % vs. 4 %) nennen, dafür seltener schwerwiegendere Delikte wie Drogenhandel, Schmuggel, Körperverletzung und Raub. Gesundheitliche und psychische Belastungen Geschlechterdifferenzierte Untersuchungen zeigen übereinstimmend auf, dass Drogen konsumierende Frauen und Männer sehr unterschiedlich von gesundheitlichen und psychischen Belastungen betroffen sind – Frauen berichten deutlich häufiger über verschiedene Symptome und Symptomatiken. So zeigen auch die BADO-Daten (Rosenkranz et al. 2013), dass lediglich 14 % der behandelten Frauen gegenüber 25 % der behandelten Männer keine gesundheitlichkörperlichen Beeinträchtigungen berichten, ein Fünftel der Frauen und 18 % der Männer geben demgegenüber erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen an (wenige/mittlere gesundheitliche Beeinträchtigungen: Frauen 65 % vs. Männer 57 %). Die stärkere gesundheitliche Beeinträchtigung der Frauen zeigt sich in al-



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len Hauptdrogen-Behandlungsgruppen, die Opiatklientel ist jedoch die mit Abstand am stärksten belastete Gruppe. Unter ihnen geben lediglich 11 % der Frauen und 18 % der Männer keine gesundheitlich-körperlichen Beeinträchtigungen an, 24 % der Frauen und 22 % der Männer sind hingegen erheblich beeinträchtigt. Auch Untersuchungen in der Frankfurter Straßen-Drogenszene (vgl. Werse/Egger 2015, Bernard 2013) offenbaren einen schlechteren Gesundheitszustand bei Drogen konsumierenden Frauen – dies sowohl bezogen auf die subjektive Einschätzung der eigenen gesundheitlichen Verfassung als auch bezogen auf vorliegende Symptome. So schätzten in der Untersuchung von Bernard (2013) ein Drittel der befragten Frauen ihren Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht ein, umgekehrt traf dies auf lediglich 8 % der männlichen Befragten zu. Auch die Daten zu den einzelnen gesundheitlichen Beschwerden bestätigen eine schlechtere Gesundheit der befragten Frauen. Sämtliche abgefragten Symptome werden von ihnen deutlich häufiger als von den befragten Männern angegeben: Die deutlichsten Geschlechterunterschiede werden dabei für Erkältungskrankheiten, Herz-/Kreislaufprobleme, Problem mit den Lungen/Bronchien, Magen/Darmprobleme und dem Vorliegen von Abszessen erreicht. Insgesamt liegt damit auch die durchschnittliche Anzahl der berichteten Symptome bei den Frauen signifikant höher als bei den Männern (2,3 vs. 1,0). Diese Geschlechterunterschiede zeigen sich auch in der neueren Untersuchung von Werse/Egger (2015). Noch deutlicher als bei den gesundheitlich-körperlichen Beeinträchtigungen fallen die Geschlechterunterschiede für psychische Belastungen aus: Nach der geschlechterdifferenzierten Auswertung der Hamburger Basisdokumentation (Rosenkranz et al. 2013) sind 43 % der ambulant behandelten Frauen erheblich von psychischen Belastungen betroffen, während es bei den Männern 31,5 % sind. Diese Tendenz zeigt sich auch bei erheblichen Ängsten (Frauen: 21 %, Männer: 13,7 %) und erheblichen depressiven Stimmungen (Frauen 24 %, Männer: 17 %). Diese stärkere Betroffenheit der Frauen durch psychische Belastungen lässt sich auch für die Erhebungen in der Frankfurter Straßen-Drogenszene feststellen (vgl. Werse/Egger 2015, Bernard/Werse 2013, Bernard 2013): Die Anteile der Frauen, die über das Vorliegen von depressiven Verstimmungen/Depressionen berichten, liegen hier zumeist um mehr als 20 Prozentpunkte höher als die entsprechenden Anteile bei den Männern (so z. B. bei Werse/Egger 2015: 63 % vs. 41 %). Einhergehend mit ihrer allgemein schlechteren psychischen Befindlichkeit hat ein deutlich größerer Anteil der im Hamburger ambulanten Sucht- und Drogenhilfesystem betreuten Frauen schon einmal einen Suizidversuch unternommen (34 % vs. Männer: 19 %): Während sich dieser Unterschied in allen Haupt-



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drogen-Behandlungsgruppen zeigt, fallen die Anteile unter den Opiatklient_innen mit 42 % bei den Frauen und 27 % bei den Männern jedoch besonders hoch aus (vgl. Rosenkranz et al. 2013) – und sind damit erneut ein Beleg für die besonders hohe Belastung dieser Konsument_innen-Gruppe. Spezifische Infektionskrankheiten: HIV und Hepatitis HIV- und Hepatitisinfektionen zählen zu den gravierendsten gesundheitlichen Risiken des illegalen Drogenkonsums. Vor allem die Beschaffungsprostitution und der intravenöse (i. v.) Konsum gelten dabei als zentrale Risikofaktoren: Vermutet wird, dass einerseits die Bedingungen, unter denen (in der ganz überwiegenden Mehrzahl) Frauen der Sexarbeit nachgehen – intensiver Drogengebrauch, schlechter Gesundheitszustand, Obdachlosigkeit, Gefahr körperlicher und sexueller Übergriffe, soziale Stigmatisierung etc. – das Infektionsrisiko potenzieren (vgl. u. a. Spittal et al. 2003) und dass andererseits die Beschaffungsprostituierten aufgrund ihrer finanziellen Notlage häufig in riskante und ungeschützte Sexualpraktiken einwilligen (vgl. u. a. Brakhoff 1989; Gossop et al. 1994; Weeks et al. 1998). Darüber hinaus scheinen Frauen auch im Zusammenhang mit dem intravenösen Drogenkonsum einem höheren Infektionsrisiko zu unterliegen. So dokumentieren Forschungsarbeiten relativ übereinstimmend, dass Frauen häufiger als Männer riskante Injektionspraktiken aufweisen (vgl. u. a. Weeks et al. 1998, Frajzyngier et al. 2007, Werse/Egger 2015). Als wesentliche Ursache hierfür gilt, dass Frauen häufiger als Männer in einer Beziehung mit einem Drogen konsumierenden Partner leben und im partnerschaftlichen Kontext die Wahrscheinlichkeit für die gemeinsame Nutzung von Spritzutensilien steigt (vgl. Rosenbaum 1981, Zurhold 2005, Frajzyngier et al. 2007). Zudem sind Frauen häufiger als Männer bei der Drogeninjektion auf die Hilfe anderer angewiesen, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit für das ‚Needle Sharing’ und andere riskante Konsumpraktiken erhöht (vgl. O’Connell et al. 2005). Weeks et al. (1998) weisen darüber hinaus darauf hin, dass – bei einem Mangel an sauberen Nadeln und Spritzen – die innerhalb der Drogensubkultur herrschende Geschlechterhierarchie die „Injektionsreihenfolge“ festlegt und Frauen dadurch meist die Letzten sind, die die Utensilien benutzen. HIV und AIDS In Deutschland leben rund 83.000 Menschen mit HIV oder AIDS, etwa 82 % der Infizierten sind Männer. Dabei geht knapp jede zehnte HIV-Infektion bzw. AIDS-Erkrankung auf eine Übertragung durch den intravenösen Drogenge-



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brauch zurück (vgl. RKI 2015a). Unter den seit 1993 gemeldeten HIVNeudiagnosen ist die Geschlechterverteilung nahezu identisch (vgl. RKI 2014): Der intravenöse Drogenkonsum ist bei insgesamt 6,6 % der HIV-Erstdiagnosen der Übertragungsweg – bei Frauen allerdings häufiger (9,6 %) als bei Männern (5,8 %), sodass sie unter den auf den i. v. Drogenkonsum zurückgehenden HIVErstdiagnosen mit 28 % einen vergleichsweise hohen Anteil ausmachen. In den letzten Jahren hat sich allerdings bei beiden Geschlechtern der Übertragungsweg i. v. Konsum unter den HIV-Neudiagnosen reduziert: Für die Jahre 2011-2013 gingen insgesamt nur noch 2,9 % auf den i. v. Konsum zurück; bei den Frauen betraf dies 4,5 % der Fälle, bei den Männern nur noch 2,6 %. Was die seit 1982 registrierten AIDS-Fälle betrifft (vgl. ebd.), so ist hier der Männeranteil unter den Betroffenen – mit 86 % – noch etwas höher als bei den HIV-Erstdiagnosen. In den letzten Jahren ist allerdings der Frauenanteil unter den AIDS-Erkrankten etwas gestiegen: von den 2011-2013 gemeldeten AIDSFällen waren in 19 % Frauen die Betroffenen. Höhere Anteile als unter den HIVErstdiagnosen zeigen sich für die AIDS-Erkrankungen für eine Infektion durch den i. v. Konsum: 14,2 % der seit 1982 gemeldeten AIDS-Fälle gehen darauf zurück. Allerdings sind bei Frauen 39 % der Fälle auf den intravenösen Konsum zurückzuführen, bei den Männern lediglich 11 %. Bezogen auf die letzten Jahre (2011-2013) hat sich bei Frauen der Infektionsweg i. v. Konsum unter den gemeldeten AIDS-Fällen aber um rund 30 Prozentpunkte auf 9,3 % reduziert und ist auch bei den Männern auf 7,2 % gefallen. Insgesamt lassen sich somit anhand dieser Daten im Geschlechtervergleich jeweils höhere Anteile unter HIVinfizierten oder an AIDS-erkrankten Frauen für den Infektionsweg Drogeninjektion feststellen. Unter den im Hamburger ambulanten Suchthilfesystem Behandelten liegt der Anteil der HIV-Infizierten unter Frauen mit 2,8 % etwas niedriger als bei den Männern (3,1 %); allerdings haben bei der Opiatklientel die Frauen mit 5,8 % gegenüber 5,1 % bei den Männern eine leicht höhere Rate (vgl. Rosenkranz et al. 2013). Vergleichbares zeigt auch die Deutsche Suchthilfestatistik (Braun et al. 2015): Im ambulanten Beratungs-/Behandlungsbereich8 sind 3,8 % der Klienten und 3,6 % der Klientinnen mit HIV infiziert, bei der Opiatklientel liegen auch hier die Anteile insgesamt, insbesondere aber bei den Frauen, höher (5,4 % vs. Männer: 4 %). In der Frankfurter Szenestudie (Werse/Egger 2015) geben sogar 14 % der Frauen an, HIV-positiv zu sein, während dies nur auf 2 % der männlichen Befragten zutrifft.

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Ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4); Braun et al. 2015.



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Hepatitis C Nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI; 2015b) geht mit 81,5 % die Mehrheit der Hepatitis C-Diagnosen, für die ein Übertragungsweg angegeben wird (dies betrifft allerdings nur rund ein Viertel der Fälle), auf den intravenösen Drogenkonsum zurück. Der Frauenanteil unter diesen Fällen beträgt 22 % – insgesamt haben sich 85 % der Männer und 72 % der Frauen, für die ein Übertragungsweg angegeben wird, wahrscheinlich über den i. v. Konsum mit einer Hepatitis C infiziert. Auch die Deutsche Suchthilfestatistik (Braun et al. 2015) sowie die Hamburger BADO-Daten (Rosenkranz et al. 2013) zeigen etwas höhere Hepatitis CInfektionsraten unter den ambulant behandelten Männern (Deutsche Suchthilfestatistik: 29 % vs. 27 %, BADO: 23 % vs. 21 %). Erneut lässt sich bei der Opiatklientel die mit Abstand höchste Infektionsrate feststellen: In der Deutschen Suchthilfestatistik liegt der Anteil an Betroffenen unter den ambulant betreuten opiatabhängigen Männern bei 48 %, bei den Frauen bei 45 %.9 In der Hamburger BADO sind 50 % der Opiatklienten und 47 % der Opiatklientinnen von einer Hepatitis C betroffen. Etwas höher liegt nach der Deutschen Suchthilfestatistik die Infektionsrate unter den stationär behandelten Opiatabhängigen: hier weisen Frauen mit 56,5 % auch eine etwas höhere Inzidenz als Männer (53 %) auf.10 Vergleichbare Werte lassen sich auch anhand der Frankfurter Szenestudie ablesen: Hier geben 51 % der Männer eine Hepatitis C-Infektion an, bei den Frauen sind es 52 % (Werse/Egger 2015). In der Untersuchung von Bernard (2013) wiesen Frauen, die sich über die Sexarbeit finanzierten, eine höhere Hepatitis C-Inzidenz auf, als Frauen, die nicht der Sexarbeit nachgingen. Drogenmortalität Vergleichbar mit der Kriminalisierung lässt sich auch in Bezug auf drogenbedingte Todesfälle eine sehr deutliche Überrepräsentanz von Männern feststellen – ihr Anteil unter den Drogentoten liegt in den vergangenen Jahren relativ konstant bei über 80 % (BKA 2015a). 2014 machten Männer sogar 85 % der Drogentoten aus; insgesamt verstarben 5,5 Mal mehr Männer als Frauen durch illegale Substanzen. Knapp zwei Drittel der drogenbezogenen Todesfälle gehen auf Überdosierungen durch Opiate (allein oder in Kombination mit anderen Sub-

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Daten der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4); Braun et al. 2015.

10 Daten für die (teil-)stationären Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8, 9 und10); Braun et al. 2015.



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stanzen) zurück, lediglich rund jeder 9. Todesfall steht im Zusammenhang mit Langzeitfolgen des Drogenkonsums wie allgemeine Gesundheitsschädigungen/körperlicher Verfall, HIV, Hepatitis (ebd.). Etwas geringer ausgeprägte Geschlechterunterschiede zeigen die Daten der „Todesursachenstatistik“11 (Statistisches Bundesamt 2016c): Unter den Sterbefällen aufgrund von „Psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (ICD 10, F10-19) liegt der Männeranteil bei 77 %, unter den durch Opioide Verstorbenen (ICD 10, F11) bei 78 %. Bei den Männern machten substanzbedingte Todesfälle damit 1,1 % aller Todesursachen aus, bei Frauen lediglich 0,3 %. Und auch die Inzidenzrate liegt mit 11,8 Fällen pro 100.000 Einwohnern bei den Männern deutlich höher als bei den Frauen (3,4 pro 100.000 Einwohnerinnen). Da die überwiegende Mehrheit der Drogenmortalität auf Drogenüberdosierungen zurückzuführen ist, soll an dieser Stelle auf einige Ergebnisse aus Erhebungen in der Frankfurter Drogenszene eingegangen werden. Als wesentliche Risikofaktoren für eine Überdosierung können der polyvalente, intensive Drogenkonsum, die intravenöse Applikationsform, der schwankende Reinheitsgehalt der auf dem Schwarzmarkt gehandelten Substanzen und der mit hektischen Bedingungen assoziierte Konsum auf der Straße gelten. Daneben erhöht auch eine schlechte körperliche und psychische Verfassung das Risiko für eine Überdosierung. In der Untersuchung von Werse/Egger (2015) zeigen sich im Hinblick auf Überdosierungserfahrungen nur wenige Geschlechterunterschiede: 45 % der befragten Frauen und 49 % der befragten Männer haben schon einmal eine Überdosierung erlebt – Frauen im Schnitt zwei, Männer drei Überdosierungen. Allerdings liegt die letzte Überdosierung bei den Frauen deutlich kürzer zurück: Im Schnitt hatten sie die letzte Überdosierung vor 12 Monaten, die Männer vor 33 Monaten. In der Untersuchung von Bernard (2013) war diesbezüglich noch ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis festzustellen: Zum einen hatten mehr Frauen als Männer schon einmal eine Überdosierung erlebt (66 % vs. 59 %), zum anderen hatte aber die letzte Überdosierung bei den Frauen mit durchschnittlich 42 Monaten deutlich länger zurückgelegen als bei den Männern (20 Monate). Bezogen auf die Umstände der letzten Überdosierung gaben zudem Frauen (25 %) nicht nur häufiger als Männer (13 %) die Straße als Ort der letzten Überdosierung an, sondern sie hatten auch geringfügig häufiger (19 % vs. 16 %) kei-

11 Datenbasis für die Todesursachenstatistik sind die Todesbescheinigungen, die von den Gesundheitsämtern an die Statistischen Landesämter übermittelt werden.





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ne Hilfe in dieser Situation erhalten – eine Konstellation, die das Risiko für einen tödlichen Verlauf einer Überdosierung erheblich ansteigen lässt (vgl. ebd.).

A USSTIEGSPROZESSE

UND

Z UGÄNGE

ZUM

H ILFESYSTEM

Auch die Ausstiegsbedingungen und Ausstiegswege aus der Drogenbindung sind nur unter Berücksichtigung von Geschlechterdifferenzen zu verstehen. Insgesamt werden die Chancen für einen Ausstieg aus einem drogenbezogenen Leben für Männer besser beurteilt als für Frauen. Das liegt u. a. daran, dass Männer häufiger mit einer „drogenfreien“ Partnerin zusammenleben, die sie in ihrem Ausstieg unterstützt. Umgekehrt ist der Ausstieg von Frauen erschwert, weil sie häufig einen Drogen konsumierenden Partner haben, der sie nicht nur nicht unterstützt, sondern ihre Ausstiegsprozesse behindert. Diese Geschlechterunterschiede lassen sich auch anhand der Hamburger BADO-Daten (Rosenkranz et al. 2013) ablesen: Insgesamt lebt die Hälfte der behandelten Frauen gegenüber 40,5 % der Männer in einer festen Partnerschaft; mehr als jede zweite dieser Frauen (55 %) hat dabei einen Partner mit Suchtproblemen, während dies umgekehrt auf lediglich 23 % der Männer zutrifft. Besonders drastisch fallen diese Unterschiede bei der Opiatklientel aus. Nicht nur lässt sich für diese Gruppe der mit Abstand höchste Anteil an Frauen feststellen, die in einer Partnerschaft leben (56 % gegenüber 36 % der Männer), sondern sie haben auch besonders häufig einen Partner, der ebenfalls eine Suchtproblematik aufweist: Mit 74,5 % liegt dieser Anteil bei den Frauen rund 35 Prozentpunkte über dem entsprechenden Anteil der Männer. Darüber hinaus scheinen Frauen insgesamt auch seltener als Männer über ein soziales Netzwerk zu verfügen, das sie beim Ausstieg unterstützt (vgl. Zurhold 2000). Wenngleich hier die Daten der Hamburger Basisdokumentation (Rosenkranz et al. 2013) ein etwas anderes Bild vermitteln – hiernach hat jeweils die Mehrheit der Frauen (83 %) und Männer (80 %) Angehörige oder Freund_innen, die sie unterstützen bzw. von denen sie verlässliche Hilfe erwartet können (Opiatklientel: Frauen 78 %, Männer: 73 %) – so ist dennoch zu vermuten, dass sich die Situation für marginalisierte Drogenkonsumierende, die nicht den Weg in das Behandlungssystem finden, abweichend darstellt. Hinweise hierauf geben erneut Daten aus der Frankfurter Straßen-Drogenszene, die u. a. auf eine stärkere Integration von Frauen in dieses Milieu bzw. umgekehrt, auf eine gravierendere Desintegration aus drogenfreien, unterstützenden sozialen Bezügen verweisen. Dies lässt sich beispielsweise an einer deutlich längeren täglichen Szeneaufenthaltsdauer festmachen (Frauen: ∅ 14,7 Stunden/Tag vs. Männer: ∅ 9,9



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Std./Tag; Werse/Egger 2015), aber auch an weiteren Faktoren wie einer höheren Obdachlosigkeit unter Frauen und ihrer stärkeren sozialen Isolation im Szenemilieu (vgl. Bernard 2013, dazu auch: Guggenbühl/Berger 2001). Auch insgesamt werden die Chancen einer sozialen Reintegration für Frauen schlechter als für Männer beurteilt (vgl. u. a. Lind- Krämer/Timper-Nittel 1992, Hser et al. 2004). Ursachen hierfür werden – neben der ungünstigeren sozialen Situation, u. a. bezogen auf Partnerschaft und sozial unterstützende Netzwerke sowie der stärkeren physischen und psychischen Belastungen – auch in den schlechteren Voraussetzungen für eine berufliche (Re-)Integration verortet. Zwar zeigen die verfügbaren Daten, dass sich die Schulbildung von den im Suchthilfesystem behandelten Frauen besser als die der Männer darstellt (vgl. Brand et al. 2015, Rosenkranz et al. 2013) und sie auch insgesamt etwas häufiger eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können (wobei sich dies bei den Opiatklient_innen umgekehrt verhält; vgl. Rosenkranz et al. 2013), allerdings schlägt sich dies nicht in der Erwerbssituation nieder. So lässt sich anhand der Deutschen Suchthilfestatistik (Brand et al. 2015) sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich und über alle Behandlungsgruppen hinweg ein geringerer Anteil an Erwerbstätigen unter den behandelten Frauen ablesen. Umgekehrt findet sich unter ihnen ein jeweils höherer Anteil an ALG II-Bezieherinnen. Auch die Hamburger Basisdokumentation (Rosenkranz et al. 2013) weist diesbezüglich in eine vergleichbare Richtung: Zwar ergibt sich mit 29 % bei den Frauen und 30 % bei den Männern für beide Geschlechter eine vergleichbare Rate regulärer Beschäftigungsverhältnisse, jedoch sind Männer häufiger in Vollzeit, Frauen dagegen häufiger in Teilzeit beschäftigt. Insgesamt sind die behandelten Männer etwas häufiger arbeitslos als die Frauen (53,5 % vs. 50 %); unter den Frauen ist allerdings mit 9 % ein fast doppelt so hoher Anteil (früh-)berentet und steht insofern aufgrund von Krankheit oder Behinderung dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Tendenziell spiegelt sich die dargestellte Beschäftigungssituation auch in den Einkommensverhältnissen wider: 25 % der Männer gegenüber 22 % der Frauen bestreiten ihr Haupteinkommen aus einer Erwerbstätigkeit, 44 % der Klienten und 43 % der Klientinnen über das ALG II. Die Opiatklientel stellt dabei in beiden Behandlungsstatistiken in Bezug auf die genannten Faktoren die Gruppe mit den schwierigsten Voraussetzungen für eine berufliche (Re-)Integration dar. Mit Blick auf die Frankfurter Drogenszene und damit einem Kontext abseits eines Behandlungssettings lässt sich ebenfalls eine etwas höhere Arbeitslosenquote unter den befragten Frauen (84 % vs. Männer: 80 %) feststellen. Im Schnitt sind die Frauen mit 37,4 gegenüber 40,2 Monaten ein paar Monate kürzer arbeitslos als die männlichen Befragten; allerdings zeigt sich bei der Aus-



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übung einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis: Bei den Frauen liegt ein derartiges Arbeitsverhältnis 7,7 Jahre zurück, bei den Männern „nur” 5,6 Jahre. Auch der Anteil an Befragten, die ihr Einkommen hauptsächlich über eine Arbeit bestreiten, ist mit 12 % bei den Männern höher als bei den Frauen (2%; Werse/Egger 2015). Auch was die Daten der Deutschen Suchthilfestatistik zur Erwerbssituation und dem Lebensunterhalt nach Betreuungsende betrifft, ist ein jeweils geringerer Anteil an Frauen auszumachen, die erwerbstätig sind und hierüber ihren Lebensunterhalt bestreiten (Braun et al. 2015). Insgesamt bestätigen somit die hier angeführten Daten relativ übereinstimmend die im Vergleich zu Männern schwierigeren Voraussetzungen für eine berufliche Integration von Drogen konsumierenden Frauen. Die Verbesserung von Chancen am Arbeitsmarkt und das Erarbeiten einer beruflichen Perspektive erhalten damit einen zentralen Stellenwert in der Arbeit mit Drogen konsumierenden Frauen. Wenngleich Ausstiegsprozesse auch ohne professionelle Interventionen möglich sind – dies zeigen Studien zu Selbstheiler_innen (vgl. u. a. Zinberg 1984, Weber/Schneider 1992, Kemmesies 2004) eindrücklich – und sogar mehr Frauen als Männer eine Abhängigkeit ohne professionelle Hilfe überwinden (vgl. Vogt/Winkler 1996), so ist der Ausstieg aus der Drogenbindung dennoch oftmals eng mit dem Zugang zum und der Inanspruchnahme des Hilfe- und Behandlungssystems verknüpft. Frauen und Männer unterscheiden sich in den Zugangschancen zu den Angeboten der Drogenhilfe. Dabei ist nahe liegend, die Unterrepräsentanz von Frauen in Behandlungseinrichtungen (s.o.) darauf zurückzuführen, dass die Angebote nicht auf ihre Bedürfnisse und Lebensumstände zugeschnitten sind. Neben der stärkeren gesellschaftlichen Stigmatisierung, der Drogenkonsumentinnen im Vergleich zu Drogen konsumierenden Männern unterliegen, gilt insofern das nach wie vor vergleichsweise geringe Angebot an geschlechtersensiblen, frauenbezogenen Hilfen für Frauen als wesentliche Zugangsbarriere zum professionellen Hilfesystem.12 Die traditionellen, geschlechterheterogenen Einrichtungen der Drogenhilfe zeichnen sich durch eine männliche Dominanz und Orientierung an männlichen Bedürfnissen aus und sind Gründe dafür, warum Frauen derartige Einrichtungen und die dort vorgehaltenen Angebote nicht in Anspruch nehmen.

12 Die Beiträge in diesem Sammelband machen deutlich, dass Frauen sehr wohl erreicht werden können, wenn Einrichtungen ihre Konzeption explizit an frauenbezogenen Belangen, Bedarfen, Lebenslagen, Motiv- und Problemlagen orientieren.



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Mutterschaft gilt als weiteres wesentliches Hindernis für die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe: Wenngleich bei Frauen durch eine Schwangerschaft und anstehende Mutterschaft oftmals eine hohe Motivation zum Ausstieg aus der Drogenbindung entsteht (vgl. u. a. Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2001), müssen Drogenkonsumentinnen, die eigene Kinder haben, doch immer auch professionelle Interventionen bezüglich der Kinderfürsorge und einer möglichen Kindeswohlgefährdung befürchten. Darüber hinaus existieren nach wie vor nur wenige Behandlungsangebote, die sich an Mütter und ihre Kinder richten bzw. diese gemeinsam aufnehmen, sodass vor allem eine stationäre Behandlung bereits an der Versorgung der Kinder scheitert (ausführlich hierzu: Tödte et al. in diesem Band). Unter Berücksichtigung der Dunkelfeldproblematik lässt die existierende Datenlage vorsichtig vermuten, dass mehr als die Hälfte der Frauen mit einem problematischen Drogenkonsum eigene Kinder hat (vgl. Rosenkranz et al. 2013, Werse/Egger 2015). Zwar zeigt sich in den Studien, dass der Anteil an Drogen konsumierenden Männern, die eigene Kinder haben, nicht wesentlich niedriger ist, jedoch leben die Väter deutlich seltener mit ihren Kindern zusammen. Vor allem was das Alleinerziehendsein betrifft, ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern besonders ausgeprägt (vgl. Rosenkranz et al. 2013). Diese deutlichen Geschlechterdifferenzen, insbesondere bezüglich der Versorgung von Kindern, wirken sich wiederum unterschiedlich auf die Zugänge zum Hilfesystem aus. Es ist zu vermuten, dass Drogenkonsumentinnen, die Kinder haben, aufgrund der Schwierigkeiten, die mit der Versorgung der Kinder bei einem stationären Aufenthalt einhergehen, eher ambulante Beratungs- und Behandlungsangebote wahrnehmen (können). Hilfeangebote, die geschlechtersensibel und frauengerecht ausgerichtet sind, können die Zugangsbarrieren von Frauen zum Hilfesystem verringern und ihren Zugang zum Drogenhilfeangebot verbessern.

F AZIT Bei dem Konsum von Drogen handelt es sich um ein genderspezifisch geprägtes Phänomen. Geschlechterunterschiede ziehen sich dabei durch alle Bereiche: von den Einstiegsmotiven und -wegen, den Konsumerfahrungen, -mustern und -verläufen, über die Risiken und Belastungen des Konsums bis hin zu den Ausstiegschancen und -bedingungen. Erst die Berücksichtigung und das Wissen um die Bedeutung des Faktors Geschlecht macht das Phänomen verstehbar und schafft die Voraussetzungen für ein gendersensibles und geschlechtergerechtes Hilfesystem, das sich an den Bedürfnissen, Lebensrealitäten, Erfahrungen und



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Ressourcen von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen orientiert und damit nicht nur die Zugangschancen für die Zielgruppen zum Hilfesystem verbessert, sondern auch dessen Wirksamkeit erhöht. Epidemiologisch betrachtet dominieren Männer bei den Konsumerfahrungen, dem aktuellen Konsum und intensiven, problematischen Gebrauchsmustern. Sie sind zudem deutlich häufiger von Kriminalisierungserfahrungen betroffen und versterben überproportional häufig an den direkten und indirekten Folgen des illegalen Substanzkonsums. Frauen sind demgegenüber durch den Konsum und einen drogenbezogenen Lebensstil stärker physisch und psychisch belastet. Ihre stärkere gesellschaftliche Stigmatisierung schlägt sich in deutlicheren sozialen Desintegrations- und Marginalisierungsprozessen nieder. Der Drogenkonsum spielt für die Geschlechterkonstruktionen eine wichtige Rolle: Bei Männern fungiert er eher als Inszenierung und Festigung tradierter Männlichkeitsbilder, bei Frauen eher als Widerstand gegen traditionelle Rollenbilder. Unter den Bedingungen der Straßen-Drogenszene, den hier herrschenden patriarchalen Strukturen und überzeichneten traditionellen Geschlechterstereotypen, wird dieser „weibliche“ Entwurf der Geschlechtsidentität jedoch konterkariert (siehe ausführlicher hierzu Bernard in diesem Band). Die mit dem Einstieg in den Drogenkonsum und dessen weiteren Verlauf verbundenen motivationalen und psychosozialen Hintergründe zeigen für Frauen, die problematische Konsummuster entwickeln, eine engere Verknüpfung mit biografischen Belastungen. Von zentraler Bedeutung sind bei ihnen zudem Drogen konsumierende Partner: dies sowohl für den Einstieg in den Drogenkonsum, dessen weiteren Verlauf, als auch für die Ausstiegsbedingungen. Während Männer häufiger drogenfreie Partnerinnen haben, die sie bei Ausstiegsprozessen unterstützen, sind Frauen häufiger mit Drogen konsumierenden Partnern zusammen, die Ausstiegsprozessen entgegenwirken: Insofern erhöhen diese Partnerschaften für Frauen das Risiko, selbst problematische Konsummuster zu entwickeln und darin verhaftet zu bleiben. Zusätzlich Problem verschärfend ist, dass Frauen auch insgesamt schwierigere Voraussetzungen für einen Ausstieg aus der Drogenbindung aufweisen: Dies zum einen bezogen auf ihre soziale und berufliche Situation, zum anderen aber auch aufgrund ihrer schlechteren Zugangschancen zum Hilfesystem und dessen geringerer Inanspruchnahme, insbesondere aufgrund der fehlenden Passung der Hilfsangebote mit ihren Bedürfnissen und Lebensrealitäten. Eine geschlechtergerechte Drogenhilfe verbessert nicht nur den Zugang der Zielgruppen zum Hilfesystem, sondern sensibilisiert Helferinnen und Helfer für Geschlechterunterschiede und trägt somit zu einer Qualitätsverbesserung durch die Entwicklung eines zielgruppenorientierten und bedarfsgerechten Beratungs-



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und Behandlungsangebots bei – sowohl für Frauen/Mädchen als auch für Männer/Jungen. Sie erhöht ihre Wirksamkeit, indem sie das Wissen um Geschlechterdifferenzen – für alle Phasen von Drogenentwicklungsverläufen – in ihren Konzepten und Angeboten konsequent umsetzt. Dies bedeutet gleichzeitig, dass Sucht-/Drogenhilfeeinrichtungen ihre konzeptionelle Ausrichtung und praktische Arbeit gezielt daraufhin überprüfen müssen, ob sie eine wirksame und bedarfsgerechte Unterstützung für beide Geschlechter gewährleisten (vgl. Spreyermann 1998).

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Die Entstehung der Frauensuchtarbeit in Deutschland F RAUKE S CHWARTING

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V ORGESCHICHTEN : MÄNNLICHE „L ASTER “ WEIBLICHE „V ERDERBTHEITEN “

UND

Nachdem Alkohol und andere psychoaktive Substanzen in früheren Jahrhunderten eher als Lebensmittel oder Medizin gesehen und sowohl von Frauen als auch von Männern konsumiert wurden, änderte dies sich im 19. Jahrhundert: Mit der Industrialisierung wurde der Alkohol mit geschlechtsbezogener gesellschaftlicher Arbeitsteilung und dem Vormarsch der bürgerlichen Familienform ein Bestandteil männlicher Lebenswelten, nämlich der der Fabrikarbeiter, der Seefahrer, der Soldaten, aber auch der Künstler (anschaulich dazu Jack London in seinem Buch „König Alkohol“). Im Zusammenhang mit dem hohen Konsum der verelendeten Arbeiterklasse wurde Alkohol auch zum sozialen (und in damaliger Sicht moralischen) Problem. Frauen tauchen in der Literatur lediglich auf als



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Alkoholkritikerinnen und Aktivistinnen von Abstinenzverbänden (vgl. Appel 1991). Irmgard Vogt (1994) zeigt, dass Alkoholikerinnen in psychiatrischer Fachliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft als besonders psychopathische und geistig minderwertige Existenzen geschildert werden: Ihre Degeneration, so die Autoren, nähme die widerlichsten Formen an und sei meist unheilbar; Alkoholikerinnen wurden oft als sexuell pervers bezeichnet. Abgesehen von einem kleinen Aufflackern modernerer Sichtweisen in der Weimarer Republik, das vom Faschismus beendet wurde, blieben die Muster in der BRD bis in die 1950er und 1960er Jahre weiter sehr traditionell, wie folgender Kommentar zeigt: „Besonders betrüblich ist es, wenn etwa bei Festen in nächtlicher Stunde kreischende Frauenstimmen sich ins Gejohle betrunkener Männer mischen.“ (Odermatt-Sury 1965, zit. n. Reinke 1980: 109) Entsprechend entwickelte sich der Substanzkonsum bei Frauen in heimlichen Formen.

D IE V ERÄNDERUNGEN S UCHTHILFE

DER BUNDESDEUTSCHEN

Noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein lebten die von Alkoholismus Betroffenen im medizinischen Versorgungssystem, in Psychiatrien und den wenigen nach dem Faschismus noch bestehenden Heilstätten, die mit streng kontrollierenden Behandlungsmodellen weiterhin das Erbe der früheren Einrichtungen als „Willens- und Charakterschule” in sich trugen (vgl. Assfalg 2002). Eine nachhaltige Wende begann gegen Ende der 1960er Jahre. Zunächst trat ein quantitativ höherer Bedarf an Hilfsangeboten auf, denn in der Bundesrepublik nahm Alkoholismus zu und wie in den USA und Westeuropa begann die Zeit eines stärkeren Konsums illegaler Drogen und daraus entstehender Probleme. Doch auch die Form der Hilfsangebote änderte sich wesentlich, und zwar durch drei Gründe (vgl. ebd.): Erstens entfaltete sich die Professionalisierung sozialer Berufe. Es entstanden neue Berufsbilder – wie Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, Psycholog_innen, Ergotherapeut_innen1 –, das interdisziplinäre Team löste den „hausväterlich“ geführten Familienbetrieb ab, es entstanden Fachkliniken als Dienstleistungsunternehmen. Zweitens gewann die Entwicklung und Nutzung pädagogischer und psychotherapeutischer Methoden (vor allem der Gruppentherapie) auch im Suchtbereich an Bedeutung, mit einem Wandel vom „moralischen Verurteilungsmodell“ der Sucht zu einem „psycho-

1



Zur Entwicklung der sozialen Berufe vgl. auch Rauschenbach 1996.

D IE E NTSTEHUNG DER F RAUENSUCHTARBEIT IN D EUTSCHLAND

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therapeutischen Verstehensmodell“. Drittens wurde die Abhängigkeit von Alkohol (und anderen psychoaktiven Substanzen) 1968 vom Bundessozialgericht als Krankheit anerkannt. Die WHO gab mit ihrer Definition von Abhängigkeit nach der International Classification of Diseases (ICD) eine verbindliche medizinische Vorlage für die Diagnostik.2 Dazu entstand ein dreiteiliges Hilfesystem: Für die stationäre Suchtkrankenhilfe gilt eine (in der Sozialgesetzgebung geregelte) Trennung in zwei Behandlungsphasen mit zwei unterschiedlichen institutionellen Zuständigkeiten und Kostenträgerschaften. Der körperliche Entzug (die sogenannte „Entgiftung”) ist als medizinische Maßnahme definiert, die von Krankenkassen bezahlt wird. Dementsprechend finden sich Entzugsstationen meist in Krankenhäusern. Die zweite Phase, die sogenannte „Entwöhnung”, meist als Suchttherapie bezeichnet, ist dagegen eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation, die von den Rentenversicherungsanstalten finanziert wird.3 Ziel der Maßnahme ist die Verbesserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Den dritten Bereich bildet die ambulante Suchtkrankenhilfe.4 Deren größter Teil, nämlich die Suchtberatungsstellen wie auch die niedrigschwelligen Einrichtungen (z. B. zum Aufenthalt oder zum Spritzentausch) werden im Gegensatz zu den zuvor geschilderten Maßnahmen von der öffentlichen Hand – teils von den Ländern, teils von den Kommunen – gefördert und stellen eine freiwillige Leistung dar.5 In den 1990er Jahren entwickelte sich zudem eine ausdifferenzierte Präventionsarbeit, die teilweise im Rahmen der Jugendhilfe finanziert wird. Parallel zu den neuen Entwicklungen in der Suchtkrankenhilfe in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren begann auch eine Thematisierung und Auseinandersetzung mit der Suchtmittelabhängigkeit von Frauen.

2

Einen kritischen Überblick über die verschiedenen Interessen und Schwierigkeiten hinsichtlich der Begrifflichkeiten in diesem Prozess geben Vogt/Scheerer (1989: 13ff.).

3

Zum 01.10.2005 trat die Reform der Versicherungsanstalten in Kraft, in der die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und die Landesversicherungsanstalten (LVA) zusammengelegt wurden.

4

Ausgenommen ist hier die ambulante Therapie, die wie die stationäre Therapie bzw. Entwöhnung in die Leistungsträgerschaft der Rentenversicherer fällt.

5

Auch durch diese Kostenträgerschaft bedingt, gewannen in den letzten Jahrzehnten Auseinandersetzungen um Niedrigschwelligkeit und Akzeptanz versus Abstinenzorientierung hohe Brisanz, denn letztlich konnte die Politik, auch gegen fachlich begründete Positionen, über Zuwendungen entscheiden.



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I MPULSE

AUS DER

F RAUENBEWEGUNG

Neue Perspektiven entstanden durch die bundesdeutsche Frauenbewegung und ihre Auseinandersetzungen mit Politik, Sozialwissenschaften, Psychologie und Pädagogik, mit Medizin und Frauengesundheit. In den 1970er Jahren begannen Sozialwissenschaftlerinnen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die gesellschaftliche Unterordnung und deren Folgen für die Entwicklung von Frauen zu analysieren. Sie untersuchten die gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen und Normalitätsvorstellungen für weibliche Biografien und die Sozialisationsprozesse von Frauen darin. Daraus erwuchs in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung, in Psychologie und Psychiatrie eine inhaltliche und methodische Kritik an den psychologischen Grundlagen, Menschenbildern und Behandlungslehren. Die zentralen Überlegungen der damals entstehenden feministischen Therapie lassen sich mit Sabine Scheffler (1986) und Gabriele Freytag (1992) für die 1970er und 1980er Jahre in fünf Thesen zusammenfassen. Erstens: Es gibt einen „Doppelstandard psychischer Gesundheit”. Verschiedene Studien zeigen, dass wissenschaftliche Konzepte eines „gesunden Menschen” mit Charakteristika von Aggressivität, Rationalität, Unabhängigkeit, Gelassenheit usw. verbunden werden, dass diese Konzepte sich aber implizit auf Männer beziehen, während eine „gesunde Frau” als gefühlvoll, nachgiebiger, weniger ehrgeizig, leichter erregbar und weniger aggressiv gedacht wird. Solche geschlechtsspezifisch geprägten Vorstellungen von psychischer Gesundheit bedeuten, dass die individuelle Erfüllung der sozialen Geschlechtsrolle als seelische Gesundheit begriffen wird. So entsteht der Widerspruch, dass Lebensweisen und Haltungen, die Frauen in ihrer Entwicklung einschränken, zugleich für sie als seelische Reife gelten. Zweitens: Frauen leben durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Familie, Mutterschaft, Weiblichkeitsvorstellungen) materiell, emotional und symbolisch stark über Männer vermittelt und definiert. Psychische und materielle Möglichkeiten von Autonomie und Unabhängigkeit sind für sie sehr viel weniger gegeben. Sowohl im Selbstwertgefühl als auch in der Lebensweise von Frauen tauchen die Sorge für andere als „Sinn“ und das Gefühl, gebraucht zu werden, als „Liebe“ auf. Die sozialen Erwartungen und Normalitätsvorstellungen von Weiblichkeit zu verfehlen, führt häufig zu Schuld- und Versagensgefühlen und mangelndem Selbstwertgefühl. Lebensweisen, die von den gesellschaftlichen Erwartungen an weibliche „Normalität” abweichen, werden stigmatisiert. Drittens: Aufgrund der ökonomischen, kulturellen und symbolischen Unterordnung sind die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Frauen eingeschränkt. Viele haben das Gefühl, ihr Leben und dessen Bedingungen nicht wirklich ge-



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stalten zu können. Es gibt zahlreiche Erfahrungen von Frauenverachtung, von psychischer, physischer und sexueller Gewalt. Im Hintergrund wirken gesellschaftlicher Definitionsmächte auf das Selbstbild. Dazu gehört auch die Repräsentation der Welt in männlicher Sprache, in der die Frauen als Frauen mit ihren Lebensbedingungen, Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen verschwinden (vgl. Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA 2015). Viertens: Es gibt geschlechtsbezogen unterschiedliche Verarbeitungsweisen von Schwierigkeiten und Problemen: Während Männer sich eher aggressiv oder gewalttätig verhalten, also „sozial auffällig“ werden, reagieren Frauen oft in psychosomatischer oder auto-aggressiver Weise, beispielsweise mit Krankheiten, Depressionen, Essstörungen oder Selbstverletzungen. Fünftens: Entgegen der früheren Betonung der Rolle frühkindlicher Erfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung zeigt sich zunehmend, wie groß die Bedeutung der Pubertät für die Ausbildung einer weiblichen sexuellen Identität für Selbstbild und Selbstwertgefühle ist. Das wurde zunächst vor allem durch Forschungen zu Essstörungen deutlich. Diese Kritik lässt sich insgesamt so zusammenfassen, dass sie „das Denkmodell einer individuellen Pathologie zurückweist, immer nach den Verknüpfungen der individuellen Lebensgeschichte, als Ausdruck persönlicher und kollektiver Unterdrückung und der individuell möglichen Konfliktverarbeitung sucht. [...] Bei der starken Berücksichtigung der sozio-kulturellen Faktoren im Leben einer Frau findet so die Verlagerung des erscheinenden Konfliktes von innen nach außen statt. Es wird nicht mehr nur auf der Ebene der psychischen Repräsentanzen gearbeitet, sondern wenn, dann werden diese Repräsentanzen eher für eine mögliche Konfliktfähigkeit stabilisiert. Damit wird ein multifaktorielles, ganzheitliches Vorgehen möglich.” (Scheffler 1986: 28)

Aus der feministischen Kritik folgten als leitende Gedanken für die Arbeit mit Frauen: Orientierung an Entlastung statt Verstärkung von Schuldzuweisungen, Aufdeckung von verinnerlichtem Selbsthass, Stärkung der Bezogenheit der Frauen aufeinander, Unterstützung der Entwicklung vielfältiger Lebensweisen, Anerkennung auch lesbischer Beziehungen, Stärkung der Ressourcen der Frauen, Herstellung von Aufmerksamkeit für die Situation und Raum für Entwicklungswünsche der Frauen, Stärkung und Unterstützung der Selbstdefinition und Selbstinterpretation von Frauen (vgl. Scheffler 1986, Freytag 1992). Um im Beratungs- oder Therapiesetting die alltägliche Einschränkung und Unterordnung von Frauen nicht zu reproduzieren, wurden die Leitgedanken auch auf die Rahmenbedingungen der beraterischen bzw. therapeutischen Situation bezogen. So



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wurde beispielsweise eine Transparenz der Methoden und des Arbeitsarrangements gegenüber der Klientin gefordert und eine Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten der Frau wider neue Abhängigkeiten von Expert_innen angestrebt.

P RAXISKRITIK UND B EGINN DER A RBEIT IN DER S UCHTHILFE

FRAUENBEZOGENEN

Die Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen in der Suchtkrankenhilfe setzte – als Praxiskritik – an den als begrenzt wahrgenommenen Entwicklungsmöglichkeiten von Frauen in Beratung und Therapie an. Die Kritik bezog sich zunächst auf die Situation von Frauen in Therapie- und Beratungseinrichtungen. Kritisiert wurden die undifferenzierte Behandlung von Frauen und Männern und die Gleichsetzung von weiblichen mit männlichen Bedürfnissen in den Angeboten und dem Einrichtungsalltag6. Vor allem in der stationären Therapie Tätige und einige Wissenschaftlerinnen zeigten auf, dass Frauen andere Erfahrungen mitbringen als Männer und diese in den Einrichtungen unbeachtet blieben oder gar reproduziert würden, da im therapeutischen Alltag unreflektiert von einer männlichen (Sucht-)Biografie ausgegangen werde. Während beispielsweise von illegalen Drogen abhängige Männer oft aufgrund praktizierter Beschaffungskriminalität Erfahrungen mit Justiz und Strafbehörden mitbrächten, gingen Frauen häufig der Prostitution nach. Männliche Klienten hätten häufig bereits Gewalttaten ausgeübt, viele Frauen dagegen Gewalt und Missbrauch durch Männer erlebt. „Mit dem Ziel, die Verhaltensweisen der Klientinnen und damit natürlich auch die Basis dafür, die Wertvorstellungen, Haltungen zu sich selbst und zu anderen zu ändern, sind die spezifischen Erfahrungen der Frauen vor der Therapie in vielen Fällen entscheidend für die Wirksamkeit der Therapie. Über diese Erfahrungen zu sprechen, fällt den Frauen in der Regel schwer, zumal sie oft genug den Männern gegenüber ihre alte Identität behalten wollen, weil sie darin die einzige Möglichkeit sehen, sich Ansehen zu verschaffen. In solchen Fällen ist das gemeinsame Lernen der Mitglieder einer Therapiegruppe extrem blockiert.” (Heinrich 1989: 6)

Neben dem mangelnden Raum für ihre spezifischen Erfahrungen lagen Grenzen für Entwicklungsmöglichkeiten häufig auch darin, dass Frauen in stationären Einrichtungen in der Minderheit waren und dort von den Männern als sexuelle

6



Vgl. die Beiträge in: Christa Merfert-Diete und Roswitha Soltau 1984.

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Objekte wahrgenommen wurden, oder aber in Therapiegruppen soziale Pufferfunktionen zwischen ihnen erfüllten (vgl. z. B. Kreyssig 1984). Auch die häufig anzutreffenden, sehr rigiden Sanktions- und Hierarchiepraxen in Therapien – v.a. im Drogenbereich – stellten ungünstige Lernbedingungen für Frauen dar. Der Kern der beginnenden Praxiskritik lautete, in den Hilfsangeboten würden Bedingungen und Verarbeitungsweisen von Frauen reproduziert, die gerade ihre Abhängigkeit beförderten. Darum seien diese als Strukturen für Veränderung für Frauen nur eingeschränkt geeignet. Viele Sozialpädagoginnen und Therapeutinnen hatten ein ganz praktisches Problem: Sie gerieten als Mitarbeiterinnen oft in den Konflikt, dass sie die Bearbeitung bestimmter Erfahrungen der Klientinnen fachlich für geboten hielten, diese aber im Rahmen der bestehenden Gruppen und aufgrund des mangelnden Schutzes gar nicht umsetzen konnten. Das war einer der wichtigsten Auslöser für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Geschlechterverhältnisse für Suchtmittelabhängigkeit und ihre Implikationen für die Behandlung. In den 1980er Jahren entstand auch eine Reihe von Forschungsergebnissen und Praxisberichten hinsichtlich der Entwicklung von Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen. Diese Publikationen präsentierten eine Reihe neuer Erkenntnisse: Der Konsum von Frauen falle öffentlich weniger auf, weil sie isoliert und heimlich konsumierten und sehr viel seltener als Männer sozial auffällig würden. Gleichzeitig wurde aber auch auf die geschlechtsbezogen unterschiedlichen „Diagnosen” und die viel stärkere Stigmatisierung des Konsums etwa bei alkoholabhängigen Frauen aufmerksam gemacht (vgl. Vogt 1994, Legnaro/Zill 1983). Ob legale oder illegale Substanzen, Frauen konsumierten vor allem betäubende Präparate, was sich durch die „neuen“ stimulierenden Substanzen bei sehr jungen Frauen und Mädchen seit den 1990 Jahren nur z. T. ändert. Deutlich zeigte sich die bislang kaum beachtete häufige Medikamentenabhängigkeit von Frauen (vgl. Ernst/Füller 1990). Die Studien zeigen eine Reihe frauenspezifischer biografischer Kontexte des Konsums psychoaktiver Substanzen: Der Einstieg in den Konsum, vor allem illegaler Drogen, erfolge meist über Freunde oder den Partner; der Konsum stehe meist in engem Zusammenhang mit der Verarbeitung weiblicher Normalitätserwartungen, sei es, mit dem Ziel ihnen zu entsprechen oder sich ihnen zu entziehen; sehr häufig seien Erfahrungen von sexueller Gewalt, über die nicht gesprochen werden konnte (vgl. Mebes/Jeuck 1993). Festgestellt wurden auch unterschiedliche Bedeutungen sozialer Netzwerke für die Identität und für Unterstützungsmöglichkeiten: Frauen würden viel für andere sorgen, bekämen aber selbst wenig Rückhalt, im Gegensatz zu abhängigen Männern, die oft nichtab-



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hängige und sie unterstützende Partnerinnen hätten, hätten suchtmittelabhängige Frauen häufig einen ebenfalls abhängigen Partner. Gemäß den oben beschriebenen geschlechtsbezogenen Verarbeitungsweisen fänden sich bei suchtmittelabhängigen Frauen häufig Begleiterscheinungen wie psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen und Selbstverletzungen. Für den Ausstieg aus dem Suchtmittelkonsum erschwerend sei beispielsweise der bei Frauen häufigere Mangel an Ausbildungs- bzw. Berufserfahrungen zu nennen sowie die große Bedeutung des Partners für Selbstwert und Selbstdefinition. Wurde in der psychologischen Fachliteratur bisher die Bedeutung der frühen Kindheit für Suchtentwicklungen betont, wuchs nun die Aufmerksamkeit für die Entwicklungen in der Pubertät unter geschlechtsbezogener Perspektive. Anders als bei Jungen seien dabei die widersprüchlichen sozialen Anforderungen, denen Mädchen unterlägen, wenn sie eine sexuelle Identität entwickeln, für ihren Suchtmittelkonsum zentral (vgl. u. a. Helfferich 1994). Vor diesem Hintergrund wurden in den 1980er Jahren Angebote für drogen-, alkohol- und medikamentenabhängige Frauen entwickelt, die auf verschiedene Weise versuchten, diesen Spezifika gerecht zu werden.7 Wie die Angebote konzipiert wurden und auf welche Aspekte sie antworteten, ist dabei durchaus unterschiedlich, denn die Orientierungen und Handlungsbedingungen der Mitarbeiterinnen waren verschieden. Sie unterschieden sich in berufsfeldbedingten Orientierungen und Einbindungen (Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialpädagoginnen, Psychologinnen, Ärztinnen), in den Handlungsbedingungen der Hilfesysteme (die alkohol- und medikamentenbezogene Suchtkrankenhilfe und die Drogenhilfe hatten in der BRD unterschiedliche Traditionen und Bedingungen) und in den praktischen Grenzen und Möglichkeiten ihrer jeweiligen Einrichtungen. Insgesamt existierten drei Kontexte für veränderte Angebote. Stellenweise gab es eine bewusste Integration frauenspezifischer Aspekte in traditionelle Frauenkliniken (vgl. Geier 1996); es entstanden auch Angebote für Frauen in Beratungs- und Therapieeinrichtungen für Frauen und Männer, meist in Form von zusätzlichen Gruppen- bzw. Indikationsangeboten (vgl. z. B. Strobl 1990). Eine ganz besondere und zentrale Rolle spielten aber die neuen, feministisch orientierten Angebote ausschließlich für Frauen. Eine ganze Reihe solcher Einrichtungen wurde damals gegründet, sei es als eigene Therapieeinrichtung in einem gemischten Träger wie „Prima Donna“ („Condrobs“, München) oder sei es in eigener Trägerschaft, wie z. B. der 1983 ersten Einrichtung mit Signalcharakter „Violetta Clean“ („Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V.“,

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Einen Überblick über die Entwicklung bieten Vogt/Winkler (1996) und die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2002).



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Berlin)8, „Camille“ („Calla e. V.“, Frankfurt) und „Frauenperspektiven e. V.“ (Hamburg)9. Es entstanden auch erste Beratungsstellen, wie beispielsweise „LAGAYA“ („Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V.“, Stuttgart), „BELLA DONNA“ („Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen Essen e. V.“) oder der „Frauenladen“ in Berlin.10 Diese Neugründungen von Projekten fanden nicht zufällig in der Drogenhilfe statt, da diese durch die in den 1970/80er Jahren wachsende illegalisierte Drogenszene und hierdurch entstehende neue Bedarfe neu aufgebaut wurde und teilweise auf andere Traditionen zurückgriff (etwa das Prinzip der Therapeutischen Gemeinschaften und der Sozialtherapie, die emanzipativ gewendet wurden). Die neu entstandenen stationären Beratungs- und Therapieeinrichtungen für drogenabhängige Frauen legten Wert auf Wohngemeinschaften mit kleinen Gruppen, in denen die Klientinnen die Hausregeln ebenso mitbestimmten, wie die gemeinsame Gestaltung der Wochenpläne. Der gesamte Prozess des Zusammenlebens wurde als Therapie verstanden: „Damit bekommen die Alltagsbewältigungen, die täglichen Ärgernisse und Freuden, die alltägliche Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und den Mitbewohnerinnen, bekommen Schuldenregelung, Behördenkontakte und in ganz besonderem Maße Probleme mit Arbeit/Berufstätigkeit eine zentrale Bedeutung für die Therapie. Die Spaltung von Alltag und Therapie ist weitgehend aufgehoben, bleibt nur dort erhalten, wo es unmittelbar sinnvoll ist, Alltagsbelange für eine Zeit zurückzustellen und sich auf spezielle Probleme und Erfahrungsaufarbeitungen zu konzentrieren.“ (Heinrich 1991: 170)

8

Eine Beschreibung der anstrengenden, mehrjährigen, aus zahllosen Anträgen und Verhandlungen führenden Arbeit bis zur erfolgreichen Gründung der therapeutischen Einrichtung für drogenabhängige Frauen vgl. Kreyssig/Kurth (1984).

9

Zum Entstehungshintergrund, dem Profil und den einzelnen Arbeitsbereichen des Suchthilfeträgers „Frauenperspektiven e. V.“ vgl. Schwarting (1998).

10 Inzwischen haben diese Träger und andere Einrichtungen weitere Angebote entwickelt (vgl. dazu die Beiträge in diesem Band). Bei einem der ersten „Frauenprojektetreffen“ Anfang der 1990er Jahre waren als Angebote vertreten: Violetta Clean, Stoffbruch, Frauenperspektiven, LAGAYA, Lila Pause, Revue Rhein-Main, Café Extra Dry Berlin, Frauenberatung Daytop Berlin, Frauenladen Wedding, Café Olga, die Zwiebel Berlin, Prima Donna München, Bremer Hilfe zur Selbsthilfe, die Exen Frankfurt, Viva Clara München, Calla Frankfurt, Kassandra Freiburg und Villa Donna aus der Schweiz.



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Die Fraueneinrichtungen gingen damit deutlich weiter als die geschlechtsheterogenen Einrichtungen der Drogenhilfe: In den feministischen Projekten gab es weder starre Therapiestufensysteme noch Hierarchien innerhalb der Klient_innengruppe (etwa in Form von „Pat_innen“ oder „Arbeitsbereichsvorgesetzten“) oder Sanktionen. Als zwei wichtige Kriterien der Arbeit werden immer wieder Transparenz und antihierarchische Haltung hervorgehoben (vgl. Heinrich 1991), sowohl im Verhältnis zwischen Therapeutin und Klientin als auch im Verhältnis der Klientinnen untereinander.11 Die zentrale Bedeutung dieser Kriterien hatte ihren Hintergrund in den feministischen Analysen zu Abhängigkeitsverhältnissen von Frauen in sozialen Konstellationen (vgl. Kreyssig 1992).

W EITERENTWICKLUNGEN Diese feministischen Frauenangebote und -träger nahmen in den Folgejahren Modellcharakter an. Indem sie Angebote überhaupt erst entwickelt haben und neue Wege gegangen sind, haben freie, kleine Träger in den letzten Jahrzehnten immer wieder Thematisierungen und Innovationen hervorgebracht und befördert, die dann erst in der allgemeinen Arbeit diskutiert oder teilweise aufgenommen wurden (siehe hierzu Tödte in diesem Band). Zu nennen ist hier beispielsweise das Thema der Traumatisierung durch (sexualisierte) Gewalt, das heute eine große Öffentlichkeit erfährt (vgl. Gahleitner/Gunderson 2009). Oder die Arbeit mit suchtmittelabhängigen Müttern und Kindern; insbesondere die bundesweit diskutierten und zu einem Teil praktizierten Formen von Kooperationsvereinbarungen mehrerer Hilfesysteme geht auf das Modellprojekt VIOLA mit der Kooperationsvereinbarung in Essen zurück (vgl. Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2001). Auch die hohe Medikamentenabhängigkeit von Frauen wurde immer wieder thematisiert, eine nachhaltige Implementierung expliziter Einrichtungen oder Angebote gelang aber bislang nicht.12 Die Fraueneinrichtungen sind auch Katalysatoren in der sozialpolitischen Lobby-Funktion für suchtmittelabhängige Frauen, in der Öffentlichkeitsarbeit, mit Vorträgen in der Fachöffentlichkeit, Lehraufträgen an Universitäten und Fachhochschulen oder Fortbildungen für psychosoziale und pädagogische Ar-

11 Transparenz bezieht sich hier auch auf Information der Klientin über Inhalte der Sozialberichte für die Leistungsträger, Meldungen an Behörden zum Aufenthalt in der Einrichtung usw. 12 In Hamburg gab es eine Zeit lang die vielbeachtete und trotzdem wieder geschlossene „Informationsstelle Frauen – Alltag – Medikamente“ (vgl. Nette 1989).



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beitsbereiche. Die Einrichtungen waren und sind auch viel genutzte Anlaufpunkte für Studierende oder forschende Sozialwissenschaftlerinnen und Praktikantinnen. Mitarbeiterinnen in vielen geschlechterheterogenen Beratungs- und Entwöhnungseinrichtungen begannen, diese Erkenntnisse in der Praxis zu berücksichtigen, oft gegen das Desinteresse oder gar den Widerstand männlicher Kollegen und Leitungen. Der Legitimationsdruck, der auf der Frauenarbeit lastete, führte dazu, dass Probleme von suchtmittelabhängigen Frauen meist als „Zusätzliches” gefasst und neben dem „allgemeinen” Angebotsspektrum als ein eigenes kleines Angebot, als „Extra”, ergänzt wurde. So stand die bewusste Arbeit mit Frauen der geschlechterunsensiblen Arbeit der Kolleg_innen gegenüber, was in der Öffentlichkeit oft dazu führte, ausschließlich Frauen als geschlechtliche Menschen zu betonen und sie nicht als eine Zielgruppe neben einer anderen, den Männern, zu begreifen, also eine einseitige Vergeschlechtlichung vorzunehmen. Männliche Themen und Problemlagen galten (und gelten oft noch immer) nicht als männliche, sondern als „allgemeine“. Das reproduziert sich auch in der Sicht und Bewertung mancher Kollegen und Kolleginnen und von Klientinnen selbst mit einem Defizitblick, „Frauen hätten es wohl nötig”. Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine erfolgreiche Frauenarbeit begann, die jedoch in den Kollegien der Einrichtungen und bei Kostenträgern immer wieder um Akzeptanz kämpfen musste. Theoretisch lässt sich formulieren: a) Geschlecht wurde als Kategorie und Praxis sichtbar gemacht, allerdings ausschließlich für Frauen. Diese einseitige Vergeschlechtlichung stellt aber auch den Beginn einer Zielgruppenarbeit dar. b) Eine zweite Ebene ist die politische: Die Situation von Frauen wurde als Unterordnung im Geschlechterverhältnis begriffen und insofern als Frage sozialer Ungleichheit in den Sucht- und Gesundheitsbereich getragen. In den späten 1980er und den 1990er Jahren weitet sich die Frauensuchtarbeit aus, sowohl mit Angeboten in Einrichtungen für Frauen und Männer, als auch mit weiteren Angeboten in eigenen Trägerschaften. Wissenschaftler_innen tragen mit Forschungsarbeiten zu einer Differenzierung bei; eine Reihe von Fachtagungen findet statt, aus denen heraus auch Veröffentlichungen resultieren. Die Versuche, die Frauenfrage breiter in die Suchthilfe zu implementieren, sind jedoch nur sehr mäßig erfolgreich. Es gelingt vor allem dort, wo mit Mitteln von Subventionierung und damit verbundenen Verpflichtungen gearbeitet wird, so in Nordrhein-Westfalen, wo landesgeförderte Beratungsstellen einige Jahre lang eine „erweiterte Grundförderung“ beantragen können, wenn sie sich zu akzentu-



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ierter Arbeit mit Frauen durch nachzuweisende Leistungen in Angeboten, Fortbildungen der Mitarbeiterinnen und Dokumentation in Jahresberichten verpflichten. Die frauenbezogene Suchtarbeit war Ende der 1990er Jahre entwickelt und ausdifferenziert, aber nicht dauerhaft gefestigt, integriert und mit Ressourcen gestützt.

A USDIFFERENZIERUNGSPROZESSE Seit den 1990er Jahren bis heute zeigen sich eine Reihe von Modernisierungen und Ausdifferenzierungen. Erstens finden sich modernisierte Weiblichkeiten und nun auch Männlichkeiten. Dabei wurde zunächst überhaupt erstmalig Männlichkeit thematisiert. Während sich im Bereich der sozialpädagogischen Arbeit im Kinder- und Jugendbereich und langsam auch in der Primär- und Sekundärprävention ein umfassenderer Blick auch auf Jungen/Männer und Formen von Männlichkeiten entwickelte, kamen nun aus männerbezogenen Gendertheorien anregende Erweiterungen der Perspektiven: Der Blick auf den Verdeckungszusammenhang und die Machthierarchie des Geschlechterverhältnisses hat sich um den spezifischen Blick auf Männer, und zudem auch auf Machtfragen und Hierarchisierung zwischen Männern, erweitert. Der Begriff der hegemonialen und der fragilen Männlichkeit aus dem Konzept von Connell (2000) wurde stark von Geschlechterforscher_innen und Praktiker_innen aus der Sozialen Arbeit aufgegriffen (vgl. Lenz 2000) und erreichte auch die Suchtkrankenhilfe.13 Doch während nun geschlechtsbezogene Leitbilder, Lebenserfahrungen und Lebensbewältigungsstrategien in der Fachwelt diskutiert werden, wird auch deutlich, dass sie sich derzeit, vor dem Hintergrund eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels, verändern. Für die Frauen in der BRD war seit den 1970ern eine Modernisierung spürbar: Mit einem erhöhten Arbeitskräftebedarf im größer werdenden Dienstleistungsbereich, mit der Frauenbewegung und den gesetzlichen Reformen und schließlich der Bildungsreform veränderten sich Frauenleben und Frauenbilder in Richtung steigender Erwerbstätigkeit und vielfältigerer, selbstbestimmterer

13 Erst zu Beginn der 2000er Jahre schritt die Diskussion zu Männern und Sucht deutlich voran: Wichtige Impulse in der BRD kamen von Tagungen in Oldenburg, zu denen auch Dokumentationen erschienen (vgl. Jacob/Stöver 2005), in Dortmund gab es 2004 eine Tagung mit dem Titel „Männersache“ (vgl. Stöver 2004), in NRW entstanden ein Arbeitskreis und ein Leitfaden zur männerspezifischen Sucht- und Drogenarbeit (LWL-Koordinationsstelle Sucht 2011).



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Lebenskonzepte. Erst seit den 1980er/1990er Jahren erreichten die Modernisierungsprozesse langsam auch das Leben der Männer: Traditionelle Männlichkeitsbilder gerieten ins Wanken durch eine zunehmende Auflösung des alleinigen Ernährerstatus, durch Erfahrungen von Arbeitslosigkeit, durch den Wegfall der industriellen, männlichkeitsstützenden Körperberufe zugunsten von Dienstleistungen mit oft computerdominierten Arbeitsplätzen. Auch Bilder und Anforderungen von Führungspersönlichkeiten wandeln sich weg vom traditionalen patriarchalen, autoritären Stil. Das gilt tendenziell auch für ostdeutsche Männer, während für die ostdeutschen Frauen festzustellen ist, dass sie nach 1990 eher eine Demodernisierung erfahren haben (vgl. Geißler 2014: 403ff.). Heute stehen wir vor der Situation, dass sich die Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit ausdifferenzieren, oder anders gesagt: Es bilden sich eine Reihe von Weiblichkeiten und Männlichkeiten heraus. Wie das konkrete Leben von Männern und Frauen und wie ihre Orientierungen aussehen, ist zurzeit unterschiedlich, zum einen im Hinblick auf Generationen, aber auch im Hinblick auf Schichten bzw. soziale Klasse, den ethnischen Hintergrund, aber auch der biografischen Gestaltung. Insofern ist der alte Begriff einer eindimensionalen Frauen- bzw. Männerrolle heute zu eng gefasst. Wie die Geschlechterverhältnisse und die Frage der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen aktuell einzuschätzen sind, ist nicht leicht zu beantworten. In den Sozialwissenschaften wird zwischen der strukturellen Dimension (gender system) und der kulturellen und handlungsbezogenen Dimension (doing gender, Identitäten)14 unterschieden. Ausgehend von dieser Unterscheidung stellen einige Autorinnen die These auf, dass sich diese zwei Dimensionen sehr ungleichzeitig verändert haben. Während sich auf der Ebene von Kultur und Identitäten eine starke Modernisierung vor allem der Frauenbilder und damit Bilder von Gleichheit entwickelt hätten, seien die Strukturen der Gesellschaft in den Grundfesten (Arbeits- und Familienpolitik) noch die alten. Angelika Wetterer (2003) diagnostiziert insofern einen „structural lag“, ein Hinterherhinken der Strukturen, der von einer „rhetorischen Modernisierung“ verdeckt werde. Ähnliches zeigt der Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2011): Viele Frauen träfen in ihrem Leben mit neuen Lebensoptionen oft auf strukturelle Blockierungen. Aktuelle Themen sind beispielsweise die Krise des Care-Bereichs, Re-Traditionalisierungen von Partnerschaften bei Geburt von Kindern, eine noch immer bestehende horizontale und vertikale Segregation des Arbeitsmarktes und ihre Folgen für Lebensbilder, Lebensplanung und Lebenssicherung. Mädchen-

14 Zu verschiedenen Konzepten und Überlegungen vgl. Voigt-Kehlenbeck (2008) und Czollek et al. (2009).



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und Frauenbilder einer modernen, selbstbewussten Frau drohen nur ein „Stil“ zu sein, wenn eingeschränkte Möglichkeiten und Ungleichheitserfahrungen entnannt und tabuisiert werden.15 Auch die Kulturen und Formen des Konsums psychoaktiver Substanzen verändern sich stets weiter. So nimmt derzeit der Konsum von aufputschenden gegenüber sedierenden Substanzen zu; viele Drogenszenen sind von ihrer kulturellen Ausstrahlung auch für junge Mädchen und Frauen viel zugänglicher. Im Alkoholbereich wird mit veränderten Werbestrategien um neue Generationen und mit sehr verschiedenen Frauenbildern gleichzeitig um Frauen als Konsumentinnen geworben. Andere aktuelle Trends sind die Nutzung psychoaktiver Substanzen für die Funktionsfähigkeit in leistungsorientierten Schul- und Arbeitswelten („Enhancement“) und das Doping etwa im männlichen Kraftsport. Eine geschlechtsreflexive Suchhaltung muss sich darum die Fragen immer wieder neu vorlegen. Die geschlechtsbezogenen Aspekte von Konsum und Sucht, die in den letzten Jahrzehnten diskutiert wurden, sind weiter empirisch zu erheben und zu überprüfen.16 So etwa die Dimensionen geschlechtsbezogenes gesundheitsriskierendes Verhalten, Zugänge zu den Angeboten der Suchtkrankenhilfe, Formen und Ausmaß von Komorbidität, Sexualität und (sexualisierte) Gewalterfahrungen, Partnerschaften, Freundschaften und soziale Netzwerke, Vaterschaft und Mutterschaft, Bedeutung von Bildung und Erwerbsarbeit, Interessen und Selbstwirksamkeitserfahrungen, der Mehrheiten- und Minderheitenstatus in der Behandlung.17 Als Arbeitsfragen sind immer wieder neu zu bestimmen: Was bringen die Klient_innen an geschlechtsbezogenen Bildern, Erfahrungen mit Lebensbedingungen und Ereignissen und Verarbeitungsweisen aus ihrem Leben und ihrer Sozialisation mit? Was bedeuten diese für die Suchtentwicklung? Welche Aushandlungen sexueller Identität und entsprechender Handlungsmöglichkeiten laufen während ihrer Zeit in unserer Einrichtung? Inwieweit haben wir als Mitarbeiter_innen geschlechtsbezogene Blicke (verdeckt und nicht

15 Auch für Männer und Männlichkeiten sind die aktuellen Veränderungen zu analysieren: Welche Bilder von hegemonialer und von fragiler Männlichkeit sind im Umbau zur spätkapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft mit prekäreren Arbeitsverhältnissen und neuen sozialen Ungleichheiten zu beobachten? 16 Ein etwas älterer Überblick über diese Dimensionen findet sich bei Schwarting (2005). 17 Ein gendersensibler (oder besser „geschlechtsreflexiver“) Blick bedeutet dabei nicht einfach, Geschlecht als solches zu thematisieren und Geschlechterunterschiede zu belegen, sondern das Grundlagenwissen zu nutzen, um Konflikte und Spannungen als Bewältigungsanforderungen zu erkennen (vgl. Voigt-Kehlenbeck 2008: 138).



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bewusst oder bewusst)? Was erleben die Klient_innen in der Einrichtung als Lebenswelt, also im gesamten Setting, miteinander und was mit uns? Was tragen Mehrheits- und Minderheitssituationen, geschlechtsheterogene und geschlechtshomogene Gruppen zur Wirkung der Angebote bei? Wird es in Evaluationen mit erhoben?18

I NSTITUTIONALISIERUNGEN : G ENDER M AINSTREAMING UND GENDERSENSIBLE A RBEIT MIT F RAUEN In den 1990er Jahren entsteht das politische Instrument „Gender Mainstreaming“, das eine organisationsbezogene Strategie bezeichnet, die auf Gleichstellung der Geschlechter auf der Ebene der Nutzer_innen, Betroffenen, Kund_innen usw., aber auch auf die Ebene der Leitung, des Personals zielt.19 Von der allgemeinen Politik aus wird sie zunehmend in verschiedene Handlungsfelder wie den Gesundheitsbereich und auch den Suchtbereich integriert. Damit werden einige von der Frauensuchtarbeit schon lange thematisierte Aspekte inzwischen von politischen Leitvorstellungen unterstützt und tatsächlich im Rahmen der Suchthilfe formuliert. Gender Mainstreaming wird als Anforderung beschrieben im Aktionsplan Drogen und Sucht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung (2003), im Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2004); der Fachverband Drogen und Rauschmittel (fdr) gab eine Expertise heraus (vgl. Zenker et al. 2005) und Vogt (2001) sowie Winkler (2001) publizierten dazu. Forderungen nach Gender-Berücksichtigung tauchten in diesem Zusammenhang auch in Sucht-Programmen der Länder auf, und es entstanden eine Reihe weiterer regionaler bzw. bundeslandbezogener Papiere von Fachgruppen und Arbeitskreisen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen allerdings, dass solche Integrationsprozesse von Gender eine „harte Nuss“ sind. Erstens, weil sie die Logik von Zusatzthemen, Extragruppen, speziellen Indikationsgruppen aufbrechen, Denkarbeit erfordern, und solche Prozesse Zeit und Auseinandersetzungen in Teams brauchen. Zweitens, weil sie Unterstützung von Leitungen brauchen und eine Kultur in der Einrichtung. Drittens, weil die verschiedenen Prozessvorschläge meist keine eigene Analyse oder präzise Zielvorgabe enthalten, sondern formale Vorschläge sind. Das heißt, dass wir Analysen als Ausgangspunkt brauchen und

18 Wie etwa in der interessanten kleinen Studie von Martina Tödte (2005). 19 Vgl. Stiegler (2010), Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2016).



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konkrete Ziele/Perspektiven fach- und geschlechtertheoretisch immer wieder reflektiert werden müssen.20 Viertens, weil sie auch die Ebenen des Personals und der Strukturen der Einrichtungen berührt, beispielsweise bei der Besetzung der Positionen. Bisher gibt es kaum genauere Analysen zur tatsächlichen Implementierung von Genderorientierungen in Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe. Die Studie etwa von FOGS zur Situation in Nordrhein-Westfalen wurde zwar in der Fachöffentlichkeit kurz vorgestellt (vgl. Schu 2014), aber leider noch nicht veröffentlicht. Sie zeigt (am Beispiel NRW), wie rudimentär die Genderorientierung in die Regelangebote der Einrichtungen, die sich an Frauen und Männer wenden, implementiert ist. So droht vielleicht auch dem Thema „Gender“ in der Suchthilfe das Schicksal politisch-sozialer Differenzthemen: Wenn solche Arbeits- und Denkaufgaben nicht inhaltlich mit Leben gefüllt werden, entsteht leicht ein Klima von moralischer „Political Correctness“ und Abwehr. Eine anregende Studie von Sonja Kubisch (2012) zum Umgang mit sozialen Differenzen in Wohlfahrtsverbänden zeigt beispielsweise, dass Aussagen oft auf der Ebene des kommunikativen Wissens verbleiben, aber nicht auf der Ebene von Orientierungen und damit handlungsleitenden Haltungen integriert sind. Inzwischen wurden einige anregende Möglichkeiten erarbeitet, einen Prozess der Integration systematisch anzustoßen und zu erarbeiten, die eine genderorientierte Arbeit mit Mädchen und Frauen im Rahmen der Prävention und Suchthilfe ermöglichen. Sie knüpfen an Gender Mainstreaming, Prozessentwicklung und Qualitätssicherung an.21 So legte Ingeborg Jahn 2004 „Gender Mainstreaming im Gesundheitsbereich. Materialien und Instrumente zur systematischen Berücksichtigung der Ka-

20 Kritisch dazu Schwarting (2005: 133ff.). So wurde im Aktionsplan Drogen und Sucht (2003) zwar von Gender Mainstreaming gesprochen, Mütter dann aber beispielsweise lediglich für Kindeswohl instrumentalisiert. 21 Ein konkretes Beispiel für die stationäre Arbeit bietet der AG-Abschlussbericht zur Umsetzung des Landesprogramms gegen Sucht NRW: Anforderungen an eine geschlechtsbezogene stationäre medizinische Rehabilitation mit drogenabhängigen Frauen. Empfehlungen für die Praxis in NRW (Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2004): Er zeigt eine vierschrittige Methode der Integration als Querschnitt und bildet Teilziele für die einzelnen medizinischen Leistungen. 1. Analyse aus aktuellem Datenmaterial, Studien, Praxiserfahrungen usw., 2. das orientierende Leitziel, 3. das strategische Ziel (Handlungsziel), 4. konkrete Umsetzungsvorschläge zur Berücksichtigung in den Angebotsbereichen (Handlungsansätze). Der Vorschlag ist nur exemplarisch und von Einrichtungen individuell anzupassen.



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tegorie Geschlecht“ vor. Neben theoretischen Rahmungen schlägt sie Arbeitsfragen zu verschiedenen Dimensionen vor, die auch für die Suchtarbeit genutzt werden können: 1. Analyse: Gibt es für den Themenbereich (in Theorien, Forschungen, Praxiserfahrungen) Hinweise auf Geschlechterunterschiede? Gibt es Geschlechterunterschiede bei den Problemen? Gibt es Geschlechterunterschiede in den Verarbeitungs- oder Bewältigungsformen? Gibt es Geschlechterunterschiede bei den Zugängen zum Angebot? Gibt es Geschlechterunterschiede bei den Defiziten und den zu fördernden Ressourcen? Profitieren Frauen und Männer bisher unterschiedlich stark von den Angeboten? 2. Konzept: Werden – durch die Analyse herausgearbeitete – Unterschiede angemessen in die Konzeptentwicklung einbezogen? Müssen Ziele möglicherweise für Frauen und Männer unterschiedlich formuliert werden? Sind eventuell geschlechtsbezogene Projekte (ausschließlich für Frauen oder ausschließlich für Männer) notwendig? 3. Methode: Werden Frauen und Männer gleichermaßen von dem Angebot und Herangehen angesprochen und erreicht, oder müssen geschlechtsbezogene Zugangswege gewählt werden? Sollte das Angebot geschlechtsheterogen oder ganz/teilweise geschlechtshomogen durchgeführt werden? Sind bei den geplanten Methoden Unterschiede zwischen den Geschlechtern von Frauen und Männern zu berücksichtigen? Sollten gleiche Methoden verwendet werden oder unterschiedliche? 4. Rahmenbedingung/Setting: Sind Geschlechterunterschiede für das Angebot hinsichtlich Orten, Zeiten und Räumlichkeiten zu berücksichtigen? Sind an der Durchführung des Angebotes Mitarbeiter_innen beider Geschlechter beteiligt? Ist das für den Erfolg des Angebotes von Bedeutung und darum zu berücksichtigen? Ein ähnliches, produktives und theoretisch fundiertes Reflexionsraster für den Bereich der Psychotherapie bietet Brigitte Schigl (2012: 179ff.).

A USBLICK Wie wird sich die geschlechterbezogene Suchtarbeit mit Frauen (und Männern) weiterentwickeln? Theoretische Herausforderungen liegen derzeit darin, einen geschlechterreflexiven Blick weiterzuentwickeln, der den gesellschaftlichen Wandel und seine Bedeutung für Geschlechterverhältnisse einbezieht und sozia-



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le Hintergründe von Suchtmittelabhängigkeit beleuchtet, ohne die Differenzen innerhalb der Frauen auszublenden. Mögliche Verschränkungen von Geschlecht/Gender mit sozialer Klasse bzw. Schichtzugehörigkeit (class), Ethnie bzw. Migration, aber auch Alter (ageism), Behinderung (ableism), moderner Zwangsattraktivität (lookism) usw. fordern auch in der Praxis mehr Aufmerksamkeit. Für diese Mischungen und gegenseitige Beeinflussung gibt es in den Sozialwissenschaften den Begriff der „Intersektionalität“ (vgl. Winker/Degele 2010, Klinger et al. 2007). Die Praktikerinnen sind konfrontiert mit zunehmenden Mehrfachproblematiken (Multimorbidität) bei den Klientinnen, mit abnehmenden Ressourcen, mit Zuständigkeitsgrenzen der jeweiligen Hilfesysteme, mit einer zunehmenden Medizinalisierung und Therapeutisierung der Fachdiskurse. Wie wird sich die Spannung zwischen Zielgruppenorientierung, individuellen Entwicklungsbedarfen, Qualität und Partizipation einerseits und hohen Standardisierungen und Kosteneffizienz andererseits entwickeln? Die Frauensuchtarbeit bringt hier, wie die folgenden Beiträge zeigen, immer wieder wichtige Themen und Vorschläge für produktive Weiterentwicklungen von Angeboten ein.

L ITERATUR Appel, Christa (1991): Frauen – Alkohol – Gesellschaft. Zur Relevanz und Aktualität der amerikanischen Temperenzbewegung, Freiburg i. Br.: Lambertus. Assfalg, Reinhold (2002): „Fachkliniken“. In: Fengler, Jörg (Hg.), Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Prävention, Landsberg/Lech: ecomed, 136-145. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2011): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Online verfügbar unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlag en/Erster-Gleichstellungsbericht-Neue-Wege-Gleiche-Chancen,property=pdf, bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [19.03.2016]. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2016): Strategie „Gender Mainstreaming“. Online verfügbar unter:

http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=192702.html [30.03.2016].



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zifische Suchthilfe? Dokumentation der gleichnamigen Tagung vom 29.9.2004, Dortmund. Strobl, Charlotte (1990): „Therapie von Mädchen“, in: Niedersächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.), Frau und Sucht. Berichtsband der Tagung vom 27.-29. April 1989, Hamburg. Tödte, Martina (2005): Blitzlichter. Ein subjektiver Blick von PatientInnen auf stationäre medizinische Rehabilitation Drogenabhängiger. Eine kleine Studie zum Perspektiven- und Geschlechtervergleich, Essen: Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA. Vogt, Irmgard (1994): Alkoholikerinnen. Eine qualitative Interviewstudie, Freiburg i.Br.: Lambertus. Vogt, Irmgard (2001): „Geschlecht, Sucht und Suchtarbeit: Was heißt Geschlechtergerechtigkeit bei ungleichen Ausgangslagen?“, in: Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales; Landesvereinigung für Gesundheit (Hg.), Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen, 31-47. Vogt, Irmgard & Scheerer, Sebastian (1989): „Drogen und Drogenpolitik“, in: Scheerer, Sebastian & Vogt, Irmgard (Hg.) unter Mitarbeit von Hess, Henner, Drogen und Drogenpolitik. Ein Handbuch, Frankfurt/New York: Campus, 5-50. Vogt, Irmgard & Winkler, Klaudia (Hg.) (1996): Beratung süchtiger Frauen. Konzepte und Methoden, Freiburg i. Br.: Lambertus. Voigt-Kehlenbeck, Corinna (2008): Flankieren und Begleiten. Geschlechterreflexive Perspektiven in einer diversitätsbewussten Sozialarbeit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wetterer, Angelika (2003): „Rhetorische Modernisierung: Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen“, in: Knapp, Gudrun-Axeli & Wetterer, Angelika (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster: Westfälisches Dampfboot, 286-319. Winker, Gabriele & Degele, Nina (2010): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript. Winkler, Klaudia (2001): „Gender Mainstreaming in der stationären Alkoholarbeit“, in: Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales; Landesvereinigung für Gesundheit, Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen, 61-75. Zenker, Christel/Winkler, Klaudia/Walcker-Mayer, Carmen et al. (2005): Gender Mainstreaming in der Suchthilfe. Eine Expertise. Herausgegeben vom Fachverband Drogen und Rauschmittel. FDR-Texte Nr. 4.: Berlin.





Die Säulen der Frauensuchtarbeit E LKE P EINE

E INLEITUNG Die in den 1980er und 1990er Jahren gegründeten autonomen feministischen Suchthilfeträger haben ihre Wurzeln in der Frauenbewegung. Feministische Gesellschaftskritik bezog sich auf die Geschlechterverhältnisse in allen Lebensbereichen, kritisierte die Dominanz- und Machtansprüche von Männern, die Gleichsetzung von Mensch = Mann und die darin begründete Marginalisierung von Frauen(leben). Frauen kamen in den Machtzentralen des öffentlichen Lebens kaum vor. Das öffentliche und private Leben wurde durch Normen, Werte und Gesetze gestaltet, die überwiegend den Lebenslagen und Sichtweisen von Männern entsprachen, was sich auch in einer Sprache widerspiegelte, die ausschließlich die männliche Form verwendete und dies teilweise auch noch heute tut. Das Private, die Familie als „Frauenort“, spielte quasi eine gesellschaftliche Nebenrolle. Versorgungs-, Erziehungs- und Hausfrauentätigkeiten wurden gering geschätzt. Frauen führten die ihnen zugewiesenen Reproduktionstätigkeiten in einem strukturell angelegten Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Ehemännern, den Familienernährern, durch. Dagegen wurde der Slogan gesetzt: Das Private hat gesellschaftliche Relevanz! Das Private ist politisch! Kritisiert wurde die Wahrnehmung von Frauen als Sexualobjekte und die Sexualisierung weiblicher Körper, die sich in alltäglichen Erfahrungen von Sexismus und zugespitzt in körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt sowohl im öffentlichen, insbesondere aber im privaten Raum realisierte. Besonders deutlich wurde die Diskriminierung, wenn eine Frau eine Vergewaltigung anzeigte, denn dann sah sie sich bei Polizei und Gericht oft mit einer



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Haltung konfrontiert, die ihr als Opfer versuchte, eine (Mit-)Schuld nachzuweisen und ihr im Beisein des angeklagten Täters eine genaue Schilderung des Herganges der Vergewaltigung abverlangte. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 eine Straftat und das Gewaltschutzgesetz, das dem Schutz einer Person vor Gewalt im privaten häuslichen Umfeld dient, ermöglicht es heute, Täter aus der Wohnung zu verweisen. Im Januar 2016 hat das Bundeskabinett eine Verschärfung des Sexualstrafrechts beschlossen. Sexuelle Handlungen sollen damit unter bestimmten Voraussetzungen auch dann unter Strafe gestellt werden, wenn der Täter keine Gewalt angewendet oder damit gedroht hat. Der Zusammenhang zwischen (sexualisierten) Gewalterfahrungen und Drogenabhängigkeit/Sucht war Ende der 1980er und Anfang der 1990er selbst in Fachkreisen selten ein Thema. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die Entwicklung und Prämissen der Frauensuchtarbeit. Beispielhaft wird hierfür der 1989 in Hamburg gegründete Trägerverein Frauenperspektiven e. V. angeführt, wenngleich die Grundsätze der Arbeit in ähnlicher Form auf andere feministische Suchthilfeträger übertragbar sind.

Z UR E NTSTEHUNG

DER

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In den damaligen stationären Drogenhilfeeinrichtungen lag der Anteil von Frauen teils unter 20 % – dieses Verhältnis hat sich bis heute kaum verändert (vgl. Pfeiffer-Gerschel et al. 2014). In den Einrichtungen für alkoholabhängige Menschen liegt der Anteil von Frauen auch heute bei etwa 25 % (vgl. Braun et al. 2015). Vertreterinnen von Suchthilfeeinrichtungen für Frauen waren in Fachgremien teils nicht nur als einzige Frau vertreten, sondern waren auch die Einzigen, die versuchten, eine frauengerechte Sprache durchzusetzen und entsprechende Themen, Sichtweisen und Interessen zu vertreten. Eine Alltagserfahrung der Sozial- und Diplom-Pädagoginnen, Psychologinnen, Lehrerinnen und Vertreterinnen anderer Berufsgruppen, die damals in stationären Drogenhilfeeinrichtungen für Frauen und Männer arbeiteten, bestätigte sich immer wieder: Viele drogenabhängige Frauen waren teils massiv von Gewalt betroffen. Es ging häufig um Vergewaltigungen und Gewalterfahrungen in der Prostitution und in der Drogenszene oder in Beziehungen zu meist älteren drogenabhängigen Partnern, Dealern etc. Und es ging sehr oft auch um teils lang



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anhaltende, sexualisierte Gewalterfahrungen in der Kindheit, in der Herkunftsfamilie durch Väter, Stiefväter und Brüder. Die Frauen berichteten auch von zahlreichen Grenzüberschreitungen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und körperlichen Gewalterfahrungen in Drogenhilfeeinrichtungen. Sie erlebten, dass ihnen das Vorgekommene nicht geglaubt, dass es bagatellisiert wurde und sie verdächtigt wurden, den Täter provoziert zu haben. Frauen berichteten von erniedrigenden und beschämenden „Behandlungsmethoden“, die teils willkürlich, je nach Sichtweise und Haltung des Therapeuten/der Therapeutin, „verordnet“ wurden. So bekam etwa eine Frau in einer stationären Einrichtung für Frauen und Männer die Auflage, sich eine Woche „weiblich“ zu kleiden: Unter weiblicher Kleidung verstand der Therapeut das Tragen eines engen, brustbetonten T-Shirts. Eine andere, lesbische Frau musste sich gegen ihren Wunsch von männlichen Klienten massieren lassen. Heute wissen wir, dass viele Frauen innerhalb der Behandlungseinrichtungen durch erneute Gewalterfahrungen und Grenzüberschreitungen und durch triggernde Interventionen erhebliche Re-Traumatisierungen erleb(t)en. Die Konzepte der traditionellen, geschlechterunsensiblen Einrichtungen wurden Frauen nicht gerecht. Für einige der Kolleginnen stand bereits 1986 fest, dass es für Frauen eine andere, frauenspezifische Therapie geben muss, in der sie ihre Themen geschützt bearbeiten können. In der die Geschlechterverhältnisse, die Normen und Erwartungen, die daraus für Frauen gelten, besprechbar werden und in der die Reproduktion der Machtverhältnisse thematisiert und verhindert wird (vgl. Frauenperspektiven e. V. 1986: 2ff.). „Auch wurde uns in der therapeutischen Praxis schnell klar, dass Drogen in die meisten Frauenbiographien anders eingebunden sind, als in die von Männern.“ (Ebd.: 3) Gleichzeitig erforderte diese Erkenntnis, dass die zu bearbeitenden Themen alle Lebensbedingungen und die spezifischen Erfahrungen von Frauen darin umfassen müssen. Im Fokus der Arbeit mit den Klientinnen standen Abhängigkeit und Abhängigkeitsverhältnisse. Thematisiert wurden der Kontrollverlust durch Drogenkonsum, aber auch innerhalb von Beziehungen sowie die Abhängigkeit von süchtig machenden Verhältnissen und Lebenssituationen. Sucht wurde als Resultat eines multifaktoriellen Bedingungsgefüges verstanden, das bei Frauen wesentlich von frauenspezifischen Lebenserfahrungen und -bedingungen und entsprechenden Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen gekennzeichnet ist. Basierend auf dem sozialtherapeutischen Ansatz in der Drogenarbeit wurden die Konzepte und Arbeitsweisen wesentlich auf den theoretischen Hintergründen der Kritischen Psychologie und Grundhaltungen der Feministischen Therapie entwickelt. Durch die späteren Erkenntnisse traumatherapeutischer Forschungen



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und Konzepte wurden die Behandlungsansätze spezifiziert, teilweise auch korrigiert und weiterentwickelt (siehe ausführlich hierzu Peine & Homann in diesem Band). Sozialtherapeutischer Ansatz Zu Beginn der Frauensuchtarbeit galt die therapeutische Gruppe in der stationären Drogentherapie als Lern- und Übungsfeld für Veränderungen. Ganzheitlich, antihierarchisch und alltagsorientiert ging es im Zusammenleben sowie in themenbezogenen Gruppensitzungen darum, mit- und voneinander zu lernen und keine Machtverhältnisse zu reproduzieren. „Ein ganzheitliches Selbstverständnis in der therapeutischen Drogenarbeit mit Frauen bedeutet methodenübergreifendes Vorgehen. Der gesamte Prozess des Zusammenlebens in der Wohngemeinschaft wird verstanden als zur Therapie dazugehörend.“ (Frauenperspektiven e. V. 1992: 19) Die Therapie zielte darauf ab, früh Arbeitserfahrungen außerhalb der Therapie aufzunehmen, (Aus-)Bildung nachzuholen sowie die aktive Gestaltung von Lebensbedingungen, die zufriedenstellen und Lebensqualität und Sinn geben, anzugehen. Die Emanzipation der Frauen sollte gefördert und sie im gemeinschaftlichen Zusammenleben in der Erweiterung ihrer Handlungsspielräume unterstützt werden. Aus diesem Grund wurde beim Aufbau ambulanter Mädchenund Fraueneinrichtungen, wie bei dem Hamburger Träger Frauenperspektiven e. V., immer ein starker Fokus auf die Gruppenarbeit und Gemeinschaftserfahrungen gelegt. Einflüsse der Kritischen Psychologie Zentral für eine kritisch-psychologische Grundhaltung war die Anerkennung von Frauen und Mädchen als Subjekte ihres Handelns und der Versuch, sie in der Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit zu unterstützen: „Subjektorientierung heißt vor allem, die drogenabhängigen Frauen als handelnde Subjekte zu begreifen, die sich innerhalb gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse ihr Leben selbsttätig einrichten und die selbst für sich passende Wege suchen müssen bei der Überwindung ihrer Drogenabhängigkeit. [...] Selbst zu verstehen und auch zu überprüfen, wie es zu einer Drogenabhängigkeit gekommen ist, selbst zu entscheiden, wie es weitergehen soll, ist aber gerade die Grundlage für die Klientinnen, ihr weiteres Leben selbst zu verwalten und zu gestalten.“ (Frauenperspektiven e. V. 1992: 16f.)



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In diesem Sinne wurde Therapie als Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne einer Subjektorientierung und als wichtiger Schritt für die Bewältigung von Handlungseinschränkungen und damit verbundener Symptome verstanden. Impulse der Feministischen Therapie Seit 1977 fanden über 20 Jahre hinweg bundesweit Frauentherapiekongresse statt. Feministische Beraterinnen und Therapeutinnen setzten sich hier kritisch mit herrschender wissenschaftlicher Theoriebildung und Psychotherapie auseinander, entwickelten neue Standards, Haltungen und Methoden. Seit Anfang der 1990er Jahre nahmen auch Kolleginnen der feministischen Suchthilfeeinrichtungen an den Kongressen teil und wichtige Impulse der Feministischen Therapiebewegung flossen in ihre Arbeit ein: Neben dem Prinzip der Parteilichkeit und der Frauenschutzräume (ausführlicher hierzu weiter unten) betraf dies Selbstachtung und Selbstwertschätzung sowie Solidarität und die Anerkennung von Differenzen. Selbstachtung und Selbstwertschätzung Grundsätzlich war das (Wieder-)Erkennen von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen von Frauen und deren Wertschätzung zentral – insbesondere in Abgrenzung zu der damals wie heute gesellschaftlich oft defizitären, geringschätzenden und auf Äußerliches reduzierenden Sicht auf Frauen und Mädchen. Dies schloss auch die Wertschätzung der eigenen Wahrnehmung ein. Viele Frauen hatten verlernt, ihrer eigenen Wahrnehmung zu trauen. Ihre Selbsteinschätzung war stark selbstentwertend und die Entwertung traf auch die anderen Frauen – auch diese Erkenntnis und Reflexion war zentral. Die bewusste Fremd- und Selbstwahrnehmung und ein wertschätzender und achtsamer Umgang mit eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Impulsen sowie denen der anderer Frauen waren ein therapeutischer Fokus der frühen Gruppenarbeit, der auch für die späteren ambulanten Mädchen- und Frauenangebote wesentlich geblieben ist. Solidarität und Anerkennung von Differenz Die Bedürfnisse von Frauen nach Solidarität und gemeinschaftlichem Erleben, aber auch die Stärkung ihrer Konflikt- und Handlungsfähigkeit sind weitere elementare Aspekte in der Arbeit mit Drogen konsumierenden Frauen. Zunächst galten die Wohngemeinschaft und andere Gruppenangebote als Orte für Frauen, sich zu entdecken und auseinanderzusetzen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu finden und anzuerkennen. Auch in der ambulanten Arbeit werden Solidarität



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und die Gestaltung sozialer Kontakte als wesentliche Stützen für ein drogenfreies Leben, für den Aufbau von verlässlichen, tragfähigen Freundschaften und als starke Beziehungserfahrung betrachtet.

S UCHTENTWICKLUNG BEI F RAUEN : E RKENNTNISSE F RAUENSUCHTFORSCHUNG

DER

Es existieren zahlreiche Theorien, die je nach Zugehörigkeit zu einer Fakultät und darin unterschiedlicher „Schulen“ die Entstehung von Sucht erklären. Fast alle Ansätze ignorieren jedoch geschlechtsbezogene Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Dennoch lassen sich anhand von Forschungsergebnissen spezifische Bedingungsfaktoren für die Entstehung einer Sucht bei Frauen identifizieren (siehe hierzu auch den Beitrag von Bernard in diesem Band). Nach Gross (2002: 511) kann Sucht definiert werden „als unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten (veränderten) Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“. Weiterführend als Gross bezieht sich Vogel (2004) in ihrer Definition explizit auf psychoaktive Substanzen. Hiernach wird „unter Sucht ein psychisches und physisches, nicht mehr kontrollierbares Verlangen nach psychotropen Substanzen verstanden, welches eine Reihe körperlicher und sozialer Folgeschäden nach sich zieht“ (ebd.: 53). Auf die Bedeutung der Geschlechtskategorie in der Arbeit mit süchtigen Frauen weist Franke (1999: 144) hin: „Genese und Aufrechterhaltung von Sucht geschehen im Spannungsfeld des Dreiecks, dessen Eckpunkte Person – Substanz – Gesellschaft heißen – dies ist einer der Kernsätze der Literatur zu Sucht und Abhängigkeit. Übersehen wird dabei in der Regel, dass die Person, über die geschrieben, geforscht und nachgedacht wird, ein Geschlechtswesen ist, das in der Gesellschaft, in der es lebt, geschlechtsspezifische Rollen, Aufgaben, Rechte und Pflichten hat.“

Im Hinblick auf die Entwicklung einer Abhängigkeit von legalen und illegalen Substanzen bei Frauen lassen sich nach der Studie von Zenker et al. (2002), in der nach Bedingungsfaktoren für die Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung geforscht wurde, folgende biografische Erfahrungen in der Kindheit der Klientinnen als Ursachen identifizieren: • (sexualisierte) Gewalterfahrungen, • Ablehnung, • Vernachlässigung,



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• permanente Überforderung und Demütigung, • zu wenig Orientierung oder Freiräume gebendes erzieherisches Verhalten.

Franke (1999: 146f.) weist auf folgende bedeutsame Faktoren hin, die zu unterschiedlichen persönlichen Suchtentwicklungen von Frauen führen. Die wichtigste Erkenntnis der frauenspezifischen Suchtforschung ist für sie, dass sich süchtige Frauen hinsichtlich des konsumierten Suchtmittels (legal – illegal), hinsichtlich des Alters, in dem eine Frau eine massiv belastende Erfahrung gemacht hat und hinsichtlich des Einstiegsalters unterscheiden; dass die soziale und psychische Situation der Frauen für die Entstehung und den Verlauf einer Suchterkrankung eine erhebliche Rolle spielen. Vor allem für Frauen ab der fünften Lebensdekade führt Franke (ebd.: 151) weitere Belastungsfaktoren an: Probleme in der Partnerschaft/Scheidung, Betreuung von alt gewordenen Angehörigen, Angst um den Arbeitsplatz aufgrund des eigenen Alters, Berentung des Partners mit der Folge veränderter Rollendefinitionen in der Partnerschaft und schwere Erkrankungen/Tod von Freund_innen im eigenen Alter. Darüber hinaus fallen insbesondere bei Frauen, die Alkohol und Medikamente konsumieren, die Erfahrung von Trennung, Einsamkeit, Isolation und Verlust als weitere Bedingungsfaktoren ins Gewicht. In Bezug auf die Konsummotive weist Quinten (2002: 176f.) auf erhebliche Unterschiede zwischen substanzabhängigen Frauen und Männern hin. Bei den Frauen überwiegen die Auflösung von Ängsten und Depressionen, eine positive Veränderung von körperlichen und/oder psychischen Befindlichkeitsstörungen/Erschöpfungszuständen, das Einwirken auf Minderwertigkeits- und Einsamkeitsgefühle, die Entwicklung von aggressiven Gefühlen und Wut anderen gegenüber, die Dämpfung von Gefühlen im Zusammenhang mit schwierigen oder gewalttätigen Beziehungserfahrungen. Substanzkonsum kann als eine Art Selbstmedikation/Selbstheilung im Sinne einer Bewältigungsstrategie verstanden werden, der zur Veränderung seelischer Befindlichkeit eingesetzt wird (vgl. Zenker et al. 2002, Vogt 2003). Abgeleitet aus den oben genannten Ursachen für die Entwicklung einer Sucht sind Sozialisationserfahrungen und damit verknüpfte seelische Befindlichkeiten zu nennen, die eine Suchtentwicklung bei Frauen fördern können: • • • •



Gefühle von Ausgeliefertsein und Ohnmacht, Erfahrungen von Ablehnung und Vernachlässigung, permanente Überforderungsgefühle, Erfahrungen von Demütigung und geringer bis fehlender Wertschätzung,

74 | E LKE P EINE • zu wenig Orientierung bzw. diffuse, widersprüchliche, verunsichernde Erwar-

tungen und Anforderungen, • Vernachlässigung eigener Bedürfnisse zugunsten der von anderen, • Verdrängung und Nichtwahrnehmung eigener Gefühle, • ein von Passivität und Opferhaltung („Schweigen und Schlucken“) geprägtes

Selbstbild, • Überhöhung der Bedeutung körperlicher Attraktivität; Medium zur Akzeptanz

der Person; Sexualisierung des weiblichen Körpers, • Reduktion des Gesundheitsbegriffs auf Körperlichkeit; Gesundheit als Motor

einer generellen Selbstoptimierung, gepaart mit Leistungsanspruch und mit neuen Suchtmitteln und Drogen, • Bestätigung wesentlich durch Jungen/Männer; mangelnde Wertschätzung alles „Weiblichen“ (außer Körper und Aussehen), • Widersprüchlichkeit in den Vorstellungen von Weiblichkeit, • widersprüchliche, überfordernde Erwartungen; Doppel- bis Vierfachbelastung: gute Mutter, gute Ehefrau, gute Tochter (Pflege der Angehörigen bei Krankheit), gute Beschäftigte. Ergänzend hierzu bestehen Belastungsfaktoren, die sich heute aus der Gleichzeitigkeit verschiedener widersprüchlicher geschlechtsbezogener Rollen- und Familienmodelle ergeben. Der individuelle Versuch, diese Widersprüche zu lösen, führt oft zur Selbstwahrnehmung als Versagende. Im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung wird beispielsweise deutlich, dass sich Frauen, sobald sie ein Kind haben, in Teilzeitbeschäftigungen wiederfinden, obwohl das junge Paar sich die Kinderversorgung und -erziehung ursprünglich teilen wollte (vgl. BMFSFJ 2011: 233ff.). Vor diesem Hintergrund liegt der Schwerpunkt der Frauensuchtarbeit darin, gemeinsam mit der Klientin ihre, für bestimmte Lebensphasen „sinnvoll erlebten“, nun aber hinderlichen bis selbstzerstörerischen Entscheidungen und Bewältigungsmuster zu verändern. Es geht darum, adäquate und realisierbare Handlungs- und Entlastungsmöglichkeiten zu entwickeln und sie bei der Erprobung fachlich zu begleiten. Sie soll darin unterstützt werden, mehr und mehr zerstörerische Abhängigkeiten oder Abhängigkeitsverhältnisse verlassen und zunehmend mehr positive Gestaltungserfahrungen im Sinne der Selbstwirksamkeit erleben zu können. Die intensive Beschäftigung mit eigenen Konsummotiven, Konsumkontexten und individuellen Befindlichkeiten braucht dabei Voraussetzungen und Bedingungen, die Sicherheit vermitteln und als Schutzraum wahrgenommen werden.



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G RUNDSÄTZE DER KONZEPTIONELLEN A RBEIT MIT F RAUEN AM B EISPIEL DER AMBULANTEN S UCHTBERATUNG BEI F RAUENPERSPEKTIVEN E . V. Die Beratungsstelle von Frauenperspektiven e. V. ist eine Anlaufstelle für alle Frauen, die zum Thema Sucht einen Hilfebedarf formulieren. Hierbei ist es unerheblich, ob das Suchtmittel legal oder illegal ist, oder ob eine stoffgebundene oder stoffungebundene Sucht(-gefährdung) vorliegt. Frauen1 mit völlig unterschiedlichen Lebensweisen und Selbstverständnissen können in der Beratungsstelle einen Ort finden: Frauen mit und ohne Kinder, erwerbstätige und erwerbslose Frauen, heterosexuelle und lesbische Frauen, Frauen verschiedenen Alters, Frauen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und ebenso Frauen mit körperlichen, seelischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen. Das Angebot richtet sich an aktuell oder ehemals konsumierende, süchtige oder suchtgefährdete erwachsene Frauen sowie an deren Angehörige. Zugrundeliegendes Menschenbild Das Menschenbild, das der Konzeption von Frauenperspektiven e. V. zugrunde liegt, versteht Menschen als Gestalter_innen und handelnde Wesen, die mit Bewusstsein ausgestattet sind und die sich innerhalb der vorhandenen individuellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen selbsttätig einrichten, indem wie sie ihr Leben gestalten, ihre Lebensbedingungen annehmen, kritisieren und verändern. Das feministisch gefärbte Menschenbild bezogen auf Frauen und Mädchen erkennt in den individuell erlebten und gelebten Lebensbedingungen2 Handlungsmöglichkeiten, die im Konkreten sehr unterschiedlich sein können und auf einer Skala von sehr wenig Handlungsmöglichkeiten bis hin zu sehr großen Handlungsspielräumen reichen. Dies hängt von der individuellen Lebenslage, der Herkunftsfamilie, dem Alter, der kulturellen Eingebundenheit, der Hautfarbe, der Religion, vom Grad persönlicher Behinderung oder Beeinträchtigung, vom Bildungsniveau, sozioökonomischen Möglichkeiten und anderen, den All-

1

Aktuell wird die Erweiterung der Zielgruppe um Personen, deren biologisches Geschlecht und ihre Geschlechtsidentität differieren, diskutiert.

2

Die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich die Einzelnen bewegen, sind manifestiert in Strukturen wie z. B. Gesetzen: Sozial- und Familiengesetzgebung, Arbeitsbedingungen, Lohn- und Gehaltsgruppen, Arbeitszeitregelungen, Hartz IVRegelungen, Familienformen, Schulformen, Elterngeld, Kinderbetreuungsplätzen etc.



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tag dominierenden Faktoren ab. Aus feministischer Sicht färbt das Geschlecht die objektiven Bedingungen und Bestimmungsfaktoren der individuellen Lebenslage sowie die Fremd- und die Selbstwahrnehmung deutlich ein. Die Zuordnung oder Verknüpfung mit „dem Weiblichen“ führt zu Benachteiligungen in Möglichkeiten und Chancen, zu spezifischen Erlebnissen und Erfahrungen und letztlich zur eingeschränkten Teilhabe von Frauen und Mädchen an gesellschaftlichen Ressourcen3. Im Prozess der Lebensführung und -gestaltung bilden die Einzelnen ihre Persönlichkeit, ihre weibliche Identität im Kontext der mehr oder weniger eingeschränkten Ressourcen heraus, indem sie existierende Vorstellungen etwa von einer leistungsorientierten, erfolgreichen berufstätigen Frau, einer sozial integrierten Freundin, einer attraktiven Frau, einer treu sorgenden Ehefrau und Mutter, einer gesundheitsbewussten Frau, einer Familien stützenden, pflegenden Tochter, Schwester, Freundin, Tante etc. und die darin enthaltenen Denk-, Fühlund Handlungsmuster als eigene übernehmen, sie kritisieren oder verändern. Die jeweiligen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen und Anforderungen haben Einfluss auf die Entstehung einer Sucht, aber auch auf deren Überwindung. Professionelle Haltung – Parteilichkeit Die Haltung gegenüber den Klientinnen ist von ethischen Prinzipien4 geprägt, die dem professionellen Rollenverständnis und einem Engagement für differenzsensible, insbesondere genderspezifische bzw. hier frauenbezogene Beratungsangebote und -ansätze entsprechen. Die ethischen Standards für die Beratung von Frauen hat Vogt (2004: 193ff.) ausgearbeitet. Die Grundhaltung ist als professionelle Parteilichkeit für Frauen zu fassen. Damit sind nicht Nähe und Identifikation gemeint,

3

Die Tatsache, dass Männer im Durchschnitt weit über 20 % mehr verdienen als Frauen, dass typisch weibliche Berufe im Durchschnitt über 40 % niedrigere Verdienstmöglichkeiten bedeuten, sei hier als deutliche „Spitze des Eisberges“ benannt (vgl. http://sozial-digital.epd.de/sd/2016/03/11/; abgerufen am 10.05.2016).

4

Ethische Prinzipien für die Suchtkrankenhilfe wurden 1999 von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen formuliert: http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Suchthilfe/Ethische_Prinzi pien_1999.pdf [27.04.2016].



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„sondern das Wissen um die weiblichen Lebenszusammenhänge von Frauen, die Zusammenhänge mit der Drogenabhängigkeit und eine Haltung, die die Frauen als Subjekte versteht und sie als solche in der Ausweitung ihrer Handlungsmöglichkeiten unterstützt“ (Frauenperspektiven e. V. 1992: 18).

Es handelt sich insofern um die Einnahme der weiblichen Perspektive in der Beratung auf der Grundlage von Expertinnenwissen, Verstehen und Empathie. Zusätzlich Ausdruck findet dies über die Verwendung der weiblichen Sprache.5 Frauen werden wertgeschätzt und ihren Lebenserfahrungen, ihren Verarbeitungsweisen und ihren Gefühlen wie Angst und Scham mit Sensibilität und Respekt begegnet. Angesprochenes wird vertraulich und mit einer empathischen und diskriminierungssensiblen Haltung von den Mitarbeiterinnen und anderen Gruppenteilnehmerinnen behandelt. Den Klientinnen mit Expertinnenwissen zu begegnen, bedeutet, eine „Verdoppelung von Diskriminierungs- oder Demütigungserfahrungen“ zu vermeiden und ihre Wahrnehmungen und Lebensentscheidungen ernst zu nehmen. Soweit es geht, wird den Klientinnen fachliches Wissen vermittelt, um Transparenz und Kontrolle zu ermöglichen. Vermieden werden mit Moral verknüpfte Idealbilder und Normalitätskonstruktionen („gute Mutter“, „gute Ehefrau“, „gute Tochter“, „gute Arbeitnehmerin“ etc.), die in der Regel Widersprüche negieren, bagatellisieren oder tabuisieren. Frauen- und suchtspezifische Kenntnisse werden so eingesetzt, dass Klientinnen darin unterstützt werden, sich aus einer begründet eingenommen Opferhaltung zu befreien und eine Sicht auf sich selbst zu entwickeln, mit der sie realistische Handlungsmöglichkeiten erkennen und entwickeln können. Immer geht es auch darum, mit professioneller Neugierde und Interesse zuzuhören, sie verstehen zu wollen und sie nicht mit vermeintlichem Wissen oder, schlimmer noch, mit eigenen unreflektierten geschlechtsbezogenen Zuschreibungen zu konfrontieren. Durch eine weitestgehende Transparenz in allem, was fallbezogen unternommen wird, werden die Klientinnen „auf Augenhöhe“ gehoben und ihnen die Möglichkeiten und Grenzen des professionellen Tuns vermittelt. Kontrolle im Prozess und ein selbsttätiges Handeln werden so möglich.

5

Der „Leitfaden zur Umsetzung einer geschlechtergerechten Sprache in der Sucht- und Drogenhilfe NRW“ (Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA 2015) zeigt die Bedeutung einer Sprache, in der Mädchen und Frauen vorkommen, auf.



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Die hier näher beschriebenen Haltungsaspekte sind Grundpfeiler einer tragfähigen vertrauensvollen, professionellen Beziehung, die der Klientin bei längerem Prozess ermöglicht, Vertrauen in jemand anderen zu setzen. So wird eine neue Beziehungserfahrung möglich. Die Verwendung der weiblichen Sprache vermittelt diese Grundhaltung und insbesondere die weibliche Perspektive, die eingenommen wird. Die Veränderungsimpulse in Bezug auf Sucht(-überwindung) sind im Konglomerat aus Konsummitteln, -motiven und -kontexten zu suchen. In ihnen verdichten sich biografische Erfahrungen, Verletztheiten und eben auch die Ressourcen; in ihnen lassen sich Anknüpfungspunkte für verändertes Verhalten, vorhandene oder aufzubauende Ressourcen und Stärken der Frauen ausfindig machen. Die Beraterinnen verstehen sich als kompetente, qualifizierte Fachkräfte, die innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen6 den selbsttätigen Veränderungsprozess im Sinne eines Empowerment, hin zu einer emanzipierten und die Klientin zufriedenstellenden Lebensführung qualifiziert begleiten und fördern. „Schutzraum“ – oder in heutiger Formulierung: Ein Teil der äußeren Sicherheit Unbestritten ist heute, dass genderspezifische und hier frauenspezifische Angebote in der Suchthilfe sehr erfolgreich sind, da sie die tatsächlichen Lebenslagen der Klientinnen und deren weibliche Verarbeitungsweisen in den Blick nehmen. Die Sicherstellung ausschließlich weiblichen Personals und die Begegnung und Auseinandersetzung ausschließlich mit weiblicher Klientel ermöglicht das Aussprechen und Verarbeiten von Diskriminierungserlebnissen und -erfahrungen und eine unverfälschte, intensive Auseinandersetzung mit den entsprechenden Emotionen. So können Klientinnen Vertrauen gewinnen, Probleme und Themen ansprechen, die sie im Beisein von Männern (potenziell und/oder im Anschluss an das Gespräch) nicht, beschränkt oder verfremdet ansprechen. Dieser „Schutzraum“ sichert die Inklusion weiblicher Lebenswelten und deren emotionale und kognitive Verarbeitungen und Besprechbarkeit. Er bietet Sicherheit für eine echte Auseinandersetzung mit weiblichen Erlebnissen und Erfahrungen, mit Frauenbildern, insbesondere weiblichen Körperbildern (Sexualität, Alterungsprozess

6

Diese sind niedergelegt in der jeweils gültigen Rahmenvereinbarung der ambulanten Sucht- und Drogenhilfe und der Leistungsbeschreibung der zuwendungsgebenden Behörde und den Regelungen der ambulanten medizinischen Rehabilitation.



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und Essverhalten), die nicht an der Oberfläche bleibt. Besprechbar werden Erfahrungen in Geschlechterverhältnissen, Normen und Erwartungen, die an Frauen und ihnen zugedachte Aufgaben und Lebensbereiche gerichtet sind, die Reproduktion der Machtverhältnisse und die aktive Beteiligung an der eigenen Unterdrückung oder Diskriminierung. Im geschützten Raum können die Klientinnen sicher sein, nicht auf potenzielle Täter zu treffen. Gesprochenes und Erlebtes wird nicht an außenstehende Personen weitergegeben (Verschwiegenheit). Klar begründete Regeln sorgen für Transparenz und Sicherheit, beispielsweise, dass Gewalt und Gewaltandrohungen nicht geduldet werden. (Sexualisierte) Gewalterfahrungen von Frauen sind in ihrer Quantität und Qualität nicht weniger geworden. Dagegen ist es heute schwerer für Frauen, diese anzusprechen, da ein emanzipiertes Ideal-Frauenbild existiert. Im Abgleich dazu erleben sich Frauen als Versagerin, wenn sie den Aggressor nicht verlassen. Die Ansprüche, die an Frauen gestellt werden (perfekte Mutter, Ehefrau, Erwerbstätige mit Karriereambitionen und fürsorgliche bis pflegende [Schwieger-] Tochter) bei gleichzeitiger öffentlicher Negation von Benachteiligungen für Frauen, führen einerseits zu extremen Belastungen, Erschöpfungs- und Überforderungsgefühlen und andererseits zu Versagenswahrnehmungen von sich als Frau. Armut betrifft in Quantität und Qualität wesentlich mehr Frauen (und Kinder) als Männer. Diese Armut an materiellen, sozialen und ideellen Gütern und damit der Ausschluss bzw. die begrenzte Teilhabe an öffentlichen Ressourcen erleben viele Frauen als persönlich verschuldet. Diese frauenspezifischen Schuld- und Versagensgefühle und deren Ausgeschlossenheit werden unaussprechlich, wenn gleichzeitig unbegrenzte und gleichberechtigte Möglichkeiten für Frauen als gegeben behauptet werden. Die freie Entscheidung, eine Frauen-Einrichtung aufzusuchen, ermöglicht es vielen, die genannten Erfahrungen und Gefühle überhaupt anzusprechen und damit Unterstützung zu finden.

G RUNDLAGEN DER B ERATUNGSPRAXIS F RAUENPERSPEKTIVEN E . V.

BEI

Suchtberatung – individuell und prozessorientiert Die Beratung von süchtigen, suchtgefährdeten und teils komorbid belasteten Frauen orientiert sich an der jeweiligen Klientin und wird prozesshaft gestaltet.



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Bei aller Verschiedenheit gilt – zumindest heute noch: Am Anfang steht das Problem bzw. die Probleme und Problemlagen, die in der Regel von den Klientinnen selbst formuliert werden und Motivation für die Inanspruchnahme der Hilfe sind. Zunehmend formulieren aber auch zuweisende Institutionen angrenzender Arbeitsfelder Probleme, vermutete oder gesicherte Diagnosen, auf deren Grundlage sie Auflagen zur Beratung stellen (ausführlich dazu weiter unten). Die Klientinnen kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und formulieren verschiedene Belastungsmomente. Entsprechend der individuellen Lebenslage und dem eigenen Leidensdruck wird mit der Klientin gemeinsam ein Hilfeplan erarbeitet. Dabei geht es um die Entwicklung von tragfähigen Alltagsstrukturen. Dazu gehören als vordringliche Säulen der Erhalt bzw. die Schaffung von Erwerbsarbeit und stabilen Wohnverhältnissen, die Absicherung der finanziellen Lage bzw. die Auseinandersetzung mit bestehender Verschuldung und ggf. die Regelung juristischer Probleme. Wesentlich ist auch die „Absicherung“ in sozialen Bezügen. Vor der Ermittlung des Hilfebedarfes erfolgt eine psychosoziale Diagnostik. Gendersensible psychosoziale Diagnostik Am Beginn eines individuell orientierten Beratungs- und Behandlungsprozesses steht die Diagnostik. In ihr begründen sich im Beratungs- sowie im Behandlungssetting die Themen, Heilungsmethoden und Therapien, die konkreten Schritte zur Verbesserung der Befindlichkeit und des Wohlbefindens und zur Stärkung der Gesundheit. Während die Diagnostik im Bereich der leistungsrechtlich finanzierten medizinischen Rehabilitation der Bewilligung in der Regel vorausgeht, hat die anfängliche Diagnostik im zuwendungsfinanzierten Beratungssetting eher den Charakter einer Arbeitsgrundlage im Sinne einer fundierten Arbeitshypothese und begründet den Hilfebedarf. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um einen Erstkontakt im Suchthilfesystem handelt. Das Klassifikationssystem ICD 10, als das anerkannte standardisierte Diagnoseverfahren medizinischer oder psychologischer Behandlungen, erfährt zunehmend Kritik, da es nicht ausreichend genderspezifische oder kulturspezifische Krankheitsbilder und -symptome enthält. In einem weiteren Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), sind demgegenüber verstärkt soziale Dimensionen aufgenommen, die eine Berücksichtigung alltäglicher Einschränkungen ermöglicht.



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Zur Ermittlung des Hilfebedarfs in der ambulanten Suchtberatung müssen alle Dimensionen einer Klientin herangezogen werden. Hierdurch werden gleichzeitig verschiedene Problemlagen und Symptome erkenn- und einschätzbar. Verfolgt wird eine Diagnostik, die konsequent an der Klientin orientiert ist und die den Blick auf die Schnittstellen zwischen psychischen, sozialen, medizinischen und alltagsbestimmenden Dimensionen richtet und Ressourcen erkennen lässt. Dazu wird auf ein sozial- und lebensweltorientiertes Vorgehen zurückgegriffen und mit den „Fünf Säulen der Identität“ (Petzold et al. 2004: 192) als Bestandteil der integrativen Therapie und Beratung gearbeitet. Entsprechend werden im Gespräch mit der Klientin alle für sie relevanten Aspekte und Faktoren zu den Säulen: Leiblichkeit/Gesundheitszustand, soziales Umfeld, Arbeit/Freizeit/Leistung, materielles/kulturelles Kapital (im Sinne von Ressourcen) und Wertvorstellungen aus ihrer weiblichen Perspektive erfasst und bearbeitet. Zusätzlich lenkt die subjekt- und biografieorientierte Diagnostik die Aufmerksamkeit auf Selbstkonstruktionen bzw. lebensweltliche Selbstdeutungen der Klientin und die damit einhergehende biografische Selbst-Kontextualisierung. Hintergrund dieser Methode ist die Erkenntnis, dass Menschen ihre persönlichen Erlebnisse, ihr persönliches Verhalten und damit auch den Konsum bewerten, begründen, beschönigen, verurteilen, gutheißen, in bestimmte Zusammenhänge stellen, ausblenden, tabuisieren, verdrängen etc. Sie stellen den Konsum quasi in ihren subjektiven Kontext und unternehmen den Versuch, gesellschaftlich angelegte Widersprüche individuell zu lösen. „Um der (un-)sozialen Chancenstruktur und den bis in das Selbsterleben und in die Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien vorgedrungenen psycho-sozialen Beeinträchtigungen angemessen begegnen – und damit auf Inklusionsprozesse hinwirken – zu können, bedarf es nach dem Konzept der Klinischen Sozialarbeit einer ‚psycho-sozialen Diagnostik und Behandlung’.“ (Pauls 2004 zit. n. Gahleitner 2008: 17)

Die jeweilige Selbst-Kontextualisierung bestimmt die Selbstwahrnehmung, das Selbstwertgefühl und insbesondere die erlernten (destruktiven) Bewältigungsstrategien. Fatal ist hierbei, dass gesellschaftliche Verhältnisse, in diesem Fall ungleiche Geschlechterverhältnisse und der Widerspruch zwischen öffentlich propagierter Gleichberechtigung und tatsächlicher Minderung der eigenen Entwicklungschancen als Frau, das Erleben von Dominanz- und Machtansprüchen von Männern und die alltäglichen konkreten Folgehandlungen daraus, als individuell zu verantwortende präsentiert und so erlebt werden. Diese Sichtweise geht einher mit der Verarbeitung von Gewalterlebnissen – als seien diese selbst verschuldet und verursacht. Gesellschaftlich im Geschlechterverhältnis angeleg-



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te Widersprüche können jedoch individuell nicht aufgelöst werden, sondern müssen im Kontext von gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden werden. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist eine Ausdrucksform dieser Geschlechterverhältnisse. Insofern stehen die aus der sexualisierten Gewalt resultierenden psychischen Erkrankungen von Frauen in einem indirekten Zusammenhang mit den Geschlechterverhältnissen (vgl. Gahleitner 2009). Dieser Exkurs verdeutlicht die gesellschaftliche Verankerung destruktiv wirkender Selbstkontextualisierungen und -bilder von Frauen in ihren konkreten Erfahrungen und Lebensbedingungen. Die Bearbeitung dieser destruktiven Selbstbilder ist für eine erfolgreiche Hilfeplanumsetzung unerlässlich. Am Ende eines diagnostischen Verfahrens – und immer wieder im Beratungsprozess – entscheidet die Klientin unter Anleitung durch die Beraterin, welche Dimensionen, Themen und daraus abgeleiteten Ziele als Erste in der Beratungsstelle angegangen werden und welche mit externen Fachkräften (weiter-)behandelt oder bearbeitet werden. Dieser Prozess wird im Hilfeplan dokumentiert und, je nach Überprüfungsergebnis oder veränderter Lebenslage, modifiziert. Ein so gestaltetes Verfahren ist in der Regel nicht nur Voraussetzung einer Intervention, sondern bereits selbst immer eine Intervention. Diese idealtypische Herangehensweise kann in den konkreten Beratungsprozessen sehr unterschiedlich realisiert werden, dies ist abhängig von der Aufenthaltsdauer bzw. Kontakthäufigkeit und vielen anderen Faktoren. Gleichzeitig verbindet sich dieser Diagnose-Ansatz mit einem ressourcenorientierten Ansatz: Der Blick auf die Stärken, auf schützende und unterstützende Ressourcen ist in den jeweiligen „Säulen“ methodisch bereits angelegt. Ressourcenorientierter Ansatz Ein Beratungsansatz, der zwei wesentliche Veränderungs-Wirkprinzipen von Klaus Grawe in das Zentrum der Theorie- und Methodenentwicklung stellt und eine salutogenetische Perspektive nach Aaron Antonovsky enthält, ist der ressourcenorientierte Ansatz (vgl. Storch/Krause 2005). In ihrer Verwendung des Begriffs Ressource beziehen sich Storch und Krause auf die Definition von Grawe/Grawe-Gerber (1999: 66f.): „Als Ressource kann jeder Aspekt des seelischen Geschehens und darüber hinaus der gesamten Lebenssituation eines Patienten aufgefasst werden, also zum Beispiel motivationale Bereitschaften, Ziele, Wünsche, Abneigungen, Interessen, Überzeugungen, Werthaltungen, Geschmack, Einstellungen, Wissen, Bildung, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Interaktionsstile, physische Merkmale wie Aussehen, Kraft, Ausdauer, finanzielle Möglichkeiten



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und das ganze Potenzial der zwischenmenschlichen Beziehungen eines Menschen […]. Die Gesamtheit all dessen stellt, aus der Ressourcenperspektive betrachtet, den Möglichkeitsraum des Patienten dar, in dem er sich gegenwärtig bewegen kann oder, anders ausgedrückt, sein positives Potential, das er in den Veränderungsprozess einbringen kann […].“

An dieser Definition lässt sich kritisieren, dass sie einseitig auf die personalen, dem psychologischen Paradigma entsprechende Ressourcen verweist und dabei eine soziologische, sozialpädagogische Perspektive vernachlässigt, die die verhältnisbestimmten, strukturell verankerten Ressourcen einzelner Gruppen innerhalb der Gesellschaft (bestimmt durch Einkommen, Bildung, Alter, Kultur und Geschlecht) erfasst und damit eine politische, gesellschaftskritische Dimension enthält. Die Beratungskonzepte von frauenspezifischen Einrichtungen in der Vergangenheit und heute setzen in ihrer Praxis grundsätzlich an den frauenbezogenen Kompetenzen und Fähigkeiten und den gegebenen gesellschaftlichen Lebenssituationen und damit einhergehenden biografisch erworbenen Denk-, Fühlund Verhaltensweisen (Selbstkonstruktionen) an. Eine Entlastung als Ziel der Beratung/Therapie wird wesentlich durch die Motivation der Klientin bestimmt. „Je attraktiver ein Ziel erscheint und je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass es durch eigenes Handeln realisiert werden kann, desto stärker ist der Wille, die Umsetzung dieses Ziels in Angriff zu nehmen.“ (Storch/Krause 2005: 66) Unbewusste Prozesse, emotionale Zustände, die als Verdichtungskontinuum bisher gemachter Erfahrungen verstanden werden, beeinflussen die Motivation, die Umsetzung der Intention in Handlung, und wirken im Beratungs- bzw. Behandlungsprozess handlungsfördernd bzw. handlungsbehindernd (vgl. ebd.). Grawes (2004) Wirkungskomponentenmodell betont die Verbesserung des Wohlbefindens der Klient_innen durch: die positive Kontrollerfahrung, die positive Beziehungserfahrung und die selbstwerterhöhende Erfahrung. Wesentliche Ziele der Psychotherapie sind die Zunahme an Konsistenz und die Symptomreduktion (vgl. hierzu auch Junglas 2002: 27). Junglas (2002) ergänzt ein weiteres Wirkprinzip, das ebenfalls wesentlich für die erfolgreiche Behandlung ist: die personalen Wirkprinzipien der Professionellen. Dies setzt hohe Anforderungen an die Mitarbeiter_innen voraus, denn „die Persönlichkeit des Therapeuten scheint wesentlicher zu sein, als die Schulung der Therapeutenpersönlichkeit in der Ausbildung zum Therapeuten“ (ebd.: 28). Es entspricht der feministischen Sichtweise, nicht an den Defiziten der Klientinnen, sondern an deren Stärken und Besonderheiten anzusetzen und jede Einzelne so zu begleiten, dass sie ein positives Selbstbild entwickeln kann.



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Psychoedukation: Verständnis – Kontrolle – Motivation In Bezug auf die eigene Suchtentwicklung sollen Klientinnen dazu befähigt werden, ihre Funktionalität des Suchtverhaltens zu erkennen und zu verstehen. Vor dem Hintergrund familiärer Zusammenhänge und gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse ist die Erkenntnis, dass Suchtmittelkonsum eine (Über-) Lebensstrategie und Bewältigungsform ist, die Frauen aufgrund ihrer Lebensbedingungen entwickeln können, oftmals ein wichtiger Ansatzpunkt zum Verständnis der eigenen Suchtentwicklung. Die Psychoedukation im Sinne einer Aufklärung und Vermittlung von Fachwissen nimmt hierbei eine besondere Rolle ein und ermöglicht das Verstehen körperlicher und psychosomatischer Symptome, eigener Konsummotive, konkreter Belastungen, sucht- und suchtmittelspezifischer Dynamiken und das Verständnis sowie die Akzeptanz eigenen Fühlens und Verhaltens. Eine geschlechtersensible Psychoedukation, die frauenspezifische Verarbeitungsformen von Individualisierung, Scham und Schuld in einen gesellschaftlichen Rahmen setzt, fördert die Chance zu verändertem Verhalten und zu veränderter Selbstwahrnehmung. Eine so verstandene Vermittlung von Fachwissen hebt die Klientin „auf Augenhöhe“, befördert die professionelle Beziehung und ermöglicht ein zentrales Ziel der Beratung: die Selbstermächtigung bzw. -befähigung der Klientin. Die damit einhergehende Zurückgewinnung von Kontrolle hat Einfluss auf die Motivation der Klientin zur Verhaltensänderung auf verschiedenen Ebenen. Nach Veltrup (2002: 363) umfasst Motivation drei Dimensionen: 1.) Motivation zur Veränderung von belastenden Umständen und in belasteten Lebensbereichen, 2.) Motivation zur Änderung des Substanzkonsums und des suchtförmigen Verhaltens sowie 3.) Motivation zur Inanspruchnahme von adäquaten Maßnahmen zur Änderung des Problemverhaltens. Die Förderung der Motivation zur Konsumreduzierung bzw. Abstinenz ist eine originäre Aufgabe der ambulanten Suchthilfe. Sie kann und darf nur auf der Grundlage des individuellen Hilfebedarfes, den individuellen Möglichkeiten und insbesondere auf der Grundlage der Entscheidung der Klientin stattfinden. Die Bereitschaft und Fähigkeit abstinent zu leben, ermöglicht die Nutzung weiterführender Maßnahmen.



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Abstinenz und Akzeptanz Abstinenz ist in der Regel vonseiten der Kostenträger der Maßnahmen ein kurzoder langfristiges Ziel. Dies gilt bedingungslos für rehabilitative Maßnahmen. In den Beratungsstellen, die die psychosoziale Grundversorgung der Klientinnen gewährleisten, werden Prozesse ermöglicht, bei denen die Abstinenzorientierung individuell bestimmt ist. Von zentraler Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit akuten Belastungen und mit Aspekten der eigenen Suchtentwicklung und deren Ursachen mit dem Ziel, alternative Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Suchtmittelkonsum zu entwerfen und langfristig den Ausstieg aus dem Konsum zu finden. Dies bedeutet nicht zwangsläufig eine völlige Abstinenz, da vielen Klientinnen nicht ausreichende materielle und psychische Ressourcen für einen Ausstieg zur Verfügung stehen. Individuell werden eigene Konsumhäufigkeiten und -mittel oder suchtförmige Verhaltensweisen im Beratungsprozess genauso akzeptiert wie abstinenzmotivierte Hilfebedarfe. In jedem Fall wird bei längerfristigen Beratungsprozessen vorausgesetzt, dass die Gesprächs-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfähigkeit der Klientin durch akuten Konsum nicht erheblich beeinträchtigt ist. Rückfälle und Krisen Rückfälle und Krisen sind im Kontext der Entscheidung für eine abstinente Lebensperspektive und dem damit verbundenen Verzicht auf den Substanzkonsum krankheitsbedingte Effekte der Sucht. Mit dem Gang in die Beratungsstelle sind die psychosozialen Belastungen weiterhin vorhanden und konstruktive Bewältigungsstrategien noch nicht sicher in der Person verankert. Rückfälle weisen auf konkrete Belastungen im Alltag hin, so beispielsweise auf Alltagssituationen, in denen die Klientin mit Suchtmitteln konfrontiert ist und noch nicht über Sicherheit im Umgang mit neuen Bewältigungsstrategien verfügt. Die Aufarbeitung von erfolgten Rückfällen erhöht die Stabilität der Klientin in der Konfrontation mit wiederum gefährdenden Situationen. Transparenz: Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Alltagsleben und -erleben und Suchtentwicklung vermitteln Für die Einordnung ihrer Symptome, für die Beteiligung und die Einschätzung der Entlastungsmöglichkeiten und um oft vorhandene Schuldgefühle zu verarbeiten und selbsttätig den Veränderungsprozess angehen zu können, ist es für Klientinnen wichtig, die Zusammenhänge und die psychischen und physischen Folgen von dauerhaftem Substanzkonsum zu (er-)kennen.



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Zur Transparenz gehört es ebenfalls, die Grenzen der professionellen Handlungsspielräume zu vermitteln und damit die Erwartungen auf realistische Grundlagen zu stellen. Freiwilligkeit und Anonymität Im Sinne der Grundversorgung suchtgefährdeter oder suchtkranker Frauen ist ein Höchstmaß an Anonymität und Freiwilligkeit zu gewährleisten. Denn dies sind wesentliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Hilfen durch die Klientinnen, die in der Regel unauffällig und im privaten Raum konsumieren und selbst entscheiden wollen, wer von ihren Suchtproblemen erfährt. Freiwilligkeit und Anonymität gewährleisten den Zugang zum Suchthilfesystem von Frauen im Besonderen. Dass Freiwilligkeit bei der Zuweisung durch angrenzende Arbeitsbereiche (etwa SGB II) nicht gegeben ist, begründet eine besondere Anforderung an die Beratenden. Die anfängliche Un-Freiwilligkeit macht es dringend erforderlich, zu prüfen, ob bei der Klientin eigene Motive und Hilfebedarfe vorhanden sind, ohne die kein Beratungsprozess dauerhaft gelingen kann.

A USBLICK Der Beitrag macht anhand der Säulen der Frauensuchtarbeit und den hieraus abgeleiteten Grundlagen der Beratungspraxis deutlich, dass wir heute über einen mädchen- und frauengerechten integrierten Beratungs- und Behandlungsansatz in der Suchthilfe verfügen, dessen Prämissen aus der Frauenbewegung, der Kritischen Psychologie, der Feministischen Therapie und der Traumatherapie entwickelt wurde. Demgegenüber gibt es für die Zielgruppen der Jungen und Männer bislang nur wenige Fürsprecher – es fehlt bislang weitestgehend an vergleichbaren männerspezifischen Konzepten in der Suchthilfe, die ein Gewinn für männliche Klienten wären. Darüber hinaus fehlt es auch an strukturell verlässlichen Kooperationsstrukturen, die über den Einzelfall hinaus Kooperation sichern und eine integrierte Versorgung gewährleisten. Die feministische Suchtarbeit ist gefordert, mit Kreativität, Mut, Durchsetzungsvermögen und insbesondere parteilichem Fachverstand über alle zeitgeistlichen Begrenzungen hinweg ihre Konzepte weiterzuentwickeln und mit einer parteilichen Haltung Mädchen und Frauen weiterhin Zugang zu qualifizierten Angeboten zu ermöglichen. Gleichzeitig zeigen die umfangreichen Erfahrungen aus der feministischen Suchthilfe, dass sie viele Impulse für die Suchthilfe allgemein geleistet hat (sie-



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he dazu den nachfolgenden Beitrag von Tödte), die eine Bereicherung und Professionalisierung der Arbeit für die Zielgruppen insgesamt darstellt. Perspektivisch wird es erforderlich sein, Weiterentwicklungen und die Herausforderungen, die mit dem Generationenwechsel verbunden sind, zu leisten (siehe dazu Tödte & Bernard in diesem Band).

L ITERATUR Braun, Barbara/Brand, Hanna/Künzel, Jutta (2015): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenbände. München: Institut für Therapieforschung, IFT. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2011): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Berlin: BMFSFJ. Fengler, Jörg (Hg.) (2002): Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Prävention, Landsberg/Lech: ecomed. Franke, Alexa (1999): „Frauenspezifische Aspekte der Abhängigkeit“, in: Gastpar, Markus/Mann, Karl/Rommelspacher, Hans (Hg.), Lehrbuch der Suchterkrankungen, Stuttgart: Thieme, 144-152. Frauenperspektiven e. V. (1986): Konzeption für eine Wohngemeinschaft drogenabhängiger Frauen. Online verfügbar unter: http://www.frauenperspektiven.de/uploads/pdf/Konzept_station%C3%A4re_ sozialth%20_Wohngem_Frauenperspektiven_1986.pdf [24.03.2016]. Frauenperspektiven e. V. (1992): Konzeption der sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft für drogenabhängige Frauen. Online verfügbar unter: http://www.frauenperspektiven.de/uploads/pdf/Konzept_station%C3%A4re_ sozialth%20_Wohngem_Frauenperspektiven_11_1992.pdf [24.03.2016]. Gahleitner, Silke Birgitta (2008): „Das Dopple Trauma/Sucht“. Eine frauenspezifische Annäherung“, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.), Frauen – Trauma – Sucht: Neue Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen, Kröning: Asanger, 11-20. Gahleitner, Silke Birgitta (2009): „Gendersensible Diagnostik“, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.), Gender – Trauma – Sucht. Neues aus Forschung, Diagnostik und Praxis, Kröning: Asanger, 191-202. Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie, Göttingen: Hogrefe. Grawe, Klaus & Grawe-Gerber, Mariann (1999): „Ressourcenaktivierung. Ein primäres Wirkprinzip in der Psychotherapie“, in: Psychotherapeut 44, 63-73.



88 | E LKE P EINE

Gross, Werner (2002): „Stoffungebundene Suchtformen“, in: Fengler, Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Prävention, 510-512. Junglas, Jürgen (2002): „Allgemeine Psychologie“, in: Fengler, Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Prävention, 23-29. Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA (Hg.) (2015): Leitfaden zur Umsetzung einer geschlechtergerechten Sprache in der Sucht- und Drogenhilfe NRW. Essen: Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA. Petzold, Hilarion/Schay, Peter/Ebert, Wolfgang (Hg.) (2004): Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Pfeiffer-Gerschel, Tim/Jakob, Lisa/Stumpf, Daniela/Budde, Axel/Rummel, Christina (2014): Bericht 2014 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD. Neue Entwicklungen und Trends. Deutschland, Drogensituation 2013/2014, München: Institut für Therapieforschung, IFT. Quinten, Claudia (2002): „Frauenspezifische Suchtentwicklung“, in: Fengler, Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Suchtprävention, 174-179. Storch Maja & Krause, Frank (2005): Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM), 3. Auflage, Bern: Huber. Veltrup, Clemens (2002): „Motivation“, in: Fengler, Handbuch der Suchtbehandlung. Beratung – Therapie – Suchtprävention, 362-366. Vogel, Elisabeth (2004): „Ausgewählte Aspekte zur Geschlechterdifferenzierung in der ambulanten Suchtbehandlung und -beratung“, in: Petzold, Hilarion/Schay, Peter/Ebert, Wolfgang (Hg.), Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 51-78. Vogt, Irmgard (2003): Zur Effektivität von Frauen-Suchtarbeit. Online verfügbar unter: http://www.infodrog.ch/tl_files/templates/InfoDrog/user_upload/gender_de/ FASD_FNQ2_20030327.pdf [02.05.2016]. Vogt, Irmgard (2004): Beratung von süchtigen Frauen und Männern. Grundlagen und Praxis, Weinheim/Basel: Beltz. Zenker, Christel/Bammann, Karin/Jahn, Ingeborg (2002): Genese und Typologisierung der Abhängigkeitserkrankungen bei Frauen. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Band 148, Baden-Baden.





Die Einflüsse der feministischen Arbeit auf die Suchthilfe in Deutschland M ARTINA T ÖDTE

E INLEITUNG Anlässlich der ersten Fachkonferenz der feministischen Suchthilfeeinrichtungen für Mädchen und Frauen in Deutschland im Juli 2015 zum Thema „Generationenwechsel und Qualitätssicherung in der Frauensuchtarbeit in Deutschland“ (Tödte/Bernard 2015) wurden die Errungenschaften der feministischen Arbeit, die die Suchthilfe in Deutschland maßgeblich geprägt und bereichert haben, zusammengefasst. Dabei wurde ersichtlich, dass es sich nicht nur um eine Vielfalt von Themen und Konzepten, von Haltungen und Leistungen, sondern explizit um zentrale Themen handelt, die aus der feministischen in die „traditionelle“1 Suchthilfe eingeflossen sind. Zudem zeigt die historische Entwicklung der Suchthilfe in Deutschland, dass viele der Themen, die mit einem Tabu belegt waren (explizit: Zusammenhänge zwischen sexuellen Gewalterfahrungen und Substanzkonsum; Trauma und Sucht) und durch die feministische Arbeit (Fach-)Öffentlichkeit erfuhren, heute durch Forschungsergebnisse belegt sind. Dass diese Prozesse anfänglich sowohl für die Institutionen als auch für die jeweiligen Frauen, die diese Tabus öffentlich hinterfragt, ausgesprochen und benannt haben, äußert fordernd waren, liegt auf der Hand. Diese Herausforderungen haben bei allen Einrichtungen der feministischen Suchthilfe aber auch zu der Erfahrung geführt, dass es möglich ist, erfolgreich Widerstände zu überwinden – auch wenn der persönliche „Preis“ der Mitarbeiterinnen als sehr hoch bewertet wird.

1

Als „traditionell“ wird hier die Suchthilfe, die sich mit ihren Angeboten an Frauen und Männer wendet, bezeichnet.



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Der nachfolgende Beitrag, zu einem Teil aus der Dokumentation der oben genannten Fachkonferenz übernommen, veranschaulicht die umfangreichen Impulse aus der feministischen Suchthilfe, die Einfluss auf die Suchthilfe in Deutschland genommen haben. Aufgezeigt wird auch, dass, trotz der heutigen Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung, der „Faktor Geschlecht“ bei der Übersetzung von Themen, Theorien und Methoden aus der feministischen Arbeit keine selbstverständliche Berücksichtigung erfährt.

I NNOVATIONEN –

UND DIE

F RAGE

DER

Ü BERSETZUNG

Eine fachlich umfassende, konsequente und selbstverständliche Geschlechterperspektive hat die Suchthilfe, die sich mit ihren Angeboten an Frauen und Männer wendet, bislang nicht implementiert. Dies überrascht umso mehr, als dass heute – im Unterschied zu den Anfängen der Frauensuchtarbeit in Deutschland – durchaus Erkenntnisse aus Forschung und Praxis vorliegen, die die Bedeutung des „Faktors Geschlecht“ in allen Belangen, also entsprechend bei der Entwicklung einer Suchterkrankung ebenso wie bei deren Behandlung, verdeutlichen. Geschlechterundifferenzierte Haltungen und Handlungen entsprechen folglich nicht mehr dem aktuellen fachlichen Standard. Auch „der Forschung“, die zentrale Themen der feministischen Suchthilfe aufgegriffen hat – was ausgesprochen begrüßt wurde – ist es bislang nicht gelungen, eine konsequente Geschlechterperspektive einzubeziehen, sodass der erhoffte Erkenntnisgewinn nur begrenzt ist. Suchthilfe – Forschung und Praxis ebenso wie die Suchtpolitik – findet nicht in einem Vakuum statt: Neben dem fachspezifischen Kontext fließen gesellschaftlich begründete Betrachtungsweisen, Standpunkte und Ansichten zwangsläufig mit ein. Suchthilfe wird von Menschen für Menschen finanziert, konzipiert, umgesetzt, erforscht und bewertet. Menschen verfügen über ein Geschlecht und die Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe. Diese eher unspektakuläre Erkenntnis lässt vermuten, dass zwar das „Mensch-Sein“ akzeptiert, das Geschlecht und die Geschlechtszugehörigkeit jedoch tabuisiert werden. Dabei sind allerdings durchaus „Abstufungen“ zu erkennen: So handelt es sich, wenn Geschlechtersensibilität in Politik, Praxis und Forschung einbezogen wird, eher um das Geschlecht der zu Beratenden, zu Behandelnden oder zu Erforschenden. Das vermeintliche Bemühen der Sucht- und Drogenforschung, eine angebliche Geschlechterneutralität zu präsentieren, entbehrt einerseits dem Gegenstand oder Gegenüber – wie wird der geschlechtsneutrale Mensch generiert, der erforscht und im Weiteren beraten und behandelt werden soll? – und lässt anderer-



E INFLÜSSE DER FEMINISTISCHEN A RBEIT AUF DIE S UCHTHILFE

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seits vermissen, „dass Wissensgenerierung selbst ein Geschlecht hat – es ist nicht unerheblich, ob sie durch Männer oder Frauen erfolgt“ (Schigl 2012: 42). Weiterhin muss davon ausgegangen werden, „dass sich in unserem Kulturkreis jede/r aufgrund der Grundgewissheit, dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt2, als eins von beiden präsentiert und von Interaktionspartnern als eins von beidem wahrgenommen wird. Nach der erfolgreichen Etablierung der Geschlechtszuschreibung von Interaktionsmitgliedern wird im Folgenden alles entsprechend interpretiert; die einmal vorgenommene Attribution eines Geschlechts weist einen hohen Grad an Flexibilität auf, sodass auch widersprüchliche Momente weitgehend bruchlos integriert werden können, ohne die einmal getroffene Zuschreibung in Frage zu stellen“ (Meißner 2008: 10).

Entsprechend ist die Geschlechtszugehörigkeit sowie deren Bedeutung und Bewertung im unmittelbaren Beratungs- und Behandlungskontext nicht unwirksam: „Es ist nicht möglich, eine PatientIn nicht als Mann oder Frau wahrzunehmen und einzuordnen. Es ist nicht möglich, ‚neutral’ – ohne Verwendung von Männer- und Frauenbildern, Konnotationen von Weiblichkeit und Männlichkeit Psychotherapie oder Beratung durchzuführen.“ (Schigl 2012: 107).

Die feministische Suchthilfe hat seit ihrer Entstehung die Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrollen, -zuschreibungen und den damit in

2

Unsere klassische gesellschaftliche „Geschlechterordnung“ ist binär. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch nur ein einziges Geschlecht hat, dass dieses sich ein Leben lang nicht verändert und dass es entweder weiblich oder männlich ist. Die Einteilung in zwei eindeutig zu unterscheidende Geschlechter strukturiert den gesellschaftlichen Alltag. Die dahinterliegende Haltung geht davon aus, dass das biologische Geschlecht eine Konstante ist – im Zuge der Debatten um Geschlechterdifferenzen, Gender etc. wird das biologische Geschlecht als eine soziale und kulturelle Konstruktion darstellt. Dekonstruktivistische Ansätze in der Geschlechterforschung und die sogenannten Queer-Studies verweisen zudem darauf, dass die Selbstverständlichkeit dieser ZweiGeschlechter-Ordnung infrage gestellt werden muss und vielmehr von einer Vielzahl geschlechtlicher Identitäten auszugehen ist. Es gelte nicht ausschließlich „Frauen“ und „Männer“ in ihrer vermeintlich eindeutigen bipolaren Zuordnung gleichberechtigt wahrzunehmen, sondern auch jene, die sich nicht in diesem Zwei-GeschlechterSystem wieder finden (wie Intersexuelle, Transgender, Transsexuelle) (vgl. Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA 2015).



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Verbindung stehenden Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bzw. Begrenzungen sowohl der Beraterinnen und Therapeutinnen als auch der Klientinnen in den Fokus gestellt. Die Auseinandersetzung der Beraterinnen und Therapeutinnen mit ihrer eigenen Identität als Frau, ihren weiblichen Lebensentwürfen und Erfahrungen ist auch heute noch ein selbstverständlicher Bestandteil qualifizierter Arbeit.

D IE E RRUNGENSCHAFTEN S UCHTHILFE

DER FEMINISTISCHEN

Fachliche Sensibilisierung für die Zusammenhänge von Geschlecht (Geschlechtsidentität) und Suchtmittelkonsum Einer der bedeutendsten Verdienste der feministischen Einrichtungen ist es, die Relevanz der Geschlechterdifferenzierung in Bezug auf Suchtmittelkonsum, Suchtentwicklung, -verlauf und Ausstieg aus der Drogenbindung herausgestellt und als fachlichen Standard etabliert zu haben. Die daraus entwickelte, konsequent geschlechtsbezogene Arbeit mit Mädchen und Frauen hat die Suchthilfe und -forschung in Deutschland maßgeblich gefordert. Auch die fachliche Sensibilisierung für die Lebenswelten von Mädchen und Frauen und die jeweiligen Zusammenhänge zwischen den Motiven und Bedarfen und Substanzkonsum ist eine Errungenschaft der feministischen Einrichtungen. Frauen- und mädchenbezogene Konzepte für die ambulanten und stationären Angebote sind in den Einrichtungen der feministischen Suchthilfe entwickelt, überprüft und modifiziert worden und haben bis heute eine bedeutende Signalfunktion für die „traditionelle“ Suchthilfe. Das Thema „Geschlecht als Ressource“ wurde von den Fraueneinrichtungen in die Beratungs- und Therapiearbeit aufgenommen – historisch deutlich vor der Auseinandersetzung mit der „Gender-Thematik“ in der Suchthilfe. Ebenfalls die sich im Verlauf der letzten Jahre zwar insgesamt eher zögerlich, aber dennoch entwickelnde Sensibilisierung für jungen- und männerspezifische Themen in Bezug auf Suchtentwicklung und Suchtverhalten findet ihren Ursprung in der Arbeit der feministischen Einrichtungen.



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Einbeziehung struktureller Bedingungen in die Auseinandersetzung um Sucht und süchtiges Verhalten Heute fachlich unbestritten, dennoch kaum in der „traditionellen“ Suchthilfe umgesetzt, ist die Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen in Bezug zu Sucht und süchtigem Verhalten sowie die Auswirkungen von struktureller Benachteiligung auf Mädchen und Frauen und deren Bedeutung für ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Individualisierte Zuschreibungen von „Abweichung“, „Krankheit“ etc. wurden in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt, in dem ein Bezug zwischen gesellschaftlich normierten und tradierten Rollenzuweisungen und -vorgaben und der jeweiligen Biografie von Frauen hergestellt wurde. Entwicklungsmöglichkeiten und -begrenzungen konnten so in einem neuen Zusammenhang „beleuchtet“ werden. Ein verändertes Verständnis hinsichtlich der Motive substanzkonsumierender Mädchen und Frauen konnte abgeleitet und Bedarfe passgenauer identifiziert werden. Thematisiert wurde die gemeinsame Betroffenheit von gesellschaftlichen Bedingungen von Frauen als Klientinnen und Frauen als Beraterinnen/Therapeutinnen, deren Hindernisse und Potenziale in der geschlechtsbezogenen Arbeit und die Bedeutung des „Faktors Geschlecht“ in der praktischen Tätigkeit. Der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle, der Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit von „Helfender“ und „Hilfesuchender“ im Beratungs- und Therapieprozess kam bereits mit Beginn der Tätigkeit der Fraueneinrichtungen eine zentrale Rolle zu. Haltung: Wertschätzung und Respekt Zentral ist die Entwicklung und Implementierung einer veränderten Haltung gegenüber Frauen, die (illegale) Substanzen konsumieren. Dazu gehören die Grundprinzipien von Wertschätzung und Respekt gegenüber den Betroffenen und die Sensibilisierung für Machtverhältnisse sowohl bezogen auf die gesellschaftlich strukturelle Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Zusammenhang mit der Entstehung und dem Verlauf einer Suchtentwicklung, als auch bezogen auf die Settings der jeweiligen Hilfesysteme. Beachtlich in diesem Zusammenhang ist, dass die Ausrichtung der „traditionellen“ Drogenhilfe in Deutschland zu diesem Zeitpunkt durchaus noch die Theorie von der „Junkie-Persönlichkeit“, die „gebrochen“ werden muss, in der Praxis umsetzte und teilweise „Unterwerfungsszenarien“ als spezifische Bestandteile „therapeutischer Arbeit“ praktizierte sowie von einem pathologisch-



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defizitären Erklärungsmodell von Sucht und Abhängigkeit ausging (und manchmal auch heute noch ausgeht). Fachliche Anerkennung: Zusammenhang von Trauma und Sucht Explizit ist insbesondere die fachliche Anerkennung der Zusammenhänge von Trauma und Sucht zu nennen, die ohne die Beharrlichkeit und gegen vielfältige Widerstände von den feministischen Einrichtungen benannt und in die Haltung und konzeptionelle Tätigkeit eingeflossen ist – und mit langer zeitlicher Verzögerung von der „traditionellen“ Suchthilfe und -forschung aufgegriffen wurde (obwohl der „Faktor Geschlecht“ in Bezug auf Trauma, Traumafolgestörungen und Sucht auch heute noch keine selbstverständliche, konsequente Berücksichtigung im Hilfesystem und der Suchtforschung findet). Die Sensibilisierung für das Thema „Gewalterfahrungen bei süchtigen Frauen“, die Diskussion um Gewalt gegen Mädchen und Frauen – insbesondere sexuelle Gewalt – in unserer gesellschaftlichen Realität, aber auch in Einrichtungen der Drogenhilfe, ist eine Leistung der feministischen Einrichtungen der Suchthilfe. Ebenso wurde in dieser spezifischen Arbeit ein Zusammenhang zwischen Trauma und weiteren psychischen/psychiatrischen Erkrankungen – über die Abhängigkeitserkrankung hinaus – hergestellt. Die heutige eher selbstverständliche Auseinandersetzung der „traditionellen“ Suchthilfe mit der Thematik der sog. „Doppeldiagnosen“ (Komorbidität) in der Behandlung und Therapie umfasst allerdings keine selbstverständliche Einbeziehung des „Faktors Geschlecht“. Sekundäre Traumatisierung Eine besondere Herausforderung für die Einrichtungen der feministischen Suchthilfe waren besonders in den Anfangsjahren die Auswirkungen für die Beraterinnen und Therapeutinnen, die sich durch die massive Konfrontation mit erlebter Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, der Klientinnen ergaben. Während heute eher Erkenntnisse darüber vorliegen, wie sich eine sekundäre Traumatisierung3 entwickeln kann und welche Strategien präventiv genutzt werden kön-

3

Unter einer sekundären Traumatisierung werden jene Belastungen zusammengefasst, die speziell in der Zusammenarbeit mit traumatisierten Menschen entstehen können. Demnach können Beraterinnen/Therapeutinnen eine „übertragene“ Traumatisierung entwickeln, ohne direkten Kontakt zum Ausgangstrauma, sondern lediglich durch Zu-



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nen/sollten, traf die Thematik die Frauensuchteinrichtungen zwangsläufig eher unvorbereitet: Dem Wissen um die hohe Prävalenz von Gewalterfahrungen substanzkonsumierender Frauen standen anfänglich kaum Erkenntnisse zum Risiko, zur Dynamik und zur Verhinderung einer sekundären Traumatisierung zur Verfügung. Fachliche Anerkennung: Zusammenhang zwischen Trauma und weiteren psychischen/psychiatrischen/psychosomatischen Erkrankungen Die Erkenntnis, dass bei einem großen Teil der Frauen, die einen problemhaften Substanzkonsum aufweisen, auch Ess- und Persönlichkeitsstörungen vorliegen, die erkannt und jeweils explizit behandelt werden müssen, gehört zu den frühen Ergebnissen der Tätigkeit der feministischen Suchthilfeeinrichtungen. Die Erkenntnisse stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zu einem vertieften Blick auf die hohe Prävalenz von Gewalterfahrungen von substanzkonsumierenden Frauen und den Folgen früher und anhaltender Traumatisierungen, zu denen beispielsweise auch Essstörungen gehören. Darüber hinaus belegte die Praxis der Frauensuchteinrichtungen nachdrücklich, inwiefern neben biologischen und persönlichkeitsbedingten Faktoren auch gesellschaftliche Normierungen und Zuschreibungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit eine Bedeutung für die Entwicklung von gesundheitsschädigendem Verhalten aufweisen (Schönheitsideal für Frauen – Schlankheitsdruck). Ressourcenorientierter Ansatz (Empowerment), Förderung der Autonomie und Respekt vor den Lebensentwürfen Drogen konsumierender Mädchen und Frauen Während das Konzept des Empowerment heute eher zum fachlichen Standard der Sozialen Arbeit gehört, war der Ansatz der feministischen Suchthilfeeinrichtungen, die Stärken und Fähigkeiten substanzkonsumierender Mädchen und Frauen als solche zu benennen und in die konzeptionelle Arbeit als eine zentrale Haltung und Methodik einzubeziehen, ein Novum in der Suchthilfe. Die Förderung der Ressourcen und Potenziale betroffener Frauen mit dem Ziel, eine größtmögliche Autonomie zu erlangen, gehörte seit ihrem Bestehen zu

hören, Einfühlen und bildhaftes Vorstellen. Die sekundäre Traumatisierung äußert sich in Form von Symptomen, die auch bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) auftreten (vgl. Daniels 2006).



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den Grundlagen der Frauensuchtarbeit. Diese umfass(t)en die Stärkung von „Eigenmacht“ als Gegenpol zu biografischen Erfahrungen mit Ohnmacht und Hilflosigkeit (beispielsweise Erfahrungen mit Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt), die Unterstützung bei der „Selbstbefähigung“ und das Erleben von Selbstwirksamkeit. Historisch deutlich vor Beginn der Debatte um Akzeptanzorientierung in der traditionellen Suchthilfe formulierten die feministischen Einrichtungen als Anspruch an ihre Arbeit den Respekt vor der Selbstverantwortung betroffener Frauen sowie die Achtung auch vor unkonventionellen Lebensentwürfen und bezog diese Grundsätze in ihre ambulante und stationäre Tätigkeit ein. In der Umsetzung wurde auch von starren Eingangsritualen in das Suchthilfesystem und von eng vorgegebenen Betreuungszeiten abgerückt. Unter dem heutigen Begriff des Empowerment haben Fraueneinrichtungen die Opfer/Täter-Debatte sowohl öffentlich als auch mit den betroffenen Mädchen/Frauen geführt und ihnen Würde und Selbstachtung zurückgegeben. Auch die Sensibilisierung für die bestehenden Macht- und Ungleichverhältnisse in den Settings von Beratung und Therapie sowie die Reflexion dieser Thematik und die Einbeziehung in die inhaltlich-fachliche Auseinandersetzung und Tätigkeit ist ein Verdienst der feministischen Suchthilfe. Themenkomplex: Schwangerschaft, Mutterschaft und der Konsum illegaler Drogen Schwangerschaft und Mutterschaft von Drogenkonsumentinnen sowie damit unmittelbar verknüpft: Kinder substanzkonsumierender Mütter, ReTraumatisierung durch Geburtserfahrungen, Bindungsstörungen und transgenerationale Weitergabe sind einige der Themen, die zunächst durch die feministischen Frauensuchteinrichtungen als spezifische Themen von Frauen formuliert und später auch in der „traditionellen“ Suchthilfe aufgegriffen wurden. Die feministischen Einrichtungen der Suchthilfe erkannten die Bedeutung eines geschützten Raumes (im wörtlichen und im übertragenen Sinn) für Frauen, die schwanger sind und (illegale) Substanzen konsumieren und stellten diesen zur Verfügung. Der hohe Unterstützungsbedarf für Frauen in dieser Lebensphase konnte in die bestehenden Konzepte, auch aufgrund der im Vergleich zur traditionellen Suchthilfe deutlich flexibleren Betreuungszeiten, integriert werden. Auch wenn der hohe Betreuungsaufwand die Möglichkeiten der Institutionen ausgesprochen forderte, war die Erkenntnis über die Bedeutung einer engmaschigen Betreuung in dieser Lebensphase einer Frau ausschlaggebend für die Weiterentwicklung der Frauensuchteinrichtungen.



E INFLÜSSE DER FEMINISTISCHEN A RBEIT AUF DIE S UCHTHILFE

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Das Bewusstsein, dass sowohl die Mütter als auch die Kinder einen Bedarf an Hilfen und Unterstützung benötigen, forderte die feministischen Einrichtungen auf unterschiedlichen Ebenen: Kaum vorliegendes Fachwissen musste einen Abgleich mit den bestehenden Erfahrungen finden; es wurde erforderlich, Angebote für diese Zielgruppen zu konzipieren, zu entwickeln und umzusetzen; neue Kooperationspartner_innen mussten akquiriert, die räumliche Situation in den Einrichtungen verändert werden, etc. Gleichzeitig rückten Fragen der Haltung in den Fokus: Während die Parteinahme für Frauen bislang als eine zentrale Haltung im Mittelpunkt der Tätigkeit stand, galten die Kinder als „die schwächsten“ Mitbetroffenen und forderten eine Änderung der Haltung in dem „System: Mutter-Kind“. Gleichzeitig wurde auch in Bezug auf die Kinder der Blick auf deren Geschlechtszugehörigkeit gerichtet und versucht, die Auswirkungen mütterlichen Substanzkonsums auf die Töchter und Söhne zu erfassen. Durch die Auseinandersetzung mit den Themen der betroffenen Frauen und die Zusammenführung der Theorie- und Praxiserkenntnisse der unterschiedlichen Themenkomplexe wurde in den feministischen Suchthilfeeinrichtungen auch eine erhöhte Sensibilität für Traumafolgen in unterschiedlichen Lebensphasen von Frauen entwickelt. Zu den besonders sensiblen Lebensphasen gehören die Schwangerschaft und die Wochenbettzeit, insbesondere aber auch der Geburtsprozess. Eine Re-Traumatisierung durch eine traumatisch erlebte Geburt muss daher in der Betreuung schwangerer Frauen als eine mögliche Problematik berücksichtigt werden. Bis heute sind es ausschließlich die feministischen Suchthilfeeinrichtungen, die die komplexen Thematiken „Schwangerschaft, Mutterschaft und Substanzkonsum“ sowie „Kinder in suchtbelasteten Lebenssituationen“ tatsächlich konsequent geschlechtsbezogen und umfassend bearbeiten, fortlaufend weiterentwickeln und wesentliche Impulse aus dieser Tätigkeit in die „traditionelle“ Suchthilfe weitergeben. Aus diesem Arbeitsfeld und einem Mangel an Erkenntnissen ist auch die Initiative entstanden, sich dem Thema „Vaterschaft und Substanzkonsum“ fachlich anzunähern – eine der feministischen Einrichtungen in Deutschland führt zu diesem Thema und mit Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit derzeit ein Forschungsprojekt durch. Erste Kooperationsvereinbarung zwischen der Drogenhilfe, der Jugendhilfe und der medizinischen Versorgung in Deutschland Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Schwangerschaft, Mutterschaft, Kinder wurde 2002 die erste Kooperationsver-



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einbarung zwischen Drogenhilfe, Jugendhilfe und medizinischer Versorgung von und mit einer der feministischen Einrichtungen angeregt und entwickelt, die inzwischen von vielen Kommunen und Kreisen in Deutschland übernommen respektive als Grundlage einer solchen Vereinbarung vor Ort genutzt wurde. Diesem Instrument kommt bei der Versorgung der Zielgruppen (Mütter, Väter, Kinder) ein besonderer Wert zu, vor allem auch hinsichtlich des zwingend gebotenen Schutzes der Kinder in diesen Lebenssituationen. Partizipation und Inklusion Teilhabe und Zugehörigkeit waren und sind wesentliche Ziele der Frauensuchtarbeit von Beginn an: Frauen, die Suchtmittel problemhaft konsumieren, insbesondere illegale Substanzen, erleben ein hohes Maß an gesellschaftlicher Ausgrenzung. Themen, die unmittelbar mit dem problematischen Konsum in Verbindung stehen wie Illegalität, Armut, gesundheitliche Verwahrlosung etc. bis hin zur Beschaffungsprostitution erfahren bei Frauen ein deutlich höheres Maß an gesellschaftlicher Abwertung und Verachtung als bei Männern. Die begleitende und unterstützende Tätigkeit der Frauensuchteinrichtungen hatte und hat das Ziel, Scham-, Schuld- und Versagensgefühle abzubauen und den Selbstwert betroffener Frauen zu steigern. Die der Tätigkeit zugrunde liegende Hypothese, dass sich auch Drogen konsumierende Frauen selbstbestimmt und eigenverantwortlich in der Gesellschaft bewegen können, führte zu einer Angebotsgestaltung und Haltung, die die Betroffenen befähigt, Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln zu können. Sie unterstützt sie dabei, die Überzeugung zu erlangen, dass sie Einfluss auf ihr eigenes Leben nehmen können. Fraueneinrichtungen als gezielter Anziehungspunkt – für Betroffene und als psychosoziales Arbeitsfeld Insgesamt zeigt die „Geschichte“ der Frauensuchteinrichtungen ein erfolgreiches Einrichtungsmanagement von Frauen für Frauen und hat somit auch eine Vorbildfunktion für die Zielgruppen: Mädchen und Frauen nutzen diese Einrichtungen und zeigen den Bedarf an – sie erleben gleichzeitig, dass es Frauen sind, die ihnen diese Möglichkeiten eröffnen. Sie erleben Wertschätzung und Unterstützung und somit auch die für Veränderungsprozesse so hilfreiche „Rückenstärkung“ – die Stärkung ihres Selbstbewusstseins, ihrer Autonomie und Selbstbestimmung. Vielfalt ist sicht- und erlebbar – sowohl für die Klientinnen als auch für die Mitarbeiterinnen.



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Diese erleben ein Arbeitsfeld, in dem konzeptionelle und fachliche Entwicklungen, Veränderungen und Innovationen nicht nur möglich, sondern auch gewünscht sind. Fachliche Innovation und Vernetzung in Europa Mit dem Internetfachportal BELLA DONNAweb4 ist es erstmalig gelungen, eine Informations- und Kommunikationsplattform zum Thema „Mädchen, Frauen und Sucht“ für den deutschsprachigen Raum zur Verfügung zu stellen. Mit dem Ziel, die geschlechtsbezogene Sucht- und Drogenhilfe für Mädchen und Frauen zu unterstützen und weiterzuentwickeln, einen lebendigen Erfahrungsaustausch und Knowhow-Transfer zu ermöglichen, unterschiedliche Arbeitsfelder, Berufsgruppen und Praxiserfahrungen zusammenzuführen, Praxis, Forschung und Lehre miteinander zu verknüpfen und Informationen aus unterschiedlichsten Quellen zusammenzuführen sowie das verstreut verfügbare Wissen zugänglich und kollektiv nutzbar zu machen, wurde mit dem Fachportal ein neues Instrument erfolgreich implementiert.

L ITERATUR Daniels, Judith (2006): Sekundäre Traumatisierung – kritische Prüfung eines Konstruktes. Dissertation, Bielefeld. Online verfügbar unter: http://www.sekundaertraumatisierung.de/uploads/assets/DISSERTATION_ KOMPLETT.pdf [04.08.2015]. Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA (2015): Leitfaden zur Umsetzung einer geschlechtergerechten Sprache in der Suchtund Drogenhilfe NRW. Online verfügbar unter: http://www.belladonnaessen.de/fileadmin/user_upload/documents/Publikationen/2015-07-22Gender-Broschuere_Doppelseiten.pdf [21.04.2016]. Meißner, Hanna (2008): Die soziale Konstruktion von Geschlecht – Erkenntnisperspektiven und gesellschaftstheoretische Fragen. GENDER POLITIK ONLINE. Online verfügbar unter: http://www.fu-ber lin.de/sites/gpo/soz_eth/ Geschlecht_als_Kategorie/Die_soziale_Konstruktion

4



https://www.belladonnaweb.de

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_von_Geschlecht_____Erkenntnisperspektiven_und_gesellschaftstheoretisch e_Fragen/index.htmlonline [02.05.2016]. Schigl, Brigitte (2012): Psychotherapie und Gender. Konzepte, Forschung, Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess? Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften. Tödte, Martina & Bernard, Christiane (2015): Fachkonferenz: Generationenwechsel und Qualitätssicherung in der Frauensuchtarbeit in Deutschland. Dokumentation. Essen. Online verfügbar unter: http://www.belladonna-essen.de/fileadmin/user_upload/documents/Publikationen/Abschlussbericht_E ndfassung.pdf [02.05.2016].





Frauen, Gewalterfahrungen und der Konsum von Alkohol und anderen Drogen I RMGARD V OGT

E INLEITUNG Es gehört zu den großen Verdiensten der Frauenbewegung in den Jahren nach 1970, dass sie das Thema „Gewalt gegen Frauen“ auf die nationale und internationale Agenda gebracht hat (vgl. World Health Organization 2010, 2013). Und es gehört zu den großen Verdiensten engagierter Frauen in der Suchthilfe und der Suchtforschung, dass sie dieses Thema aufgenommen und hartnäckig darauf hingewiesen haben, dass Mädchen und Frauen, die psychoaktive Stoffe konsumieren und süchtig geworden sind, besonders häufig auch Betroffene von (sexueller) Gewalt waren und sind (vgl. Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2004, Schmidt 2000, Vogt 1993). Es hat jedoch vergleichsweise lange gedauert, bis die in der Praxis gewonnenen Befunde zu Geschlecht, Sucht und Gewalt Eingang gefunden haben in den Mainstream der Suchthilfe und der Suchtforschung (vgl. AWMF 2015). Mittlerweile belegt die internationale und z. T. auch die nationale Forschung, dass es für Frauen wie für Männer komplexe Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und dem Konsum von psychoaktiven Substanzen gibt. Der nachfolgende Beitrag konzentriert sich vor allem auf Mädchen und Frauen und die Folgen von Gewalt in ihrem Leben, berücksichtigt aber auch an manchen Stellen Jungen und Männer als Betroffene von Gewalt. Im Folgenden werden zunächst zwei idealtypische Konstellationen, wie Gewalterfahrungen zur Sucht und Sucht zu Gewalterfahrungen führen können, beschrieben. Es folgen dann einige Hinweise darauf, wie Sucht zur Verschärfung von Gewalt im häuslichen und im außerhäuslichen Umfeld – z. B. von Sexarbeiterinnen – beiträgt. Im Wei-



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teren werden ausgewählte Ergebnisse einer Studie zu „Frauen – Sucht und Gewalt“ (Vogt et al. 2015a) vorgestellt, in der das Hilfesuchverhalten von süchtigen Frauen, die auch von Gewalt betroffen sind, genauer untersucht worden ist. Abschließend folgen einige kurze Hinweise auf Folgerungen für die Praxis.

Z UM F ORSCHUNGSSTAND Eine Reihe von Studien aus dem englischen Sprachraum zeigt, dass das Risiko für einen frühen Einstieg in den Konsum von Alkohol, Nikotin, Cannabis, Heroin und vielen anderen (illegalen) psychoaktiven Stoffen ansteigt, wenn Kinder in einem Milieu aufwachsen, in dem sie Gewalt beobachten oder selbst Opfer von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt werden (vgl. u. a. Hadland et al. 2010, Sartor et al. 2013). Es wird angenommen, dass die Kinder zunächst mit einer akuten Belastungsstörung auf die Gewalt reagieren. Diese erste Reaktion auf Gewalt kann übergehen in eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Nicht selten kommen dazu noch depressive Episoden, andere Angst-Störungen und – im Laufe der Zeit – Persönlichkeitsstörungen. In diesem Modell werden in der Jugendzeit bzw. einige Jahre später die psychoaktiven Substanzen als eine Art Selbstmedikation (vgl. Khantzian 1997) zur Linderung der Symptome, die mit der PTBS oder mit depressiven Episoden und anderen Ängsten verbunden sind, eingesetzt. Hadland et al. (2012) konnten in einer prospektiven Studie zeigen, dass das Risiko, heroinabhängig zu werden, für diejenigen Mädchen und Jungen, die als Kinder Opfer von sexueller Gewalt (in der Regel in Kombination mit körperlicher und psychischer Gewalt) geworden sind, um zwei bis drei Mal höher liegt als bei denjenigen, die dieses Schicksal nicht erleiden mussten. Sie weisen zudem darauf hin, dass in der Mehrzahl der Fälle das gesamte familiäre Milieu, in dem diese Kinder aufwachsen, bedrückend ist. Dennoch kommt der sexuellen Gewalt eine Schlüsselfunktion zu hinsichtlich des frühen Einstiegs in den Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen sowie bei der Ausbildung von Sucht (vgl. Dube et al. 2003). Diese Befunde betreffen Mädchen in besonderer Weise, da eine Vielzahl von Studien gezeigt hat, dass sie von sexueller Gewalt in der Kindheit und frühen Jugend häufiger betroffen sind als Jungen (vgl. Kavemann/Kreyssig 2006). Empirische Studien belegen wiederum, dass der Anteil der Frauen, die als Kind Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, unter denjenigen, die Hilfe in einer Drogenberatungs- oder Behandlungseinrichtung suchen, sehr hoch ist. Nun werden aber nicht nur Mädchen Opfer von sexueller Gewalt, sondern auch Jungen. Es stellt sich die Frage, ob die Langzeitfolgen dieser Erfahrungen



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für Mädchen und Jungen unterschiedlich sind. Studien, die bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts durchgeführt worden sind, betonen die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Reaktionen auf sexuelle Gewalt in der Kindheit. Neuere Studien weisen darauf hin, dass es auf der Verhaltensebene trotz möglicher biochemischer Differenzen in der Verarbeitung von Stress (vgl. Elton/Kilts 2009) eher wenige geschlechtsbezogene Unterschiede hinsichtlich der Langzeit-Belastungen durch Gewalterfahrungen gibt. Es können sich aber unterschiedliche Reaktionsmuster ausbilden, die sich allerdings einer kategorialen geschlechtstypischen Zuordnung entziehen. Nicht alle Frauen, die als Kinder Gewalt erlebt haben, reagieren darauf mit internalisierenden und selbstverletzenden Tendenzen, nicht alle Männer mit externalisierenden Tendenzen. Hier liegt noch viel Forschungsbedarf vor. Auch wenn es keine körperliche oder sexuelle Gewalt in der Familie gegeben hat, und wenn die Mütter während der Schwangerschaft keinen Alkohol oder andere für die fötale Entwicklung des Kindes schädliche Suchtmittel konsumiert haben, wird davon ausgegangen, dass Kinder, die in einer Familie mit einem oder zwei süchtigen Elternteilen aufwachsen, ein erhöhtes Risiko haben, selbst süchtig zu werden. Dazu tragen sowohl genetischen Faktoren bei (vgl. King et al. 2009, Verhulst et al. 2015) als auch eine Vielzahl von familiären, sozialen und ökologischen Faktoren, die die Entwicklung der Kinder mitbestimmen (vgl. Connors et al. 2004, Foster et al. 2015, Klein 2008)1. Insgesamt betrachtet ist davon auszugehen, dass die psychosozialen Belastungen der Kinder durch die Sucht eines Elternteils oder beider Eltern mit dem Alter und der Dauer der süchtigen Episoden variieren. Kleine Kinder leiden mehr als ältere Kinder darunter, wenn die Eltern nicht ansprechbar oder emotional instabil sind. Das tangiert den Aufbau einer förderlichen Mutter-Kind-Beziehung und die Entstehung einer sicheren Bindungsbeziehung (vgl. Brisch 2013). Langfristig kann das zu psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen sowie zu Störungen des Sozialverhaltens führen (vgl. Trost 2013). Größere Kinder schämen sich mehr für das süchtige Familienmitglied und neigen dazu, dieses vor ihren Freunden und Freundinnen sowie anderen Personen zu verheimlichen. Das kann zu selbst gewollter sozialer Isolierung führen. Es kann aber auch in Wut umschlagen gegenüber dem süchtigen Elternteil allein oder gegenüber mehreren Familienmitgliedern. Diese Wut kann sich in gewalttätigen

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Waldron et al. (2012) machen auf methodische Probleme aufmerksam, die bei der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen elterlicher Sucht und den Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen sind. Sie weisen darauf hin, dass diese Probleme zu verzerrten Studienergebnissen führen können.



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Explosionen entladen. Wie stark die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung beschädigt werden, hängt auch davon ab, ob ein nicht-süchtiges Familienmitglied respektive ein nicht-süchtiges Elternteil oder eine Vertrauensperson für die Kinder erreichbar ist und ob diese Person die Versäumnisse der süchtigen Eltern kompensieren kann. Je nach der jeweiligen Konstellation sind die Entwicklungschancen dieser Kinder und Jugendlichen besser oder schlechter. Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Kinder, die mit einem oder zwei süchtigen Elternteilen und/oder in einem gewalttätigen Ambiente aufwachsen, in der Regel unter starken Belastungen und Anspannungen stehen. Für die Kinder steigern sich diese noch einmal, wenn es zu einer – zeitweisen oder auch dauerhaften – Fremdunterbringung kommt. Selbst dann, wenn die Unterbringung bei Pflegeeltern oder in einem Heim für die Kinder überlebenswichtig ist, ist die Trennung von den Eltern und die Verpflanzung in eine neue Umgebung ein großer Schock. Es gibt bislang nur einige wenige Studien, die untersucht haben, wie sich die Fremdunterbringung auf die Entwicklung dieser Kinder und auf ihren – späteren – Konsum von psychoaktiven Substanzen auswirkt. Einige neuere Studien belegen, dass das Risiko dieser Kinder, selbst süchtig zu werden, stark erhöht ist (vgl. Traube et al. 2012). Wie bereits dargestellt, nimmt man an, dass sowohl genetische Faktoren eine Rolle spielen als auch die Lebenswelt, in der sich die Kinder in den Pflegefamilien, im Heim oder bei Adoptiveltern wiederfinden (vgl. Snyder et al. 2015). Borczyskowski et al. (2013) konnten mit ihrer Studie zeigen, dass die Kinder, die später süchtig werden, oft Pflegeeltern hatten, die sich wenig um ihre Entwicklung gekümmert haben2. Kommen die Kinder in eine für sie positive Umgebung und zu Pflegeoder Adoptiveltern, die sich intensiv um ihr Wohlergehen kümmern, sind ihre Chancen, keine psychischen Störungen zu entwickeln, fast so gut wie die ihrer Pflege- oder Adoptivgeschwister. Weitere Studien zu Kindern aus süchtigen Familien, die bei Pflegeeltern oder Adoptiveltern aufwachsen, sind dringend notwendig, um abzuklären, in welchem psychosozialen Milieu sie sich am besten entwickeln können. Schließlich gibt es eine weitere Gruppe von Frauen und Männern, die in einer in vielerlei Hinsicht intakten Familie aufwächst, aber in der Jugendzeit in selbst gewählten Gruppen von Freundinnen und Freunden mit dem Konsum von

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Es geht hier nicht um Kinder, die durch den Substanzkonsum der Mutter während der Schwangerschaft geschädigt worden sind, sondern um diejenigen, die gesund zur Welt gekommen und für einige Zeit in einer Familie mit einem süchtigen (und gewalttätigen) Elternteil oder zwei süchtigen Elternteilen aufgewachsen sind, bevor sie bei einer Pflegefamilie untergebracht wurden.



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psychoaktiven Substanzen beginnt und in die Sucht abgleitet. Manche Drogen scheinen für diese Jugendlichen so mächtige Wirkungen zu entfalten, dass alle bisherigen Beziehungen und Netzwerke sich als brüchig erweisen und alle Erfahrungen im Vergleich zu den Erlebnissen mit den Drogen verblassen. Es scheint schwer zu sein, sich solchen Erlebnissen zu entziehen. Empirische Studien für diese Gruppe von Frauen und Männer liegen nicht vor. Wir wissen daher nicht, wie lange die Faszination der Drogen anhält oder ob diese nach einiger Zeit nachlässt und sie einen Weg aus der Sucht herausfinden. Es wäre aber spannend zu wissen, ob sich unter denjenigen, die ihre Sucht selbst „heilen“ (Klingemann 2007), besonders viele Frauen und Männer finden, die eine wenig „spektakuläre“ Kindheit ohne Gewalt und ohne Sucht durchlebt haben. Jugendliche und Erwachsene, die eine Suchtproblematik entwickelt haben, unterliegen einem erhöhten Risiko, Opfer von Gewalt zu werden (vgl. Galvani 2006, 2010, McKinney et al. 2010, Testa et al. 2012, Waldrop 2009). Für diejenigen, die schon in der Kindheit Opfer von Gewalt geworden sind, ist das keine neue Erfahrung, für andere aber schon. Die Gewalt findet sowohl im häuslichen Umfeld als auch im sozialen Nahraum statt: Es kann in der Partnerschaft ebenso zu Gewalttätigkeiten kommen wie beim Zusammensein mit Freundinnen und Freunden oder in anderen sozialen Kontexten. Auch das Risiko, Gewalt von Fremden zu erleiden, erhöht sich erheblich (vgl. Abrahams et al. 2014). Und es bleibt meist nicht bei einem einmaligen Ereignis. Vielmehr wiederholen sich die Gewalttätigkeiten in der Partnerschaft und im Lebensumfeld. Frauen können aktiv in die Gewalttätigkeiten verwickelt sein, also selbst zuschlagen. Dennoch ist ihr Risiko, den größeren Schaden und die schwereren Verletzungen davonzutragen, höher als das ihrer Partner oder Freunde oder der Fremden. Das liegt u. a. daran, dass sie oft physisch schwächer und weniger gut trainiert sind. Dazu kommt, dass sie, wenn sie unter dem Einfluss von Drogen stehen, die Gefahrensituation oft nicht mehr gut einschätzen können. So kann es sein, dass sie Signale, die auf Gewalttätigkeiten oder Vergewaltigungen hinweisen, übersehen (vgl. Schumm et al. 2011). Das heißt allerdings nicht, dass sie für die Gewalt, die sich gegen sie richtet, verantwortlich zu machen wären: Im Gegenteil, die Verantwortung liegt bei den Gewalttätern. Diese werden aber sehr oft nicht zur Verantwortung gezogen (vgl. dazu z. B. Gloor/Meier 2014), auch nicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Suchthilfe. Geht es um häusliche Gewalt, spielen noch weitere Faktoren eine Rolle. Manche süchtigen Frauen haben ein beschädigtes Selbstbild. Das kann dazu führen, dass sie meinen, sie hätten die Gewaltattacken des Partners verdient – weil sie sich selbst als wertlos erleben oder weil sie gegen andere Regeln in diesen



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Beziehungen verstoßen haben (vgl. Brzank 2012). Diese Gefühle hindern viele Frauen zusätzlich daran, sich zu wehren. Besonders tragisch ist, dass die Frauen oft auch nicht in der Lage sind, ihre Kinder vor der Gewalt in der Partnerschaft zu beschützen. In etlichen Fällen sind die Kinder indirekte oder direkte Beobachter der Gewalt, in weiteren Fällen sind sie selbst Opfer (vgl. Vogt et al. 2015a). Auf die Bedeutung von häuslicher Gewalt in der Kindheit und dem Risiko einer späteren Suchtentwicklung wurde eingangs bereits hingewiesen. So wachsen immer neue Kohorten von Kindern heran, die in der Familie traumatisiert werden mit dem Risiko, in späteren Lebensphasen psychoaktive Substanzen zur Selbstbehandlung ihrer Belastungen einzusetzen. Gewalt generiert in gewissem Umfang Sucht und umgekehrt Sucht Gewalt. Darüber hinaus gibt es Arbeitsbereiche, in denen Süchtige überzufällig häufig arbeiten. Dazu gehören z. B. Jobs im Gaststättengewerbe sowie in der Sexarbeit, insbesondere als Prostituierte. In weniger gut situierten Gaststätten und in der Prostitution (vgl. Lorvick et al. 2014) ist das Risiko, mit Gewalttätigkeiten konfrontiert zu werden, überdurchschnittlich hoch. Besonders kritisch ist es, wenn alle Beteiligten intensiv Substanzen konsumieren. Manche Männer verlieren unter dem Einfluss von Alkohol und anderen (aufputschenden) Drogen die Selbstkontrolle (vgl. Smyth 2013)3 und leben ihre aggressiven Affekte unmittelbar aus. Dazu gehören auch sexuelle Wünsche, die die Männer durchzusetzen wissen. Für Sexarbeiterinnen heißt das, dass die Männer sexuelle Dienstleistungen einfordern, die weit über die ursprünglichen Vereinbarungen hinausgehen. Süchtige Frauen, die sich unter dem Einfluss der Drogen oder wegen akuter Entzugserscheinungen nicht wehren können, werden zu sexuellen Handlungen gezwungen, die sie unter anderen Umständen und wenn sie nicht mit Gewalt bedroht sind, ablehnen würden. Die gesundheitlichen Risiken, denen süchtige Sexarbeiterinnen (und Sexarbeiter sowie Transgender) ausgesetzt sind, sind hoch. Neben vielem anderen gehören dazu schwere Verletzungen und Infektionen, z. B. mit dem HI-Virus (vgl. Dekker et al. 2015, Shannon/Csete 2010). Empirische Studien belegen, dass Frauen, die Drogen injizieren und sexuelle Dienstleistungen anbieten, besonders hohe Infektionsraten mit HIV aufweisen (Shannon et al. 2009; 2015).

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Weder Alkohol noch aufputschende psychoaktive Substanzen wirken per se aggressionsauslösend. Es besteht also zwischen dem Konsum dieser Substanzen und aggressivem Verhalten keine kausale Beziehung, wohl aber eine Assoziation. Eben darum werden nur manche Menschen unter dem Einfluss dieser Drogen aggressiv, die meisten aber nicht.



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Es sind also nicht nur Gewalttätigkeiten in der Kindheit, die eine Reihe von Mädchen und Jungen erlitten und traumatisiert haben, die dann später im Leben dazu führen können, dass sie ihre Beschwerden und die Beschädigungen ihrer Persönlichkeit mithilfe von psychoaktiven Substanzen zu lindern versuchen. In der Regel kommen dazu noch Gewalttätigkeiten im Erwachsenenleben, die bei den bereits Traumatisierten zu einer Re-Traumatisierung führen können und bei den bislang noch nicht von Gewalt gezeichneten Frauen (und Männern) zu einer ersten Traumatisierung. Sucht kompliziert die Prozesse und beschleunigt ReTraumatisierungen (vgl. Peirce et al. 2011). Dabei ergeben sich Zirkelprozesse: Der Konsum von Alkohol und anderen Drogen kann die Gewalttätigkeiten triggern, was wiederum dazu führen kann, dass die Opfer mehr psychoaktive Substanzen konsumieren zur Bewältigung der Gewalt und ihrer Verletzungen (vgl. Logan et al. 2002). Das kann erneut Gewalttätigkeiten provozieren, was zu noch schwereren Verletzungen führen kann – und so weiter.

W EGE

AUS GEWALTTÄTIGEN

P ARTNERSCHAFTEN

In einer qualitativ angelegten Studie (Vogt et al. 2014; 2015a) wurden 45 süchtige Frauen, die in der Kindheit oder im Erwachsenenleben Gewalt erfahren haben, interviewt, u. a. mit folgenden Zielen: • Über welche informellen und formalen Netzwerke verfügen diese Frauen und

wie nutzen sie diese? • Welche Erfahrungen haben sie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von

Frauenhäusern, der Polizei, von Jugendämtern, der Suchthilfe und medizinischer Anlaufstellen gemacht? • Wenn sie gewalttätige Partnerschaften beendet haben, wie sind sie dabei vorgegangen? Aus der Fülle der Ergebnisse der Studie sollen hier einige wenige herausgegriffen und kurz dargestellt werden (für Einzelheiten des Aufbaus, der Durchführung und der Auswertung vgl. ebd.). Die Studiengruppe Die 45 Frauen sind zum Zeitpunkt der Interviews im Durchschnitt 38,6 (±9,9) Jahre alt (Bandbreite: 23-60 Jahre). 24 (53 %) von ihnen sind ledig, drei (7 %) sind verheiratet, drei (7 %) verwitwet und 15 (33 %) geschieden. Im Vergleich



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mit der weiblichen Allgemeinbevölkerung ist der Anteil der Ledigen und Geschiedenen erhöht und der Anteil der Verheirateten bemerkenswert niedrig. Von den Befragten leben 36 (80 %) Frauen von Transferleistungen (ALG II, Sozialhilfe), vier (9 %) von der Rente und eine Frau (2 %) wird durch ihren Ehemann finanziell unterstützt. Lediglich vier (9 %) Frauen sind erwerbstätig und leben von ihrem Einkommen. 36 (80 %) dieser Frauen haben Kinder im Alter von 0 bis 36 Jahren. Die Mehrzahl der Kinder lebt nicht mehr bei den Müttern. Alle Frauen in der Studiengruppe haben eine Diagnose als Süchtige. 43 (95 %) von ihnen haben in den letzten fünf Jahren an mindestens einer Suchtbehandlung teilgenommen, die meisten an mehreren. Die Belastung der Frauen mit zusätzlichen psychischen Problemen ist hoch; es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Frauen zusätzlich zur Sucht unter Depressionen und Ängsten leidet. 26 (58 %) Frauen geben mindestens einen Selbstmordversuch an. Auch die Werte für Feindseligkeit und Ärger sind überdurchschnittlich hoch; es zeigt sich eine signifikante Korrelation zwischen hoher psychischer Gesamtbelastung und Feindseligkeit (vgl. Möller-Leimkühler et al. 2004, Simon/Lively 2010). Alle Frauen in dieser Studie sind durch Gewalt in der Kindheit und/oder im Erwachsenenleben stark belastet. 17 (38 %) Frauen berichten z. T. sehr ausführlich über die Gewalt in ihrem Elternhaus. In den meisten Fällen waren die Frauen nicht nur Zeuginnen der Gewalt zwischen den Eltern, sondern selbst Betroffene von körperlicher und in zehn Fällen auch von sexueller Gewalt. Im Erwachsenenleben nimmt in fast allen Fällen die Gewalt zu. 42 (93 %) Frauen haben in mindestens einer gewalttätigen Partnerschaft gelebt. In der Partnerschaft oder im sozialen Nahraum waren die Frauen in einem erheblichen Ausmaß schwerer körperlicher Gewalt ausgesetzt, d.h. sie sind zusammengeschlagen, gewürgt und jede zweite Frau mindestens einmal mit einem Messer oder einer Waffe bedroht worden. 91 % sagen, dass sie „Psychoterror“ ausgesetzt waren. 28 (62 %) Frauen geben an, dass sie nach dem 16. Lebensjahr mindestens einmal vergewaltigt worden sind. Viele Frauen berichten von wiederholten schweren Verletzungen als Folge der Gewalttätigkeiten in der Partnerschaft, die sie sehr oft selbst behandelt haben. Dennoch beenden sie die gewalttätige Partnerschaft nicht sofort und manche nie. Etliche Frauen sagen, dass sie trotz allem genau diesen Partner geliebt und sich von ihm verstanden gefühlt haben. Die Liebe zum Partner soll erklären, warum sie viele Jahre bei diesem ausgeharrt haben (vgl. Brückner 1983; 2009). Angst vor Einsamkeit ist ebenfalls ein Motiv, die Beziehung nicht zu beenden. Erst wenn die Liebe und die Angst vor der Einsamkeit sich relativieren, ist es etlichen Frauen möglich, über Veränderungen nachzudenken oder sie in Angriff zu nehmen. Im Endeffekt führt das dazu, dass es oft sehr lange dauert, bis sich in



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den Beziehungen durch aktive Handlungen etwas ändert. Darauf wird im Folgenden noch genauer eingegangen. Informelle und formale Hilfen Zwar hat noch fast die Hälfte der Frauen Beziehungen zu einem oder mehreren Mitgliedern der Herkunftsfamilie, aber nur 15 von ihnen berichten über konkrete Hilfen durch Familienmitglieder – meist durch die Mütter oder Großmütter – und Unterstützungen durch Freunde und Freundinnen. Die meisten Frauen sind also bei der Bewältigung ihres Alltags und ihrer Probleme auf formale Hilfen und formale Netzwerke angewiesen. Die Erfahrungen, die sie mit Angeboten der Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen, der Polizei und Mitarbeiter_innen von Jugendämtern sowie der Suchthilfe und schließlich mit Ärztinnen und Ärzten machen, sind ganz unterschiedlich. Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen Keine Frau in dieser Studie berichtet über Beratungen in einer Frauenberatungsstelle. Ganz offenbar wurden diese Einrichtungen von den süchtigen und von Gewalt betroffenen Frauen nicht aufgesucht. Auch nach einer Vergewaltigung haben sie die Angebote dieser Einrichtungen oder die von Frauennotrufen nicht in Anspruch genommen. Nur zwölf Frauen haben sich einmal oder auch mehrmals an Frauenhäuser gewandt und dort Schutz gesucht. Die meisten haben negative Erfahrungen mit Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern gemacht. Sie berichten davon, dass die Mitarbeiterinnen die Aufnahme der Frauen in die Häuser wegen ihrer Suchtprobleme ablehnen oder dass sie sie nach ein bis zwei Nächten wegen eben dieser Probleme entlassen haben. Die Frauen erleben die Zurückweisungen durch die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser als diskriminierend und stigmatisierend. Das kommt am besten zum Ausdruck in folgenden Aussagen: „Die waren auch so unhöflich. So herablassend: Ja, wie, wie, wie wurden Sie denn geschlagen? Schlägt er Sie richtig oder? Ja, ich weiß halt net, was manche Menschen unter Schlagen verstehen. Wenn du so ein paar Backpfeifen kriegst und so bissi geboxt wird, dann tut das schon weh, find ich, ne? So’n guter Mann, wo einem eine gibt, da haste schon Kopfschmerzen.“ (Interview 48)



110 | I RMGARD V OGT „Ich mein’, wenn so Menschen zugedröhnt in ’ne Einrichtung gehen, also wie ich jetzt ins Frauenhaus, dann ist es eilig. Klar, dass ich Hilfe will. Man kann mich doch net, man kann mich doch net wegschicken.“ (Interview 43)

Die Polizei Die Mitteilungen der Interviewten zur Polizei belegen einerseits, dass es mit dieser sehr viele Kontakte gibt. Die Frauen selbst, manchmal auch ihre Kinder oder andere Angehörige oder Nachbarn/Nachbarinnen rufen die Polizei, weil es zu lautstarken häuslichen Streitereien mit Gewalttätigkeiten gekommen ist. Die Polizei kommt den Frauen regelmäßig zu Hilfe. Allerdings bleiben viele Polizeieinsätze ohne Ergebnisse, was teilweise an den Frauen selbst liegt, teils aber auch an den Polizeikräften, die den Einsatz durchführen. Manche Frauen konterkarieren den Polizeieinsatz und helfen dem gewalttätigen Partner bei der Flucht, bevor sich die Polizei einmischen kann. Dann geht der Polizeieinsatz ins Leere, was auf der Seite der Polizeikräfte zu Frustrationen führen kann. Andere Frauen haben sehr hohe Erwartungen und wünschen sich, dass die Polizei für sie die Probleme regelt und den Gewalttäter einfach aus ihrem Leben entfernt. Diese Erwartungen kann die Polizei nicht erfüllen, was die Frauen frustrieren kann. Zudem spielt die Sucht der Frauen eine erhebliche Rolle in diesen Interaktionen. Aus den Aussagen der Interviewten geht hervor, dass diejenigen, die beim Eintreffen der Polizei betrunken sind, sich häufig nicht ernst genommen fühlen. „Ja, die kamen dann rein. Ich war an dem Tag auch betrunken, ich hatte auch was getrunken, war nicht grad nüchtern. Und die [Polizeikräfte] kamen dann und sagten: Ja, Sie ham ja auch was getrunken. Also, die standen mehr hinter ihm [dem Partner] als mir. Ich hab’ mich kritisiert gefühlt von denen. Absolut. In meiner Situation, wo er mir den Kopp in, an die Wand gehauen hat, das war ne andere Situation. Da hab’ ich mich kritisiert gefühlt. So kühl. Eija. So: Hier, wir kommen jetzt hier in die Wohnung rein, hier wird getrunken, was ist mit Ihrer Tochter, warum ist die hier? Ne? Also, das war so... rüde. Hm.“ (Interview 2) „Ja also und das, da gibt’s schon hier und da einen Polizisten, der einem so das Gefühl vermittelt: Wahrscheinlich hat er nicht kräftig genug zugehauen, oder: Sei mal froh, dass du nur so aussiehst.“ (Interview 35)

Alle süchtigen Frauen, die mit ihren kleinen Kindern zusammenleben, fürchten zudem die Weitergabe von Information der Polizei über Gewalt in der Familie und über Hinweise auf Sucht (vor allem der Frauen/Mütter) an die Jugendämter.



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Diese werden dann recht schnell aktiv und suchen die Frauen zu Hause auf. In aller Regel bleibt es nicht bei einem einzigen Hausbesuch. Vielmehr ist das der Beginn einer Intervention, die sich über viele Jahre hinziehen kann. Charakteristisch für diese Gruppe von Frauen sind einerseits hohe Erwartungen an polizeiliches Handeln und andererseits Ängste von polizeilichen Interventionen und Datenweitergabe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern Süchtige und von Gewalt betroffene Mütter haben sehr viele Ängste vor den Jugendämtern. Sie fürchten, dass es schnell zu einer Fremdunterbringung eines oder aller ihrer Kinder kommt, wenn die Mitarbeiter_innen von Jugendämtern erfahren, dass sie Probleme mit Alkohol und anderen Drogen haben und dass es Gewalttätigkeiten in ihren Beziehungen gibt. Kommt es doch zu Kontakten mit einem Jugendamt, machen einige Frauen sehr gute Erfahrungen und einige weitere sowohl gute wie weniger gute Erfahrungen (vgl. dazu auch Gloor/Meier 2014) und etliche nur schlechte Erfahrungen. Insgesamt genommen überwiegen negative Erfahrungen und Vorbehalte gegenüber den Hilfen, die ein Jugendamt anbieten könnte, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Ich hab’ beim Jugendamt mich nie getraut, um irgend ’ne Hilfe zu bitten, weil ich Angst hatte, wenn ich denen sage, ich brauch’ Hilfe für irgendwas, dass die mir die Kinder wegnehmen. Und ich kann mir vorstellen, dass es manchen Frauen genauso geht, dass die einfach Angst haben, wenn sie Schwäche zeigen, dass das Jugendamt sagt: Ach, die kommt mit ihrem Leben net klar, der nehmen wir erst mal die Kinder raus...“ (Interview 33) „Aber das Jugendamt war schon, also das war eine der härtesten Erfahrungen, die ich je hatte, weil da kämpft man gegen Windmühlen. Also, die sind fest davon überzeugt: Du bist ein Junkie, du bist nicht in der Lage, dich um dein Kind zu kümmern. Für dein Kind ist es das Beste, wenn es nicht bei dir ist. Der braucht jetzt ne sichere Struktur und nen Rahmen, und das kannst du ihm alles nicht bieten. Also praktisch, einmal verkackt und die Chance vertan, so.“ (Interview 50)

Wie gut oder schlecht die Erfahrungen der Frauen mit den Jugendämtern sind, hängt stark davon ab, an welche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sie geraten, welche Einstellungen diese zum Thema Sucht haben und wie häufig ein Personalwechsel stattfindet. Frühere Gewalterfahrungen der Frauen werden in der Auseinandersetzung mit Mitarbeiter_innen der Jugendämter selten thematisiert. Aktuelle häusliche



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Gewalt ist zwar oft Anlass für einen ersten Besuch bei den Frauen, aber inhaltlich spielen auch diese Gewalterfahrungen für die weitere Zusammenarbeit keine große Rolle. Der Fokus der Mitarbeitenden von Jugendämtern liegt ganz auf dem Kindeswohl; das Schicksal der Mütter (und ihrer Partner) ist demgegenüber nachgeordnet. Das entspricht dem Auftrag der Jugendämter. Unter Umständen erschwert die Fokussierung auf das Kindeswohl die Zusammenarbeit mit den Beteiligten, die sich einmal mehr nicht wirklich ernst genommen fühlen. Eine engere Zusammenarbeit mit der Suchthilfe könnte hier Abhilfe schaffen. Diese funktioniert bislang aber nur partiell und meist nur auf regionaler Ebene (siehe den Beitrag von Tödte in diesem Band). Die mittlerweile gut funktionierende Vernetzung der Polizei bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt mit den zuständigen Jugendämtern kann dazu führen, dass süchtige Frauen, die kleine Kinder haben und in einer gewalttätigen Partnerschaft leben, auch in Krisensituationen lieber nicht die Polizei zu Hilfe rufen. Sie fürchten sich vor den Konsequenzen, die mit einem Besuch von Mitarbeiter_innen des zuständigen Jugendamtes verbunden sein können. Im Zentrum steht die Angst davor, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern „die Kinder aus den Familien holt, die Kinder weg sind…“ (Interview 45). Diese Ängste sind nicht aus der Luft gegriffen, da es ja wirklich viel Gewalt in etlichen Partnerschaften gibt, und da die Sucht der Mütter (und ihrer Partner) die Situation zusätzlich belastet. Hier werden Konfliktlinien deutlich, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Die Suchthilfe Die Frauen in unserer Studie haben eine Vielzahl der Angebote der Suchthilfe genutzt bzw. nutzen sie immer wieder. Pauschal genommen, schätzen die Frauen die Angebote der Suchthilfe. Das hindert sie nicht, Kritik an Institutionen, Angeboten und Personen vorzubringen. Mit Bezug auf die Behandelnden in der Suchthilfe variieren die Urteile zwischen sehr gut, zufrieden und in einigen Fällen schlecht. Frauen, die mit ihren Behandelnden sehr unzufrieden sind, neigen dazu, die Behandlungen abzubrechen. Werden die Behandelnden als sehr gut oder gut eingeschätzt, halten die Frauen die Beziehung zu diesen und zu den Institutionen, in denen die Behandelnden arbeiten, oft viele Jahre lang aufrecht. „…wie soll ich das jetzt formulieren? Sie wertschätzt mich, und das ist auch in der Fachklinik so. Also, da hab’ ich so viel Wertschätzung trotz meiner Krankheit erfahren, dass ich, dass ich da einen ganz großen Wert drauf lege. Also, und sie, wenn ich einen Rückfall



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habe, sie ist trotzdem noch immer die Frau Schneider [die Therapeutin], die ich brauche. Nä, also sie macht mir das nicht zum Vorwurf, was in der Klinik und im Krankenhaus anderes ist.“ (Interview 4)

Die Wertschätzung der Behandelnden ist für die Frauen sehr wichtig. Das motiviert sie, die Behandlung in einer Institution durchzuhalten. Das kann sie auch dazu motivieren, eine gewalttätige Beziehung zu beenden, worauf im Folgenden noch einmal eingegangen wird. In vielen Einrichtungen der Suchthilfe, insbesondere in Anlaufstellen und in manchen Beratungsstellen, ist das Thema Gewalt kein Selbstläufer. Das heißt, dass Gewalt zwar zur Kenntnis genommen wird, aber inhaltlich nicht thematisiert oder reflektiert wird. In den meisten Einrichtungen gibt es keine Handlungsanweisungen, wie mit Opfern von Gewalt oder mit Gewalttätern in der eigenen Klientel umgegangen werden soll. Es gibt allenfalls Regelungen darüber, wie sich die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Einrichtungen vor Gewalttätigkeiten der Klientel schützen können (vgl. Fais 2012, Westermann 1999). In stationären Einrichtungen ist das etwas anders; in einer Reihe von stationären Kliniken gehört es heute zum Repertoire, nach Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend zu fragen. Etwas weniger Gewicht wird auf Gewalt im Erwachsenenleben gelegt. Weil aber Gewalt ein so häufiges Vorkommnis im Leben von süchtigen Frauen ist, wünschen sich etliche von ihnen ein stärkeres Engagement der Suchthilfe, wenn es um diese Dualproblematik geht. Sie wünschen sich Anlaufstellen (nicht nur für süchtige Sexarbeiterinnen), an die sich süchtige Frauen, die mit einem gewalttätigen Partner (und Kindern) zusammenleben, wenden können und in denen sie beraten werden. „Aber natürlich wär‘ es toll, wenn man auch dort, wo man sich aufhält und da auch sieht: Hier, na, habt ihr ein Problem mit Gewalt? Meldet euch bei uns. Also auch an den Plätzen, wo halt die Sozialarbeiter und die Suchthelfer halt arbeiten. Dass dort auch extra nochmal zum Beispiel aushängt oder so, weil das hab‘ ich noch nicht gesehen.“ (Interview 22)

Ärzte und Ärztinnen Wenn es um die Versorgung von Verletzungen als Folge von häuslicher Gewalt geht, scheinen Ärzte und Ärztinnen für süchtige Gewaltopfer nicht sehr wichtig

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Name geändert.

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zu sein. Jedenfalls nehmen die Frauen in dieser Studie ärztliche Hilfe nach häuslicher Gewalt eher selten in Anspruch. Auch verlaufen die Besuche bei Ärzten/Ärztinnen nicht immer positiv, was oft auch an der Verknüpfung mit der Sucht liegt. Einige Frauen beklagen sich über die Behandlungen durch Ärzte/Ärztinnen. „Die [Ärzte] denken: Ach, das sind Junkies, das sind keine Menschen. Das hat mir schon der Kinderarzt so gesagt. Ich bin fast vom Stuhl gefallen. Der Kinderarzt von meiner Tochter sagte mir: Ich hab’ Erfahrungen mit Junkies gemacht. Und wenn ich schon höre dieses Wort Junkie, ja, ich bin kein Junkie, ja. Ich bin ein Mensch, wo suchtkrank ist, und ich versuche ja und ich mache, ich tue ja was dagegen. Ja. Der hat direkt gesagt: Ich hab’ schlechte Erfahrungen gemacht, und ich glaube nicht, dass die so lange aushalten. Das hat er mir direkt gesagt… Ja. Ist leider so. Wir werden oft in eine Schublade gesteckt und zugemacht, weil viele denken oder viele haben keine Ahnung von uns. Die denken: Ach, das sind Junkies, das sind keine Menschen.“ (Interview 28)

Frauen, die wegen Verletzungen nach häuslicher Gewalt oder durch Freier einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen, werden nur in Ausnahmefällen nach den Ursachen ihrer Verletzungen gefragt. Meist weichen die Frauen aus und sprechen nicht über häusliche Gewalt. Kommt es doch zu einem solchen Gespräch, scheinen sich die Ärzte und Ärztinnen auf die üblichen Ratschläge zu beschränken: Die Frauen sollen den Gewalttäter (möglichst sofort) verlassen. Das hilft ihnen nicht weiter. Ausharren – Verändern – Aussteigen: Leben mit oder ohne häusliche Gewalt Auf der Grundlage der qualitativen Interviews mit den 45 süchtigen Frauen, die allesamt von Gewalt betroffen sind, wurden vier Szenarien herausgearbeitet, wie die Frauen mit den Gewalttätigkeiten in ihren Partnerschaften und allgemeiner mit ihrer Lebenssituation umgehen. Zum einen gibt es eine Gruppe von Frauen, die wenig Absicht erkennen lässt, an der aktuellen Lebenssituation etwas zu ändern. Die Liebe scheint die Personen aneinander zu binden, wohl auch das Bewusstsein, dass es nicht viele Menschen gibt, die sie mit ihren „Macken“ und Fehlern ertragen würden. „… ich hab’ manchmal das Gefühl, abhängig zu sein von diesem Mann, weil er halt mit beiden Beinen im Leben steht. Und ich aber auch weiß, dass ich ohne ihn nicht zurecht-



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kommen würde oder dass es auch keinen Mann mehr geben würde, der mich so nimmt, wie ich bin, mit all meinen Macken.“ (Interview 25)

Diese Frauen sprechen nur selten über die Gewalttätigkeiten in ihrer Partnerschaft. Sie fürchten sich davor, dass sie zurückgewiesen werden, wenn sie sich gegenüber Dritten öffnen. Ebenso fürchten sie sich vor Vertrauensbruch. Eine zweite Gruppe von Frauen erfährt Veränderung eher passiv. Ihre Partner werden krank und schwach und können deshalb nicht mehr zuschlagen. „… er hat mich auch geschlagen. Er hat sich dann zwar immer hinterher entschuldigt, aber er war eben auch so sehr emotional und er wollte mich, er wollte mich so haben, wie, wie er’s hatte, oder wie er das Bild – und das konnte ich ihm nicht geben. Und dann war das aber drei Jahre vor seinem Tod, also 2004. Da hatte er dann gesagt: Mariechen, ich mach das nicht mehr, ich schlag dich nicht mehr. Das muss ich schon auch sagen. Ja? Naja.“ (Interview 4)

Bei anderen führen langjährige Haftstrafen, die der Partner absitzen muss, zu einer Abkühlung der Beziehung, aber nicht notwendig zu einer Trennung. Nach einiger Zeit beginnen manche Frauen, denen der Zufall zu Hilfe kommt, ihr Leben neu ein- und auszurichten. Wenn das Glück auf ihrer Seite ist, ist der nächste Partner weniger oder gar nicht gewalttätig. Sie selbst tragen eher wenig dazu bei, dass ihre nächste Partnerwahl glücklicher ausfallen wird. Eine dritte Gruppe beendet oft nach langen Jahren die Beziehung zum gewalttätigen Partner. Der Prozess ist langsam. Diese Frauen haben meist noch dünne, aber funktionierende soziale Netzwerke. Sie öffnen sich gegenüber Familienmitgliedern oder Freundinnen und sprechen mit diesen über ihre Sucht und die Gewalt in ihrer Beziehung. In wichtigen Lebensabschnitten erhalten sie informelle Unterstützung. Sie sind auch in der Lage, formale Unterstützung für sich zu organisieren und zu nutzen. Kommt es zur Trennung vom gewalttätigen Partner, beginnt für diese Frauen ein neuer Lebensabschnitt. „Ich weiß nimmer genau, wann’s war oder wie, es war auch nach einem längeren Prozess, bis ich dann soweit gekommen bin. Aber ich hab’s dann tatsächlich irgendwann geschafft, dass ich mich dann von ihm getrennt hab’, ja, ja… Ich bin ausgezogen und hab’ mir dann, bin erstmal wieder heim zu meiner Mutter und hab’ mir dann selber eine Wohnung gesucht, ja.“ (Interview 49)

Schließlich gibt es eine vierte Gruppe von Frauen, die ein deutlich anderes Muster bei der Beendigung einer gewalttätigen Partnerschaft aufweist. Es scheint so,



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als erreichten die Frauen in dieser Gruppe völlig überraschend und unvorhersehbar einen Kulminationspunkt – sie beschreiben es als den „Punkt, wo gar nichts mehr geht“ oder in dem es „Klick“ macht im Kopf –, der sie sofort und ohne Verzögerung handeln lässt (vgl. Brückner 2009). „Und dann sind wir auf der Autobahn stehen geblieben…. und ich sollte den großen Granada anschieben. Berg hoch. Hab’ ich natürlich net gepackt, gell. Und dann hab’ ich mir gedacht: Und jetzt ist deine Chance. Da bin ich über die Autobahn gerannt, morgens im Frühverkehr. Und das hat nur gehupt, gehupt, gehupt, gehupt. Bis irgendwann stand ich mit der Polizei am Rand. Mir war da, muss ich sagen, in dem Moment, alles egal. Ich hab’ gesagt: Lieber gehst Du jetzt hops, bevor Du mit dem noch zusammenbleibst. Da war so, das war einmalig in meinem Leben, dass ich mir so was antun wollte. Das war ja auch lebensgefährlich, über die Autobahn zu laufen, gell, im Frühverkehr. Irgendwie kam mir das dann plötzlich wie in den Kopf, das hat einfach, ich kann’s Ihnen gar net erklären, es hat Klick gemacht und dann bin ich fort… Der [Ehemann] kam immer wieder. Aber da bin ich nicht mehr zurück. Ich hab’ mich also nicht mehr, ich hab’ auch die Anzeige, die eine, net mehr zurückgenommen dann. Die hab’ ich dann bestehen lassen. Und hab’ ihn noch angezeigt wegen Trunkenheit am Steuer… Ich bin dann zu meiner Mutter – in der Zeit hat sie mir viel geholfen, ja.“ (Interview 3)

Scheinbar aus dem Nichts kommt die Entscheidung, jetzt und in diesem Augenblick zu handeln. Rückblickend und in der Reflexion erkennt diese Interviewte, dass die Handlung selbst einem Selbstmordversuch nahegekommen ist. In der Situation selbst hat das aber keinerlei Rolle gespielt. Wiederum spielen informelle Netzwerke eine wichtige Rolle. Mit Unterstützung der Mutter gelingt es ihr, die Partnerschaft auch formal zu beenden. Die Beispiele für aktive Trennungen weisen allesamt darauf hin, dass es schwierig ist, diese entsprechend vorzubereiten und zu planen. Offenbar kommt es stark auf den richtigen Moment an, eben diesen, an dem die Entscheidung „reif“ ist und die Handlung durchgezogen wird. Oder den Moment, in dem es „Klick“ macht und „nichts mehr geht“ (Interview 10), wobei es überhaupt keine Rolle spielt, ob die Handlung gerade in die Situation passt oder nicht. Dennoch ergeben sich aus den Interviews einige Hinweise darauf, in welcher Weise die Sozialarbeit süchtige Frauen, die in Gewaltbeziehungen leben, unterstützen und stärken kann, damit sie im rechten Moment die Kraft finden, sich für eine andere Lebensweise zu entscheiden.



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F OLGERUNGEN

FÜR DIE

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P RAXIS

Wie mit dieser Studie gezeigt werden konnte, spielen bei Frauen, die Probleme mit psychoaktiven Substanzen haben und als suchtkrank diagnostiziert worden sind, Gewalterfahrungen in der Kindheit und im Erwachsenenleben eine enorme Rolle. Allerdings gibt es unterschiedliche Muster, wie sich Gewalt mit Sucht und Sucht mit Gewalt verschwistern. Für die Praxis ist es wichtig, die Vielfalt der persönlichen Entwicklungen wahrzunehmen und in der Behandlung zu berücksichtigen. Frauen, die schon in der Kindheit Opfer von (sexueller) Gewalt geworden sind, und die später im Leben psychoaktive Mittel „entdeckt“ und dann exzessiv genutzt haben, benötigen möglicherweise eine andere Art von Unterstützung, um sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen, als Frauen, die erst später im Leben Opfer von Gewalt geworden sind. Es ist auch denkbar, dass die verschiedenen Gruppen von Frauen, wenn sie in der Folge ihrer Gewalterfahrungen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben, unterschiedliche Behandlungen ihrer Traumata benötigen. Diese Diskussion steht aber noch ganz am Anfang. In jedem Fall weisen alle Daten und empirischen Ergebnisse darauf hin, dass das Thema Gewalt in der Suchthilfe und in der Suchtforschung mehr Raum haben sollte, als das vielfach (noch) der Fall ist (vgl. dazu beispielsweise Vogt et al. 2015b und den Beitrag von Teunißen/Voigt in diesem Band). Die genaue Analyse der Interviews der Frauen, die aktiv eine Beendigung einer Gewaltbeziehung angehen, gibt einige Hinweise darauf, wie sie in der Vorbereitung und bei der Umsetzung unterstützt werden können. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es die Frauen selbst sind, die diese Entscheidungen treffen. Es ist zwar möglich, an sie zu appellieren und sie zu ermutigen, eine gewalttätige Partnerschaft zu beenden. Das wird aber nicht in jedem Fall sofort zu einem Erfolg führen, denn die Entscheidungsprozesse brauchen offenbar Zeit. Wenn das so ist, dann ist es nicht hilfreich, die Frauen zu einer Entscheidung zu drängen oder ihnen Auflagen zu machen, den gewalttätigen Partner zu verlassen. Aus taktischen und pragmatischen Gründen werden die Frauen dem Drängen nachgeben und behaupten, dass sie die Auflagen einhalten. Praktisch werden sie das nicht tun. Statt die Beziehung zu lockern, scheinen solche Interventionen diese zu verfestigen. Auch der Ratschlag, den Partner, mit dem es immer wieder zu häuslicher Gewalt kommt, (sofort) zu verlassen, den alle Expertinnen und Experten und alle Freunde und Freundinnen und Bekannte den Frauen immer wieder geben, ist nicht zielführend. Die Frauen wissen ganz gut selbst, dass das Leben in einer gewalttätigen Partnerschaft nicht ideal ist. Manche sagen ganz offen, dass ihnen



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diese Verbindung nicht gut tut – und dennoch können sie sich nicht von diesem Partner trennen. Das liegt u. a. daran, dass die Frauen an ihren Partnern hängen, weil diese ihre „Macken“ ertragen, sie immer wieder in den Arm nehmen, ihnen suggerieren, dass sie sie verstehen und eben „lieben“. Diese Gefühle beruhen meist auf Gegenseitigkeit: Die Partner hängen genauso an den Frauen wie diese an ihnen. Man braucht sich gegenseitig; das bindet aneinander. Trennung gelingt erst dann, wenn sich die Gefühle für den Partner abkühlen, die Liebe abnimmt oder – plötzlich – weg ist. Wichtige Hilfen bei der Vorbereitung der Entscheidungsprozesse sind Interventionen z. B. durch Sozialarbeiter_innen, die darauf abzielen, das Selbstwertgefühl der Frauen zu fördern bzw. wiederherzustellen. Die Botschaften, die an die Frauen gehen, müssen glaubwürdig sein. Das funktioniert nur dann, wenn die Beratenden selbst davon überzeugt sind, dass die Süchtigen wertvolle Menschen sind, die ein besseres Leben verdient haben. Gespräche in Anlauf- und Beratungsstellen können das ebenso leisten wie Mitarbeiter_innen in der ambulanten oder stationären Therapie5. Manchmal gelingt es Laien sogar besser als Expertinnen und Experten in der Suchthilfe, entsprechende Botschaften zu vermitteln, wie das folgende Beispiel zeigt. „… und irgendwann hab’ ich mich dann auch einer Ausbildungskollegin da auch anvertraut… Aber sie hat mir halt ans Herz gelegt und sie hat mir halt auch mal vor Augen gehalten, dass ich eigentlich doch, dass ich, dass ich mir viel, selber viel zu, naja, nicht wertvoll genug bin. Und die hat mir eben auch mal so ne Wertschätzung gegengebracht. Mir auch mal gezeigt: Ey, Du hättest was Besseres verdient und, ne: Du bist nicht so, wie er dir das Gefühl gibt zu sein. Und ja, dass halt mehr in mir steckt als ich eigentlich angenommen hab’ und dass, ja, ja, eigentlich so die Wertschätzung, ja, die hat sie mir so ein bisschen, hmm. Das hat mir gutgetan und, ja, die hatt’ ich ja bei ihm gar nicht mehr. Das hat mir auch, das hat mir viel geholfen damals.“ (Interview 49)

Die Wertschätzung ist für die Frauen so wichtig, weil sie von sich selbst sagen, sie seien wertlos, ja sogar minderwertig. „Und die meisten schämen sich einfach, weil ja, da auch manchmal recht schamhafte Situationen abgehen. Dass man sich das, dass man das mitgemacht hat. Dass man sich’s, ja, irgendwo hat gefallen lassen. Dass man diese Opferposition mitgelebt hat. Also, ich hab’ wie oft von Leuten gehört, so: Das wär’ mir nie passiert, ich würd’ mich nie schlagen las-

5

Es versteht sich von selbst, dass solche Interventionen eine gute Schulung in Gesprächsführung voraussetzen.



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sen. So. Und das macht mich minderwertig. Weil die würd’ sich das nicht gefallen lassen. Ich hab’s mir gefallen lassen. Ich hatte zu viel Angst.“ (Interview 11)

Bei manchen Frauen haben die Gefühle, nichts wert zu sein, eine lange Geschichte; sie reichen weit zurück in die Kindheit, in der sie von Eltern, Geschwistern oder anderen abgewertet worden sind. Schläge von einem Elternteil und sexuelle Übergriffe durch andere Personen (in der weiteren Familie) verfestigen das Unwert-Urteil, das die Frauen letztlich in ihr Selbstbild übernehmen. Bei anderen setzen sich die negativen Werturteile über die eigene Person erst später fest, eben mit der Verschwisterung von Sucht und Gewalt. Als Ergebnisse von Prozessen der Selbststigmatisierung tragen sie dazu bei, dass der Handlungsspielraum der Frauen beschränkt ist. Nicht zuletzt liegt das auch daran, dass die süchtigen Frauen, die zudem Opfer von Gewalt sind, immer wieder die Erfahrung machen, dass sie von manchen Expertinnen und Experten der helfenden Berufe sowie von manchen Polizisten und Polizistinnen abgewertet und diskriminiert werden. Solche Erfahrungen verstärken die negativen Werturteile über die eigene Person. Umso dankbarer sind sie, wenn sie im Gespräch mit einer Vertrauensperson, einer Sozialarbeiterin oder in der Suchttherapie hören, dass sie wertvoll sind, und wenn sie wahrnehmen, dass sie wertgeschätzt werden. Das kann den Handlungsspielraum öffnen und zur Entscheidungsfindung beitragen.

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Trauma und Bindungsstörungen bei Frauen S ILKE B IRGITTA G AHLEITNER

E INLEITUNG In den letzten Jahrzehnten ist eine Reihe von Publikationen im Trauma- und Bindungsbereich entstanden. Ein geschlechtsdifferenzierter Blick auf die beiden Phänomene kann jedoch immer noch als Seltenheit betrachtet werden. Besonders interessant wird ein geschlechtssensibler Blick entlang einer „Post-Bowlbyschen-Denkweise“ (Drieschner 2011: 11), wenn also bindungstheoretische Aspekte sozial kontextualisiert und im Sinne breiter Interaktionserfahrungen unter Einbezug gesellschaftlicher und historischer Einflüsse verstanden werden. Tatsächlich hat sich in der modernen Bindungstheorie in den letzten Jahren eine derartige „soziale Öffnung“ vollzogen, und bindungstheoretisches Wissen wird zunehmend als komplexe, keineswegs ausschließlich auf die Kindheit bezogene und nicht nur in der Kleinfamilie stattfindende Entwicklungstheorie verstanden. Gelungene oder weniger gelungene Interaktionen werden aus dieser Perspektive als ein grundlegendes Organisationsprinzip der gesamten – und lebenslangen – Entwicklung verstanden und damit auch als zentrales „Veränderungswissen“ psychosozialer Intervention. Diese Interaktionen wiederum sind jedoch jeweils beeinflusst von geschlechtsbezogenen Aspekten. Der Beitrag greift diese Überlegungen aus interdisziplinärer und integrativer Perspektive auf und reflektiert Trauma- und Bindungsgeschehen auf diese Weise für die psychosoziale Arbeit mit suchtbetroffenen Frauen.



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T RAUMA

UND

G ESCHLECHT

Die Kategorie Gender als gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit durchdringt auf breiter Ebene individuelle wie soziale Erfahrungen. Der Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität nimmt daher in starkem Maß darauf Einfluss, wie wir Krisen und Traumata erleben und bewältigen. Die Berücksichtigung geschlechtsbezogener Aspekte und ein daraus abgeleiteter gendersensibler Umgang eröffnen damit neue, häufig unberücksichtigte Chancen in der Unterstützung traumabelasteter Menschen. Allerdings muss dafür ein tieferer Blick auf Genderaspekte erfolgen, denn Geschlechtsidentität kann heutzutage nicht mehr als etwas Eindeutiges, Geradliniges und Widerspruchsfreies begriffen werden. So haben sich geschlechtsbezogen getrennte Verhaltensbereiche für Jugendliche auffällig zueinander geöffnet (vgl. Fritzsche/Münchmeier 2000). Sogar im Bereich des stark geschlechtsdifferenzierten Phänomens Aggression lassen sich interessante Entwicklungen verzeichnen. Mädchen wurde in diesem Bereich traditionsgemäß stärker indirekte Aggression zugeschrieben, während Jungen stärker offene Ausdrucksformen zu „wählen“ scheinen (vgl. Petermann/Petermann 2000). In ihrer Forschungsarbeit „Mit Gewalt kannst Du Dir Respekt verschaffen“ machen Bruhns und Wittmann (2002) jedoch anschaulich, dass sich auch für Mädchen und Mädchenbanden offene Gewalt zunehmend als gangbare und zielführende Strategie der Problembewältigung anzubieten scheint (vgl. auch Kreuzer/Geiger-Battermann 2008). Seit der Gedanke von Geschlecht als sozialer Konstruktion unter dem Stichwort „Dekonstruktion“ insbesondere von Butler (1991) weiter radikalisiert wurde, sind lebensgeschichtliche Entwicklungen und individuelle Bedingungskonstellationen auch auf der Theorieebene nicht mehr so einfach festzuschreiben (vgl. jedoch kritisch dazu Maihofer 1995, 2004). Ist Geschlecht also als Strukturkategorie damit seit der Jahrtausendwende erledigt? – Nicht so, wenn Daten aus geschlechtsdifferenzierender Forschung in übergeordneten Bereichen betrachtet werden: Frauen kamen zwar früher „in den Machtzentralen des öffentlichen Lebens noch weniger vor als heute“ (Peine 2015: 4), aber auch heute noch gilt: Während Männer lernen, Gefühle wie Angst, Trauer und Scham, derer sie sich nach gesellschaftlichen Vorstellungen schämen müssen, zu unterdrücken, bis sie sich selbst nicht mehr richtig wahrnehmen, laufen Frauen Gefahr, sich aggressive Regungen zu versagen und so den Zugang zu sich selbst zu verlieren (vgl. Bourdieu 2005). Richtig jedoch ist, dass sich die Themen und Lebensbereiche, in denen Geschlecht uns betrifft, gewandelt haben (vgl. Swazina et al. 2004). „Sozialstruktu-



T RAUMA UND B INDUNGSSTÖRUNGEN BEI F RAUEN

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relle Probleme sozialer Desintegration vermitteln sich in biografischen Integrations- und Identitätskrisen und entsprechenden kritischen Lebensereignissen“, bemerken Stecklina und Böhnisch (2004: 224). Es erstaunt daher nicht, dass in der Folge von Krisen häufig „destruktive Geschlechtsextremisierung“, für Frauen beispielsweise in Form „weiblicher Opferschaft und Reviktimisierung“, zu beobachten ist. Geschlecht ist also – bezogen auf die vorliegende Thematik, wie Frauen ihr Suchtgeschehen bewältigen und wie wir sie dabei unterstützen können – auf keinen Fall eine Fiktion. Geschlecht ist somit als strukturierende Kategorie im Lebensalltag ständig präsent und wird in sämtlichen Interaktionen und Dialogen immer wieder neu reproduziert. Schwach und ohnmächtig zu sein, passt beispielsweise nicht in unser gesellschaftlich vermitteltes Jungenbild. Umgekehrt hat ein aggressives, gewalttätiges Mädchen häufig schärfere Sanktionen zu erwarten als ein gleichaltriger Junge. Emotionale Expressivität und Sensibilität für die Gefühle anderer entsprechen bei Frauen damit zwar ihren gesellschaftlichen Funktionen als Mütter, erschweren jedoch heute ihre berufliche Konkurrenzfähigkeit. Frauen erleiden auch ungleich häufiger als Männer sexuelle Gewalt im sozialen Nahraum und ungefähr doppelt so häufig traumatische Krisen (vgl. Kolip 1997). Zahlreiche Forschungsarbeiten haben inzwischen aufgezeigt, wie und in welchen Prozessen Gender individuell und gesellschaftlich konstruiert wird (vgl. u. a. Connell 1999; Gildemeister/Wetterer 1995). Auch aus der Traumaforschung ist dieses Phänomen bekannt. Traumata erschüttern Betroffene schwer in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung. JanoffBulman (1985) spricht von „shattered assumptions“: einer fundamentalen Erschütterung grundlegender Überzeugungen wie Selbstwahrnehmung, Erwartungen in Bezug auf die Welt und Gefühle der Sicherheit und Geborgenheit darin (vgl. zur Dynamik von Trauma und zur Interaktion mit dem Suchtgeschehen ausführlich Teunißen/Voigt in diesem Band). Krisen und Traumata treffen also unmittelbar auf geschlechtsdifferenzierte Konzepte des Selbst und werden im Kontext dieser Systeme verarbeitet. Bei kleinen Kindern ist dies noch nicht so stark zu beobachten. Die geschlechtsbezogenen Auswirkungen kristallisieren sich jedoch im Prozess der weiteren Verarbeitung – und damit der Sozialisation – heraus. Männer neigen beispielsweise mehr als Frauen dazu, kritische Lebensereignisse und Krisen zu verharmlosen. In der Symptomatik der Folgeerscheinungen zeigen sich bei Frauen häufig mehr psychosomatische Erscheinungen und autoaggressive Verhaltensweisen, bei Männern mehr aggressive Durchbrüche oder aber autoaggressive Tendenzen mit spektakulären Aktionen wie beispielsweise Drogenkonsum und Risikoverhalten. Insbesondere die hohe Wahrscheinlichkeit



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für Frauen, Viktimisierungen zu erfahren, lässt sich immer wieder beobachten (vgl. ausführlich Gahleitner 2005b). Aus dem psychosomatischen und stärker autoaggressiv geprägten Leidensdruck bei Frauen kann dann die Chance entstehen, kritische Lebensereignisse, Traumata und Krisensituationen konstruktiv zu verarbeiten. Allerdings besteht dabei – ähnlich wie bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen – die Gefahr, sich in einer „Leidenskarriere“ zu verfangen. Ohne auch aggressive Gefühle zuzulassen und Verantwortung zu übernehmen – nicht für die entstandene Krisensituation, aber für ihr weiteres Leben – scheint Frauen eine ähnliche Stagnation zu drohen wie Männern, die tendenziell eher in aggressiven Gefühlen und Handlungen verhaftet bleiben. Erfolgt jedoch eine Auseinandersetzung mit der Krisensituation und eine anschließende Aufarbeitung zentraler Ursachendynamiken, kann dagegen sowohl die aggressive als auch die autoaggressive Spirale durchbrochen werden. Bis heute gilt daher: „Es muss für Frauen eine andere, frauenspezifische Therapie geben, in dem [sic] sie ihre Themen geschützt bearbeiten können. Indem die Geschlechterverhältnisse, die Normen und Erwartungen, die daraus für Frauen gelten, besprechbar werden, in der die Reproduktion der Machtverhältnisse thematisiert und verhindert wird“ (Peine/Preuss 2013: 9). Denn: Für den Lebensverlauf von Frauen wie Männern ist nach tief greifenden Krisen und kritischen Lebensereignissen die Verfügbarkeit aller erdenklichen Verarbeitungsstrategien von so großer Bedeutung, dass eine gewisse Loslösung von typischem Rollenverhalten sich für Männer wie Frauen als „heilsam“ erweist. Einrichtungen der psychosozialen und medizinischen Versorgung müssen sich daher – gerade im Suchtbereich – mit der Frage nach geschlechtsbezogenen Einstellungen und Haltungen zu psychosozialen inneren wie äußeren Konflikten auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung kann jedoch nicht mit Trauma- und Genderkompetenz enden, für die angemessene Versorgung suchtbetroffener Frauen spielt das damit unmittelbar verknüpfte Bindungsgeschehen eine noch grundlegendere Rolle.

B INDUNGSTHEORIE ( N )

AKTUELL

Bindung ver-‚bindet‘ Menschen mit „anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg“ (Grossmann/Grossmann 2004: 29; vgl. bereits Ainsworth 1973). Sie basiert auf der menschlichen Neigung zu einem kontinuierlichen „Aufsuchen und Aufrechterhalten der Nähe eines anderen Lebewesens“ (Bowlby 2006a: 192). Aus den zahlreichen Interaktionen entwickeln sich im Laufe



T RAUMA UND B INDUNGSSTÖRUNGEN BEI F RAUEN

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der Entwicklung innere Modelle des Erlebens und Verhaltens und der damit verbundenen Gefühle. Bindung stellt damit eines der tragfähigsten Erklärungsmodelle für die Beeinflussung der Entwicklung des Menschen durch Umweltfaktoren im Gegensatz zu biologisch-dispositionellen Vorstellungen dar. Mit dieser „emotionalen Entwicklung des Menschen, mit seinen lebensnotwendigen soziokulturellen Erfahrungen“ (Grossmann/Grossmann 2004: 30) hat sich insbesondere die Bindungstheorie und -forschung befasst. Wenn man also ernst nimmt, dass Psychogenese ohne Soziogenese nicht stattfinden kann, dann zählt bei der Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit als „verkörperte interpersonale Entwicklung [...] durch gemeinsame soziale Praxis“ (Fuchs 2010: 206) jeder Begegnungsmoment. Unter dieser Prämisse kommt dem Hilfegeschehen eine „Art Wiederholung und Neustrukturierung defizitärer Kindheitserfahrungen“ (Sander 1999: 53) zu. Diese Chancen entfalten sich jedoch nur, wenn ich das „soziale Gewordensein“ meiner Adressat_innen aus einem biografisch-lebensweltlichen Zugang heraus professionell und adäquat verstehe und auf diese Weise im Verstehensprozess die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, physischen und alltagssituativen Dimensionen fachkompetent ausleuchte. Dazu gehören natürlich elementar auch die oben ausgeführten geschlechtsbezogenen Aspekte. Für dieses Ausleuchten bedarf es aber auch entsprechenden Hintergrundwissens aus dem Bereich der Bindungstheorie – allerdings entlang einer „PostBowlbyschen-Denkweise“ (Drieschner 2011: 11), nach der Bindungsphänomene sich lebenslang und in breiten sozialen Kontexten vollziehen. Interessanterweise widmete sich auch schon Bowlby zu Beginn seiner Überlegungen in beträchtlichem Maß der Behandlung von multiproblembelasteten Kindern, also einem klassischen Feld der Sozialen Arbeit – und sehr nahe dem heutigen Suchtbereich (vgl. hier und im Folgenden Gahleitner 2014). In den Biografien der Kinder und Jugendlichen stieß er immer wieder auf frühkindliche Entbehrungen und Traumata. Seinen Überlegungen zufolge wird in Situationen von Verunsicherung Bindungsverhalten aktiviert. Ist das Sicherheitsbedürfnis gestillt, kann das Kind „explorieren“, also spielen, und sich weiterentwickeln. Die Abwesenheit stabiler Bindungspersonen hingegen behindert dieses „Explorieren“ und damit die Entwicklung sämtlicher emotionaler, kognitiver und sozialer Fähigkeiten (vgl. Bowlby 1973, 2006b). Ausschlaggebend für das Gelingen dieses Prozessgeschehens ist daher die Verfügbarkeit mindestens einer unterstützenden Bezugsperson im Hinblick auf die Bedürfnisse und Signale des Kindes, man spricht auch von „schützende[n] Inselerfahrungen“ (Gahleitner 2005a: 63). Um eine solche stabile Bindung zu ermöglichen, müssen Fürsorgepersonen die (Grund-)Bedürfnisse der Säuglinge



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in einer „feinfühligen Weise“ (Ainsworth et al. 1974) beantworten. Die Signale des Kindes werden dann richtig wahrgenommen und interpretiert sowie prompt und angemessen beantwortet (sog. Konzept der Feinfühligkeit). Aus den Erfahrungen, die der Säugling auf diese Weise mit seinen Betreuungspersonen macht, resultiert ein Gefühl der Gebundenheit, das verschiedene Qualitäten annehmen kann (vgl. Fonagy et al. 2004; Main et al. 1985). Die daraus entstehenden Bindungstypen und später internalen Arbeitsmodelle enthalten Erinnerungen an bisherige Interaktionen und daraus entstandene Erwartungen bzw. Beziehungsziele an sich selbst und an andere. Weitere prägende Erfahrungen im späteren Leben, so wissen wir heute, überformen jedoch die frühen Erfahrungen mit den Eltern. „Neue Beziehungen [...] haben ein hohes Gewicht für die Ausgestaltung des Bindungsstils. [...] Die ursprünglichen Repräsentationen werden schrittweise verändert, wenn neue Beziehungspersonen hinzukommen. Die ursprünglichen Bindungsstile werden substanziell reorganisiert oder sogar ganz ‚überschrieben‘.“ (Bierhoff/Rohmann 2010: 75) Die Bindungstheorie gibt demnach nicht nur Antworten auf Fragen zur frühen Kindheit. „In jedem Alter sind Bindungsgefühle und Bindungsverhalten eng mit der gesamten Entwicklung verbunden, mit der Entwicklung von Denken, Planen, Wollen, der Entwicklung der Selbstständigkeit, der Selbstkontrolle und der sozialen Fähigkeiten.“ (Grossmann/Grossmann 2004: 25) Umgekehrt betrachtet wird ein negatives soziales Umfeld postwendend zum Risikofaktor für die weitere Entwicklung. Bindungserfahrungen können so als Kernbereich der sozialen Einbettung verstanden werden (vgl. Dornes 1999). Diese – bewältigungsorientierte – Perspektive reicht sowohl „in das [...] Innere des Subjekts als auch in seine Interaktionssphäre“ (Böhnisch et al. 2009: 28f.), erfasst die biografische Aufschichtung von Bewältigungserfahrungen und weist immer wieder darauf hin, dass „Aneignungskulturen in sozialen Milieus“ (ebd.: 51) verortet sind. Wie aber muss man sich das genau vorstellen? – Im Gegensatz zur Entstehung einer sicheren Bindungsbasis in den ersten Lebensjahren erleben Kinder ohne einen sicheren Hafen eine bedrohliche Doublebind-Situation: Einerseits das existenzielle Bedürfnis, sich der Bezugsperson zu nähern, andererseits dort nicht sicher zu sein oder gar bedroht. Dies hinterlässt beim Kind einen unlösbaren Bindungskonflikt mit der Folge massiver innerer Spannungen (vgl. Brisch 2003). Muss ein Kind beispielsweise die Erfahrung machen, von einem Elternteil misshandelt oder vernachlässigt zu werden, gerät es dadurch in ein kaum lösbares Dilemma: Die Person, von der es Schutz und Hilfe erwartet, fügt ihm physische bzw. psychische Schmerzen zu. Das Kind macht dann die nur schwer in eine sinnvolle Erwartungsstruktur zu fassende paradoxe Erfahrung, dass gerade die Äußerung von Bindungswünschen



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Schutz und Sicherheit verhindert. So kann es nicht lernen, bindungsrelevantes, stabilisierendes und strukturierendes Verhalten zu entwickeln und positiv zu integrieren. Fatalerweise führt dieser Konflikt jedoch zu einer verzweifelten Suche nach Bindung – ein Teufelskreis, der impliziert, dass solche Kinder häufig eine starke, aber äußerst maligne Bindung entwickeln (vgl. Grossmann 2002). In den Bereichen sexueller Gewalt und Sucht lässt sich dies besonders häufig beobachten. Die Beobachtung von Kindern mit solchem und ähnlichem Verhalten führte daher zur Einführung einer weiteren Bindungsklassifikation. Diese sog. „desorganisierte Bindungsklassifikation“ kann zusätzlich zu den drei Bindungstypen sicher, unsicher-ambivalent und unsicher-distanziert auftreten und wird auch diagnostisch zusätzlich zu diesen vergeben. Hierzu zählen Kinder, bei denen über bestimmte Phasen hinweg kein konsistentes Bindungsmuster beobachtet werden kann. Die Kinder zeigen beispielsweise stereotype Verhaltensweisen, erstarren mitten in einer bindungsrelevanten Situation oder wechseln chaotisch zwischen verschiedenen Bindungstypen (vgl. Main/Hesse 1990; Solomon/George 1999). Werden diese desorganisierten Anteile sehr groß, entwickelt sich eine „Bindungsstörung“, die nicht selten in komplexe komorbide Störungen oder Persönlichkeitsstörungen übergeht (vgl. Crittenden 1995), ein besonders häufiges Phänomen in der Arbeit mit suchtbelasteten Frauen.

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UND BINDUNGSSENSIBEL INTERVENIEREN

Bowlbys (1973, 2006b) ursprünglich durchaus komplex angelegte Theorie verengte sich in der Rezeption eine Zeit lang stark auf die Mutter-Kind-Dyade und die ersten Lebensjahre. Dies führte vielfach zu berechtigter Kritik an der Bindungstheorie, für die Soziale Arbeit zu individuenzentriert, ethologisch und normorientiert ausgerichtet zu sein (vgl. insbesondere Beck-Gernsheim 1981). Heute hat sich die Bindungstheorie jedoch stark „sozial geöffnet“, aktuelle Diskussionen einbezogen (wie die Diskussion um den „kompetenten Säugling“ nach Dornes 1993; Stern 1992; aktuell Drieschner 2011) und lässt sich auch als Entwicklungstheorie im Sinne breiterer Interaktionserfahrungen unter Einbezug gesellschaftlicher und historischer Perspektiven verstehen. Hierzu gehören auch und insbesondere geschlechtsbezogene Aspekte. Eine darauf ausgerichtete psychosoziale Intervention arbeitet daher nicht nur in und an der Beziehungsdyade, sondern gestaltet nach dem Sozialitätsprinzip durch diese Beziehung hindurch das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Beziehungsumfeld der Klient_innen. In der Forschung wurde immer wieder



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deutlich, dass „emotional korrektive Erfahrungen“ den Erfolg professioneller Begleitung maßgeblich beeinflussen (vgl. Alexander/French 1946; Cremerius 1979; Grawe 2004; Orlinsky et al. 1994). Dafür gibt es inzwischen auch eine Reihe neurophysiologischer Belege (vgl. Drieschner 2011: 21, Rittelmeyer 2002). Aktuellen Forschungsergebnissen zufolge sind aus dieser Perspektive jedoch neben der Bindungstheorie insbesondere soziologisch geprägte Netzwerktheorien und Theorien sozialer Unterstützung heranzuziehen (vgl. Laireiter 2009; Nestmann 2010; Röhrle 2001). Eine auf diese Zielsetzung ausgerichtete Intervention arbeitet daher nicht nur an der Beziehungsdyade, sondern gestaltet nach dem Sozialitätsprinzip durch diese Beziehung hindurch das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Beziehungsumfeld der Klient_innen (vgl. Mallinckrodt 2001). Es geht also keineswegs nur um das Arbeiten in einer Dyade, sondern um die Herstellung von „wertschätzenden Verhältnissen“ im gesamten Umfeld – und dies auch in Bezug auf einen angemessenen Freiraum zur Entwicklung einer ausgeglichenen Geschlechtsidentität. Für eine solche Geschlechts- und Bindungssensibilität in der Suchtarbeit mit Frauen benötigt es allerdings bereits Trauma-, Bindungs- und Geschlechtssensibilität im Prozess der Diagnostik und des Fallverstehens (vgl. Gahleitner 2016). Gelingt dies, werden in der Arbeit mit traumatisierten, suchtbelasteten Frauen viele „emotional korrigierende Erfahrungen“ (Brisch 1999: 94) möglich. Man nennt diese Prozesse auch „Mentalisierungsprozesse“ (Fonagy et al. 2004). Das bedeutet, traumatisierte Suchtklient_innen (vgl. hierzu ausführlich Teunißen/Voigt in diesem Band) benötigen Alternativ-Erfahrungen, folglich möglichst viele „schützende Inselerfahrungen“, also Räume des Verstehens und des immer wieder neu Anknüpfens an konstruktive Veränderungsmöglichkeiten, die sich aus den Alltagssituationen ergeben. Dazu bedarf es nicht nur einzelner dyadischer Beziehungen, sondern umfassender Beziehungsnetzwerke – bis hinein in konstruktive Vernetzungssettings unter Institutionen (vgl. Gahleitner 2011: 56ff.). Kühn (2009) und Lang (2009) sprechen vom Begegnungsrahmen des „Sicheren Ortes“, einem Konzept aus der Traumapädagogik, das jenem der „schützenden Inselerfahrung“ stark ähnelt (vgl. Weiß 2013). Diese Konzepte weisen auch eine Reihe von Ähnlichkeiten auf zum Konzept der „pädagogischtherapeutischen Milieus“ (Gahleitner 2016), die im Rahmen der Traumapädagogik erneut Aufschwung erhalten haben. Stück für Stück können in „emotionalorientierten Dialogen“ in solchen Räumen „korrektive Erfahrungen“ gemacht und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglicht werden (Kühn 2009: 31). Knüpft diese Arbeit geschlechtssensibel und traumakompetent am jeweiligen



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Entwicklungsstand der Klient_innen an, können sich daraus viele neue Entwicklungsräume und -chancen ergeben, die helfen, maligne Bindungs- und Gendermuster zu überwinden und funktionellere Muster zu entdecken und zu leben (vgl. auch bereits Peine 2015).

A USBLICK Es ist inzwischen Disziplin übergreifend Konsens, dass die (Geschlechts-)Identität von klein auf in lebenslanger „aktiver Auseinandersetzung mit der [...] Umwelt“ (Hurrelmann/Ulich 1998: 4) aufgebaut wird. Bereits in der frühkindlichen Entwicklung bildet sich bei weiblichen und männlichen Kindern ein differentes, individuelles Geschlechtskonzept heraus (vgl. Trautner 1991). Nach wie vor erfahren wir Geschlechtsidentität real, und sie organisiert unsere Psyche. Manchmal ist sie zentral, manchmal marginal. Der ganze Prozess jedoch geschieht auf der Grundlage und in steter Interaktion mit der jeweiligen Bindungsund Beziehungsentwicklung. Menschliches Bewusstsein wird entlang dieser Überlegungen „soziologisiert“ verstanden, wie dies u. a. auch Elias (1939/1969) und Wygotski (1925/1985: 305) herausstellten, und Identitätsbildung als „Prozess, der sich durch und in Auseinandersetzung mit Anderen vollzieht“ (Schoneville/Thole 2009: 135; vgl. dazu auch Brumlik 2013). Das Problem dabei ist allerdings: Die in diesem Zusammenhang geforderte konsequente bindungsinformierte Biografie- und Lebensweltorientierung in Diagnostik wie Intervention stellt nicht nur für die Fachkräfte, sondern auch „für die psychosozialen Institutionen [...] eine Herausforderung dar; [...] möglicherweise sind nämlich die Institutionen [...] selbst Quelle von [...] Missachtung und Einschränkung“ (Filsinger 2003: 25; vgl. auch Thiersch 1992/2009). Filsinger (2003) fordert daher, Institutionen auf deren Deutungsmuster und Interaktionsordnungen zu evaluieren, ob sie das Ringen um intersubjektive Anerkennung, also um stete authentische Entwicklungs-, Beziehungs- und Geschlechtsausbildungsprozesse befördern oder unterlaufen. Suchtarbeit mit Frauen vollzieht sich aus dieser Perspektive in dem Bemühen, „Anschluss an die Erlebnis- und Handlungsperspektiven“ (Dörr 2002: 153) der Klientel zu finden. Allerdings hängt die Qualität der Beziehungs- und Vertrauensgestaltung dabei immer von beiden Interaktionspartner_innen ab. Es lässt sich vermuten, dass Helfer_innen, die sich bei ihrer Beziehungsarbeit mit desorganisiert gebundenen Kindern und Jugendlichen auf eigene sichere Bindungsrepräsentanzen stützen können, am besten geeignet sind, ihren Klient_innen bindungskorrigierende Erfahrungen zu ermöglichen. Dies aber ist ein nicht einlös-



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bares Ideal. Eigene Verwicklungen aufzuspüren und eigene Einflussmöglichkeiten realistisch einschätzen zu können, erweist sich jedoch als Ausweg aus malignen Verwicklungen. Insofern steht auch der eigene Bindungsstil der Professionellen zur Disposition und muss als Einflussgröße auf den gegenseitigen Vertrauensprozess von ihnen selbst mit reflektiert werden (vgl. Brisch 2011; Petrowski et al. 2013). Dies verlangt von der Fachkraft nicht nur eine stete Förderung der Klient_innen, sondern ‚er-fordert’ (vgl. Schmid 2002; vgl. auch Pfeiffer 1993) auch eine stete Entwicklungsbereitschaft der eigenen Person – letztlich einen persönlichen Einsatz zur authentischen Nähe einerseits und professioneller Distanz andererseits (vgl. Dörr/Müller 2007) sowie einer Reflexion der institutionellen und politischen Umgebungsverhältnisse. Gerade in der postmodernen globalisierten Welt, die von fragmentierten Erfahrungen, pluralen Lebenslagen und Milieus sowie extremer Individualisierung gekennzeichnet ist, sind soziale Ressourcen in Form stabiler psychosozialer Geborgenheit als positiver Gegenhorizont bedeutsam (vgl. Keupp 1997). Statt „Unabhängigkeit“ fordert der Fokus auf Beziehungsprozesse „Autonomie in Verbundenheit“ (Grossmann 2002: 39) und verweist auf ein „grundsätzliches Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung [...] auf sein Angewiesensein auf Gemeinschaft“ (Finke 2004: 4).

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Sucht und Traumafolgestörungen bei Frauen Datenlage, Diagnostik und theoretischer Hintergrund S YBILLE T EUNI SSEN & W IBKE V OIGT

E INLEITUNG Trauma besitzt für weibliche Suchtmittelabhängige eine geschlechtsbezogene Relevanz. So erfordert die Beschäftigung mit frauenbezogener Suchtarbeit stets eine Berücksichtigung der Bedeutung, die traumatische Lebenserfahrungen für die Entwicklung, den Verlauf und die Bewältigung von Suchterkrankungen bei Frauen haben. Im Folgenden wird zunächst die wissenschaftliche Datenlage zum Zusammenhang von Traumatisierungen, Suchtentstehung und -verlauf bei Frauen dargestellt. Anschließend werden die Folgen von Sucht und komorbiden Traumafolgestörungen in den Blick genommen und wesentliche Diagnosen praxisnah erläutert. Aufbauend auf den neurobiologischen und neurophysiologischen Korrelaten der Traumafolgen wird die Theorie der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit zum Verständnis der komplexen posttraumatischen Beeinträchtigungen herangezogen. Darauf aufbauend werden Implikationen für eine frauengerechte Suchthilfe, die Traumafolgestörungen integrativ berücksichtigt, formuliert.

Z USAMMENHÄNGE ZWISCHEN S UCHT , T RAUMATISIERUNG UND T RAUMAFOLGESTÖRUNGEN Interpersonelle Gewalterfahrungen im Kindes- und Jugendalter stellen einen wesentlichen Risikofaktor für die Suchtentwicklung von Frauen dar (vgl. Najavits et al. 1997, Langeland/Hartgers 1998, Simson/Miller 2002), dies gilt vor allem



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für polysüchtige und von illegalen Drogen abhängige Frauen im Unterschied zu Frauen mit abhängigem Alkoholkonsum (Neumann-Runde et al. 2004, Schäfer et al. 2010, Zenker et al. 2002; vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend bei Frauen in Suchtbehandlung (Zenker et al. 2002) Stichprobe 908 Frauen in einer Suchtfachklinik

Definition

Ergebnisse

Sexuelle Gewalt

Insgesamt

33,9 %

→ unfreiwillige sexuelle Handlungen oder Geschlechtsverkehr

Polysucht

24,1 %

Illegale Drogen

18,4 %

Alkohol plus

15,7 %

Alkohol

8,0 %

Physische Gewalt

Insgesamt

56,4 %

→ sehr harte Gewalt

Polysucht

20,4 %

Illegale Drogen

25,9 %

Alkohol plus

19,7 %

Alkohol

7,7 %

Außerdem kennzeichnet die Gruppe der Frauen mit einer illegalen oder polyvalenten Suchtmittelabhängigkeit, die Gewalt erfahren hatten, in der Untersuchung von Zenker et al. (2002) ein niedrigeres Einstiegsalter in den Substanzkonsum. Mit der deutlichen Assoziation von Traumatisierungen in der Kindheit und späterem Suchtmittelmissbrauch ist allerdings noch keine kausale Verknüpfung nachgewiesen. Ein weiterer wesentlicher Risikofaktor, der den Zusammenhang zwischen interpersonalen Traumatisierungen im Kindesalter und Suchtmittelabhängigkeit erklären kann, bildet die elterliche Suchtmittelbelastung (vgl. Krausz/Briken 2002, Zenker et al. 2002), die die Ausübung von Gewalt gegenüber Kindern wahrscheinlicher macht (vgl. Kreyssig 1998, Joraschky/Petrowski 2005). Die andauernden traumatischen Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt können in der Folge wiederum zu erneutem Suchtmittelkonsum aufseiten der Betroffenen führen (vgl. Quinten/Klein 1999). Für das Entstehen einer Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen im Kontext erlebter Gewalt in der Kindheit und Jugend ist auch das Fehlen protektiver Faktoren erheblich. Dem entsprechen die Daten einer Untersuchung von Beutel (2001), wonach Patientinnen einer Suchtfachklinik, die sexuelle Gewalt in der Kindheit erfahren hatten, im Umgang mit den belastenden Erfahrungen oftmals nicht unterstützt wurden. Eine Studie von Najavits et al. (1999) unterstreicht die Bedeutung fehlender stabilisie-



S UCHT UND T RAUMAFOLGESTÖRUNGEN BEI F RAUEN

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render biografischer Gegebenheiten bei der Entwicklung einer Suchterkrankung bei Frauen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Bei näherer Betrachtung der Funktionalität der eingesetzten Suchtmittel weisen verschiedene Ergebnisse darauf hin, dass die Selbstmedikationshypothese (vgl. Khantzian 1985), wonach bestimmte Substanzen eingesetzt werden, um posttraumatische Belastungssymptome zu bewältigen, wie beispielsweise belastendes Wiedererleben von Traumafragmenten, anhaltende Übererregung oder dissoziative Erlebnisweisen, für Frauen in besonderem Maß zutrifft (vgl. Brady et al. 1998, Yahne et al. 2002). Allerdings erleben suchtkranke Frauen auch in späterem Lebensalter noch häufig Traumatisierungen. So sind drogenabhängige Frauen, die der Beschaffungsprostitution nachgehen, in hohem Ausmaß dem Risiko körperlicher und sexueller Gewalterfahrungen ausgesetzt (vgl. Zumbeck 2006). Hinzu kommen die Gewalt dominierten Strukturen der Straßen-Drogenszene (siehe hierzu auch den Beitrag von Bernard in diesem Band). In Bezug auf Gewalt in Partnerbeziehungen treten Alkohol- und Drogenkonsum und Gewalt in nennenswertem Umfang gemeinsam auf (Schöttle/Müller 2004; Gloor/Meier 2013). Dabei zeigt eine sekundäranalytische Auswertung der Daten einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen repräsentativen Studie (2008), dass ein erhöhter Alkoholkonsum des männlichen Partners ein relevanter Risikofaktor für das Auftreten insbesondere von schwerer Gewalt und Misshandlung in einer Paarbeziehung ist. Der Zusammenhang von Alkoholkonsum bei Frauen und Gewalt in der Beziehung ist demgegenüber deutlich geringer ausgeprägt. Einerseits sind Erfahrungen von Gewalt im Zusammenhang mit weiteren Risikofaktoren Prädiktoren für späteren Suchtmittelkonsum. Andererseits ziehen der Substanzmissbrauch und die erlebten Traumatisierungen weitere Benachteiligungen nach sich, indem sie die Nutzung internaler und externaler Ressourcen behindern. So ist die Erfahrung von Gewalt häufig mit besonderen psychiatrischen, somatischen, sozialen und beruflichen Beeinträchtigungen verbunden. Die von Krausz und Briken (2002) durchgeführte Untersuchung von opiatabhängigen Frauen legt eine besondere Häufung von psychosozialen Belastungen nahe, die mit sexueller Gewalt assoziiert sind, wie Angst- und Spannungszustände, mangelnde Kontrolle aggressiver Impulse, Suizidgedanken und -versuche, defizitäre schulisch-berufliche Entwicklung. Die Auswertung von Daten einer multizentrischen Studie in Bereichen der Suchthilfe (Driessen et al. 2008) zeigt, dass Menschen mit einer Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen und einer komorbiden Posttraumatischen Belastungsstörung – wobei in dieser Gruppe die weiblichen Probandinnen dominieren – selten eine abgeschlossene Be-



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rufsausbildung besitzen und häufiger ohne Beschäftigung sind. Nach Simons et al. (2003) entwickeln Drogen und Alkohol konsumierende Frauen unabhängig von der erlebten seelischen, körperlichen oder sexualisierten Misshandlungsform eher einen vermeidenden Coping-Stil, der sie im Umgang mit allgemeinen Anforderungen, Lebenskrisen und traumatischem Stress behindert (vgl. auch Boyd 2003). Die Befundlage zur psychiatrischen Komorbidität bei Suchtmittelabhängigkeit und Traumatisierungen offenbart ebenfalls geschlechtsbezogene Besonderheiten. Die Studie von Bonin et al. (2000) legt Ergebnisse vor, wonach für suchtmittelabhängige Frauen eine besondere Verknüpfung zwischen einer vorhandenen PTBS und einer Depression besteht. Die Daten von Franke und Winkler (2001) weisen in die gleiche Richtung, indem sie einen starken Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen und komorbider Depression bei drogenabhängigen Frauen belegen. Entsprechend häufiger werden bei suchtmittelabhängigen Frauen mit Gewalterfahrungen Angststörungen diagnostiziert. Suchtmittelabhängige Frauen mit Erfahrungen von sexueller Gewalt und/oder körperlicher Misshandlung scheinen häufiger als Männer mit einer vergleichbaren Vorgeschichte eine begleitende Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln (vgl. Ouimette et al. 2000, Mills et al. 2005). Schäfer et al. (2010) konnten in einer weitergehenden Analyse der Daten von Driessen et al. (2008) als weitere Prädiktoren für das Auftreten dissoziativer Störungen bei Suchtkranken, insbesondere bei Drogenabhängigen, zeigen: die Schwere der erfahrenen Traumatisierungen in der Kindheit, weibliches Geschlecht, jüngeres Alter und die begleitende Diagnose einer PTBS. Langeland und van den Brink (2006) stellen einen überzufälligen Zusammenhang von Substanzmissbrauch, Posttraumatischer Belastungsstörung und pathologischer Dissoziation bei Alkohol konsumierenden Frauen fest. Sicherlich lässt sich bei den komorbid diagnostizierten Störungen infrage stellen, inwieweit die eruierte Geschlechtsspezifik tatsächlich besteht. So weist Gahleitner (2012) darauf hin, dass die Häufung einer komorbiden PTBS bei den betroffenen Frauen auf Unterschiede in Bezug auf die Trauma-Art und das Trauma-Risiko beruhen können – Frauen erleiden deutlich häufiger sexuelle Gewalt. Unabhängig von spezifischen Diagnosen wird deutlich, dass sich die Komorbidität bei Frauen, die in ihrer Biografie Misshandlung und sexualisierte Gewalt erlebt haben, generell mehr auf ein Symptomspektrum von komplexen Traumafolgen bezieht, das durch Ängstlichkeit, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Störungen, maladaptive Bewältigungsstrategien,



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weitreichende psychosoziale Beeinträchtigungen und Substanzmissbrauch gekennzeichnet ist.

D IAGNOSTIK

TRAUMABEZOGENER SUCHTKRANKEN F RAUEN

F OLGESTÖRUNGEN

BEI

Im Rahmen einer klassifikatorischen Diagnostik werden im Folgenden die traumabezogenen Folgestörungen praxisnah dargestellt. Dabei orientiert sich die Systematik an der International Classification of Diseases (aktuell noch gültig die ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dauern die posttraumatischen Beschwerden nach einem außergewöhnlich bedrohlichen Lebensereignis oder einer Situation katastrophenartigen Ausmaßes länger als vier Wochen an, lässt sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostizieren. In manchen Fällen entwickelt sich die Symptomatik auch erst Wochen oder Monate nach der traumatischen Erfahrung. Kennzeichnend ist das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Intrusionen, Flashbacks) oder Albträumen. Auslösend sind bestimmte sogenannte „Trigger“, die mehr oder weniger direkt mit dem traumatischen Erlebnis in Verbindung stehen. Die Betroffenen sind dann völlig überflutet von traumaassoziierten, unzusammenhängend gespeicherten Gefühlen, Gedanken und Körperwahrnehmungen und fühlen sich diesen Nachhallerinnerungen ohnmächtig und hilflos ausgeliefert, so als ob sich das ursprüngliche Trauma in diesem Moment wiederholt (siehe auch die Ausführungen zu den neurobiologischen Korrelaten der Traumaverarbeitung im folgenden Abschnitt). „Nachts wache ich oft auf und kann nicht mehr einschlafen. Dann kommen die Bilder, was mein Pflegebruder alles mit mir gemacht hat, [...]. Das hört gar nicht auf. Dann frage ich mich, ob meine Pflegemutter es nicht vielleicht doch bemerkt hat. Die Gedanken rasen ohne Ende...“ (Heroinabhängige Frau, 26 Jahre, sexuelle Gewalt durch Pflegebruder vom 5. bis 16. Lebensjahr, zuvor sexuelle Gewalt, aktenkundig, durch Stiefvater)

Im Versuch, die äußerst beeinträchtigenden Erinnerungen zu vermeiden, versuchen sich die betroffenen Frauen jeder Aktivität oder Situation zu entziehen, die im Zusammenhang mit dem Trauma stehen könnte. Sie schieben ihre schmerzhaften Erfahrungen beiseite, sprechen nicht darüber und blockieren entsprechende Gedanken und/oder empfinden ein Gefühl andauernden Betäubtseins sowie emotionaler Abstumpfung und setzen sich so nicht erneut den unerträglichen Gefühlen aus.



146 | S YBILLE T EUNISSEN & W IBKE V OIGT „Immerhin liegen die Dinge schon etwas länger zurück und sind von mir aus meinem Leben gestrichen worden. Ich kam lange damit zurecht, die Geschehnisse einem anderen ‚Ich’ zuzuschreiben […]. Eigentlich möchte ich mich von früher niemals wiedersehen und darüber nachdenken. Ich glaube, wir würden uns wenig mögen...“ (Frau, 24 Jahre, polytoxikoman – Mutter ab 11. Lebensjahr als Prostituierte gearbeitet, manisch-depressiv, Stiefvater Alkoholiker, Mutter ab 11. Lebensjahr der Patientin wiederholt im Krankenhaus –, sexuelle Gewalt durch Stiefvater ab dem 12. Lebensjahr, erneut Gewalterfahrung in letzter Partnerschaft)

Außerdem ist ein Zustand von vegetativer Übererregung (Hyperarousal) mit gesteigerter Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Unruhe, mangelnder Konzentration sowie Schlafstörungen typisch für die PTBS. Die Stressreaktion besteht ohne konkreten Anlass und in überzogenem Ausmaß. „Ich stehe oft unter Strom […] bin früher draußen immer mit dem Messer rumgerannt. Mit Menschen komme ich sowieso nicht so gut klar wie mit Tieren; mit Frauen geht das noch, aber mit Männern, die Typen haben dann auch schon mal Pech, wenn die mir krumm kommen.“ (Frau, 41 Jahre, polytoxikoman, Mutter Alkoholikerin, Zeugin innerfamiliärer Gewalt als Kleinkind, Scheidung der Eltern 7. Lebensjahr, massive körperliche Gewalt durch Vater ab dem 8. Lebensjahr, früher Einstieg in die Arbeit als Prostituierte, dabei erneute wiederholte Traumatisierung)

Die andauernde Übererregung führt zu Störungen im Alltag, sie behindert eine adäquate Bewältigung von privaten und beruflichen Anforderungen, belastet die traumatisierte Person und das soziale Umfeld. Bei schweren, sequenziell oder chronisch verlaufenden traumatisierenden Erfahrungen von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt sowie Vernachlässigung kann sich ein vielfältiges Beschwerdebild manifestieren – eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Deren Merkmale beziehen sich auf (vgl. Hermann 2003, Schellong 2013): • Veränderungen in der Regulation von Affekten und Impulsen

Die Betroffenen zeigen große Schwierigkeiten, mit negativen Gefühlen wie Ärger, Wut und Trauer umzugehen. Kleinste Auslöser reichen oft schon, dass sie ganz unter dem Eindruck des jeweiligen Gefühls stehen, jegliche Kontrolle verlieren und keine Distanz mehr aufbauen können. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Selbstberuhigung verletzen sich die Frauen zur Spannungsbewältigung manchmal selbst und greifen auch zu Alkohol und Drogen. Mit einigem Abstand zu den affektgeladenen Situationen empfinden sie dann oft große



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Scham und Schuld. Manches Mal verhalten sich komplex Traumatisierte auch eher überangepasst, um bedrohlich erlebte Emotionen zu vermeiden. Das Vermeiden oder exzessive Ausleben von Sexualität gehört ebenfalls zu diesem Symptomkomplex. • Störungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein

Personen mit einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung offenbaren häufig zeitlich begrenzte dissoziative Episoden, Depersonalitäts- oder Derealisationserleben. Sie berichten dann wiederholt, wie „neben sich“ zu stehen, das Geschehen um sich herum aus großer Distanz oder wie „im Film“ wahrzunehmen oder sie haben Teilamnesien. Hinzutreten können Flashbacks über traumaassoziierte Erinnerungen. • Veränderungen der Selbstwahrnehmung

Hierunter fallen eine mangelnde Selbstwirksamkeitserwartung, andauernde Gefühle von Scham und Schuld, mangelndes Selbstwertgefühl, infolgedessen eine Tendenz zum Rückzug und zur Isolation besteht. • Veränderung in Beziehung zu anderen

Komplex traumatisierten Menschen fällt es schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Oft können sie auf dem Hintergrund der chronischen interpersonellen Gewalterfahrungen ihre Grenzen schlecht schützen, sodass es zur erneuten Viktimisierung kommen kann. Teilweise übernehmen die Betroffenen die Täterrolle und schädigen andere Personen. • Somatisierung

Zu dieser Symptomkategorie zählen körperliche Beschwerden ohne somatischen Befund, wie chronische Schmerzzustände, gastrointestinale Symptome, Beschwerden in der Herzregion, im Unterleib etc. • Veränderung von Lebenseinstellungen

Für viele Betroffene sind bisher Halt gebende und sinnstiftende Werte, Grundüberzeugungen und Lebenseinstellungen nicht mehr tragfähig. Sie leiden dann unter einer großen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Fallbeispiel einer 29jährigen Frau, polytoxikomane Suchtmittelabhängigkeit Traumavorgeschichte: Sie wurde als erstes von fünf Kindern geboren und musste früh, im Alter von 6 Jahren, die Versorgung und Verantwortung für die Geschwister übernehmen. Die Mutter war beruflich sehr eingespannt in einer Leitungsposition, der Vater verlor die



148 | S YBILLE T EUNISSEN & W IBKE V OIGT Arbeit. Er wurde zunehmend aggressiv, schlug vor allem die Mutter, zeitweilig auch die Kinder. Vom 7. bis zum 14. Lebensjahr sexuelle Gewalt durch den Vater. In sexuellen Gewaltsituationen dissoziierte die Patientin häufig. Nach Trennung der Eltern (14-jährig) reagierte sie mit Selbstverletzungen, es folgten mehrfache Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Einzug in eine betreute Jugend-WG mit 17 Jahren, dort sexuelle Gewalt erinnert. Aufgrund ihrer Aussagen Verurteilung des Vaters. Symptomatik: Seit dem 12. Lebensjahr optische- und Gefühlsflashbacks sowie Albträume; dissoziative Zustände ein Mal pro Woche 5-10 Minuten; 14. bis 18. Lebensjahr Selbstverletzungen. Dialektisch-behaviorale Therapie im Alter von 16 Jahren, danach kaum noch Selbstverletzung. 15. bis 28. Lebensjahr anorektisches und bulimisches Essverhalten. Suchtentwicklung: Beginn des missbräuchlichen Alkoholkonsums ab 14. Lebensjahr, ab 19. Lebensjahr täglicher Alkoholkonsum, ab 21. Lebensjahr Amphetaminkonsum, Kokainkonsum ab dem 23. Lebensjahr, ab 25. Lebensjahr täglich, wenn möglich; Heroin ab 25. Lebensjahr; nach dem Tod des Vaters wahlloser Drogenkonsum, der zur Einweisung in die Psychiatrie führte, dort GBL-Tropfen-Missbrauch und nach Verfügbarkeit Konsum anderer Suchtmittel, Schlaganfall in Folge; diese Krise führte zum Abstinenzentschluss. Darüber hinaus Störungen in der Affektregulierung, mangelndes Selbstwertgefühl, Störungen der Beziehungsfähigkeit, wenig stützende soziale Kontakte. Trotz der ausgeprägten Symptomatik schaffte sie den Abschluss der Handelsschule und eine Ausbildung zur Kauffrau.

Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist bereits in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) DSM-V aufgenommen worden und wird sehr wahrscheinlich ebenso Bestandteil des zukünftigen ICD-11 sein. Im aktuell geltenden ICD-10 werden die auftretenden Symptome bei komplex traumatisierten Frauen häufig der Borderline-Persönlichkeitsstörung zugeordnet. Diese umfasst emotionale Instabilität, Störungen im Selbstbild, eine mangelnde Fähigkeit zur Affektregulierung und Impulskontrolle, ein chronisches Gefühl von Leere, eine Tendenz zu unbeständigen Beziehungen und selbstdestruktive Verhaltensmuster (selbstverletzende Verhaltensweisen, Suizidversuche). Allerdings unterliegt die klassifikatorische Zuordnung der entsprechenden Symptome teilweise auch einem Genderbias, indem beispielsweise impulsive Verhaltensweisen bei Frauen eher einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zugeschrieben werden, während bei den gleichen destruktiven Bewältigungsmustern bei Männern eher aggressive oder dissoziale Störungsbilder diagnostiziert werden. Im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen können dissoziative Symptome während respektive kurz danach auftreten (peritraumatisch) und post-



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traumatisch auch chronische dissoziative Störungen. Der Begriff der Dissoziation stammt aus dem Lateinischen und heißt übersetzt: „weg“ oder „abgetrennt“ (dis) von der Gesellschaft (societas). Er beschreibt ein psychisches Phänomen, welches bedeutet, dass das normale Gefühl der Zusammengehörigkeit von Bewusstsein, Wahrnehmung, Körpererleben und Körpersteuerung, Gedächtnis sowie Identitätserleben sich verändert oder sogar auflöst. Leichte dissoziative Zustände sind normal und kennen fast alle Menschen. Bei einer sogenannten Alltagsdissoziation fahren wir beispielsweise mit dem Auto zur Arbeit und merken am Ziel, dass wir gar nicht mehr wissen, wie wir dorthin gefahren sind. Dissoziative Symptome von Krankheitswert können in verschiedenen Schweregraden auftreten und in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der dissoziativen Symptomatik und dem Schweregrad der Traumatisierung. Die peritraumatische Dissoziation ist eine Schutzreaktion, bei der durch eine Veränderung der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung eine innere Distanz zum traumatischen Geschehen hergestellt wird. Betroffene fühlen den Körperschmerz, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht und die Todesangst nicht mehr. „Ich war 5 Jahre alt, als es begann. Wenn mein Vater nachts betrunken nach Hause kam, wusste ich, es würde wieder passieren. Ich hatte furchtbare Angst. Ich versuchte mich zu verstecken, aber er fand mich immer. Wenn dann seine Gürtelschnalle klickte, stieg ich quasi aus meinem Körper aus. Ich schwebte dann in einem weißen Kleidchen an der Decke. Unten konnte ich mich liegen sehen, während er meinen Körper vergewaltigte. Ich fühlte keinen Schmerz und hatte keine Angst mehr.“ (Alkoholabhängige, komplex traumatisierte Frau, 44 Jahre)

Die peritraumatische schützende Reaktion des Körpers erweist sich zunächst als hilfreich, dann aber gleichzeitig als ein Risikofaktor für die spätere Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder einer dissoziativen Störung, wie beispielsweise einer dissoziativen Fugue (französisch: Flucht) mit den Merkmalen: plötzliches Verlassen der gewohnten Umgebung ohne Ankündigung, „Flucht“ an einen weit entfernten Ort, zu sich kommen ohne Erinnerung an die vorangegangenen Ereignisse, Verwirrung über die eigene Identität. Fallbeispiel für eine peritraumatische Dissoziation mit anschließender Entwicklung einer dissoziativen Fugue (Frau, 45 Jahre, deren Unterschenkel durch einen Autounfall vielfach gebrochen waren, sie musste reanimiert werden): „Mit 42 Jahren hatte ich einen sehr schweren Verkehrsunfall. Nach dem Aufprall sah ich mich unten neben dem Auto liegen; meine Beine waren so komisch verdreht. Ich fühlte



150 | S YBILLE T EUNISSEN & W IBKE V OIGT keinen Schmerz. Dann sah ich nach einer Zeit, wie plötzlich ein Notarzt und mehrere Sanitäter mit mir beschäftigt waren.“ Sie war deswegen mehrere Monate im Krankenhaus und musste oft operiert werden, was ein Wiedererleben von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Schmerzen bedeutete. Sie entwickelte eine dissoziative Fugue mit einem dissoziativen Anteil, in dem alle diese traumatischen Erlebnisse, Gefühle, Gedanken, Körpergefühle und Körperschmerzen abgespeichert waren – und abgespalten vom Alltags-Ich, um weiter funktionieren zu können. Als sie drei Jahre später auf einer Autobahn in NRW an einem schweren Autounfall auf der Gegenseite vorbeifuhr, wechselte der dissoziative Persönlichkeitsanteil nach vorne und übernahm die Kontrolle. Da sie bei ihrem Autounfall und auch bei den späteren Operationen gerne weggelaufen, also geflohen wäre (Fluchtreaktion in Stresssituationen als normale Reaktion = Aktionssystem – siehe nächster Textabschnitt) – es aber nicht konnte –, „floh“ in dieser drei Jahre späteren Situation der abgespaltene, dissoziierte Persönlichkeitsanteil (da dieser sich wieder in der ursprünglichen gefährlichen Situation wähnte). Das Beobachten des Unfalls auf der Gegenseite erwies sich als Trigger für die ursprünglich gewollte Reaktion des Fliehens. Es kam zur stationären Aufnahme der betroffenen Frau, weil sie sich an die anschließende ganze Woche nicht erinnerte, aber eine Rechnung von einem in Bayern gelegenen Hotel für diese Zeit fand.

Posttraumatisch kann eine Derealisationssymptomatik auftreten. Derealisation ist ein dissoziativer Zustand, bei dem die Umwelt verändert wahrgenommen wird, fremd, unwirklich, weit entfernt („Dann weichen die Wände plötzlich zurück und alles wird so merkwürdig nebelig“). Derealisation ist häufig mit einer Depersonalisation verknüpft. Bei einer Depersonalisation leiden die Betroffenen unter einem Verlust von Emotionen, unter Entfremdung und Loslösung vom eigenen Denken, vom Körper oder von der umgebenden realen Welt. Die Person ist sich der Unwirklichkeit der Veränderung bewusst. „Manchmal fühle ich meinen linken Arm nicht mehr und auch wenn ich hinschaue, denke ich, der gehört gar nicht zu mir. Viel schlimmer ist es aber, wenn ich in den Spiegel schaue und mich gar nicht erkenne. Ich erschrecke dann vor dieser fremden Frau…“

Nicht erinnerbare, fehlende Zeit ist ein mögliches Kennzeichen einer ausgeprägten dissoziativen Störung. Betroffene merken es manchmal nur daran, dass sie andere Kleidungsstücke tragen als vorher oder Schriftstücke von sich finden mit einer anderen Handschrift (von einem jüngeren, dissoziierten Persönlichkeitsanteil).



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„Wenn ich sehr unter Stress stehe, finde ich mich oft in einem anderen Zimmer wieder und habe plötzlich eine Hose an, statt des Kleides. Dann fehlt mir Zeit, manchmal nur Minuten, es können aber auch zwei bis drei Stunden sein – und ich kann mich an nichts erinnern, dass macht mir so Angst.“ (Frau, 27 Jahre)

Die schwerste Form der dissoziativen Störung, die Dissoziative Identitätsstörung oder Multiple Persönlichkeitsstörung (ICD-10), entsteht in der Regel nur bei schwerer, frühkindlicher Traumatisierung durch wiederholte oder lang andauernde sexuelle und/oder körperliche Gewalt – häufig im Rahmen organisierter und/oder ritualisierter Gewalt – und starker emotionaler Vernachlässigung. Es bilden sich dann mehrere (kindliche) Persönlichkeitsanteile heraus, die oft keinen Kontakt miteinander haben und scheinbar unabhängig voneinander oder sogar gegensätzlich fühlen, denken und handeln. Wie bei der dissoziativen Fugue unterliegen sie nicht der bewussten Steuerungsfähigkeit und übernehmen abwechselnd, oft durch Trigger ausgelöst, die Kontrolle über das innere Erleben und auch über die äußere Handlung. Andere Menschen bemerken dann eine deutliche Veränderung im Verhalten, in der Stimmlage, in der Körperhaltung, in der Mimik, sogar im Aussehen. „Sie ist dann plötzlich ein anderer Mensch: sie schaut mich anders an, zuckt zusammen, hat Angst und fängt häufig an, zu weinen. Ihre Stimme wird hoch und ganz kindlich und ihr Körper scheint zu schrumpfen, jedenfalls sitzt sie dann zusammengekauert im Stuhl und sieht viel kleiner und jünger aus. Ich kenne sie aber auch noch anders: dann wird sie laut, frech und richtig rotzig, wie eine Jugendliche halt. Ihre Wortwahl ist dann ganz schön provokativ und…uh...ziemlich viele Schimpfworte!“ (Angehöriger)

Im Rahmen einer umfassenden Abklärung der Folgen von Traumatisierungen und der Entwicklung der Suchtproblematik bei Frauen sowie zur Einleitung einer bedarfsgerechten Behandlung muss die klassifikatorische Diagnostik um eine gendersensible Dimension ergänzt werden (vgl. Gahleitner 2009; 2012). Hierfür ist ein „biografisch kontextualisierter und subjektorientierter Zugang“ (Gahleitner 2009: 196) erforderlich, in dem die Rekonstruktion von individuellen biografischen Verläufen einen besonderen Stellenwert einnimmt. Wesentlich ist hierbei auch die Erweiterung der störungsbezogenen Sichtweise durch eine ressourcenorientierte Perspektive, die die vorhandenen, ausbaufähigen und bisher ungenutzten Kompetenzen und Potenziale in der Lebensgeschichte der Frauen im diagnostischen Prozess gleichermaßen fokussiert (vgl. Teunißen 2005). Die hinter der Sucht liegenden Bedürfniskonstellationen und Strebungen im Umgang mit traumatisierenden Grenzverletzungen, prolongierten Mangelzuständen,



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suchtbezogenen Interaktionssystemen und anderen subjektiv erlebten Notsituationen werden so gewürdigt.

T HEORETISCHE K ONZEPTION T RAUMAFOLGESTÖRUNGEN

DER

Traumafolgen umfassen neurobiologische und neurophysiologische Auswirkungen. Das kindliche Gehirn wird nicht nur durch Aktivitäten geformt; gerade am Anfang wird die rechte Hirnhälfte durch die Bindung, d.h. durch den Körperund Augenkontakt und durch die zugewandte soziale Kommunikation mit den Eltern respektive den Pflegepersonen zum Wachstum angeregt. Frühe Bindungserfahrungen überschneiden sich mit dem Wachstumsschub des Gehirnes. Die Selbstorganisation des sich entwickelnden Gehirnes geschieht in einer Beziehung mit einem anderen Selbst, einem anderen Gehirn (vgl. Schore 2007). Dieser interpersonale neurobiologische Ursprung des Selbst wird auch von anderen Hirnforscher_innen beschrieben, die hervorheben, dass Bindungserfahrungen gestaltgebend sind, da sie die Entwicklung der selbst-regulierenden Hirnmechanismen erleichtern (vgl. u. a. Fonagy et al. 2004) Augenkontakt ist notwendig, um die Bestätigung für unser Tun in den Augen und in der Mimik unserer Eltern oder zuständigen Bezugspersonen lesen zu können und damit unser Selbst, unser Selbstwertgefühl und unseren Selbstwirksamkeitsglauben aufzubauen. Körperkontakt führt zur Aktivierung des Parasympathikus, also zu einer Entspannungsreaktion, die auch durch den vertrauten Geruch der Eltern oder durch den Herzschlag der Mutter entsteht, den wir schon im Mutterleib hören können. Bindung und Körperkontakt sind so wichtig, dass wir (Primaten) sterben, wenn diese Faktoren völlig fehlen. In Harlows Experiment von 1950 (Harlow 1958) mit neugeborenen Affen zeigte sich, dass die Affenbabys, die zwischen Drahtaffenmüttern mit Milch oder mit Fell wählen konnten, sich 23 Stunden an die Fellmütter klammerten und nur zum Trinken zu den Drahtmüttern mit Milch wechselten. Eine sichere Bindung ist von großer Bedeutung für die Entwicklung psychischer Sicherheit und notwendig, um Affekte und Impulse kontrollieren zu lernen: Mithilfe der Eltern lernen wir als kleine Kinder, unsere Gefühle zu regulieren. Bei sexueller Gewalt gegen Kinder, körperlicher und/oder psychischer Gewalt und Vernachlässigung fehlt aber eine liebevolle, Sicherheit- und Halt gebende Versorgung durch die Eltern sowie die Entwicklung einer stabilen Bindung. Soziale Bindung erhöht die integrative Kapazität des Gehirns. Dies gilt auch noch im späteren Leben, ist aber sehr viel mühsamer zu erreichen, bei-



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spielsweise in einer Therapie. Eine Halt gebende therapeutische Beziehung fördert das Hirnwachstum und die integrative Kapazität des Gehirns. Vernachlässigte Kinder reagieren viel stärker auf Stress, sind weniger belastbar, ängstlicher, schüchterner, neigen zu depressiven Gefühlen und besitzen weniger Widerstandskraft als liebevoll versorgte Kinder (vgl. Hane/Fox 2006). Ein Mangel an (mütterlicher) Fürsorge wirkt nachhaltig auf neuronale Systeme: Nicht nur in der Kindheit, sondern auch später ist die Resistenz gegen Stress vermindert; das Immunsystem arbeitet schlechter. Fehlende Bindung und Vernachlässigung schädigen also direkt das Gehirn. Noch deutlicher wird dies, wenn sich eine Traumafolgestörung entwickelt hat. Eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung geht einher mit einer Schädigung des Hippocampus durch einen zeitweise oder dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel (vgl. Grawe 2004). Ein anlagemäßig kleiner Hippocampus stellt ein genetisches Risiko für die Ausbildung einer PTBS dar (vgl. Zwillingsuntersuchungen bei Vietnamkämpfern, Gilbertson et al. 2002). Nijenhuis (2015) konnte jedoch nachweisen, dass sich das Hippocampusvolumen nach jahrelanger Therapie wieder normalisieren kann. Das limbische System umfasst verschiedene Hirnnervenkerne: Amygdala, Hippocampus, Thalamus, Cingulum. Das implizite Gedächtnis in der Amygdala speichert sensorische Eindrücke sowie erlernte Verhaltensweisen und ermöglicht die Erinnerung an sie (Generalisierung von Erfahrungen). Es ist emotional, unbewusst und sprachlos. Die Amygdala ist von Geburt an reif und speichert auch bei Stress weiter Körperempfindungen/-schmerzen, blockiert aber zum Thalamus, zum linken Cortex und zum Sprachzentrum. Das implizite Gedächtnis ist leicht triggerbar. Das explizite Gedächtnis befindet sich im Hippocampus. Es speichert Fakten, Konzepte, Ideen und Erinnerungen an Operationen. Dieses Gedächtnissystem ordnet Ereignisse zeitlich richtig in die eigene Lebensgeschichte ein. Es bedient sich der Sprache, ist bewusst und kognitiv. Es ist aber erst voll funktionsfähig ab dem dritten Lebensjahr und wird bei Stress abgeschaltet. Eine traumatische Situation ist eine neurobiologische Hochstresssituation, in der akut Neurotransmitter wie Adrenalin, Acetylcholin, Glutamat, später Cortisol in hohen Dosen ausgeschüttet werden. Dies kappt die Verbindung („die Sicherung fliegt raus“) zu verschiedenen Kernen im limbischen System und zum Cortex, die im Normalfall das Erlebte verarbeiten und ins biografische Langzeitgedächtnis als kognitive (hippocampale) Erinnerung ablegen. Die Informationsverarbeitung ist blockiert. Stattdessen werden nur die traumatischen Affekte wie Todesangst, Ohnmacht und Hilflosigkeit in den sogenannten „Furchtkern“ (Amygdala) eingespeichert; über eine klassische Konditionierung entsteht ein



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abnormes neuronales Netzwerk, in dem nur Splitter der traumatischen Situation vorhanden sind wie Intrusionen, Flashbacks und Albträume („die Splitter eines Spiegels“). Flashbacks und Intrusionen sind von so starken Empfindungen begleitet, dass die Betroffenen oft die gegenwärtige Realität nicht von der Vergangenheit unterscheiden können – „als ob es jetzt passieren würde“. Sie können durch sogenannte Trigger, das sind exterozeptive (alle fünf Sinne wie Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken, Sehen betreffend) und/oder interozeptive (beispielsweise Beschleunigung der Herzfrequenz) Reize, ausgelöst werden. Die traumatische Erinnerung kann dabei häufig zeitlich nicht eingeordnet werden, weil die Zusammenarbeit mit dem Hippocampus fehlt, der für die zeitliche Einordnung zuständig ist und sie „anheftet“. Traumafolgen sind physiologisch verankert, das zeigen Aufnahmen der Hirndurchblutung (vgl. Rauch et al. 1996) während eines Flashbacks. Cortex und limbisches System rechts sind aktiviert. Emotional geladene Informationen sind überwiegend im limbischen System der rechten Hirnhälfte (Amygdala) und im sensorischen Rindenareal fixiert. Das Broca-Sprachzentrum (links) ist unterdrückt ebenso wie die überwiegend analytische linke Hemisphäre. Was bedeutet das übersetzt für die Betroffenen? Bei Flashbacks und Albträumen spielt sich im Inneren dieselbe „Hölle“ ab wie in der traumatischen Situation, dieselbe Angst, dieselbe Ohnmacht und Hilflosigkeit; bei Körperflashbacks erleben die Betroffenen genau dieselben Schmerzen wie damals – und sie können nicht darüber reden. Kapfhammer (2001: 120) bezeichnet es als „sprachlosen Terror“, van der Kolk (1994) prägte den Satz „the body keeps the score“ – der Körper vergisst nicht. Bei einer normalen Stressreaktion des autonomen Nervensystems regulieren mehrere Neurotransmittersysteme die zwischen den neuroanatomischen Zentren vermittelte Informationsverarbeitung: Noradrenalin bereitet das grundlegende Kampf-Flucht-Verhaltensmuster vor. Serotonin zentriert die Wahrnehmung und scheint wichtig für die Realitätsorientierung und einen situationsadäquaten Einsatz von Reaktionsweisen zu sein. Endogene Opioide hemmen die Schmerzwahrnehmung und reduzieren Panikeffekte. Dopamin steuert die selektive Aufmerksamkeit. Glutamat und GABA regulieren Prozesse des Bewusstseins und Gedächtnisses (vgl. Kapfhammer 2001). Die HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) reagiert auf Stressoren folgendermaßen: Der Anstieg von Adrenalin und von Noradrenalin mobilisiert die HPA-Achse. Der Hypothalamus aktiviert den sympathischen Zweig des autonomen Nervensystems und versetzt ihn in einen Zustand erhöhter Erregung, der dem Körper Kampf oder Flucht ermöglicht. Etwas später erfolgt ein Anstieg von Cortisol, um die Stressantwort einzudämmen und dann zu beenden. Die



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Hemmung der HPA-Kaskade erfolgt also durch eine negative FeedbackSchleife, vermittelt durch den Hippocampus via Amygdala und Hirnstamm (vgl. Kapfhammer 2001). Somit gibt es einen automatischen Mechanismus im Körper, der eine Stressreaktion nach einiger Zeit verlässlich beendet – dann ist Erholung wieder möglich. Wenn weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen – oft Kennzeichen einer traumatischen Situation –, versetzt das limbische System gleichzeitig den parasympathischen Zweig des autonomen Nervensystems in einen erhöhten Erregungszustand, wodurch jene tonische Immobilität eintritt, die auch Erstarrung genannt wird. Bei traumatischem Stress sowie den später auftretenden posttraumatischen Reaktionen wie Flashbacks kommt es zu einer NeurotransmitterDysfunktion („die Erregungsschraube wird dauerhaft verstellt“): Zunächst erfolgt eine überschießende Antwort von Adrenalin mit der Folge eines autonomen Hyperarousals. Etwas später fällt Serotonin ab, was eine inadäquate Informationsverarbeitung, Trancezustände und Depersonalisation zur Folge hat. Das bedeutet, dass Menschen in einer lebensbedrohlichen traumatischen Situation nicht angemessen reagieren können. Gleichzeitig fährt das Opioid-System hoch: Das endogene Opioid macht schmerzfrei, sodass Menschen in solchen Situationen kaum Schmerzen empfinden. Körpereigene Opioide unterstützen auch die psychomotorische Erstarrung („freezing“) und die affektive Betäubung („numbing“) – das ist hilfreich, um die traumatische Situation zu überleben. Das erhöht aber auch die Wahrscheinlichkeit, später eine dissoziative Störung zu entwickeln. Beim späteren Wiedererleben kann diese Neurotransmitter-Dysfunktion zu Halluzinationen, Schlafstörungen, Depressionen und Apathie führen. Bei den späteren posttraumatischen Reaktionen hemmt dieser Vorgang Lern- und Gedächtnisprozesse, sodass der Therapieerfolg deutlich beeinträchtigt sein kann (vgl. Kapfhammer 2001). Der Zustand der Erstarrung hat sich während der Evolution ausgeprägt und gehört zu den emotional arbeitenden Systemen („emotional operating systems“, Panksepp 1998). Er ist, so wie Kampf und Flucht, ein psychobiologisches System mit begrenzter Flexibilität und ist eine reflexartige Reaktion. Erstarrung ist also ein Aktionssystem in Gefahrensituationen und dient dem Überleben. Bildhaft formuliert lässt sich sagen: Die Maus, die von der Katze gejagt wird, erstarrt, wenn sie nicht weiter fliehen kann (und natürlich auch nicht kämpfen kann). Sobald die Katze das Interesse verliert und sich abwendet, kann die Maus losrasen, um vielleicht doch noch ein Schlupfloch zu erreichen und damit ihr Leben zu retten.



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Kinder bis zum sechsten Lebensjahr und hilflose Opfer (etwa bei Folter) sowie auch ältere Mädchen reagieren in der Regel parasympathisch, d.h., sie erstarren, weil sie nicht stark genug sind, um sich wehren und kämpfen zu können und nicht schnell genug sind, um fliehen zu können. Bei älteren Jungen und Männern und wenn Aktivität möglich ist, ist eine sympathische Reaktion wie Kampf oder Flucht wahrscheinlicher. Zum besseren Verständnis der Traumafolgestörungen kann auf die Theorie der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit (van der Hart et al. 2008) rekurriert werden, nach deren Auffassung „das Konzept der Dissoziation der Persönlichkeit entscheidend für ein befriedigendes Verständnis des Phänomens von Traumatisierung“ (ebd.: 17) ist. Die Theorie geht davon aus, dass den Menschen eine bestimmte Anzahl verschiedener psychobiologischer (Sub-)Systeme angeboren ist, die es ihnen ermöglichen, in bestimmten Umgebungen zielorientiert optimal verschiedene situationsangemessene Funktionen zu erfüllen. Diese psychophysischen Systeme werden als „Handlungssysteme“ oder „Aktionssysteme“ bezeichnet. Handlungssysteme umfassen spezifische Gehirnbereiche, die in neuronalen Netzwerken organisiert sind und entsprechende körperliche Aktionen auslösen. Sie können in zwei Kategorien eingeteilt werden: Aktionssysteme für den normalen Alltag sowie Aktionssysteme in Gefahrensituationen für das Überleben. Sie lassen sich folgendermaßen einordnen: • Essen und Trinken sowie Suchen, Spielen, Bindung (an Eltern/Pflegepersonen)

und später Fortpflanzung sind Aktionssysteme, die dem Überleben der Art im Alltag dienen. • Für das Überleben des Individuums in Gefahrensituationen haben sich mehrere Aktionssysteme gebildet, die auf das Vermeiden aversiver Reize oder auf Flucht vor ihnen konzentriert sind: Kampf bei einem gleichwertigen oder schwächeren Gegner, Flucht bei einem stärkeren Gegner, Unterwerfung, Einfrieren oder Erstarrung, wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind. Bei chronischer Gewalt im Kindesalter sind die Betroffenen nur noch in der Lage, sich zu unterwerfen, einzufrieren oder zu erstarren, da sie weder kämpfen noch fliehen können. Die damit verbundene Hilflosigkeit und (Todes-)Angst führt häufig zu einer peritraumatischen Dissoziation als Schutzreaktion. Aber das Erlebte kann, wie bereits dargestellt, aufgrund des Abschaltens bestimmter Hirnnervenkerne im limbischen System und im Neokortex nicht mehr adäquat verarbeitet werden. Stattdessen entsteht ein emotionaler Persönlichkeitsanteil (abgekürzt EP) als Träger der traumatischen Erinnerungen auf der Grundlage des in der traumatischen Situation vorherrschenden Handlungssystems – meis-



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tens Erstarrung und Unterwerfung. Oft liegt darunter das Aktionssystem, mit dem das Opfer eigentlich gerne reagiert hätte, aber nicht konnte: Flucht oder Kampf. Der emotionale Persönlichkeitsanteil EP ist in der Regel abgespalten, also dissoziiert, und hat keine Verbindung zum anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil (abgekürzt ANP). Damit ist gewährleistet, dass der ANP im Alltagsleben quasi unbelastet funktionieren kann. Zwischen beiden findet keine oder fast keine Kommunikation statt, nicht selten fehlt sogar die Kenntnis des jeweiligen anderen Persönlichkeitsanteils. Das führt bei völlig unterschiedlichen Handlungsintentionen und -impulsen (beispielsweise Alltagsbewältigung versus Fliehen-wollen) nicht selten zu sehr schwierigen Situationen: Die Betroffenen erstarren dann oft oder können sich selbst gefährden, sich selbst verletzen, rückfällig werden oder nach außen gerichtet aggressiv reagieren. Das Wissen um die neurobiologisch fundierten Zusammenhänge der Traumaverarbeitung ist ein sehr wichtiger Bestandteil der Psychoedukation für Betroffene: Das Wissen, nicht verrückt zu sein und dass Flashbacks, Intrusionen und Erstarrung eine normale extreme Reaktion auf abnorme Ereignisse darstellen, vermindert die Hilflosigkeit und gibt wieder mehr Kontrolle – und genau das ist das Ziel einer Suchttherapie, die die traumabezogenen Folgen integrativ behandelt. Dazu passen Hantkes und Görges (2012) Empfehlungen gut: Erhöhung der Kontrollerfahrung im Umgang mit Intrusionen, Dissoziationen und Körpererinnerungen, die Herstellung zusätzlicher (neuronaler und Sinn-)Verbindungen, die Verringerung der Angst und des Erlebens von „Verrücktheit“ durch Information und Erlernen der Selbstwahrnehmung, die Erweiterung der Beziehungsfähigkeit und -erfahrung sowie die Vorbereitung der Bereitschaft zur Integration.

I MPLIKATIONEN FÜR EINE BEDARFSGERECHTE S UCHTARBEIT MIT F RAUEN Zur Verbesserung der Wirkung beratender, begleitender und therapeutischer Hilfen in der Suchtarbeit mit Frauen ist eine geschlechtsdifferenzierende integrative Herangehensweise an Sucht und Traumafolgestörungen erforderlich. Dies entspricht dem ganzheitlichen Konzept der Gesundheit nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO, welches die soziale und biografische Dimension einer Person wesentlich miteinbezieht. Danach ist die Bearbeitung der komplexen Auswirkungen von Traumatisierungen integraler Bestandteil von Beratungs- und Behandlungsan-



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sätzen von Frauen mit einer substanzbezogenen Abhängigkeit, um eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Aktivität und Teilhabe zu erreichen. Allerdings bleibt nach wie vor festzustellen, dass trotz des heutigen Vorliegens vielfältiger Forschungserkenntnisse hinsichtlich der geschlechtsbezogenen Folgen von Traumatisierungen bei suchtkranken Frauen diese Erkenntnisse nur weiterhin sehr begrenzt in die Gestaltung struktureller Rahmenbedingungen und indikationsspezifischer Leistungen in der Suchthilfe einfließen (siehe allerdings Teunißen/Engels 2009, Teunißen/Voigt 2012 und der Beitrag von Tödte in diesem Band).

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Schwangerschaft und Mutterschaft bei drogenabhängigen Frauen M ARTINA T ÖDTE , S ILVIA K AUBISCH & A NNE L EUDERS

E INLEITUNG Schwangerschaft und Mutterschaft bei Frauen, die illegale Substanzen konsumieren, stellen an die Drogenhilfe insgesamt, auch an die feministische Suchthilfe, besondere Anforderungen: Sowohl bezogen auf die konkrete Praxis, also die Angebotsgestaltung, als auch bezogen auf die Institution und die dort tätigen Mitarbeiterinnen. Die Komplexität der Thematik verlangt eine tief gehende Auseinandersetzung mit dem aktuellen Wissensstand, der in die konzeptionelle Ausrichtung und die Entwicklung einer qualifizierten Angebotsstruktur einfließen muss, um Frauen, die illegale Substanzen konsumieren und schwanger respektive Mütter sind, zu erreichen, sowie passgenau und wirksam unterstützen zu können. Gleichzeitig liegen kaum aktuelle Studien in Deutschland vor, die sich mit den besonderen Lebensrealitäten, Komorbiditäten und Unterstützungsbedarfen drogenabhängiger Frauen befassen. Auch Praxiserfahrungen sind nicht ausgewertet, gebündelt und somit auch nicht verfügbar. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Situation von Frauen, die drogenabhängig sind, schwanger und Mutter werden (wollen) und zeigt auf, wie sich ihre Lebenssituationen und ihre Schwangerschaften darstellen. Dabei wird erläutert, unter welchen multiplen Belastungen die schwangeren Frauen – und somit auch bereits die ungeborenen Kinder – stehen. Die notwendige Unterstützung von substanzkonsumierenden Frauen steht neben einer ebenso unerlässlichen, frühzeitigen Unterstützung der ungeborenen



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und geborenen Kinder und erfordert kooperatives, systematisches und verbindliches Handeln unterschiedlicher Hilfesysteme.

E INE A USEINANDERSETZUNG KOMPLEXEN T HEMATIK

MIT EINER

Konkrete Zahlen darüber, wie viele Drogenkonsumentinnen in Deutschland Kinder in welchem Alter haben bzw. wie viele Kinder mit Müttern, Vätern oder Eltern zusammenleben, die illegale Stoffe konsumieren, sind nicht verfügbar. Die Anzahl der Geburten von Kindern substanzkonsumierender Frauen in Deutschland sowie deren gesundheitliche Verfassung und Entwicklung sind nicht erfasst, systematisierte Erkenntnisse über Schwangerschaftsverläufe drogenabhängiger Frauen liegen nicht vor. Schätzungen aus den Jahresberichten der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) gehen davon aus, dass in Deutschland 40.000 Kinder leben, deren Eltern Konsument_innen illegaler Drogen sind (vgl. Pfeiffer-Gerschel et al. 2014). Welche Stoffe diese Personen konsumieren, ob die Kinder in der Familie leben oder fremd untergebracht sind, lässt sich diesen Zahlen nicht entnehmen. Auch über die erfasste Gruppe der Substituierten in Deutschland lassen sich keine Ergebnisse generieren. Zwar ist bekannt, dass derzeit ca. 75.400 substituierte Menschen in Deutschland leben – wie viele davon Frauen sind und Kinder haben, wird jedoch nicht erfasst. Die PREMOS-Studie (Wittchen et al. 2011) beziffert die Zahl der substituierten Frauen, die Kinder haben, auf 50 %. Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der hier vorliegenden Thematik erfordert, einen großen Bogen zu spannen: Neben dem Wissen um die (Aus-)Wirkungen des mütterlichen Substanzkonsums auf Schwangerschaft, Geburt und ein Leben mit Kindern muss die Auseinandersetzung ebenso die Auswirkungen von weiteren, für die betroffenen Frauen häufig lebensbestimmenden Faktoren umfassen wie beispielsweise Armut, psychische und somatische Erkrankungen, Trauma und Traumafolgestörungen, Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, Partner_innenschaft, Bildung. Für die Konzipierung und Umsetzung wirksamer Hilfen in der Praxis sind die Institutionen und Mitarbeiterinnen nachdrücklich gefordert: Es gilt, eine Balance zu finden zwischen einem empathischen Verständnis der Motive und Bedarfe der betroffenen Frauen einerseits und zugleich der Kenntnis um die oftmals schwierige, häufig multipel belastete Situation der betroffenen Kinder andererseits. Die daraus nahezu zwangsläufig entstehende persönliche Zerrissen-



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heit der Mitarbeiterinnen muss als ein Bestandteil der Komplexität dieses Arbeitsfeldes verstanden und akzeptiert werden. Team- und Supervisionsprozesse zur vertiefenden Selbstreflexion sowie zur Klärung der eigenen Haltung sind unverzichtbare Bestandteile in diesem Tätigkeitsbereich. Gleichzeitig erfordert dieses Arbeitsfeld eine umfängliche Auseinandersetzung mit den Grundhaltungen der feministischen Arbeit: Insbesondere die Haltung der Parteinahme für die Hilfe suchende Frau muss in der Konfrontation mit einer möglicherweise unzureichenden Versorgung eines Kindes gleichermaßen auch die Parteinahme für das (ungeborene) Kind sicherstellen. Diese Aspekte, so zeigt die Praxis, sind miteinander vereinbar: In der Arbeit mit suchtbelasteten Familien, in denen möglicherweise eine unzureichende Versorgung der Kinder vorliegt, ist – unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben – wie in Situationen der Fremd- und Selbstgefährdung zu handeln. Auch wenn Entscheidungen gegen den Willen der Mutter gefällt werden müssen, werden ihre Interessen gehört und weitestgehend berücksichtigt. Das Handeln der Fachkräfte bleibt geprägt von Wertschätzung, Ressourcenorientierung und Transparenz. Die Mütter werden weiterhin unterstützt, die Faktoren abzuwenden, die einem Verbleib des Kindes in der Familie respektive einer Rückkehr hierhin entgegenstehen. Dass die Sorge um das Kindeswohl ebenso im Fokus steht wie die Unterstützung der betroffenen Frauen, kann auch deren Blick auf die Situation ihrer Kinder fördern und ihnen die Bedeutung fürsorglichen Handelns aufzeigen. Ebenso wird die Intersektionalität, die Überschneidung unterschiedlicher Diskriminierungen der betroffenen Frauen, bei dieser Thematik besonders sichtbar: Das Wertesystem unserer Gesellschaft verurteilt bereits Drogenabhängigkeit bei Frauen – die Verknüpfung von Schwangerschaft und Mutterschaft mit dem Konsum von Stoffen führt zu einer Verstärkung dieser Stigmatisierung, unabhängig davon, wie sich die Lebenssituation substanzkonsumierender Frauen tatsächlich gestaltet. Armut, schlechte gesundheitliche Verfassung, niedriger Bildungsstand, Beschaffungsprostitution, Haftaufenthalte und weitere Faktoren, die drogenabhängigen Frauen zugeschrieben werden und/oder sie tatsächlich betreffen, intensivieren diese Entwertung – nicht selten erleben betroffene Frauen diese auch im psychosozialen und medizinischen Hilfesystem; gleichzeitig haben sie diese Entwertungen auch internalisiert.



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M YTHOS M UTTERSCHAFT – K INDERWUNSCH W UNSCH NACH F AMILIE

UND DER

„Mütterliche Identität“ ist für nahezu jede Frau ein persönliches Thema: Gesellschaftliche Geschlechtsrollen-Leitbilder und familiäre Traditionen vermischen sich mit persönlichen Erfahrungen, individuellen Wünschen und Lebensentwürfen. „Identität“ und „Mutterschaft“ sind zentrale Aspekte im Leben von Frauen, da die Rolle der Frau als Mutter Geschlechtsstereotype erfüllt, die gesellschaftlich akzeptiert (teils auch erwartet) und dennoch für Frauen widersprüchlich sind: So sind nicht alle Formen von Mutterschaft sozial erwünscht, sondern abhängig beispielsweise von Alter, sozialem und Beziehungs-Status, Lebensstil, Gesundheitszustand. Die Auseinandersetzung mit den Themen „Kinderwunsch“, „Mutterschaft“ und „mütterlicher Identität“ sind Themen, die auch Beraterinnen/Therapeutinnen betreffen. Hinsichtlich der parteilichen Arbeit zeigt sich auch hier eine ähnliche Betroffenheit von Frauen – der Hilfesuchenden und der Mitarbeiterin einer Institution, die beide in einer Gesellschaft leben, die „Mutterschaft“ (vordergründig) begrüßt und erwartet. So ist der Kinderwunsch von drogenabhängigen Frauen oftmals auch der Wunsch nach „Normalität“ im Sinne einer gesellschaftlichen Akzeptanz als Frau und verbunden mit der Hoffnung eines Ausstiegs aus der Drogenbindung. Eine Auseinandersetzung damit, dass „Mythen um Mutterschaft“ sich von dem tatsächlichen Leben mit Kind/ern häufig unterscheiden, dass Mutterschaft das eigene Leben nicht zwangsläufig „besser“ oder „wertvoller“ macht, dass „weibliche Identität“ und „Mutterschaft“ nicht gleichzusetzen sind, sind erst einmal keine selbstverständlich reflektierten Themen betroffener Frauen. Bewusst ist ihnen jedoch, dass ihr Leben in der illegalen Drogenabhängigkeit deutlich von der gesellschaftlichen Erwartung an eine weibliche „Normalität“ abweicht – Schuld- und Versagensgefühle, Scham und mangelndes Selbstwertgefühl sind zwangsläufige Folgen. Gleichzeitig steht der Kinderwunsch drogenabhängiger Frauen auch in einem Zusammenhang mit ihrem beträchtlichen Bedürfnis nach Bindung: Die hohe Prävalenz von Gewalterfahrungen – insbesondere frühe Traumata durch die Erfahrungen sexueller Gewalt – von unbehandelten Posttraumatischen Belastungsstörungen sowie Bindungsstörungen haben einen unmittelbaren Zusammenhang zu einer Suchtentwicklung bzw. der Aufrechterhaltung einer Sucht (siehe den Beitrag von Gahleitner in diesem Band). Der Wunsch drogenabhängiger Frauen nach Kindern und nach Familie geht häufig einher mit dem Wunsch nach einem „anderen“, einem „normalen“ Leben.



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Die damit verbundenen Beweggründe entsprechen weitestgehend dem gesellschaftlich vorgegebenen Stereotyp des „Mutterideals“ und ziehen somit unmittelbare Leistungsansprüche an Handlungen und Erziehungserfolge mit sich, die den Frauen selbst aus ihrer Kindheit nicht bekannt sind. Im Sinne des Anspruchs, „alles besser zu machen“, ergeben sich oftmals umfangreich illusionäre Bilder bezogen auf ein Leben mit Kindern sowie auf das Selbstbild als Mutter; eine überaus große Idealisierung von einer „heilen“ Familie und dem tiefen Wunsch nach all dem, was damit verbunden sein kann. Nehmen wir sie ernst in ihrer Person, sehen wir die Vielseitigkeit, die auch sie – trotz ihrer Sucht – mitbringen, dann bedeutet das, auch diese Frauen und ihre Motive zu akzeptieren und zu respektieren; unabhängig davon, wie wir selbst ihr Handeln bewerten. Sie und ihren Hintergrund zu „verstehen“, bedeutet dennoch nicht zwangsläufig, „einverstanden“ zu sein. Die öffentliche Wahrnehmung von drogenabhängigen Frauen, die schwanger und/oder Mütter sind, entspricht häufig einer Gleichsetzung von Sucht als sozialem Fehlverhalten, nicht als Erkrankung. Äußern drogenabhängige Frauen einen Kinderwunsch oder werden sie (ungewollt) schwanger, erfahren sie weitere Stigmatisierungen: Sie entsprechen nicht dem in der Allgemeinbevölkerung verbreiteten Bild der zufriedenen, glücklichen Schwangeren, die ihren kompletten Lebenswandel auf die Schwangerschaft abstimmt, die beste Gesundheitsfürsorge für sich und ihr Kind in Anspruch nimmt und sich intensiv auf ihre künftige Rolle als Mutter vorbereitet. Diese Diskrepanz bekommen die werdenden Mütter tagtäglich zu spüren – und ihr fortgesetzter oder vergangener Drogenkonsum sowie ihre Lebensrealitäten verstärken ihre Schuld- und Schamgefühle. Gleichzeitig leben sie mit großen Ängsten: Der Angst vor Schädigungen des ungeborenen Kindes, die allerdings häufig nicht eindeutig wissenschaftlich belegt sind; der Angst, das Kind werde sofort nach der Geburt durch das Jugendamt in Obhut genommen oder der Angst, „auch als Mutter zu versagen“. Diese Ängste, obwohl sie teilweise durchaus diffus sind, hindern viele Frauen daran, Vorsorge- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. So verheimlichen Frauen häufig den vergangenen oder aktuellen Konsum gegenüber Gynäkolog_innen, Kliniken, Hebammen oder Beratungsstellen, wodurch erforderliche Vorbereitungen auf die Geburt und damit verbundene Möglichkeiten der Reduzierung von Gesundheitsrisiken unterbleiben. Vielmehr versuchen sie, ihre Situation nach außen hin als unproblematisch darzustellen – mit der Folge eines mangelnden Zugangs zum Netzwerk der Sucht-, Gesundheits- sowie Kinder- und Jugendhilfe. Demgegenüber stehen die außerordentlich umfassenden Unterstützungsbedarfe einer schwangeren, (ehe-



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mals) substanzkonsumierenden Frau und die Risiken von Langzeitschäden des Kindes sowie einer Kindeswohlgefährdung. Gleichzeitig kann eine Schwangerschaft für viele Frauen ein Innehalten bedeuten und wird oftmals als große Chance für Veränderungen erlebt, die die Frauen stark motiviert, ihr Konsumverhalten zu verändern. Zum anderen ist die Schwangerschaft und bevorstehende Mutterschaft aber auch mit Ängsten und vielen Unsicherheiten verbunden, die häufig zu einem erhöhten Stress bei den Schwangeren führen können, der wiederum das Bedürfnis, Drogen zu konsumieren, auslösen kann. Aufgrund der vielfältigen subjektiven und objektiven Belastungen, denen schwangere drogenabhängige Frauen ausgesetzt sind sowie dem hohen Risiko für Mutter und Kind, verdienen sie besondere Aufmerksamkeit der Suchthilfe. Aus einer feministischen Handlungsperspektive, die das vorliegende Fachwissen um frauenbezogene Ursachen von Sucht, die Zusammenhänge von Sucht und Schwangerschaft, die jeweiligen Lebensrealitäten und besonderen Unterstützungsbedarfe in dieser Lebensphase konsequent einbezieht, ist es dringend erforderlich, spezifische, qualifizierte Angebote im geschlechtshomogenen Setting anzubieten. Alle Hilfestellungen, die einer psychosozialen Stabilisierung der werdenden Mutter dienen, tragen dazu bei, dass sie sich auf die Geburt und ein Leben mit einem Kind besser vorbereiten und weitere Versorgungsangebote, wie medizinische/gynäkologische Vorsorge und Unterstützung durch die Jugendhilfe, eher in Anspruch nehmen kann.

L EBENSREALITÄTEN VON F RAUEN , D ROGEN KONSUMIEREN

DIE ILLEGALE

Eine Grundvoraussetzung für die Konzipierung, Umsetzung und Etablierung von Unterstützungsangeboten für Drogen konsumierende Frauen, die schwanger und/oder Mütter sind, ist es, sich zunächst mit ihren Lebensrealitäten und Hilfebedarfen zu beschäftigen. Frauen, die von Drogen abhängig sind, weisen mehrheitlich weitere Belastungen in ihrer Biografie auf. Insbesondere sind es Erfahrungen mit (sexualisierter) Gewalt in der Kindheit oder Jugend, (unbehandelte) Traumafolgestörungen und fortgesetzte Gewalterfahrungen durch Partner, durch Männer im Rahmen der Beschaffungsprostitution oder der Drogenszene, die das Leben betroffener Frauen belasten (siehe die Beiträge von Teunißen/Voigt sowie Bernard in diesem Band).



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Aus der Praxis sind auch vorliegende Bindungsstörungen bei substanzkonsumierenden Frauen, die darauf schließen lassen, dass die Betroffenen keine Bindungssicherheit in ihren Herkunftsfamilien erfahren konnten, durchaus bekannt (siehe Gahleitner in diesem Band sowie Gahleitner 2005, Tödte 2010; 2014, Brisch 2013). Psychosoziale Belastungsfaktoren in der Kindheit sind hinsichtlich ihrer lebenslangen physischen und psychischen Folgewirkungen für die Betroffenen belegt (vgl. Felitti 2002), ebenso der hohe Anteil von Suchtbelastungen in den Herkunftsfamilien der heute suchtmittelabhängigen Menschen (vgl. Klein 2006 zur Alkoholabhängigkeit), wobei differenzierte Studien zur elterlichen Drogenabhängigkeit bei heute erwachsenen Konsument_innen illegaler Substanzen fehlen. Zusätzliche Risiken beinhaltet der intravenöse Konsum von Stoffen bezogen auf Infektionskrankheiten wie etwa Hepatitis C und/oder HIV sowie ungeschützter Geschlechtsverkehr hinsichtlich dieser und weiterer Infektionskrankheiten. Darüber hinaus sind die Frauen häufig durch komorbide somatische (Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck, chronische Wunden und Abszesse etc.) und psychische Erkrankungen (Depressionen, PTBS, Angst- und/oder Persönlichkeitsstörungen) belastet. Mitunter sind die Erkrankungen nicht ausschließlich eine Folge des Substanzkonsums, sondern Begleiterscheinungen ihres stressbelasteten Lebens, welches geprägt ist von Armut, Gewalt, sozialer Isolation, häufig auch durch eine Mangelversorgung elementarer Grundbedürfnisse (z. B. regelmäßige Ernährung, Schlaf, soziale Kontakte; siehe den Beitrag von Bernard in diesem Band). Durch die Illegalisierung der Substanzen sind die Konsument_innen zudem von Kriminalisierung betroffen und leben ständig in Angst vor polizeilicher und justizieller Verfolgung und Haftaufenthalten.

S CHWANGERSCHAFT BEI F RAUEN D ROGENPROBLEMATIK

MIT EINER

Die Situation von Drogen konsumierenden (werdenden) Müttern Die multiplen Problemlagen, die ein Leben mit einer Drogenabhängigkeit belasten, verringern sich nicht durch Mutter- und Vaterschaft. Ebenso müssen sich drogenabhängige Mütter und Väter auch den ganz alltäglichen Erziehungsaufgaben stellen – wie Eltern, die keine Substanzen konsumieren (vgl. Scheib/Steier 1998). Diese Schwierigkeiten, mit denen drogenabhängige Mütter und Väter konfrontiert sind, beschreiben tatsächlich aber nur einen Teil der Wirklichkeit



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von Müttern mit einer Drogenproblematik: Ein Großteil der betroffenen Frauen ist alleinerziehend – die bekannten Schwierigkeiten alleinerziehender Frauen kommen für Frauen, die drogenabhängig und schwanger sind, hinzu und verschlechtern ihre Lebenssituation insgesamt. Alleinerziehend zu sein, bedeutet auch ein weiteres, zusätzliches Armutsrisiko (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2013). Alle bisher genannten Aspekte können nicht getrennt voneinander gesehen werden, sie beeinflussen sich vielmehr gegenseitig und haben Auswirkungen auf Bindungsmuster, Erziehungsverhalten und die Kinder. Diese zeigen häufiger als andere Kinder Regulationsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen, was die Erziehungssituation weiter erschwert. So entstehen Kreisläufe, die nur schwer zu verändern sind. Eine frühzeitige, langfristige, engmaschige medizinische und psychosoziale Begleitung der (werdenden) Mütter ist nicht nur hilfreich, sondern auch im Sinne der Lebenssituation der betroffenen Kinder erforderlich. Bezogen auf den Zusammenhang von Sucht und elterlicher Stressbelastung muss einbezogen werden, dass suchtbelastete Mütter öfter Zweifel an ihren erzieherischen Fähigkeiten haben, außerdem sind sie sozial häufig isolierter und verfügen über weniger unterstützende Sozialkontakte (vgl. Kröger et al. 2006). Eine niedrige eigene Kompetenzüberzeugung führt häufig wiederum zu ungünstigem Erziehungsverhalten. Subjektiv und objektiv belastete Schwangerschaften Aufgrund des Drogenkonsums – insbesondere des Heroinkonsums – aber auch bedingt durch eine häufig mangelhafte Ernährung und stressbelastete Lebensumstände, haben Drogenkonsumentinnen oftmals unregelmäßige und z. T. auch anovulatorische Zyklen. Durch das Ausbleiben der Menstruation unterliegen viele Frauen dem Irrtum, dass sie nicht schwanger werden können und verzichten auf Verhütungsmittel (vgl. Nagel/Siedentopf 2006). Bei Frauen, die sich in eine Substitutionsbehandlung begeben, stabilisiert sich der Menstruationszyklus häufig, die Frauen können schnell schwanger werden. Auch ein Konsum von Medikamenten, wenn Heroin nicht verfügbar ist, kann relativ schnell wieder zu einem Eisprung und somit auch zu einer Schwangerschaft führen. Viele Schwangerschaften drogenabhängiger Frauen sind daher nicht geplant. Gleichzeitig sind suchtmittelabhängige Frauen, wenn sie ihren Kinderwunsch offen formulieren, vielen Vorurteilen des Umfeldes, auch des Hilfesystems ausgesetzt: Bislang gehört es nicht zum fachlichen Standard von Drogen/Suchtberatungsstellen, Frauen die Möglichkeit anzubieten, sich offensiv mit ih-



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rem Kinderwunsch auseinanderzusetzen. Die Tabuisierung dieser Thematik durch das Hilfesystem kann nicht von den betroffenen Frauen aufgehoben werden, sodass sie ein für sich häufig zentrales Thema ihrer Lebensplanung nicht besprechen können. Insbesondere für Frauen, die sich bereits in der Substitutionsbehandlung befinden und sich dadurch stabilisiert haben, ist ein Kinderwunsch häufig ein weiterer, für sie selbstverständlicher Aspekt ihrer Lebensperspektive. Viele Frauen sind nicht in der Lage, die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft entsprechend zuzuordnen, da diese durchaus Ähnlichkeiten mit den Symptomen eines Entzugs aufweisen (Übelkeit, Müdigkeit, Erschöpfung). Häufig sind die Klientinnen äußerst uninformiert über die Anzeichen oder den Verlauf einer Schwangerschaft; gleichzeitig hat insbesondere der Konsum von Heroin auch die Funktion, unangenehme Gefühle vom Körper abzuspalten. Diese sogenannte „Körperdissoziation“ ist insbesondere bei Frauen, die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erfahren mussten, eine Möglichkeit, mit ihren traumatischen Erlebnissen zu (über-)leben. Diese Aspekte können dazu führen, dass Frauen gar nicht auf den Gedanken kommen, schwanger zu sein und eine Schwangerschaft erst in einem fortgeschrittenen Stadium realisieren – häufig erst im vierten oder fünften Schwangerschaftsmonat, teils noch später. Für die Schwangere bedeutet dies, dass sich der Zeitraum zur Vorbereitung auf die Geburt und die Auseinandersetzung mit Mutterschaft und einem Leben mit einem Kind deutlich verkürzt. Der vergangene und gegenwärtige Drogenkonsum und seine möglichen Auswirkungen auf das ungeborene Kind führen zu starken Konflikten bei den Frauen, sobald ihre Schwangerschaft bewusst bzw. bekannt wird. Ängste und Schuldgefühle, ob und inwieweit das Ungeborene bereits unwissentlich durch den Drogenkonsum geschädigt wurde, sind zentrale Belastungen für die betroffene Frau. Eine Entscheidung für oder gegen das Kind ist aufgrund der späten Feststellung der Schwangerschaft oft gar nicht mehr möglich. Da zudem das Risiko einer Frühgeburt bei drogenabhängigen Frauen deutlich erhöht ist (vgl. Sarimski 2013, Schneider et al. 2006), hat eine schwangere Frau tatsächlich sehr wenig Zeit, sich auf die neue Lebenssituation einzustellen. Weitreichende und eindrückliche Veränderungen gilt es also in einem relativ kurzen Zeitraum zu bewältigen – eine Herausforderung auch für nicht suchtkranke Menschen. Subjektiv und objektiv sind Frauen, die drogenabhängig und schwanger sind, multipel belastet. Viele von ihnen leben in ökonomischer Unsicherheit, Armut und in schwierigen Wohnsituationen; sie sind meist zusätzlich psychiatrisch oder somatisch erkrankt; die Beziehungen zum Kindsvater und zur Herkunftsfamilie sind oftmals problembehaftet und sie verfügen insgesamt eher über eine geringe



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soziale Unterstützung. Zukunftsängste und Sorgen bezogen auf die Versorgung des Kindes nach der Geburt sind zusätzlich belastende Faktoren. Eine Schwangerschaft ist mit physischen, psychischen und hormonellen Veränderungen verbunden. Diese lösen bei Frauen überwiegend und unabhängig von Substanzkonsum eine Auseinandersetzung mit „weiblichen“ Aspekten der Psyche aus: Mit Frausein und Mutterschaft, mit Weiblichkeit, Mütterlichkeit, Familie, Beziehung und Bindung, Verlässlichkeit, Versorgung, Zärtlichkeit und somit mit allen Erfahrungen und Ängsten, die im Leben einer Frau mit diesen Themen verbunden werden – einschließlich der Beziehung zur eigenen Mutter, die häufig problematisch ist. Die hormonellen Schwankungen und Stoffwechselveränderungen haben psychische Auswirkungen auf jede werdende Mutter. Für Frauen mit einer labilen psychischen Verfassung birgt der veränderte Hormonstoffwechsel oftmals ein zusätzliches Risiko für eine zunehmende Verunsicherung. Psychische Vorerkrankungen, insbesondere, wenn diese nicht behandelt sind, können sich bei Frauen in der Schwangerschaft verstärken; psychische Störungen, die bereits erfolgreich behandelt waren, können erneut auftreten (vgl. Rohde/Dorn 2007). Psychische Krisen der werdenden Mutter können nicht nur den Verlauf einer Schwangerschaft gefährden, sondern stellen auch Risiken für die Entwicklung des ungeborenen Kindes dar – und hohe Anforderungen an das medizinische Hilfesystem. Das Erleben von Schwangerschaft und Geburt ist zudem nicht selten mit einer Re-Traumatisierung verbunden. Dabei wirken sich erlebte Traumata verstärkend negativ auf den Verlauf der Schwangerschaft, auf die Geburt, auf das Ungeborene und auf die (pränatale) Bindung aus. Ebenso sind vorliegende Bindungsstörungen infolge erlebter Traumatisierungen der schwangeren Frau und die häufig unbehandelten Traumafolgestörungen emotional belastend für die werdende Mutter. Erfahrungen mit sexueller Gewalt in der Kindheit, die bei vielen drogenabhängigen Frauen vorliegen, können neben anderen Auswirkungen auch dazu führen, dass sich die körperliche und psychische Verfassung von Frauen während der Schwangerschaft und der Geburt verschlechtert (vgl. Leeners et al. 2003). All diese Faktoren erhöhen das Stressniveau während der Schwangerschaft und können dazu führen, dass Schwangere den gesundheitsschädlichen Drogenkonsum oder Beikonsum bei Substitution zur Angst- oder Stressbewältigung fortsetzen. Stressbelastete Schwangerschaften haben Auswirkungen auf die Gesundheit des ungeborenen Kindes – unabhängig von Substanzkonsum: Es wird angenommen, dass mütterlicher vorgeburtlicher Stress aufgrund kritischer Lebensereignisse, wie beispielsweise Verlust- und/oder Gewalterfahrungen oder



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auch die Schwangerschaft an sich, einen Zusammenhang aufweist zu einem niedrigeren Geburtsgewicht, Früh- und Mangelgeburtlichkeit und geringerem Kopfumfang (vgl. van den Bergh 2004, Rothenberger 2010) – ebenso wie die Risikofaktoren, die aus dem Substanzkonsum resultieren. Frühgeburt und niedriges Geburtsgewicht werden in einen Zusammenhang gestellt zu Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensproblemen der betroffenen Kinder (vgl. van den Bergh 2004). Hinsichtlich der Auswirkungen stressbelasteter Schwangerschaften auf die Kinder weisen Studien darauf hin, dass der Zeitpunkt der Belastungen möglicherweise von Bedeutung ist und dass die Entwicklung der Kinder bis in das frühe Erwachsenenalter hinein negativ beeinflusst sein kann. Ebenso werden Zusammenhänge angenommen zwischen Stress in der Schwangerschaft und psychischen Erkrankungen/Störungen der Kinder (etwa beeinträchtigte Aufmerksamkeitsleistung, ADHS, soziale Ängste) sowie Beeinträchtigungen der kognitiven und motorischen Entwicklung (vgl. Rothenberger 2010, Huizink 2000). So zeigen Forschungsergebnisse, „dass sich Kinder von Müttern, die im Verlauf ihrer Schwangerschaft häufig Angst- und Stresssituationen ausgesetzt waren, von anderen Kindern in den ersten sieben bis acht Monaten nach der Geburt durch eine Reihe von Verhaltensmerkmalen unterscheiden, die im Zusammenhang mit einer erhöhten Reaktivität (arousal) und/oder mit Problemen der Selbstregulation stehen: erhöhte Reizbarkeit, exzessives Schreien, ‚schwieriges Temperament’, motorische Unruhe und Anpassungsschwierigkeiten. In ihrer Kindheit haben diese Kinder vor allem Schwierigkeiten damit, ihre Aufmerksamkeit zu regulieren, sie fallen durch eine niedrige Hemmschwelle und motorische Unruhe auf und weisen häufiger Verhaltensstörungen und Stimmungsschwankungen auf.“ (van den Bergh 2004: 230)

Für Frauen mit bestehenden psychischen Erkrankungen kann eine Schwangerschaft aufgrund von hormonellen Veränderungen durchaus auch zu einer (vorübergehenden) seelischen Stabilität führen. Sie erleben die Zeit der Schwangerschaft überwiegend positiv, es fällt ihnen plötzlich leicht, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern, sie streben einen sofortigen Ausstieg aus dem Konsum jedweder Stoffe an und sehen nahezu euphorisch in die Zukunft. Ein großer Teil dieser Frauen erlebt nach der Entbindung infolge des durchaus riskanten „Hormon-Sturzes“ eine heftige psychische Labilisierung – einem kleineren Teil gelingen entscheidende, positive Lebensveränderungen durch die Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes. Alle Frauen profitieren von einem engmaschigen, unterstützenden und empathischen Hilfenetz. Eine Schwangerschaft ist für die betroffenen Frauen meist



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ein starker Impuls, das Leben „in den Griff“ zu bekommen und grundsätzlich positivere Lebensumstände für sich und das Kind zu schaffen – sie ist oftmals die größte Motivation von Frauen, sich aus der Drogenbindung zu lösen. Schädigung durch Substanzkonsum in der Schwangerschaft Der Konsum von Suchtstoffen in der Schwangerschaft kann auf unterschiedliche Weise zu Schädigungen des Fötus führen. Zum einen kann die unmittelbare toxische Wirkung der Substanz über die Plazenta das heranwachsende fetale Nervensystem erreichen. Das Risiko für das Ungeborene steigt mit der Häufigkeit, Dosis und Vielfältigkeit der konsumierten Substanzen der werdenden Mutter. Die Auswirkungen der einzelnen illegalen Substanzen können nur teilweise als wissenschaftlich gesichert angesehen werden, da durch Mischkonsum mit Alkohol, Tabak und Medikamenten oftmals nicht klar zuzuordnen ist, welche Schädigungen durch welche Substanz hervorgerufen werden (vgl. Nagel/Siedentopf 2006). Hinzu kommen die beeinträchtigenden Wirkungen durch die beigemengten Streckmittel. Eine andere Gefahr liegt im unregelmäßigen Konsum von Substanzen, die eine körperliche Abhängigkeit erzeugen. Der so wiederholt auftretende Entzug des Fötus kann zu einer Frühgeburt führen. Ein weiteres großes Risiko resultiert aus der mit dem Drogenkonsum oft einhergehenden Lebensrealität. So kann durch eine bereits vorliegende psychosoziale Destabilisierung, durch Armut sowie deren Folgen die Absicherung von Grundbedürfnissen (regelmäßige Ernährung, sicherer Schlafplatz) gefährdet sein. Zudem liegen nicht selten komorbide Erkrankungen (Hepatitis, HIV, psychische Erkrankungen) vor. Die Schwangere kann zusätzlichen Risiken durch Gewalt oder Infektionserkrankungen ausgesetzt oder durch eine fehlende Tagesstruktur an der Einhaltung von Terminen zur Vorbereitung auf das Kind gehindert sein (vgl. Sucht- und Drogenkoordination Wien 2010). Eine weitere, weitreichend schädigende Wirkung geht von Nikotin aus. Da ca. 12-36 % aller Schwangeren (also auch jene ohne illegalen Substanzmissbrauch) während der Schwangerschaft rauchen, lassen sich hier eher wissenschaftliche Studien über die schädigende Wirkung finden: Rauchen ist für 15 % aller Frühgeburten sowie für 20-30 % aller Fälle von geringem Geburtsgewicht verantwortlich. Darüber hinaus steigt das Risiko für eine perinatale Sterblichkeit um rund 150 %. Zudem erhöht sich das Risiko für Fehlbildungen und für eine Plazentaablösung. Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten treten bei rauchenden Müttern häufiger auf, vor allem wenn die Frau während der Zeit der Empfängnis bzw. im ersten Drittel der Schwangerschaft raucht (vgl. Hoeft/Schneider 2011).



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Kinder, die während der Schwangerschaft dem Alkoholkonsum der Mutter ausgesetzt waren, zeigen häufig – oftmals auch schwerwiegende und dauerhafte – Schädigungen. Alkohol schädigt die embryonale Entwicklung der Organsysteme sowie des Gehirns hinsichtlich des Wachstums, der Ausdifferenzierung und seiner Funktionen. Umfassend werden alle alkoholbedingten Wirkungen auf die Entwicklung des Ungeborenen mit der Bezeichnung „Fetale Alkoholspektrumstörungen“ (FASD; fetal alcohol spectrum disorders) zusammengefasst. Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS; fetal alcohol syndrome) ist die gravierendste Schädigung. Zu dem Syndrom zählen u. a. Wachstumsretardierungen, Organschäden, hirnorganische Schäden und körperliche Fehlbildungen (vgl. Pfinder/Feldmann 2011) sowie körperliche, geistig-intellektuelle, soziale und emotionale Störungen. In Deutschland kommen jährlich etwa 10.000 Babys mit alkoholbedingten Schädigungen (FASD) auf die Welt. Bei ca. 2.000 Kindern wird vermutet, dass sie das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) aufweisen. Die Diagnose FAS wird von Ärzt_innen jedoch selten gestellt, da viele noch unzureichend über das Krankheitsbild informiert sind und Hemmungen bestehen, die Mütter mit dem Verdacht von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu konfrontieren (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2015). Über die Risiken von Alkohol- und Nikotinkonsum müssen schwangere Konsumentinnen illegaler Drogen zwingend informiert werden, da die Mehrheit von ihnen auch während der Schwangerschaft raucht und viele von ihnen Alkohol konsumieren bzw. eine Alkoholabhängigkeit aufweisen. Über die gesundheitlichen Wirkungen von Alkohol und Nikotin in der Schwangerschaft besteht ein hohes Informationsdefizit und eine Bewertung, die auch in anderen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu erkennen ist: Substanzen sind vermeintlich schädlicher als die „legalen“ Stoffe, weil sie illegal sind. Frauen nehmen etwa irrtümlich an, dass sie ihrem ungeborenen Kind weniger schaden, wenn sie Alkohol konsumieren statt Heroin. Die insgesamt schon schwierige Diagnostik bei Neugeborenen hinsichtlich einer Schädigung durch Alkohol, insbesondere, wenn nicht das Vollbild des FAS entwickelt ist, sondern möglicherweise ein partielles FAS (pFAS) mit weniger ausgeprägten Merkmalen vorliegt, kann dazu führen, dass eine Alkoholspektrumstörung nicht frühzeitig erkannt wird (vgl. Landgraf/Heinen 2012). Auch der Konsum von psychoaktiven Medikamenten jenseits (fach-)ärztlicher Verordnung muss mit den Klientinnen thematisiert werden. Ebenso müssen sie zwingend darauf hingewiesen werden, psychoaktive Medikamente nicht plötzlich abzusetzen, auch wenn sie diese ohne ärztliche Verordnung konsumieren.



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Bei bestehenden psychischen Erkrankungen benötigen schwangere Frauen Unterstützung hinsichtlich der Compliance, der Inanspruchnahme einer psychiatrischen engmaschigen Begleitung und der konsequenten Durchführung der Psychopharmakotherapie im Sinne der (fach-)ärztlichen Unterweisungen. Gleichzeitig sollte mit den betroffenen Frauen die Möglichkeit verstärkt auftretender psychischer Symptome während der Geburt thematisiert werden, insbesondere das Risiko psychischer Destabilisierung nach der Geburt. Eine je nach Situation sinnvolle Reduzierung der Medikation vor der Geburt im Sinne der gesundheitlichen Verfassung des Neugeborenen muss in (fach-)ärztlicher Begleitung erfolgen. Schwangerschaften drogenabhängiger Frauen, auch wenn sie substituiert werden, erfüllen die Kriterien für eine Einstufung als Risikoschwangerschaft, ebenso wie Schwangerschaften von psychisch erkrankten Frauen und Frauen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung Medikamente einnehmen. Chancen opiatabhängiger Frauen durch die Substitution in der Schwangerschaft Entsprechend den „Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger“ (Bundesärztekammer 2010) ist – unter der Voraussetzung, dass eine manifeste Opiatabhängigkeit vorliegt – die Substitutionstherapie „bei bestehender Schwangerschaft […] die Behandlung der Wahl, um Risiken für Mutter und Kind zeitnah zu vermindern und adäquate medizinische und soziale Hilfemaßnahmen einzuleiten“ (ebd.: 3). Durch eine Substitutionsbehandlung kann vielen Gefährdungen adäquat begegnet werden. So verhindert sie schwankende Opiatwerte im Blut der werdenden Mutter und reduziert die Gefahr von Infektionskrankheiten (Hepatitis und HIV) durch den Gebrauch unsteriler Spritzen. Zum anderen ist die Frau nicht den schädigenden Wirkungen von Streckmitteln ausgesetzt. Auch die Gefahr einer letalen Überdosis ist reduziert. Durch eine Substitutionsbehandlung und den damit in der Regel einhergehenden regelmäßigen Kontakten zum Gesundheitshilfesystem und der angegliederten Psychosozialen Begleitung in einer Drogenberatungsstelle kann diesen Belastungen mit angemessenen Unterstützungsangeboten begegnet werden. Viele Frauen, die sich bereits vor dem Beginn ihrer Schwangerschaft in einer Substitutionsbehandlung befanden, äußern nach Bekanntwerden der Schwangerschaft den Wunsch, die Substitution zu beenden, um dem Kind einen drogenfreien Einstieg ins Leben zu ermöglichen. Die Bayerische Akademie für Suchtund Gesundheitsfragen (BAS 2014) rät, eine Abdosierung des Substitutionsmit-



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tels „nur auf ausdrücklichen Wunsch der Schwangeren nach Aufklärung über die Risiken [durchzuführen,] [...] wenn dadurch kein erhöhtes Craving aufkommt und keine Zeichen für eine drohende Frühgeburt bestehen“ (ebd.: 4). Zudem ist eine Abdosierung nur bei motivierten Schwangeren in stabiler Substitutionsbehandlung ohne Beigebrauch sinnvoll, die gleichzeitig engmaschige suchttherapeutische Angebote wahrnehmen. Sollte die Schwangere sich für eine Abdosierung entscheiden, muss der Zeitpunkt vorab gut mit ihr abgesprochen und medizinisch begleitet werden. Insbesondere im ersten Drittel der Schwangerschaft ist bei einer Abdosierung mit einem erhöhten Abortrisiko zu rechnen. Es wird geraten, dass eine Abdosierung aber auch nach der 24. Schwangerschaftswoche nur in Begleitung einer engmaschigen gynäkologischen Kontrolle durchgeführt werden sollte, die 14-tägige vaginale, sonografische Untersuchungen beinhaltet. Die schwangere Klientin muss zudem darüber aufgeklärt werden, welche Symptome eine vorzeitige Wehentätigkeit anzeigen und welches Handeln in dieser Situation erforderlich ist. Nach der 32. Schwangerschaftswoche wird wegen der zeitlichen Nähe zur Geburt und der Möglichkeit von folgenden Schwangerschaftskomplikationen eine Abdosierung nicht empfohlen (vgl. ebd.). Physiologische Veränderungen während der Schwangerschaft wie beispielsweise ein erhöhtes Blutvolumen und veränderte Stoffwechselprozesse, aber auch die vermehrte psychosoziale Belastung der werdenden Mutter können eine Erhöhung der Substitutionsdosis erfordern. Nach der Geburt ist mit einem Entzugssyndrom des Neugeborenen zu rechnen; 60-80 % der Neugeborenen, deren Mütter in der Schwangerschaft Opioide wie Heroin oder Methadon konsumiert haben, entwickeln ein Neonatales Entzugssyndrom (NAS) (vgl. BAS 2014). Ist die Entbindungsklinik vorab über die Substitution unterrichtet und kann die Symptome sofort dem Entzug zuordnen, kann das Entzugssyndrom gut behandelt werden. Unbestritten ist eine stabile Substitution einer dosisreduzierten Substitution mit Beikonsum vorzuziehen.

S CHWANGERSCHAFT , G EBURT

UND

T RAUMA

Etwa 70-90 % der weiblichen Suchtkranken weisen traumatische (sexualisierte) Gewalterfahrungen auf (vgl. Lüdecke et al. 2010). Unter dem Aspekt, dass der Substanzkonsum in diesem Zusammenhang als ein Versuch gedeutet werden kann, die sich aufdrängenden Erinnerungen zu kontrollieren, zu reduzieren und somit auszuhalten, stellt eine Schwangerschaft für traumatisierte Frauen auch unter diesen Aspekten eine Herausforderung dar: Mit dem angestrebten Verzicht auf Suchtmittel entfällt die Möglichkeit, Gefühle abzuspalten. Mit den umfang-



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reichen Belastungen in dieser Lebensphase, die zusätzlich psychisch verunsichern können, besteht die Gefahr, dass traumatisierte Frauen während der Schwangerschaft eine (Re-)Traumatisierung erleben. Über anzunehmende Zusammenhänge zwischen Trauma, Sucht und Schwangerschaft sowie deren wechselseitige Auswirkungen liegen insgesamt kaum Forschungserkenntnisse vor. Da sich Sucht, Trauma und Schwangerschaft gegenseitig vielfältig beeinflussen können, ist es in der medizinischen und psychosozialen Begleitung von drogenabhängigen Schwangeren jedoch von großer Bedeutung, diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sicherzustellen, dass alle beteiligten Fachkräfte in der Versorgung der Schwangeren über die Besonderheiten des Einzelfalls (z. B. Konsum/Trauma) im Vorfeld informiert sind. Viele Drogen konsumierende Frauen nehmen gynäkologische Untersuchungen nicht wahr. Die in einer Schwangerschaft notwendigen vaginalen Untersuchungen, Tastuntersuchungen im Bereich der Brust und im Abdominalbereich sowie die Verwendung von Gel zur Sonografie (Ähnlichkeit mit Sperma) können für traumatisierte Frauen belastend bis re-traumatisierend sein (vgl. Erfmann 2005). Die betroffene Frau muss daher vorab über alle Schritte der Untersuchung behutsam und sorgfältig aufgeklärt werden. Ängste, die durch die Traumatisierung entstanden sind, können genauso wie Ängste vor der Abwertung/Stigmatisierung als drogenabhängige schwangere Frau dazu führen, dass Vorsorgetermine nicht wahrgenommen werden und Untersuchungen abgelehnt werden. Eine Geburt wird grundsätzlich als ein besonders sensibles Lebensereignis im Leben einer Frau angesehen – unabhängig von Substanzkonsum. Während einer Geburt befindet sich die Gebärende in einem Ausnahmezustand zwischen Hilflosigkeit und Abhängigkeit, Kontrollverlust, Wehrlosigkeit gegen die Schmerzen, Erschöpfung, Ängsten und Überschreiten natürlicher Schamgrenzen. Diese Gefühle können durch ihre Ähnlichkeit mit traumatischen Erlebnissen zu Flashbacks führen. Kommt es zur Dissoziation als Abspaltungsmechanismus, ist die aktive Mitarbeit am Geburtsvorgang nur bedingt möglich. Ebenso können die Ängste der Gebärenden zu einem Geburtsstillstand führen. Der Verlauf einer Entbindung kann auch als traumatisch erlebt werden, wenn sich belastende Erfahrungen aus vorangegangenen Geburten wiederholen. Dabei stehen nicht mögliche Geburtskomplikationen aus medizinischer Sicht im Fokus, sondern die subjektiven Empfindungen der betroffenen Frau. Während des Geburtsvorganges kann es zu weiteren medizinischen Interventionen (wie etwa Einlauf, Geburtsposition, die nicht frei gewählt werden kann) oder Äußerungen



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des Personals („Es ist doch gleich vorbei“) kommen, die die Gefahr eines Flashbacks erhöhen. Insgesamt wird die Geburt von traumatisierten Frauen als schmerzhafter und belastender empfunden. Ist den bei der Geburt anwesenden Helfer_innen nichts von der Traumatisierung bekannt, werden sie die Gebärende eventuell als besonders schwierig oder passiv erleben, aber nicht adäquat auf ihre Bedürfnislage reagieren können. Biografische Erfahrungen mit sexueller Gewalt belasten auch das Vertrauen in die Unterstützung durch andere Menschen – während der Geburt kann die Erfahrung der Abhängigkeit beispielsweise von der Hebamme und/oder den Ärzt_innen die erlebte Hilflosigkeit während des früheren Gewalterlebens reaktivieren. Eine traumasensible Geburtshilfe muss eine sorgfältige, individuelle Begleitung der Gebärenden, Kontinuität in der Betreuung, Vermittlung von Sicherheit und einen respektvollen Umgang umfassen. Interventionen müssen darauf ausgerichtet sein, Frauen Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln. So ist aus der Praxis bekannt, dass sich viele Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt sind, einen Kaiserschnitt oder eine frühzeitige Schmerzbehandlung wünschen. Diese Wünsche sollten aufgegriffen und mit der Schwangeren besprochen werden. Auch nach der Geburt ist die Mutter vermehrten Trigger-Reizen ausgesetzt. Dazu gehören beispielsweise der Wochenfluss, die Nahtversorgung bei Dammriss, Beschwerden mit Hämorrhoiden (besonders nach analer Vergewaltigung) (vgl. Erfmann 2005).

I NFEKTIONSRISIKEN

BEI DER

G EBURT

Circa 10-15 % der ehemals oder aktuell drogenabhängigen oder substituierten Frauen sind HIV-positiv. Bei rechtzeitig erkannter und behandelter HIVInfektion der Schwangeren kann das Übertragungsrisiko von der Mutter auf das Kind von 15-20 % auf 2 % gesenkt werden. Daher sollten bei Schwangeren mit erhöhtem HIV-Risiko nicht nur zu Beginn der Schwangerschaft, sondern auch im Verlauf der Schwangerschaft HIV-Tests wiederholt werden, um eine Neuinfektion durch intravenösen Beikonsum oder andere Übertragungswege auszuschließen (vgl. Nagel/Siedentopf 2006). Annähernd 70 % aller intravenös Drogen konsumierenden oder substituierten Frauen zeigt einen positiven Anti-HCV1-Antikörper-Titer, etwa 60 % dieser Patientinnen haben eine aktive Hepatitis C. Bei ca. 3-5 % von ihnen kommt es

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Hepatitis-C-Virus (HCV).

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zu einer peripartalen Übertragung der Hepatitisviren auf das Kind (vgl. ebd.). Bei einer zusätzlich zur Hepatitis C vorliegenden HIV-Infektion der Mutter wurden allerdings Infektionsraten von bis zu 36 % erfasst (vgl. RKI 2014). Dennoch sollten, „wenn möglich, diagnostische Eingriffe vor der Geburt (wie z. B. Fruchtwasseruntersuchungen) vermieden werden, da es durch solche Maßnahmen zu Infektionen kommen kann“ (ebd.). Eine Virusübertragung über das Stillen ist eher unwahrscheinlich (vgl. Nationale Stillkommission 2008); wenn die Hepatitisinfektion jedoch erst in der Schwangerschaft oder der Stillzeit erfolgt ist, sollte „die Entscheidung zu stillen sorgfältig abgewogen werden“ (RKI 2014).

D IE S ITUATION

DER

K INDER

Kinder, die von drogenabhängigen Müttern geboren werden, weisen unzweifelhaft einen schwierigen Start in das Leben und häufig eine ausgesprochen schwierige Lebenssituation auf. Diese Thematik angemessen zu erfassen, erfordert eine umfangreiche Auseinandersetzung. Zu den zentralen Aspekten gehören die familiäre Lebenssituation unter den Aspekten von Armut, sozialer Isolation sowie Belastungen durch psychische Erkrankungen der Mütter; Trennung und Scheidung der Eltern und dem Aufwachsen mit nur einer Bezugsperson und der Kreislauf aus Trauma, Bindungsstörungen und Sucht, in den die Kinder hineingeboren werden. Insgesamt sind die Kinder einer Reihe ungünstiger Faktoren ausgesetzt, mit teilweise auch schwerwiegenden Folgen. Gleichzeitig muss bei der Vertiefung der Thematik einbezogen werden, dass Mädchen und Jungen auf Lebensbelastungen und Traumatisierungen geschlechtsbezogen unterschiedlich reagieren, dass das Aufwachsen mit einer alleinerziehenden drogenabhängigen Mutter für Mädchen und Jungen unterschiedliche Prägungen und Folgen hat und dass Mädchen und Jungen nicht nur eine individuelle, sondern auch eine geschlechtsbezogene Reaktion im Sinne einer Antwort auf diese Situation geben. Eine Geschlechterdifferenzierung ist also auch in der Arbeit mit den Kindern erforderlich, um tatsächlich sowohl den Mädchen als auch den Jungen gerecht zu werden (vgl. auch Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA 2001).



S CHWANGERSCHAFT UND M UTTERSCHAFT BEI DROGENABHÄNGIGEN F RAUEN

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Lebenssituation und Alltagsbewältigung von Frauen in der Straßen-Drogenszene C HRISTIANE B ERNARD

E INLEITUNG Der nachfolgende Beitrag richtet den Blick auf einen spezifischen Ausschnitt des Phänomens „Frauen und Sucht“: auf Konsumentinnen illegaler Drogen, deren Lebensmittelpunkt die Straßen-Drogenszene ist. Die Ausführungen basieren auf den Ergebnissen einer ethnografisch ausgerichteten Forschungsarbeit in der Frankfurter Straßenszene, die Einblicke in die Spezifika dieses Milieus aus Sicht von Drogen konsumierenden Frauen liefert (vgl. Bernard 2013). Öffentlich präsente Straßen-Drogenszenen sind durch den sichtbaren Handel und Konsum illegaler Drogen in Verbindung mit Beschaffungskriminalität und Prostitution charakterisiert. Für Frankfurt wird geschätzt, dass die Straßenszene für 300-400 Personen den Lebensmittelpunkt darstellt. Mit einem Anteil von einem Fünftel bis maximal einem Viertel sind Frauen hier in der deutlichen Minderheit (vgl. Kemmesies 2002: 11, Schmid/Vogt 2005: 235, Förster/Stöver 2014). Die Lebenssituation in der Drogenszene ist durch den täglichen Konsum und die tägliche Beschaffung von Drogen, (psycho-)soziale und gesundheitliche Beeinträchtigungen sowie soziale Desintegration, Marginalisierungs- und Kriminalisierungserfahrungen geprägt. Ausgehend von der These, dass der Szenealltag wesentlich durch die Kategorie Geschlecht bestimmt ist und die Bedingungen und Strukturen der StraßenDrogenszene unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben, werden nachfolgend Merkmale und Besonderheiten der Situation von Frauen in diesem Milieu betrachtet. Im Fokus stehen dabei die strukturellen und sozialen



186 | C HRISTIANE B ERNARD

Aspekte dieser devianten Subkultur sowie die Frage danach, wie sich unter diesen Bedingungen der Szenealltag für Frauen gestaltet und welche spezifischen Belastungen für sie damit einhergehen.

M ETHODIK

DER

U NTERSUCHUNG

Das methodische Vorgehen der Studie basiert auf einer Kombination aus qualitativen und quantitativen Interviewverfahren. Mittels qualitativer Leitfadeninterviews sollten detaillierte und subjektnahe Einblicke in die Alltagswelt von Drogenkonsumentinnen gewonnen werden und die Frauen als Expertinnen zu Wort kommen. Die gewählte Interviewform lehnte sich an das problemzentrierte Interview nach Witzel (1985) an, sodass die Interviews zwar offen gestaltet waren, aber dennoch auf bestimmte Inhaltsbereiche fokussierten. Der Interviewleitfaden umfasste Fragen zum Alltag in der Drogenszene (Routinen, Verhältnis zu anderen Drogenkonsumierenden, Gestaltungs- und Bewältigungsmuster des Szenelebens), zum Konsum von Drogen, zu Erwerbs- und Finanzierungsstrategien, zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern im Hinblick auf das Szeneleben, zu mit dem Szeneleben einhergehenden Belastungen sowie zur Bewertung der Angebote der Drogenhilfe. In Ergänzung zu den qualitativen Interviews lieferte eine quantitative Fragebogenerhebung eine breite Datenbasis zu soziodemografischen Informationen, Konsummustern, Dauer und Intensität des Szeneaufenthalts, Gewalterfahrungen, gesundheitlichen Beschwerden und zur Inanspruchnahme des Drogenhilfesystems. Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse stützen sich auf 16 Leitfadeninterviews und 50 Fragebogeninterviews mit kompulsiven Drogenkonsumentinnen. Die Leitfadeninterviews wurden mit dem Einverständnis der Interviewpartnerinnen auf Tonband aufgezeichnet und anschließend wörtlich transkribiert. Informationen, die zu einer Identifikation hätten führen können, wurden nicht erhoben bzw. anonymisiert. Zudem wurden die Frauen gebeten, einen Codenamen zu wählen. Die Interviews dauerten zwischen 30 und 95 Minuten. Die Fragebogenerhebung wurde ebenfalls als ‚face-to-face’-Situation gestaltet und die Antworten der Frauen zu den einzelnen Fragen direkt im Erhebungsbogen dokumentiert. Die Fragebogeninterviews dauerten zwischen 15 und 85 Minuten (durchschnittlich 30 Minuten). Alle Untersuchungsteilnehmerinnen wurden im unmittelbaren Umfeld der Straßen-Drogenszene rekrutiert – über Einrichtungen und Angebote der niedrigschwelligen Drogenhilfe oder direkt auf der Straße. Die Leitfadeninterviews wurden in Büroräumen niedrigschwelliger Drogenhilfeeinrichtungen in unmittelbarer Szenenähe geführt, die Fragebogenerhebung erfolgte meist in Kontakt-



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cafés oder den Wartebereichen der Konsumräume, z. T. aber auch auf der Straße. Der analytische Zugang zum erhobenen Datenmaterial stellte sich als Verbindung zwischen interpretativen und statistischen Methoden dar. Die Leitfadeninterviews wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1983) ausgewertet, die quantitative Fragebogenerhebung wurde computergestützt mittels statistischer Verfahren analysiert; die Berechnungen erfolgten auf Basis der Statistiksoftware SPSS. Qualitative und quantitative Daten wurden integriert und mit einander in Bezug gesetzt, sodass sie sich gegenseitig informierten.

B ESCHREIBUNG

DER S TICHPROBE ANHAND SOZIODEMOGRAFISCHER D ATEN Das Durchschnittsalter der Frauen liegt bei 34 Jahren. Zwei Drittel sind ledig (verheiratet: 10 %, geschieden: 22 %) und knapp drei Fünftel haben eigene Kinder. Jedoch lebt keine der Frauen zum Zeitpunkt der Befragung mit ihren Kindern zusammen: In der Hälfte der Fälle haben die Mütter ihre Kinder vorübergehend oder dauerhaft in die Obhut von anderen Familienangehörigen übergeben, bei jeder Sechsten sind die Kinder institutionell untergebracht und bei jeder Siebten sind die Kinder bereits erwachsen und leben selbstständig. Nur in zwei Fällen leben die Kinder bei ihrem Vater. Das (Aus-)Bildungsniveau der Frauen ist niedrig: 26 % haben gar keinen Schulabschluss, 42 % haben einen Hauptschulabschluss und 28 % einen Realschulabschluss (Abitur: 4 %). Lediglich ein Drittel hat eine Berufsausbildung absolviert. 70 % der befragten Frauen sind arbeitslos1 – dies im Durchschnitt seit fast sechs Jahren. Entsprechend hoch ist mit drei Vierteln auch der Anteil derer, die staatliche Transferleistungen (ALG II, Sozialhilfe) beziehen. Nahezu die Hälfte der befragten Frauen lebt zudem in äußerst prekären Wohnverhältnissen: 18 % sind obdachlos und 28 % in einer Notunterkunft untergebracht. Ebenfalls 28 % leben allein in einer eigenen Wohnung, weitere 12 % leben gemeinsam mit ihrem Partner, der fast immer auch Drogenkonsument ist. Was den Drogenkonsum der Frauen betrifft, so zeigen sich besonders intensive Konsummuster für Heroin und Crack: Beide Substanzen werden von mehr

1

Weitere 14 % sind als arbeitsunfähig gemeldet oder beziehen Frührente, ebenfalls 14 % arbeiten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, lediglich 2 % haben einen Teilzeitjob.



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als 60 % der Befragten täglich konsumiert: Heroin durchschnittlich fünfmal, Crack sogar im Schnitt zehnmal. Darüber hinaus konsumiert die Hälfte der Frauen täglich Benzodiazepine und ein Drittel trinkt täglich Alkohol. Niedrigere Anteile für einen täglichen Konsum finden sich hingegen für Cannabis (20 %) und Kokain (12 %), wenngleich diese beiden Substanzen auch von rund der Hälfte der Befragten innerhalb des zurückliegenden Monats konsumiert wurden. Mit nahezu drei Vierteln konsumiert das Gros der Frauen Drogen intravenös: Besonders häufig trifft dies auf Heroin zu, das von 85 % der Frauen injiziert wird, aber auch für Crack (73 %) und Benzodiazepine (54 %) lassen sich hohe Anteile für einen intravenösen Gebrauch beobachten. Im Schnitt nehmen die Frauen bereits seit mehr als 15 Jahren Heroin und seit über 8 Jahren Crack. Daneben weisen sie auch eine langjährige Bindung an die Frankfurter Straßen-Drogenszene auf: Im Schnitt seit 12 Jahren verbringen sie hier wöchentlich ihre Zeit. Wenngleich diesbezüglich eine große Spanne von sechs Monaten bis zu 37 Jahren besteht, so lässt sich dennoch für jede Zweite feststellen, dass sie bereits seit mindestens zehn Jahren regelmäßig (also mindestens einmal pro Woche) die Szene aufsucht.

G ESCHLECHTERHIERARCHIE

IN DER

D ROGENSZENE

Die Straßen-Drogenszene stellt einen durch männliche Normen definierten Sozialraum dar. Unter den Bedingungen der Illegalität kommt es zur Ausbildung von patriarchalen Strukturen und überzeichneten traditionellen Geschlechterstereotypen, die Männer bevorteilen und Frauen diskriminieren (vgl. Rosenbaum 1981, Maher 1997, Vogt 1998, Zurhold 1998). Gewalthandeln und das „Recht des Stärkeren“ erhalten im Szenealltag einen entscheidenden Stellenwert (vgl. Noller 1989, Paul 1998, Braun et al. 2001, Bourgois 2003). Die Drogenszene ist eine „Männerwelt“, in der männliche Drogenkonsumierende nicht nur in der Überzahl sind, sondern auch die höheren Statuspositionen einnehmen. Frauen werden auf die unteren Ränge der Szenehierarchie verwiesen. Die Geschlechterordnung, die durch das Alltagshandeln beständig reproduziert und gefestigt wird, hat dabei weitreichende Konsequenzen für die Alltagsbewältigung und die Selbstwahrnehmung von Frauen. Prägnant spiegelt sich die Geschlechterhierarchie in den Strategien zur Drogenfinanzierung – hier besonders im Bereich des Drogenhandels und der Prostitution – und dem hiermit verknüpften Ansehen und sozialen Status in der Szene wider. In dem geschlechtlich segregierten informellen „Arbeitsmarkt“ der Drogenszene genießt der von Männern dominierte Drogenhandel Prestige.



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„Die Dealer sind halt immer, sag’ ich jetzt mal, die werden halt immer groß angesehen, weil die ham’ halt alles, und, die ham’ halt auch das Geld und so, und ja [...] also die stehen ja im Endeffekt nur da und kriegen ihr Geld, also müssen jetzt auch wenig machen.“ 2

(Trixi , 28 Jahre)

Zwar geben 38 % der befragten Frauen an, sich teilweise über Drogenhandelsaktivitäten zu finanzieren, häufig handelt es sich hier jedoch um Tätigkeiten auf den untersten und wenig prestigeträchtigen Ebenen der Handelshierarchie wie „Vermitteln“3 oder den Verkauf von Kleinstmengen. „Also verkaufen tun eigentlich mehr die Männer und so vermittlungsmäßig mehr die Frauen.“ (Nele, 23 Jahre) „Das, was die Leute mir geben, als Vermittlung, das heb’ ich mir auf und verkauf’ das dann weiter, dann hab’ ich auch wieder Geld.“ (Tess, 33 Jahre)

Frauen haben es schwer, sich als Dealerinnen zu etablieren und akzeptiert zu werden. Bedingt ist dies einerseits durch den hohen Stellenwert, den physische Stärke und Gewalthandeln für den Drogenverkauf haben. Andererseits – und dies scheint das größere Hindernis zu sein – ist der Drogenhandel stark mit klassisch maskulinen Attributen wie Dominanz, Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft und Aggressivität assoziiert, während traditionell Frauen zugeschriebene Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft als damit unvereinbar gelten. Die in der Drogenszene herrschenden traditionellen Rollenzuschreibungen führen dazu, dass Frauen die Fähigkeit zum Dealen abgesprochen wird. Während Männer einen „Vertrauensvorschuss“ genießen, müssen sie sich gegen zahlreiche Vorurteile behaupten und mehr leisten, wenn sie Drogen verkaufen wollen (vgl. hierzu auch Paul 1998). „Als Frau hast du viel schlechtere Karten, du wirst schneller gerippt, bedroht. Du musst dich also wirklich doppelt so sehr durchsetzen wie ein Mann.“ (Pia, 48 Jahre) „Also du wirst als Frau eher versucht, abgezockt zu werden.“ (Marie, 43 Jahre)

2

Bei den Namen der Interviewpartnerinnen handelt es sich um Codenamen.

3

Hiermit bezeichnet ist das Arrangieren von Drogengeschäften zwischen Dealer_innen und Kund_innen, für das eine Vermittlungsprovision – meist in Form von Drogen – bezahlt wird, worüber dann ein Teil des Eigenkonsums gedeckt wird.



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Jene Interviewpartnerinnen, die sich über das Dealen finanzieren (oder finanziert haben), berichten häufig darüber, dass hierfür die Zusammenarbeit mit einem Mann notwendig ist, der einen gewissen Schutz bietet. „Da ist immer noch dieses, ja, dass die Leute einem das wegnehmen, oder so, dass man halt doch irgendjemanden haben muss, der dabei ist, irgendwie halt ’n bisschen stärker ist oder so, weil, was soll ich denn als Frau machen, wenn mir jemand das Geld wegnimmt oder das Zeug wegnimmt.“ (Dodo, 31 Jahre) „Ich wirke auf viele sehr couragiert, aber die wussten auch, dass ich nie alleine stehe, letztendlich. Also ich hatte immer ’nen Schutz. Ich hatte immer noch jemanden, der nach mir geguckt hat. Wenn ich ganz alleine gewesen wäre, das wäre schon anders gewesen.“ (Marie, 43 Jahre)

Fraglich bleibt, ob Frauen, falls sie überhaupt regelmäßig Drogen verkaufen, tatsächlich Anerkennung und Statusgewinn zuteil wird, oder ob sie nicht vielmehr aufgrund ihres Geschlechts in dieser Männerdomäne erneut ausgegrenzt und abgewertet werden. Während sich der Drogenhandel also – für Männer – mit Ansehen in der Drogenszene verbindet, wird die Sexarbeit als „frauentypisches“ Finanzierungsmuster – in der vorliegenden Untersuchung finanzieren sich hierüber 42 % der Befragten – diskreditiert. „Also das ist schon so, dass die Prostituierten wenig Ansehen hier haben. Und dann geht’s schon so: Du Schlampe! Also manchmal ist das schon ganz schön erniedrigend.“ (Marie, 43 Jahre) „Die Männer, die reden schon und zeigen auf die Frauen: Guck dir die an, die ist so drauf, die ist so abgejunkt, die geht mit jedem ekelhaftesten Freier mit, wie ekelhaft. Man hat schon ein anderes Ansehen hier auf der Szene, als wenn man anschaffen geht.“ (Anna, 26 Jahre)

Abwertung erfahren die sich prostituierenden Frauen nicht nur durch männliche Drogenkonsumierende, sondern auch durch Drogenkonsumentinnen, die nicht anschaffen gehen. Sie setzen die Beschaffungsprostitution mit Selbsterniedrigung und dem Verlust persönlicher Grenzen gleich – mit Etwas, dass für sie undenkbar wäre.



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„Also ich möcht’s net machen [...]. Da hab’ ich auch ’n großen Ekel davor, da bin ich auch ganz froh.“ (Trixi, 28 Jahre) „Dass die sich halt für sehr wenig Geld wirklich an die widerlichsten Männer hier verkaufen und für die Drogen wirklich alles machen. Also ich könnte es nicht und ich wollte es nicht. Ich kann’s halt auch nicht verstehen, da würde ich eher andere Sachen machen, ich würde mich halt nicht verkaufen.“ (Anna, 26 Jahre)

Unter diesen Bedingungen kämpfen die Frauen, die der Beschaffungsprostitution nachgehen, darum, ihre eigene Tätigkeit aufzuwerten und ihr Selbstwertgefühl zu bewahren. „Im Grunde die, die anschaffen gehen, ham’ das meiste Geld und vielleicht nur deswegen werden sie so beschimpft. Aber das ist einfach nur Neid.“ (Carla, 32 Jahre)

Die in der Drogenszene herrschenden klaren geschlechterbezogenen Rollenzuweisungen und Abwertungen werden jedoch nicht erst im Rahmen der Szeneökonomie beständig reproduziert, sondern die patriarchal-hierarchischen Geschlechterverhältnisse prägen vielmehr den gesamten Szenealltag. „Frauen sind mehr Gewalt ausgesetzt, so den blöden Anmachen und plumpen, irgendwelchen blöden Sprüchen oder Dissereien oder Mobbing. Die Männer nutzen ganz gerne mal so ihre Machoseite aus, so nach dem Motto: Ich bin ein Mann! Was willst du überhaupt?“ (Zille, 26 Jahre)

Frauen werden nicht erst im Zusammenhang mit der Sexarbeit abgewertet, sondern allein aufgrund ihres Geschlechts degradiert: „Also du hast eigentlich gleich schon ’nen Stempel: Schlampe! Auch wenn du nicht anschaffen gehst. Das ist so generell, jede Frau, die hier in dem Viertel ist, ist ’ne Schlampe.“ (Blume, 35 Jahre) „Vom Respekt her wirst du als Frau ganz mies behandelt. [...] Du hast als Frau einen anderen Stellenwert, einen ganz anderen, du bist Mittel zum Zweck, in jeder Beziehung.“ (Pia, 48 Jahre)

Die Szenehierarchie ist somit durch die Geschlechtszugehörigkeit festgelegt; Frauen werden auf die unteren Positionen verwiesen. Die in der Drogenszene herrschenden Geschlechterstereotype und patriarchalen Strukturen verhindern



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für Frauen die Möglichkeit von Statusgewinn und Anerkennung. Abhängig von den Beschaffungsmustern scheinen jedoch diesbezüglich Nuancierungen zu bestehen, sodass insbesondere sich prostituierende Drogenkonsumentinnen einer starken Abwertung ausgesetzt sind.

S OZIALE B EZIEHUNGEN

IN DER

D ROGENSZENE

Anknüpfend an die Ausführungen zur Geschlechterhierarchie wird nachfolgend beleuchtet, wie sich unter diesen Bedingungen die sozialen Beziehungen der Frauen im Szenekontext gestalten. Bereits anhand der soziodemografischen Daten wird das hohe Maß an sozialer Desintegration unter den Befragten deutlich: Ihr Bildungs- und Beschäftigungsniveau ist niedrig und ihre Wohnverhältnisse sind prekär. Die Drogenszene stellt ihren Lebensmittelpunkt dar. Die erhobenen Daten zum Szeneaufenthalt zeigen, dass die Frauen im Durchschnitt sechs Tage pro Woche und dann über einen Zeitraum von gut neun Stunden ihre Zeit auf der Szene verbringen – mehr als zwei Drittel sind täglich hier. Angesichts dieser Daten ist davon auszugehen, dass die Frauen kaum über soziale Bezüge außerhalb der Straßenszene verfügen und sich ihre Sozialkontakte weitgehend auf den Szenekontext beschränken. Die soziale Bedeutung, die der Drogenszene zukommt, wird auch anhand der mit dem Fragebogen erfassten Motive für den Szeneaufenthalt deutlich: 78 % geben an, sich u. a. auf der Szene aufzuhalten, „um Leute zu treffen“4, 54 % nennen „Langeweile/keine andere Beschäftigung“ als Grund. In den Interviews zeigt sich jedoch, dass die sozialen Beziehungen in der Szene vor allem durch fehlende Solidarität, gegenseitiges Misstrauen und Abwertung charakterisiert sind. Hierzu tragen neben den Bedingungen der Illegalität und der drogenzentrierten Lebensweise insbesondere die patriarchalen Strukturen und die Geschlechterhierarchie in der Drogenszene bei. Freundschaftliche Beziehungen scheinen unter diesen Umständen kaum möglich zu sein. „Freunde gibt’s hier nicht, das auf keinen Fall. Da guckt jeder, dass er irgendwie durchkommt. Ist halt Bahnhof, ist halt Szene.“ (Anja, 31 Jahre)

4

Nach dem Aufenthaltsmotiv „Drogen kaufen“, das von 94 % angegeben wird, ist der Aufenthalt auf der Szene wegen den dortigen Sozialkontakten das am zweithäufigsten genannte Motiv.



F RAUEN IN DER S TRA SS EN -D ROGENSZENE

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Während die szenetypischen Verhaltensweisen als unsolidarisch, egoistisch und berechnend charakterisiert werden und diese Eigenschaften „allen anderen“ zugeschrieben werden, grenzen sich die Interviewpartnerinnen selbst sehr deutlich hiervon ab, indem sie sich als hilfsbereit und ehrlich beschreiben. „Im Endeffekt ist es dann halt auch immer so gewesen, dass es den anderen Leuten irgendwie immer nur um das Material ging, und wenn ich nix mehr hatte, dann war ich auch uninteressant. Und irgendwie lern’ ich das trotzdem nicht so richtig, weil ich denke, es können nicht alle so sein, ich bin doch auch nicht so. Und am Ende werde ich dann noch beklaut und wach’ dann morgens auf und hab’ gar nichts mehr.“ (Dodo, 31 Jahre) „Das ist halt, die Drogenszene ist einfach allgemein beschissen. Also, ich hab’ so vielen Leuten schon geholfen und wenn du dann mal selber Hilfe brauchst, hilft dir keiner. Wirklich, jeder guckt nur nach sich selber, dass er selber über die Runden kommt.“ (Blume, 35 Jahre) „Ich bezahl’ auch meine Schulden, klar, ich mach’ auch mal scheiß, aber eigentlich bin ich sehr ehrlich, was auch nicht normal ist, hier auf der Szene.“ (Lela, 32 Jahre)

Sich selbst als „ein bisschen weniger Junkie“ darzustellen, lässt sich als Strategie der Frauen begreifen, Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse abzumildern und das eigene Selbstwertgefühl und Selbstbild aufzuwerten. Vor allem die Abwertung anderer „Szenefrauen“ ist für diese Form der Identitätsarbeit bedeutsam. Die Frauen haben die stärkere gesellschaftliche Stigmatisierung und Sanktionierung des weiblichen Drogenkonsums und die Degradierung, die sie in der Drogenszene erfahren, internalisiert – dies prägt wiederum ihre Einstellung gegenüber anderen Drogenkonsumentinnen und führt zur gegenseitigen Diskreditierung. Die Abwertung anderer Drogenkonsumentinnen verbindet sich dabei mit der Aufwertung der eigenen Person (vgl. auch Zurhold 1993). Entsprechend wird in den Interviews meist eine negativere Einstellung gegenüber weiblichen als gegenüber männlichen Drogenkonsumierenden deutlich. „Ich komm’ hier mit den Frauen nicht so klar. Weil, wie gesagt, erstens sind die auf’m ganz anderen Standpunkt wie ich. Die meisten, die gehen ja auch anschaffen und so, und ja, die denken halt auch schon irgendwie ganz anders. Also, ich weiß nicht, mit den meisten kann ich mich auch gar nicht normal unterhalten, weil, das Hauptthema ist Drogen. Und die Männer, sag’ ich mal, waren, in Anführungsstrichen, noch ziemlich normal, so die, wo ich kennengelernt hab’.“ (Trixi, 28 Jahre)



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Die Interviewpartnerinnen nutzen die Abgrenzung gegenüber anderen Drogenkonsumentinnen, um ihre eigenen Werte und Prinzipien zu verdeutlichen und ihre Selbstachtung zu bewahren. Anderen „Szenefrauen“ werden solche Handlungsprinzipien hingegen abgesprochen. „Ach, die Frauen hier, die schleimen nur rum, die wollen nur ihren Stein [Crack, Anm. C.B.] und mehr wollen die nicht. Zum Beispiel, ich geh’ anschaffen, ich schick’ meinem Mann auch jeden Monat zwohundert Euro in ’n Knast, und meinen Schwiegereltern, wenn ich ’n Freier hab’, wo sehr gut zahlt, so fünfhundert Euro zum Beispiel für die ganze Nacht zahlt, dreihundert gehen zu denen, hundert mein Mann, hundert ich. Ja, ich denk’ an meine Familie noch, und die meisten hier denken ja gar nicht mehr an ihre Familie.“ (Tess, 33 Jahre)

Auch partnerschaftliche Beziehungen zu männlichen Drogenkonsumierenden werden von den Interviewpartnerinnen negativ bewertet und in erster Linie mit Nachteilen für sich selbst und einer Problemverschärfung assoziiert. Die Frauen haben oftmals die Erfahrung gemacht, dass Drogenkonsum und ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis nicht miteinander vereinbar sind. „’Ne Beziehung hat sowieso keinen Zweck, also das ist völlig… Das hab’ ich auch mal versucht, aber das ist, da wird sich nur beschissen und beklaut und heimlich gedrückt [i. v. Konsum; Anm. C. B.] und gemacht und getan, und das find’ ich scheiße, also, ich glaub’ das geht nicht – Drogen und Beziehung. Die meisten hier, die ’ne Beziehung haben, die waren schon zusammen, bevor sie Drogen genommen haben, und die sind aus Gewohnheit zusammen. Und dann geht die Frau anschaffen und der Typ steht dann da und verplant schon das Geld, während sie gerade mal eingestiegen ist, so ja, und dann kommt sie wieder und muss das Geld abliefern. Ich weiß nicht, also mein Geld ausgeben kann ich auch alleine.“ (Dodo, 31 Jahre)

Die Beziehung zu einem Drogenkonsumenten wird von ihnen vor allem als Ausbeutungsverhältnis wahrgenommen, indem sie selbst in die Rolle der Versorgerin geraten, von dem Partner aber kaum eine Gegenleistung erwarten können. „Wenn man selber drauf ist, Junkie, was willst du denn dann für ’n Freund haben? Der auch drauf ist? Und du gehst anschaffen und versorgst euch beide? Nee, danke!“ (Mara, 25 Jahre)



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„Bei Paaren seh’ ich das unheimlich oft, dass die Männer da so den Macker raushängen lassen, aber eigentlich die Frauen meistens diejenigen sind, die das Geld ranschaffen und sich auch so d’rum kümmern, dass auch alles ein bisschen läuft. Und die Typen stehen dann am Bahnhof ’rum, knallen sich den Kopp’ zu oder gehen mal in den Druckraum, machen sich ’nen Druck, rennen wieder an‘n Bahnhof, trinken Bier, fressen Pillen, verkaufen vielleicht hier und da mal was. Aber die Frauen sind meistens die, die versuchen, das so ein bisschen zusammenzuhalten.“ (Zille, 26 Jahre)

Fast alle Interviewpartnerinnen bewältigen daher ausschließlich auf sich selbst gestellt und als ausgesprochene Einzelgängerinnen den Szenealltag. Einerseits können sie so Konflikten mit anderen Drogenkonsumierenden teilweise aus dem Weg gehen und relativ unabhängig, ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, ihren Alltag gestalten. „Es geht immer nach hinten los, wenn du dich mit jemandem zusammentust. Das ist meine Erfahrung. Mach alleine dein Ding, dann kommst du am weitesten. Jeder muss hier seinen Kampf kämpfen!“ (Frau XY, 46 Jahre) „Ich bin lieber alleine, als mit jemandem zusammen. Weil, ich hab’ gemerkt, wenn ich mit jemandem zusammen bin, komm’ ich schon in Schwierigkeiten. Und dann bin ich lieber alleine, da weiß ich auch, was ich mache. Ich muss keinem hier den Arsch lecken, mal auf Deutsch gesagt, und hab’ meine Ruhe.” (Nele, 23 Jahre)

Andererseits fehlen den Frauen damit unterstützende Sozialkontakte, woraus psychisch belastende Gefühle der Vereinzelung und Vereinsamung resultieren. „Also ich hab’ das lange versucht hier irgendwie ’ne Freundin oder ’nen Freund, also einfach so, zu finden, weil man ist hier alleine und alleine sein, ist scheiße.“ (Dodo, 31 Jahre)

Darüber hinaus ist das Fehlen von Sozialkontakten auch angesichts der in der Szene herrschenden Gewaltstrukturen problematisch, da die Frauen in Konfliktsituationen keine Hilfe von anderen erwarten können.

G EWALTERFAHRUNGEN

IM

S ZENEKONTEXT

In der Fragebogenerhebung geben 38 % der Frauen an, in den letzten vier Wochen psychische Gewalt erfahren zu haben, 14 % haben im selben Zeitraum physische Gewalt erlebt und 6 % sexuelle Gewalt. Die Gewalterfahrungen der Frau-



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en sind dabei, nicht überraschend und mit Ausnahme sexueller Gewalterlebnisse, vor allem mit dem Szenemilieu und anderen Drogenkonsumierenden assoziiert. Körperliche Gewalt erfahren die Frauen vor allem durch andere Drogenkonsumenten, die ihre physische Überlegenheit auch schlicht dazu nutzen, sich Geld oder Drogen von den Frauen gewaltsam anzueignen. „Es gibt einige Typen, die halt der Meinung sind: Ach Frau, die hat schnell Kohle gemacht, ich bin ein Mann, stärker, größer, wie auch immer, das Geld ist mir! Und wenn du Pech hast und an so jemanden gerätst, ist dein Geld halt weg. Ich hab’ das schon oft genug erlebt, dass Frauen... hier, gib die Kohle her! Nein! Batsch! Und das Geld ist weg! Also, das finde ich halt ganz übel, wenn die Typen auf die Mädels losgehen. Dazwischen gehen kannst’e nicht, dann fängst du auch noch eine.“ (Frau XY, 46 Jahre) „Wenn die sehen, ich hab’ was [Drogen, Anm. C.B.], und ich geb’s denen nicht, dann holen sie’s halt mit Gewalt, indem sie mich entweder bedrohen, schlagen oder sonst irgendwas. Das sind aber, die nehmen dir’s prinzipiell weg. Der J. zum Beispiel, wie oft hat der mich schon bedroht oder er hat mich ins Gebüsch reingezogen, und hat sich das mit Gewalt geholt. Und vor so ’nem Typen musst du Angst ham’.“ (Nele, 23 Jahre)

In den Interviews werden verschiedene Strategien der Frauen deutlich, wie sie sich vor Übergriffen durch andere Drogenkonsumierende zu schützen suchen. Unter Umständen bedeutet dies auch, sich nicht zu Wehr zu setzen, um massivere Formen der Gewalt zu vermeiden. „Weil, wer weiß, was der Typ sonst noch alles macht. Also tu’ ich’s dann lieber akzeptieren, dass er mir’s weggenommen hat. Aber er weiß dann halt auch, er kann’s immer wieder mit mir machen.“ (Nele, 23 Jahre)

Dies birgt, wie obiges Zitat verdeutlicht, jedoch auch die Gefahr, als „leichtes Opfer“ gesehen zu werden und damit auch zukünftig verstärkt Übergriffen ausgesetzt zu sein. Ein selbstsicheres Auftreten ist daher wichtig, um nicht in die „weibliche Opferrolle“ zu geraten. „Es kommt ja auch immer darauf an, was für ein Mann steht dir da gegenüber? Und was will der von dir? Und auch: Was strahlst du aus? Weil manche Menschen, die kommen schon so als Opfer rüber und wenn du schon als Opfer gesehen wirst, was du als Frau ja ganz schnell wirst, das geht ruckzuck, dass du als Opfer gesehen wirst.“ (Zille, 26 Jahre)



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Sich verbal, teils aber auch physisch zur Wehr zu setzen, bedeutet gleichzeitig auch, sich gegen das szenetypische Bild der wehrlosen und unterdrückten Frau zu wehren. Auch in diesem Zusammenhang wird wieder die klare Abgrenzung der Interviewpartnerinnen gegenüber „den anderen Frauen“ in der Szene deutlich, für die eine Entsprechung mit diesem Bild konstatiert wird. Indem sie für sich selbst diese Zuschreibungen und damit auch die Zugehörigkeit zur Gruppe „der Frauen“ in der Szene verneinen und sich entsprechend verhalten, können die Interviewpartnerinnen einerseits ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstachtung stärken, andererseits stößt dieses Verhalten in der Szene auf Ablehnung und wird verurteilt. So berichten einige der Frauen, nicht ohne Stolz, dass sie, gerade weil sie sich zur Wehr setzen, „ziemlich unbeliebt“ in der Szene seien oder „viele schlecht über sie reden“ würden. Insofern findet eine beidseitige und sich gegenseitig verstärkende Ab- und Ausgrenzung statt. „Die Frauen müssen auf alle Fälle kuschen. Also ich bin ziemlich unbeliebt, weil ich mein Maul halt aufmache.“ (Carla, 32 Jahre) „Ich hab’ aber auch was dafür getan, dass ich jetzt so akzeptiert werde. Ich mein’, viele reden auch schlecht über mich, weil ich mich halt eben wehr’. [...] (C. B.: Das dann auch mit Gewalt?) Ja wenn’s sein muss, auf der Straße, ja klar. Das geht nicht anders. Wenn man auf der Straße ist, sollte man sein Bestes geben, um sich durchzusetzen. Ich mein’, was so ’n Typ kann, das kann ich doch auch. Es gibt aber nur wenige Frauen, die das machen. Und die anderen, brauchst nur aus’m Fenster zu gucken, die sind grad’ mal seit zwei, drei Jahren dabei, seh’n aus wie ’ne laufende Leiche und werden nur hin und her geschickt: Mach’ mal das, mach’ mal das, kriegst auch ’n Zug dafür. Also, wenn die so weitermachen wie bisher, glaub’ ich nicht, dass sie’s schaffen. Weil sie irgendwann mal in irgend ’nem Graben liegen.“ (Mara, 25 Jahre)

Das obige Interviewzitat von Mara ist auch deshalb interessant, weil sie – als eine der wenigen Interviewpartnerinnen – explizit darüber berichtet, sich auch mittels Gewalt im Szenekontext zu behaupten. Sie verstößt damit in besonderer Weise gegen das traditionelle weibliche Rollenverständnis und die tradierte Geschlechterordnung in der Szene. Die Übernahme von Gewalthandeln als „typisch männliche“ Verhaltensweise ist dabei für sie nicht nur ein Mittel, um sich Respekt zu verschaffen, sondern auch die Voraussetzung dafür, um überhaupt in der Szene überleben zu können. Durch die Abgrenzung gegenüber anderen Drogenkonsumentinnen geht für die Frauen zwar ein Zugewinn an Selbstachtung einher, gleichzeitig verhindert dies jedoch ein gemeinsames und solidarisches Handeln gegenüber der Gewalt



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von Männern – dies macht die Frauen im Szenekontext erheblich angreifbarer. Die stärkere gesellschaftliche Stigmatisierung von Drogen konsumierenden Frauen und das hohe Maß an Diskriminierung und Diskreditierung, das sie in der Drogenszene erfahren, scheinen die Frauen für sich selbst nur durch die Abwertung anderer „Szenefrauen“ und eine damit verbundene Aufwertung der eigenen Person abschwächen zu können. Während die Beziehungen zwischen den Frauen vor allem durch Konkurrenz und gegenseitige Herabwürdigung geprägt scheinen, werden die Beziehungen zwischen Männern deutlich anders beschrieben. „Also ich komme mit ganz wenigen Frauen hier eigentlich aus. Also unter Frauen, das ist sehr rivalisch, es gönnt wirklich keine der anderen was, das ist irgendwie schwieriger wie bei Männern. Männer unter sich gehen ganz anders miteinander um, das ist mehr so kameradschaftlich.“ (Marie, 43 Jahre)

Auch während der Feldforschung wurde der Eindruck gewonnen, dass sich männliche Drogenkonsumierende in der Szene häufiger in kleinen Gruppen aufhalten und dadurch einen gewissen Zusammenhalt vermitteln. Ihre Stärke und Präsenz wird damit zusätzlich verdeutlicht.

P SYCHISCHE UND GESUNDHEITLICHE F OLGEN DES S ZENELEBENS Für die interviewten Frauen ist der Szenealltag in erster Linie durch Aktivitäten zur Drogenbeschaffung bestimmt. Vor allem diejenigen, die Crack konsumieren und der Beschaffungsprostitution nachgehen, beschreiben einen Alltag, der fast ausschließlich aus dem schnellen Wechsel zwischen Finanzierung, Erwerb und Konsum von Drogen besteht. „Gucken nach’m Freier, Geld machen, Stein kaufen, Freier machen, einkaufen. Immer so.“ (Tess, 33 Jahre) „Ja, mein Alltag, immer gleich, ja, 24 Stunden Geld beschaffen, zwischendrin Drogen konsumieren, Geld beschaffen, Drogen konsumieren. Das ist der ganze Alltag. Es gibt nichts anderes. Wenn ich nicht anschaffen bin, bin ich im Druckraum, wenn ich im Druckraum nicht bin, bin ich anschaffen.“ (Carla, 32 Jahre)



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Ruhephasen werden selten eingeplant, sodass die Frauen, ohne zu schlafen, mehrere Tage und Nächte auf der Straße unterwegs sind. „Manchmal bin ich vier, fünf Tage wach, dann ’nen halben Tag, wenn ich hier im Tagesbett schlaf’, schlaf’ ich ein bisschen und dann bin ich wieder tagelang wach. Aber ich hab’ keinen normalen Rhythmus mehr.“ (Nele, 23 Jahre)

Erst wenn es ihre körperliche Verfassung nicht mehr anders zulässt, wird eine kurze „Zwangspause“ eingelegt. Bei anderen findet zumindest in der Nacht eine Unterbrechung des Kreislaufs aus Drogenbeschaffung und -konsum statt. „Ich steh’ morgens auf, mach’ mir meinen ersten Druck, mach’ mich fertig, fahr’ dann meistens so gegen neun in die Stadt, dreh’ ’ne kurze Runde bis ich halt mein Methadon hole und dann, ja, arbeiten, anschaffen, den ganzen Tag. Und abends geh’ ich dann nach Hause.“ (Blume, 35 Jahre)

Es ist zu vermuten, dass die feste Unterkunft und die Substitutionsbehandlung dazu beitragen, dass die zitierte Interviewpartnerin – trotz Beschaffungsprostitution und Crackkonsum – über einen Alltagsrhythmus verfügt, in dem regelmäßige Schlafzeiten existieren. Einen Tagesablauf, in dem nicht ausschließlich drogenbezogene Tagesaktivitäten Platz finden, beschreibt eine andere Interviewpartnerin. „Dann steh’ ich morgens auf, verkauf’ bis abends, geh’ natürlich auch mal zwischendurch was essen oder Kaffee trinken. Und abends dann noch was einkaufen für die Nacht, ja und dann geh’ ich halt schlafen.“ (Anna, 26 Jahre)

Offenbar haben auch die unterschiedlichen Wege der Drogenfinanzierung sowie die z. T. damit zusammenhängenden Konsummuster einen Effekt auf den Alltagsrhythmus. Während das Dealen (mit dem oben zitierte Interviewpartnerin Anna ihren Drogenbedarf deckt) vermeintlich eher einen strukturierteren Tagesablauf ermöglicht, scheinen die Bedingungen der Beschaffungsprostitution eine derartige Alltagsgestaltung, inklusive eines Wach-/Schlafrhythmus, zu erschweren. Dies ist auch durch das Wechselverhältnis zwischen Prostitution und Drogenkonsum bedingt. Zwar gehen die Frauen in erster Linie der Sexarbeit nach, um Drogen zu finanzieren, gleichzeitig dienen ihnen Drogen aber auch, um mit der Prostitutionstätigkeit umzugehen (vgl. hierzu auch Guggenbühl/Berger 2001: 14).



200 | C HRISTIANE B ERNARD „Und die machen sich dann einfach wieder zu, der Nächste wieder drüber. Mir sind auch Sachen passiert, das hätte ich keinem normalen Menschen erzählen können. Was hab’ ich gemacht? Ich hab’ mich zugemacht und weiter gemacht, weil ich brauchte ja das Geld.“ (Pia, 48 Jahre)

Damit übereinstimmend lassen sich unter den befragten Frauen, die der Beschaffungsprostitution nachgehen, intensivere Drogenkonsummuster feststellen. So verdienen sie zwar doppelt so viel Geld pro Woche wie die befragten Frauen mit anderen Finanzierungswegen, sie geben aber auch mehr als doppelt so viel Geld für Drogen aus.5 70 % der sich prostituierenden Befragten konsumieren täglich Crack und 60 % konsumieren täglich Heroin, während die entsprechenden Anteile unter den anderen Frauen deutlich niedriger – bei 39 % bzw. 43 % – liegen. Der Szenealltag geht für die Frauen mit hohen psychischen und gesundheitlichen Belastungen einher. Im Rahmen der Fragebogenerhebung wurden sowohl die subjektive Einschätzung ihres Gesundheitszustands als auch gesundheitliche/psychische Beschwerden in den letzten drei Monaten erfasst. Hierbei zeigt sich, dass jeweils ein Drittel der Frauen ihr derzeitiges gesundheitliches Befinden als schlecht oder weniger gut bezeichnet, dementsprechend schätzt nur jede Dritte ihren Gesundheitszustand als gut ein. Die am häufigsten berichteten gesundheitlichen Beschwerden sind mit 46 % Herz-/Kreislaufprobleme, gefolgt von Atemwegsbeschwerden, Zahnschmerzen, Magen-/Darmproblemen sowie bakteriellen Infektionen (Abszesse) und Erkältungskrankheiten – auch für diese Symptome liegen die Anteile unter den Befragten noch zwischen einem Viertel und zwei Fünfteln. Drei Viertel der Frauen sind zudem mit einer Hepatitis C infiziert, 12 % sind HIV-positiv. Die hohe psychische Belastung der Frauen illustriert sich daran, dass deutlich über die Hälfte angibt, unter depressiven Verstimmungen/Depressionen6 zu leiden. Dabei zeigt sich, dass Frauen, die im zurückliegenden Monat häufig psychische Gewalt erfahren haben, deutlich häufiger über depressive Verstimmungen/Depressionen berichten. Nähere Einblicke in die gesundheitliche und psychische Verfassung der Frauen lassen sich durch die qualitativen Interviews gewinnen. Bei einem Teil der Interviewpartnerinnen führt ihr intensiver Drogenkonsum und der damit ein-

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In der Fragebogenerhebung geben jene Frauen, die sich u. a. über die Sexarbeit finanzieren, einen durchschnittlichen Verdienst von 648 Euro pro Woche an, ihre wöchentlichen Ausgaben für Drogen liegen im Schnitt bei 562 Euro. Im Vergleich dazu liegen die durchschnittlichen Einnahmen pro Woche bei den anderen Frauen bei 321 Euro, die wöchentlichen Ausgaben für Drogen bei 258 Euro.

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Hierbei handelt es sich nicht immer um eine diagnostizierte Depression.

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hergehende Beschaffungsstress dazu, dass sie körperliche Grundbedürfnisse wie Schlafen, Essen und Hygiene stark vernachlässigen. Dabei ist den Frauen durchaus bewusst, dass sie damit ihrer Gesundheit weiter schaden. „Ich ernähr’ mich halt auch total beschissen. Ich ess’ halt fast gar nichts, und wenn, dann nur irgendwelche Süßigkeiten oder halt irgendwas, ne, und, ja überhaupt, wie ich mit mir umgehe, mit dem wenig Schlafen, und, ich weiß nicht. Teilweise lass’ mich halt auch total hängen.“ (Dodo, 31 Jahre)

Eine Verschlechterung des Allgemeinbefindens wird von ihnen vor allem mit dem Konsum von Crack assoziiert. Das typische Konsummuster (intensive Konsumphasen, die über mehrere Tage dauern können) und die spezifischen Wirkungsweisen des Kokainderivats (etwa hohe Rastlosigkeit, Unterdrückung von Schlaf und Hunger) gehen mit sehr hohen Belastungen einher, die zur körperlichen Auszehrung führen. „Einfach weil mein Körper keine Kraft mehr hat, und weil, ich mein’, das ganze Gift, was da drinnen ist, ich bin sowieso körperlich nicht so fit und die Steine verschlechtern noch mehr meinen Zustand.“ (Nele, 23 Jahre) „Mein Körper macht das nicht mehr mit. Man wird halt wirklich viel anfälliger durch Crack. Das macht schon ganz schön viel kaputt im Körper.“ (Lela, 32 Jahre)

Zusätzliche körperliche Belastungen entstehen durch die polizeiliche Kontrollpolitik, die sich gegen die Bildung von Szeneansammlungen richtet und sich für die Frauen vor allem als Vertreibungspolitik darstellt. „Das ist einfach von der Polizei, weil die einen halt von einem Fleck auf des and’re jagen. Du darfst ja nie hier unten stehen, nicht mal ’ne Minute, dann kommen die und zack, musst du weg.“ (Tess, 33 Jahre)

Die Frauen sind dadurch nicht nur konstant dem Verfolgungsstress ausgesetzt, sondern das Vorgehen der Polizei zwingt sie auch dazu, sich ständig in Bewegung zu halten, wodurch sich ihr körperlicher Erschöpfungszustand weiter verstärkt. Auffällig ist jedoch auch, dass nur wenige Interviewpartnerinnen ihre körperliche Verfassung als schlecht bezeichnen, obwohl sie über gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen berichten. Zudem ist den Frauen oftmals ein schlechter Gesundheitszustand anzusehen. Offenbar weicht ihre Wahrnehmung von Krankheit und Gesundheit deutlich von konventionellen



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Vorstellungen ab. Körperliche Beeinträchtigungen scheinen den Charakter einer „Normalität“ im Szenealltag zu erhalten und nicht zwingend mit dem Krankheitsbegriff assoziiert zu werden. „Obwohl ich gesund bin. Meine Leberwerte sind soweit in Ordnung. Also, ich hab’ die Hepatitis C, aber meine Werte sind wirklich okay, meine Leber ist verfettet, aber die ist ruhig.“ (Lela, 32 Jahre) „Ich hab’ keine Krankheiten und bin gottfroh drüber. Also gut, meine Nieren sind im Arsch, ja, aber sonst. Ich war Alkoholikerin und so, aber, wie gesagt, ich hab’ keine Krankheiten, bis heute nicht.“ (Tess , 33 Jahre)

Es erscheint geradezu paradox, dass sich beide Interviewpartnerinnen trotz ihrer chronischen Erkrankungen als gesund beschreiben. Hierbei mag auch eine Rolle spielen, dass die Interviewpartnerinnen Krankheit vor allen Dingen mit dem Vorliegen akuter Schmerzen verbinden. In diesem Zusammenhang ist auch bedeutsam, dass aufgrund der analgetischen Wirkung von Heroin (und auch anderen Opioiden/Substitutionsmitteln) körperliche Beschwerden überdeckt und über einen längeren Zeitraum ignoriert werden. „Also so beim Konsumieren merk’ ich das gar nicht, eben nur wenn’s wieder nachlässt, dann merk’ ich schon: Oh, ich hab wieder Unterleibsschmerzen. Die ich zwar schon seit Tagen habe, aber sobald ich was genommen hab’, waren die weg. Die hab’ ich dann immer erst wieder gemerkt, wenn der Turn nachgelassen hat.“ (Paula, 25 Jahre)

Insgesamt schwerer als die körperlichen Belastungen scheinen die psychischen Folgen des Szenelebens zu wiegen. Im Einklang mit den quantitativen Daten, die zeigen, dass die Mehrheit der befragten Frauen unter depressiven Verstimmungen/Depressionen leidet, wird auch in den qualitativen Interviews ein hohes Maß an Pessimismus und Verbitterung über die eigene Lebenssituation deutlich. Das Leben auf der Straße, die gegenseitige Degradierung, der permanente Beschaffungsstress und die fortschreitende soziale und gesundheitliche Verelendung haben bei den Frauen deutliche psychische Spuren hinterlassen. „Ich hab’ hier inzwischen gar nichts mehr verloren. Mir hat das Leben bis vor ein paar Jahren richtig Spaß gemacht. [...] Ich hab’ jetzt auch wirklich keine Lust mehr hier, weil ich bin jetzt zehn Jahre hier und ich hab’ die ganzen Jahre verschenkt. Und es ist wirklich ganz schlimm geworden. Ich mach’ mich kaputt damit. Die Relationen stimmen einfach nicht mehr.“ (Lela, 32 Jahre)



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Zum Teil äußern die Interviewpartnerinnen Suizidgedanken. „Ich denk’ halt viel an Selbstmord, in dem Moment, wenn ich rauche. Ja, ich bin auch ehrlich, am liebsten wär’ ich tot, weil, kuck’ doch mal da unten, was da los ist, wie wir abgeh’n da unten. Ich hab’ die Schnauze voll von der ganzen Szene hier.“ (Tess, 33 Jahre)

Oder sie berichten darüber, dass sie sich in suizidaler Absicht mit Drogen überdosiert haben. „[C.B.: Hattest du schon mal eine Überdosierung?] Ich hab’s zwar öfter mal versucht, weil ich auch kein Bock mehr hatte, irgendwie, aber das Zeug war immer zu schlecht.“ (Dodo, 31 Jahre) „Seit den letzten zwei Monaten hab’ ich jetzt ungefähr neun Stück [Überdosierungen; Anm. C. B.] gehabt. Einmal, weil ich kein Bock mehr hab’ zu leben und mein Körper das irgendwie nicht mehr vertragen kann.“ (Nele, 23 Jahre)

Eine derartige Motivlage verweist auf die hohe Belastung, die für die Frauen mit dem Szeneleben einhergeht. Ein „Ausstieg“ aus dieser für sie aussichtslosen Lebenssituation scheint (zumindest zeitweise) nur durch die Beendigung ihres Lebens möglich.

N UTZUNG

UND

B EWERTUNG

DES

D ROGENHILFESYSTEMS

Abschließend richtet sich der Blick auf die Nutzung und Bewertung des Hilfesystems. Anhand der Ergebnisse der Fragebogenerhebung zeigt sich dabei eine hohe Inanspruchnahme der niedrigschwelligen Angebote. Fast alle befragten Frauen haben in der Woche vor der Befragung mindestens ein niedrigschwelliges Angebot genutzt; drei Viertel geben sogar eine tägliche Angebotsnutzung an. Am häufigsten werden die Aufenthaltsmöglichkeiten in den Kontaktcafés, die Versorgung mit Essen, der Spritzentausch, die Notschlafbetten sowie die Konsumräume in Anspruch genommen. Aber auch für die medizinische Versorgung und Beratungsgespräche zeigt sich mit rund einem Drittel ein hoher Anteil an Frauen, die diese Angebote wöchentlich nutzen. Insbesondere die schadensmindernden, überlebenspraktischen Hilfsangebote berühren offensichtlich wichtige Interessen und Bedürfnisse der Frauen und sind eine wesentliche Basis für das (Über-)Leben auf der Szene.



204 | C HRISTIANE B ERNARD „Also ich muss dazu sagen, da, wo ich herkomme, da hätte ich auf der Straße nicht überleben können, da hat man hier in Frankfurt echt Möglichkeiten. Das gäb’s bei uns zu Hause absolut nicht, da wäre ich wahrscheinlich schon nach zwei Tagen untergegangen.“ (Blume, 35 Jahre)

Auch die niedrigschwellig ausgerichtete Substitution stellt in diesem Zusammenhang ein wichtiges Angebot dar. Immerhin 58 % der befragten Frauen sind zum Zeitpunkt der Befragung in eine Substitutionsbehandlung eingebunden; im Durchschnitt werden die Frauen bereits seit fast fünf Jahren substituiert. Im Kontrast zur hohen Inanspruchnahme des niedrigschwelligen Hilfesystems und der vergleichsweise hohen Einbindung in eine Substitutionsbehandlung steht die geringe Nutzung abstinenzorientierter Angebote. Zwar hat noch jede vierte Befragte in den vergangenen drei Monaten eine stationäre Entgiftung gemacht, in einer stationären Rehabilitation oder Übergangseinrichtung war hingegen nur eine Frau und keine Befragte hat eine ambulante Rehabilitation gemacht. Danach gefragt, was der wichtigste Grund ist, der sie davon abhält, abstinenzorientierte Angebote in Anspruch zu nehmen, gibt jede Dritte an, derzeit kein Interesse an einer Therapie oder Entgiftungsbehandlung zu haben oder keine Notwendigkeit dafür zu sehen. Ebenfalls ein Drittel sieht keinen Sinn in einer (erneuten) Therapie. Andere Frauen fühlen sich durch die langen Wartezeiten auf einen Entgiftungs-/Therapieplatz abgeschreckt, oder wollen sich zunächst über die Substitution stabilisieren. Jede Fünfte gibt jedoch an, sich derzeit um eine Entgiftung, teils auch mit anschließender Reha-Maßnahme zu bemühen. Eine Interviewpartnerin thematisiert diesbezüglich, dass Frauen später als Männer Therapieangebote wahrnehmen, was sie zum einen darauf zurückführt, dass Frauen durch ihre eher zurückgezogene Verhaltensweise weniger auffallen und somit seltener zu „wirklichen Problemfällen“ werden, bei denen die Drogenhilfe einen dringenden Handlungsbedarf sieht. Zum anderen trage auch die Verdienstmöglichkeit durch die Prostitution dazu bei, dass Frauen über einen längeren Zeitraum der Szene verhaftet blieben und keine Ausstiegsmotivation entwickelten. „Die Frauen gehen hier ziemlich unter, dass die auch viel später Hilfe suchen, durch die Prostitution, durch dies und das. Manchmal sind die Frauen weit über 50, bevor die überhaupt mal auffallen oder auffällig werden. [...] Männer gehen wesentlich früher auf Therapie als Frauen, weil Frauen vom Anschaffen her, vom Geld machen, wesentlich mehr Möglichkeiten haben. Deshalb dauert es bei den Frauen wesentlich länger, bis die bereit



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sind, auf Therapie zu gehen, zu machen, was zu ändern oder sich helfen zu lassen.“ (Marie, 43 Jahre)

Zudem wird deutlich, dass abstinenzorientierte Behandlungsangebote auch aufgrund ihres bevormundenden Charakters abgelehnt werden bzw. Angebote geschätzt werden, die der Eigenverantwortlichkeit mehr Raum gewähren. „Ich hatte ja auch mal ’ne heiße Zeit, da bin ich jedes Jahr einmal nach AB., weil das echt ’ne geile Entgiftung ist, also da wirst du echt wie ’ne Erwachsene behandelt, kannst dein Handy behalten, hast ’ne eigene Dusche im Zimmer, maximal zwei Leute auf’m Zimmer, also richtig cool, nach dem dritten Tag hast du schon Ausgang auf dem Gelände, darfst telefonieren, Fernseh’ gucken, was ja in manchen Entgiftungen verboten ist, also da greif’ ich mir an die Birne.“ (Pia, 48 Jahre)

In den qualitativen Interviews wurden die Frauen um eine Einschätzung und Bewertung der Frankfurter Drogenhilfe gebeten. Ihre Aussagen beziehen sich vornehmlich auf das niedrigschwellige Hilfeangebot, das einen Großteil ihrer Alltagswelt ausmacht. Die Mehrheit beurteilt das Angebotsspektrum als ausreichend, wobei die positive Bewertung überwiegend auf dem Vergleich mit einem schlechteren Hilfsangebot in anderen deutschen Städten beruht. „Also ich denke, in Frankfurt passiert verdammt viel. Wenn man sich da andere Städte anguckt, halb so viele oder gar keine Streetworker oder Frauencafés, wo man sich abends mal duschen kann, Gummis holen kann, oder, oder, oder.“ (Pia, 48 Jahre)

Konkret danach gefragt, wie das Hilfeangebot verbessert werden könnte und welche Angebote sie sich wünschen würden, nennen die Interviewpartnerinnen vor allem den Ausbau niedrigschwelliger Angebote für Frauen sowie eine verbesserte Information über bestehende Angebote. „Es sollte mehr für Frauen gemacht werden, so was wie das Frauencafé, dass da mehr angeboten wird, so wenigstens einmal die Woche. Es ist zu wenig Angebot oder es wird zu wenig laut gemacht. Es muss auch einfach mal mehr Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, das ist immer alles so versteckt. Ich hab jetzt lange Zeit überhaupt nicht daran gedacht, dass es das Frauencafé gibt.“ (Marie, 43 Jahre) „Man sollte mehr, ja, es gibt ja schon so Frauennotruf und so Kleinigkeiten, aber ich denke, das ist einfach nicht genug. Zum Beispiel: Ich kenn nur eine Drogenberatung, die nur für Frauen ist, da bin ich auch, so was zum Beispiel, Einrichtungen, die nur für Frauen



206 | C HRISTIANE B ERNARD sind. Gut, es gibt noch das Frauencafé, aber solche Sachen müsste es vielleicht mehr geben. Wo Frauen unter sich, unabhängig von Männern, sein können. Vielleicht auch Notschlafstellen, wo nur Frauen schlafen. Also ich denke schon, dass es für Frauen einfach mehr Möglichkeiten geben sollte, für sich zu sein.“ (Zille, 26 Jahre)

Vor dem Hintergrund, dass Frauen im Szenealltag immer wieder der Diskriminierung und dem Gewalthandeln durch Männer ausgesetzt sind, scheint es ihnen ein wesentliches Bedürfnis zu sein, hiervon zumindest zeitweise Abstand nehmen zu können und einen Schutzraum zu haben, in dem sie sich abseits männerdominierter Strukturen und Verhaltensweisen aufhalten und erholen können. Da Männer in traditionellen Einrichtungen deutlich überrepräsentiert sind, fühlen sich die Frauen hier nicht gut aufgehoben. „Und das ist auch immer in Einrichtungen so ein Problem, dass so wenig Frauen da sind. Also ich frag dann auch immer in den Übernachtungseinrichtungen: Wie viele Frauen habt ihr momentan? Weil ich mich einfach unwohl fühle, wenn da nur Männer sind.“ (Anja, 31 Jahre)

Möglicherweise könnte die Implementierung und Ausweitung von szenenahen niedrigschwelligen Frauenangeboten auch die Chance bereithalten, dass sich die Frauen hier abseits von Konkurrenz, Abgrenzung und Degradierung fördernden Strukturen begegnen – in einem Raum, der Austausch und Solidarität fördert.

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Wirkfaktoren in der sozialtherapeutischen Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen L UDWIGA L ANGGASS NER

Bei dem nachfolgenden Beitrag handelt es sich um eine Zusammenfassung und Überarbeitung der Masterarbeit „Prima Donna – Katamnese einer frauenspezifischen Suchthilfeeinrichtung unter besonderer Betrachtung der Wirkfaktoren in der sozialtherapeutischen Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen“ von Rea Senger (2012). Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Wirkfaktoren in der frauenspezifischen Suchtarbeit bei Prima Donna anhand einer Fragebogenbefragung1 ehemaliger Bewohnerinnen (2007-2011) sowie aktueller Bewohnerinnen (2012) evaluiert. Die Arbeit vergleicht das Konzept der Einrichtung Prima Donna mit der aktuellen Fachliteratur und aktuellen Forschungsergebnissen sowie mit den subjektiven Bewertungen ehemaliger (n=23) und aktueller (n=11) Bewohnerinnen. Der Fragebogen wurde an insgesamt 42 ehemalige Bewohnerinnen verschickt, die Rücklaufquote lag damit bei etwas über 50 %. Nachfolgend werden die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit dargestellt.

W IRKFAKTOREN UND AKTUELLER

IN DER T HERAPIE MIT F ORSCHUNGSSTAND

F RAUEN : T HEORIE

Die Diskussion zu den Wirkfaktoren in der Therapie zieht sich durch alle Schulen und Dekaden der Psychotherapie. So gab es lange den Trend, dass die einzelnen Therapieschulen für sich beanspruchten, dass gerade ihre spezifischen

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Der Fragebogen ist mit 42 Fragen recht umfangreich: Er umfasst mehrheitlich geschlossene, teilweise aber auch offene Fragen.



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Techniken den Erfolg herbeiführen. Bereits Lang (2003) weist jedoch im Vorwort zur Neuauflage seines Buches „Wirkfaktoren in der Psychotherapie“ darauf hin, dass dies „logisch nicht möglich [scheint], denn gibt es nur Gewinner und keine Verlierer, dann müssen es offensichtlich Faktoren sein, die allen ‚irgendwie’ gemeinsam sind (‚common factors’)“ (ebd.: IX). Dass Psychotherapie wirkt, konnte durch verschiedene Metaanalysen belegt werden, jedoch bleibt die Frage ungeklärt, wie sie wirkt. Vermutet wird in diesem Zusammenhang, dass es offenbar allen Schulen gemeinsame Faktoren sind, die wirken. So wie die Praxis immer mehr zu einem integrativen Ansatz in der Therapie tendiert, geht auch die Forschung diesen Weg. Mehr als 1.000 „process outcome“-Ergebnisse zeigen auf, dass sich die höchste Evidenz hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Therapieprozess und Therapieergebnis in der therapeutischen Beziehung bzw. der therapeutischen Allianz findet. Diese Ergebnisse lassen sich gleichzeitig für unterschiedliche Therapieverfahren nachweisen (vgl. Orlinsky et al. 1994 in Lang 2003). Auch Lambert und Barley (2008) sind der Meinung, dass Studien zur Therapieeffektforschung die Beziehungsfaktoren nicht ausreichend berücksichtigen und zu viel Wert auf die therapeutischen Techniken legen. Bei den therapeutischen Techniken handelt es sich zwar um empirisch gut auswertbare Behandlungsformen, jedoch beinhaltet die Fokussierung auf bestimmte Techniken die Gefahr, die übereinstimmenden Forschungsergebnisse zu den Wirkfaktoren zu übersehen, die die therapeutische Beziehung für die Entwicklung der Patientinnen und Patienten als wesentlich ansehen. Insgesamt hat die Forschung die Beziehung zwischen vielen unterschiedlichen Variablen und dem Fortschritt der Klient_innen untersucht. Folgende Aspekte wurden dabei betrachtet: extratherapeutische Veränderungen, Erwartungseffekte, Techniken und Methoden sowie allgemeine Wirkfaktoren. Bei den Wirkfaktoren handelt es sich um eine Variable, die in den meisten Therapien gefunden wird, ohne dass jedoch die therapeutische Ausrichtung der Therapeutin/des Therapeuten, ihre/seine Empathie, Wärme oder auch das Vertrauen in die Therapeut_in-Patient_in-Beziehung berücksichtigt wurde (vgl. ebd.: 110f.). Auf der Grundlage verschiedener Überblicksarbeiten ziehen Lambert/Barley (ebd.: 110ff.) verschiedene Schlussfolgerungen im Hinblick auf die relative Einwirkung der oben genannten Variablen: Demnach wirken extratherapeutische Veränderungen zu 40 %, Erwartungseffekte sowie Techniken/Methoden zu jeweils 15 %. Die therapeutische Beziehung wirkt hingegen zu 30 % in den Veränderungsprozess in der Therapie. Unter die extratherapeutischen Effekte fallen z. B. eine spontane Remission, zufällige Ereignisse oder auch soziale Unterstützung. Dabei wird davon ausge-



W IRKFAKTOREN IN DER SOZIALTHERAPEUTISCHEN A RBEIT

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gangen, dass viele Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, auch ohne professionelle Behandlung gesunden. Die Rate einer Spontanremission ist dabei aber abhängig von der Schwere und Komplexität der Ursachen der psychischen Erkrankung. Dazu zählen die Länge der Krankheitsgeschichte, eine eventuell vorliegende Persönlichkeitsstörung und andere Komorbiditäten sowie die Stärke und Qualität der sozialen Unterstützung außerhalb des therapeutischen Kontextes. Personen mit psychischen Erkrankungen benennen eine Vielzahl von Menschen, die beträchtlichen Anteil an ihrer Gesundung haben (v.a. Freund_innen, Familie, aber auch Selbsthilfegruppen). Unter Erwartungseffekten werden die sogenannten Placebo-Effekte verstanden, d.h. das Wissen der Klient_innen, dass sie sich einer Behandlung unterziehen, sowie der Glaube an die Behandlungstechniken. Bei den Techniken/Methoden handelt es sich um spezielle Faktoren, die die „Werkzeuge“ der Therapie darstellen. So kann hier beispielsweise die systematische Desensibilisierung oder auch Hypnose genannt werden, wobei die Spannbreite der Möglichkeiten groß ist. Die Faktoren der therapeutischen Beziehung sind ein sehr komplexes Gebiet, das weitergehend differenziert werden muss. Sowohl die Therapeut_innenvariablen (interpersoneller Stil, Attribute), die förderlichen Bedingungen (Empathie, Wärme, positive Wertschätzung) als auch die Klient_inTherapeut_in-Beziehung (therapeutische Allianz, Arbeitsbemühungen) spielen eine große Rolle beim Gelingen einer Therapie. So haben Orlinsky et al. (1994 in Lambert/Barley 2008) in diesem Kontext verschiedene Therapeut_innenvariablen identifiziert, die übereinstimmend positiv auf den Behandlungseffekt wirken. „Die Glaubwürdigkeit, die Fähigkeiten, das empathische Verstehen und die Bestätigung des Patienten durch den Therapeuten gemeinsam mit der Fähigkeit, sich mit dem Patienten zu beschäftigen, die Probleme des Patienten zu fokussieren und die Aufmerksamkeit des Patienten auf die affektiven Erfahrungen zu richten, all dies stand in einer engen Beziehung zu einer erfolgreichen Behandlung.“ (Lambert/Barley 2008: 119)

Die Frage nach der Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit von Therapeut_in und Klient_in für die therapeutische Beziehung wurde hingegen lange vernachlässigt: „Die Beschäftigung mit der Geschlechterdimension in der Psychotherapie bleibt hinter der sonst im sozialwissenschaftlichen Feld stattfindenden Forschung zum Thema Gender und dem diesbezüglichen gesellschaftlichen Anspruch zurück. Sexualität, geschlechtsspezifi-



212 | L UDWIGA L ANGGASSNER sche Stereotypen, Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit, Gender Selbstbilder und Erwartungshaltungen werden im Rahmen von Therapie und Beratung nur in der Nische der feministischen und Genderforschung ausführlich behandelt. Im Mainstream der Therapiekonzeptionen, der Forschung und Ausbildung zu Psychotherapie und Beratung sind sie randständig.“ (Schigl 2012: 189)

Ausgehend davon, dass Frauen mit einer Abhängigkeitserkrankung große Defizite im Bereich „Beziehung“ haben, ist es sinnvoll, die therapeutische Beziehung mit all ihren Variablen als einen der wichtigsten Wirkfaktoren in der Therapie zu betrachten. Unter Berücksichtigung der Komplexität einer Suchterkrankung bei Frauen soll an dieser Stelle sowohl auf die suchtspezifischen als auch auf die frauenspezifischen Wirkfaktoren in der Therapie Bezug genommen werden. In der Therapie mit Drogenabhängigen ist zu beachten, dass „wir es mit einem biopsychosozialen Behandlungskonzept zu tun haben, das Bereiche abdecken muss, die weit über den Rahmen der Psychotherapie hinausgehen“ (Schay/Liefke 2009: 24). Die Arbeit mit Drogenabhängigen erfolgte lange Zeit im stationären Setting, wobei sich ein deutlicher Trend in Richtung ambulante Therapie feststellen lässt. Allerdings haben die stationären Therapien den Vorteil, dass die Betroffenen ihr „Milieu“ verlassen und so erst einmal Abstand zum „Suchtkosmos“ und allen damit verbundenen Schwierigkeiten nehmen können. „Prima Donna Intensiv Therapeutische WG“ nimmt hier in der Suchthilfelandschaft eine Sonderstellung ein. Im Rahmen der DATOS2-Studien (vgl. Broome et al. 2001, Grella et al. 2003, Hubbard et al. 2003 in Schay/Liefke 2009: 30) konnten folgende wichtige Strukturmerkmale, welche die Therapieergebnisse in der Arbeit mit Suchtkranken allgemein positiv beeinflussen, identifiziert werden: • Intensität und Strukturiertheit der Therapie, Verhältnis von Behandlungsdauer

und -resultaten; • Vielfalt der Therapieangebote; • Anpassung der Therapieangebote an die Patient_innenbedürfnisse, genaue und

kontinuierliche Analyse des Behandlungsprozesses; • Strategien zur Verbesserung der „Behandlungsverpflichtung“ der Patientin/des Patienten; • gute Therapeut_in-Patient_in-Beziehung; • Art der Intervention des Therapeuten/der Therapeutin;

2



Drug Abuse Treatment Outcome Studies.

W IRKFAKTOREN IN DER SOZIALTHERAPEUTISCHEN A RBEIT

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• längerfristige Behandlungsperspektive für die Patientin/den Patienten, um

chronische Substanzmittelabhängigkeit und die damit verbundenen Probleme im Behandlungskontext effektiv aufgreifen zu können; • eine reguläre Teilnahme an Selbsthilfegruppen nach der stationären Therapie. Natürlich dürfen bei der Betrachtung der Erfolgsfaktoren in der Therapie die Patient_innen und ihre Individualität als Mensch nicht außen vor gelassen werden. So spielt sicherlich die Motivation eine nicht zu vernachlässigende Rolle, die in der Suchttherapie als Indikator für eine günstige Prognose gilt. Singerhoff (2002: 224) unterscheidet bei Frauen zwischen einer primären und einer sekundären Motivation: Als primäre Motivation gilt der subjektive Leidensdruck, das Krankheitsgefühl, das Empfinden von Hilflosigkeit. Singerhoff (2002) merkt kritisch hierzu an, dass für viele Therapeut_innen diese Motivation als absolut notwendige Voraussetzung für einen Therapieerfolg gilt. Da jedoch die meisten Frauen gelernt hätten, ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, erschwere diese hohe Erwartung an Eigenmotivation als Voraussetzung für eine therapeutische Behandlung den Frauen den Zugang zu einer Therapie. Als sekundäre Motivation gilt die Angst vor den negativen Folgen der Sucht, seien es finanzielle, strafrechtliche oder soziale, psychische oder physische Folgen. Ferner spielen bei den begünstigenden bzw. nicht begünstigenden Faktoren auch die Schwere und Komplexität der Suchterkrankung, zusätzliche psychiatrische Erkrankungen und die Länge der Krankheitsgeschichte eine Rolle. Nach der Analyse zahlreicher Forschungsbefunde kommen Schay/Liefke (2009: 30f.) zu dem Ergebnis, dass eine geringe psychische Beeinträchtigung zusammen mit einer erhöhten Motivation und Selbstwirksamkeitserwartung die wichtigsten Patient_innenmerkmale sind, die eine Therapie positiv beeinflussen. Ferner bilden das Eingebundensein in ein soziales Netz sowie eine berufliche Perspektive nach der Behandlung, also die gesellschaftliche Integration, eine Grundlage für den Weg aus der Sucht. Hinsichtlich der Behandlungsmerkmale in der Therapie mit Drogenabhängigen, die neben den Patient_innenmerkmalen von wesentlicher Bedeutung für den Behandlungserfolg sind, weist die Literatur immer wieder auf die Therapeut_in-Patient_in-Interaktion und die Behandlungsdauer hin. Dies veranschaulichen Schay/Liefke (ebd.: 27ff.) anhand einer Vielzahl von Forschungsergebnissen. Eine Erklärung hierfür ist sicherlich, dass die Komplexität der Probleme und Defizite, die mit einer Suchtmittelabhängigkeit einhergehen, nicht innerhalb von wenigen Wochen bearbeitbar oder auch zu verarbeiten sind. So besteht bei einer längerfristig angesetzten Behandlung zudem die Möglichkeit, Vertrauen zu fassen, was sich wiederum positiv auf die Therapeut_in-Patient_in-Beziehung auswirkt. In diesem Kontext sind gerade in der



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Therapie mit Drogenabhängigen vor allem folgende Faktoren zu nennen, die sich ebenfalls auf die therapeutische Beziehung besonders positiv auswirken (vgl. Strupp 1989 in Schay/Liefke 2009: 35): 1. die Bindung des Patienten/der Patientin an eine wohlwollende Person, die Sorge um das Wohlergehen des/der Betreffenden zeigt; 2. Lernprozesse, die durch eine solche spezifische menschliche Beziehung ermöglicht werden. Davon ausgehend, dass eine Vielzahl suchtmittelabhängiger Frauen starke Beziehungsdefizite bis hin zu traumatischen Erfahrungen in Beziehungen mit Menschen aufweisen und wenig Bezug zu ihren Bedürfnissen und Grenzen sowie ein geringes Selbstwertgefühl haben, kann die therapeutische Beziehung als alternative, „heilsame“ Beziehungserfahrung für mögliche Veränderungsprozesse genutzt werden. Vogelgesang (2009) betont, dass selbst die aufwendigsten Interventionsmethoden erfolglos bleiben, wenn die Patientin aufgrund mangelnden Vertrauens zur Therapeutin nicht engagiert mitarbeitet. Für sie ist die Therapeutin „positives Modell für zwischenmenschlichen Respekt, für Hilfe und Echtheit“ (ebd.: 256f.). Aufgrund der Häufigkeit von Komorbiditäten bei suchtmittelabhängigen Frauen – gerade im Bereich der Persönlichkeitsstörungen und/oder Traumatisierungen – ergibt sich jedoch eine zusätzliche Schwierigkeit im Aufbau der therapeutischen Beziehung. Die mit den Störungen verbundenen Schwierigkeiten überdauern oft die aktiven Suchtphasen; eine Suchttherapie, die ausschließlich auf die Beendigung der Einnahme von Substanzen zielt, greift deshalb zu kurz. An dieser Stelle sind zusätzlich folgende Faktoren zu nennen, die sich auf die Behandlung mit traumatisierten Menschen, die sehr häufig an einer Persönlichkeitsstörung oder anderen psychiatrischen Erkrankungen als Folgestörung eines Traumas leiden, günstig auswirken (Flatten 2004 in Schay/Liefke 2009: 113): • die Herstellung von äußerer Sicherheit, d.h. Vermeidung der Wiederholung der

traumatischen Erfahrung, • die interpersonelle Sicherheit, d.h. Rückhalt in der therapeutischen Beziehung

und in tragfähigen sozialen Kontakten, • die Herstellung der intrapsychischen/intrapersonellen Sicherheit, d.h. die Dis-

tanzierung von erlebter Traumatisierung, Wahrnehmung dissoziativer Prozesse und Aktivierung von Ressourcen.



W IRKFAKTOREN IN DER SOZIALTHERAPEUTISCHEN A RBEIT

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Traditionelle Suchthilfeeinrichtungen für beide Geschlechter sind aufgrund des hohen Männeranteils für Frauen als eher problematisch zu bewerten, da sie hier immer in der Minderzahl sind. So klagen viele darüber, ihre spezifischen Probleme nicht in einem von Männern dominierten Gruppensetting ansprechen zu können (vgl. Tödte 2005). Auch die weitverbreiteten Gewalterfahrungen bedürfen eines Schutzrahmens „zur Überprüfung, Bearbeitung und ggf. Veränderung des individuellen Rollenverhaltens und Rollenrepertoires sowie der Förderung einer genderspezifischen Identität“ (Schay/Liefke 2009: 185). Dies kann nur ein Ort der Sicherheit gewährleisten, der eine Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte im therapeutischen Prozess ist. Insbesondere der frauenspezifische Ansatz und die geschlechtshomogene, professionelle Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin muss als ein wichtiger Wirkfaktor in der Therapie mit suchtmittelabhängigen Frauen gesehen werden (vgl. ebenso Covington 2008). Viele Kritiker_innen merken allerdings an, dass diese genderbezogenen Settings nicht realitätsnah genug erscheinen und somit nicht auf das Leben nach der Therapie und nach dem Aufenthalt in der Einrichtung vorbereiten. Die Praxiserfahrungen zeigen jedoch, dass es gerade dieses Settings bedarf, um Frauen die Möglichkeit zu geben, sich wichtig zu nehmen und selbst wertzuschätzen, zu lernen, sich eigene Grenzen zu setzen, eigene Entfaltungs- und Entwicklungsspielräume zu vergrößern, zu lernen, sich ein eigenständiges – von Männern unabhängiges – Leben aufzubauen, gleichberechtigte Beziehungen zu Männern herzustellen, ein positives Selbstwertgefühl und eine positiv besetzte weibliche Identität zu entwickeln (vgl. Schay/Liefke 2009: 185). Denn: „Im beratenden oder psychotherapeutischen Prozess sind beide InteraktionspartnerInnen als geschlechtliche Wesen miteinander, aneinander und manchmal auch gegeneinander wirksam.“ (Schigl 2012: 19) Um einen Therapieerfolg zu optimieren, sind weitere wesentliche Faktoren zu nennen, die sich ebenfalls günstig auf die Therapie von suchtmittelabhängigen Frauen auswirken. Dazu gehört die Gruppentherapie, der Einbezug der Familie und des Partners/der Partnerin, ein ausgewogenes Maß an Selbstbestimmung (Hilfe zur Selbsthilfe), Rückfallprävention, Psychoedukation und imaginative Vorgehensweisen (vgl. Vogelgesang 2009). Letztendlich handele es sich, so Vogelgesang (ebd.: 18), bei der Sucht aber um eine chronische Erkrankung, deren Verlauf nur durch eine kontinuierliche therapeutische Behandlung positiv beeinflusst werden könne. Die Effizienz eines Behandlungssystems sei in erster Linie von der Konzeptkompatibilität und Nahtlosigkeit zwischen den verschiedenen Behandlungsepisoden sowie von der tatsächlichen Inanspruchnahme durch die Patientinnen abhängig.



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Z UR K ONZEPTION VON P RIMA D ONNA I NTENSIV – S OZIALTHERAPEUTISCHE WG Prima Donna wurde 1986 zunächst als Modellprojekt von Frauen gegründet, die eine Alternative zu den großen gemischten Einrichtungen suchten und ist heute eine von über 40 Einrichtungen des Münchner Suchthilfeträgers Condrobs e. V. Der Wunsch der Frauen war es, die Therapiebedingungen für Frauen mit psychosozialen Problemen, die illegale Drogen und/oder Alkohol konsumieren bzw. konsumiert haben und eine therapeutische Begleitung wünschten, zu verbessern. „Die Gründung von Prima Donna entsprach dem Geist der damaligen Frauenbewegung. [...] Eine Idee war, Frauen die Möglichkeit zu geben, von und mit Frauen zu lernen, ihr Rollenverständnis zu hinterfragen und neue Bewertungsmaßstäbe zu finden.“ (Lehmann 2000: 12) Das Konzept, das im Laufe der Jahre immer wieder modifiziert wurde, stellt einige der wenigen Alternativen zur herkömmlichen Drogenlangzeittherapie dar und unterscheidet sich vor allem durch Finanzierung, Größe, Alltagsnähe, Selbst- und Mitverantwortung der Frauen, Frauenspezifik, intensive Beziehungsarbeit und Aufenthaltsdauer mit durchgehender Betreuungskontinuität durch eine Bezugstherapeutin sowie durch die verschiedenen Betreuungsintensitäten. Im kleinen, alltagsnahen Rahmen sollen die Frauen lernen, ihren Alltag zu bewältigen und eine berufliche Perspektive zu entwickeln, drogenfrei zu leben und sich ein drogenfreies und stabiles Beziehungsnetz aufzubauen. Heute beschreibt der Name Prima Donna einen Verbund verschiedener komplementärer Betreuungsangebote für suchtmittelabhängige Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen: von der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Prima Donna Intensiv bis hin zur ambulanten Nachsorge, drogenfreien Wohngemeinschaften und dem Betreuten Einzelwohnen: • Prima Donna Intensiv – Sozialtherapeutische Wohngemeinschaft: Eine Wohn-

gemeinschaft für acht bis zehn Frauen in einem Haus mit Garten am Stadtrand von München; alternative Drogenlangzeittherapie, hohe Präsenzzeiten des Teams. • Prima Donna Intensiv ambulant: Sechs Nachsorgeplätze in drei Wohnungen für jeweils zwei Frauen; weiterführendes Angebot für Frauen, die in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft eine Therapie absolviert haben. Es besteht die Möglichkeit, mit der Bezugstherapeutin weiter zu arbeiten. Reduzierteres Betreuungsangebot; Aufnahmebedingungen: Tagesstruktur und abgeschlossene Therapie in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft. Bei allen Angeboten von Prima Donna Intensiv ambulant besteht die Möglichkeit



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einer engeren Anbindung an die Sozialtherapeutische Wohngemeinschaft in Krisenzeiten. Clean WG: Fünf Plätze für Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen, vorübergehende Aufenthaltsmöglichkeit in einem geschützten, drogenfreien Rahmen zur Planung weiterer Schritte. Prima Donna Nachsorge: Sechs Nachsorgeplätze in unterschiedlichen Wohneinheiten; Möglichkeit der Nachsorge für Frauen nach abgeschlossener Langzeittherapie oder Adaptionsphase aus anderen Einrichtungen der Suchthilfe. Prima Donna Futura: Therapeutische Wohngemeinschaft für zwölf mehrfach belastete Frauen; Langzeitwohnmöglichkeit für Frauen, die therapieerfahren sind und schon länger drogen- und alkoholfrei leben. Prima Donna Perspektive: Sechs Nachsorgeplätze für Frauen, die aus dem Maßregelvollzug kommen oder Erfahrungen mit forensischen Aufenthalten haben, Vorbereitung für weiterführende Nachsorgeangebote. Betreutes Einzelwohnen: 15 Plätze, (weiterführendes) Angebot für Frauen, die in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Prima Donna Intensiv und/oder in der Nachsorge waren, ebenso für alle Frauen aus externen Einrichtungen; Betreuung in der eigenen Wohnung über Einzelgespräche, Hausbesuche und Hintergrunddienst in Krisenfällen. Die Möglichkeit, die Bezugstherapeutin zu behalten, besteht.

Die Nutzung eines telefonischen Hintergrunddienstes in Krisensituationen nachts und am Wochenende ist für alle von Prima Donna betreuten Frauen möglich. Gleiches gilt für die Teilnahme an Freizeitaktivitäten und Festen (Weihnachten, Silvester) und an der regelmäßig stattfindenden Kunstgruppe. Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse der Katamnese beziehen sich auf die Bewohnerinnen von Prima Donna Intensiv3. Prima Donna Intensiv richtet die Intensität der Unterstützungsprozesse nach dem Betreuungssetting, aber auch nach der individuellen Lebenslage der betroffenen Frau. Es wurde bereits ausgeführt, dass die Faktoren, die einen positiven Einfluss auf die Therapie haben u. a. von den Patientinnenmerkmalen, also der individuellen Lebenslage, der Krankheitsgeschichte sowie den Defiziten und Fähigkeiten der Klientin abhängen. Diese Patientinnenmerkmale spielen auch für die Gestaltung der Unterstützung der jeweiligen Frau bei Prima Donna Intensiv eine wichtige Rolle. So besteht in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft das höchste Maß an notwendiger

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Die im Folgenden skizzierten Grundsätze von Prima Donna Intensiv beziehen sich auf alle Angebote von Prima Donna.



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Fremdkontrolle durch Team und Bewohnerinnen gegenüber selbst- und fremdschädigenden Verhaltensweisen. Das eigenverantwortlichste Betreuungsangebot mit dem höchsten Grad an notwendiger Selbstständigkeit und Selbstfürsorge ist in der Regel dann das Betreute Einzelwohnen als letzter Baustein auf der schrittweisen Begleitung in ein selbstbestimmtes Leben. In die Sozialtherapeutische Wohngemeinschaft werden volljährige Frauen ohne Altersbeschränkung nach oben aufgenommen. Abstinenz wird als „Eintrittskarte“ vorausgesetzt, wobei mit Rückfällen gearbeitet wird. Zusätzliche psychische Erkrankungen sind keine Kontraindikation, allerdings können Frauen mit akuten Psychosen oder akuter Suizidalität sowie körperlicher Pflegebedürftigkeit nicht aufgenommen werden. Aufnahmen nach Haftentlassung oder mit Therapieauflage sind ebenfalls möglich. Die Verbesserung der ambulanten Angebotsstruktur der Suchthilfe in den letzten Jahren hat bewirkt, dass ein Teil der ursprünglichen Klientel von Prima Donna Intensiv ambulante Angebote verstärkt in Anspruch nimmt. Dies hat zur Folge, dass zu Prima Donna Intensiv heute überwiegend Frauen mit langjährigen Drogenkarrieren kommen, die eine Reihe gescheiterter Therapieversuche und/oder abgeschlossener Therapien mit anschließender Rückfälligkeit hinter sich haben. Oder Frauen mit sehr schwierigen Suchtverläufen und den damit verbundenen schwerwiegenden Lebensverletzungen – meistens in Kombination mit zusätzlichen psychischen Erkrankungen und/oder Psychiatrieerfahrungen. Handlungsleitende Zielsetzung des Konzepts von Prima Donna Intensiv ist die ganzheitliche Gesundung und die berufliche sowie soziale (Re-)Integration der Klientinnen. Die Begleitung findet sowohl in der Alltagsbewältigung und Alltagsgestaltung als auch in der Gruppen- und Einzeltherapie statt. Das Team von Prima Donna Intensiv ist therapeutisch unterschiedlich ausgerichtet und arbeitet schulenübergreifend. Grundlage der Konzeption ist ein frauenspezifischer Ansatz und der damit verbundene Frauenschutzraum. Spezifika weiblicher Sozialisation sowie Traumata, die in Zusammenhang mit weiblicher Suchtmittelabhängigkeit stehen, werden fachlich wahrgenommen und bearbeitet. Es bestehen keine festgelegten Therapiezeiten oder -phasen bei Prima Donna Intensiv. Die Aufenthaltsdauer ist individuell unterschiedlich und abhängig von therapeutischen Vorerfahrungen, den im Verlauf des Aufenthalts auftretenden zusätzlichen Schwierigkeiten, dem individuellen Entwicklungsprozess der jeweiligen Frau und der individuellen Fähigkeit zur Umsetzung neuer Erfahrungen. Nach dem Aufenthalt in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft können die Frauen in weiterführenden Angeboten von Prima Donna die begonnenen Prozesse weiterverfolgen. Die Entscheidung, welches Angebot das Richtige ist,



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hängt mit den Fähigkeiten der Bewohnerinnen zusammen und wird gemeinsam mit ihnen erarbeitet. Die maximale Aufenthaltsdauer von zwei Jahren ist sowohl bei der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft als auch bei dem darauffolgenden Nachsorgeangebot durch den Kostenträger, den überörtlichen Sozialhilfeträger, vorgegeben. Das Betreute Einzelwohnen kann hingegen auch länger in Anspruch genommen werden. Die Art der Finanzierung bietet den Frauen die Möglichkeit, über viele Jahre und verschiedene Betreuungssettings hinweg ihr eigenes individuelles „Therapietempo“ zu finden. Der Erfolg eines solchen Ansatzes wird auch durch die bereits dargestellten Forschungsergebnisse belegt, die einen positiven Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg aufzeigen. Insbesondere bei schwer traumatisierten Menschen kann eine tragfähige Beziehung zur Therapeutin (bzw. zum Therapeuten) nur über einen längeren Zeitraum hinweg aufgebaut werden. Insofern wird nicht nur in der Theorie darauf hingewiesen, dass eine gute Therapeutin-Klientin-Beziehung mitunter den höchsten Stellenwert in einer Therapie einnimmt. Auch bei Prima Donna ist die kontinuierliche Beziehungsarbeit in unterschiedlicher Betreuungsdichte entlang des gesamten Betreuungsprozesses einer der wesentlichen Bestandteile der Arbeit. Die tragfähige professionelle Beziehung bietet den Klientinnen die Möglichkeit für positive Erfahrungen und Sicherheit. Es soll ein Umfeld geschaffen werden, das Geborgenheit, Respekt und Würde vermittelt. Nur durch eine solch spezifische menschliche Beziehung werden Lernprozesse erst möglich (vgl. dazu auch Schay/Liefke 2009: 23). Die Therapeutische Wohngemeinschaft ist ein wichtiger Ort des Lernens. Die Entstehung und Veränderung von Beziehungen zwischen den Bewohnerinnen untereinander und zum Team werden zusätzlich durch den familiären Rahmen und durch ausreichend lange Aufenthaltszeiten gefördert. Diese Faktoren bieten auch ein Übungsfeld für die Bewohnerinnen für die von Singerhoff (2002) geprägten Anforderungen an die frauenspezifische Suchtarbeit zur Erweiterung der sozialen Kompetenzen und Durchsetzungsfähigkeit. In der Therapeutischen Gemeinschaft bestehen sowohl Möglichkeit als auch Herausforderungen für die Klientinnen, Erfahrungen in neuen Umgangsweisen mit Konflikten und Grenzverletzungen zu sammeln sowie über die Reflexion von Selbst- und Fremdwahrnehmung, etwa anhand von Rückmeldungen, ein realistischeres Selbstbild zu erlangen. Für den Lebensunterhalt kommen die Klientinnen selbst auf, zunächst meist über den Bezug von ALG II. Das bietet die Chance, bereits im eng betreuten Rahmen der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft eine Beschäftigung anzutreten. Die Integration und Reintegration der Klientinnen in ein geregeltes Erwerbsleben, in Schule, Ausbildung, Praktikum oder eine Qualifizierungsmaß-



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nahme wird von Anfang an gefördert. Dieser Baustein der Konzeption wird zudem durch die Art der Finanzierung in allen Betreuungsangeboten von Prima Donna unterstützt. Gerade bei Frauen ist die berufliche Orientierung und Integration ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer eigenständigen Identität. Der Tag in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft teilt sich in die vorgegebenen Strukturen und in freie Zeit, die von den Frauen individuell geplant wird. So gibt es verpflichtende therapeutische Angebote wie Gruppen- und Einzeltherapie, Morgenrunden und Abendessen sowie freiwillige Angebote wie Paar- und Familiengespräche, eine Kunsttherapiegruppe und Imaginationstraining. Dieser Ansatz ermöglicht den Frauen ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Alltagsbezug. Wesentlicher Bestandteil dabei ist die Planungsgruppe, in der der individuelle Rahmen regelmäßig besprochen wird. Ziel der Planungsgruppe ist es, zu lernen, eine eigene passende und umsetzbare Tagesgestaltung zu erarbeiten und durchzuführen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten und Energien so einzuschätzen und einzusetzen, dass eine Balance zwischen Aktivität und Entspannung erreicht wird. Auch in der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die Auseinandersetzung mit dem Alltag bereits vor Therapieende dringend notwendig ist. So halten Schay und Liefke (2009: 37) fest, dass „die Rückfallquote unmittelbar nach Entlassung aus dem stationären Setting sehr hoch war, weil die Patienten mit dem Übergang aus der ‚behüteten’ Atmosphäre [...] in den Alltag überfordert waren“. Das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist ein wesentliches Element der Angebote, um die betroffenen Frauen mit möglichst viel Selbstkontrolle und Eigenverantwortung auf ihrem Weg in ein unabhängiges Leben zu begleiten. So sind die Frauen in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft beispielsweise nachts und am Wochenende von Anfang an nicht betreut, haben jedoch die Möglichkeit, in Krisenfällen über den telefonischen Hintergrunddienst Kontakt mit dem Team aufzunehmen. Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und -gestaltung wie beispielsweise bei Ämtergängen, der Schuldenregulierung, dem Haushalt, der Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten stärkt die Lebenstüchtigkeit der Frauen. Alltagsnahe, nicht zu kostspielige Freizeitgestaltung wird explizit unterstützt. Die Förderung des kreativen Ausdrucks, der Ausbau gemeinsamer Aktivitäten und die Unterstützung beim Aufbau von sozialen Kontakten stehen im Zentrum der Bemühungen. Darüber hinaus ermöglicht die Kooperation mit der örtlichen medizinischen und psychosozialen Versorgungslandschaft im Großraum München – wie z. B. mit einer niedergelassenen Hausärztin, einer Psychiaterin, mit dem psychiatrischen Krisendienst, der psychiatrischen Krisenstation mit der Option, während



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des Aufenthaltes bei Prima Donna die Tagesklinik aufzusuchen, dem Jugendamt – ein angemessenes Krisenmanagement in vielen Situationen. Zudem spielt die Vernetzung mit bestimmten Fachambulanzen, u. a. für Essstörungen und Trauma, eine wichtige Rolle, um den Bedürfnissen der Klientinnen gerecht werden zu können. Außerdem bietet die vielfältige Vernetzung mit verschiedenen Arbeitsprojekten Kontakt zur Arbeitswelt.

E RGEBNISSE

DER

K ATAMNESE

Stichprobenbeschreibung Die Stichprobe der Katamnese setzt sich aus ehemaligen und aktuellen Bewohnerinnen von Prima Donna Intensiv zusammen. Die Gruppe der ehemaligen Bewohnerinnen umfasst Frauen, die zwischen 2007 und 2011 regulär ausgezogen sind oder disziplinarisch entlassen wurden. 23 Fragebögen standen für diese Gruppe zur Auswertung zur Verfügung. Die Gruppe der aktuellen Bewohnerinnen umfasst 11 Frauen, die sich zum Erhebungszeitpunkt (2012) bereits seit mindestens einem halben Jahr bei Prima Donna Intensiv in Behandlung befanden oder vor Kurzem von dort aus in ein anderes Angebot von Prima Donna gewechselt hatten: Von ihnen lebten drei „noch“ in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft, ebenfalls drei waren im Betreuten Einzelwohnen und weitere vier Frauen in der Nachsorge; eine Frau lebte in der Clean WG. Nahezu die Hälfte der 23 ehemaligen Bewohnerinnen ist zwischen 21 und 29 Jahren alt, die kleinste Altersgruppe bilden die 42- bis 50-Jährigen (n=3; 13 %). Zwei Drittel der ehemaligen Bewohnerinnen weisen eine komorbide Störung auf, knapp drei Viertel wurden aufgrund einer Abhängigkeit von illegalen Substanzen bei Prima Donna Intensiv behandelt. 14 Frauen hatten die Behandlung regulär beendet, 9 waren vorher entlassen worden. Bei der Hälfte der regulär entlassenen Frauen lag die Betreuungsdauer bei Prima Donna Intensiv bei unter einem Jahr und bei gut einem Drittel bei ein bis zwei Jahren. Lediglich zwei Frauen hatten eine Behandlung von über zwei Jahren in Anspruch genommen. 14 der 23 ehemaligen Bewohnerinnen waren zum Erhebungszeitpunkt seit mindestens einem Jahr nicht mehr in eines der Angebote von Prima Donna eingebunden. Die Mehrheit der 11 aktuellen Bewohnerinnen ist zwischen 30 und 35 Jahren alt (n=4, 36 %), drei Frauen sind zwischen 36 und 41 Jahren alt und jeweils zwei Frauen 21 bis 29 Jahre bzw. 42 bis 50 Jahre alt. Etwas mehr als die Hälfte ist seit ein bis zwei Jahren in Behandlung bei Prima Donna. Für acht Frauen ist es die



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erste Behandlung bei Prima Donna Intensiv, allerdings haben sich drei Frauen bereits häufiger als zwei Mal an Prima Donna Intensiv gewandt und sich auf eine neue Maßnahme eingelassen. Zur aktuellen Lebenssituation der ehemaligen Bewohnerinnen Die Ergebnisse zur Erwerbstätigkeit und den Wohnverhältnissen der 23 ehemaligen Bewohnerinnen zeigen, dass die Entwicklung ihrer Lebenssituation oft in eine positive Richtung verläuft. Im Hinblick auf Arbeit als wichtiger Bereich sozialer Integration ist zu beobachten, dass mehr als jede dritte ehemalige Bewohnerin (n=8) einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgeht und weitere sechs Frauen gelegentlich erwerbstätig sind – insgesamt sind damit mehr als drei von fünf ehemaligen Bewohnerinnen zumindest gelegentlich erwerbstätig. Zum Zeitpunkt der Erhebung wohnen knapp drei Viertel (n=17) in einer Mietwohnung; nur eine Frau gibt unter „Sonstiges“ an, in einer Notschlafunterkunft und damit in prekären Verhältnissen zu leben. 10 der 23 Frauen geben an, allein zu leben. Direkt nach dem Betreuungsende bei Prima Donna Intensiv lebte „nur“ rund die Hälfte der Frauen in einer eigenen Mietwohnung, hier hatten noch wesentlich mehr angegeben, zu diesem Zeitpunkt keinen festen Wohnsitz zu haben (n=4) oder in einer Betreuten Wohngemeinschaft (n=4) zu wohnen. Der Vergleich der beiden Erhebungszeitpunkte macht deutlich, dass sich die Wohnverhältnisse der Frauen stabilisiert haben und in einem relativ hohen Maß Eigenverantwortung erfordern. Dies wird auch daran ersichtlich, dass mittlerweile deutlich mehr Frauen allein leben, als dies direkt nach Betreuungsende der Fall war (10 vs. 4 Frauen). Wird die Wohnsituation als ein Indikator für soziale Integration betrachtet, so ist also im Laufe der Zeit eine Verbesserung festzustellen. Die Abstinenzquote ist bei den Frauen im Vergleich zu Zahlen anderer Erhebungen4 mit über 90 % sehr hoch: 21 ehemalige Bewohnerinnen schätzen sich auch mehrere Jahre nach ihrer Zeit in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft als „clean“ ein. Elf Frauen (52 %) sind dies nach eigener Aussage bereits seit Ende der Therapie bei Prima Donna Intensiv. Dieses Ergebnis muss allerdings differenziert betrachtet werden, da es sich um Selbstangaben bzw. eine subjektive Einschätzung der befragten Frauen handelt, aber auch, weil nur die Zahl der auswertbaren Fragebögen zu nutzen ist und die Vermutung nahe liegt,

4

So kommen beispielsweise Schay/Liefke (2009: 37) zu einer Abstinenzquote von 14 % bis 37 %.



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dass vor allem die abstinent lebenden Frauen den Fragebogen ausgefüllt und zurückgeschickt haben. Erfolgsfaktoren in der Therapie: ehemalige Bewohnerinnen Von den 23 ehemaligen Bewohnerinnen haben 14 die Therapie bei Prima Donna Intensiv regulär beendet. Mittels des Fragebogens wurden diese 14 Frauen nach den aus ihrer Sicht unterstützenden Faktoren in der Therapie gefragt. Für die Mehrheit dieser Frauen (n=10, 71 %) war das „Wohnen und die Therapie unter Frauen“, also das frauenspezifische Angebot und der Frauenschutzraum bei Prima Donna Intensiv ein Faktor, den sie als unterstützend empfunden haben. Jeweils acht Frauen erachten die Arbeit an/mit Rückfällen, die Alltagsnähe und die feste Bezugstherapeutin als für sie besonders wichtig. Auch einer Arbeit nachgehen zu können, ist noch für sieben Frauen von hoher Bedeutung. Die längerfristige Betreuungsmöglichkeit scheint hingegen in der Retrospektive eine weniger wichtige Rolle gespielt zu haben – nur vier Frauen nennen dies als unterstützenden Faktor. Allerdings ist diesbezüglich anzumerken, dass nur die Hälfte der 14 Frauen, die die Therapie regulär beendet haben, auch das Betreuungsangebot von über einem Jahr in Anspruch genommen hat. So bewerten immerhin vier der sieben Frauen mit dieser vergleichsweise langen Therapiedauer diese Möglichkeit als positiv. Auch der Unterstützung durch die anderen Mitbewohnerinnen und der Auseinandersetzung in der Gruppe scheint eine weniger wichtige Rolle zugeschrieben zu werden; mit lediglich fünf Frauen, die diesem Faktor zustimmen. Unter „sonstige Faktoren“, die von sieben Frauen angegeben wurde, fallen die folgenden Aspekte: • • • • • • •

„Unterstützung durch die Therapeutin“, „Verstanden zu werden“, „Hilfe (allgemein)“, „die Angst vor Bewährungswiderruf“, „Unterstützung und Ansprechpartnerinnen rund um die Uhr“, „themenbezogene Gruppentherapie“, „eigener Wille“.

Anhand dieser sonstigen Antworten zeigt sich, dass über die strukturellen, d.h. einrichtungsspezifischen Bedingungen hinaus, auch eine extrinsische Motivation („Angst vor Bewährungswiderruf“) als unterstützender Faktor erlebt werden kann. Gleiches gilt für die intrinsische Motivation („eigener Wille“). Da die Frage jedoch auf die einrichtungsspezifischen Unterstützungsfaktoren abzielte, wa-



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ren weder intrinsische noch extrinsische Motivationsfaktoren als Antwortkategorien im Fragebogen enthalten. Auffallend ist, dass fast alle Frauen mehrere Antwortmöglichkeiten, ein Teil der Frauen sogar alle aufgezählten Punkte, angekreuzt haben. Dies lässt auf der einen Seite darauf schließen, dass sie das Konzept von Prima Donna Intensiv als „rund“ empfanden. Auf der anderen Seite wären vermutlich aussagekräftigere Ergebnisse zu erwarten gewesen, wenn die Möglichkeit der Mehrfachantworten ausgeschlossen worden wäre und sich die befragten Frauen jeweils für den für sie wichtigsten Aspekt hätten entscheiden müssen. Wenngleich auch zu bedenken ist, dass es sich bei den als unterstützend erlebten Faktoren um ein komplexes Thema handelt, welches vermutlich tatsächlich mehrere Faktoren beinhaltet und eine Reduzierung auf einen Faktor möglicherweise einen Teil der Realität ausgeblendet hätte. Kurz sei an dieser Stelle noch auf die Gründe verwiesen, aufgrund derer 9 der 23 ehemaligen Bewohnerinnen die Therapie bei Prima Donna Intensiv nicht regulär beendet haben. Drei Frauen geben hierzu an, disziplinarisch entlassen worden zu sein, eine Frau wurde inhaftiert und fünf Frauen geben eine eigene Motivation (Suchtdruck, Heimweh etc.) als Hintergrund an. Erfolgsfaktoren in der Therapie: aktuelle Bewohnerinnen Im Vergleich zu den ehemaligen Bewohnerinnen, die die Therapie bei Prima Donna Intensiv regulär beendet haben, zeigen sich im Hinblick auf die unterstützenden Faktoren in der Therapie bei den aktuellen Bewohnerinnen andere Ergebnisse. Während bei den 23 ehemaligen Bewohnerinnen der Frauenschutzraum mit 10 Nennungen am häufigsten als unterstützender Faktor genannt wird, ist es bei den aktuellen Bewohnerinnen die feste Bezugstherapeutin mit 9 von 11 Nennungen. Demgegenüber wird der Frauenschutzraum, also das Wohnen und die Therapie unter Frauen, nur von drei Befragten genannt und enthält damit die wenigsten Nennungen. Ein deutlich höherer Zustimmungswert als unter den ehemaligen Bewohnerinnen erreicht unter den aktuellen Bewohnerinnen die Möglichkeit der langfristigen Unterstützung: Während dies 8 von 11 der aktuellen Bewohnerinnen als unterstützend bewerten, trifft dies nur auf 4 der 14 ehemaligen Bewohnerinnen zu. Jeweils sechs aktuelle Bewohnerinnen schätzen die Alltagsnähe des Angebots und die Unterstützung durch die Gruppe bzw. durch die anderen Mitbewohnerinnen. Darüber hinaus geben jeweils noch fünf Frauen die Rückfallarbeit und die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen als unterstützende Faktoren an. Unter sonstige Faktoren fallen bei den aktuellen Bewohnerinnen:



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• „individuelles Eingehen auf die Bewohnerinnen im Therapiegeschehen und

Entscheidungen“, • „Eigenverantwortung bei der Alltagserprobung“, • „um mich zu erproben“, • „dass ich alles sagen kann, ohne dass mir Vorwürfe gemacht werden oder ich

verurteilt werde“, • „Prima Donna ist die beste Therapie, auf der ich jemals war“.

Lob, Kritik, Anregungen Im Rahmen der Fragebogenerhebung wurden die 23 ehemaligen Bewohnerinnen auch um eine rückblickende Beurteilung ihrer Zeit bei Prima Donna Intensiv sowie um Anregungen zum Konzept gebeten. Danach gefragt „Wie beurteilst Du rückblickend die Zeit bei Prima Donna?“ beurteilt ein Großteil der befragten Frauen (n=16) ihren Aufenthalt rückblickend als „positiv“ bzw. „eher positiv“. Wenig überraschend zeigt sich, dass im Vergleich zwischen Klientinnen, die die Therapie regulär abgeschlossen haben und Klientinnen, die frühzeitig ihren Aufenthalt beendet haben, erstgenannte Gruppe eine positivere Bewertung abgibt, da eine reguläre Beendigung der Therapie für viele von ihnen ein Erfolgserlebnis darstellt. Im Zusammenhang mit der Frage „Hast Du Verbesserungs-/Änderungsvorschläge oder sonstige Anmerkungen zum Konzept von Prima Donna?“ wurde insbesondere ein Hinterfragen der sogenannten Planungsgruppe deutlich. In dieser Gruppe planen die Bewohnerinnen u. a. die kommende Woche sowie die Aufgabenverteilung im Haus (z. B. Putzdienste). Ferner stellt diese Gruppe den Rahmen dar, in dem es dem Team vermehrt darum geht, Grenzen zu setzen, „Vetos“ und Konsequenzen auszusprechen. Die Frauen müssen hier jede Aktivität außer Haus und jeden Kontakt ansprechen, planen und ausprobieren. Dies stellt für viele zunächst eine verwirrende und anstrengende Situation dar. Auch die Struktur der Gruppe wurde von einigen als „verwirrend“ kritisiert. Zudem stieß das vom Team immer wieder betonte und thematisierte individuelle Arbeiten mit den Frauen häufig auf Unverständnis. So führt eine der Frauen an, dass sie es als ungerecht empfand, dass verschiedene Regeln für die einzelnen Frauen gelten, eine andere betont, dass die individuellen Entscheidungen im Rahmen der Planungsgruppe für sie schwierig waren. Eine weitere Befragte äußert den Wunsch nach „Gleichbehandlung der Frauen“. Auch das Gefühl sich „unerwachsen“ zu fühlen, der Einwand, dass manche Regeln nichts mit der Realität zu tun hätten und dass die Planung zu streng sei, wurden in diesem Zusammenhang genannt.



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Die Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen bei Prima Donna Intensiv ist immer eine Gratwanderung, da das Team entscheiden muss, wann es einen selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Alltag unterstützt und ab wann es nötig ist, Grenzen zu setzen und über Kontrolle auch Schutz zu bieten. Dies bestätigt auch die Anregung einer ehemaligen Bewohnerin, die sich auf der einen Seite einen besser strukturierten Tagesablauf, auf der anderen Seite mehr Freiheiten und Freiraum gewünscht hätte. Auch die sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen der Klientinnen beeinflussen, wie der Aufenthalt bei Prima Donna Intensiv wahrgenommen wird. So beschreibt eine ehemalige Bewohnerin, die die Therapie bei Prima Donna Intensiv abgebrochen hat, dass sie direkt nach der Entgiftung den Alltagsanforderungen in der Einrichtung nicht standhalten konnte und es für sie wichtig war, erst einmal eine stationäre Therapie zu machen und somit Abstand zum Alltag zu bekommen. Eine der Frauen äußerte, dass ihrer Meinung nach das Team außerhalb der Gruppen- und Einzelgespräche zu wenig ansprechbar war, und eine andere, dass sie enttäuscht darüber war, dass ihre erwachsenen Söhne sie nicht in der Einrichtung besuchen durften. Auch die dreiwöchige Kontaktsperre am Anfang des Aufenthalts bei Prima Donna Intensiv wurde häufig kritisch angemerkt. So hätten sich vier der Frauen gewünscht, dass es diese nicht gebe bzw., dass die Familie von der Kontaktsperre ausgenommen wäre. Dass diese Zeit eine große Herausforderung darstellt, ist nachvollziehbar. Oft liegt in dieser Regelung für die Frauen aber auch die Chance, zu sich zu finden und zu überprüfen, welche Art des Kontakts ihren Bedürfnissen entspricht. Folgende Anregungen wurden zudem aufgeführt: • • • • • • • • •

„Einrichtung einer Mutter-Kind-Therapie“, „mehr Privatsphäre (z. B. Schlüssel für die Zimmer)“, „häufigere Kunstgruppe (2x wöchentlich)“, „Psychoedukation“, „Familienseminare“, „mehr Gruppenaktivitäten“, „Rückfallprophylaxe“, „Handy von Anfang an“, „bessere Gestaltung der Zimmer“.

Ferner gab es auch positive Anmerkungen, die jedoch weniger differenziert ausfielen – vermutlich bedingt dadurch, dass durch die Formulierung der Fragen die Verbesserungs- und Änderungsvorschläge in den Vordergrund gerückt wurden. Zusätzlich zu den bereits dargestellten unterstützenden Faktoren wurde hier die Zusammenarbeit mit der Psychiaterin und erneut der Frauenschutzraum „zum



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Aufbau eigenständigen Selbstbewusstseins“ genannt. Zusätzlich nutzten einige der ehemaligen Bewohnerinnen an dieser Stelle die Möglichkeit, sich zu bedanken.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Bedingt durch große Schwierigkeiten bei der Adressermittlung der Frauen und einer Rücklaufquote von knapp über 50 % basieren die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auf einer vergleichsweise kleinen Stichprobe von 23 ehemaligen Bewohnerinnen der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Prima Donna Intensiv. Auch wenn somit auf Basis der Stichprobengröße keine gesicherten oder gar für die Klientinnen von Prima Donna Intensiv repräsentativen Aussagen getroffen werden können, lassen sich dennoch eindeutige Tendenzen aufzeigen. So offenbaren die Ergebnisse zu der Erwerbstätigkeit und den Wohnverhältnissen der Frauen, dass die Entwicklung ihrer Lebenssituation oft in eine positive Richtung verläuft. Die Abstinenzquote ist bei den an der Erhebung beteiligten Frauen im Vergleich zu den üblichen Zahlen mit rund 90 % sehr hoch. Dieses Ergebnis muss allerdings differenziert betrachtet werden. Unter anderem, weil es sich um eine subjektive Einschätzung handelt, aber auch, weil davon auszugehen ist, dass vor allem die abstinenten Frauen an der Erhebung teilgenommen haben. Ziel war es, durch die subjektive Einschätzung der Frauen Aussagen über die Effekte der frauenspezifischen Arbeit bei Prima Donna Intensiv zu erhalten. In diesem Zusammenhang wurde aufgezeigt, dass sich zentrale Gedanken und Anforderungen an die frauenspezifische Suchtarbeit in der Konzeption der Einrichtung wiederfinden. So stellen sich der Frauenschutzraum bei den ehemaligen Bewohnerinnen und die feste Bezugstherapeutin bei den zum Erhebungszeitpunkt aktuellen Klientinnen als die für sie am meisten unterstützend erlebten Faktoren bei Prima Donna Intensiv heraus. Diese Zahlen spiegeln sich in der Literatur und aktuellen Forschung wider, wo die Beziehung zwischen Therapeutin und Patientin, ebenso aber auch der Schutzrahmen für Frauen zur Ermöglichung des Aufbaus einer eigenständigen Identität, als wichtige Faktoren benannt werden. Frauen, die zum Erhebungszeitpunkt aktuell in Betreuung waren, bewerteten die Möglichkeit der langfristigen Unterstützung positiver als die ehemaligen Bewohnerinnen. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Frauen bewusst für dieses Angebot entschieden haben. Im Gegensatz dazu gibt es aber immer wieder Klientinnen, denen die lan-



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gen Therapiezeiten Angst machen. Insgesamt wurde so gut wie keine Kritik an dem Konzept von Prima Donna Intensiv von den aktuellen Klientinnen geäußert. Werden beide Untersuchungsgruppen zusammengenommen – d.h. aktuelle Bewohnerinnen (n=11) sowie die ehemaligen Bewohnerinnen, die die Therapie regulär beendet haben (n=14) – so hebt sich in der Wahrnehmung der befragten Frauen im Hinblick auf die unterstützenden Faktoren das Bezugstherapeutinnensystem mit 17 Nennungen (68 %) von den anderen Wirkfaktoren deutlich ab. Dies belegt die elementare Bedeutung dieses Angebots und die hohe Relevanz einer stabilen Beziehung zwischen Klientin und Therapeutin. Gerade bei einer Klientel wie von Prima Donna Intensiv, bei der es sich überwiegend um multimorbide Frauen mit schweren Beziehungs- und Bindungsdefiziten handelt, ist die therapeutische Beziehung und Bindung Basis für Lernprozesse. In der Befragung wird auch sichtbar, dass es Frauen gibt, die sich immer wieder an Prima Donna gewandt haben. Diese Zahlen sind ein Indiz dafür, dass die intensive Beziehungsarbeit eine gute Voraussetzung dafür ist, dass die Frauen es schaffen, nach einem gescheiterten Therapieversuch erneut in Kontakt mit dem Team zu treten und sich Unterstützung zu holen. Ebenso zeigt die Erfahrung, dass die Kontinuität der Bezugstherapeutin über die verschiedenen Settings sowie die anhaltende Anbindung an die Sozialtherapeutische Wohngemeinschaft auch in den ambulanten Maßnahmen die Hemmschwelle der Klientinnen herabsetzt, im Bedarfsfall die Möglichkeit zu nutzen, wieder den am engsten betreuten Rahmen der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Auch der alltagsnahe Ansatz ist mit 14 Nennungen ein für die Klientinnen wichtiger Konzeptionsbaustein. Dies spiegelt sich in den Erkenntnissen der einschlägigen Literatur wider, die deutlich darauf hinweist, dass ein großer Wirkfaktor in der allgemeinen Psychotherapie in den extratherapeutischen Veränderungen, also im alltäglichen Leben, zu finden ist. Die zentralen Konzeptionsbausteine von Prima Donna Intensiv können den Anforderungen an frauenspezifische Suchtarbeit Rechnung tragen. Auch die subjektiven Einschätzungen der Frauen zu den Wirkfaktoren in der Therapie spiegeln die Ergebnisse aus Forschung und Literatur wider.

L ITERATUR Covington, Stephanie S. (2008): „Frauen und Sucht: ein traumasensibler Ansatz“, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.), Frauen



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– Trauma – Sucht. Neue Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen, Kröning: Asanger, 21-44. Lambert, Michael J. & Barley, Dean E. (2008): „Die therapeutische Beziehung und der Psychotherapieeffekt – eine Übersicht empirischer Forschungsergebnisse“, in Hermer, Matthias & Röhrle, Bernd (Hg.), Handbuch der therapeutischen Beziehung. Band 1 – Allgemeiner Teil, Tübingen: dgvt, 109-140. Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA (1999): „Zur geschlechtsdifferenzierten Suchtarbeit“. Entwicklung von Kernmerkmalen zur Qualitätssicherung frauenspezifischer Angebote in der ambulanten Drogenund Suchtkrankenhilfe. Essen: Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA. Lang, Hermann (2003): Wirkfaktoren der Psychotherapie, Würzburg: Königshausen & Neumann. Lehmann, Susanne (2000): Frau und Therapeutin, Therapeutin und Frau. Die Wirkung der Lebensstrategien im gesellschaftlichen Kontext auf den Beruf als Therapeutin, die Klientinnen und die Wechselwirkung. Unveröffentlichte Abschlussarbeit für die Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin, Weinheim. Schay, Peter & Liefke, Ingrid (2009): Sucht und Trauma. Integrative Traumatherapie in der Drogenhilfe, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Schigl, Brigitte (2012): Psychotherapie und Gender. Konzepte, Forschung, Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess?, Wiesbaden: Springer VS. Senger, Rea (2012): Prima Donna – Katamnese einer frauenspezifischen Suchthilfeeinrichtung unter besonderer Betrachtung der Wirkfaktoren in der sozialtherapeutischen Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen. Unveröffentlichte Masterarbeit, München. Singerhoff, Lorelies (2002): Frauen und Sucht, Weinheim/Basel: Beltz. Tödte, Martina (2005): Blitzlichter. Ein subjektiver Blick von PatientInnen auf stationäre medizinische Rehabilitation Drogenabhängiger. Eine kleine Studie zum Perspektiven- und Geschlechtervergleich, Essen: Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA. Vogelgesang, Monika (2009): Psychotherapie bei Frauen. Ein Lehrbuch für weibliche und männliche Therapeuten, Lengerich: Pabst Science Publishers.





Praxis der Feministischen Suchtarbeit





Ambulante Beratungspraxis der Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA Ein Fallbericht R ENATE K REKE & C HRISTA H EEDT

E INLEITUNG Die Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA, bietet seit 1992 konsequente geschlechtsbezogene Angebote für Mädchen und Frauen. Die Angebote orientieren sich zentral an den Bedürfnissen der Zielgruppen und sind darauf ausgerichtet, Mädchen und Frauen zu unterstützen, eigene Entscheidungen für die Gestaltung ihres Lebens zu treffen. Die Zielgruppen von BELLA DONNA sind: Mädchen und Frauen, die illegale Substanzen konsumieren, Drogen konsumierende/substituierte Frauen und ihre Kinder, Drogen konsumierende/substituierte schwangere Frauen, substituierte Frauen, weibliche Angehörige, Partnerinnen und Freundinnen von suchtkranken Menschen, • Drogen konsumierende Mädchen und Frauen, die der Prostitution nachgehen, • Frauen im Anschluss an eine stationäre Langzeittherapie und/oder Nachsorge, • Kinder, insbesondere Mädchen, deren Eltern/-teile von Suchtstoffen abhängig sind. • • • • •



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Das grundlegende Verständnis der Arbeit von BELLA DONNA ist, dass jedes Mädchen und jede Frau über eigene Stärken und Fähigkeiten verfügt und sich an diese bestehenden Ressourcen anknüpfen lässt, um jede Einzelne darin zu bestärken, ihre eigenen Kräfte zu erkennen und für sich positiv zu nutzen. Frauen und Mädchen soll ein adäquater, geschützter Rahmen geboten werden, um sich mit Drogenkonsum, Sucht und der eigenen Lebenssituation auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund haben ausschließlich Mädchen und Frauen sowie deren Kinder Zugang zu den Räumen der Drogenberatungsstelle. Süchtiges Verhalten von Mädchen und Frauen wird nicht allein als individuelles Problem verstanden, sondern im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen, Zuschreibungen und Anforderungen reflektiert. Dies erfordert gleichzeitig auch die Auseinandersetzung der Mitarbeiterinnen mit dem Wandel des gesellschaftlichen und individuellen Frauenbildes. Interessierte Mädchen und Frauen können während einer offenen Sprechstunde, die an zwei Tagen in der Woche angeboten wird, die Beratungsstelle und die Mitarbeiterinnen kennenlernen und sich über das Angebot informieren. Eine Terminvereinbarung ist nicht erforderlich. Für mögliche Wartezeiten steht in der Beratungsstelle ein freundlich eingerichteter Raum zur Verfügung, in dem auch unterschiedliches Informationsmaterial bereitgestellt wird. Dieses umfasst nicht nur Informationen zu Sucht und Drogen, sondern ebenfalls zu Themen, die Frauen unabhängig von Substanzkonsum betreffen oder interessieren können, zu Sexualität, Empfängnisverhütung, Kinderwunsch etc. Zudem besteht die Möglichkeit einer telefonischen Beratung, auf Wunsch auch anonym. Mit diesen Möglichkeiten und Angeboten ist ein niedrigschwelliger Zugang für Mädchen und Frauen zur Beratungsstelle beabsichtigt. Die Angebote von BELLA DONNA umfassen neben der Einzelberatung u. a. Beratung zur und Psychosoziale Betreuung (PSB) im Rahmen einer Substitutionsbehandlung, Vermittlungen in stationäre Entgiftungen, in abstinenzorientierte Behandlungen und in die Substitution, Nachsorgebetreuung, Beratung zu lebenspraktischen Fragen und Angehörigenberatung. Zusätzlich existieren unterschiedliche Gruppenangebote, z. B. eine offene, therapeutisch angeleitete Gesprächsgruppe für Frauen, die sich zum Thema Sucht und Drogen austauschen möchten. Zudem findet Streetwork auf dem „Straßenstrich“ statt. In der Drogenberatungsstelle sind drei Mitarbeiterinnen, teilweise mit therapeutischen Zusatzausbildungen, tätig. Alle Mitarbeiterinnen nehmen zur Qualitätssicherung regelmäßig an in- und externen Fort- und Weiterbildungen sowie an Teamsupervision und Teambesprechungen teil. Ein Schwerpunkt von BELLA DONNA ist die Arbeit mit Drogen konsumierenden/substituierten schwangeren Frauen und Frauen mit Kindern. Die hierfür



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zur Verfügung stehenden Angebote zielen darauf ab, Frauen – trotz der besonderen Schwierigkeiten, die ihre Situation prägen – gemeinsam mit ihren Kindern ein zufriedenes Leben zu ermöglich. Die in diesem Arbeitsbereich angebotenen Hilfen umfassen: Informationen und Beratung zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, Begleitung in der Schwangerschaft, Beratung zur Pflege und Erziehung der Kinder, Hilfestellungen zur Auseinandersetzung mit der Mutterrolle, Haus- und Klinikbesuche, Freizeitangebote für Frauen und ihre Kinder, Informationen über gemeindenahe Hilfen für Kinder bzw. Unterstützungsangebote für Frauen mit ihren Kindern, • Orientierungshilfen, z. B. bei Vermittlungen in Tageseinrichtungen oder Freizeitaktivitäten für Kinder, • Kinderbetreuung durch eine qualifizierte Fachkraft. • • • • • • •

Dieser Arbeitsschwerpunkt von BELLA DONNA illustriert sich auch anhand der Daten zu den betreuten Frauen: Im Jahr 2014 wurden fast 180 Mädchen und Frauen durch die Angebote der Drogenberatungsstelle erreicht. Von ihnen hatte die Hälfte eigene Kinder (Gesamtzahl Kinder: 161) und weitere vier Frauen waren schwanger. Dieser, auch in den vorherigen Jahren ähnlich hohe Anteil, bestätigt die Erfahrung, dass Drogen konsumierende Frauen, insbesondere jene mit Kindern und in der Schwangerschaft, Unterstützungsangebote annehmen, wenn diese vorhanden und entsprechend der Lebenssituation der Frauen gestaltet sind. Mit über einem Drittel ist die Altersgruppe der über 40-jährigen Frauen die größte Nutzerinnengruppe der Drogenberatungsstelle. Hieran verdeutlicht sich auch die hohe Haltekraft der Beratungsstelle: Insbesondere Frauen mit Kindern haben teilweise bereits seit vielen Jahren Kontakt zu BELLA DONNA und nutzen auch weiterhin die vielfältigen Angebote. Der Großteil der betreuten Frauen wird substituiert, ein weiteres Viertel konsumiert regelmäßig illegale Drogen und ein knappes Fünftel hat einen unregelmäßigen Konsum. Nahezu jede zehnte Frau ist abstinent und nutzt das Angebot der Nachsorgebetreuung nach einer Entgiftungs- oder Entwöhnungsbehandlung. Insbesondere bei den Frauen mit Kindern zeigt sich mit nahezu zwei Dritteln ein hoher Anteil an Substituierten. Insgesamt weist der Großteil der von BELLA DONNA betreuten Frauen polyvalente Konsummuster auf: Neben Alkohol und Cannabis werden Benzodiazepine, Heroin, Amphetamine und Kokain von einem relevanten Anteil der



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Frauen – zumindest unregelmäßig – konsumiert. Der Konsum von Amphetaminen ist dabei vor allem bei den jüngeren Frauen, die keine Kinder haben, verbreitet. Anhand eines Fallberichts wird nachfolgend die Beratungspraxis von BELLA DONNA veranschaulicht, indem Einblicke in den Betreuungsverlauf einer 35-jährigen Klientin gegeben werden, die seit rund sechs Jahren an die Beratungsstelle angebunden ist. Dieses Fallbeispiel wurde gewählt, weil der beschriebene Entwicklungsprozess die Wirksamkeit von passenden Hilfen exemplarisch verdeutlicht. Zudem tauchen etliche Facetten eines Frauenlebens unter den Bedingungen von Suchtmittelabhängigkeit auf: Partnerschaft, Schwangerschaft, mehrfache Mutterschaft, Prostitution, Straffälligkeit, Gewalterfahrungen.

F ALLBERICHT F RAU U. Vorerfahrung/Kurzbiografie Frau U. nahm 2009 im Alter von 29 Jahren Kontakt zu BELLA DONNA auf. Im Erstgespräch gab sie an, sehr früh, im Alter von 17 Jahren, ihre erste Tochter bekommen zu haben. Den ein Jahr älteren Kindesvater habe sie kurz darauf geheiratet und versucht, ein „normales“ Familienleben zu führen. Sie habe mit 19 Jahren ihr zweites Kind und mit 22 Jahren ihr drittes Kind bekommen. Ihr Wunsch nach einem glücklichen Familienleben sei leider nicht in Erfüllung gegangen. Sie und ihr Mann seien überfordert gewesen. Sie berichtete weiter, dass ihr Mann alkoholabhängig gewesen und häufig ihr gegenüber gewalttätig geworden sei. Er sei mehrfach wegen Körperverletzung verurteilt worden. Sie habe Schutz bei ihrer Mutter gesucht, die aber ebenfalls mit der Situation überfordert gewesen sei und keine zuverlässige Hilfe bieten konnte. Frau U. habe bereits als Jugendliche im Alter von 15 Jahren gelegentlich Cannabis und Alkohol konsumiert, mit ca. 18 Jahren dann mehrmals die Woche Cannabis und Amphetamine. Sie sei aber nicht abhängig gewesen. Mit 23 Jahren habe sie sich schließlich von ihrem Ehemann getrennt und sei mit ihren Kindern und ihrem neuen Partner in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Mit 26 Jahren habe sie sich dann von diesem Partner, der intensiv Heroin konsumierte, getrennt und sei mit ihren drei Kindern in eine andere Wohnung gezogen. Sie habe es jedoch kaum geschafft, allein den Alltag mit drei kleinen Kindern zu bewältigen. Ihre Lebenssituation sei immer schwieriger geworden und sie habe begonnen, täglich Cannabis und Amphetamine zu konsumieren. Aus der Nachbarschaft habe es verschiedene Anzeigen hinsichtlich einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung gegeben, zudem seien die Kinder in der Schule und im Kindergar-



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ten durch ihr Verhalten aufgefallen. Frau U. habe sich Unterstützung durch das Jugendamt geholt und es sei bei mehreren Hausbesuchen festgestellt worden, dass die Wohnung und die Kinder in einem guten Zustand seien. Die Gefährdungsmeldungen seien jedoch weiterhin eingegangen und die Kinder weiterhin auffällig gewesen. Frau U. habe inzwischen begonnen, gelegentlich Heroin und Kokain zu konsumieren. Die älteste Tochter sei Ende 2006 schließlich in einem Kinderheim untergebracht worden. Frau U. sei damit nicht einverstanden gewesen, habe die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe verweigert und keine Termine mehr wahrgenommen. Anfang 2007 wurden die beiden anderen Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Frau U. sei daraufhin völlig in die Drogenabhängigkeit abgerutscht und habe intensiv Heroin und Kokain konsumiert. In den kommenden Jahren sei sie mehrfach wegen Drogenbesitz- und Beschaffungsdelikten verurteilt und inhaftiert worden. Die Kontakte zur ältesten Tochter fanden unregelmäßig statt, zu den anderen beiden Kindern bestand Ende 2007 kein Kontakt mehr.

Betreuungsbeginn Frau U. nutzte rund zwei Jahre später, im Jahr 2009, zum Erstkontakt die offene Sprechstunde von BELLA DONNA. Ihr Anliegen war es, begleitend zur Substitution in die Psychosoziale Betreuung aufgenommen zu werden. Sie gab an, seit 2007 Heroin und Kokain zu konsumieren und jetzt bei einem niedergelassenen Arzt eine Substitutionsbehandlung begonnen zu haben. Frau U. hielt die im Anschluss an das Erstgespräch vereinbarten Termine nur unregelmäßig ein und zeigte kein Interesse an den weiteren Angeboten der Beratungsstelle. Sie hatte massiven Beigebrauch, u. a. von Alkohol und Benzodiazepinen, sodass ihre Substitutionsbehandlung gefährdet war. Frau U. befand sich in einem desolaten körperlichen und psychischen Zustand und konnte sich nicht mehr ausreichend um ihre Post, finanzielle Belange und Behördenangelegenheiten kümmern. In den nur sporadisch stattfindenden Beratungsgesprächen ging es in erster Linie darum, Frau U. eine Möglichkeit zu bieten, über ihre diversen Problematiken zu sprechen und sie zu entlasten. Ihr wurde ebenfalls Hilfe bei Kontakten zu Ämtern, der Staatsanwaltschaft, Stromanbietern o. Ä. angeboten. Durch eine freundliche Begrüßung, eine verständnisvolle Gesprächsführung und das Ansprechen und Anerkennen von Lebensleistungen und aktuellen Fortschritten sollte Frau U. stets vermittelt werden, dass sie als Frau in ihrer Gesamtheit gesehen und nicht auf eine drogenabhängige Frau reduziert wird, die sich ausschließlich mit Themen bezogen auf den Konsum von Substanzen und Sucht befasst.

Konzeptionell verankert erfolgen bei BELLA DONNA keine Sanktionen aufgrund verpasster Termine. Vielmehr wird die Nicht-Einhaltung von Terminen in einen Zusammenhang zu den persönlichen Ressourcen und Lebenssituationen



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der betroffenen Frauen gesetzt, indem dieses Verhalten gemeinsam mit den Frauen reflektiert wird: Gründe, die an einer Einhaltung der Termine hindern, können vielfältige Ursachen haben. An die Klientinnen wird von daher appelliert, die Einhaltung von Terminen auch als eigene Wertschätzung anzusehen, die sicherlich eine Lernleistung voraussetzt: Ich bin es mir wert, mir Zeit für mich und meine eigenen Themen zu nehmen. Die Entwertung ihrer Person, die viele Klientinnen aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen internalisiert haben – insbesondere durch Gewalterfahrungen in der Kindheit, aber auch durch häufig sich wiederholende Gewalterfahrungen während der Zeit des Substanzkonsums – beinhaltet auch, dass sie keine Wertschätzung von einer anderen Person erwarten. Insbesondere wird somit die Erfahrung, von einer anderen Frau in einem professionellen Kontext wertgeschätzt zu werden, zu einer eigenen Lernerfahrung: Die Mitarbeiterinnen vermitteln, dass ihnen an dem Kontakt mit ihr gelegen ist und dass sie sich aus diesem Grund Zeit für sie freihalten. Dieses Verhalten wirkt auch gegen frühere Vernachlässigungserfahrungen der Klientin und ermöglicht die Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsbeziehung vor dem Hintergrund alternativer Erfahrungen von Wertschätzung, Akzeptanz und „Gesehen-Werden“. Entsprechend wurde an Frau U. appelliert, rechtzeitig abzusagen, wenn sie einen Termin nicht einhalten konnte, alternativ wurde mit ihr konkret besprochen, welche Gründe sie jeweils hinderten, Termine wahrzunehmen und wie sie diese Situation verändern kann, wenn ihr daran liegt.

Klientinnen wird mit dieser Haltung vermittelt, dass sie durchaus Gestaltungsmacht in ihrem Leben haben, diese aber häufig nicht bewusst wahrnehmen oder nutzen. Auch ihr hoher Beigebrauch wurde mit Frau U. thematisiert. Ihr wurde verdeutlicht, dass dieser sie auch an von ihr gewünschten Veränderungen hindere, gleichzeitig ihre vorliegende Merk- und Konzentrationsschwäche verstärke, sodass sie in der Folge z. B. (Termin-)Vereinbarungen vergesse.

Vermittelt wird den Klientinnen, dass jegliches Handeln Konsequenzen hat – und dass sie es sind, die entscheiden, handeln und entsprechend auch die Konsequenzen für ihr Leben tragen. Ziel ist, dass die betroffenen Frauen erkennen können, dass sie, trotz ihrer Suchterkrankung, auch Handelnde sind und in der Regel unterschiedliche Möglichkeiten haben, eine Entscheidung „in die Hand“ zu nehmen. Das Erkennen und Erleben von Selbstwirksamkeit, einerseits als



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Gegenpol zu biografischen Erfahrungen mit Hilflosigkeit und Ohnmacht, andererseits auch in der konkreten Situation, z. B. bei der Suche nach Hilfe und Unterstützung, ist eine wesentliche, grundlegende Erfahrung hinsichtlich der Möglichkeit von und für Veränderungen. Gelegentlich sprach Frau U. von ihren Erfahrungen während der Beschaffungsprostitution und den gefährlichen und demütigenden Situationen, die sie dabei ertragen musste. Gemeinsam mit ihr wurde überlegt, welche Strategien und Handlungsweisen sie nutzen könne, um sich besser zu schützen und Gefahren zu verringern. Nach etwa fünf Monaten beendete Frau U. ihre Substitutionsbehandlung und konsumierte erneut intensiv Heroin und Kokain. In dieser Zeit brachen die Kontakte zur Beratungsstelle nahezu vollständig ab. Über eine Kollegin, die in die begleitende Arbeit von drogenabhängigen Frauen auf dem Straßenstrich (Streetwork) eingebunden ist, wurde gezielt ein, wenn auch eher unverbindlicher Kontakt immer wieder hergestellt. So wurden Frau U. regelmäßig Grüße der Beraterin aus der Beratungsstelle ausgerichtet und die Nachricht, dass sie jederzeit wiederkommen könne. Als Frau U. nach einigen Monaten erneut eine Substitutionsbehandlung begann, wünschte sie sich, wieder in die PSB bei BELLA DONNA aufgenommen zu werden. Da Frau U. die PSB auch bei der ihr vertrauten Beraterin durchführen wollte, konnte an die vorherige Betreuung angeknüpft werden.

Der hier dargestellte Betreuungsbeginn von Frau U. macht deutlich, dass es zunächst wichtig ist, Drogen konsumierenden Frauen einen niedrigschwelligen Zugang zur Beratungsstelle zu ermöglichen, wie dies mit der offenen Sprechstunde, die ohne jegliche Terminvereinbarung genutzt werden kann, der Fall ist. Eines der konzeptionellen Ziele von BELLA DONNA ist es, Wartezeiten, wenn irgend möglich, zu minimieren und keine Wartelisten anzulegen. Zusätzlich erleichternd für die Frauen ist, dass während des Angebots der offenen Sprechstunde eine Kinderbetreuung durch eine qualifizierte Erzieherin zur Verfügung steht. Die sich an den Erstkontakt anschließenden Beratungsgespräche mit Frau U. orientierten sich an ihrer individuellen Lebenssituation und zielten darauf ab, ihre Fähigkeiten anzuerkennen und ihre Ressourcen zu aktivieren. Die Basis hierfür waren vertrauensfördernde Maßnahmen und eine empathische Unterstützung mit dem Ziel eines Beziehungs- und Bindungsaufbaus zur Klientin. Auch in der Zeit, als Frau U. ihre Substitutionsbehandlung unterbrach, wurde großer Wert darauf gelegt, den Kontakt zu ihr zu halten und weiterhin Erreichbarkeit zu signalisieren. Bei der Wiederaufnahme der Betreuung wurden die Wünsche von



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Frau U. berücksichtigt und es konnte an das bestehende Vertrauensverhältnis zu ihrer Beraterin angeknüpft werden. Die Grundlage dieser Haltung ist, dass Mädchen und Frauen oftmals mehrere „Anläufe“ benötigen, um Vertrauen in eine Institution und die jeweiligen Mitarbeiterinnen zu entwickeln, ebenso, dass auch ein tatsächlicher Veränderungswunsch Verunsicherungen und Schwankungen unterliegt und nicht zwangsläufig gradlinig umsetzbar ist. Vor dem Hintergrund der verinnerlichten Schuld- und Versagensgefühle vieler substanzkonsumierender Frauen sowie der Einschätzung, dass sie es nicht wert sind, Unterstützung zu erfahren, sind Betroffene häufig ausgesprochen überrascht, wenn eine Einrichtung bzw. deren Mitarbeiterinnen sie nicht verurteilen, sondern ihr Verhalten in erster Linie als einen Ausdruck ihrer aktuellen psychischen Verfassung akzeptieren. An dieses „Überraschungsmoment“ kann angeknüpft werden, da viele Frauen nicht über die Erfahrung verfügen, dass eine andere Frau sie tatsächlich unterstützt. Insbesondere bei biografischen Erfahrungen mit sexueller Gewalt durch ein männliches Mitglied der Herkunftsfamilie haben Betroffene häufig erfahren, dass ihre Mütter sie nicht schützen (konnten) und ihnen nicht glaubten. So zeigen auch spätere biografische Erfahrungen oftmals, dass Frauen sich eher an Männer wenden, wenn sie Unterstützung benötigen und von Frauen diese nicht erwarten. Mit etwas Abstand war es nun für Frau U. leichter, über vergangene Probleme zu sprechen und vor diesem Hintergrund ihre belastete Lebenssituation zu reflektieren. Die Beraterin versuchte, gemeinsam mit Frau U. Erkenntnisse aus ihrer Vergangenheit für zukünftige Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. In sehr kleinen Schritten schien Frau U. in der Lage, einen vertrauensvollen Umgang mit ihrer Beraterin zu gestalten. Frau U. konnte ihre eigenen Ziele benennen und gemeinsam mit der Beraterin dokumentieren. Sie wünschte sich wieder eine Familie, Kontakt zu ihren Kindern, ein „normales“ Leben ohne Heroin/Kokain und ohne Prostitution. Von tatsächlichen Veränderungen der aktuellen Lebenssituation war sie jedoch noch weit entfernt. Über ca. drei Jahre zog sich dieser Prozess der Vertrauensbildung hin. Frau U. hatte bis zu ihrem 26. Lebensjahr zwar Cannabis, Amphetamine und Alkohol konsumiert, aber kein Heroin und Kokain, sodass es durchaus Anknüpfungspunkte an ein Leben ohne Drogenabhängigkeit gab. Jedoch hatte sie Ende 2011 weiterhin einen hohen Beikonsum – regelmäßig von Alkohol und Benzodiazepinen, gelegentlich von Heroin sowie Kokain. Sie ging weiterhin zeitweise der Prostitution nach und brachte sich immer wieder in bedrohliche Situationen. Zudem hatte sie Beziehungen mit gewalttätigen und drogenabhängigen Partnern und es gelang ihr auch in diesem Rahmen kaum, sich zu schützen. Es gab immer wieder Phasen mit Kontaktabbrüchen und Frau U. schien sich in einer Schleife mit



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den immer gleichen Gewalterfahrungen, Wunschträumen und Enttäuschungen zu befinden.

In der Phase der Wiederaufnahme der Betreuung wurde Frau U. der geschützte Rahmen und die Möglichkeit geboten, sich mit ihrer Lebenssituation und ihrem Drogenkonsum auseinanderzusetzen. Diesen Rahmen konnte sie verstärkt für sich nutzen. Das Erkennen und Stärken ihrer Ressourcen war in den darauffolgenden Jahren zentral. Dies bedeutete auch, Geduld zu haben und die Hoffnung auf Veränderungen und Verbesserungen, trotz Rückschlägen, nicht aufzugeben und Frau U. weiterhin in ihrem Bemühen zu bestärken. Weiterer Betreuungsverlauf Nach einigen Monaten ohne Kontakt meldet sich Frau U. schließlich 2012 erneut in der Beratungsstelle. Sie sei wieder in der Substitutionsbehandlung und habe einen neuen, ebenfalls substituierten Partner. Von diesem sei sie schwanger und wolle das Kind bekommen. Für sie und ihren Partner sei es die Chance, eine Familie zu gründen und ein Leben ohne Drogen zu führen. Die Beraterin sah diese Neuigkeiten kritisch, bemühte sich aber weiterhin, ein offenes Gesprächsklima aufrechtzuhalten. Ihre Bedenken, dass Frau U. körperlich und psychisch möglicherweise nicht in der Verfassung sei, ein Kind groß zu ziehen, wurden bestimmt, aber freundlich vorgetragen. Das Vertrauen von Frau U. sollte dringend aufrechterhalten werden, um weiterhin mit ihr in Kontakt zu bleiben. Frau U. berief sich auf ihre Erfahrungen mit Schwangerschaften und Kindererziehung. Sie hatte ihren Mutterpass dabei und versicherte, alle Untersuchungen wahrzunehmen und ihren Beigebrauch zu beenden. Die Beraterin bot Frau U. ihre Unterstützung und Begleitung während der Schwangerschaft an und besprach mit ihr das nun anstehende weitere Vorgehen.

Innerhalb der Stadt Essen besteht seit vielen Jahren eine verbindliche, strukturierte Kooperationsvereinbarung zwischen der Drogenhilfe, der Jugendhilfe und der medizinischen Versorgung1. Drogen konsumierende Frauen haben erfahrungsgemäß die Befürchtung, dass das Jugendamt ihnen ihre Kinder „wegnimmt“, wenn eine Substanzabhängigkeit bzw. ein -konsum bekannt wird. Diese Angst ist oftmals diffus, da die Frauen über wenige oder nur unspezifische Informationen darüber verfügen, welche Anforderungen an sie gestellt werden, um gemeinsam mit ihrem Kind leben zu können. Gleichzeitig ist ihnen durchaus

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„Kooperationsvereinbarung zwischen den an der Betreuung von drogenkonsumierenden Müttern/Vätern/Eltern und deren Kindern beteiligten Institutionen zur Koordinierung der Hilfen für diese Zielgruppe innerhalb der Stadt Essen“.



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bewusst, dass eine Fremdplatzierung eines Kindes nicht grundlos vorgenommen wird. In der Kooperationsvereinbarung sind die Minimal-Anforderungen an ein Leben mit Kindern in Übereinstimmung der Hilfesysteme als sogenannte Basiskriterien formuliert worden, die nicht nur den Mitarbeitenden der unterschiedlichen Systeme, sondern auch den Müttern und Vätern Orientierung geben. Ebenso sind die Prozesse in der Betreuung/Begleitung drogenabhängiger bzw. substituierter (werdender) Mütter und Väter in der Kooperationsvereinbarung beschrieben, sodass Transparenz zwischen den unterschiedlichen Hilfesystemen hinsichtlich ihrer Aufträge, Vorgehensweisen und Verfahren weitgehend hergestellt wird. Frau U. wurde entsprechend darüber informiert, welche konkreten, grundsätzlichen Anforderungen von ihr und ihrem Partner erfüllt werden müssen, um gemeinsam mit ihrem Kind leben zu können. Dies beinhaltete eine beigebrauchsfreie Substitution, eine Wohnung mit kindgerechter Ausstattung (angemessene Hygiene, Strom, Heizung und Wasser), eine altersgerechte Ernährung und Bekleidung, geregelte finanzielle Verhältnisse, Krankenversicherung und ärztliche Versorgung, eine feste Bezugsperson und einen strukturierten Alltag. Die enge Zusammenarbeit mit den beteiligten Hilfesystemen wurde ihr ebenfalls als Voraussetzung mitgeteilt. Frau U. teilte mit, dass sie einverstanden sei – diesmal „wolle sie alles richtig“ machen.

Die Lebensplanung und der Kinderwunsch von Frau U. wurden respektiert und ihr Hilfen angeboten, gleichzeitig jedoch bestehende Bedenken und Risiken offen benannt. Im weiteren Betreuungsverlauf standen Informationen und die Beratung zur Schwangerschaft sowie eine kontinuierliche Begleitung während dieser Lebensphase im Fokus. Dies beinhaltete auch Informationen und Beratung zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, mit Kliniken (Gynäkologie und Kinderklinik) sowie mit Ärztinnen und Ärzten. Für die werdende drogenabhängige Mutter ist es hilfreich, wenn eine vertrauenswürdige Person sie in diesem Prozess begleitet. Frau. U. sollte bezüglich der Zusammenarbeit bestärkt und ihre Ängste vor dem für sie nicht einschätzbaren Handeln der unterschiedlichen Hilfesysteme und der medizinischen Versorgung relativiert werden. Zentral richtete sich der Fokus der Betreuung auf eine umfassende medizinische und psychosoziale Unterstützung der Klientin – auch im Sinne der Entwicklung des ungeborenen Kindes. In einem gemeinsamen Gespräch der Klientin, ihrem Partner und der Beraterin mit der zuständigen Mitarbeiterin des Jugendamtes wurde die nun vorliegende Situation mitgeteilt und mögliche Unterstützungsmaßnahmen sowie die Erwartungen an die werdenden Eltern



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erörtert. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass das Paar zwar mit dem Kind gemeinsam leben wollte, der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, der Bewährungshilfe, dem Krankenhaus und dem substituierenden Arzt aber ablehnend gegenüberstand. Oberflächlich stimmten die werdenden Eltern allen Vereinbarungen und Anforderungen zu, gleichzeitig wurden aber vereinbarte Termine mit der Beratungsstelle BELLA DONNA häufig nicht eingehalten bzw. abgesagt. Frau U. stellte die Betreuung durch BELLA DONNA mit der Vermutung, die Beraterin würde ihr nicht vertrauen, infrage: Sie fühle sich massiv kontrolliert.

Faktisch handelt es sich um eine Situation, die neben Unterstützung auch eine tatsächliche Kontrolle beinhaltet. Dass Frauen häufig nicht verstehen, dass diese Kontrolle auch eine Schutzfunktion für ihr (ungeborenes) Kindes beinhaltet, sondern sie sich vordergründig als unzulänglich, inkompetent und verantwortungslos bewertet sehen, erfordert ein sensibles Vorgehen: In unserer gesellschaftlichen Realität ist „Mutter werden“ und „Mutter sein“ mit scheinbar originären, selbstverständlich vorliegenden Kompetenzen von Frauen verbunden (siehe auch den Beitrag von Tödte et al. in diesem Band). Aufgrund ihrer Biografie erleben sich substanzkonsumierende Frauen häufig als unzulänglich, minderwertig und wertlos, sodass die vermeintliche Unterstellung, sie könnten auch in der Phase der Schwangerschaft und Mutterschaft nicht für sich (und ihr Kind) sorgen, internalisierte Ab- bzw. Entwertungen trifft. Hinzu kommt, dass bei vielen Frauen in der Schwangerschaft ein umfassendes Informationsdefizit hinsichtlich des Schwangerschaftsverlaufs, der körperlichen und hormonellen Veränderungen, der Entwicklung des Ungeborenen etc. zu beobachten ist. So steht auch häufig die Bewertung der Auswirkungen von Substanzkonsum in der Schwangerschaft in keinem Verhältnis zu den tatsächlich möglichen Folgen: Viele Frauen schätzen die Konsequenzen des Drogenkonsums als deutlich gravierender für das ungeborene Kind ein, als er faktisch ist, was ihre Schuld- und Schamgefühle maßgeblich steigert und eher dazu führt, institutionelle Hilfen nicht anzunehmen. Gleichzeitig wird oft fälschlicherweise eine Bewertung von Stoffen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das ungeborene Kind an die Illegalität geknüpft: Alkohol und Nikotin als frei verfügbaren Stoffen wird entsprechend ein weniger schädigendes Potenzial zugesprochen als Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Diese Aspekte müssen in der Beratungs- und Betreuungspraxis berücksichtigt werden und erfordern, entsprechende Informationen für die betroffenen Frauen explizit zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wird insbesondere in der Arbeit mit drogenabhängigen Frauen, die schwanger und/oder Mütter sind, deutlich, dass Misstrauen und Rückschläge



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in der Zusammenarbeit zwischen Klientin und Beraterin immer wieder Thema sind und ausgehalten werden müssen. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, eine klare, aber nicht abwertende Haltung gegenüber der Klientin zu zeigen und die Motivation des Handelns zu verdeutlichen. Professionelle Beziehungsangebote der Beraterin können diese Phasen für die betroffenen Frauen erleichtern. Frau U. und ihr Partner heirateten vor der Geburt ihres Kindes, auch mit dem Ziel, das Sorgerecht gemeinsam ausüben zu können. Alle beteiligten Helferinnen und Helfer sahen eher geringe Chancen, dass die Eltern ihren Beikonsum zur Substitution beenden. Beide hatten es bislang nicht geschafft, ihren Beigebrauch aufzugeben, nicht einmal zu verringern. Den werdenden Eltern wurde daher schon im Vorfeld mitgeteilt, dass es sehr große Bedenken gebe, ihnen den Säugling nach der Geburt mit nach Hause zu geben. Diese Einschätzung wurde offen mit ihnen kommuniziert. Keine Entscheidung wurde hinter dem Rücken der Mutter bzw. der Eltern getroffen, um eine größtmögliche Transparenz bezogen auf die Haltungen und Einschätzungen der Beteiligten im Hilfesystem herzustellen bzw. beizubehalten. Der Kontakt zwischen Frau U. und ihrer Beraterin bei BELLA DONNA veränderte sich nun zunehmend. Frau U. versuchte immer häufiger, Termine bzw. Gespräche zu vermeiden, nutzte offensichtliche Ausreden, warum sie nicht kommen könne und versuchte, ihren Beikonsum zu verheimlichen. Bei den entsprechend nur noch seltenen Gesprächen wurde Frau U.s große Angst deutlich, den Anforderungen der Hilfesysteme nicht gerecht werden zu können. Der wiederholte Vorschlag, die Unterstützung der beteiligten Hilfepersonen anzunehmen, wurde von ihr zurückgewiesen. Es war kaum möglich, Frau U. über die verschiedenen Angebote und Hilfemaßnahmen zu informieren, da sie diesbezügliche Gespräche verweigerte. Sie sah nahezu ausschließlich den Kontrollaspekt. Sie rutschte wieder in das alte, ihr vertraute Vermeidungs- und Vertuschungsverhalten. Gleichzeitig formulierte sie, dass sie „um ihr Kind kämpfen“ wolle. Von ihrem Partner wurde sie darin unterstützt und gestärkt. „Wir beide gegen den Rest der Welt“ schien ihr Motto geworden zu sein. Erst gegen Ende der Schwangerschaft begann sich Frau U.s Abwehr etwas zu lockern – die Themen Unterstützung und Hilfe wurden von der Beraterin immer wieder positiv hinsichtlich des persönlichen „Gewinns“, den die Klientin davon habe, beschrieben. Ebenso wurde an den Wunsch und das Ziel der Klientin appelliert, mit ihrem Kind gemeinsam zu leben und dies gut zu versorgen, indem die erforderlichen Voraussetzungen für ein Zusammenleben als Orientierung, weniger als „Strafe“ wiederholt formuliert wurden. Der substituierende Arzt berichtete über den deutlich zurückgegangenen Beikonsum, das Jugendamt über eine gut ausgestattete Wohnung. Die Auswahl des Krankenhauses für die Entbindung fand gemeinsam mit der Beraterin statt. Frau U. entschied sich für eine Klinik mit Kinderintensivstation und Erfahrungen im Umgang mit Entzugserscheinungen von



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Neugeborenen. Gemeinsam mit der Beraterin besuchte Frau U. die dort angebotene Risikosprechstunde und besichtigte den Kreißsaal. In einem vom Jugendamt einberufenen Fachgespräch mit den Beteiligten der Hilfesysteme wurde ausführlich die Entwicklung der zukünftigen Eltern, ihre Stärken und Schwächen besprochen. Die Helferinnen und Helfer waren sich einig, dass das Paar nicht ausreichend stabil und verlässlich sei, um mit dem Kind allein zu leben. Ein Aufenthalt des Paares in einer Mutter/Vater-Kind-Einrichtung wurde deshalb vorgeschlagen. Den Eltern wurde dieses Ergebnis mitgeteilt. Der Ehemann von Frau U. wollte auf gar keinen Fall in diese Einrichtung, Frau U. fand es auch überflüssig, sie habe schließlich bereits drei Säuglinge versorgt. Da auch die Beraterin von BELLA DONNA eine Mutter/Vater-Kind-Einrichtung befürwortete, wurde das Vertrauensverhältnis erneut von Frau U. infrage gestellt. Die Beraterin stellte die Gründe für diese Entscheidung dar und versuchte, Frau U. zu vermitteln, dass dieser Entschluss auch eine positive Einschätzung der Eltern beinhalte: Ihre Weiterentwicklung und verbesserte Stabilität sei zu erkennen, aber eben noch nicht ausreichend vorhanden.

Die Thematisierung von Hilfe versus Kontrolle ist bei schwangeren Drogen konsumierenden Frauen ein zentraler Aspekt des Beratungsprozesses. Hierbei gilt es, die werdende Mutter immer wieder auf die bestehenden Hilfeangebote hinzuweisen, aber auch die Konsequenzen einer fehlenden Mitarbeit zu benennen. Das Kindeswohl steht im Vordergrund der geplanten Maßnahmen. Gleichzeitig ist es bedeutsam, Entscheidungen zu begründen und nachvollziehbar zu machen, ebenso wie positive Aspekte und Entwicklungen bei der Mutter/den Eltern anzuerkennen. Die Geburt verlief relativ komplikationslos im Beisein des Ehemanns. Das neugeborene Kind wies zwar massive Entzugserscheinungen auf, schien aber ansonsten so weit gesund. Für ca. sechs Wochen sollte das Neugeborene auf der Kinderintensivstation behandelt und beobachtet werden. Die Eltern standen während dieser Zeit unter Beobachtung durch das Klinikpersonal. Frau U. und ihr Mann hielten sich an die Besuchszeiten, erschienen dem Personal jedoch häufiger unter Drogeneinfluss zu stehen: Frau U. sei während der Besuche eingeschlafen, der Ehemann habe nach Alkohol gerochen. Das Paar beschwerte sich sowohl in der Klinik als auch bei BELLA DONNA über das abweisende Verhalten des Pflegepersonals und wollte so schnell wie möglich mit dem Kind nach Hause. Hier konnte die Beraterin vermitteln und Missverständnisse beilegen. Die Beschwerden der Mutter/der Eltern über das abweisende Verhalten wurden ernst genommen: Einerseits konnten ungerechtfertigte Vorbehalte des Klinikpersonals richtig gestellt werden, andererseits wurde der Mutter/den Eltern aber auch die Sicht des Klinikpersonals vermittelt. Die Bedenken bezüglich der Fähigkeit der Eltern, das Kind angemessen



246 | R ENATE K REKE & C HRISTA H EEDT zu versorgen, waren jedoch nicht geringer geworden. In einem gemeinsamen Hilfeplangespräch mit den Eltern im Krankenhaus wurde deren Verhalten besprochen und der Aufenthalt in einer Mutter/Vater-Kind-Einrichtung erneut als notwendig erachtet.

Die vorgesehene Einrichtung nimmt schwangere Frauen oder Frauen und Männer mit Kind auf. Ziel der Maßnahme ist es, die Ressourcen und den Hilfebedarf der Frauen und Männer zu ermitteln, sie zu unterstützen, zu stabilisieren, anzuleiten und ihnen bei der Betreuung und Versorgung ihres Kindes zu helfen. Da der Vater sich auf traumatische Kindheitserlebnisse in einem Kinderheim berief, wurde entschieden, dass Frau U. allein mit dem Säugling in die Einrichtung gehen solle und der Partner zu täglichen Besuchen verpflichtet sei. Dort könne rund um die Uhr das Verhalten der Eltern beobachtet werden und dann nach mehreren Monaten eine erneute Entscheidung gefällt werden. Das Paar war unzufrieden, fügte sich jedoch dieser Entscheidung. Eine dreimonatige Clearing-Phase war beabsichtigt, um dann den weiteren Verlauf zu planen. Frau U. bezog ca. sechs Wochen nach der Geburt gemeinsam mit ihrem Kind die Einrichtung. Das Baby wurde mit einem Monitor überwacht, um es hinsichtlich der Gefahr des plötzlichen Kindstods zu schützen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und Streitereien mit dem Team und den anderen Bewohner_innen konnte Frau U. beginnen, sich auf das Wesentliche, ihr Kind, zu konzentrieren. Das Baby litt noch unter dem Entzug und war dementsprechend unruhig und schrie sehr viel. Frau U. und ihr Partner wechselten sich mit der intensiven Betreuung des Säuglings ab und insbesondere Frau U. wurde zusehends sicherer im Umgang mit dem Kind. Sie nahm weiterhin Gespräche bei BELLA DONNA in Anspruch. Sie schaffte es nun, völlig auf den Beikonsum von Benzodiazepinen, Alkohol und Cannabis zu verzichten. In der Konsequenz konnte Frau U. ihre Gedanken besser sortieren, Ängste benennen und besprechen und insgesamt eher Gefühle zeigen. In fast jeder Sitzung flossen Tränen, mal aus Trauer über die Vergangenheit, mal aus Erleichterung über die positive Entwicklung und manchmal auch vor Rührung. Frau U. sagte, sie habe seit Jahren nicht mehr geweint und habe auch keine Gefühle mehr zeigen können. Alles sei im Drogendunkel versunken gewesen. Sie habe auch jetzt erst Angst, dass ihr Kind Schäden davongetragen haben könnte. Auch in der Mutter/Vater-Kind-Einrichtung begann Frau U. sich zu verändern. Sie nahm Kontakt zu den Sozialarbeiter_innen und den Mitbewohner_innen auf. Sie fragte nach und ließ sich auf Unterstützung ein. Sie übernahm ganz selbstverständlich die anfallenden Pflichten und fing an, sich wohlzufühlen. Ausweichmanöver, Ausreden und Heimlichkeiten waren nun nicht mehr nötig und Frau U. schien das als sehr erleichternd zu empfinden. Sie sei überrascht gewesen, sagte sie und frage sich, warum sie vorher so abweisend und verängstigt gewesen sei. Sie konnte mit den Sozialarbeiter_innen in der Ein-



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richtung über Kinderpflege sprechen und nachfragen, wenn sie etwas nicht verstand. Frau U. entwickelte einen freundlichen Umgang im Haus. Ihre kognitiven Einschränkungen wurden jedoch immer wieder deutlich: Zusammenhänge und Vorgehensweisen mussten mehrfach erklärt und wiederholt werden, damit sie sie verstehen konnte. Zudem war sie weiterhin sehr vergesslich. Früher habe sie immer so getan, als ob sie alles wisse und könne, heute erkenne sie ihre Defizite und frage nach, sagte sie von sich selbst. Frau U. äußerte auch ihre Hoffnung, dass es sich um Folgewirkungen ihres hohen Benzodiazepin-Konsums handle und sich ihr Erinnerungsvermögen und ihre Merk- und Konzentrationsfähigkeit mit der Zeit wieder verbessern würden. Frau U. zeigte völlig neue Eigenschaften; sie lachte viel, hatte Humor, zeigte sich als anpackende „Hausfrau“ mit Übersicht. Sie wurde hilfsbereit, konnte zuhören, sich aber auch abgrenzen und ihr Bedürfnisse nach Ruhe einfordern. Die Gespräche in der Beratungsstelle entwickelten ein völlig anderes Niveau. Auch wenn Frau U. immer noch mit ihren Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen hatte, blickte sie positiver in die Zukunft und entwickelte zusehends mehr Vertrauen. Jetzt war es auch möglich, an den „Altlasten“ wie Schulden, offene Verfahren oder nicht geöffnete Post zu arbeiten. Zudem wurde auch die Kontaktaufnahme zu ihren anderen Kindern thematisiert, geplant und begleitet. Kurz vor Ablauf der Clearing-Phase in dem Mutter/Vater-Kind- Haus fand erneut ein Gespräch, ohne die Eltern, statt. Alle Beteiligten, die in engem Kontakt zur Familie standen, konnten von positiven Veränderungen berichten. Frau U. habe zudem einen guten Umgang mit dem Kind und sei in der Lage, auf dessen Bedürfnisse angemessen einzugehen. Auch ihr Partner habe mitgearbeitet, sich an Vereinbarungen gehalten und sich um seine Angelegenheiten gekümmert. Die Wohnung sei in einem guten und kindgerechten Zustand. Bei einem später stattfindenden Hilfeplangespräch gemeinsam mit den Eltern wurde entschieden, dass die Familie nach Hause entlassen werden könne – unter der Voraussetzung, dass begleitende Hilfen stattfinden. Ein Kinderpflegedienst sollte jeden Morgen vorbeikommen und die Eltern bei der Versorgung des Kindes unterstützen. Zudem wurde den Eltern eine flexible Familienhilfe angeboten. Frau U. wünschte diese von BELLA DONNA, da sie sich dort sehr gut angebunden fühle und die Hilfe annehmen könne. Das Jugendamt bewilligte die beantragten Hilfen zur Erziehung und die Familie zog in die gemeinsame Wohnung.

Die Clearing-Phase in einer Mutter-/Vater-Kind-Einrichtung bietet die Möglichkeit einer sicheren Entscheidungsfindung, sowohl für die Helferinnen und Helfer als auch für die Eltern. Der Beratungsprozess in dieser Phase war darauf ausgerichtet, der Klientin Raum für Gefühle und Gefühlsausbrüche zu lassen, positive Entwicklungen zurückzumelden und zu bestärken. Gleichzeitig sollten neben der Anerkennung der positiven Entwicklungen weitere anstehende Probleme im Au-



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ge behalten werden – dies jedoch behutsam, den passenden Zeitpunkt abwartend, um keine Überforderungen auszulösen. Die Implementierung weiterer Hilfen war darauf ausgerichtet, dass die Mutter/die Eltern diese gut annehmen konnten. Das bestehende Vertrauensverhältnis zur Beraterin war hierfür eine wichtige Basis. Zudem konnte auch die Kontaktaufnahme zu den eigenen fremd platzierten Kindern in den Räumlichkeiten der Beratungsstelle und den hier bestehenden Angeboten für Mütter und ihre Kinder begleitet werden. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass die Hormonumstellung nach der Geburt bei jeder Frau eine psychische Labilität verursachen kann – unabhängig vom Substanzkonsum. So ist es auch eine Chance zur Erholung, Entlastung und Stabilisierung nach der Geburt, wenn drogenabhängige Frauen die Möglichkeit bekommen und wahrnehmen, in einer Mutter/Vater-Kind-Einrichtung die ersten Wochen mit ihrem Neugeborenen zu verbringen. Der Übergang von einer geschützten Einrichtung in die Eigenverantwortlichkeit ist mit Verunsicherungen und häufig auch mit Rückschlägen verbunden. Der Einsatz von erzieherischen Hilfen kann gerade in dieser Phase besonders hilfreich sein. Neben der Beratungstätigkeit bietet BELLA DONNA auch „Ambulante flexible Hilfen für Mütter, Kinder und Familien“2 an, die eine wertvolle Ergänzung zum Angebot der Beratungsstelle darstellen. Die Ziele der flexiblen Erziehungshilfen umfassen die Stärkung der Bindungs- und Erziehungsfähigkeit der Mütter respektive der Eltern und diese in allen Belangen zu unterstützen. Frau U. und ihr Partner wurden darin unterstützt, weiterhin in der Substitutionsbehandlung zu verbleiben. Mit regelmäßigen Urinkontrollen sollte ein Beigebrauch ausgeschlossen werden. Eine kontinuierliche psychosoziale Betreuung sollte ebenfalls wahrgenommen werden. So wurde der Alltag der Familie nun durch ein enges Netz an Hilfen und auch an Kontrollen strukturiert. Da Frau U. bereits über gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit BELLA DONNA verfügte, konnte sie nun die Angebote der ambulanten flexiblen Hilfe ohne Widerstand annehmen. Zudem nahm sie regelmäßig an dem angebotenen Mutter-Kind-Frühstück und den verschiedenen Freizeitaktivitäten der Beratungsstelle teil und kam auch regelmäßig zu Einzelgesprächen. Die Zusammenarbeit mit dem Kinder-Pflegedienst gestaltete sich hingegen wesentlich schwieriger. Frau U. fühlte sich sehr kontrolliert und zudem von den morgendlichen Hausbesuchen gestört. Ihre Tendenz, sich dem Hilfesystem zu entziehen und die Hilfe

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Gemäß §§ 27ff. SGB VIII.

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nicht zu nutzen, sondern abzuwehren, wurde deutlich. Das Paar bestärkte sich gegenseitig in dieser ablehnenden Haltung. Frau U. begann zu taktieren und versuchte zunehmend, die Hilfeanbieter_innen und das Jugendamt gegeneinander auszuspielen. Termine und Verabredungen wurden zwar eingehalten und das Kind offensichtlich gut versorgt, aber die Mutter äußerte andauernde Kritik und Klagen. Die Ausgeglichenheit und Zufriedenheit, die Frau U. in der Mutter/VaterKind-Einrichtung hatte erlangen können, war einer andauernden Frustration und Verbitterung gewichen. In den Einzelgesprächen stand der Sinn der Hilfen entsprechend im Fokus, diese mussten regelmäßig erneut erläutert werden. Die Bedeutung der Suchterkrankung beider Elternteile und die damit einhergehende Rückfallgefahr wurden offen und konkret besprochen. Die beiden zuständigen Beraterinnen führten wiederholt die gleichen Diskussionen über den Sinn und Zweck der Auflagen des Jugendamtes und beantworteten die Fragen der Klientin, warum es in anderen Familien, die Frau U. als Vergleich zu ihrer Situation heranzog, anders geregelt sei.

Anhand dieser beschriebenen Phase der Behandlung wird deutlich, dass die Balance zwischen Kontrolle und Unterstützung nur zu halten ist, wenn ein vertrauensvolles Verhältnis zu den jeweiligen Mitarbeiterinnen besteht. Die sorgfältige, strategische Erarbeitung einer verlässlichen, professionellen Beziehung zu einer betroffenen Frau ist die Grundlage dafür, dass es ihr gelingen kann, dieses Vertrauen zu entwickeln. Entsprechend ist die Etablierung bedarfsgerechter Angebote mit dem Ziel einer engen Anbindung der Klientinnen an BELLA DONNA zentral für die Tätigkeit. Gleichzeitig muss das Bedürfnis nach Klärung, bestehender Unmut und ein Diskussionsbedarf der Klientinnen, z. B. in Bezug auf andere Hilfen, ernst genommen und sorgfältig behandelt und das Gesprächsangebot, auch wenn es viel Geduld erfordert, aufrechterhalten werden. Auf Nachfragen, ob es neben den genannten, möglicherweise weitere Situationen oder Anlässe gebe, die Frau U. belasten, gab es anfänglich keine Antworten. Erst in einem Prozess, in dem die Stimmungen von Frau U. empathisch aufgegriffen und gespiegelt wurden, berichtete Frau U. schließlich von ihrer ältesten Tochter, die große Probleme mache. Die 16-Jährige würde aus dem Heim weglaufen, zu Frau U. kommen und sich dann dort aufhalten. Sie würde Diebstähle begehen und Drogen konsumieren. Frau U. hatte ein schlechtes Gewissen ihrer Tochter gegenüber und wollte sie nicht wegschicken oder das Jugendamt informieren. Sie konnte aufgrund ihrer Schuldgefühle keine klare Haltung der Tochter gegenüber entwickeln und versuchte, diese zu schützen, indem sie weder das Heim, noch das Jugendamt über den Aufenthalt und die Delikte der Tochter informierte. Der kleine Sohn schien zudem nicht altersgemäß entwickelt, schreie viel, sei häufig krank und habe einen hohen Betreuungsbedarf. Eine klare Diagnose konnte zu dem Zeitpunkt



250 | R ENATE K REKE & C HRISTA H EEDT vom Kinderarzt noch nicht gestellt werden. Hinzu kamen Strafverfahren gegen Frau U. wegen Beförderungserschleichung und Diebstahl aus der Zeit vor der Geburt des Kindes. Der Partner habe Geld vom Konto abgehoben und verspielt. So kamen viele Probleme zusammen, die bei Frau U. zu einer Überforderungssituation führten, in der es ihr nicht mehr gelang, sich Hilfe zu organisieren. Stattdessen verfiel sie wieder in alte Verhaltensmuster, verheimlichte ihre Probleme und versuchte, allein damit fertig zu werden. Nachdem Frau U. ihre Probleme offengelegt hatte, gelang es, gemeinsam kleine Schritte zur Bewältigung der Schwierigkeiten einzuleiten. Frau U. erkannte nun den Zusammenhang zwischen der Anhäufung von Schwierigkeiten, deren Verschleppung, ihrer Unzufriedenheit und der verschlechterten Zusammenarbeit mit den Hilfeeinrichtungen. Sie konnte ebenfalls erkennen, dass am Ende dieser Spirale vermutlich ein Rückfall gestanden hätte. Dieser wäre anfänglich verheimlicht worden, irgendwann aufgefallen und das Hilfesystem hätte das Netz noch enger geknüpft. Frau U. schien richtig erschrocken, als ihr diese Zwangsläufigkeit bewusst wurde.

Aktuelle Lebenssituation Diese Krisensituation und Frau U.s Erfahrung mit der Entlastung durch die Gesprächsmöglichkeit in der Beratungsstelle verbesserten erneut das Vertrauensverhältnis zu ihren Helferinnen, insbesondere zu den Mitarbeiterinnen von BELLA DONNA. Frau U. nahm wieder beständig am Mutter-Kind-Frühstück teil und regelmäßige Gespräche mit ihrer Drogenberaterin wahr. Inzwischen hat Frau U. BELLA DONNA mit den unterschiedlichen Angeboten und Mitarbeiterinnen nach eigener Aussage „ins Herz geschlossen“ und in ihren Lebensrhythmus integriert. Ihre Wahrnehmung hat sich von „ich muss Kontakt halten“ zu „ich möchte in Kontakt bleiben“ verändert. Der Umgang miteinander ist nicht mehr von gegenseitigem oder einseitigem Misstrauen geprägt, die jeweiligen Erwartungen können benannt werden und die Situation ist für alle Beteiligten entspannter geworden.

Um dieses gute Ergebnis eines langen Betreuungsprozesses zu erhalten, ist es erfahrungsgemäß sinnvoll und erforderlich, die Hilfen noch eine Zeit lang umfangreich zur Verfügung zu stellen. So kann eine Stabilisierung des Familiensystems langfristig gelingen. Die ambulanten flexiblen Hilfen können allmählich reduziert werden. Dass die Familie ohne vielfältige Unterstützungsangebote allein ihren Alltag bewältigt, ist das Ziel. Der Kontakt zur Drogenberatung hingegen kann ohne zeitliche Begrenzung aufrechterhalten werden. Die für die Substitution notwendige Psychosoziale Betreuung kann nach Bedarf erweitert werden. Frau U. kann zu den Beratungsterminen ihr Kind mitbringen und die Kinderbetreuung nutzen.



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A USBLICK Das hier beschriebene Fallbeispiel verdeutlicht, dass Betreuungsprozesse nicht gradlinig verlaufen – positive Entwicklungen und Rückschläge, Kontaktabbrüche und erneute Kontaktaufnahmen sind charakteristische Bestandteile. Herausforderungen sind es dennoch – sowohl für die Mitarbeiterinnen als auch für die Klientinnen. Für die Mitarbeiterinnen ist die Reflexion der Betreuungsverläufe, ihrer eigenen Haltung sowie der eingesetzten Methoden im Rahmen von Teambesprechungen und Supervision unabdingbar. Professionelles Handeln hinsichtlich der Beziehungsdynamik ist ein entscheidender Faktor, wenn es, wie bei BELLA DONNA, das Ziel der Beratung/Betreuung ist, eine professionelle, tragende Arbeitsbeziehung zu den betroffenen Mädchen und Frauen aufzubauen. Der Beziehungsaufbau zu und die Beziehungsgestaltung mit Menschen, die aufgrund biografischer Erfahrungen über Bindungsstörungen verfügen – wie viele der substanzkonsumierenden Frauen (siehe ausführlich hierzu Gahleitner in diesem Band) – müssen als sorgfältige Prozesse während der gesamten Betreuung angesehen werden. Das Wissen um die Bindungsangst und die Vermeidung von Bindung und Beziehung bei drogenabhängigen Frauen erfordert – neben dem unerlässlichen Fachwissen – ein hohes Maß an interpersonalen Kompetenzen bei den Mitarbeiterinnen. Empathie, die Fähigkeit, andere Menschen zu akzeptieren, die grundsätzliche Überzeugung von menschlichen Veränderungspotenzialen, Problemlösefähigkeit, kognitive und emotionale Flexibilität sind einige der Anforderungen. Die Abstraktionsfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen zwischen biografischen Erfahrungen der Betroffenen, ihrem Verhalten in der Beratungs/Betreuungssituation und aktuellen Lebensereignissen und Verhaltensweisen gehören ebenso dazu, wie der Blick auf strukturelle Benachteiligung, geschlechtsbezogene Zuschreibungen, internalisierte und externalisierte Ab- und Entwertungen drogenabhängiger Frauen. Bindung herzustellen und gleichzeitig Autonomie zu fördern, steht in keinem Widerspruch zu den Anforderungen an die Beratungsarbeit – sehr wohl aber in einem Widerspruch zu der Lebensrealität und den Kompetenzen der betroffenen Frauen. Sich auf Bindung und Beziehung einzulassen, erfordert Strategien, die mit einer Drogenabhängigkeit, insbesondere wenn diese mit einem Leben in der Drogenszene, Beschaffungsprostitution o. Ä. einhergeht, nicht übereinstimmen. Ebenso erfordert es Mut von den betroffenen Frauen, die eher mit Vertrauensbrüchen und Beziehungsabbrüchen vertraut sind, denn damit, dass jemand eine Beziehung zu ihnen sucht und diese auch hält. Insbesondere, wenn es sich um die professionelle Beziehung zu einer Frau handelt, sind die Klientinnen eher auf



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Enttäuschungen und einen Mangel an Ehrlichkeit, Beständigkeit und Unterstützung gefasst. Somit wirken sie häufig eher distanziert in Beziehungen, ihr Verhalten pendelt zwischen Annäherung und Vermeidung, im Beratungskontext verhalten sie sich teils schroff, ablehnend und entwertend und weisen jegliches Hilfebedürfnis zurück, fordern möglicherweise aber gleichzeitig unangemessene Unterstützung ein, um somit die Bestätigung zu erfahren, dass ihr Gegenüber ihnen tatsächlich nicht hilft. Dieses Verhalten gilt es, im Zusammenhang mit ihrem – nachvollziehbaren – Schutzbedürfnis zu erkennen und zu verstehen. Ein durchgängiges Beziehungsangebot, welches von Empathie und Verständnis, Geduld, Sorgfalt, Wertschätzung und Respekt, jedoch auch von klarer Grenzziehung und Offenheit geprägt ist, kann zu einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Klientin und Beraterin führen und die Beziehungsfähigkeit der Klientin verbessern. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Beratungsprozesse mit drogenabhängigen Frauen häufig einen langen Zeitraum benötigen, bis sie beginnen können, tatsächlich hinsichtlich einer Veränderungsbereitschaft bzw. -fähigkeit zu wirken. Hilfen sollten nicht zu früh eingestellt und Angebote aufrechterhalten werden – Betreuungsverläufe, die sich an eine gelungene Beratungsbeziehung anschließen, können durchaus mehrere Jahre andauern. Das Konzept der Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA, bezieht auch langjährige Betreuungen von Klientinnen als einen selbstverständlichen Aspekt in der Arbeit ein – und die Praxis belegt, dass dies sich im Sinne einer umfassenden Unterstützung lohnt.





Drogenhilfe – unter Umständen einmal anders Frühe Hilfen für suchtmittelabhängige oder substituierte Frauen mit Kindern zwischen 0 und 6 Jahren S ILVIA K AUBISCH & A NNE L EUDERS

E INLEITUNG Lilith e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der 1993 von Fachkräften der Drogenhilfe gegründet wurde. Ziel war und ist es, in Nürnberg soziale Einrichtungen und Hilfsangebote für (ehemals und aktuell) Drogen konsumierende Frauen, weibliche Angehörige und Kinder von Drogenabhängigen zu konzipieren und zu realisieren, die deren spezifische Lebenssituation und Bedürfnisse adäquat berücksichtigen. Von Beginn an wurde gesehen, dass viele der Frauen mit einer Drogenproblematik Mütter sind und dass es spezifischer Rahmenbedingungen bedarf, um der Situation der Schwangeren, Mütter und Kinder gerecht zu werden. So werden Klientinnen in ihrer Mutterrolle und ihre Kinder in allen Arbeitsbereichen gesehen und die Konzepte der einzelnen Arbeitsbereiche frauen- und kinderspezifisch erarbeitet. Um Zugang zu der schwer erreichbaren Zielgruppe der Drogen konsumierenden Frauen zu erlangen, wurden in allen Arbeitsbereichen niedrigschwellige Zugangswege geschaffen und ganzheitliche Hilfeangebote für die Frauen, Kinder und ihre Mulitproblemlagen bereitgestellt. Diese Struktur hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren bewährt. Denn so heterogen die Zielgruppen sind, so unterschiedlich können die Wege sein, über die drogenabhängige schwangere Frauen und Mütter den Weg ins Hilfesystem finden. Die Arbeitsbereiche und die Angebote von Lilith e. V. umfassen:



254 | S ILVIA K AUBISCH & A NNE L EUDERS • Streetwork: aufsuchende Arbeit in der Nürnberger Drogenszene; • Frauencafé: offener Treff; kostenloser Mittagstisch für Mütter und Kinder,



• •



Abgabe von Sachspenden (Kleidung, Lebensmittel, Spielzeug, Hausrat, Schwangerschaftstests, Kondome, Spritzen, Hygieneartikel), Nutzung von Dusche, Waschmaschine und Trockner, Sprechstunden (Kinderärztin, Gynäkologin, Allgemeinärztin, Rechtsanwältin, Hepatitishilfe und v. a. m.), Infoveranstaltungen (z. B. Drogennotfalltraining), sozialpädagogische Beratung und Krisenhilfe; Frauenberatung (PSB): Einzelberatung, Telefonberatung, Psychosoziale Begleitberatung Substituierter, Gruppenangebote (Mütterunterstützungstraining, KISS, Angehörigengruppe etc.), Begleitung und Krisenintervention; Arbeitsprojekte: ACTIV Hausservice und Liliths Second-Hand-Laden; Zeitraum – Ambulant Betreutes Einzelwohnen (für Frauen und ihre Kinder): Psychosoziale Beratung und Betreuung, Hausbesuche, Begleitungen, Freizeitaktivitäten, Alltags- und Sozialtraining, Krisenintervention; Liliput – Mutter + Kind: dieser Arbeitsbereich wurde 2000 eingerichtet; neben einer regelmäßigen Kinderbetreuung werden Einzelberatung und Begleitung sowie Informations- und Gruppenangebote für Kinder, schwangere Frauen und Mütter angeboten.

In den letzten Jahren wurden im Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind verstärkt Angebote im Sinne der Frühen Hilfen entwickelt. Der Hilfebedarf für die Zielgruppen ist hoch (siehe ausführlich hierzu Tödte et al. in diesem Band) und es ist von großer Bedeutung, betroffene Frauen und Kinder möglichst frühzeitig zu erreichen. Frühe Hilfen bei Lilith konnten nur deshalb erfolgreich implementiert werden, weil die Zugangswege zur Klientel bereits geschaffen und die strukturellen Rahmenbedingungen gegeben waren. Im Jahr 2014 wurde dann gemeinsam mit der Koordinierenden Kinderschutzstelle Nürnberg ein Konzept zur Kooperation zwischen dem Amt für Kinder, Jugendliche und Familien – Jugendamt der Stadt Nürnberg – und Lilith e. V. unter dem Titel „Frühe Hilfen für suchtmittelabhängige oder substituierte Frauen mit Kindern zwischen 0 und 6 Jahren und ihre Vermittlung an die Jugendhilfe“ entwickelt. Dieses Projekt konnte im März 2015 mit der Einrichtung einer Halbtags-Personalstelle bei Lilith e. V. starten.



D ROGENHILFE – UNTER U MSTÄNDEN EINMAL ANDERS

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Z UGANGSWEGE Lilith erreicht durch das Konzept, das ganzheitlich, feministisch, kinder- und frauenspezifisch, akzeptierend und niedrigschwellig ausgerichtet ist, Zielgruppen, die ein deutlich erhöhtes Risiko für Kindeswohlgefährdungen und Langzeitschädigungen sowie einen hohen Hilfebedarf aufweisen, gleichzeitig aber nur schwer den Zugang in das Netz der Sucht-, Frauen-, Gesundheits-, Kinder-, Jugend- und Gesundheitshilfen finden. Als Gründe hierfür sind insbesondere Scham- und Schuldgefühle der schwangeren Frauen und Mütter, ihre Vorerfahrungen sowie die große Angst vor der Inobhutnahme ihrer Kinder zu nennen (vgl. Arenz-Greiving 1994). Betroffene Mütter neigen häufig dazu, die Situation der Kinder möglichst zu verdecken oder aber, bei Angeboten außerhalb der Suchthilfe, die Suchtproblematik nicht zu benennen. Außerdem sind viele helfende Institutionen nicht auf den besonderen Bedarf von Müttern, die illegale Drogen konsumieren, konsumiert haben oder substituiert werden, vorbereitet. Von der Suchthilfe wiederum fühlen sich viele drogenabhängige Frauen nicht hinreichend in ihrer Mutterrolle wahrgenommen und unterstützt. Es fehlen Angebote, die sich gezielt an schwangere Frauen, Mütter und deren Kinder richten. Ganzheitlich Bei Lilith e. V. werden die Frauen in allen Arbeitsbereichen in ihrer Rolle als (werdende) Mutter mit ihrem Belastungserleben, ihrem Unterstützungsbedarf und ihren Ressourcen gesehen und auf ihre Kinder angesprochen. Die Beraterinnen wissen um die Situation der Klientinnen, ihre Probleme und um ihre persönlichen und sozialen Hintergründe. Feministisch Die feministische Grundüberzeugung von Lilith basiert auf der Erkenntnis, dass die Ursachen für Suchtmittelkonsum bei Frauen nicht ausschließlich in der individuellen Persönlichkeitsstruktur zu suchen sind, sondern ihnen auch gesamtgesellschaftliche Faktoren und Mechanismen zugrunde liegen. Mit dieser Grundhaltung sollen (werdende) Mütter darin unterstützt werden, ihre Mutterrolle, ihre Bedürfnisse, Unterdrückungserfahrungen, Diskriminierung, gesamtgesellschaftliche Benachteiligungen sowie ihre Suchterkrankung vor diesem Hintergrund zu reflektieren. Sie sollen ermutigt und unterstützt werden, neue, selbstbestimmte Lebensentwürfe für sich und ihre Kinder zu entwickeln und umzusetzen.



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Insbesondere gilt es, das Selbstbewusstsein der Mütter zu stärken, da suchtmittelabhängige Frauen aufgrund ihrer Sozialisation ein niedriges Selbstwertgefühl und eine geringere Selbstwirksamkeitserwartung haben. Dies äußert sich nicht zuletzt in starker Verunsicherung und Ängstlichkeit bezüglich ihrer Erziehungskompetenz sowie in ihrem konkreten Erziehungsverhalten (vgl. Trost 2013). Dabei arbeitet Lilith parteilich für Mütter und ihre Kinder, deren Alltag nicht selten von männlicher Kontrolle und Gewalt bestimmt wird. Gerade Kinder aus suchtbelasteten Familien sind zudem deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen. Die Mütter sind oft, sobald eine Drogenproblematik offenkundig wird, in hohem Maß Vorurteilen und Stigmatisierungen – bis hin zur deutlichen Abwertung als Mutter – ausgesetzt. Parteilich zu arbeiten bedeutet daher auch, Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe sowie aus den Gesundheitshilfen für die besondere Situation (werdender) Mütter und ihrer Kinder zu sensibilisieren und sie über Ursachen weiblichen Suchtverhaltens sowie über Zusammenhänge zwischen Trauma, Sucht und Bindungsstörungen aufzuklären. Kinder- und frauenspezifisch Viele (werdende) Mütter fühlen sich allein durch die Tatsache, dass es spezielle Angebote bei Lilith für sie und ihre Kinder gibt, angesprochen. Mutter und Kind müssen sich nicht als Menschen fühlen, „bei denen alles anders ist“ als in den sonst nach außen oft als heil erscheinenden „normalen“ Familien. Sie sehen, dass es weitere betroffene schwangere Frauen, Mütter und Kinder gibt, dass ihnen spezifische Angebote vorgehalten werden und sie kompetente Ansprechpartnerinnen finden, welche um die besondere Lebenssituation (werdender) Drogen konsumierender Mütter und deren Kinder wissen. Dies senkt nicht nur die Hemmschwelle, es stärkt auch ihr Selbstbewusstsein. Bei Lilith können sich Schwangere als stolze werdende Mutter zeigen, von den anderen Klientinnen werden sie in ihrer Schwangerschaft oft empathisch begleitet. Sie erleben Mitgefühl statt – wie sonst häufig in ihrem Umfeld – Empörung. Es ist schön zu erleben, mit welcher Energie und Kreativität sich Mütter in die Mütterunterstützungsgruppe einbringen und wie groß ihr Einfühlungsvermögen ist, wenn es um die Erarbeitung von Lösungswegen in Erziehungsfragen geht. Auch mit dem Thema Sucht kann offen umgegangen werden. Diese Mütter nehmen aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit heraus in der Regel kaum derartige Angebote außerhalb der Suchthilfe an und würden sich nicht in einer Gruppe vermeintlich „besserer“ Mütter engagieren. So äußert sich eine Klientin von Lilith, die am Mütterunterstützungstraining teilgenommen hat:



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„Nicht jeder macht alles richtig, das machen wir alle nicht […] hier [...] hast du einfach nochmal konkret vor Augen gehalten und zusammengearbeitet, auch mit anderen Leuten wie man mit einem Kind umzugehen hat oder wie man es am besten machen sollte.“ (Zink 2014: 47)

Ähnliche Erfahrungen zeigen sich in der Kindergruppe für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren. So schilderten alle teilnehmenden Kinder, dass sie noch niemals mit Personen in ihrem sozialen Umfeld, nicht einmal mit ihren Freund_innen, über die Suchtproblematik der Eltern, ihre Situation zu Hause und Erlebtes gesprochen hatten. Kinder aus Familien mit einer Drogenthematik benötigen spezielle Angebote, in denen ihnen vermittelt wird: • Du bist nicht allein. Es gibt viele betroffene Kinder. Hier kannst du über deine

Situation reden. • Es gibt Hilfsangebote für dich. Bei uns findest du zuverlässige und kompetente

Ansprechpartnerinnen für deine Probleme. • Bei uns darfst du Kind sein. Hier musst du keine Verantwortung für andere

Personen (Eltern, jüngere Geschwister etc.) übernehmen. • Du bist nicht schuld an der Situation zu Hause, an der Suchterkrankung, an

Stimmungsschwankungen der Eltern. • Wir geben dir Informationen zu den Themen Sucht, Drogen, Alkohol etc. Das

hilft dir, die Situation und die familiären Schwierigkeiten zu verstehen und eigene Lösungswege zu finden. • Wir helfen dir im Umgang mit negativen Gefühlen, stärken dein Selbstwertgefühl und helfen dir, Zugang zu deinen Ressourcen zu finden. Bei Lilith e. V. wurde bereits seit der Gründung die besondere Situation der Kinder aus betroffenen Familien in den Blick genommen. Der Fokus liegt auf dem Kindeswohl. Ziel ist es, die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen der betroffenen Kinder deutlich zu verbessern und deren multiple Risiken zu mindern. Die Räumlichkeiten sind den Bedürfnissen der Kinder angepasst. Das freundlich gestaltete Kinderzimmer liegt direkt neben dem Frauencafé, sodass die Kinder wissen, dass die Mutter in der Nähe ist. Es ist so eingerichtet, dass hier gleichzeitig Säuglinge und ältere Kinder betreut werden können. Allen Kindern werden altersgerechte Spielangebote gemacht. Darüber hinaus stehen Kinderhochstühle, eine eigene Kindertoilette und Wickeltische zur Verfügung. Wichtig ist, dass Frauen und Kinder bei Lilith einen Raum vorfinden, in dem sie außerhalb ihres sonst häufig von männlicher Gewalt und Kontrolle erlebten



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Umfeldes angstfrei agieren können. Sie erfahren Wertschätzung durch die Mitarbeiterinnen, welche parteilich und solidarisch für sie da sind. Alle Angebote sind frauen- und kinderspezifisch ausgerichtet. Eine Klientin berichtet in einem Interview über Lilith: „Also ich finde hier ist es echt, mit Wärme.“ (Zink 2014: 48) Akzeptierend Lilith arbeitet in allen Arbeitsbereichen akzeptierend. Dies bedeutet, nicht ausschließlich Menschen zu beraten und betreuen, die sich mit dem Anliegen und der Zielsetzung eines suchtmittelfreien Lebens an eine Einrichtung wenden, sondern auch mit der Klientel zu arbeiten, die sich in der derzeitigen Situation ein Leben ohne Suchtmittel (noch) nicht vorstellen kann. Insbesondere bei süchtigen Frauen übernimmt der Drogenkonsum verschiedene Funktionen (z. B. Überlebensstrategie, Salutogenese), folglich müssen die Voraussetzungen für einen Ausstieg in der Beratung und Betreuung erst erarbeitet und geschaffen werden. Akzeptierend zu arbeiten impliziert aber auch, jede Frau in ihrer individuellen Situation, mit ihren individuellen Ressourcen, Fähigkeiten, Wünschen und Entscheidungen zu akzeptieren. Ohne diesen akzeptierenden Ansatz wäre es nicht möglich, so viele schwangere Frauen und Mütter zu erreichen. Eine Schwangerschaft und die Lebensrealitäten betroffener Mütter sind ohnehin mit viel innerem und äußerem Druck sowie Scham- und Schuldgefühlen verbunden. Käme hier von Anfang an zusätzlicher Druck zur Abstinenz hinzu, wäre die Hemmschwelle, sich adäquate Hilfe zu holen, deutlich erhöht. Stattdessen bedarf es nach einer ersten Kontaktaufnahme in der Regel einer längeren Phase, welche zunächst dem Aufbau von Vertrauen dient. Häufig ist es erst dann der (werdenden) Mutter möglich, ihren Konsum offen zu thematisieren. Nur vor dem Hintergrund, dass die Klientin sieht, dass die Beraterin um die Funktion des Suchtmittelkonsums weiß, kann gemeinsam ein Weg erarbeitet werden, welcher insbesondere auch der Gesundheit und den Bedürfnissen des (ungeborenen) Kindes gerecht wird. Konsumierende (werdende) Mütter sind häufig sehr ambivalent in Bezug auf eine Abstinenz und benötigen Raum, um diese Ambivalenzen ansprechen zu können sowie Begleitung bei der Entscheidungsfindung. Die folgende Äußerung einer Klientin zeigt deutlich diese Ambivalenzen: „Einerseits sehe ich das Kiffen nicht als Problem an und sehe, ich kriege mein Leben trotzdem gebacken, andererseits weiß ich halt, hmmm, dass es nicht in Ordnung ist, ne? Und ich habe Kinder. Ja und wie kommst du dann da raus, wenn dein Kopf sagt, ich will



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gar nicht aufhören, du aber weißt, du musst aufhören, kannst aber nicht, weil du gar nicht willst.“ (Zink 2014: 42f.)

Schwangere Frauen werden dabei grundsätzlich frühzeitig über die Folgen des Konsums illegaler und legaler Substanzen für das ungeborene Kind aufgeklärt und Mütter für die Situation der Kinder sensibilisiert. Die Grenzen der Akzeptanz sind erreicht bzw. überschritten, wenn die Unversehrtheit (physische und/oder psychische) von Schutzbefohlenen (Kindeswohlgefährdung) durch den Konsum/die Abhängigkeit bedroht oder betroffen sind. In diesen Fällen wird auch nachgehender gearbeitet. Niedrigschwelligkeit Die wichtigste Voraussetzung, um Kontakt zu diesen schwer erreichbaren Zielgruppen zu erhalten, sind die niedrigschwelligen Angebote von Lilith e. V., wie die Arbeitsbereiche Streetwork und das Frauencafé. Hier können (werdende) Mütter zunächst vorsichtig und unverbindlich Lilith kennenlernen, Vertrauen auf- und Ängste abbauen. Viele Frauen finden hier nicht nur die ersten Kontakte zu den Mitarbeiterinnen des Cafés, sondern auch zu den LiliputMitarbeiterinnen, die sich regelmäßig im Frauencafé aufhalten. Das Frauencafé bietet den Klientinnen einen Rückzug aus dem Alltag und stellt für sie eine Entlastung dar. Auch andere Angebote von Lilith werden nach Möglichkeit niedrigschwellig gestaltet (kostenlos, unbürokratischer Zugang, angemessene Öffnungszeiten und Erreichbarkeit, aufsuchende Arbeit etc.). Daneben werden gemäß dem Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS 2000) praktische und alltagsnahe Hilfestellungen, sogenannte Überlebenshilfen, gegeben. Auch kleinere medizinische Hilfen (gynäkologische und kinderärztliche Sprechstunde) werden regelmäßig angeboten. Um Klientinnen den Zugang zu Lilith zu erleichtern, führen die Mitarbeiterinnen außerdem externe Sprechstunden in unterschiedlichen Nürnberger Einrichtungen der Sucht- und Gesundheitshilfe durch. Andere Frauen werden an Lilith aus verschiedensten Nürnberger Einrichtungen vermittelt. Im Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind wird bei solchen Anfragen nach Möglichkeit mit der betroffenen (werdenden) Mutter, der Fachkraft der vermittelnden Institution und der Liliput-Mitarbeiterin direkt vor Ort oder in den Räumen von Lilith ein gemeinsames Gespräch geführt, um den Erstkontakt zu erleichtern. Dieses Vorgehen bietet den Beteiligten zudem ein hohes Maß an Transparenz, auch im Sinne einer verbindlichen Kooperation.



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Einige der Frauen, die an Liliput vermittelt werden, sind den Mitarbeiterinnen schon langjährig bekannt. Sie haben bei Lilith häufig erstmals in ihrem Leben Wertschätzung erfahren und erlebt, dass ihre Situation, ihre Bedürfnisse und ihre Ressourcen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedingungen und ihrer frauenspezifischen eigenen Entwicklung gesehen, respektiert und wertgeschätzt werden. Sie werden in ihrer Mutterrolle ohne Stigmatisierung oder Diskriminierung ganzheitlich gesehen und erleben die Lilith-Mitarbeiterinnen parteilich und solidarisch. So fällt es den (werdenden) Müttern leichter, sich Hilfestellung bei Liliput zu holen, Sorgen, Ängste oder Probleme zu thematisieren. Dies illustriert auch die folgende Äußerung einer Klientin: „Also ich habe es nicht so gerne, wenn da so viele Leute in meinem Privatleben rum gruschteln und so, und deswegen. Die Leute hier kenne ich und da weiß ich, was ich annehmen kann und was ich nicht annehmen muss [...]. Ja, da kennt man sich halt schon gut! Gut genug dafür […].“ (Zink 2014: 44)

Auch alle Angebote im Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind sind niedrigschwellig, kostenlos und ohne Antragstellung für die Zielgruppen zugänglich. Es besteht die Möglichkeit, auf Wunsch der Klientinnen, diese auch zu Hause zu besuchen oder sie zu Terminen bei Ämtern, Ärzt_innen u.Ä. zu begleiten. Liliput bietet zudem zwei Mal wöchentlich eine Müttersprechstunde an, zu der die Mütter ohne Anmeldung mit den unterschiedlichsten Themen kommen können. Darüber hinaus wird den Müttern insbesondere auch über die Freizeitangebote für Mütter und Kinder ein erster Zugang zu Liliput erleichtert.

F RAUEN -

UND KINDERSPEZIFISCHE KONZEPTIONELLE E INHEIT

A SPEKTE

ALS

Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die hier beschriebene Arbeit mit schwangeren Frauen, Müttern und Kindern nur deshalb so erfolgreich geleistet werden kann, weil in allen Arbeitsbereichen von Lilith der Blick auf die Situation der Kinder gerichtet wird und der Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind nicht als Einzelbaustein fungiert, sondern eng in das Gesamtkonzept von Lilith eingebunden ist. Dies ermöglicht adäquate, frühzeitige Hilfestellungen für die Familien durch die Mitarbeiterinnen aller Arbeitsbereiche im Vorfeld einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Darüber hinaus gewährleistet es Handlungssicherheit für die Mitarbeiterinnen, sollten Anhaltspunkte für eine mögliche Kindeswohlgefährdung identifiziert werden.



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In den Teamsitzungen der verschiedenen Arbeitsbereiche werden neben den Fallbesprechungen regelmäßig alle neuen Fälle unter den Aspekten Kindeswohl, Unterstützungsbedarf und Ressourcen besprochen, soweit es sich hier um schwangere Klientinnen handelt oder die Klientin mit Kindern zwischen null und drei Jahren lebt. Zwischen allen Arbeitsbereichen von Lilith besteht eine enge Vernetzung. So kooperiert der Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind eng mit allen anderen Arbeitsbereichen. Dies geschieht in regelmäßigen gemeinsamen Teamsitzungen mit dem Ziel einer Optimierung der Kooperation unter Berücksichtigung der unterschiedlichen arbeitsbereichsspezifischen Voraussetzungen. In einzelnen Arbeitsbereichen finden zudem regelmäßige Fallbesprechungen mit den Mitarbeiterinnen von Liliput statt, um die Situation (werdender) Mütter und ihrer Kinder zu besprechen, Probleme frühzeitig zu erkennen und Unterstützungsangebote zu erarbeiten. Im Rahmen der Einzelfallarbeit hat jede Lilith-Mitarbeiterin die Möglichkeit, sich nicht nur Unterstützung aus ihrem eigenen Arbeitsbereich zu holen, sondern auch die sozialpädagogischen Fachkräfte von Liliput hinzuzuziehen, wenn es erforderlich ist, Unterstützungsangebote für (werdende) Mütter bzw. für die Kinder zu erarbeiten oder eine Situation mit Blick auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung zu bewerten. Liliput stellt hier die Kinderschutzfachkraft nach § 8a SGB VIII. In Fällen, in denen gewichtige Anhaltspunkte für eine mögliche Kindeswohlgefährdung wahrgenommen werden, besteht eine für alle Mitarbeiterinnen verbindliche Vorgehensweise. Gemeinsam mit allen beteiligten Mitarbeiterinnen können so Risikofaktoren und Ressourcen der Familie gesehen und das weitere Vorgehen besprochen werden. Mit der Mutter können dann individuelle Hilfsangebote erarbeitet werden. Dabei arbeiten alle Lilith-Mitarbeiterinnen gegenüber den Müttern und Kindern (altersentsprechend) stets transparent. Dies gilt auch in Fällen vermuteter Kindeswohlgefährdung, bei denen möglicherweise – entsprechend der gesetzlichen Vorgaben und zum Schutz des Kindes – Schritte gegen den Willen der Mutter unternommen werden müssen. Damit die Klientinnen über das Vorgehen der sozialpädagogischen Fachkräfte in den Fällen, in denen sie sich um ein Kind sorgen, immer gut informiert sind, wurde ein „Mütterhandzettel“ entworfen, der die Mütter über mögliche Vorgehensweisen aufklärt und an alle Mütter zu Beginn des Beratungsprozesses verteilt wird. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Liliput-Mitarbeiterinnen, Fachinformationen zu kinderspezifischen Themen, zu rechtlichen Hintergründen und zur psychosozialen Situation von (werdenden) Müttern einzubringen. Hierzu zählen insbesondere auch die Sensibilisierung für die Wahrnehmung sexualisierter Ge-



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walt gegen Kinder sowie die Zusammenhänge zwischen Sucht, Trauma, Schwangerschaft und Geburt. Als Voraussetzung für eine gelingende feministische, frauen- und kinderspezifische Arbeit mit (werdenden) Müttern setzen sich zudem die Mitarbeiterinnen von Lilith auch reflektierend persönlich mit diesen Themen auseinander, ebenso wie mit der Rolle von Müttern in unserer Gesellschaft.

K OOPERATIONEN

IM

H ILFENETZ

Voraussetzung für die erfolgreiche Einrichtung der Frühen Hilfen war die Tatsache, dass Lilith generell großen Wert auf die Netzwerkarbeit legt. Für den Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind bedeutet dies, dass im Rahmen der Einzelfallarbeit und fallübergreifend eine enge Kooperation mit den Einrichtungen der Drogenhilfe, des Netzwerks Frühe Hilfen sowie den Gesundheits- und Jugendhilfen etabliert wurde. Lilith hat sich im Netzwerk auch zur Aufgabe gemacht, Fachkräfte verschiedener Disziplinen über die Situation und Hintergründe von Frauen mit einer Drogenthematik und deren Kinder vor dem Hintergrund einer feministischen, frauenspezifischen Sichtweise aufzuklären. Im Jahr 2001 hat Lilith den interdisziplinären Arbeitskreis „Kind Sucht Hilfe“ im Nürnberger Raum initiiert. Aus diesem Arbeitskreis heraus wurde eine Kooperationsvereinbarung erarbeitet, die im Jahr 2013 in Kraft getreten ist und an die sich unterschiedlichste Einrichtungen der Nürnberger Suchthilfe, der Gesundheits-, Kinder- und Jugendhilfe sowie der medizinischen Versorgung angeschlossen haben. Durch diese Kooperationsvereinbarung werden zum einen Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen für die Situation von (werdenden) Müttern mit einer Suchtproblematik und deren Kindern sensibilisiert. Zum anderen wird die Möglichkeit der Einberufung „Runder Tische“ unter Beteiligung aller Fachkräfte und der betroffenen Familien eröffnet. Diese Runden Tische bieten den Betroffenen ein hohes Maß an Transparenz und Mitwirkung und dienen der gemeinsamen Erarbeitung nachhaltiger, adäquater Hilfestellungen unter Berücksichtigung der gesamtfamiliären Situation. Im Jahr 2013 hat Lilith eine Fachtagung zum Thema „Substitution in anderen Umständen“ mit veranstaltet und hier u. a. einen regionalen Workshop mit dem Titel „Runde Tische für Runde Bäuche“ geleitet. Ziel dieses Workshops war die Sensibilisierung für und Verbesserung der Situation und Versorgung substituierter schwangerer Frauen bzw. von Müttern mit kleinen Kindern im Nürnberger Raum. Im Folgejahr haben sich Teilnehmer_innen dieses Workshops regelmäßig in den Räumen von Lilith getroffen und konnten gemeinsam



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wichtige erste Schritte erarbeiten, die der Verbesserung der notwendigen Kooperationen und der Hilfsangebote dienen. Im Rahmen der Frühen Hilfen im Arbeitsbereich Liliput – Mutter + Kind konnte hieraus im Jahr 2015 eine Kooperationsvereinbarung zwischen Psychosozialen Beratungsstellen und Substitutionspraxen entwickelt werden, welche auf die besonderen Bedarfe und die Versorgung schwangerer, substituierter Frauen eingeht.

F RÜHE H ILFEN Im Rahmen der Frühen Hilfen werden bei Lilith e. V. aktuell und ehemals konsumierenden/substituierten Schwangeren, Müttern und deren Kindern im Alter von 0-6 Jahren Beratung, Begleitung und Unterstützung angeboten. Durch diese Angebote sollen die Lebensrealitäten der betroffenen Frauen und Kinder verbessert werden. Davon ausgehend, dass Kinder, die mit (ehemals) Drogen konsumierenden Bezugspersonen in einer Haushaltsgemeinschaft leben, einer Risikogruppe angehören, geschieht dies vor dem Hintergrund der Sicherstellung des Kindeswohls: Kinder im Alter von 0 bis 3 bzw. 6 Jahren sind in besonderem Maß von ihren Eltern und deren Lebensrealität abhängig. Sie haben in diesem Alter in der Regel nur wenige außerfamiliäre Unterstützungsmöglichkeiten und befinden sich in einer besonders prägenden und empfindlichen Phase ihrer Entwicklung. Sie sind daher umfassend auf die Bindungs- und Handlungskompetenzen ihrer Hauptbezugspersonen angewiesen. Statistisch gesehen sind Kinder vom Säuglingsalter bis zum dritten Lebensjahr in deutlich höherem Maß von Folgen durch Vernachlässigung und Misshandlung betroffen (Nationales Zentrum Frühe Hilfen 2009a). Die Betreuung von Säuglingen oder Kleinkindern stellt eine große Belastung für Mütter dar. Der Übergang von einer zunehmenden Überforderung der Betreuungsperson zu einer akuten Gefährdungssituation für das Kind kann gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes sehr schnell und plötzlich erfolgen. Vernachlässigung und Misshandlung können in dieser Lebensphase häufig schwerwiegendere Folgen haben als bei älteren Kindern: lebenslange körperliche, geistige, psychische Behinderungen, schlimmstenfalls mit Todesfolge. Dabei haben Kinder von Drogenkonsumentinnen häufiger einen erhöhten Betreuungs- und Förderbedarf aufgrund von Regulationsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Die Belastung für die betreuende Person und damit die Gefahr einer Überforderung ist daher besonders groß. Gleichzeitig zeigen Erkenntnissen aus der Bindungsforschung, dass frühe Interventionen im Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung vor allem auch in Hin-



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blick auf eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind erfolgversprechender sind (vgl. Trost 2013) und die Chancen erhöhen, dass das Kind dauerhaft bei seiner Mutter aufwachsen kann. Eine gute und gelingende Vernetzung der Gesundheits- und Jugendhilfen sowie der Beratungsstellen bedarf einer verbindlichen Kooperation. Dabei wird im Rahmen der Frühen Hilfen davon ausgegangen, dass üblicherweise (werdende) Mütter die Angebote der Gesundheitshilfen eher nutzen und über diese Hilfen auch erreicht werden können. Diese Beobachtungen können für den Bereich der (werdenden) Mütter mit Drogenproblematik anhand der Praxiserfahrungen von Lilith nicht bestätigt werden. Auch im Rahmen einer Bachelorarbeit, welche 2013 in Kooperation mit Lilith erstellt wurde, hat sich gezeigt, dass ein Großteil der befragten Klientinnen weder von einer Hebamme betreut wurde noch an einem Geburtsvorbereitungskurs teilgenommen hatte (vgl. Zink 2014). Ziel in der Arbeit mit Drogen konsumierenden schwangeren Frauen und Müttern ist daher, neben der Zuführung zu den Kinder- und Jugendhilfen, auch eine Begleitung zu den Gesundheitshilfen. Wie wichtig dieser Schritt ist, wird auch anhand des Beitrags von Tödte et al. in diesem Band deutlich. Grundsätze der Frühen Hilfen bei Lilith e. V. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung des wissenschaftlichen Beirats des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, NZFH (2009b) arbeitet Liliput – Mutter + Kind nach folgenden Grundsätzen: • Die Frühen Hilfen zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern

und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung sollen sie insbesondere einen „Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe.“ • „Frühe Hilfen umfassen vielfältige sowohl allgemeine als auch spezifische, aufeinander bezogene und einander ergänzende Angebote und Maßnahmen.“ Im Hinblick auf die Zielgruppe von Lilith sind die Hilfsangebote von Liliput in der sekundären und der tertiären Prävention verortet. Sie tragen dazu bei, dass Risiken für das Wohl und die Entwicklung des Kindes frühzeitig wahrgenommen und reduziert werden. Wenn die Hilfen nicht ausreichen, eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, sorgen Frühe Hilfen dafür, dass weitere Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden.



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• „Frühe Hilfen basieren vor allem auf multiprofessioneller Kooperation, bezie-

hen aber auch bürgerschaftliches Engagement und die Stärkung sozialer Netzwerke von Familien mit ein. Zentral für die praktische Umsetzung Früher Hilfen ist deshalb eine enge Vernetzung und Kooperation von Institutionen und Angeboten aus den Bereichen der Schwangerschaftsberatung, des Gesundheitswesens, der interdisziplinären Frühförderung, der Kinder- und Jugendhilfe und weiterer sozialer Dienste. Frühe Hilfen haben dabei sowohl das Ziel, die flächendeckende Versorgung von Familien mit bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten voranzutreiben, als auch die Qualität der Versorgung zu verbessern.“ Ein Beispiel gelingender Kooperation Mit dem Ausbau der Frühen Hilfen in den vergangenen Jahren stieß Liliput rasch an die Grenzen personeller und zeitlicher Ressourcen. Zudem wurde vonseiten verschiedener Nürnberger Einrichtungen der Wunsch nach einer verbesserten Kooperation zwischen der Suchthilfe und der Jugendhilfe laut. Das Amt für Kinder, Jugendliche und Familien – Jugendamt der Stadt Nürnberg, ist diesem Bedarf mit dem hier beschriebenen Konzept entgegengekommen. Das Konzept wurde gemeinsam von der Koordinierenden Kinderschutzstelle der Stadt Nürnberg und Lilith e. V. entwickelt und wird von der Stadt Nürnberg finanziert. Die Stadt Nürnberg hat sich für Lilith e. V. als Kooperationspartner entschieden, da hier bereits der Zugang zu den Zielgruppen geschaffen wurde und die Angebote und Rahmenbedingungen geeignet sind, erfolgreich im Bereich der Frühen Hilfen für (ehemals) drogenabhängige schwangere Frauen und Mütter sowie deren Kinder tätig sein zu können. Seit März 2015 konnte für Liliput so eine weitere sozialpädagogische Halbtagsstelle geschaffen werden. Das Konzept sieht dabei neben der Einzelfallarbeit auch Angebote für Fachkräfte anderer Einrichtungen sowie eine Intensivierung der Netzwerkarbeit vor. Die Angebote richten sich an (ehemals) drogenabhängige und substituierte schwangere Frauen und Mütter mit Kindern im Alter bis zu sechs Jahren. Den Zielgruppen soll frühzeitig zu einem verbesserten Zugang zum gesamten Hilfesystem und speziell den Unterstützungsangeboten der öffentlichen Jugendhilfe (Beratung, Frühen Hilfen und Hilfen zur Erziehung) verholfen werden. Lilith übernimmt dabei eine Vermittlungs- und Lotsenfunktion. Im Rahmen der Einzelfallarbeit wird betroffenen Frauen und ihren Kindern ein Angebot der individuellen, intensiven Beratung und Begleitung vorgehalten. Voraussetzung ist, wie in allen Bereichen von Lilith, die Freiwilligkeit vonseiten der (werdenden) Mutter. Auf Wunsch können auch Hausbesuche durchgeführt



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werden. Als Selbstmelderin erhält die Klientin innerhalb von zehn Tagen einen Termin zur Erstberatung. Bei einer Vermittlung der Klientin durch andere Fachkräfte wird nach Möglichkeit ein gemeinsames Gespräch vor Ort mit der vermittelnden Stelle, der Klientin und der Liliput-Mitarbeiterin durchgeführt. So können die Gesamtsituation und der Bedarf mit Einverständnis und Schweigepflichtentbindung1 im Beisein der Klientin transparent gemeinsam besprochen und verbindliche Vereinbarungen zur Kooperation getroffen werden. Unter Berücksichtigung der gesamten familiären Situation, möglicher Risikofaktoren für das (ungeborene) Kind, der Ressourcen sowie Bedarfe, Wünsche und Möglichkeiten der Klientin berät und begleitet Liliput die (werdende) Mutter. Besteht die Notwendigkeit, weitere Hilfen des Gesundheits-, Kinder- und Jugendhilfewesens in Anspruch zu nehmen, werden die Klientinnen motiviert, mit den entsprechenden Stellen, insbesondere auch mit dem Allgemeinen Sozialdienst, Kontakt aufzunehmen. Bei Bedarf und mit Einverständnis der Klientin bahnt Liliput diesen Prozess an, unterstützt und begleitet ggf. persönlich. Hierzu sind die Begleitung der Klientin zu den Terminen sowie deren Vorbereitung mit den Fachkräften, die Initiierung Runder Tische oder anonymisierte Beratung durch die Koordinierende Kinderschutzstelle möglich. Eine erste Zwischenauswertung nach zwölf Monaten Durchführung der Frühen Hilfen zeigt, dass durch die Angebote eine deutlich höhere Anzahl an Klientinnen der Zielgruppen erreicht wurde. Außerdem hat sich rasch bestätigt, wie bedeutsam die persönliche Begleitung ist. Gerade im Hinblick auf frühere Traumata gilt es immer wieder, gemeinsam mit der Klientin, den Entbindungskliniken bzw. der Neonatologie die Geburtsvorbereitung, den Verlauf der Geburt, die Möglichkeit eines Kaiserschnitts sowie potenzielle Risiken durch den Konsum von legalen und illegalen Substanzen offen anzusprechen. Die (werdenden) Mütter werden so aktiv an den Planungen beteiligt. Damit können Sorgen, Ängsten und Gefühlen von Ohnmacht der betroffenen Frauen entgegengewirkt werden. Die Fachkräfte haben durch diese Gespräche ein hohes Maß an Handlungssicherheit gewonnen. Darüber hinaus sollen im Rahmen der Frühen Hilfen für die Zielgruppen bedarfsorientierte Gruppenangebote bereitgehalten werden wie Freizeit-, Entlas-

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Da eine Weitergabe von Daten ausschließlich mit Zustimmung der Betroffenen möglich ist, muss eine Entbindung von der Schweigepflicht vorliegen (außer bei akuter Kindeswohlgefährdung), wenn die miteinander kooperierenden Einrichtungen fallrelevante Informationen über die Klientin austauschen wollen. Die Praxis zeigt, dass die Erteilung der Schweigepflichtentbindung stark vom Kontakt der Klientin zu der jeweiligen Mitarbeiterin und dem Vertrauen in die Institution abhängig ist.



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tungs-, Informations- und Bildungsangebote. Ein Teil dieser Angebote wird gemeinsam mit externen Kooperationspartner_innen, insbesondere auch den Anbieter_innen im Bereich der Frühen Hilfen, durchgeführt. Bisher konnte einmal monatlich an einem Sonntag unter Mitwirkung externer Referentinnen ein Familienfrühstück unter dem Titel „Wir frühstücken uns schlau“ zu verschiedenen Themen wie Verhütung, Erste Hilfe am Kind etc. angeboten werden. Im Januar 2016 startete zudem erfolgreich der Kurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ in Kooperation mit dem Kinderschutzbund Nürnberg. Die Erfahrungen zeigen deutlich, dass schwangere Frauen und Mütter sich durch diese Angebote angesprochen fühlen und großes Interesse daran haben. Die Hemmschwelle zur Teilnahme lässt sich dadurch senken, dass die (werdenden) Mütter in einer für sie vertrauten Umgebung die Möglichkeit bekommen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Dass die Frauen ihre eigenen Problematiken, Sorgen und Ängste – neben der eigenen Drogenproblematik und Lebenswirklichkeit betrifft dies u. a. die Inobhutnahme von Kindern, Schuldgefühle und Ähnliches – offen ansprechen können, ist von hoher Bedeutung. Ein weiteres Angebot richtet sich an Fachkräfte anderer Dienste, speziell auch des Allgemeinen Sozialdienstes. Die Mitarbeitenden werden bei Fragen zum Themenbereich Sucht und Substitution sowie etwaigem jugendhilferelevanten Unterstützungsbedarf auf Nachfrage hin beraten. Dieses Angebot wurde in den vergangenen Monaten vor allem von Mitarbeiter_innen des Jugendamtes, Fachkräften der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie von medizinischen Fachkräften der Entbindungskliniken bzw. der Neonatologiestationen angenommen. Darüber hinaus werden für Fachkräfte unterschiedlicher Disziplinen regelmäßig Fortbildungen angeboten. Fallübergreifend ist Lilith durch das vorliegende Konzept beauftragt, die bestehende Netzwerkarbeit im Sinne einer verbindlichen Kooperation weiter voranzubringen und zu intensivieren. Dies bedeutet, dass die Zusammenarbeit mit allen Netzwerkpartner_innen, die geeignet sind, Klientinnen an Liliput zu vermitteln oder weiterführende Hilfen anbieten, ausgebaut werden soll. Hierzu zählen Geburtskliniken, Schwangerenberatungsstellen, Hebammen, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte etc. sowie insbesondere die Koordinierende Kinderschutzstelle und der Allgemeine Sozialdienst des Jugendamtes. Des Weiteren werden praxisnahe Verfahrensabläufe mit den Kooperationspartner_innen erarbeitet, u. a. Vermittlungswege sowie persönliche Übergabe-Gespräche, Schweigepflichtentbindungen, Informations- und Datenaustausch. Im Rahmen der Netzwerkarbeit wurden zahlreiche Gespräche mit den unterschiedlichsten Kooperationspartner_innen geführt. Kooperationsvereinbarungen konnten bereits mit mehreren Substitutionspraxen geschlossen werden. Diese be-



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inhalten eine Schweigepflichtentbindung zwischen behandelnder Substitutionspraxis und Psychosozialer Beratungsstelle. Darüber hinaus wird die Frequenz der Psychosozialen Beratung festgelegt. Zudem ist ein gemeinsames Gespräch zwischen Klientin, substituierender Ärztin bzw. substituierendem Arzt und PSBMitarbeiter_in im letzten Trimenon der Schwangerschaft zwingend erforderlich.

F AZIT

UND

A USBLICK

Die Notwendigkeit früher Hilfen für schwangere Frauen und Mütter/Väter/Eltern mit kleinen Kindern ist in den letzten Jahren in Deutschland deutlich geworden und entsprechende Angebote und Kooperationen wurden zunehmend implementiert. Der Tatsache, dass schwangere Frauen und Mütter mit einer Drogenproblematik sowie deren Kinder in besonderem Maß adäquate und frühe Hilfen benötigen, wird jedoch nach wie vor nicht genügend Rechnung getragen. Hier ist die Suchthilfe gefragt. Der Zugang zu den schwer erreichbaren Zielgruppen der schwangeren Frauen und Mütter mit kleinen Kindern gelingt am ehesten über niedrigschwellige Angebote der Suchthilfe. Voraussetzung ist, dass die Suchthilfe vermehrt geeignete Angebote schafft, von denen sich (werdende) Mütter und Kinder angesprochen fühlen und welche sich an deren besonderen Bedarfen orientieren. Klientinnen werden aber nur dann einer solchen „Einladung“ folgen, wenn diese Angebote eng in ein Gesamtkonzept einer niedrigschwelligen Einrichtung der Suchthilfe eingebettet sind, welches die besonderen Lebensrealitäten von Frauen und Kindern berücksichtigt und konzeptionell verankert. Die Suchthilfe muss ihre Chance nutzen, Mütter/Väter/Eltern und Kinder durch frühe Hilfen zu unterstützen, damit betroffene Familien im Vorfeld einer möglichen Kindeswohlgefährdung erreicht werden. Schwangere Frauen, Mütter und Kinder erhalten hierdurch die Chance, sich aus dem Kreislauf von Trauma, Sucht und Bindungsstörungen zu lösen und neue Handlungsspielräume zu entwickeln. Nur so werden letztendlich die Kinder, die wir heute sehen, nicht unsere Klient_innen von morgen.



D ROGENHILFE – UNTER U MSTÄNDEN EINMAL ANDERS

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L ITERATUR Arenz-Greiving, Ingrid (1994): „Suchtkranke Mütter und ihre Kinder“, in: Arenz-Greiving, Ingrid & Dilger, Helga (Hg.), Elternsüchte – Kindernöte. Berichte aus der Praxis, Freiburg i. Br.: Lambertus, 15-50. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) (2000): Situation und Perspektiven der Suchtkrankenhilfe, Positionspapier 2001. Online verfügbar unter: http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Beratungsstellen/ Situation_und_Perspektiven_2001.pdf [23.03.2016]. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) (2009a): Expertise: Interventions- und Präventionsmaßnahmen im Bereich der Frühen Hilfen. Internationaler Forschungsstand, Evaluationsstandards und Empfehlungen für die Umsetzung in Deutschland. Online verfügbar unter: http://www.fruehehilfen.de/fileadmin/user_upload/fruehehilfen.de/pdf/Interv entions_und_Praeventionsmassnahmen_2010.pdf [23.03.2016]. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) (2009b): Was sind Frühe Hilfen? Online verfügbar unter: http://www.fruehehilfen.de/fruehe-hilfen/was-sindfruehe-hilfen [23.03.2016]. Trost, Alexander (2013): „Drogenabhängige Mütter und ihre Säuglinge – Interaktionsverhalten und Einstellungen“, in: Brisch, Karl Heinz (Hg.), Bindung und Sucht, Stuttgart: Klett-Cotta, 110-138. Zink, Pia (2014): Frühe Hilfen in einer niedrigschwelligen Suchtberatungsstelle. Konzeptionelle Betrachtung- und Weiterentwicklung anhand eines Praxisbeispiels. Bachelorarbeit, Nürnberg.





Das Angebot des MutterKindWohnens für substituierte Frauen und ihre Kinder E LKE R ASCHE & S ABINE H EINTZE

Seit 2007 hält der Träger FrauSuchtZukunft, Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V., Berlin, Angebote für substituierte Frauen vor. Zunächst begann die Einrichtung „MutterKindWohnen“ substituierte Frauen mit ihren Kindern aufzunehmen. Im Jahr 2010 öffnete sich das Beschäftigungsprojekt des Trägers, die „Manufaktur“, ebenfalls für substituierte Frauen. Seit dem Übergang der Einrichtung „Frauenladen, Drogen- und Suchtberatung“ sowie des Projekts „Psychosoziale Betreuung (PSB) für substituierte Frauen“ zu FrauSuchtZukunft im Jahr 2013 werden auch Beratung und langfristige ambulante Begleitung für substituierte Frauen angeboten.1 Gemäß dem Leitbild von FrauSuchtZukunft finden substituierte Frauen in allen Einrichtungen und Projekten des Trägers geschützte Räume vor, um Gewalterfahrungen bearbeiten zu können, eigene Wege aus der Sucht zu finden, Verhaltensmuster, die sie verändern wollen, zu erkennen und zu bearbeiten und neue Lebensentwürfe zu entwickeln. Die Mitarbeiterinnen motivieren und unterstützen die Hilfe suchenden Frauen, selbstbestimmt zu leben und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie stärken die Frauen in ihrer Mutterrolle – wohl wissend, dass oft auch heute noch die weibliche Rolle in der Gesellschaft gekennzeichnet ist von ökonomischer Ungleichbehandlung, eingeschränkten Verhaltensspielräumen und Entfaltungsmöglichkeiten.

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In Berlin ist in der Regel die Substitutionsbehandlung nicht ohne Psychosoziale Betreuung möglich. Eine Entgelt-Vereinbarung nach § 53 SGB XII ist Grundlage der Finanzierung dieses Angebots.



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Eine Schwangerschaft ist für eine opiatabhängige Frau eine Indikation zur Substitutionsbehandlung, um das ungeborene Kind vor Schädigungen und Gefährdungen während der Schwangerschaft zu schützen und die gesamte soziale, psychische und physische Situation der schwangeren Frau zu stabilisieren (siehe hierzu Tödte et al. in diesem Band). Neben der Substitution bilden folgende begleitende Faktoren häufig die Grundlage für die Betreuung und Begleitung von Mutter und Kind: • Substituierte Mütter weisen sehr häufig Traumatisierungen und Traumafolgestörungen auf. Suchtmittelkonsum und Erfahrungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt haben eine enge Verbindung und Wechselwirkung. • Die Mütter möchten/müssen den Kindern in ihrer Entwicklung emotionale Nähe, Sicherheit und Geborgenheit bieten, die sie selber in der Regel nicht erfahren haben. Viele der Frauen verfügen nicht über die Erfahrung sicherer Bindung. • Sie leiden unter massiven Scham- und Schuldgefühlen gegenüber ihren Kindern. • Sie leiden unter weiteren psychischen Erkrankungen, oftmals auch unbehandelten Posttraumatischen Belastungsstörungen aufgrund erlebter Gewalt. • Drogenentzogene Säuglinge sind überdurchschnittlich „anspruchsvolle“ Babys, die ein äußerst hohes Maß an Pflege und Betreuung benötigen. • Die Mütter sind häufig fremdmotiviert (Druck vom Jugendamt) und erfahren kaum Unterstützung dabei, sich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Lebensentwürfen auseinanderzusetzen. Diese begleitenden Faktoren erfordern spezifisches Fachwissen und Kompetenzen der Mitarbeiterinnen zu Traumafolgestörungen, Bindungstheorien, zur gesunden Entwicklung von Kindern und Methoden zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung. Weiterhin bilden Kenntnisse zu frauenspezifischen Faktoren einer Suchtentstehung, Kenntnisse und Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen und Bewertungsmuster von Frauen/Müttern, Kenntnisse zur Situation von Kindern Suchtmittel konsumierender Mütter sowie die Wertschätzung verschiedener kultureller und sozialer Herkünfte und sexueller Identitäten die Grundlagen der Arbeit. Darüber hinaus ist die Bereitschaft zur Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Rolle als Frau maßgeblich für den spezifischen Ansatz in der Arbeit mit suchtmittelabhängigen Frauen/Müttern. Der Spagat zwischen einer empathisch-zugewandten Arbeit mit der Mutter und der Wahrnehmung einer Kindeswohlgefährdung kann bei einzelnen Kolleginnen und in den Teams zu Unsicherheiten und Ängsten führen:



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• Ängste vor Störungen in der Zusammenarbeit bzw. in der Beziehung zur Klientin, Abbruch der Therapie/Beratung durch die Klientin; • persönliche Belastungen der einzelnen Mitarbeiterinnen, beispielsweise das Gefühl, die Mutter falsch einzuschätzen oder die Frage danach, ob die eigene Wahrnehmung stimmt; • Verantwortungsgefühl, welches als hohe Belastung empfunden wird; • Belastungen im Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und dem Wohl der Mutter – Grenzen der Parteinahme, unterschiedliche Einschätzungen im Team; • Belastungen in der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen. In wöchentlichen Fallteams und regelmäßiger Supervision findet ein intensiver Austausch, Diskussion sowie Reflexion zu diesen Thematiken statt. Zudem bieten die inhaltlich-fachlichen Standards von FrauSuchtZukunft e. V. den Mitarbeiterinnen Handlungssicherheit und bilden die Grundlage und den Rahmen für das trägerinterne, schriftlich im Qualitätshandbuch fixierte Kinderschutzkonzept:

• Anwenden des „Vier-Augen-Prinzips“; • Vorhandensein einer Kinderschutzfachkraft nach § 8a SGB VIII, die bei dem Verdacht einer Kindeswohlgefährdung mit hinzugezogen werden kann; • Fortbildungen zum Thema Kinderschutz; • Dokumentation; • Nutzen der Arbeitshilfe für Mitarbeiterinnen in Einrichtungen der Sucht- und Drogenhilfe zur Abschätzung einer Kindeswohlgefährdung2; • Einholen von Schweigepflichtentbindungen, um eine gute Kooperation aller Fallbeteiligten und den Kinderschutz zu gewährleisten; • grundsätzliche Vermittlung schwangerer Klientinnen an die Infektionsambulanz der Charité3; • Nutzen der „Hotline Kinderschutz Berlin“4 und des Beratungsangebotes spezialisierter Einrichtungen; • Netzwerk- und Gremienarbeit.

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Im Zusammenhang mit der „Rahmenvereinbarung zum Schutz von Kindern suchtkranker Eltern vor der Gefährdung des Kindeswohls“ zwischen der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz, der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung und der LIGA der Wohlfahrtspflege in Berlin.

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Charité – Universitätsmedizin Berlin, eine gemeinsame Einrichtung der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin.

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http://www.berliner-notdienst-kinderschutz.de/hotline_kinderschutz.html

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Die vielschichtigen Problemlagen substituierter Klientinnen erfordern interdisziplinäre Hilfsangebote aus Medizin, Suchthilfe und Jugendhilfe. Auch die Kinder der substituierten Mütter benötigen ein hohes Maß an Unterstützung und haben Anspruch auf Hilfen. Die Netzwerkarbeit ist deshalb eine wesentliche Grundlage der Tätigkeit in diesem Arbeitsfeld. Die Mitarbeiterinnen des „MutterKindWohnens“ verstehen sich als Prozessverantwortliche, die Fallverantwortung liegt beim zuständigen Jugendamt. Die Prozessverantwortung innerhalb des Netzwerkes beinhaltet die Erfassung der Rückmeldungen aller Prozessbeteiligten, das Krisenmanagement bei akuten Gefährdungssituationen, Information der Netzwerkbeteiligten, Überprüfung von Angebot/Inanspruchnahme der vereinbarten Hilfen und die Koordinierung der Hilfemaßnahmen. Ein Ziel der Netzwerkarbeit ist es, das Vertrauen der Schwangeren und Mütter zu den beteiligten Institutionen und Hilfeangeboten zu stärken. Die Ziele der Betreuung können nur durch ein funktionierendes Netzwerk erreicht werden. Die Haltung in der Arbeit mit substituierten Frauen des Trägers FrauSuchtZukunft sowie das aufeinander abgestimmte Fallmanagement der beteiligten trägerinternen Projekte soll anhand des folgenden Fallbeispiels dargestellt werden: Frau Z. ist 24 Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Berlin. Sie ist aus Chemnitz zugezogen. Bereits seit ihrem 12. Lebensjahr konsumierte sie psychoaktive Substanzen, im Alter von 17 Jahren erstmals Opiate. Neben Straßenheroin waren dies ausgekochte Fentanylpflaster, Substitute jeglicher Art und Codeinkompretten. Sie finanzierte ihren Konsum hauptsächlich über Beschaffungskriminalität, Betrugsdelikte und Prostitution. Frau Z. verfügt über diverse stationäre Psychiatrieerfahrungen, angefangen mit Unterbringungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit ihrem 13. Lebensjahr. 5

Erstmals nahm Frau Z. Kontakt mit dem „Frauenladen, Drogen- und Suchtberatung“ auf, weil ihr behandelnder Substitutionsarzt Druck auf sie ausübte: Frau Z. war zu diesem Zeitpunkt seit einem halben Jahr substituiert und ihr fehlte der Nachweis über die Aufnahme einer Psychosozialen Betreuung. Bereits im Erstgespräch gab Frau Z. an, dass sie wahrscheinlich schwanger sei. Sie habe aber noch nicht mit ihrem Arzt darüber gesprochen. Sie freue sich auf das Kind und wolle von nun an auch keine Drogen mehr nehmen. Sie wolle so schnell wie möglich das Substitut abdosieren, damit das Kind ohne Entzug auf die Welt komme, und sich mit dem Kindsvater eine Wohnung suchen. Dieser werde ebenfalls substituiert. Auf keinen Fall wolle sie, dass das Jugendamt eingeschaltet werde. Ihre Angst war sehr groß, dass ihr umgehend das Kind entzogen würde.

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Einrichtung des Trägers FrauSuchtZukunft e. V.

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Bereits mit der Information der Klientin, möglicherweise schwanger zu sein, verändern sich Haltung und Aufgaben der Beraterin. Verfahrensabläufe, die dem Schutz des Kindes – auch des ungeborenen Kindes – dienen, treten unmittelbar in Kraft. Diese beinhalten u. a., dass der Klientin verdeutlicht wird, dass eine Schweigepflichtentbindung gegenüber dem behandelnden Substitutionsarzt und anderen sie begleitenden Einrichtungen und Diensten unerlässlich ist. Die Fokussierung der Beratung auf den Bedarf der Klientin erweitert sich um den Bedarf des Kindes. Im Anschluss an eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation wurde mit der Klientin der Hilfebedarf besprochen. Zunächst stand selbstverständlich der aktuelle Unterstützungsbedarf, den sie selbst formulierte, im Vordergrund. Doch auch der Bedarf bezogen auf die mögliche Schwangerschaft, der aus Sicht der Beraterin vorliegt, musste thematisiert werden. Die formulierten Bedarfe stimmten nicht in allen Punkten überein. So thematisierte Frau Z., dass sie zunächst dringend Unterstützung zur Beschaffung von Umstandskleidung und zur Wohnungssuche benötige. Als dringendster Bedarf vonseiten der Beraterin wurde die notwendige medizinische Versorgung der Klientin eingeschätzt, konkret die Feststellung der Schwangerschaft sowie, falls diese besteht, eine Anbindung an die vorgeburtliche gynäkologische Versorgung. Weiterhin wurde mit Frau Z. besprochen, dass im Falle einer Schwangerschaft eine enge Vernetzung mit dem substituierenden Arzt, mit der Gynäkologie sowie mit weiterführenden und begleitenden Einrichtungen unerlässlich sei, um sie bedarfsgerecht durch die Schwangerschaft begleiten zu können. Ihrem zunächst aufkommenden Widerstand sich auf ein Netzwerk von Hilfen einzulassen, wurde das entsprechende Verständnis entgegengebracht, aber auch die Notwendigkeit dieses Vorgehens aufgezeigt.

Erfahrungsgemäß verstehen die Klientinnen das Hilfenetzwerk zunächst ausschließlich als Kontrollinstrument und erfahren erst im Verlauf, dass es prioritär auf Hilfe und Unterstützung ihrer Person ausgerichtet ist. Leitend für den weiteren Beratungs- und Betreuungsverlauf ist es, den Klientinnen die Rolle der Beraterin klar und transparent zu vermitteln. In den folgenden Beratungsgesprächen wurde mit Frau Z. ein vorläufiger Hilfeplan aufgestellt. Dieser beinhaltete die engmaschige medizinische Begleitung ihrer nun festgestellten Schwangerschaft und die schnellstmögliche Übermittlung von Frau Z. von der Beratungsstelle in das Projekt „Psychosoziale Betreuung (PSB)“. Die PSB sieht eine Bezugsbetreuung vor, die je nach Hilfebedarf mit der entsprechenden Anzahl an Wochenstunden die Betreuung übernimmt. Die notwendigen Unterlagen zur Antragsstellung der PSB wurden



276 | E LKE R ASCHE & S ABINE H EINTZE mithilfe der Drogenberaterin zusammengestellt. Erst dann erfolgte das Übergabegespräch mit der Drogenberaterin, der Klientin und der vorgesehenen PSB-Kollegin. Zu diesem Zeitpunkt lebte Frau Z. in einer Einzimmerwohnung zusammen mit dem Kindsvater. Ihn beschrieb sie bezüglich seines Drogenkonsums als sehr instabil, er trinke täglich viel Alkohol und nehme schon seit vielen Jahren Benzodiazepine. Wenn er „harten“ Alkohol trinke, neige er zu Aggressionen. Sonst sei er eher ruhig, sehe viel fern und schlafe viel. Sie selbst würde keinen Alkohol trinken, aber Benzodiazepine nehme sie auch „ab und zu“. Eingehend auf ihren Wunsch nach einer größeren gemeinsamen Wohnung wurde die Konsumproblematik und deren Auswirkungen auf das gemeinsame Kind besprochen, kritisch hinterfragt und mit Frau Z. diskutiert. Diese Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund der angespannten Wohnungsmarktlage in Berlin machten auch Frau Z. schnell deutlich, dass es zwar ein erstrebenswertes Ziel sei, gemeinsam mit dem Kindsvater zu leben und das Kind groß zu ziehen, der Weg dahin aber ein Stufenmodell sein müsse. Die Aufnahme von Frau Z. in das „MutterKindWohnen“ des Trägers wurde vorgeschlagen und ein erster begleiteter Vorstellungstermin dort vereinbart.

Der Fokus der Beraterin auf die Klientin und ihr Anliegen ist weiterhin durch den Schutzauftrag für das ungeborene Kind geprägt. Als erleichternd wirkt der Kontakt zu begleitenden Einrichtungen, wie der Infektionsambulanz der Charité (die sich um die vorgeburtliche medizinische Versorgung von Mutter und Kind kümmert) und die enge Zusammenarbeit mit dem substituierenden Arzt der Klientin. Die Beraterin hat auch jederzeit die Möglichkeit, sich mit der Kinderschutzbeauftragten der Einrichtung auszutauschen. Regelmäßig findet in Fallbesprechungen des Beratungsteams ein Monitoring-Bogen zum Kinderschutz Anwendung. Frau Z. vereinbarte einen Informationstermin beim „MutterKindWohnen“, den sie auch gemeinsam mit ihrer PSB-Beraterin wahrnahm. In diesem Gespräch wurde sie über die Unterstützungsmöglichkeiten im Bereich der Jugendhilfe informiert. Es gab bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt zum zuständigen Jugendamt und die Ängste und Vorbehalte von Frau Z. gegenüber der Jugendhilfe waren groß. Im ersten Gespräch ist es häufig ein Spagat, sowohl auf die Unterstützungs- und Hilfemöglichkeiten des MutterKindWohnens hinzuweisen, als auch die Grenzen zu benennen. Über die Rahmenbedingungen des MutterKindWohnens wurde Frau Z. informiert.



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Die Einrichtung des „MutterKindWohnens“ bietet Hilfe in Form eines Betreuten Einzelwohnens (§ 19 SGB VIII), einer ambulanten aufsuchenden Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) und dem Mütterunterstützungskurs (STARK)6 an. Bei dem Angebot des Betreuten Einzelwohnens handelt es sich um eine intensive Hilfe, die viele Lebensbereiche umfassen kann (Finanzen, Behörden, Schwangerschaft, Mutter-Kind-Bindung, Pflege des Säuglings, Erziehungsfragen, therapeutische Angebote für Mutter und Kind u.v.m.). Je nach individuellem Bedarf erhält die Klientin Unterstützung und Begleitung bei den für sie und das Kind relevanten Themen. Während der Betreuung dürfen substituierte Frauen keinen Beikonsum haben. Im Falle eines Rückfallverdachtes werden neben den ohnehin regelmäßig stattfindenden Kontrollen auch unangekündigt Urin- oder Alkoholkontrollen durchgeführt. Standardisierte Verfahrensprozesse bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung liegen vor. Nicht jeder Substanzkonsum stellt aber gleichzeitig eine akute Gefährdung für das Kind dar. Bei einer akuten Kindeswohlgefährdung wird sofort reagiert und der Schutz des Kindes sichergestellt. Im Falle von Beikonsum im Betreuten Einzelwohnen muss die Klientin die Einrichtung zur stationären Entgiftung verlassen, die Kinder werden individuell untergebracht. Auch im Rahmen des Angebots der ambulanten Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) wird in Rücksprache mit dem Jugendamt immer eine stationäre Entgiftungsbehandlung empfohlen und auf eine mögliche Gefährdung der Kinder hingewiesen. Erfahrungen zeigen, dass es durchaus gelingen kann, sich mit den Müttern darüber zu verständigen, dass es ihren Kindern gut gehen soll und es dafür möglicherweise erforderlich ist, dass die Mitarbeiterinnen des „MutterKindWohnens“ dafür Sorge tragen, die Kinder zu schützen, sollten die Mütter dazu nicht in der Lage sein. Über die Gewährung und die Art der Hilfe – in diesem Fall das gemeinsame Wohnen von Müttern mit ihren Kindern – entscheidet das Jugendamt. Nach dem ersten Gespräch beim „MutterKindWohnen“ muss sich die Bewerberin selbstständig an ihr zuständiges Jugendamt wenden und die Hilfe beantragen. Der erste Eindruck sowie Verunsicherung und Ängste von Frau Z. gegenüber der Einrichtung des „MutterKindWohnens“ waren Inhalt der folgenden Beratungsgespräche, insbesondere ihre weiter vorherrschende Angst vor zu viel Kontrolle. Die Vermittlung, dass Kontrolle gleichermaßen Sicherheit bedeuten kann sowie die Möglichkeit, sich in einem

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Informationen dazu auf der Homepage: www.frausuchtzukunft.de

278 | E LKE R ASCHE & S ABINE H EINTZE klaren Regelwerk zu bewegen, das ihr ebenfalls bei der Übernahme von Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für ihr Kind behilflich sein kann, war dann die Aufgabe der PSB-Kollegin. Frau Z. wurden die Perspektiven, die sich aus dieser Wohnform entwickeln können, aufgezeigt und gemeinsam mit ihr Visionen für ihre weitere Zukunft entworfen. Nach einer von der PSB-Beratung unterstützten Kontaktaufnahme zum Jugendamt und der Kostenübernahme für das Betreute Einzelwohnen durch die Jugendhilfe wurde es möglich, dass Frau Z. im 8. Monat der Schwangerschaft in eine Trägerwohnung des „MutterKindWohnens“ einziehen konnte. Gemeinsam mit dem Jugendamt, den Betreuerinnen vom „MutterKindWohnen“ und Frau Z. wurden die Ziele der Hilfe festgelegt. Frau Z. wünschte sich Unterstützung bei der Gestaltung des Tages und im Umgang mit dem Säugling. Die Einbeziehung des „MutterKindWohnens“ in das Hilfenetzwerk von Frau Z. entlastete die PSB-Betreuung hinsichtlich des Blicks auf und der Verantwortlichkeit für das Kindeswohl. Die unterschiedlichen Aufträge vereinfachten es, eine klare Haltung zu verdeutlichen, die den Kontrollaspekt aber nicht vernachlässigte. Ein Abbruch der Hilfe konnte so vermieden werden. Ein Thema während der Betreuung im „MutterKindWohnen“ war auch der Umgang mit dem Kindesvater. Er durfte nicht mit in die Trägerwohnung einziehen und sich auch nicht alkoholisiert oder nach dem Konsum von Drogen in der Wohnung aufhalten. Im Laufe der Betreuung erhielt er vorübergehend ein Wohnungsverbot. Die Form des Umgangs mit seinem Kind wurde gemeinsam mit dem Jugendamt festgelegt. Intensive Begleitung benötigte Frau Z. auch im Bindungsaufbau zu ihrem Kind. Der Säugling kam mit Entzugserscheinungen zu Welt, der Schlaf-wach-Rhythmus war gestört und über eine längere Zeit kam es zu vermehrtem Schreien des Kindes. Neben diesen Themen wurde Frau Z. bei den alltäglichen Herausforderungen unterstützt, die ihr neues Leben als alleinerziehende Mutter mit sich brachte. So erhielt sie z. B. Begleitung bei Terminen, die sie sich zunächst nicht allein zutraute und Sicherheit durch das Wissen, dass sie sich mit allen Fragen und Unsicherheiten an ihre Betreuerin wenden konnte. So wurde Frau Z. in ihrer Entwicklung bestärkt, zunehmend selbstständiger zu werden und in ihre Mutterrolle hineinzuwachsen. Im Laufe der Betreuung wurde das Hilfenetzwerk noch erweitert: Es wurde eine Familienhebamme eingesetzt, mit einem Kinderarzt zusammengearbeitet und eine Tagesmutter gefunden, die stundenweise das Kind betreute. Nach Abschluss des Betreuten Einzelwohnens konnte Frau Z. mit ihrem Kind durch die ambulante Familienhilfe zur weiteren Stabilisierung unterstützt werden. Es kam zu mehrmaligem Beikonsum während der Betreuung. Dieser konnte jeweils gut bearbeitet werden und führte zu positiven Veränderungen (Bearbeitung von Ambivalenzen, Erhöhung der Selbstwirksamkeit, Stärkung eines Abstinenzwunsches).



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Der Umgang mit dem Kindesvater gestaltete sich insgesamt sehr schwierig, da er vereinbarte Termine nicht einhielt und sich zunehmend zurückzog. Frau Z. entschied sich dagegen, nach dem „MutterKindWohnen“ wieder mit dem Kindesvater zusammenzuziehen und dafür, allein mit dem Kind zu leben.

Für die PSB bedeutet die Einbeziehung des „MutterKindWohnens“ in der Regel eine erhebliche Entlastung. Durch die Gewissheit, dass durch die Kollegin des „MutterKindWohnens“ der Fokus auf das Kind gerichtet wird, eine eventuelle Kindswohlgefährdung zeitnah thematisiert werden kann und direkte Konsequenzen nach sich zieht, kann in der weiteren Betreuung an den direkten (oder auch indirekten) Bedarfen der Klientin gearbeitet werden. Die Entlastung kann jedoch nur stattfinden, wenn das Hilfenetzwerk gut abgestimmt miteinander arbeitet. Bei Bedarf finden dazu in regelmäßigen Abständen Gespräche der PSBBeraterin mit der Betreuerin des „MutterKindWohnens“ und der Klientin statt, um Transparenz für alle Beteiligten im Hilfeprozess herzustellen. Eine der großen Herausforderungen in der Beratungs- und Betreuungsarbeit mit schwangeren substituierten Frauen bzw. mit substituierten Müttern ist es, den Blick nicht zu verengen: Trotz der hohen Verantwortung, die auf den Kolleginnen in der Drogenberatung lastet, kann der Fokus nicht auf die Schwangeroder Mutterschaft reduziert werden. Auch für schwangere Frauen und Mütter, die substituiert sind, gilt der frauenspezifische Ansatz, der die Klientinnen in geschützten Räumen motivieren soll, selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten, der ihnen Mut geben soll, Visionen zu entwickeln und sie unterstützt, diese Visionen auch lebbar werden zu lassen.





Süchtige und traumatisierte Klientinnen in der ambulanten Suchtberatung E LKE P EINE & A NTJE H OMANN

E INLEITUNG Seit Beginn der Frauensuchtarbeit waren Mitarbeiterinnen sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Arbeit mit Frauen und Mädchen konfrontiert, die als Kinder und Erwachsene z. T. lang andauernde, vielfältige sexualisierte und/oder körperliche Gewalt und Grenzüberschreitungen erlebt haben. Für die hieraus resultierenden Symptome gab es in den Anfängen jedoch noch wenig Begriffe, Herleitungen und psychotraumatologische Einordnungen; eine ICD-10 Diagnose existierte nicht. Viele der Grundhaltungen und Praxiserfahrungen wurden im Laufe der Zeit durch traumatologische Erkenntnisse bestätigt. Durch den Einfluss der feministischen Therapie und der traumatherapeutischen Forschung wurden komplexe dissoziative Symptome, schwere Traumafolgestörungen und Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) mit den Jahren besser versteh-, erkenn- und diagnostizierbar, sodass Konzepte darauf abgestimmt werden konnten. Vor allem Erkenntnisse zur inneren Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen, der Komplexität von dissoziativen Störungen und den Faktoren, die für eine heilsame Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen relevant sind, waren hierfür von zentraler Bedeutung. Wissenschaftlich nachgewiesen ist mittlerweile der Zusammenhang zwischen traumatischen Erlebnissen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter und der Entstehung einer Sucht bei Mädchen und Frauen. Mit gewaltvollen Erlebnissen gehen erhebliche Erkrankungsrisiken wie PTBS, die BorderlinePersönlichkeitsstörung, andere psychiatrische Erkrankungen und eben auch



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Suchterkrankungen einher. Viele der Betroffenen versuchen, die psychischen und physischen Folgen der (sexualisierten) Gewalterfahrungen und der erheblich belastenden Erlebnisse mit psychoaktiven Substanzen zu lindern und zu bewältigen. Für einige ist dies eine Überlebensstrategie. Gleichzeitig erhöht eine Sucht das Risiko, erneut Opfer von Gewalt zu werden. Das Ausmaß möglicher traumatisierender Erfahrungen von Frauen, die Unterstützung in der ambulanten Suchthilfe suchen, verdeutlicht sich anhand der Auswertungen von über 19.500 Datensätzen der Hamburger Basisdatendokumentation (BADO) aus 59 überwiegend ambulanten Sucht- und Drogenhilfeeinrichtungen des Jahres 2014 (Martens/Neumann-Runde 2015). Danach geben 57 %1 der alkoholbelasteten und 79 % der opiatbelasteten Frauen an, körperliche Gewalterfahrungen erlebt zu haben. Über 36 % der alkoholbelasteten und fast 65 % der opiatbelasteten Frauen geben an, sexuelle Gewalterfahrungen erlebt zu haben und weitere 81 % der alkoholbelasteten und 86 % der opiatbelasteten Frauen haben weitere schwerwiegende Erlebnisse erfahren. Der nachfolgende Beitrag stellt die wesentlichen Grundsätze eines integrativen Handlungskonzeptes, das die Verbindung zwischen suchtspezifischem und traumaspezifischem Fachwissen für die Arbeit mit Frauen in der ambulanten Suchthilfe herstellt, dar. Wenn hier von der ambulanten Suchthilfe gesprochen wird, dann ist damit das Spektrum von niedrigschwelligen Hilfeangeboten, Betreuung, Begleitung und Beratung als Daseins- und Grundversorgung von süchtigen oder suchtgefährdeten Menschen und deren Angehörigen gemeint. In der Regel werden die Kosten der Einrichtungen zum größten Teil über Zuwendungsmittel der Kommunen und Länder, durch Eigenmittel/Einnahmen und/oder Spenden finanziert. Die Kostenträger und die Leistungserbringer vereinbaren unterschiedliche Leistungspakete. Darüber hinaus stehen weitere Angebote der medizinischen Rehabilitation – ambulante medizinische Rehabilitation, Kombitherapie, Nachsorge – sowie Betreutes Wohnen und Psychosoziale Betreuung bereit. Diese werden aufgrund personenbezogener Leistungsansprüche, begründet in den Sozialgesetzbüchern wie z. B. gegenüber der Deutschen Rentenversicherung, den Krankenkassen oder dem Sozialhilfeträger im Einzelfall finanziert und sind häufig den Beratungsstellen angegliedert. Die Fachkräfte der ambulanten Sucht- und Drogenhilfe sind darauf verwiesen, praxisorientierte, auf der Basis sozialpädagogischer Arbeitsansätze beruhende und so weit möglich fundierte Konzepte für das ambulante Setting zu entwickeln, die differenzsensibel – hier der weiblichen Zielgruppe – anzupassen sind. Die Beraterinnen leiten und begleiten den Prozess der Klientinnen, in dem

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Prozentangaben gerundet.

S ÜCHTIGE UND TRAUMATISIERTE K LIENTINNEN

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diese konkrete Entlastungs- und Stabilisierungsmöglichkeiten entwickeln und erproben, um langfristig möglichst substanzabstinente, zufriedenstellende Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Die Teams bestehen mehrheitlich aus Sozialpädagog_innen, weniger aus Psycholog_innen, Ärzt_innen und Psychiater_innen. Angebotsspezifische Zusatzqualifikationen, die von den Kostenträgern vorausgesetzt werden sowie intern fachlich angeratene Zusatzqualifikationen aufgrund einrichtungs- bzw. konzeptbezogener Anforderungen sind erforderlich.

A MBULANTE B ERATUNG : NIEDRIGSCHWELLIGES A NGEBOT FÜR KOMPLEX TRAUMATISIERTE K LIENTINNEN Die ambulante Suchtberatung ist in besonderer Weise geeignet, den Zugang von sucht- und traumabelasteten Klientinnen zum Hilfesystem zu eröffnen und erste Anlaufstelle zu sein. Sie ermöglicht in besonderem Maß einen niedrigschwelligen Zugang für Frauen mit Doppeldiagnosen, die die institutionellen Voraussetzungen teil- oder stationärer Angebote aufgrund der Traumafolgen, ihrer Instabilität etc. nicht erfüllen können. So sind einerseits Aufnahmen in stationäre und teilstationäre Einrichtungen der psychotherapeutischen und psychiatrischen Einrichtungen in der Regel erst bei Verzicht auf den Suchtmittelkonsum möglich. Andererseits ist der Zugang zur Behandlung von psychischen und psychiatrischen Symptomen einer PTBS in den ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen erschwert, weil Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die krankheitsbedingt nur äußert schwer und nur kurzfristig zu leisten sind: Viele Klientinnen brechen die Maßnahmen ab, weil sie ihrer spezifischen Erkrankung nicht gerecht werden. Demgegenüber kann die ambulante Suchtberatung den Anforderungen und Bedarfen dieser Zielgruppe nach sucht- und traumaspezifischer Beratung und entsprechenden Einzel- und Gruppenangeboten unter besonderen Voraussetzungen gerecht werden. Das relativ niedrigschwellige (hier: voraussetzungslose) Angebot der Suchtberatung erleichtert es den Frauen, in Kontakt zu treten. Fehlende Abstinenzvoraussetzung Im Unterschied zu stationären und teilstationären Einrichtungen gibt es im ambulanten Bereich kein Abstinenzgebot: So kann mit Rückfällen, traumaspezifischen Schwankungen, wiederholten Beratungskontakten mit Unterbrechungen und individuellen Entwicklungsgeschwindigkeiten gearbeitet werden.



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Insbesondere in der Arbeit mit der Zielgruppe der traumatisierten, suchtbelasteten Frauen ist eine Abstinenzorientierung mit Vorsicht einzunehmen. Abstinenz kann das Ergebnis eines Prozesses sein, der unterschiedlich lang dauert. Einige Klientinnen suchen die Beratungsstelle auf und haben ihren Konsum bereits reduziert, während der erste Kontakt für andere, z. B. komplex traumatisierte Klientinnen, der Beginn einer lange Jahre andauernden Entwicklung sein kann, die schließlich zur Abstinenz führt. Viele suchtmittelabhängige Klientinnen mit (sexualisierten) Gewalterfahrungen haben erlebt, dass sie ihre Abstinenzbemühungen nicht durchhalten konnten und haben dies teils als wiederholtes „Scheitern“ verarbeitet. Eine zu frühe Abstinenzanforderung kann bei einer starken Instabilität der Klientin zu extremen, nicht aushaltbaren Gefühlszuständen führen, die wiederum über einen vermehrten Konsum eingedämmt werden und zu einem Abbruch des Beratungsprozesses führen können. Die Arbeit mit Rückfällen ist fachlich darin begründet, dass noch nicht (ausreichend) neue, sichere und konstruktive Bewältigungsstrategien ausgebildet sind. Zusätzlich kann bei komplex traumatisierten Klientinnen ein durch Trigger ausgelöstes Wiedererleben des Gewalterlebens zu rückfälligem Konsum führen. So betrachtet kann ein Rückfall als ein noch notwendiger Selbstschutz bewertet werden, der die Klientin vor Überforderung schützt und mangelnde Sicherheit und Instabilität erkennen lässt. Finanzierung Ambulante Beratungsstellen werden in der Regel über Zuwendungen pauschal und nicht auf Grundlage leistungsrechtlicher Einzelentscheidungen finanziert. Das heißt, eine unmittelbare ökonomische Abhängigkeit durch einzelfallbezogene Kostenklärungsverfahren, Belegungsschwankungen und damit ökonomischer Druck entfallen, ökonomisch begründete Aufnahmekriterien und entsprechende Selektionen der Klientinnen werden verhindert. Angeboten werden können so auch anonyme Erstkontakte, zudem bestehen in der Regel größere Spielräume in der Dauer der Beratungszeiten und bei Wiederholungsberatungen. Hinzu kommt, dass die Beratung überwiegend im Setting von Einzelgesprächen und mit personeller Kontinuität und Verlässlichkeit mit ein und derselben Beraterin stattfindet. Insbesondere der sozialen Stabilisierung, die zum originären Beratungsangebot gehört, kommt eine zentrale Rolle zu. Sie ermöglicht einen an dem individuellen Schweregrad der Traumatisierung, sonstigen Bedarfen und an die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit angepassten, längerfristigen Beratungsprozess.



S ÜCHTIGE UND TRAUMATISIERTE K LIENTINNEN

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Ergänzende Gruppenangebote Gruppenangebote können je nach Stabilisierungsgrad ergänzend in Anspruch genommen und sich thematisch relativ flexibel an den Bedarfen der aktuellen Klientinnen orientieren. Dabei stellen Gruppenangebote wie die Rückfallprävention in Anlehnung an das Programm „S.T.A.R.“ (Körkel/Schindler 2003) und insbesondere in Anlehnung an das Programm „Sicherheit finden“ (Najavits 2009) sinnvolle Ergänzungen zur Einzelberatung dar. Beide Programme können zielgruppenspezifisch modifiziert und in themenspezifischen Stabilisierungsgruppen durchgeführt werden: Sie sind dabei einerseits sprachlich so zu überarbeiten, dass Frauen benannt und angesprochen werden, und müssen andererseits die inneren und äußeren Lebenswelten von Frauen zur Grundlage nehmen. Dies umfasst, dass frauenspezifische Alltagserfahrungen, Lebensumstände, Erwartungen und Vorstellungen über weibliches Verhalten, weibliche Bedürfnisse und Gefühle benannt, hinterfragt und ggf. hinderliche Fremd- und Selbstbilder erkannt werden.

S UCHT

UND

T RAUMA

Der Begriff „Trauma“ wird in der heutigen Zeit inflationär benutzt, um besonders großen Ärger oder Stress bzw. die Dramatik einer Situation zu beschreiben. Die Betroffenen selbst verwenden diesen Begriff hingegen äußerst selten, wenn sie eine Suchtberatungsstelle aufsuchen. Ursprünglich stammt der Begriff „Trauma“ aus dem Altgriechischen und bedeutet „Wunde“. Damit assoziieren wir zunächst eine körperliche Verletzung, verbunden mit Schmerz und dem Bedarf nach Behandlung. Im psychischen Zusammenhang kann „Trauma“ als seelische Wunde bzw. starke seelische Verletzung gesehen werden, die ebenfalls mit Schmerz und Behandlung assoziiert werden kann (vgl. Wibbe 2008: 171). Die allgemeine Rezeption des Begriffs ist Ausdruck einer Bagatellisierung und Entnennung traumatisierender Erlebnisse, der psychosozialen Folgen daraus, aber auch der gesellschaftlichen Ursachen. Denn nicht einmal dann, wenn in der Öffentlichkeit über (sexualisierte) Gewalt an Frauen gesprochen wird, bedeutet dies, dass betroffene Mädchen oder Frauen aus ihrem sozialen und familiären Umfeld Unterstützung erhalten, dass ihnen geglaubt und geholfen wird. Im Gegenteil, sie erleben oftmals, dass ihre „Geschichten“ niemand hören will und sie damit alleingelassen werden. Betroffene verarbeiten die Erlebnisse und Tabuisierungserfahrungen als individuelles Versagen und entwickeln starke Schuld- und Schamgefühle. Bei den allermeisten



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von ihnen besteht daher wenig Verständnis darüber, welche eigenen „Wunden“ im Zusammenhang mit ihren (sexualisierten) Gewalterfahrungen bestehen. Traumatisierte und zugleich suchtbelastete Klientinnen erleben sich in der Regel stärker sozial ausgeschlossen als ausschließlich suchtbelastete Klientinnen: „[A]b jetzt bin ich anders als alle anderen und werde nie mehr so sein wie alle anderen.“ (Scheffler 2009: 102) Je nach Schwere und Dauer der traumatisierenden Erfahrung können in der Folge unterschiedliche Erkrankungen auftreten. In den Beratungsstellen suchen ganz unterschiedliche Frauen Unterstützung: Frauen, die aktuell (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt sind, Frauen, die diese in ihrer Kindheit einmalig oder dauerhaft erlebt haben, Frauen, die mit einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung kommen etc. Beraterinnen haben mit allen Stadien der Verarbeitung und Symptomatik, wie z. B. mit (begleitenden) psychiatrischen Krankheitsbildern wie dissoziative Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, affektive Störungen (Depression), somatoforme Schmerzstörungen, Essstörungen oder Angststörungen zu rechnen. Krankheitsbedingte Symptome, psychisch und sozial wirkende Reaktionen, die einen emotionalen und sozialen Rückzug der Klientinnen nach sich ziehen, erschweren stabile, verlässliche und relativ konfliktfreie Sozialkontakte. Viele Klientinnen mit traumatisierenden Erfahrungen haben sehr wenige bis gar keine verlässlichen, ihnen freundschaftlich zugewandte Personen in ihrem Umfeld. Dies kann verstärkt zu Isolation und Einsamkeit führen. Andere, im Beratungsprozess auftretende krankheitsbedingte Verfassungen sind immer wieder akute Erregungszustände (Intrusion), die durch belastende Traumagedächtnisspuren ausgelöst werden und das Erleben der Klientin „überfluten“ – durch das Wiedererinnern, Wiedererleben des traumatischen Geschehens durch Bilder, Flashbacks und Albträume; oft ausgelöst durch Schlüsselreize (Trigger). Dies trifft auch für das Erleben der Übererregung (Hyperarousal) zu – ein hoher Grad an Wachheit, Schreckhaftigkeit und Schlafschwierigkeiten, der die Klientinnen in erheblichem Ausmaß belastet (siehe auch den Beitrag von Teunißen/Voigt in diesem Band). Wenn traumatisierte Klientinnen über längere Zeit mit Intrusionen konfrontiert sind, versuchen sie, ihr Leben so auszurichten, dass sie möglichen auslösenden Situationen (Triggern) aus dem Weg gehen (vgl. Morgan 2007: 58). Eine Vermeidungsoption ist, Abstand zu Objekten oder Personen zu halten, die an das Trauma erinnern. „Vielfach wird auch versucht, intrusiven Gedanken oder Bildern zu entrinnen, indem zu Betäubungsmitteln gegriffen wird […]. Betäubt zu sein, und nichts oder nur wenig zu füh-



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len, erscheint den Betroffenen manchmal besser, als dem Gefühl der Irritation und des Überwältigt seins ausgeliefert zu sein.“ (Ebd.)

Es ist insbesondere im Zusammenhang mit traumaspezifischen psychischen Folgeeffekten überdeutlich, dass Alkohol, Medikamente oder illegale Drogen konsumiert werden, um negative Gefühle zu dämpfen, positive Gefühle zu erleben, Kontakt mit Menschen auszuhalten, einen „Suizid auf Raten“ zu begehen, Sexualität zu leben, sich am Täter zu rächen, sich einigermaßen „normal“ zu fühlen, ein Gefühl von Kontrolle zu bekommen oder zu zeigen, wie schlecht man sich fühlt, wenn andere Worte dafür fehlen. Diese erwünschten Effekte eines Suchtmittelkonsums verdeutlichen die Funktionalität und Bewertung als Bewältigungsstrategie bei traumatisierten Klientinnen. Sucht ist in diesem Zusammenhang das Resultat eines zumeist länger anhaltenden und missbräuchlichen Suchtmittelkonsums, mit dem der Versuch der Selbstheilung unternommen wurde, der mittel- und langfristig dysfunktional wirkt. Das erneute Auftreten der negativen Empfindungen löst den dringenden Wunsch nach Betäubung mithilfe des Suchtmittels immer wieder aus; der Kreislauf aus Trauma und Suchtentwicklung wird somit fortwährend angetrieben. Hinzu kommt das Dilemma, dass Entspannung (hier durch Suchtmittel künstlich hergestellt) immer gleichbedeutend ist mit Kontrollverlust, der von Frauen mit traumatisierenden Erfahrungen kaum aushaltbar ist und eigentlich vermieden werden soll. Psychosoziale Diagnostik traumatisierter Frauen Die Instrumente psychosoziale Diagnostik und Hilfeplanung, wie sie standardmäßig in der Suchtberatung etabliert sind, machen selbstverständlich auch in der Beratung traumatisierter Klientinnen Sinn. Um bezogen auf diese Zielgruppe Fehlversorgung zu vermeiden und zu einer Hilfeplanung zu gelangen, die die soziale und psychische Lebenssituation und spezifische Bedarfslage der Klientin zur Grundlage nimmt, ist zusätzlich eine traumasensible Diagnostik geboten. Denn es ist für den Beratungsprozess erforderlich, aktuelle Befindlichkeiten, Störungsbilder, Gefühlszustände und Symptome als Folgen von Traumatisierungen zu erkennen und einordnen zu können. Sie stecken den Rahmen ab für die Risiken und Ressourcen in der akuten Lebenslage der Klientin, von ihnen abhängig sind Hilfeplanziele und -schritte und sie bestimmen ggf. über Voraussetzungen und Qualitätsanforderungen weiterführender Maßnahmen. Obwohl Beraterinnen keine Diagnosen nach den beiden Klassifikationssystemen ICD 10 oder DSM IV erstellen, können sie entweder durch Nachfragen



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oder durch Erkennen traumabedingter und entsprechend stark beeinträchtigender Symptome zu einer Einschätzung und letztendlich zu einer psychosozialen Diagnose kommen. In beiden Klassifikationssystemen handelt es sich objektiv um Erlebnisse, die „mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ (ICD-10) einhergehen oder „die tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder Anderen“ (DSM-IV) einschließt, sowie subjektiv „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD10) bzw. mit „starker Angst, Hilflosigkeit oder Grauen“ (ICD-10) erlebt wurde. Nach Scheffler (2009: 102) lässt sich Trauma folgendermaßen definieren: „Eine traumatische Erfahrung zu machen heißt, sich mit Ereignissen konfrontiert zu sehen, die außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens und menschlicher Erfahrung liegen, die mit Todesangst, Ohnmachtserleben, Demütigung, Entwürdigung und völligem Ausgeliefert-Sein verknüpft sind.“

Die psychosoziale Diagnostik ermöglicht es der Beraterin, neben den existenzsichernden und sozialen Dimensionen der aktuellen Lebenssituation, zu erfahren, ob die Klientin (sexualisierte) Gewalterfahrungen akut erlebt oder ob zurückliegende Erfahrungen bestehen sowie ob und ggf. welche anderen psychischen Störungsbilder die Klientin belasten. Professionelle Haltung und Gesprächsführung Auch im Kontakt mit traumatisierten suchtbelasteten Klientinnen ist eine parteiliche, empathische und die Selbstaktivierung schätzende Grundhaltung einzunehmen. Oder wie Reddemann (2009) ausführt, eine Haltung die durch Gleichwertigkeit und Würde gekennzeichnet ist und „zentrale Elemente eines würdeorientierten Umgangs in der Psychotherapie“ (ebd.: 65) beschreibt und Mitbestimmung bei Entscheidungen, Empathie, partizipative Entscheidungsfindung, informed consent (informierte Einwilligung) und Gleichbehandlung aller Interaktionspartner_innen gewährleistet. Eine solche Haltung zeigt sich darin bzw. lässt sich nur dann einnehmen, wenn die Beratenden neben sucht- auch über traumaspezifische Zusatzqualifikationen verfügen, die der Kategorie Geschlecht eine angemessene Bedeutung beimessen. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Beratungstätigkeit mit dieser Zielgruppe ist die professionelle und persönliche Sicherheit der Beraterinnen im Kontakt mit den Klientinnen. Dies betrifft die Herstellung einer vertrauensvollen



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und tragfähigen professionellen Beziehung, da Klientinnen mit (sexualisierten) Gewalterfahrungen nur schwer Vertrauen in andere Menschen setzen können. Neben der fachlichen Qualifikation ist die Authentizität und Echtheit der Beraterin entscheidend für die professionelle Beziehung und den Beratungsprozess. Dabei geht es insbesondere um den Umgang mit folgenden Konfrontationsebenen und -themen, d.h. um Sicherheit im Kontakt: • mit frauenspezifischen Erlebnissen, objektiven wie subjektiven Belastungen

und Widersprüchen; • mit emotionalen und kognitiven Verarbeitungsweisen auch in Bezug auf die • • • •

eigene weibliche Person; mit spezifischen Bewältigungsstrategien wie Selbstverletzung, Dissoziation etc.; mit Grenzen und Möglichkeiten des eigenen professionellen Handelns; mit gesellschaftlichen Bildern von Opferwerdung, insbesondere bezogen auf Frauen und mit dem Thema „sexualisierte Gewalt“ in Bezug auf die eigene Person.

Für eine persönliche Sicherheit in der Begleitung traumatisierter Klientinnen ist eine Selbstreflexion und Kenntnis eigener Empfindlichkeiten notwendig, damit eigene entstehende Ohnmachtsgefühle ausgehalten und nicht unreflektiert auf die Klientin zurück übertragen werden und vermeintliche Lösungsvorschläge oder gar Unterstellungen mangelnder Compliance und das Aussprechen von Sanktionen verhindert werden. Gefühle wie Ungeduld, Ohnmacht und Aggressivität sind in der Supervision zu bearbeiten. Die Beraterin behält in jedem Stadium des Beratungsprozesses die Kontrolle. Sie nimmt die „Rolle der Hüterin“ ein, stoppt z. B. spontane Schilderungen und verhindert, dass sich die Klientin durch ein situationsabhängiges und unkontrolliertes „Sich-Hinein-Reden“ zu einer Schilderung der traumatisierenden Erlebnisse hinreißen lässt und diese als Re-Traumatisierung wiedererlebt. Zur Grundhaltung gehört ebenso eine professionelle Haltung, die in jedem Moment der Beratung eigene Emotionen zurückhält und sich wertschätzend, fast sachlich und fachlich kompetent präsentiert und nachfragt. Diese Haltung gibt der Klientin die Sicherheit, sich auf emotional ungewisse oder schwierige Prozesse einzulassen. Die parteiliche Haltung kommt hier über die Wertschätzung und Würdigung der Wahrnehmung und Sichtweise der Klientin zum Ausdruck. Im weiteren Beratungsprozess äußert sich die parteiliche Haltung darin, dass auch die „Erschütterungen“ im Selbstbild und in der Selbstkonstruktion der Klientin als Frau thematisiert werden.



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Traumasensible psychosoziale Diagnostik Für die Feststellung traumatischer Erfahrungen und – darauf aufbauend – für die Einordnung der Symptome stehen verschiedene Instrumente und Methoden zur Verfügung, die eine (Erst-)Thematisierung ermöglichen. Dies sind z. B. die Fragen-Triade, Stoppsignale oder die SUD-Skala2: sie werden in traumaspezifischen Zusatzqualifizierungen vermittelt und ihr Einsatz erlernt. Diese Methoden kommen erst dann zum Einsatz, wenn der Klientin vermittelt wurde, wie ein Beratungsprozess verläuft, wo die Grenzen der Beratung liegen, insbesondere in Bezug auf ihre erhebliche Symptomatik, und wenn sie darüber aufgeklärt wurde: Warum es für die Beraterin wichtig ist, zu wissen, ob außergewöhnlich belastende Erlebnisse erlebt wurden, und dass die Klientin selbst jederzeit entscheiden kann, ob und was sie erzählt. Zusätzlich verschafft es der Klientin Sicherheit, wenn sie erfährt, über welche spezifischen Kompetenzen die Beraterin verfügt. Traumatisierte Klientinnen zeigen sich häufig sehr wachsam und ängstlich, nicht wiederkommen zu dürfen. Klarheit und Transparenz der Beraterin wirken dem entgegen. Im Sinne der Selbstaktivierung ist es besonders für traumatisierte Klientinnen wichtig, zu erleben, dass sie selbst – zunächst mit Unterstützung der Beraterin – Kontrolle über ihr Leben und insbesondere über ihr emotionales Erleben erlangen können. Aufgrund des starken Ohnmachtserlebens, des Verlustes der Kontrolle über das eigene (Er-)Leben und des Mangels an Selbstwirksamkeit ist der Kontrollund Sicherheitsbedarf im gesamten Beratungsprozess das wesentliche Moment der Unterstützung und Genesung. In diesem Sinne moderiert und begleitet die Beraterin den Prozess. So ist es der Klientin möglich, sich aus ihrer Opferrolle heraus zu entwickeln und sich als eine Frau zu erleben, die ihr „Leben in die Hand nimmt“ und dabei zunehmend Sicherheit gewinnt. Dies gilt insbesondere auch bei der Erstellung des Hilfeplans, der Feststellung der Ziele der Beratung und der Ermittlung erster Handlungsschritte und ggf. weiterführender Maßnahmen. Zur Ermittlung des Hilfebedarfes ist auch in der Beratung mit traumatisierten Klientinnen das Modell der „Fünf Säulen der Identität“ (Petzold et al. 2004: 192; ausführlicher dazu Peine in diesem Band) heranzuziehen. Die fünf Lebensbereiche (Leiblichkeit/Gesundheitszustand, soziales Umfeld, Arbeit/Freizeit/Leistung, materielles/kulturelles Kapital und Wert-

2

Die SUD (Subjective unit of disturbance)-Skala (Wolpe 1958) dient der Einschätzung der subjektiven Belastung durch traumatische Erlebnisse.



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vorstellungen) sind zusätzlich unter dem Aspekt der äußeren und inneren Sicherheit zu analysieren und entsprechend im Hilfeplan zu berücksichtigen. Dreiphasenmodell der Traumatherapie Für die Kennzeichnung traumazentrierter Interventionen in einer Beratungstätigkeit sei an dieser Stelle kurz das weitgehend konsensfähige Dreiphasenmodell einer Traumatherapie dargestellt. Es bildet die wesentliche Grundlage in der Arbeit mit traumatisierten Frauen und beschreibt die Phasen einer fachgerechten Behandlung. Diese sind: • Stabilisierungsphase (Ressourcen); • Traumaexposition bzw. -konfrontation (Techniken, um traumatisierende Er-

lebnisse zu rekonstruieren bzw. durchzuarbeiten); • Integrationsphase (Einordnung in die eigene Vergangenheit, in das eigene Le-

ben). In der ambulanten Beratungsarbeit ist in jedem Fall ausschließlich Bezug auf die erste Phase, die Stabilisierungsphase, zu nehmen. Zentrale Bedeutung hat dabei die Arbeit an der äußeren und inneren Stabilisierung der Klientin und der Entwicklung oder Wiederentdeckung notwendiger Ressourcen. Soziale Stabilisierung ist eine originäre Aufgabe einer Suchtberatungsstelle: Bezogen auf die Zielgruppe traumatisierter und suchtbelasteter Klientinnen muss die Intervention in der Beratung spezifiziert und um krankheits- bzw. symptomspezifische Aspekte erweitert werden. Diese umfassen die Stärkung der Kontrollmöglichkeiten, die Vermittlung von Kontrolltechniken und die Unterstützung dabei, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu erlangen, um so dem erlebten Kontrollverlust entgegenzuwirken. Die Stabilisierungsphase, hier vor allem die Herstellung der äußeren Stabilität, kann insbesondere in der ambulanten Suchtberatung mit sozialpädagogischer Fachkompetenz erreicht werden. Eine der wichtigsten Grundlagen dafür ist die Herstellung einer professionellen, tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung zwischen Klientin und Beraterin. Sie ist die Basis dafür, dass die Klientin selbst aktiv werden und zunehmend mehr Kontrolle über ihr (Er-)Leben zurückgewinnen kann. Eine vertrauensvolle Beziehung kann nur dann als solche von der Klientin erlebt werden, wenn ein hohes Maß an Transparenz in allem, was im Beratungsprozess geschieht, hergestellt wird und dauerhaft bestehen bleibt. Parteilichkeit, Aufklärung, Offenheit, Authentizität, Empathie, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sind die Grundlagen einer solchen professionellen Beziehung.



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Dazu zählt auch, dass die Klientin die Möglichkeit hat, zu einer anderen Beraterin zu wechseln, wenn sie dies wünscht. Und es bedeutet auch, dass sie – wie alle Klientinnen – Kritik oder Zufriedenheit mit der Organisation, der Beratung, den Räumen, der Beraterin etc. auch anonym anbringen kann und eine ernsthafte Auseinandersetzung damit erfährt. Diese Bedingungen sind in frauenspezifischen Einrichtungen mit feministischen Wurzeln zentrale Standards und ermöglichen eine positive Beziehungsund Selbstwirksamkeitserfahrung, dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass traumatisierte Frauen häufig nicht erlebt haben, dass sich jemand für sie interessiert, sie mit ihrem Erleben ernst genommen werden und ihnen geglaubt wird. Das Erleben, dass die Beraterin sie ernst nimmt, fachlich kompetent ist, dass sie und andere Fachmenschen aus vielen Fachbereichen sich mit ihrem Erleben und den Folgen befassen, fördert das Vertrauen der Klientin in die Beraterin als Professionelle und ermöglicht eine Beziehungserfahrung, die aufgrund der meist vorliegenden Bindungsstörung essenziell ist. Diese vertrauensvolle Beziehungserfahrung ist die Basis für ein Gefühl der Gleichwertigkeit, auf der sich die Phänomene des Kontrollverlustes aussprechen lassen, die mit Rückfällen in Verbindung stehen. Auch eine verlässliche Strukturierung der Beratungsgespräche birgt viele Chancen in der Vermittlung von Sicherheit in der Beziehung mit der Beraterin. Beispielsweise ist ein wiederkehrender Abgleich im letzten Drittel der Beratungsstunde zwischen Klientin und Beraterin („Was haben wir beide heute besprochen und verstanden?“) hier von großem Nutzen. So wie der Aufbau und die Erhaltung der vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung das Fundament des gesamten Prozesses der Beratung darstellen, so ist diese Beziehung gleichzeitig immer wieder abzusichern. Sie wird durch alles, was im Beratungsprozess geschieht, beeinflusst und wirkt nur dann förderlich, wenn sie der Klientin ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Der Wiederaufbau von Sicherheit und Stabilität im Beratungsprozess ist zentral für jede weitere anschließende oder begleitende Maßnahme. Sicherheit und Stabilisierung Für einen gelingenden und langfristig zu einer Konsumreduktion führenden Beratungsprozess ist eine ganzheitliche Stabilisierung der Person und damit der äußeren und innerer Lebens- und Erlebnisumstände notwendig. Sowohl die äußere als auch die innere Stabilität ist über eine aktive Wiedererlangung einer größtmöglichen Kontrolle der sie beeinflussenden Faktoren und Bedingungen zu erreichen. Die Bearbeitung der zumeist destruktiven Selbstkonstruktionen ist für das Gelingen des gesamten Beratungsprozesses bedeutsam.



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Die Selbstbilder, die frauenspezifischen Selbstkonstruktionen, die insbesondere bei traumatisierten Frauen mit Schuld, Scham, Versagen, genereller Unfähigkeit und Opfer-Sein verknüpft sind, sind als Querschnittsaufgabe im gesamten Beratungsprozess zu verstehen. Sie lähmen jede Aktivität und Zuversicht in die eigene Selbstwirksamkeit und verhindern positiv ausgerichtete Selbstbilder von sich als eine aktive Frau. Äußere Stabilisierung Für die Gestaltung und Sicherung der äußeren Stabilität ist zunächst die Erhaltung oder Schaffung eines „sicheren Ortes“ erforderlich. Dies ist insbesondere für Klientinnen mit aktuellem Täterkontakt eine Voraussetzung für weitere Stabilisierungsaufgaben. Wesentlich ist eine gesicherte Wohnsituation. Zwar sind süchtige, traumatisierte Klientinnen selten von Obdachlosigkeit, wohl aber von einer verdeckten Wohnungslosigkeit betroffen. Sie leben zwar in einer Wohnung, sind darin aber teils den Tätern ausgeliefert. In den meisten Fällen sind sie nicht in der Lage, den Täter langfristig aus der Wohnung zu verweisen und selbst dann, wenn sie bereit sind, ihn und die Wohnung zu verlassen, scheitern sie – zumindest in Ballungsgebieten – daran, dass es dort kaum bezahlbaren Wohnraum gibt. „Ein akut traumatisierter Mensch braucht einen sicheren Zufluchtsort, darum ist die Schaffung einer sicheren Umgebung das dringlichste Ziel jeder Krisenintervention. [...] Für ihre Unabhängigkeit müssen Opfer oft sehr viel aufgeben. Geschlagene Frauen stehen danach unter Umständen ohne ein Zuhause, ohne Freunde und ohne finanzielle Mittel da. Opfer von Kindesmißbrauch verlieren meist ihre Familie, politische Flüchtlinge müssen ihr Zuhause und ihre Heimat verlassen. Oft wird dieser Aspekt unterschätzt.“ (Herman 2014: 225ff.)

Mit Klientinnen, die aktuell Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, ist zunächst die Erarbeitung von Selbstschutzstrategien zwingend erforderlich. Dies stellt oft eine echte Herausforderung für die Klientin und die Beraterin dar. Neben der Wohnraumsituation zählen die materielle und finanzielle Absicherung sowie ein regelmäßiges und ausreichendes Einkommen zu den wesentlichen Ressourcen einer äußeren Absicherung. Diese sind im Beratungsprozess zu prüfen und eventuell ist es notwendig, alle Anstrengungen auf eine ausreichende Grundversorgung zu konzentrieren. Darüber hinaus sichern Möglichkeiten, eigene Interessen und Beschäftigungswünsche (ggf. in der Freizeit) leben zu können, eine zufriedenstellende



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Lebensführung und Stabilität. Diese überhaupt zu ermitteln und zu strukturieren, ist ein zentrales Element des angeleiteten Stabilisierungsprozesses. Weiterhin sind unterstützende Ressourcen im konkreten Sozialraum auszumachen, die aktiviert werden können: z. B. Familie, Partner_in und Freundeskreis, Gemeindeanbindung bei religiös orientierten Frauen, Anbindung an nachbarschaftliches Engagement, an kulturelle oder politische Betätigungsfelder, an Wohlfahrtsorganisationen, Mütterzentren, Stadtteilkulturzentren, Sportkurse im Stadtteil. Darüber hinaus ist zu prüfen, welche Bedeutung diese Ressourcen für die persönliche Sinnstiftung haben können, denn traumatisierten Klientinnen fehlt es oft an positiver Sinnstiftung. Die Hinwendung zu Quellen positiver Gefühle und Erfahrungen und die Wahrnehmung eigener Stärken und Fähigkeiten führen, wenn dies bewusst reflektiert wird, zu einem veränderten Selbstbild und positiver Selbstwahrnehmung. Elementar für den Beratungsprozess in dieser Situation ist die Vernetzung mit anderen Hilfeangeboten. Die Beraterin allein kommt in diesem Fall an ihre Grenzen. Ambulante Suchtberatungen verfügen überwiegend über eine sogenannte „Komm-Struktur“ und besitzen begrenzte Möglichkeiten, beispielsweise hinsichtlich der Begleitung zu Ämtern, sodass sie langfristige und fachkompetente unterstützende Hilfen aus angrenzenden Arbeitsfeldern benötigen. Es ist auch hierbei eine besondere Herausforderung, den Erfolg einer Vermittlung an eine unterstützende Hilfemaßnahme abzusichern. Entsprechend ist es umso wichtiger, eine gute fallbezogene Vernetzung und Kooperation mit den Angeboten der Suchthilfe, aber ebenso mit angrenzenden Hilfsangeboten, bedienen zu können. Dazu zählen Frauenfachberatungsstellen, die Organisationen der Opferschutzhilfe, die staatlichen psychiatrischen Einrichtungen, Kooperationen mit psychosozialen Fachdiensten sowie Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und der Justiz. Für die Herstellung und Sicherung der äußeren Sicherheit sind insbesondere sozialpädagogische Kompetenzen und ein breites Spektrum an sozialpädagogischen Unterstützungsmaßnahmen erforderlich. Innere Stabilisierung Innere Stabilisierung beinhaltet, grob betrachtet, die Wiederherstellung der Kontrolle über den eigenen Körper und das innere Erleben. Beginnend mit eigener Gesundheitsfürsorge (Schlaf, Bewegung, gute Ernährung, Suchtmittelreduktion etc.), weiter zum Verstehen der Symptome (Intrusion, Dissoziation, Hyperarousal, Somatisierungsstörungen oder Essstörungen) hin zu einem umfassenden Gesundheitsförderungskonzept, das auf Techniken zur Entspannung, Körperwahrnehmung, Ergotherapie o. Ä. ausgerichtet ist. Bei Verletzungsfolgen und



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objektivierbaren Krankheiten ist die Motivierung für eine medizinische Behandlung selbstverständlich. Ein wesentliches Element zur Herstellung und Aufrechterhaltung der inneren Stabilität ist die Psychoedukation. Sie ist in den Standards der Suchtberatung verankert und wird in der Beratung traumatisierter Klientinnen um spezifisches Fachwissen über den Zusammenhang des Gewalterlebens und traumaspezifischer Symptome erweitert. Dabei geht es darum, Dynamiken, Gefühlslagen und für die Klientin nicht erklärbare Phänomene zu erläutern, irritierende Gefühle in den Zusammenhang mit konkreten Erlebnissen zu stellen, Symptome als Folge der Gewalterfahrungen verstehbar zu machen und somit die Kontrollmöglichkeiten der Klientin über ihren eigenen Körper und ihre Psyche stetig zu vergrößern. Viele Klientinnen haben bereits Therapieerfahrungen oder Aufenthalte in Psychiatrien hinter sich und sind teils entmutigt, weil sie noch immer nicht „gesund“ sind (vgl. Wibbe 2008: 171). Insbesondere diesen Frauen kann Psychoedukation neuen Mut machen. Sie ermöglicht es ihnen, zu verstehen, was während eines Traumas in Gehirn und Körper passiert und dass ein Zusammenhang zu ihren aktuellen Körperreaktionen besteht. Sie erfahren z. B., dass der Lähmungszustand während des traumatischen Erlebens zu einer sogenannten Freeze-Reaktion führt, die Schreien oder ähnliche Abwehrreaktion unmöglich macht. Ihnen wird Wissen vermittelt, mit dem sie Dissoziationen, Flashbacks, Hyperarousal einordnen können und sich selbst als „normal“ und nicht „verrückt“ empfinden. Für die Psychoedukation stehen Modelle und Bilder bereit, die Folgen und Begleiterscheinungen einer massiven Gewalterfahrung verdeutlichen. So wird etwa die Erklärung des Phänomens „Trauma“ mit dem Begriff der „Wunde“ assoziiert, Schmerz und Heilung verweisen auf unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten und können den Versuch erleichtern, mit der Klientin eine „persönliche Wundversorgung“ zu erarbeiten. Dabei wird die Eigenkompetenz der Klientin gestärkt. Beides sind wesentliche Faktoren, die zur Stabilisierung beitragen (vgl. ebd.). Wenn komplex traumatisierte Klientinnen auch in den Beratungssitzungen teils mehrfach dissoziieren, ist eine diesbezügliche Aufklärung früh im Beratungsprozess angezeigt, damit sich Beraterin und Klientin auf verschiedene Techniken zur Auflösung der emotionalen Starre und Abwesenheit einigen können. Hier sind Techniken hilfreich, mit denen die Aufmerksamkeit der Klientin wieder auf die Situation und die Beraterin gelenkt werden können. Dies kann eine mehrmalige Ansprache per Namen sein, die Aufforderung, die Füße auf den Boden zu stellen, die Hände auf das Brustbein zu legen und Augenkontakt herzustellen. Weitergehende Konzentrationsübungen, wie das Rückwärtszählen, die



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Aufzählung beispielsweise aller grünen Objekt im Raum o. Ä. können helfen, die Klientin aus der inneren Starre zu befreien. Darüber hinaus hat Bewegung, das Aufstehen und Herumgehen (auch der Beraterin), ebenfalls lösende Effekte. Im Laufe der Beratung können Betroffene mehr und mehr Kontrolltechniken erlernen, um insbesondere im Alltag Überflutungssituationen selbstständig zu regulieren. Von den Hilfsmitteln und Übungen seien hier einige genannt: Notfallkoffer packen3, Körper abklopfen, Igelbälle kneten, Konzentrationsübungen wie die oben erwähnten, oder eine halbe Stunde „Stadt, Land, Fluss“ zu spielen. Aus vielen Möglichkeiten muss die Klientin diejenigen herausfinden, die für sie passen. Dies gilt auch für Imaginationsübungen, wie „der sichere innere Ort“ oder die „Tresorübung“ (vgl. Reddemann 2001 und den Beitrag von Umminger in diesem Band) – sie können, wenn sie häufig geübt werden, zu einer allmählichen Entlastung im Alltag beitragen, da unangenehme Gefühle und Empfindungen dort „eingeschlossen“ werden können. Die Übungen sind besonders hilfreich, weil sie an die emotional-sensorische, nicht-sprachliche Ebene der traumatischen Erfahrung anknüpfen. Wie im gesamten Prozess der Beratung, so ist auch bei der Psychoedukation und beim Erlernen verschiedener Kontrolltechniken die Selbstaktivierung und Selbstwirksamkeit der Klientin in den Vordergrund zu stellen. Denn es geht darum, dass sie auch außerhalb der Beratungssituation nicht von ihren Symptomen kontrolliert wird, sondern diese kontrolliert und damit langfristig ihr Selbstverständnis als Opfer überwindet. Betriebliche Gesundheitsförderung/Psychohygiene Eine betriebliche Gesundheitsförderung, die Psychohygiene, Supervision, Intervision, Fallbesprechungen und Fortbildungen ermöglicht, ist insbesondere in der Arbeit mit süchtigen und komplex traumatisierten Klientinnen aus Gründen der Fürsorge und zum Schutze der Kolleginnen vor Re-Traumatisierungen und Sekundär-Traumatisierungen4 dringend erforderlich.

3

Der „Notfallkoffer“ wird sowohl bezogen auf Sucht als auch Trauma benutzt: Die Klientin sammelt diverse Skills auf einer Liste oder in einem Behältnis, die ihr in akuten Situationen helfen könnten; bspw. Ammoniak-Riechfläschchen, Igelbälle, Fotos, Lieblingsmusik, Entspannungsübungen, Telefonnummern von Freundinnen etc.

4

Unter einer sekundären Traumatisierung werden jene Belastungen zusammengefasst, die speziell in der Zusammenarbeit mit traumatisierten Menschen entstehen können. Demnach können Beraterinnen/Therapeutinnen, ohne direkten Kontakt zum Ausgangstrauma, eine „übertragene“ Traumatisierung durch bloßes Zuhören, Einfühlen



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Besonders bedeutsam sind Fortbildungen und Supervisionen, die ein fundiertes Fachwissen gewährleisten und eigene Unsicherheiten in Bezug auf Übertragungsphänomene und bestimmte Themen und Konfrontationsebenen ermöglichen. Mitarbeiterinnen benötigen darüber hinaus eine Leitung, die über das Obengenannte hinaus für ausreichend Kapazität sorgt, sodass eine adäquate Aufbereitung vor und nach der Beratung von komplex traumatisierten Klientinnen möglich ist und Erholungszeiten eingehalten werden können. Fachkräfte benötigen ebenso wie die Klientinnen ein Grundgefühl der Sicherheit – bezogen auf ihren Arbeitsplatz, ebenso bezogen auf ihr Privatleben. Ein gutes soziales Netzwerk und eine ausgewogene Freizeitgestaltung erleichtern die beruflichen Belastungen und verhindern, dass die damit einhergehenden Gefühle gesundheitsschädigend wirken. Und die zumeist weiblichen Fachkräfte benötigen eine angemessene Bezahlung. Diese ist neben der Bedeutung für die eigene Sinnstiftung und das berufliche Selbstwertgefühl auch für die Bewältigung der Qualifikationsanforderungen entscheidend. Die Gehälter in der Sozialen Arbeit und damit auch in der Suchtberatung sind in den letzten Jahren enorm gesunken. Die Ausbildung, die zum größten Teil selbst finanzierten Zusatzqualifizierungen, der persönliche Einsatz und die gesellschaftliche Bedeutung dieser Arbeit erfahren über das Gehalt eine geringe Wertschätzung. Der Effekt ist sichtbar: Schon heute gehören Sozialpädagog_innen zu der am Arbeitsplatz am meisten gesuchten Berufsgruppe unter den Akademiker_innen.

S CHLUSSBETRACHTUNGEN Es ist deutlich geworden, warum suchtmittelgefährdete und -abhängige Frauen mit der „seelischen Wunde“ Trauma Suchtberatungsstellen aufsuchen. Sie haben zur Bewältigung der Traumafolgesymptome und aufgrund fehlender anderer Hilfe- bzw. Bewältigungsmöglichkeiten Substanzen als „Medikament“ gewählt. Die ambulante Suchtberatung ist in besonderer Weise geeignet, adäquate Angebote für diese Klientel mit der Doppelbelastung durch Sucht und Traumaerfahrungen bereitzustellen, wenn die aufgeführten Voraussetzungen – insbesondere traumaspezifische und genderspezifische Kompetenzen – vorhanden sind. Der relativ niedrigschwellige, voraussetzungslose Zugang, die Möglichkeit

und bildhaftes Vorstellen, entwickeln. Die sekundäre Traumatisierung äußerte sich in Form von Symptomen, die auch bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) auftreten (vgl. Daniels 2006).



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eines individuellen Hilfeprozesses, die sozialpädagogischen Kompetenzen und fallbezogenen Kooperationen sind Grundlagen für die Einleitung ressourcenbasierender Stabilisierungsmaßnahmen, mit denen die äußere und innere Sicherheit dieser Klientinnen gestärkt werden. Damit wird es auch möglich, die Voraussetzungen für weiterführende Behandlungen vorzubereiten. Allerdings ist die Vermittlung in weiterführende Maßnahmen generell schwierig. Insbesondere bei der Vermittlung in eine ambulante psychotherapeutische Traumabehandlung ist mit Wartezeiten von ein bis zwei Jahren zu rechnen. Hinzu kommt, dass niedergelassene Psychotherapeut_innen häufig nicht bereit sind, suchtbelastete Klientinnen zu behandeln, sodass bei nicht abstinenter Lebensführung mit einer generellen Ablehnung gerechnet werden muss. Im Suchthilfesystem ist der Zugang in therapeutische Maßnahmen ebenfalls erschwert, denn zurzeit werden ambulante, teilstationäre oder stationäre Entwöhnungsmaßnahmen von den Kostenträgern (Deutsche Rentenversicherung und Krankenkassen) ausschließlich als sogenannte „Abstinenztherapie“ finanziert. Das heißt, auch hier bedeutet dies, dass eine Weiterbehandlung nur möglich ist, wenn Abstinenz eingehalten wird. Das Kernproblem ist, dass die krankheitsbedingte destruktive Bewältigungsstrategie „Suchtmittelkonsum“ hier aufgegeben werden soll, noch bevor die Krankheit behandelt wird. Diese Anforderung gilt ebenso für suchtmittelabhängige Klientinnen, die nicht traumabelastet sind. Im Unterschied zu ihnen haben komplex traumatisierte Klientinnen aber neben der Sucht mit der Posttraumatischen Belastungsstörung eine weitere schwerwiegende Erkrankung und damit einen zusätzlich erschwerten Zugang zu therapeutischen Hilfemaßnahmen. Neben dem Umstand, dass das Scheitern im System und ihre Unvermittelbarkeit den Klientinnen erneut suggeriert, „nicht richtig“ oder „anders als Andere“ zu sein, stehen auch die Fachkräfte unter hoher Belastung, da adäquate Anschluss- und weiterführende Maßnahmen oft nicht zur Verfügung stehen. Damit Klientinnen mit der Doppelbelastung Trauma und Sucht adäquat versorgt werden können, sind Maßnahmen zu treffen, die eine Spezialisierung, d.h. eine solide Qualifizierung von Berater_innen ermöglicht, die Finanzierung von lang andauernden Hilfeprozessen sicherstellt, entsprechende Gruppenangebote ermöglicht und sozialpädagogische Kompetenzen anerkennt und entsprechend honoriert.



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L ITERATUR Daniels, Judith (2006): Sekundäre Traumatisierung – kritische Prüfung eines Konstruktes. Dissertation, Bielefeld. Online verfügbar unter: https://pub.unibielefeld.de/download/2305651/2305654 [04.08.2015]. Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.) (2009): Gender – Trauma – Sucht. Neues aus Forschung, Diagnostik und Praxis, Kröning: Asanger. Herman, Judith Lewis (2014): Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, 4. Auflage, Paderborn: Junfermann. Körkel, Joachim & Schindler, Christine (2003): Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen – Das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R., Berlin u. a.: Springer. Martens, Marcus-Sebastian & Neumann-Runde, Eike (2015): Suchthilfe in Hamburg. Statusbericht 2014 der Hamburger Basisdatendokumentation in der ambulanten Suchthilfe und der Eingliederungshilfe, BADO e. V., Hamburg: Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung, ZIS. Morgan, Sabine (2007): Wenn das Unfassbare geschieht – vom Umgang mit seelischen Traumatisierungen. Ein Ratgeber für Betroffene, Angehörige und ihr soziales Umfeld, 2. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer. Najavits, Lisa M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörungen und Substanzmissbrauch. Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“, Göttingen: Hogrefe. Petzold, Hilarion/Schay, Peter/Ebert, Wolfgang (Hg.) (2004): Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Reddemann, Louise (2001): Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Stuttgart: KlettCotta. Reddemann, Louise (2009): „Gleichwertigkeit und Würde: Voraussetzung jeder Behandlung in der Suchtkrankenhilfe“, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.), Gender – Trauma – Sucht. Neues aus Forschung, Diagnostik und Praxis, 61-83. Scheffler, Sabine (2009): Trauma und Gender: Kritische Anmerkungen aus der Geschlechterforschung, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Connie Lee (Hg.), Gender – Trauma – Sucht. Neues aus Forschung, Diagnostik und Praxis, 101-113. Wibbe, Ingeborg (2008): „Dann bin ich ja gar nicht so verrückt”, in: Fliß, Claudia & Igney, Claudia (Hg.) (2008), Handbuch Trauma und Dissoziation – In-



300 | E LKE P EINE & A NTJE H OMANN

terdisziplinäre Kooperation für komplex traumatisierte Menschen, Lengerich: Pabst Science Publishers, 169-184. Wolpe, Joseph (1958): Psychotherapy by Reciprocal Inhibition, California: Stanford University Press.





Das Gruppenprogramm „Sicherheit finden“ für Mädchen Beobachtungen in der Präventions- und Beratungseinrichtung Kajal/Frauenperspektiven e. V. S USANNE H ERSCHELMANN

Aus der langjährigen Erfahrung in der Beratung von substanzkonsumierenden jugendlichen Mädchen, von denen viele in der Kindheit oder Jugend verschiedene Formen von Gewalt – besonders häufig sexuelle Gewalt – erlebt hatten, entwickelte sich das große fachliche Interesse an dem theoretischen Zusammenhang von Trauma und Sucht sowie die Notwendigkeit, angemessene Praxisangebote umzusetzen. Der Träger Frauenperspektiven e. V. eröffnete 1993 die Einrichtung Kajal, die sich mit ihrem Suchtpräventions- und Beratungsangebot an Mädchen und junge Frauen im Alter von 12 bis 18 Jahren richtet, die legale oder illegale Suchtmittel konsumieren. Seit 2003 werden auch Mädchen mit Essstörungen beraten. In der Beratungsarbeit von Kajal häufig zu beobachten ist der Zusammenhang zwischen einem Trauma und einer Suchtentwicklung bei Mädchen/Frauen, den Lisa M. Najavits in ihrem Gruppenprogramm „Sicherheit finden“ (Najavits 2009) als Abwärtsspirale bezeichnet: In der Kindheit oder auch im Jugendalter erlebte Gewalt – besonders sexuelle Gewalt, aber auch andere traumatische Erlebnisse – können bei jugendlichen Mädchen/Frauen zu einem problematischen Substanzkonsum beitragen. Entwickeln sie posttraumatische Symptome, werden diese möglicherweise mit psychotropen Substanzen gelindert (Selbstmedikationshypothese). Bei häufigem und riskantem Konsum erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, riskante Situationen einzugehen und erneut Opfer von Gewalt zu werden (High-



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Risk-Hypothese). Die einmal aufgetretenen Symptome aktualisieren und verstärken sich durch die aktuell erfahrene Gewalt und werden wieder mit Suchtmitteln abgemildert. Hat der Einsatz von Suchtmitteln zur Symptommilderung einmal gewirkt, wird häufig wiederholt zu dem Mittel gegriffen: eine Selbstmedikation mit (Sucht-)Folgen. Neben der Selbstmedikation- und High-Risk-Hypothese erklärt eine weitere These den Zusammenhang von Trauma und Sucht: Die Vulnerabilitätshypothese stellt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit fest, nach dem Erleben eines Traumas durch den Konsum von Substanzen eine PTBS zu entwickeln (vgl. Potthast/Catani 2012). Von allen drei Hypothesen gilt die Selbstmedikationshypothese als die am besten belegte (vgl. ebd.). Schäfer/Krausz (2006) weisen auf diese These hin: Substanzen können dazu eingesetzt werden, dissoziationsähnliche Zustände herbeizuführen, belastendes, auf das Trauma bezogene Wiedererleben und die anhaltende Übererregung werden gedämpft, aber auch positive Gefühle können bei eingeschränkter emotionaler Erlebnisfähigkeit gesteigert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass deutlich mehr Mädchen als Jungen in der Folge eines traumatischen Ereignisses eine Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln (vgl. Giaconia et al. 1995). Eine mögliche Erklärung ist, dass bei Mädchen ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko besteht, Opfer von interpersoneller oder sexueller Gewalt zu werden (vgl. Vogt 2010). Immerhin 80 % der Mädchen mit einer PTBS und Sucht berichten, dass sich die Symptome der posttraumatischen Belastung vor oder gleichzeitig mit der Sucht entwickelt haben (vgl. Potthast/Catani 2012). Die Folgen des gemeinsamen Vorliegens einer PTBS und riskantem Substanzkonsum oder sogar einer Suchtstörung sind oft schwerwiegend. Die betroffenen Mädchen und auch Jungen sind in der Regel beim Erstkonsum deutlich jünger und werden früher abhängig. Zudem erhöht sich der Schweregrad der Suchtsymptomatik, z. B. durch multiplen Substanzkonsum (Mischkonsum), gesteigerte Konsumfrequenzen und eine höhere Anzahl konsumierter Substanzen (vgl. ebd.). Ebenso finden sich bei den von Trauma und Suchterkrankung Betroffenen im Gegensatz zu gleichaltrigen Substanzkonsumentinnen, die keine traumatischen Erfahrungen erlebt haben, ein höheres Maß an psychiatrischen Diagnosen und ein höherer Anteil mit Suizidversuchen (vgl. Thomsen 2015). In der Beratung und Behandlung dieser Zielgruppe wird erfahrungsgemäß das Suchtproblem fokussiert, während die Behandlung der Traumasymptome oftmals in den Hintergrund tritt. Das stellt für Mädchen häufig eine hohe Hürde dar, denn der Substanzkonsum hat(te), zumindest subjektiv wahrgenommen, eine mildernde Funktion. Oft brechen daher die jungen Klientinnen Maßnahmen



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ab, wenn eine Symptomverstärkung durch die Reduzierung oder den Entzug von legalen oder illegalen Substanzen erfolgt. „Solange die Patientinnen keine Alternativen zur Verfügung haben, erscheint eine Abstinenz für sie unerreichbar. Viele Betroffene werden daher über lange Strecken nicht angemessen behandelt und sind im schlimmsten Fall überhaupt nicht an das Versorgungssystem angebunden.“ (Thomsen 2015: 5)

Für eine erfolgreiche Beratung und Behandlung der Doppeldiagnose Trauma und Sucht müssen auch Aspekte aus der Genderforschung berücksichtigt werden (vgl. Gahleitner 2008). Besonders für weibliche Jugendliche, die sich durch eine verstärkte Polarisierung der Geschlechter in der Pubertät häufig sehr an vorgegebenen Frauenbildern orientieren1, ist es hilfreich, sich aus Rollenfixierungen zu lösen, Wut und Rachegefühle zuzulassen und das bei manchen Mädchen vorhandene Selbstbild als „schwaches“ Geschlecht zu hinterfragen.2 Die in dem Selbstbild integrierte „Schwäche“, Gefühle von Wehrlosigkeit und hilflos Ausgeliefertsein, oft auch ausgelöst durch die schon erfahrene Gewalt, verstärken die Bedrohung, wieder Opfer zu werden (vgl. ebd.).3 Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Opferstatus von Mädchen immer noch häufig durch mangelnde Unterstützung des Umfeldes, z. B. durch Leugnung der Tat oder Abwertung des Verhaltens der Mädchen, aufrechterhalten wird. Betroffene Mädchen bekommen oft nur über eine verstärkte Symptomentwicklung Aufmerksamkeit. Deshalb ist es wichtig für Mädchen, einen Ort zu haben, an dem sie davon ausgehen können, ernst genommen zu werden und Unterstützung zu erhalten. Dieser Aspekt ist ein zentraler konzeptioneller Bestandteil der Einrichtung Kajal. In der Arbeit mit traumatisierten, konsumierenden oder essgestörten Mäd-

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Selten berücksichtigt wird, dass mit der Pubertät qualitative Veränderungen eintreten und eine eigene Dynamik dieses Prozesses der Gestaltung der Geschlechtsidentität in Gang gesetzt wird. Es kommt zu einer starken Polarisierung der Geschlechter (vgl. BZgA 1998: 44ff.).

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Viele Mädchen identifizieren sich heute weniger mit der Zuordnung „schwach“. Sie sehen ihr Geschlecht Frau als stark und gleichberechtigt an. Falls doch einmal Widersprüche entstehen, werden Suchtmittel, z. B. auch das „Rauschtrinken“, genutzt, um „Stärke“ zu demonstrieren (vgl. Haag 2007).

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Das sexuelle Trauma fixiert Frauen in der nahegelegten Rolle als Sexualobjekt und Opfer (vgl. Gahleitner 2008: 55).



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chen4 kommt der Unterstützung in der Stabilisierungsphase eine besondere Bedeutung zu. Unter anderem beinhaltet dies: • • • • •

wenn möglich, Täterkontakt zu verhindern, lernen, für Sicherheit zu sorgen und dafür Verantwortung zu übernehmen, Selbstwirksamkeit zu üben, Beziehungsgestaltung zu lernen, Grenzen aktiv zu setzen, auch aggressive Gefühle zuzulassen und sich mit der eigenen Wut auseinanderzusetzen.

Das Gruppenprogramm „Sicherheit finden“ (engl. „Seeking Safety“) für jugendliche Mädchen und junge Frauen im Alter von 14 bis 19 Jahren passt daher gut zu dem Ansatz und der Arbeit der Einrichtung. Dieses Therapieprogramm, das von Lisa Najavits 2002 entwickelt wurde (Najavits 2009), integriert zentrale Themen und stellt den Zusammenhang von Traumatisierung und Suchtentwicklung heraus. Ein wesentlicher Schwerpunkt dieses Programms bezieht sich auf stabilisierende Interventionen und den Aufbau sicherer Bewältigungsstrategien für die Betroffenen. Das Programm kann in der Gruppenarbeit und in der Einzelberatung genutzt werden und liegt als umfassendes Manual vor. In einem Zeitraum von zwei Jahren, von Januar 2013 bis Mai 2015, konnte es im Zusammenhang mit einer Pilotstudie bei Kajal/Frauenperspektiven e. V. angeboten werden. Voraussetzung zur Teilnahme war, dass die Mädchen/jungen Frauen einen riskanten Substanzkonsum aufwiesen und die Diagnosekriterien einer PTBS erfüllten. Die Pilotstudie zu diesem Gruppenangebot wurde vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) durchgeführt.5 Neben der Einrichtung Kajal wurde das Gruppenprogramm an einem zweiten Standort, der „Ambulanz für seelisch erkrankte Kinder und Jugendliche“ (Universitätsklinikum Eppendorf) durchgeführt.6 Aus den 25 Sitzungen des Manuals wurden 12 Sitzungen für die Zielgruppe der weiblichen Jugendlichen ausgewählt. Neben Sitzungen, die spezifisch die Traumafolgestörung und Sucht fokussieren und hilfreiche Informationen und Techniken der Stabilisierung und Suchtbewältigung vermitteln, wie die Sitzungen „Sicherheit“ (1), „PTBS“ (2), „Wenn Substanzen dich beherrschen“ (4),

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Kajal berät auch essgestörte Mädchen, für die Entsprechendes gilt, falls sie die Kriterien einer PTBS erfüllen.

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Ohne diese gute Begleitung und den fachlichen Rat wäre vieles deutlich schwieriger gewesen. Ein Dankeschön an Andrea Haevelmann und Dr. Monika Thomsen!

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Die Forschungsergebnisse hierzu sind noch nicht veröffentlicht.

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„Erdungstechniken“ (3)7, „Heilung von Wut“ (11), „Die innere Spaltung überwinden“ (12) und die Sitzung „Umgang mit Auslösern“ (10), wurden auch Sitzungen ausgewählt, die inhaltlich die Gestaltung von Beziehungen in den Mittelpunkt rücken. Auf dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen ergeben sich viele Schwierigkeiten in der Gestaltung von Beziehungen: Der Umgang mit Konflikten, das Einstehen für eigene Bedürfnisse, das Nein sagen und Grenzen setzen, das Ja sagen zu einer Beziehung und Nähe zulassen, sind nur einige Lernfelder, die auch unabhängig von einer Traumatisierung weibliche Jugendliche in der Pubertät stark beschäftigen. Zu diesem Themenkomplex zählten die Sitzungen „Um Hilfe bitten“ (5), „Gesunde Beziehungen“ (9) und „Grenzen setzen in Beziehungen“ (7). Mit zwei Sitzungen, die den Schwerpunkt auf Ressourcenaktivierung legen, sollten die oft negativen Selbstbilder der Mädchen und fehlendes stärkendes Potenzial in den Blick genommen werden. Diese Sitzungen werden von Najavits „Gut für sich sorgen“ (6) und „Sich eine Freude machen“ (8) genannt. In der Phase der Pilotstudie handelte es sich in der Einrichtung Kajal um ein offenes Angebot; der Einstieg in die Gruppe war jederzeit möglich, da die einzelnen Sitzungen in sich abgeschlossen waren. Ein niedrigschwelliger Zugang zu der Gruppe stand im Vordergrund, der es möglichst vielen Mädchen/jungen Frauen mit PTBS und Substanzstörungen ermöglichen sollte, das Angebot wahrzunehmen. Jede Sitzung umfasste 90 Minuten und die Sitzungen fanden wöchentlich statt. Najavits (2009) formuliert folgende Ziele des Gruppenprogramms: • Umgang mit Symptomen des Traumas lernen (z. B. Kontrolltechniken, Distan• • • • •

zierung), Reduzierung des Substanzkonsums, gut Sorge für sich selbst tragen, verlässliche Personen finden, die unterstützen, selbstschädigende Handlungen verhindern, Wege finden, sich gut zu fühlen und das Leben zu genießen.

Die Arbeit mit weiblichen Jugendlichen mit der Doppeldiagnose „PTBS und Sucht“ – zu einem großen Teil waren die Teilnehmerinnen zwischen 16 und 18 Jahre alt – erforderte viel Geduld vonseiten der Beraterinnen. Durch die starke Belastung dieser Zielgruppe mussten häufig weiterführende Maßnahmen wie z. B. Entzug oder eine stationäre Therapie vorgezogen werden. Außerdem ge-

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Im deutschsprachigen Raum Distanzierungstechniken.

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lang es vielen dieser stark belasteten Mädchen/jungen Frauen nicht, im ambulanten Setting kontinuierlich an der Gruppe teilzunehmen. Eine intensive Beziehungsarbeit war notwendig und musste im gesamten Gruppenprozess aufrechterhalten bleiben. Die Beraterinnen benötigten daher ein hohes Kontingent an Stunden, sowohl für die Vorgespräche als auch für die die Gruppe begleitenden Beratungsgespräche, falls die Mädchen nicht schon in ambulanter Therapie waren. Das Stabilisierungsprogramm eignet sich auch für eine Beratungsstelle, kann einer weiterführenden therapeutischen Behandlung vorausgehen oder sie ergänzen. Obwohl das Programm für Erwachsene entwickelt wurde und eine Jugendversion noch nicht zur Verfügung stand, bewirkte das Programm viele positive Effekte: Das Erlebte und die PTBS-Symptome werden mit den anderen Teilnehmerinnen geteilt. Die Symptome sind Reaktionen, die auch andere Teilnehmerinnen kennen, das wirkt erleichternd. Starke Scham- und Schuldgefühle, die oft die Teilnahme an weiterführenden, therapeutischen Behandlungen verhindern, verringern sich. Die behutsame Herangehensweise des Programms an die belastenden Themen ermöglicht es, diese zu besprechen, ohne dass eine Symptomverstärkung eintritt. Viele Basisstrategien im Umgang mit Traumatisierten werden eingehalten, so müssen z. B. einzelne traumatische Ereignisse nicht im Detail geschildert werden. Die klare Struktur der Sitzungen vermittelt Sicherheit. Der Zusammenhang von Traumatisierung und Substanzmissbrauch wird verständlich, sodass die Teilnehmenden ihre individuelle Geschichte, ihren individuellen Umgang mit Substanzen auch als Reaktion auf ein oder mehrere sehr belastende traumatische Ereignisse gut erkennen können. Die Teilnehmerinnen lernen, sichere von unsicheren Bewältigungsstrategien oder sichere von unsicheren Personen zu unterscheiden. Hier lernen sie auch von den anderen Teilnehmerinnen hilfreiche Bewältigungsstrategien. Mit kleinen Übungen versuchen die Teilnehmerinnen das Gelernte in ihrem Alltag umzusetzen: Das stärkt in einem hohen Maß die Eigenverantwortung und die Selbstwirksamkeit. Der Fokus auf die übenden Elemente, die die Mädchen und jungen Frauen aktiv beteiligt und ihnen ermöglicht für Sicherheit in ihrem Leben zu sorgen, verändert auch die oft zu beobachtende negative Haltung der Mädchen „Ich schaffe es nicht, ich habe keine Chance“. Hier lernen sie auch von den anderen Teilnehmerinnen hilfreiche Bewältigungsstrategien. Als Einrichtung, die mit einer sehr jungen Zielgruppe arbeitet, ist mit dieser Arbeit auch der Gedanke verbunden: Je früher der Zusammenhang von Suchtmittelkonsum und Traumatisierung bearbeitet werden kann, desto mehr Chancen



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bestehen, diese Mädchen vor weiterem riskanten Konsum legaler oder illegaler Substanzen und der Entwicklung einer manifesten Sucht zu schützen.

L ITERATUR Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (1998): „Geschlechterbezogene Suchtprävention. Praxisansätze. Theorieentwicklung. Definitionen. Abschlussbericht eines Forschungsprojekts über Praxisansätze und Theorieentwicklung der geschlechterbezogenen Suchtprävention in der Jugendphase“, in: Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung 2, 44-49. Gahleitner, Silke Birgitta (2008): „Sexuelle Gewalterfahrungen und ihre Bewältigung von Frauen: Salutogenetische Perspektiven“, in: Gahleitner, Silke Birgitta & Gunderson, Conny Lee (Hg.), Frauen – Trauma – Sucht. Neue Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen, Kröning: Asanger, 45-64. Giaconia Rose M./Reinherz, Helen Z./Silverman, Amy B. et al. (1995): „Traumas and posttraumatic stress disorder in a community population of older adolescents”, in: Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 34, 10, 1369-1380. Haag, Maren (2007): Binge Drinking als soziale Inszenierung. Zur geschlechtlichen Bedeutung exzessiven Alkoholkonsums, Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen. Najavits, Lisa M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörungen und Substanzmissbrauch. Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“, Göttingen: Hogrefe. Potthast, Nadine & Catani, Claudia (2012): „Trauma und Sucht. Implikationen für die Psychotherapie“, in: Sucht 5, 227-235. Schäfer, Ingo & Krausz, Michael (Hg.) (2006): Trauma und Sucht. Konzepte – Diagnostik – Behandlung, Stuttgart: Klett-Cotta. Thomsen, Monika (2015): „Doppelte Not: Mädchen zwischen Trauma und Sucht“, in: Zeitung für Suchtprävention 42, 4-6. Vogt, Irmgard (2010): „Probleme mit und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen. Psychotherapeutische Behandlungen und spezifische Behandlungsansätze für Mädchen und Frauen“, in: Suchttherapie 11, 4, 173-178.





Erfahrungen aus der Mädchensuchtarbeit A NTJE L IND

D AS A NGEBOT C ATCH

UP

:)

VON

F RAU S UCHT Z UKUNFT

FrauSuchtZukunft e. V. bietet seit 1982 Mädchen und Frauen individuelle Unterstützung bei der Entscheidung für ein selbstbestimmtes Leben und bei der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Mitarbeiterinnen in den verschiedenen Einrichtungen und Projekten des Trägervereins begleiten Frauen mit unterschiedlichsten Süchten und arbeiten mit Frauen in allen Phasen ihrer Sucht – suchtbegleitend, ausstiegsorientiert oder Abstinenz stabilisierend. Heute ist FrauSuchtZukunft e. V. einer der zentralen Träger der Frauensuchtarbeit in Berlin und bundesweit. Vor einigen Jahren wurde im Rahmen der Beratungsarbeit mit erwachsenen Frauen bereits die zunehmende Nachfrage an Beratungs- und Therapieangeboten für suchtgefährdete bzw. suchtmittelabhängige Mädchen und junge Frauen deutlich. Hierfür standen im Großraum Berlin keine geeigneten Versorgungsangebote zur Verfügung. Bereits im Herbst 2003 führte FrauSuchtZukunft eine Bedarfsanalyse durch, in deren Rahmen Mädchenfreizeiteinrichtungen, Jugendwohnprojekte, Kriseneinrichtungen sowie Einrichtungen, die bereits mit süchtigen Jugendlichen arbeiten (Entzugsstationen, stationäre Einrichtungen etc.), befragt wurden. Das Angebot einer ambulanten Suchttherapie für Mädchen und junge Frauen wurde dabei von allen Einrichtungen als dringend notwendig erachtet und befürwortet. 2008 wurde der Trägervertrag mit der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung abgeschlossen und Catch up : ) ins Leben gerufen. Der Trägervertrag erlaubt die Durchführung ambulanter Psychotherapie für Kinder und Jugendliche nach §§ 27, 35a SGB VIII. Im Jahr 2014 wurde der Trägerver-



310 | A NTJE L IND

trag mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft erneuert. Somit ist die Finanzierung der Therapie über das zuständige Jugendamt möglich. Catch up : ) richtet sich an Mädchen und junge Frauen ab dem 12. Lebensjahr, die suchtgefährdet oder süchtig sind und/oder bei denen infolge eines ausgeprägten Suchtmittelkonsums Störungen in ihrer psychosozialen, psychischen, emotionalen und kognitiven Entwicklung vorliegen. Dies betrifft besonders: • • • • • • • • • • •

starke Suchtgefährdung bzw. bereits manifeste Suchtmittelabhängigkeit, komorbide Störungen, selbstgefährdendes/selbstverletzendes Verhalten, Verlust bisheriger sozialer Bezüge (Kontaktabbruch zur Familie, Fremdunterbringung etc.), zunehmende Delinquenz, Vernachlässigung/Abbruch von Schul- oder Berufsausbildung, gesundheitliche Vernachlässigung, sexuelle, physische und/oder psychische Gewalterfahrungen, Prostitution, Verschuldung, Wohnungslosigkeit, „Trebe“.

Mädchen und junge Frauen benötigen geschützte Räume, um Gewalterfahrungen zu verarbeiten, eigene Wege aus der Sucht zu finden, Verhaltensmuster, die sie verändern wollen zu erkennen und um neue Lebenswürfe zu entwickeln. Besonders junge Klientinnen mit einer Suchtproblematik weisen häufig komorbide Störungen auf, die der Suchtentwicklung zugrunde liegen und diese begünstigen. Gleichzeitig behindert der Suchtmittelkonsum die Behandlung der komorbiden Störungen und hat einen erheblichen Anteil an deren Aufrechterhaltung und Chronifizierung. In der praktischen therapeutischen Arbeit stellen rezidivierende depressive Störungen, Essstörungen, Angststörungen, hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens die häufigsten Begleiterkrankungen dar (vgl. Döpfner et al. 2000). Das Zusammenspiel dieser Störungen mit anhaltendem Suchtmittelkonsum führt – besonders in der Pubertät und den damit einhergehenden Entwicklungsaufgaben – zu einer gravierenden Destabilisierung, die oftmals durch familiäre und schulische Probleme zusätzlich verstärkt wird. Der Suchtmittelkonsum wiederum verstärkt in der Regel die bereits bestehenden Schwierigkeiten in Schule und Familie: Die schulischen Leistungen verschlechtern sich deutlich, es entstehen viele unentschuldigte Fehltage und der Schulabschluss ist gefährdet. Im schlimmsten Fall verlassen die Mädchen und jungen Frauen ohne Abschluss die Schule. Auch in den Familien spitzen sich die



E RFAHRUNGEN AUS DER M ÄDCHENSUCHTARBEIT

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Konflikte und Auseinandersetzungen zu; es findet kaum noch Kommunikation im positiven Sinne statt, die Atmosphäre ist angespannt. Gleichzeitig erleben die Eltern ein hohes Maß an Hilflosigkeit, Wut, Schuld- und Versagensgefühlen. Die Mädchen wiederum fühlen sich permanent missverstanden. Beiden Seiten gelingt es häufig nicht, diese Spirale allein zu durchbrechen. Oftmals eskaliert die Situation, bis es zum Kontaktabbruch mit der Familie und einer Unterbringung in Einrichtungen kommt. Diese Eskalation der Lebenssituation führt bei den betroffenen Mädchen und jungen Frauen zu Instabilität und Verschlechterung, was wiederum eine Fortsetzung oder Steigerung des Suchtmittelkonsums bedingen kann, um diese widrige Lebenssituation überhaupt auszuhalten. Fallbeispiel: Anna, 16 Jahre Anna wuchs mit ihrer Mutter und der älteren Schwester in Berlin auf. Die Mutter trennte sich kurz nach der Geburt von Annas Vater, sodass sie keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte – seit mehr als zwei Jahren bestand zu ihm gar kein Kontakt mehr. Die Mutter heiratete erneut und bekam noch ein weiteres Kind – Annas jüngeren Bruder. Anna hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Stiefvater. Ihre Kindheit war jedoch von zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und dem Stiefvater geprägt, eine Trennung war immer wieder Thema, wurde jedoch nicht vollzogen. Anna befand sich in einem Loyalitätskonflikt („Ich sitze zwischen den Stühlen“). Sie beschrieb ihre Mutter als instabil, sprunghaft und in ihrem Verhalten häufig unberechenbar: So „flüchtete“ die Mutter mehrfach für einige Tage und ließ die Kinder zurück, ohne ihnen mitzuteilen, wann sie wiederkommt. Die Versorgung überließ sie dem berufstätigen Stiefvater und den Kindern selbst. In dieser konflikthaften Zeit begann Annas ältere Schwester, Drogen zu konsumieren und sich immer weniger zu Hause aufzuhalten. Anna selbst fühlte sich häufig alleingelassen, war hilflos und wütend auf ihre Mutter. Gleichzeitig sah sie sich in der Verantwortung, den jüngeren Bruder zu versorgen und ihn vor den Streitereien der Eltern zu schützen sowie zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln. Diese anhaltende, belastende Situation überforderte Anna derart, dass sie sich ihrer Schwester und deren Freundeskreis anschloss und ebenfalls anfing, Drogen zu konsumieren. Zunächst trank sie Alkohol – bereits dieser erste Alkoholkonsum im Alter von 11 Jahren endete im Vollrausch. Zu dieser Zeit litt sie bereits unter Schlafstörungen, massiven Stimmungseinbrüchen, Suizidgedanken, Interessen- und Antriebslosigkeit, Versagensgefühlen, Grübeleien und selbstverletzendem Verhalten. Anna betrank sich immer häufiger, bis schließlich im Alter von 12 Jahren der erste Krankenhausaufenthalt aufgrund einer Alkoholvergiftung erfolgte. Mithilfe des Jugendamtes wurden Anna und ihre ältere Schwester schließlich in einer Kriseneinrichtung untergebracht. Dort kam Anna im Alter von 12 Jahren mit Cannabis in Kontakt. Bereits nach zwei Monaten konsumierte sie mehrmals täglich. In der Schule schwänzte sie immer häufiger den Unterricht und ihre Leistungen brachen ein. In den folgenden zwei Jahren kon-



312 | A NTJE L IND sumierte Anna außerdem Kokain, Tilidin, Heroin, Ecstasy, Speed und LSD – die Schule besuchte sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr. In dieser Zeit lebte sie in verschiedenen Einrichtungen oder übernachtete bei Freund_innen. Der Konsum einer Überdosis Heroin in suizidaler Absicht im Alter von 14 Jahren führte schließlich zur Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wurde eine stationäre Suchttherapie für Anna in die Wege geleitet. Diese Therapie betrachtete Anna als sehr hilfreich und positiv, sie brach sie dennoch nach mehreren Monaten ab. Das Gefühl, zu Hause „nach dem Rechten sehen“ zu müssen – Konflikte zwischen Mutter und Stiefvater hatten sich wieder zugespitzt und wurden über die Mutter an Anna herangetragen – war für Anna so stark geworden, dass sie sich nicht mehr auf die Therapie konzentrieren konnte. Nachdem Anna wieder bei ihrer Familie eingezogen war, kam sie zu Catch up : ) mit dem Wunsch, weiter eine suchtspezifische Therapie machen zu wollen. Sie war seit dem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie abstinent. Als Ziele benannte Anna, dass sie weiterhin clean bleiben, wieder eine Schule besuchen und einen Schulabschluss machen wolle. Außerdem habe sie Angst, dem Familienumfeld nicht gewachsen zu sein, in alte Verhaltensmuster (z. B. übermäßige Verantwortungsübernahme) zurückzufallen und darüber auch wieder rückfällig zu werden. Anna kam ca. eineinhalb Jahre kontinuierlich zur Therapie. In dieser Zeit ging sie wieder regelmäßig zur Schule und bereitete sich auf ihren Schulabschluss vor. Die eskalierenden Konflikte mit der Mutter führten schließlich dazu, dass Anna auf eigenen Wunsch in Absprache mit dem Jugendamt in eine Mädchen-WG zog.

B ESONDERHEITEN

IN DER THERAPEUTISCHEN A RBEIT MIT SÜCHTIGEN ODER SUCHTGEFÄHRDETEN M ÄDCHEN UND JUNGEN

F RAUEN

Von therapeutischer Seite gilt es zunächst, die besondere Lebenssituation und Entwicklungsphase der Mädchen und jungen Frauen zu berücksichtigen. Die Adoleszenz ist allgemein gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Entwicklungsaufgaben, die sowohl Fortführungen von Entwicklungsaufgaben der Kindheit sind als auch der Beginn neuer Anforderungen, die sich bis in das Erwachsenenalter hinein erstrecken (vgl. Siegler/DeLoache 2005). „Nicht mehr Kind“ aber auch „noch nicht erwachsen“ zu sein, beschreibt treffend diesen besonderen Lebensabschnitt. Die Mädchen und jungen Frauen müssen sich mit den Veränderungen des eigenen Körpers, den gesellschaftlichen Rollen und Normen sowie Idealen, die u. a. auch in den Medien vermittelt werden, auseinandersetzen und ihre eigene Identität entwickeln. Eltern, Gesellschaft und Schule fordern die jungen Frauen, einen Abschluss zu erlangen und sich über ihr zukünftiges Berufsleben klar zu werden. Sie probieren sich in Beziehungen aus, sammeln sexuelle



E RFAHRUNGEN AUS DER M ÄDCHENSUCHTARBEIT

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Erfahrungen (vgl. Oerter/Montada 2008). Sie fühlen sich stark und angenommen in der Peergruppe, aber auch allein und verlassen unter Erwachsenen. Sie wollen und müssen sich erfolgreich von den Eltern ablösen und selbstständig werden. Sie gestalten ihre Beziehungen zu anderen zunehmend aktiv und selbstverantwortlich, was jedoch auch das Umgehen mit Konflikten und Aushandeln von Kompromissen beinhaltet. Auch die emotionale Weiterentwicklung im Sinne einer Reflexion, Einordnung und des Umgangs mit Gefühlen sowie deren Kontrolle steht bei den Mädchen und jungen Frauen in dieser Entwicklungsphase an. Häufig fehlen hier – insbesondere bei Kindern aus Suchtfamilien – positive erwachsene Vorbilder, an denen sich die Jugendlichen orientieren und sich Strategien „abschauen“ können (vgl. Hurrelmann 2009). Diese Vielzahl von Entwicklungsaufgaben, mit denen sich die Mädchen und jungen Frauen in wenigen Jahren auseinanderzusetzen haben und diese bestenfalls erfolgreich bewältigen, führt unweigerlich zu Instabilität und Unsicherheit – ein völlig normaler Prozess. Sind die Mädchen und jungen Frauen jedoch zusätzlich durch schwierige familiäre Verhältnisse, traumatische Erfahrungen, psychische (Vor-)Erkrankungen, ein geringes Maß an sozialer und emotionaler Unterstützung, Schwierigkeiten in Schule und/oder mit Gleichaltrigen, Suchtmittelkonsum usw. belastet, erscheinen die Entwicklungsaufgaben kaum bewältigbar. Im Gegensatz zu den ganz jungen Frauen verfügen erwachsene Klientinnen oftmals über mehr Ressourcen, Strategien und Erfahrungen – auch im Umgang mit widrigen Lebensumständen. Die Entwicklungsaufgaben erstrecken sich bei den erwachsenen bzw. älteren Frauen über deutlich größere Zeitspannen und sie können häufiger an bisherige positive Erfahrungen anknüpfen. Therapeutische Angebote für Mädchen und junge Frauen müssen daher einen geschützten Raum für Entwicklung geben, in dem sie sich ausprobieren können. Gleichzeitig bedarf es von therapeutischer Seite eines klaren Beziehungsangebots, das sowohl Orientierung und Struktur bietet als auch Offenheit, Respekt und Wertschätzung gegenüber den Lebensentwürfen der Mädchen und jungen Frauen. Herausforderungen an das therapeutische Setting Der bereits beschriebenen Instabilität muss im Rahmen der suchttherapeutischen Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen Rechnung getragen werden. Sie ist – wie bereits erläutert – bedingt durch psychische Begleit- bzw. Ersterkrankungen, schwierige Entwicklungsphasen und -krisen, Traumata und Probleme in den Bereichen Familie, Freundeskreis, Beziehungen, Schule, Sexualität und Identitätsbildung.



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Diese ausgeprägte Instabilität macht es für die jungen Klientinnen außerdem schwierig, Abstinenzanforderungen, wie sie beispielsweise im Rahmen der ambulanten Sucht-Rehabilitation gestellt werden, zu erfüllen. Rückfälle kommen – trotz Abstinenzmotivation – häufig vor, da der Konsum von Suchtmitteln oftmals das alleinige Mittel zum Umgang mit der problematischen Lebenssituation ist. Die Mädchen und jungen Frauen sind häufig auf sich allein gestellt und erhalten in ihrem Umfeld nur wenig soziale Unterstützung und Stabilität. Hier benötigen Mädchen und junge Frauen eigentlich ein Therapiesetting, dass die Abstinenz nicht zur Voraussetzung der Therapie macht, sondern das Ziel eines ersten therapeutischen Prozesses darstellt, der dann – bei Erreichen der Abstinenz – fortgeführt und vertieft werden kann. Darüber hinaus stellt die Sucht bzw. die Suchtentwicklung nur eines von vielen Themen bei Mädchen und jungen Frauen dar; für sie selbst stehen sogar vornehmlich andere Problembereiche (familiäre Konflikte, Beziehungen zu Gleichaltrigen, sexuelle Erfahrungen, Schwierigkeiten in der Schule etc.) im Vordergrund. Hier gilt es, die Mädchen und jungen Frauen für ihren Suchtmittelkonsum zu sensibilisieren und gemeinsam mit ihnen ein Problembewusstsein zu entwickeln, das den Suchtmittelkonsum sowie andere Problembereiche in einen Zusammenhang bringt und Wechselwirkungen aufzeigt. Während die ambulante Suchttherapie bei den erwachsenen Frauen sowohl Gruppen- als auch Einzeltherapie zu etwa gleichen Teilen umfasst, zeigen die Erfahrungen, dass Mädchen und junge Frauen in stärkerem Maß ein einzeltherapeutisches Setting benötigen. Die ambulante Psychotherapie für Kinder und Jugendliche nach §§ 27, 35a SGB VIII wird diesem Umstand durch das Gewährleisten entsprechender Einzelsitzungen gerecht. Für Mädchen und junge Frauen ist die therapeutische Beziehung und Anbindung von besonderer Bedeutung: Sie bietet bestenfalls Wertschätzung, Ermutigung und Akzeptanz, aber auch Struktur und Begrenzung. Junge Klientinnen profitieren jedoch auch von einem Gruppensetting, das es ihnen ermöglicht, sich mit anderen auszutauschen. In der Praxis stellte sich die Etablierung einer Gruppe für Mädchen und junge Frauen bei Catch up : ) jedoch immer wieder als schwierig dar, da sich die jungen Klientinnen durch ein höheres Maß an Unverbindlichkeit der Gruppe gegenüber auszeichneten und mit diesem zusätzlichen Termin – neben den Anforderungen von Schule, Familie, Einrichtung etc. – oftmals überfordert schienen. Wenn eine Gruppe zustande kam, arbeiteten sie jedoch intensiv mit und zeigten einen sehr offenen und ehrlichen Umgang miteinander. Als besondere Schwierigkeit bei der therapeutischen Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen erweisen sicher immer wieder langwierige, d.h. mehrmonatige Antragsverfahren. Der Weg zur Beantragung einer ambulanten Psychothera-



E RFAHRUNGEN AUS DER M ÄDCHENSUCHTARBEIT

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pie für Kinder und Jugendliche nach §§ 27, 35a SGB VIII beinhaltet die Beteiligung mehrerer Stellen (Jugendamt, Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst, evtl. Betreuer_innen, Beratungsstelle etc.) sowie die Mitarbeit der bzw. des Sorgeberechtigten bei minderjährigen Klientinnen. Die verschiedenen Stellen zu koordinieren und gut zusammenzuarbeiten bedarf eines hohen zeitlichen Aufwands. Darüber hinaus verzögern sich auf Behördenseite erfahrungsgemäß häufig Bearbeitungszeiten. Bis zum Vorliegen einer Kostenübernahme können mehr als sechs Monate vergehen – für die betroffenen Mädchen und jungen Frauen eine unzumutbare Situation. Von therapeutischer Seite ist es oftmals schwierig, die Motivation der Mädchen und jungen Frauen über einen so langen Zeitraum aufrechtzuerhalten; es kann zu Abbrüchen kommen, da der Beginn der Therapie für die Betroffenen „in weiter Ferne“ liegt und für sie selbst das Antragsprozedere kaum nachvollziehbar ist. Hier wäre eine raschere Prüfung und ggf. Bewilligung der ambulanten Psychotherapie wichtig, um nicht weiter kostbare Zeit verstreichen zu lassen, die wiederum zu einer Verschlechterung der Lebenssituation und der Gesundheit der Mädchen und jungen Frauen führt. Besonders bei jungen Frauen stellt nicht das Alter (z. B. die Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr) das entscheidende Kriterium dar, das darüber entscheidet, ob im Rahmen der therapeutischen Arbeit ein eher jugendspezifisches Vorgehen gewählt werden sollte oder eine Zuordnung zu Angeboten für erwachsene Frauen. Vielmehr gilt es hier, den Entwicklungsstand der Klientin und ihre spezifische Lebenssituation mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben dem therapeutischen Vorgehen zugrunde zu legen. Auch junge Frauen Anfang 20 fühlen sich oftmals in „Erwachsenengruppen“ fehl am Platz, da sie meist andere Themen haben (beispielsweise Angst, den Schulbesuch wieder aufzunehmen und einen Schulabschluss zu machen). Auch für die Beraterinnen und Therapeutinnen bedeutet das Arbeiten mit Mädchen und jungen Frauen, sich des mädchen- bzw. frauenspezifischen Blicks stets bewusst zu sein und dies in der therapeutischen Arbeit zu berücksichtigen. Gleiches gilt für die regelmäßig stattfindende Supervision, die ebenfalls der frauenspezifischen Perspektive im Hinblick auf die Sozialisation, die Lebenssituation und die Suchtgeschichte der betroffenen Mädchen und jungen Frauen im Beratungs- und Therapieprozess gerecht werden muss. Vernetzung Die Suchtarbeit mit Mädchen und jungen Frauen macht die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und Projekten – sowohl trägerintern als auch trägerübergreifend – dringend erforderlich. Trägerintern hat sich eine enge Zusammenar-



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beit mit den Beratungs- und Behandlungsstellen für (erwachsene) süchtige Frauen als sinnvoll erwiesen. So kann eine bessere Versorgung durch ein gemeinsames Angebot für Mädchen und junge Frauen und den fachlichen Austausch geschaffen werden. Durch Frühinterventionsangebote (z. B. Realize It1) der Drogenberatung Frauenladen werden bereits riskant konsumierende Klientinnen erreicht. Und auch hier zeigt sich, dass bereits vorhandene Konzepte der Frühintervention dringend an die Bedarfe von jungen Frauen und Mädchen angepasst werden müssen. Da das Alter nicht immer als Kriterium einer Zuweisung „Jugendliche – Erwachsene“ herangezogen werden kann, ermöglichen fließende Übergänge zwischen den Angeboten ein Eingehen auf die besonderen Gegebenheiten der jungen Klientinnen. Darüber hinaus ist auch die verbindliche Kooperation mit externen Einrichtungen und Projekten unerlässlich, da die Mädchen und jungen Frauen häufig auf Hilfe und Unterstützung unterschiedlicher Fachrichtungen angewiesen sind (Betreute Mädchen-WGs, andere Angebote der Jugendhilfe). Darüber hinaus müssen Angebote zur Verfügung stehen, die längere Beratungsprozesse und die Begleitung von Mädchen und jungen Frauen möglich machen, ebenso wie entsprechende Angebote in Kliniken und Krankenhäusern (z. B. Entgiftungsplätze). Positiv ist hier in Bezug auf das Angebot in Berlin anzumerken, dass bezirkliche Beratungsstellen zunehmend Beratungsangebote für Jugendliche und junge Erwachsene vorhalten bzw. diese ausbauen (in der Regel sind diese Angebote jedoch nicht geschlechtersensibel ausgerichtet). Eine besondere Schwierigkeit liegt in der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Suchthilfe. Hier sind die Übergänge bisher nicht hinreichend konkret definiert und Zuständigkeiten oftmals ungeklärt. Diese Unklarheiten gehen meist zulasten der jungen Klientinnen, da wertvolle Zeit vergeht, bis Zuständigkeiten – besonders bezüglich einer Kostenübernahme – geklärt sind. In Berlin finden daher regelmäßig Gremien und Arbeitskreise statt, im Rahmen derer die Beteiligten unterschiedlicher Professionen, Kostenträger und Einrichtungen zusammenkommen, um die Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Suchthilfe dauerhaft zu verbessern.

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www.realize-it.org

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L ITERATUR Döpfner, Manfred/Frölich, Jan/Lehmkuhl, Gerd (2000): Hyperkinetische Störungen. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Göttingen: Hogrefe. Hurrelmann, Klaus (2009): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim/München: Juventa. Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hg.) (2008): Entwicklungspsychologie, 6. vollst. überarb. Auflage, Weinheim/Basel: Beltz PVU. Siegler, Robert/DeLoache, Judy/Eisenberg, Nancy (2005): Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.





Ambulante Rehabilitation in der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FrauenTherapieZentrums – FTZ München C LAUDIA S U SS MANN

E INLEITUNG Das FrauenTherapieZentrum – FTZ, 1978 in München als Verein gegründet, ist heute eine gemeinnützige GmbH und betreibt unterschiedliche Einrichtungen für Frauen in München, darunter auch eine Einrichtung zur Suchtberatung und Behandlung. Die Haltung den Frauen gegenüber ist von Frauenfreundlichkeit, Respekt, Wertschätzung und Ressourcenorientierung sowie von Klarheit, Ehrlichkeit und Transparenz geprägt. Der sich in der Praxis der Suchtberatung deutlich aufzeigende Bedarf substanzkonsumierender Frauen an längerfristiger ambulanter Behandlung führte zu der Entscheidung, das Angebotsspektrum der Suchtberatungsstelle um die ambulante Rehabilitation zu erweitern. Im Jahr 1995 schloss der Träger einen Vertrag über die ambulante Entwöhnungsbehandlung mit dem Vorläufer der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bayern Süd, im Jahr 2002 mit dem Vorläufer der DRV Bund. Die ambulante Rehabilitation stellt eine Entwöhnungsbehandlung im ambulanten Setting dar, die neben der Erwerbstätigkeit und Familienarbeit durchgeführt werden kann und eine Alternative zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung darstellt. Die Zielgruppe dieses Angebots sind Frauen mit einer Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit sowie mit komorbiden Störungen. Die ambulante Entwöhnung ist geeignet für Frauen mit einem stabilen Lebensumfeld, einer ausgeprägten Abstinenzmotivation und Abstinenzfähigkeit. Das Angebot beinhaltet bis zu 120 Therapiesitzungen in maximal 18 Monaten, eine wöchentliche Grup-



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pentherapie und im wöchentlichen bis 14-tägigen Rhythmus eine Einzeltherapiesitzung. Zusätzlich werden halbjährlich ein- bis zweitägige Seminare zu Vertiefungsthemen durchgeführt, beispielsweise zu den Themen Depression, Traumafolgestörungen und Achtsamkeit sowie ein Rückfallpräventionstraining. Ein „Highlight“ ist die jährliche Sinnesexkursion in Form einer Bergwanderung.

P RAXISBEISPIEL Frau M., 45 Jahre alt, alleinerziehend mit zwei Kindern im Alter von 13 und 14 Jahren, wendet sich im Februar 2014 auf Empfehlung des Psychotherapeuten eines ihrer Kinder an das FTZ. Sie konsumiert dreimal in der Woche eine Flasche Wein zum Stressabbau. Sie berichtet, dass sie in ihrer Erwerbstätigkeit in der Gastronomie immer wieder sehr gefordert sei. Es finden zunächst bis Mai 2014 neun Beratungsgespräche statt. Frau M. gelingt es in dieser Zeit zwar, abstinente Phasen zu leben, jedoch entscheidet sie sich, grundsätzlich weiterhin Alkohol konsumieren zu wollen. Die auf Abstinenz ausgerichtete Beratung wird daraufhin beendet. Bereits im Juni meldet sie sich wieder: Nach drei abstinenten Wochen und einem darauf folgenden massiven Rückfall wünscht sie nun doch eine längerfristige Behandlung im Rahmen der ambulanten Rehabilitation, sodass sie aufgenommen wird.

Durch die formale Struktur der Behandlung (Einzel- und Gruppentherapie) sowie die im Team bestehenden, breit gefächerten psycho- und suchttherapeutischen Qualifikationen (Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Systemische Familientherapie, Soziotherapie Sucht, analytische Psychotherapie, Hypnosetherapie, Traumatherapie, EMDR) bietet das FTZ den Frauen eine umfassende integrative Behandlung ihrer Suchterkrankung und ihrer häufig vorliegenden zusätzlichen psychischen Erkrankungen. Durch die relativ lang andauernde Behandlung entsteht ein effektiver und intensiver Entwicklungsraum. In den überwiegenden Fällen erlebt eine betreute Frau in der Einzel- und Gruppentherapie unterschiedliche Therapeutinnen. Dadurch kennen immer mehrere Therapeutinnen die Klientin, was durch die unterschiedlichen Resonanzen einen umfassenderen Blick auf deren Situation ermöglicht. Gleichzeitig hat die betroffene Frau so die Möglichkeit, mehrere Mitarbeiterinnen kennenzulernen. Frau M. behält ihre bisherige Beraterin als Einzeltherapeutin, die Therapiegruppe wird von zwei anderen Therapeutinnen geleitet. Die Klientin erlebt Gestalttherapie, Systemische Familientherapie, Verhaltenstherapie, Hypnosetherapie und Elemente aus dem Programm „Sicherheit finden“. Der Therapieplan wird im Team abgestimmt.



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Im Team der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FTZ hat eine intensive fachliche Auseinandersetzung mit dem Programm „Sicherheit finden“ (Najavits 2009) stattgefunden. Daraus resultierend werden, insbesondere in der Therapiegruppe, themenorientiert einzelne Module eingesetzt. Die Frauen nehmen die Information und das Handwerkszeug, das sie dadurch vermittelt bekommen, dankbar an und setzen es in ihrem Alltag um. Regelmäßig eingesetzt werden die Module „Erdung“, „Grenzen setzen in Beziehungen“ sowie „Gut für sich sorgen“, da sie explizit Themen bzw. Rollenzuschreibungen von Frauen betreffen: eher für andere zu sorgen, als für sich selbst; Übergriffe und Gewalt in Beziehungen etc. Sehr ermutigend für die Frauen ist die Abbildung „Der Berg der Heilung“ aus dem Modul „Substanzen“. Wertvolle Module für diese Arbeit sind zudem: „Rote und grüne Signale“, „PTSD“, „Um Hilfe bitten“, „Auslöser“, „Verbindlichkeit“, „Mitgefühl“ und „Heilung von Wut“. Diese Module decken grundlegende Themen im Spektrum Sucht/Gewalt/Selbstfürsorge/Heilung ab. Frau M.s persönliches „Highlight“ ist die Erdungsübung „Stadt-Land-Fluss“. Seither spielt sie mit sich selbst im Geist „Stadt-Land-Fluss“, wenn sie unter Stress gerät.

Die Klientinnen erfahren im FrauenTherapieZentrum die Qualität, die ein reflektierter, fachlich sorgfältig konzipierter Frauenraum darstellt. Als feministische Einrichtung sind bei dem Trägerverein des FTZ ausschließlich Frauen angestellt, in allen Einrichtungen – abgesehen von einzelnen Sitzungen mit männlichen Angehörigen – werden ausschließlich Frauen beraten und behandelt. Etwa 75 % der Klientinnen suchen das FTZ explizit als frauenspezifische Einrichtung auf. Aber auch Frauen, die zunächst keinen Wert auf das Frauensetting gelegt hatten, berichten am Ende ihrer Behandlung, dass es die richtige Entscheidung war und schätzen den Wert der Frauensolidarität. Klientinnen, die über Erfahrungen in stationären Suchthilfeeinrichtungen für Frauen und Männer verfügen, würdigen es, im FTZ in einem geschützten, frauenbezogenen Rahmen schambelastete Themen ansprechen zu können, die sie im geschlechtsheterogenen Setting oder mit männlichen Therapeuten nicht ansprechen wollten bzw. konnten. Sie schätzen weiterhin, dass sich die Aufmerksamkeit der Klientinnengruppe untereinander relativ gleichmäßig verteilt – im Gegensatz zu geschlechtsheterogenen Einrichtungen. Hier leiden Frauen nicht selten unter dem ungleichen Geschlechterverhältnis, welches sie in Einrichtungen und Gruppensituation durch einen hohen Männeranteil vorfinden (vgl. Tödte 2005). Hinzu kommt, dass die relativ wenigen Frauen sich überwiegend um die Probleme der Männer gekümmert, sich selber jedoch zu wenig Raum genommen und gegeben haben.



322 | C LAUDIA S USS MANN Frau M. entschied sich explizit für das FTZ als Frauenberatungs- und Behandlungsstelle. Sie hat in ihrem Leben immer wieder unter der Dominanz von Männern gelitten. Im geschlechtshomogenen Setting mit Frauen fühlt sie sich entspannter und besser verstanden.

In der Gruppentherapie erlebt jede Einzelne, dass ihre Themen von den anderen Frauen verstanden werden und dass diese Themen ähnlich sind: Auch die anderen Frauen befassen sich mit ihrer beruflichen Situation und Veränderungswünschen, mit Partnerschaft, mit der Erziehung und dem Kontakt zu ihren Kindern und Eltern. Und sie erlebt zunehmend, wie auch die anderen Frauen, ebenso wie sie selbst, die Verknüpfung ihrer Lebenssituation und ihrer Lebensgeschichte mit dem Alkohol- und Medikamentenkonsum verstehen. Die gesellschaftliche Abwertung von Frauen mit Alkoholproblemen, die sich in Selbstabwertung übersetzt, wird in der Gruppe besprechbar. Über die Spiegelung in den anderen Gruppenteilnehmerinnen („Das sind ja ganz normale Frauen!“) und dem Aufgehobensein in der Gruppe vermindert sich diese Selbstabwertung. Frau M. erfährt in der Gruppe Verständnis für ihre berufliche Überlastung und die Ermutigung, besser auf ihre Grenzen zu achten, weniger zu arbeiten und sich weniger ausbeuten zu lassen. Sie bekommt zunehmend ein Gefühl für den Wert ihrer Arbeitsleistung und faire Arbeitszeiten und beginnt, sich am Arbeitsplatz für sich einzusetzen. Letztendlich entscheidet sie sich dafür, den Arbeitsplatz zu wechseln, was für sie viel Mut erfordert. Die Unterstützung aus der Gruppe ist dabei für sie eine große Hilfe. Inzwischen hat sie – weiterhin in der Gastronomie – eine neue Arbeitsstelle gefunden, in der bessere Arbeitsbedingungen vorliegen. Ein weiteres, für sie sehr belastendes Thema, ist die schwierige Beziehung zu ihren pubertierenden Kindern. Für sie ist erleichternd zu erfahren, dass andere Gruppenmitglieder in derselben Situation sind – und pubertierende Kinder als solche eine Herausforderung darstellen. So gelingt es ihr im Austausch mit den anderen Frauen zu sehen, dass es nicht ihr persönliches „Unvermögen“ oder „Versagen“ ist, dass die familiären Beziehungen schwierig sind, sondern das Entwicklungsphasen wie beispielsweise die Pubertät auch die Mütter real ausgesprochen fordern.

Um eine Frau umfassend wahrnehmen zu können, ist es ein Anliegen der Mitarbeiterinnen der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FTZ, die Kinder und Partner_in, eventuell auch die Eltern kennenzulernen. Die Mitarbeiterinnen erleben regelmäßig, dass das persönliche Kennenlernen von Partner_in und Kindern ein größeres Verständnis für die Betroffene und ein ganzheitlicheres therapeutisches Arbeiten ermöglicht.



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Die Angehörigen werden aktiv, zusammen mit der Klientin zu einem oder mehreren Familiengesprächen eingeladen, in dem auf ihre Anliegen und Fragen eingegangen wird. Häufig besteht bei den Angehörigen eine große Verunsicherung, inwieweit sie „Schuld“ an der Suchterkrankung oder an Rückfällen der Betroffenen haben und wie sie sich im Falle eines Rückfalles verhalten sollten. Gleichzeitig ist es für sie informativ, die Einrichtung und die betreuende Mitarbeiterin kennenzulernen. Bezogen auf die Frauen, die Kinder haben bzw. mit diesen leben, arbeitet die Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FTZ mit dem Jugendamt der Stadt München zur Unterstützung der Familie und zum Schutz der Kinder im Rahmen des „Münchner Hilfenetzwerks für Kinder und ihre Eltern mit Alkoholproblemen“ zusammen. Das Familiengespräch mit den beiden Kindern wird von der betreuenden Einzeltherapeutin und einer weiteren Therapeutin durchgeführt. Es werden die Anliegen von allen Familienmitgliedern bezüglich der familiären Kommunikation besprochen sowie neue Regelungen entwickelt und vereinbart. Unterschiedliche Sichtweisen der beiden Therapeutinnen vermittelt die Einzeltherapeutin im Nachgang in der weiteren Einzeltherapie. Damit fühlt sich Frau M. zum einen verstanden, zum anderen herausgefordert, und es gelingt ihr, eine Synthese der verschiedenen Perspektiven zu erarbeiten und ein Problemverhalten grundlegend zu verändern. Die Beziehung zu ihren Kindern verbessert sich dadurch entscheidend.

Aus den Gruppen der ambulanten Rehabilitation sind zwei seit mehreren Jahren miteinander arbeitende Selbsthilfegruppen entstanden, die sich zu einem tragfähigen Netz entwickelt haben. Die Selbsthilfegruppen arbeiten selbstständig. Zum Start haben sie von einer der Therapeutinnen der Suchtberatungs- und Behandlungsstelle einige Anleitungssitzungen bekommen, in denen ihnen Methoden für die Arbeit vermittelt wurden und sie gemeinsam ihre Regeln erarbeitet haben. Bei Bedarf stehen die Mitarbeiterinnen zur Unterstützung zur Verfügung. Die Gruppen sind abstinenzorientiert und es werden ausschließlich Frauen, die bereits längere Zeit stabil abstinent sind, in die Gruppen vermittelt. Gelegentlich melden sich Gruppenfrauen wegen der Rückfälligkeit eines anderen Gruppenmitgliedes. Sie erhalten Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen, die rückfällige Frau zur Kontaktaufnahme zum FTZ zu motivieren. Nachdem die Behandlung von Frau M. sich dem Ende zuneigte, entschied sie, sich einer der Selbsthilfegruppen, die sich in einem 14-tägigen Rhythmus treffen, anzuschließen. Die Einzeltherapeutin hat Frau M. den Abschlussbericht vorgelegt und mit ihr bespro-



324 | C LAUDIA S USS MANN chen, inwieweit er mit ihrer Sichtweise übereinstimmt. Sie sieht sich und ihren Therapieprozess zutreffend dargestellt.

Q UALIFIZIERUNG

UND

V ERNETZUNG

Als großer feministischer Träger mit inzwischen 140 Mitarbeiterinnen führt das FTZ jährlich für alle Mitarbeiterinnen einen Inhouse-Fachtag zu einem feministischen Thema durch. Alle Mitarbeiterinnen beschäftigen sich gemeinsam mit einem Fachthema, führen Diskussionen in verschiedenen Formaten und tauschen sich quer durch die Einrichtungen und Berufsgruppen des FrauenTherapieZentrums aus. Die Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FTZ ist bundesweit mit andern feministischen/frauenspezifischen Einrichtungen innerhalb und außerhalb der Suchthilfe vernetzt, ebenso mit Einrichtungen der Suchthilfe. Insbesondere besteht ein intensiver Praxisaustausch mit Einrichtungen innerhalb der Stadt München, wie beispielsweise dem Frauengesundheitszentrum, dem Frauennotruf, der Lesbenberatungsstelle Letra, dem Frauenhaus der Frauenhilfe etc. Bei Bedarf werden Klientinnen an andere Einrichtungen in München verwiesen. Alle zwei Jahre führt die Suchtberatungs- und Behandlungsstelle des FTZ eine Befragung bei den Klientinnen durch, die jedes Mal eine hohe Zufriedenheit zeigt. Bereits seit vielen Jahren beschäftigt sich die Einrichtung mit Qualitätsmanagement und ist seit 2013 ISO-zertifiziert.

L ITERATUR Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt (Hg.) (2007): Münchner Hilfenetzwerk für Kinder und ihre Eltern mit Alkoholproblemen. Kooperationsvereinbarung zur Koordination interdisziplinärer Hilfen, München: Referat für Gesundheit und Umwelt. Najavits, Lisa M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörung und Substanzmissbrauch. Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“, Göttingen: Hogrefe. Tödte, Martina (2005): Blitzlichter. Ein subjektiver Blick von PatientInnen auf stationäre medizinische Rehabilitation Drogenabhängiger. Eine kleine Studie zum Perspektiven- und Geschlechtervergleich, Essen: Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, BELLA DONNA.





Lebenswelten suchtmittelabhängiger Frauen mit Komorbidität Von der Welt des Konsums in die Therapeutische Gemeinschaft G ERTRUD U MMINGER

D IE E INRICHTUNG C AMILLE „Camille“ ist eine Therapieeinrichtung für suchtmittelabhängige Frauen mit zusätzlichen psychischen Störungen, die Raum, Schutz und Unterstützung bezogen auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten für ein drogenfreies, selbstbestimmtes Leben bietet. Die Einrichtung entstand im Zuge der Diskussion um die spezifischen Belange von suchtmittelabhängigen Frauen und nahm ihre Tätigkeit im Jahr 1992 als Modellprojekt auf – ursprünglich für die Zielgruppe der suchtkranken Frauen, inzwischen erweitert hinsichtlich der Frauen mit komorbiden Störungen. Die Verweildauer beträgt ein Jahr. Neben einem intensiven therapeutischen Angebot erhalten die Klientinnen praktische und soziale Unterstützung. Bei Bedarf können sie im Anschluss an die stationäre Therapie in einer Außenwohngemeinschaft leben und weiterhin an dem Therapieangebot von „Camille“ teilnehmen. „Camille“ ist ein Angebot für Frauen, die eine geschlechtsbezogene Reflexion ihrer Situation anstreben und denen eine Behandlung in einer traditionellen Einrichtung der stationären medizinischen Rehabilitation nicht ausreichend helfen konnte: Viele Frauen benötigen eine längere Schutzsituation und eine konkrete Begleitung im Alltag. Einzel- und Gruppengespräche sollen die Frauen dabei unterstützen, eine neue und eigene Lebensperspektive zu entwickeln, ihre Stärken wieder kennenzulernen und tragfähige Beziehungen aufzubauen. Sie er-



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halten Unterstützung bei der Bewältigung alltagspraktischer Probleme wie etwa beim Aufbau einer Tagesstruktur, im Umgang mit Finanzen und bei der gesundheitlichen Vorsorge. In dem Wohnhaus in Königstein im Taunus können maximal elf Frauen miteinander leben. Sie wohnen in der Regel in einem Einzelzimmer, das nach den eigenen Ideen und Möglichkeiten gestaltet werden kann. Außerdem gibt es gemeinschaftlich genutzte Wohnräume und eine Sauna. Den Haushalt führen und organisieren alle Frauen gemeinsam. Das therapeutische Angebot läuft durch verschiedene Phasen: Die Aufnahme- und Anwärmphase dient in erster Linie der Anamneseerhebung, der Diagnostik, der Therapieplanung, der Kurztherapie und der Weiterorientierung. Die Intensivtherapiephase konzentriert sich auf die Vertiefung der Auseinandersetzung, die Erarbeitung von Ressourcen sowie Bewältigungs- und Veränderungsstrategien. Die Entscheidung über die weitere Lebensstrategie, die Planung von Leben, Wohnen und Arbeiten sind Themen der Außenorientierung. Die Arbeit ist verhaltenstherapeutisch ausgerichtet. Das Erkennen und Aktivieren der eigenen Ressourcen und die Entwicklung von neuen Strategien im Umgang mit der Erkrankung sowie die Zukunftsorientierung stehen dabei im Vordergrund. Körpertherapeutische Verfahren, Entspannungstechniken sowie Skills-Training und die Arbeit an traumatischen Erlebnissen finden Anwendung. Die Entscheidung für ein Leben in der Therapeutischen Gemeinschaft ist für eine suchtmittelabhängige Frau ein sehr großer und gewagter Schritt. Sie, die sich viele Jahre ausschließlich mit Suchtmitteln beschäftigt hat und/oder mit Personen, die ebenfalls aktiv Suchtmittel konsumieren, begibt sich in eine Lebenswelt, in der Suchtmittelabstinenz und therapeutische Arbeit angestrebt werden. Das Leben in der Gruppe erfordert ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft, beispielsweise das Einhalten von Gruppenregeln und das Akzeptieren von vorgegebenen Strukturen. Die Gemeinschaft gibt einerseits Stabilität und Halt, erfordert andererseits allerdings auch ein Einlassen auf das Leben in der Gruppe. Lebenspraktische Unterstützung In der Therapeutischen Gemeinschaft „Camille“ werden unterschiedliche Fertigkeiten des alltäglichen Lebens eingeübt. Dazu gehören, auch wenn es vordergründig rollenkonform wirkt, beispielsweise auch basale Haushaltstechniken. Versorgungskompetenzen dienen dem Überleben im Alltag und bieten Struktur und Halt. In der neuen Lebenswelt der Therapeutischen Gemeinschaft gilt es,



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Verantwortung einzuüben und zu übernehmen, wodurch die Alltagsstruktur neu definiert wird. Viele Frauen haben durch die zurückliegenden Lebensumstände den Bezug, sich selbst zu versorgen, verloren oder haben keine Kompetenzen der Selbstversorgung erlernen können. Alltägliche Aufgaben, wie etwa das eigene Zimmer sauber zu halten, Dienste im Haus zu erledigen oder auch Einkaufen und Kochen werden in der Gemeinschaft zu Übungsfeldern mit dem Ziel, die Kompetenzen zur Selbstversorgung (wieder) herzustellen. Nicht jede Frau hat sich in der Vergangenheit etwa mit der Essenszubereitung beschäftigt. Je weniger grundlegende Fertigkeiten diesbezüglich eine Frau im bisherigen Leben erwerben konnte, desto größer sind in der Regel ihre Lernerfolge. Zur lebenspraktischen Unterstützung gehört es ebenfalls, mit den Frauen Essens- und Einkaufspläne zu erstellen, mit dem Ziel, zu lernen, ihre begrenzten finanziellen Mittel bestmöglich einzusetzen und sich gesund zu ernähren. Unter konkreter Anleitung lernen die Frauen ihre privaten Bereiche – das eigene Zimmer und die eigene Wäsche – zu pflegen. Eine besondere Bedeutung für die Rückfallprophylaxe hat eine gut geplante Freizeitgestaltung. Diese muss entwickelt und eingeübt werden. Entsprechend werden den Frauen Gruppengespräche zur Orientierung angeboten. Durch planerische Hilfsmittel, in Form von Vordrucken, die eine Tagesplanung vorgeben, wird die Planung erstellt. In der Gruppe wird reflektiert, ob die geplanten Vorhaben umgesetzt werden konnten bzw. welche Hindernisse im Weg standen. Zweimal wöchentlich werden diese wichtigen Strukturierungshilfen durchgeführt und sollen als Lebenshilfe für eine weitestgehend autonome und suchtmittelfreie Lebensplanung dienen. Die lebenspraktische, konkrete Unterstützung, die die Frauen in der Therapeutischen Gemeinschaft „Camille“ erfahren, geht über das Leistungsspektrum der „klassischen“ stationären Rehabilitationskliniken in der Regel hinaus. Sozialarbeiterische Hilfen Für die Frauen, die in der Therapeutische Gemeinschaft „Camille“ leben, nehmen die sozialarbeiterischen Hilfen einen großen Raum ein. Diese umfassen: • • • •



die Sicherung des Lebensunterhaltes, die Erlangung einer Krankenversicherung, die Schuldenregulierung, die Begleitung zur Bewährungshilfe,

328 | G ERTRUD U MMINGER • die Klärung von Problemen mit der Justiz, beispielsweise bezogen auf Ge-

richtsauflagen, • die Klärung von Problemen mit dem Jugendamt sowie • die Unterstützung bei allgemeinen Behördenthemen.

Viele Frauen kommen in die Therapeutische Gemeinschaft mit einem Paket unerledigter, oft auch ungeöffneter Post. Diese Situation erfordert eine intensive sozialarbeiterische Unterstützung. Der Umgang mit der eigenen Gesundheit ist ein weiterer wichtiger Aspekt sozialarbeiterischer Hilfen. Der Hinweis auf die Notwendigkeit von medizinischen Beratungen und Behandlungen ist häufig erforderlich. Manche Frauen müssen konkret angehalten werden, Ärzt_innentermine wahrzunehmen, da sie oft jahrelang weder Gynäkolog_innen noch Zahnärzt_innen aufgesucht haben, noch ihre psychische(n) Erkrankung(en) fachärztlich haben behandeln lassen. Beispielsweise kann es auch notwendig sein, auf die möglichen Gefahren und Folgen durch exzessiven und unsauberen Drogenkonsum einzugehen. Hier werden Psychoedukationsprogramme als Lernmittel für den Alltag eingesetzt. Mit dieser Form der Schulung soll Verständnis für und Einsicht in die Erkrankungen hergestellt werden und damit auch eine Bereitschaft für gesundheitsfördernde Maßnahmen und subjektive Veränderungsbereitschaft. Verständnis von Komorbidität Als Komorbidität wird das gleichzeitige Auftreten einer Suchtmittelabhängigkeit und weiteren, diagnostisch abgrenzbaren psychiatrischen Erkrankungen bezeichnet. Substanzabhängige Frauen weisen beispielsweise Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Psychosen oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung auf. Der Suchtmittelkonsum kann hier oft als Selbstheilungsversuch verstanden werden. Diese Komorbidität erfordert eine spezifische Behandlung. Schon während der stationären Entgiftung ist es sinnvoll, die psychiatrische(n) Erkrankung(en) zu behandeln. Da in der Entwöhnungsbehandlung keine Suchtmittel konsumiert werden, entfällt auch die Betäubung der psychiatrischen Erkrankung(en). Um dieser Belastung Stand zu halten, benötigen die Frauen eine intensive, empathische Unterstützung, eine qualifizierte, verständnisvolle Begleitung und ein umfassendes Krisenmanagement.



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Therapeutische Arbeit Neben den lebenspraktischen Angeboten sind die therapeutischen Angebote zentraler Bestandteil der Arbeit von „Camille“. Wenn sich eine Klientin in eine Therapeutische Gemeinschaft begibt, ist dies begleitet von großen Ängsten, aber auch von hohen Erwartungen. Frauen, die Drogen konsumieren und zusätzlich unter psychischen/psychiatrischen Erkrankungen leiden, sind mit dem Eintritt in das Therapieverfahren besonders verletzlich, weil das Absetzen der Suchtmittel für sie eine große Herausforderung darstellt: Zusätzlich zu den Entzugserscheinungen und dem Verlust des „Hilfsmittels Droge“ können die bis dahin durch die Drogenwirkung unterdrückten psychischen Krankheitssymptome verstärkt auftreten. So benötigen die betroffenen Frauen Halt und Sicherheit zur Bewältigung ihrer psychischen Belastungen. Ein sicherer Wohnplatz, wie die Frauen ihn in der Therapeutischen Gemeinschaft finden, und das Zusammenleben mit den Mitbewohnerinnen sind bedeutende Faktoren. Zu ihrem Schutz gehen sie in den ersten vier Wochen nur mit einer anderen Frau aus dem Haus und sollen Außenkontakte vermeiden, um sich eher auf die neue Situation einstellen zu können. Die Therapeutinnen bieten eine tragfähige, professionelle Beziehung an und die neu aufgenommene Frau erfährt Anerkennung für ihre Bemühungen und persönliche Wertschätzung. Mitgefühl im Sinne von Luise Reddemann (2011) sowie die Orientierung auf die eigenen Ressourcen bringen den Frauen ein tieferes Verständnis und die Akzeptanz ihres bisherigen Lebens – oder auch Überlebens – entgegen. Sicherheit herzustellen und zu vermitteln sowie eine fortwährende Ressourcenstärkung sind der „rote Faden“ in der Behandlung. Achtsamkeitstraining und körperorientierte Entspannungsübungen werden als Methoden eingesetzt. Der größte Teil der Frauen kommt mit Traumafolgestörungen, Persönlichkeitsstörungen, mangelnder Konflikt- und Abgrenzungsfähigkeit, Affektschwankungen, Stresssymptomen und fehlender Emotionsregulation in die Therapeutische Gemeinschaft. Die Behandlung der Suchterkrankung sowie der vorliegenden psychiatrischen Erkrankungen ist das Kernstück im Leben der Therapeutischen Gemeinschaft. Hierfür braucht es einen besonders sicheren und geschützten Rahmen, den der therapeutische Ansatz bietet. Die praktische Umsetzung der Therapie erfolgt in den vier Phasen: 1. Sicherheit und Ressourcenstärkung, 2. Stabilisierung, 3. Exposition/Konfrontation,



330 | G ERTRUD U MMINGER 4. Integration und neue Orientierung.

Die Arbeit in den verschiedenen Phasen ist intensiv einzelfallorientiert, orientiert sich flexibel an den Bedarfen und Ressourcen der Betroffenen und wird von unterschiedlichen Vor- und Rückschritten, je nach individueller Situation der betroffenen Frau, geleitet: So ist es nicht zwangsläufig erforderlich, dass alle Phasen durchlaufen werden müssen. Eine Frau kann auch mit Sicherheit, Ressourcenstärkung und Stabilisierung ihre Ziele erreichen. Phase 1: Sicherheit und Ressourcenstärkung Zu Beginn der Therapie stehen die Bewohnerinnen aufgrund der Vielzahl an ungelösten Problemen oft unter sehr großem Druck. Um Rückfälle in alte Verhaltensmuster (wie Drogenkonsum) zu vermeiden, werden ihnen in dieser besonders schwierigen Situation verschiedene Methoden angeboten und vermittelt. Das Ziel dabei ist es, Vertrauen aufzubauen, Ängste zu verringern sowie Sicherheit durch eine empathische Haltung der Mitarbeiterinnen und durch einen respektvollen, wertschätzenden Umgang mit der Klientin zu vermitteln. Diese Haltung umfasst auch, die Ressourcen der jeweiligen Frau explizit zu benennen, ihr zu verdeutlichen und sie zu ermutigen, diese Ressourcen für sich zu nutzen bzw. nutzbar zu machen. Geeignete Methoden in dieser Phase der Behandlung sind das Einüben von achtsamen Verhaltensweisen bei der Auseinandersetzung mit dem angestrebten Veränderungsprozess, die Schulung der Wahrnehmung eigener Gefühle und Körperempfindungen. Hinzu kommen Angebote der Psychoedukation: Die zugrunde liegende Haltung ist, dass es für einen eigenverantwortlichen Umgang mit den eigenen Erkrankungen – der Suchterkrankung ebenso wie den psychischen/psychiatrischen Erkrankungen – eine Grundvoraussetzung ist, diese Erkrankungen, deren Hintergründe und Ursachen zu verstehen. Erst mit diesem Wissen und, günstigstenfalls darüber hinaus, auch mit einem Verständnis der Erkrankungen im eigenen biografischen Kontext, kann es gelingen, diese Erkrankungen langfristig und nachhaltig zu bewältigen. In diesem Prozess kann auch die Funktion des Suchtmittels reflektiert werden. Das kognitiv-behaviorale Therapieprogramm „Sicherheit finden“ (Najavits 2009) für Personen mit substanzbezogenen Störungen, die an den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden, wird hier erfolgreich eingesetzt. Es wurde von Lisa Najavits an der Harvard Universität entwickelt und verfolgt einen ressourcenorientierten, stabilisierenden Ansatz mit dem übergeordneten Ziel, Sicherheit herzustellen.



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Im gesamten Behandlungsverlauf hat der auf Sicherheit und Ressourcenstärkung zielende Ansatz eine hohe Bedeutung, da Sicherheit und das Vertrauen in die eigenen Ressourcen Voraussetzungen dafür sind, dass sich die Frauen auf die schwierige Behandlungssituation einlassen können. Phase 2: Stabilisierung In der Stabilisierungsphase kommen die bereits genannten Sicherheitstechniken und weitere Verfahren zum Einsatz. DBT-Skills-Training (Dialektisch-Behaviorales-Skills-Training; Linehan 1993) „Skills-Training (der Begriff „Skills“ lautet wörtlich übersetzt: „Kompetenzen“, „Fähigkeiten“, „Fertigkeiten“) wurde von Marsha Linehan bei der Entwicklung ihres Behandlungskonzeptes definiert als ein Training psychosozialer Fertigkeiten. Dabei liegt die Haltung zugrunde, dass jeder Mensch über kognitive und emotionale Kompetenzen verfügt und diese handlungsbezogen einsetzt, allerdings nicht immer bewusst. Das DBT-Skills-Training soll die Patientinnen dabei unterstützen, bereits vorhandene Kompetenzen bewusst zu machen und darüber hinaus auch neue, zusätzliche Kompetenzen zu erlernen, insbesondere für emotional belastende Situationen, für Situationen, in denen eine Rückfallgefahr besteht etc. Das Training besteht aus vier Modulen: „Achtsamkeit“, „Umgang mit Gefühlen“, „Stresstoleranz“ und „zwischenmenschliche Fertigkeiten“. Ergänzend zum DBT-Skills-Training wurde speziell für die Arbeit mit suchtmittelabhängigen Menschen von Linehan ein DBT-Sucht-Programm entwickelt. Substanzmissbrauch wird analog zur Selbstverletzung als impulsives dysfunktionales Verhalten gesehen. Das Hauptprinzip ist die dialektische Grundhaltung, die eine Reduktion des Suchtmittelkonsums bis zur Abstinenz anstrebt. Grundsätzlich ist die Beachtung von und die Konfrontation mit dem sogenannten Craving1 vorgesehen. Es soll nicht ignoriert werden, sondern durch Auseinandersetzung mit einem CravingProtokoll sind körperliche und psychische Reaktionen wahrzunehmen und Überlegungen anzustellen, was in dieser Situation hilfreich sein und dabei unterstützen kann, einen Rückfall bzw. den Konsum zu vermeiden. Das Programm enthält Skills zur Krisenbewältigung, zur Akzeptanz der eigenen Lebensrealität und der Übernahme von Verantwortung. In der Praxis heißt dies: „Wie vermeide ich Craving bzw. wie gehe ich damit um?“ In allen Phasen ist eine Auseinandersetzung und Konfrontation vorgesehen – nicht Ignoranz und Tabuisierung. Der Abbruch von Brücken zu jeglichen Beschaffungsmöglichkeiten und zum Konsum

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Der Begriff beschreibt das intensive Verlangen, einen Stoff zu konsumieren.

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ist zwar vorgesehen, jedoch ist mit dem Skill „Erfolgreich scheitern“ die Vorbereitung auf einen möglichen Rückfall eingeschlossen, um schädigendes Verhalten zu begrenzen. Schließlich ist der Abbruch von Brücken zu jeglichen Beschaffungsmöglichkeiten und damit zum Konsum das erstrebenswerte Ziel. Imaginationsübungen (Reddemann 2005) Imaginationsübungen sind geeignet, Distanz zum Trauma oder zu anderen Belastungssituationen aufzubauen und Gefühlsüberflutungen zu begrenzen. Mithilfe von angeleiteten Imaginationsübungen lernen die Frauen, für sich einen individuellen inneren „Sicheren Ort“ oder „Wohlfühlort“ zu entwickeln. Ziel ist, dass die Frau jederzeit eigenständig diesen imaginierten Ort aufsuchen kann und dort Gefühle von Schutz und Sicherheit erlebt. Die „Tresorübung“ macht es möglich, ein Problem für eine gewisse Zeit imaginativ wegzuschließen: Die Patientin wird angeleitet, sich einen Tresor vorzustellen, in dem sie Gefühle, Bilder, Erinnerungen etc. sicher einschließen kann. Sie stellt sich weiter vor, dass niemand außer ihr diesen Tresor öffnen kann; im weiteren Verlauf vergewissert sie sich, dass der Tresor tatsächlich sicher ist, wo er sich befindet, wie er aussieht. Mit dieser Imagination kann die betroffene Frau selbst jederzeit an den Tresor herankommen, sollte sie ihn brauchen – um etwas herauszuholen oder etwas dort zu verschließen. Mit der Imaginationsübung „Lichtei“ kann die Frau einen imaginativen Schutzraum aufsuchen, der ihr Sicherheit, Wärme und Geborgenheit gibt. Mit dieser Übung lernen Frauen beispielsweise, sich in gefährdenden Situationen selbst gut zu schützen. Die genannten Übungen sind Beispiele für Imaginationen und sollen den Frauen ermöglichen, (mehr) Kontakt zu ihrem Körper aufzunehmen, sich selbst und die eigenen Symptome zu verstehen, damit besser umzugehen sowie sich mit achtsamer Wahrnehmung auf heilsame Vorstellungen zu konzentrieren. Ego-State-Therapie (Watkins/Watkins 2003) Grundlage dieser Methode ist die Ego-State-Theorie von John und Helen Watkins (vgl. hierzu auch Fritzsche 2014). Ego-States sind Persönlichkeitsanteile (Ego-States = Ich-Anteile), die eine Person im Laufe ihres Lebens aufgrund von Erfahrungen entwickelt. Sie sollen Grundbedürfnisse befriedigen und vor Verletzungen schützen. Wenn eine Person als Kind viele seelische und körperliche Verletzungen erfahren hat, bleiben diese Ich-Anteile in der Vergangenheit verhaftet und entwickeln sich nicht weiter. Diese unerträgliche Situation führt zur Abspaltung des Problems und damit zu der Existenz von vielen Anteilen, die keinen Kontakt untereinander haben. Sie arbeiten weiter, reagieren in Trigger-



L EBENSWELTEN SUCHTMITTELABHÄNGIGER F RAUEN MIT K OMORBIDITÄT

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Situationen emotional und können außer Kontrolle geraten, also gegensätzliche Reaktionen auslösen. Hier werden oft Suchtmittel zur Beruhigung eingesetzt, die den Gesundungsprozess ebenfalls stören. Ziel ist, einen Zugang zu den EgoStates zu schaffen, Verständnis für die Ego-States zu entwickeln und die Kommunikation und Kooperation im inneren System zu fördern und zu integrieren. Arbeit mit dem Inneren Kind (Chopich/Paul 2009, Sachsse/Herbold 2012) Die Arbeit mit dem Inneren Kind beruht auf dem Verständnis, dass Verletzungen und traumatische Erfahrungen, die Menschen in ihrer Kindheit erfahren haben, sie auch als Erwachsene in ihrem Leben beeinflussen. In der therapeutischen Arbeit werden erwachsene Menschen mittels visueller Vorstellung (Imagination) dabei unterstützt, sich dem traumatisierten Kind in ihrem Inneren fürsorglich anzunehmen. Stabilisierungstechniken geben der betroffenen Frau konkrete Möglichkeiten an die Hand, ihr Selbstbewusstsein und das Gefühl der Sicherheit zu stärken. Neben der Erarbeitung von Stabilisierungstechniken steht die Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenssituation thematisch im Vordergrund. Verhaltenstherapeutische Einzel- und Gruppensitzungen sind weitere wichtige Behandlungsbausteine. Dazu gehören ebenfalls die psychiatrische und, damit verbunden, bei Bedarf auch eine medikamentengestützte Behandlung. Phase 3: Exposition Die Expositionsphase hat zum Ziel, dass sich die betroffenen Frauen vorsichtig und mit einer großen Distanz ihrem Traumagefühl nähern können. Die unabdingbare Voraussetzung für diese Phase ist, dass die Stabilisierungstechniken sorgfältig eingeübt und Sicherheit und Standfestigkeit deutlich wahrnehmbar sind, um eine behutsame Konfrontation mit dem Trauma anzustreben. Zu ihrem Schutz werden Beobachterinnen und imaginierte Helfer_innen eingesetzt, die den notwendigen Abstand für die traumatisierte Frau herstellen. Sie sind auch dabei behilflich, die verletzten inneren Anteile, die „Inneren Kinder“, in Sicherheit zu bringen. Innere Kinder in Sicherheit bringen (Kahn 2010) Die Kinder, die die Hauptbetroffenen von Gewalt, Vernachlässigung o. Ä. waren, werden durch imaginierte Helfer_innen an den inneren sicheren Ort gebracht, damit sie an der Konfrontation nicht teilnehmen müssen. Der sichere Ort ist in der Regel ein kindgerechter Ort, der dem Alter des verletzten Kindes entspricht. Von den imaginierten Helfer_innen werden sie weiterhin betreut und versorgt. Die erwachsene Frau bleibt an ihrem eigenen sicheren Ort und wartet ab, bis die Helfer_innen ihr eine Rückmeldung geben, dass der Rettungsvorgang



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durchgeführt wurde und beendet ist. Es handelt sich um eine sehr fürsorgliche und sorgfältige Arbeit mit dem Inneren Kind. Die suchtmittelabhängige Frau hat die Möglichkeit, den Suchtanteil in Sicherheit zu bringen und damit die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Psychodynamisch Imaginative Trauma Therapie (Reddemann 2011) In der Psychodynamisch Imaginativen Trauma Therapie (PITT) wird eine sanfte Konfrontation mit dem Trauma herbeigeführt. Während der gesamten Exposition wird Abstand zu dem Ereignis gehalten. Nur die innere Beobachterin bearbeitet das Traumageschehen, die betroffene Frau soll nicht in das Erlebnis eintauchen, sondern sich mit ihren imaginativen Techniken von dem Geschehen fernhalten. Mit dieser behutsamen Methode hat die Klientin jederzeit die Kontrolle über das Erlebnis, das imaginär auf der inneren Bühne spielt. Die verschiedenen erarbeiteten Übungen sollen ihr jederzeit die Möglichkeit zur Distanzierung geben. Somit soll eine Re-Traumatisierung verhindert werden. Phase 4: Integration und Neuorientierung In dieser Phase geht es darum, neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Zentral hierfür ist, dass die Kontrolle wieder in der Hand der Klientin liegt. Sie hat unterschiedliche Ziele erreicht und plant, was zukünftig möglich und umsetzbar ist, u. a. bezogen auf neue Lebensperspektiven, ihren Suchtmittelkonsum und den Umgang mit psychischen Belastungen. In dieser Phase gilt es besonders, das Erarbeitete wahrzunehmen, festzuhalten und in den Alltag mit zu übernehmen. Eine zugewandte Begleitung in diesen Prozessen ist notwendig. Mit der Beendigung einer Therapie in der geschützten Umgebung ist auch der Übergang in die Lebenswelt der (An-)Forderungen und Konfrontation verbunden.

S CHLUSSBETRACHTUNG Die Zielsetzung der therapeutischen Arbeit von „Camille“ ist es, den Bewohnerinnen stabile und tragfähige „Wurzeln“ und „Flügel“ zu geben, die ihnen Bodenständigkeit und Flexibilität verleihen. Die dialektische Behandlungsform will den Klientinnen sowohl bei der Suchterkrankung als auch bei komorbiden Störungen zu einer neuen Stressregulation verhelfen, die auf eine Ich-Stärkung und damit auch eine verbesserte Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung zielt. Eine Suchtbehandlung mit der gleichzeitigen Behandlung der psychischen/psychiatrischen Störungen ist nicht mehr unvereinbar, sondern durch ein neues Verständnis sehr nah beieinander und damit auch gemeinsam behandelbar.



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Es kommt darauf an, beiden Erkrankungen gerecht zu werden. Dies erfordert eine durchgängige Berücksichtigung sowohl der Suchterkrankung, die eine konsequente Auseinandersetzung verlangt, als auch der weiteren psychischen/psychiatrischen Störungen, um Lähmung, dissoziative Störungen oder Reizüberflutung frühzeitig zu erkennen und adäquat reagieren zu können. Die Therapeutische Gemeinschaft „Camille“ hat diese Entwicklung vor acht Jahren aufgegriffen und führt seitdem die Behandlung der Suchterkrankung und der vorliegenden Begleiterkrankungen durch. Impulsgeberinnen für diese Entwicklung waren die betroffenen Frauen und deren steigende Nachfrage nach Hilfe und Unterstützung in einem geschützten Rahmen außerhalb großer Fachkliniken. Dieses Vorgehen hat sich bewährt. Die Methoden ermöglichen den Bewohnerinnen, sich auf eigene Handlungsmöglichkeiten zu konzentrieren und neue Lebenswelten zu erkunden und zu erproben. Die spezifische Lebenswelt von Frauen findet explizit Berücksichtigung. Auf der Grundlage der feministischen Haltung gelingt es, auf die spezifischen Erfahrungen und Lebenssituationen von Frauen unter einem erweiterten Blickwinkel einzugehen: So können Stigmatisierungen von Frauen und gesellschaftliche Zuschreibungen ihnen gegenüber im Zusammenhang mit der jeweiligen individuellen Biografie erkannt werden. Die Reflexion einschränkender und begrenzender Erfahrungen und Anforderungen fördert die Entwicklung, eigene Entwürfe weiblicher Lebensformen auszuprobieren und einzuüben und somit langfristig die Erlangung von Autonomie und Selbstbestimmung. Der geschlechtshomogene Rahmen ermöglicht Entwicklungen, die in einem geschlechterheterogenen Setting nicht in dieser Form möglich sind. So erleben die Bewohnerinnen häufig erstmals in ihrem Leben Solidarität durch und Unterstützung von anderen Frauen – eine Erfahrung, über die viele substanzkonsumierende Frauen nicht verfügen. Auch hinsichtlich des Schutzbedürfnisses von Frauen – insbesondere von Frauen mit sexuellen Traumatisierungen durch männliche Gewalt – bieten der geschlechtshomogene Rahmen und die feministische Haltung der Therapeutinnen eine unmittelbare Beruhigung. Die erfahrene Wertschätzung und Akzeptanz ihrer Person ermöglichen einen veränderten Blick auf das eigene Leben und auf das Frausein im gesellschaftlichen Kontext. Eigene, übernommene Zuschreibungen von Weiblichkeit und Frauenleben können in diesem Rahmen reflektiert und hinsichtlich einer eigenen weiblichen Identität revidiert werden. Autonomie wird so möglich.



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L ITERATUR Chopich, Erika J. & Paul, Margaret (2009): Aussöhnung mit dem Inneren Kind, 26. Auflage, Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag. Fritzsche, Kai & Hartmann, Woltemade (2014): Einführung in die Ego-StateTherapie, Heidelberg: Carl Auer. Kahn, Gabriele (2010): Das Innere-Kinder-Retten. Sanfte Traumaverarbeitung bei Komplextraumatisierung, Gießen: Psychosozial-Verlag. Linehan, Marsha M. (1993): Skills training manual for treating borderline personality disorder, New York, NY: Guilford Press. Najavits, Lisa M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörung und Substanzmissbrauch: Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“. Deutsche Übersetzung und Bearbeitung von Schäfer, Ingo/Stubenvoll, Martina/Dilling, Anne, Göttingen: Hogrefe. Reddemann, Luise (2005): Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, 11. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta. Reddemann, Luise (2011): Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT – Das Manual, 6. vollst. neu überarb. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta. Sachsse, Ulrich & Herbold, Willy (Hg.) (2012): Das so genannte Innere Kind: Vom Inneren Kind zum Selbst, 2. Auflage, Stuttgart: Schattauer. Watkins, John G. & Watkins, Helen H. (2003): Ego-States – Theorie und Therapie. Ein Handbuch, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.





Arbeit! Um jeden Preis? R ENA T ÖPFER

G ESELLSCHAFTLICHE B EDEUTUNG

VON

A RBEIT

Arbeit als Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert und gilt als Sinnstifter erster Ordnung. Über die vordergründige Existenzsicherung hinaus – die hier nicht unterschätzt werden soll, gibt die materielle Basis doch Sicherheit und Unabhängigkeit, wenn sie ausreichend ist – entscheidet eine entlohnte Tätigkeit in hohem Maß über die Lebensqualität der Arbeitenden. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann ohne Integration ins Arbeitsleben kaum gelingen, obwohl in den letzten Jahren ein Wertewandel stattgefunden hat. Auf den ersten Blick sind die Ansprüche an eine Arbeitsstelle ökonomisch auf Existenzsicherung ausgerichtet, dabei sind Klientinnen im Suchthilfesystem keine Ausnahme. Dies blendet jedoch oftmals die psychosozialen Aspekte von Arbeit und Beschäftigung aus. Eine produktive Tätigkeit erfüllt im Idealfall eine Reihe menschlicher Bedürfnisse, die zuerst von Marie Jahoda und ihrer Forschungsgruppe in den 1930er Jahren untersucht wurden: Das Werk „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda et al. 1933) zeigt die psychosozialen Auswirkungen massenhafter Arbeitslosigkeit in einer österreichischen Gemeinde. Dieser Klassiker der Sozialforschung gilt auch heute noch als Grundlage aller Überlegungen und Forschungen zu dem Thema. • Arbeit gibt dem Tag eine Zeitstruktur. Nicht nur jeder Tag, sondern die Wo-

che, das Jahr, die zeitliche Perspektive generell erfährt durch ein Arbeitsverhältnis Struktur. Dies schafft Überblick und Orientierung. • Arbeit verschafft soziale Beziehungen durch gemeinsame Erfahrungen und gibt Möglichkeiten zur Kommunikation. Eine Arbeitsstelle gibt Gelegenheit zu



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sozialen Begegnungen und Beziehungen und schafft den Raum, kommunikative und soziale Kompetenzen zu üben. • Arbeit stellt eine Brücke dar zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Leben. Ein Arbeitsplatz bindet in das gesellschaftliche Leben ein; der arbeitende Mensch hat teil an den gesellschaftlichen Erfahrungen und wirtschaftlichen Ergebnissen seines Umfeldes. • Arbeit bestimmt den sozialen Status und die Identität eines Menschen. Arbeit und Beruf sind eng gekoppelt mit gesellschaftlicher Wertschätzung. Die berufliche Laufbahn sozialisiert ein Individuum und es wird mit seiner Arbeit identifiziert. • Erwerbstätigkeit erzwingt Aktivität und bindet den einzelnen Menschen in die soziale Realität ein. Durch Tätigkeit und Einbindung wachsen Kompetenzen und Selbstvertrauen der Arbeitenden.

F OLGEN

VON

A RBEITSLOSIGKEIT

Dies sind wichtige Aspekte, wenn es um die persönlichen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit geht. Psychosoziale Folgen von Arbeitslosigkeit sind seit der Marienthaler Studie eingehend beforscht worden und gewinnen in Zeiten zu1 nehmender Sockelarbeitslosigkeit an Bedeutung. Grob zusammengefasst lässt sich nachweisen, dass arbeitslose Menschen unter Depressionen, Ängsten sowie körperlichen Beschwerden leiden und das Selbstwertgefühl und die Selbstwirk2 samkeitserwartungen mit der Dauer der Arbeitslosigkeit dramatisch abnehmen. Wenn die mangelnde Gelegenheit zur Zeitstrukturierung, zur Ausführung gelernter Kompetenzen und zu sozialen Kontaktmöglichkeiten schon den durchschnittlichen erwerbslosen Menschen massiv in seiner psychischen Gesundheit beeinträchtigt, kann die Situation für Menschen mit Sucht- und psychischen Problemen nur als verschärft – und verschärfend – bezeichnet werden. Sie sind ohnehin oft ausgegrenzt und verfügen über weniger Möglichkeiten, soziale Ein-

1

Sockelarbeitslosigkeit bezeichnet das Phänomen, dass sich trotz sinkender Arbeitslosigkeit eine Gruppe von Menschen über Jahre in der Langzeitarbeitslosigkeit befindet, innerhalb derer kaum noch Bewegung in den Arbeitsmarkt stattfindet.

2

Ein Forschungsprojekt der Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Leipzig, wo unter der Leitung von Prof. Gisela Mohr seit 1987 eine „sächsische Längsschnittstudie“ durchgeführt wird, stellt in diesem Zusammenhang fest: „Arbeitslosigkeitserfahrungen wirken sich entscheidend negativ auf die individuelle psychische, körperliche und soziale Gesundheit aus.“ (Mühlpfordt et al. 2011: 35)



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bindung, Wertschätzung sowie Kompetenz und Selbstwirksamkeit außerhalb des Arbeitslebens zu erfahren. Für sie ist Arbeitsintegration besonders wichtig: „Erwerbstätigkeit ist der öffentlich sichtbare Beleg für Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, statt ‚Defiziten‘ wird individuelles ‚Können‘ sichtbar. Dies prägt zugleich die eigene Identität. Durch das Einnehmen einer […] sozialen Rolle wird ein Gegengewicht zum potentiellen Status einer abgewerteten Person […] gesetzt. Die Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung wird durch Erwerbstätigkeit vermieden oder verringert.“ (Bieker 2005: 16)

Die Exklusionserfahrungen und die mangelnde Gelegenheit zur Orientierung durch eine Tagesstruktur erhöhen zudem die Rückfallgefahr.

3

TIEBR A BEI

F RAU S UCHT Z UKUNFT

An diesem Punkt setzt das Berliner Projekt tiebrA des Trägervereins FrauSuchtZukunft, Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V., an. Grob vereinfacht stellt sich die Aufgabe von „tiebrA – Berufliche Integration für süchtige Frauen“ so dar: Die Klientinnen, im Alter zwischen Ende 20 und Mitte 50, kommen mit dem Wunsch, sich beruflich zu orientieren, einen „Bildungsgutschein“ beim Jobcenter für eine Qualifizierung zu erhalten oder sich erfolgreich um eine Arbeitsstelle zu bewerben. Manchmal geht es auch nur darum, eine Tätigkeit zu finden, in der zunächst einmal die eigene Belastbarkeit überprüft werden kann. Dem stehen meist verschiedene Hindernisse im Weg, beispielsweise lange Lücken im Lebenslauf, Ausbildungsabschlüsse in „ausgestorbenen“ Berufen und insbesondere Scham- und Versagensgefühle beim Blick auf die berufliche Laufbahn. Die Frauen auf ihrem Weg professionell zu begleiten und zu ermutigen, sich Schritt für Schritt weiterzuentwickeln – darin besteht die Arbeit von FrauSuchtZukunft seit fast 20 Jahren. Neben der Eingangsberatung werden Kurse, Workshops und das „Training on the Job“ im Café Seidenfaden – eine weitere Einrichtung von FrauSuchtZukunft – angeboten, wo sich Frauen in den Berufsfeldern Küche, Service und Verwaltung ausprobieren und bei Bedarf weiterqualifizieren können. Die viermal pro Woche stattfindende Kreativwerkstatt „Manu-

3

Der Name tiebrA-Berufliche Integration verweist auf den Projektschwerpunkt: Alles dreht sich um Arbeit, das Thema wird von allen Seiten beleuchtet, rückwärts und vorwärts buchstabiert: tiebrA = Arbeit.



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faktur“ ist ein niedrigschwelliges Angebot zur Stabilisierung und zum Aufbau einer Tagesstruktur sowie elementarer Kompetenzen, wie sie im Berufsleben gebraucht werden. Das SGB IX mit seinen Teilen 1 und 2 enthält alle allgemeinen Grundlagen zur „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ und begründet einen sozialrechtlichen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Das arbeitsgesetzliche Instrument der Wiedereingliederung für alle Arbeitssuchenden ist dagegen das SGB II, und die Bezieher_innen des hier verankerten Arbeitslosengelds II sind die gemeinhin als Hartz IV-Empfänger_innen bezeichneten Menschen. Die Zielgruppe der süchtigen Frauen, sofern sie das Suchthilfesystem in Anspruch genommen haben, fällt zu einem Teil entsprechend der oben genannten gesetzlichen Grundlagen bezüglich beruflicher Integration unter „Psychisch Beeinträchtigte“, zählt jedoch überwiegend zum Kreis der ALG II-Empfängerinnen. Die Klientinnen selbst definieren sich selbst so gut wie nie als psychisch Kranke im Sinne einer Behinderung. Vielmehr stufen sie sich als arbeitsfähig ein und das meist genau im Sinne des SGB II: Sie können mindestens an fünf Wochentagen drei Stunden pro Tag einer Arbeit nachgehen, also 15 Stunden pro Woche und mehr.

S CHÖNE

NEUE

A RBEITSWELT

Praxiserfahrungen zeigen, dass diese Einschätzung auch der Realität entspricht – nur: Von welcher Arbeit sprechen wir hier eigentlich? Ist es noch angemessen, von der Sinn-, Kontakt- und Inklusion stiftenden Variante auszugehen, wie sie oben beschrieben wurde? Oder unterscheiden sich die Rahmenbedingungen auf dem ersten Arbeitsmarkt, in dem sich die Arbeitsverhältnisse im Jahr 2016 bewegen, davon nicht dramatisch? Durch die verschiedensten Berufsbiografien der Klientinnen, aber auch durch Beobachtungen im persönlichen Umfeld, lässt sich zunehmend der Eindruck gewinnen, dass die Arbeitswelt sich in einem Wandel befindet, der für viele Erwerbstätige schon als gesundheitsschädigend bezeichnet werden kann. Immer mehr Arbeitspensum wird auf immer weniger Schultern verteilt, Krankheits- und Urlaubsvertretungen sind Luxus, festgelegte Arbeitszeiten allenfalls eine grobe Orientierung. Privatleben und Arbeitsleben lassen sich auch in schlecht bezahlten Bereichen der abhängigen Beschäftigung, beispielsweise in der Gastronomie, immer seltener trennen.



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Schon vor eineinhalb Jahrzehnten lautete die Prognose: „Was sich abzeichnet, ist eine flexibilisierte […] Hyperarbeitsgesellschaft, die manchen Gruppen Vorteile bringt, für viele andere aber eine ziemlich anstrengende Weise von Leben und Arbeiten bedeuten wird.“ (Voß 2001: 2) Die permanente Erreichbarkeit durch die neuen Kommunikationstechnologien führt zu einer Vermischung von Arbeit und Privatleben. „Flexibilität“ bedeutet damit auch, nicht ausruhen zu können, kaum feste Erholungszeiten zu haben und geringe Möglichkeiten, sich phasenweise innerlich vom Erwerbsleben zu distanzieren. „Für 88 % aller Arbeitnehmer in Deutschland gibt es keinen klassischen Feierabend mehr, weil sie auch daheim stets erreichbar sind.“ (Dettmer/Tietz 2011: 60) Die Zahl und Dauer der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten nehmen zu. „Ständig hoher Zeit- und Leistungsdruck, häufige Arbeitsunterbrechungen oder Informationsüberflutung zerren an den Nerven vieler Beschäftigter. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, wenn zu jeder Zeit und an jedem Ort Informationen bearbeitet und Termine vereinbart werden können. Häufige Umstrukturierungen verunsichern und stellen hohe Anforderungen an die Flexibilität der Belegschaften.“ (Wittig-Goetz 2015)

Nach dem Index „Gute Arbeit“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2016), der jährlichen Repräsentativbefragung zur Arbeitsqualität, arbeiten 56 % der Befragten oft gehetzt und stehen unter Zeitdruck; 61 % geben an, dass sie mehr Arbeit in der gleichen Zeit schaffen müssen. 58 % der Befragten müssen verschiedene Arbeiten gleichzeitig erledigen. An dieser Stelle werden bestimmte Branchen ausdrücklich genannt: die typischen Frauendomänen Callcenter, Pflege und Kita. Die Tatsache, dass diese Arbeitsplätze außerdem schlecht bezahlt sind, erhöht den Druck immens. Die Dienstleistungsbranche ersetzt zumindest in Berlin weitgehend die Arbeitsplätze in der Produktion. Die Tätigkeiten in der Gastronomie, im Handel und der Friseur-/Kosmetikbranche, aber auch etwa in der ambulanten Pflege, bringen neue Herausforderungen mit sich, beispielsweise die Verfügbarkeit und mangelnde Planbarkeit des Privat- und Familienlebens. Alleinerziehende, deren Zahl bekanntlich zunimmt, müssen ihre Arbeitszeiten den Kund_innenwünschen und vielfach auch den Transportmöglichkeiten anpassen, sodass fast jeder Tag vom Wettlauf mit den Öffnungs- und Schließzeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen geprägt ist. Immer häufiger ist es in Großstädten üblich, dass zwei oder mehr Teilzeitjobs zur Sicherung des Lebens-



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unterhaltes gemanagt werden müssen – ein Phänomen, das bislang nur aus Entwicklungsländern bekannt war. Der „klassische“ Spagat von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, nämlich den Beruf mit familiären Versorgungsaufgaben zu vereinbaren, wird sozusagen überdehnt von den Anforderungen, zeitlich flexibel und räumlich mobil zu sein. Hinzu treten auch vielfach Ansprüche der permanenten Weiterqualifizierung, um mit den technischen Entwicklungen Schritt halten zu können. Ist das die schöne neue Arbeitswelt, in die Klientinnen des Suchthilfesystems integriert werden sollen? Faktisch ist es doch so, dass die meisten Klientinnen, zumindest mittelfristig, eine überschaubare, gut strukturierte und sozial eingebundene Tätigkeit ausüben müssen, um ihren Alltag zu bewältigen, weitere Perspektiven zu planen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und sozialen wie gesundheitsförderlichen Bedürfnissen zu gestalten. Was heißt das für die Arbeit bei tiebrA? Der erste Arbeitsmarkt bietet zumindest in Berlin kaum noch Nischen für einfach strukturierte und überschaubare Tätigkeiten. Und die Toleranzschwelle für unkonventionelle Biografien sinkt, das lässt sich schon allein bei der Praktikumssuche der Klientinnen feststellen. Betriebe, Institutionen und Geschäftsleute nehmen das Risiko einer möglicherweise einarbeitungsintensiven Praktikantin nicht auf sich, zumal häufig junge, akademisch qualifizierte Alternativen bestehen. Was notgedrungen mehr in den Blick genommen werden muss, sind Bereiche, die abseits des ersten Arbeitsmarktes liegen. Gemeint ist damit ein zweiter und dritter Arbeitsmarkt, also öffentlich geförderte Beschäftigung in (gesellschaftlich) sinnvollen Tätigkeiten. Allerdings ist hier ein ausgesprochen hohes politisches Desinteresse an einer Arbeitsmarktpolitik festzustellen, die die mindestens zwei Millionen Menschen (Zahlen variieren je nach Quelle) mit sogenannten Vermittlungshemmnissen im Visier hat. Sie werden „abgehängt“ und kaum in die Lage versetzt, ihre erworbenen Qualifikationen zu erhalten, aufzufrischen oder zu erweitern. Öffentlich geförderte Beschäftigung, beispielsweise in gemeinnützigen Einrichtungen, ist mittlerweile auf sehr eng definierte Einzelmaßnahmen in geringer Anzahl beschränkt und damit eine Ausnahmeerscheinung geworden. Ein sozialer Arbeitsmarkt ist nicht in Sicht. So müssen mit den Klientinnen ganz eigene Wege gefunden werden, der (Selbst-)Abwertung durch Langzeitarbeitslosigkeit zu entgehen.



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Ressourcenaktivierung Gefördert durch den Europäischen Sozialfond hat FrauSuchtZukunft einen Weg gefunden, süchtigen Frauen Tagesstruktur und Beschäftigung im Kreativbereich zu bieten. In der „Manufaktur“ können sie an drei bis vier Tagen pro Woche in einer Gruppe produktiv tätig werden. Angeleitet von zwei Ergotherapeutinnen entstehen alltagspraktische und ansprechende Unikate. Mindestens ebenso wichtig wie die neu erlebte Produktivität ist die Erfahrung, in einer Gruppe angenommen zu sein und – durchaus auch kritisch – begleitet zu werden. Elementare Fähigkeiten wie Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer werden trainiert. Von den Frauen sehr wertgeschätzt wird die Möglichkeit, sich eine Tagesstruktur aufzubauen. Die Manufaktur-Teilnehmerinnen können sich stabilisieren und haben zusätzlich bei tiebrA die Chance, in Beratung und Workshops Unterstützung bei der Orientierung, Berufswegeplanung und Bewerbungen zu bekommen. Im Gegensatz zu den üblichen Beschäftigungstagesstätten wird bezirksübergreifend gearbeitet und damit eine Lücke im Versorgungssystem geschlossen. Bei FrauSuchtZukunft können gerade mit diesen Gruppenangeboten die oft verschütteten Ressourcen der Frauen wieder aktiviert werden. Der Begriff der Ressourcen, der für den psychosozialen Bereich von Herriger (2014) aufbereitet wurde, ist sehr weit gefasst. Auf den Arbeitskontext bezogen bietet sich das „Job Demands Ressources“-Modell von Bakker und Demerouti (2007) an. Sie fassen unter Ressourcen alle Faktoren zusammen, die einer Person helfen, Arbeitsziele zu erreichen, Stressoren zu verringern oder deren Folgen abzufangen sowie Faktoren, die der persönlichen Entwicklung dienen. Sie zählen dazu Problemlöse- und Zeitmanagementkompetenz, Konfliktmanagement und Kommunikationsfähigkeit sowie Selbstwirksamkeitserwartung. All diese Aspekte werden in den Gruppenangeboten bei tiebrA trainiert. Und das Beste ist: Die Frauen können dabei voneinander lernen. Die Kompetenz, Probleme zu lösen, bezeichnet beispielsweise die Fähigkeit, eine unerwünschte Situation zu analysieren und Ziele zu bilden, um diese zu verändern. Wichtig ist es dabei, realistische Schritte zu entwickeln. Im Dialog mit den Trainerinnen, aber auch in der Diskussion mit anderen Teilnehmerinnen, können verschiedene Lösungswege gedanklich ausprobiert und auf ihre Vorund Nachteile hin überprüft werden. Auch die Möglichkeiten des Zeitmanagements im Alltag sind häufig an die Möglichkeiten zur Reflexion geknüpft. In diesem Prozess können die Frauen einander wertvolle Erfahrungen weitergeben. Die Einübung sachlicher, zielgerichteter, aber auch sozial förderlicher – „gewaltfreier“ – Kommunikation geschieht laufend und auch Konfliktfestigkeit wird mit den Auseinandersetzungen vor Ort trainiert, sei es bei der Verteilung



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der Arbeitsmaterialien oder im Umgang mit unterschiedlicher Anstrengungsbereitschaft beim Erreichen gemeinsamer Ziele. Die Praxiserfahrungen zeigen: Die Fähigkeiten, Grenzen zu ziehen, abzuschalten und sich zu entspannen, sind im wirklichen Arbeitsleben unabdingbar. Im Rahmen des Projekts werden die Frauen ermuntert, auf die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu achten und sich Zeit für Atem- und Entspannungsübungen zu nehmen. Natürlich geht es über den individuellen Stressabbau hinaus auch darum, sich Unterstützung – etwa als Alleinerziehende – zu organisieren und langfristig die Ursachen für Überforderung abzubauen und Problemlösefähigkeit zu entwickeln. Dies alles lässt sich im „geschützten Rahmen“ noch relativ gut ausbauen. Der Schritt, das Gelernte in die Praxis umzusetzen, bedarf dann Fantasie und der Bereitschaft, ungewöhnliche Wege zu gehen. Praxisbeispiele: Frau M., Anfang 50, ist ausgebildete Kinderkrankenschwester und Sozialpädagogin, hat aber in dem letztgenannten Beruf nie gearbeitet. Ihre Leidenschaft ist die Fotografie. Durch eine kleine Erbschaft konnte sie sich den Traum von einer Ausbildung an einer Akademie erfüllen – bis sie nach einem Jahr überfordert zusammenbrach. Ihr Suchtmittel ist Alkohol, zudem ist bei ihr fachärztlich eine schwere Depression diagnostiziert worden. Durch wiederkehrende Krisen hat sie zentrale Lebensbereiche vernachlässigt. Sie ist inzwischen geschieden und aktuell von einer Räumungsklage bedroht. Frau M. ist intelligent und redegewandt, wirkt aber immer wieder extrem erschöpft und hat viele gesundheitliche Probleme. Ihr Wunsch an die berufliche Wiedereingliederung ist, in einem Fotofachgeschäft zu arbeiten und irgendwann wieder finanziell auf eigenen Füßen zu stehen. Leider kennt sie sich mit digitaler Fotografie kaum aus, eine Lücke, die sie in naher Zukunft nicht wird schließen können. Dieser berufliche Weg scheint wenig realistisch. Dennoch wird mit ihr gemeinsam eine Strategie erarbeitet: Mit ihrem Hund, der ihr sehr am Herzen liegt, ist sie viel im Kiez unterwegs und weiß, dass Hundebetreuung von Berufstätigen nachgefragt wird. Wenn sie dies als Zuverdienst zu ihrem ALG IIBezug ausbauen kann, wird sie sich später mit Fotografien von Haustieren möglicherweise eine Nische in der Fotobranche eröffnen können.

Dies mag zwar exotisch klingen, es stellt sich aber die Frage, welche Alternativen hierzu bestehen könnten. Aktive Bewerbungen würden, falls erfolgreich, ziemlich sicher in einer Überforderung enden – eine umfassende Abhängigkeit von ALG II dagegen erhöht das Risiko, in Depressionen und auch Sucht zurückzufallen.



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Frau B., 42 Jahre alt, lebt allein und hat drei ambulante Therapien wegen ihrer Borderlineund bipolaren Störung absolviert. Eine Entwöhnungsbehandlung hat sie bisher nicht durchgeführt. Sie konsumiert missbräuchlich Alkohol und hat wegen ihrer Kaufsucht hohe Schulden. Frau B. verfügt über das Abitur; nach zwei abgebrochenen Studiengängen und einer Tanz-/Theater-Ausbildung hat sie inzwischen einen Bachelor-Abschluss in Theaterwissenschaften erlangt und eine Weiterbildung zur technischen Redakteurin im Verlagswesen absolviert. Geld verdient hat sie jedoch bisher nur als (ungelernte) Betreuerin in der ambulanten Pflege. Frau B. ist ungewöhnlich kreativ und intelligent. Weil sie aber deutlich impulsgesteuert ist und ein „Autoritätsproblem“ hat, wird eine bezahlte Arbeit im wissenschaftlichen oder Verlagsbereich schwer zu erreichen und durchzuhalten sein. Sie könnte aber für die Medienarbeit als Freiberufliche mit ihren Ideen und ihrer Einsatzbereitschaft eine Bereicherung sein. Aktuell bewirbt sie sich (mit sehr originellen Unterlagen) bei drei Radiosendern.

Neben solch individuell zugeschnittenen Ansätzen sucht tiebrA auch immer häufiger nach sinnvollen Ehrenämtern, auch wenn dies politisch sicher fragwürdig ist. In Ermangelung einer wenigstens symbolisch bezahlten, öffentlich geförderten Beschäftigung ist ein Ehrenamt jedoch oft die Alternative, die dem Anspruch an eine sinnstiftende Arbeit noch am ehesten entspricht. Eine Tätigkeit als Lesepatin, im Stadtteilcafé oder auf dem Kinderbauernhof bindet die Frauen ohne Druck in eine bestehende Arbeitsstruktur ein. Sie übernehmen Verantwortung, müssen sich mit anderen auseinandersetzen und kooperieren, um ein Ziel zu erreichen. Sie können sich zugehörig fühlen und nehmen teil am gesellschaftlichen Leben, statt gegen die drohende Vereinzelung zu kämpfen, die das Leben von „Stütze“ oft mit sich bringt. Bei allen Vorzügen des Ehrenamts versteht es sich von selbst, dass diese Lösungsansätze immer auch eine Ausweichmöglichkeit bleiben und politisch weiter Druck aufgebaut werden muss, damit tragfähige Alternativen zum ersten Arbeitsmarkt mit seinen hohen Belastungen finanziert werden. Außerdem muss weiter thematisiert werden, dass die Risiken einer globalisierten Arbeitswelt immer mehr von den Beschäftigten getragen werden. Für die Mitarbeiterinnen von tiebrA steht angesichts dieser Situation zunächst im Vordergrund, je nach Ausbildung, Erfahrungen und Neigungen der Teilnehmerinnen gemeinsam mit ihnen einen realistischen Weg zu entwickeln. Jenen Bedürfnissen, die die Erwerbsarbeit erfüllen soll, wird versucht mit kleinteiligen, originellen und auch ehrenamtlichen Lösungen zu begegnen.



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L ITERATUR Bakker, Arnold & Demerouti, Evangelia (2007): „The Job Demands-Resources model: state of the art”, in: Journal of Managerial Psychology 22, 309-328. (Dt.: Demerouti, Evangelia (2012): Psychische Belastung und Beanspruchung am Arbeitsplatz, Berlin: Beuth Verlag). Bieker, Rudolf (Hg.) (2005): Teilhabe am Arbeitsleben. Wege der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung, Stuttgart: Kohlhammer. Dettmer, Markus & Tietz, Janko (2011): „Jetzt mal langsam!“, in: Der Spiegel 30, 60. Online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-796527 05.html [19.05.2016]. Herriger, Norbert (2014): Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, 5. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hg.) (2016): „Arbeiten ohne Ende“, in: DGBIndex Gute Arbeit Kompakt. Online verfügbar unter: http://index-gutearbeit.dgb.de/++co++b877f100-c4c8-11e5-94ef-52540023ef1a [19.05.2016]. Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul Felix/Zeisel, Hans (1933): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig: Hirzel (als Buch erschienen bei Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1975). Mühlpfordt, Susann/Mohr, Gisela/Richter, Peter (2011): Erwerbslosigkeit: Handlungsansätze zur Gesundheitsförderung, Lengerich: Pabst Science Publishers. Voß, Günter (2001): „Der Arbeitskraftunternehmer. Ein neuer Typus von Arbeitskraft und seine sozialen Folgen.“ Vortragsmanuskript, in ähnlicher Fassung erschienen in: Reichold, Hermann/Löhr, Albert/Blickle, Gerhard (Hg.) (2001), Wirtschaftsbürger oder Marktopfer? Neue Beschäftigungsverhältnisse – ein Risiko für Gesellschaft, Recht und Ethik? München: MeringHampp, 15-32. Wittig-Goetz, Ulla (2015): „Psychostress bei der Arbeit“, in: ver.di publik 1. Online verfügbar unter: http://publik.verdi.de/2015/ausgabe- 01/spezial/gesund heit/seite-19/A0 [19.05.2016].





Begleitete Selbsthilfe in der Frauensuchtarbeit C HRISTRUN O ELKE

E INLEITUNG Wie und ob Frauen ihren Weg aus einer Suchterkrankung herausfinden, ist ungewiss. Wirkfaktoren von therapeutischen Verfahren und Erfolgskriterien von Interventionen, Maßnahmen und Angeboten sind zwar zu einem Teil erprobt, erforscht, beschrieben und hinterfragt worden. Was aber dazu führt, dass suchtkranke Frauen ihren Substanzkonsum beenden und was sie darin unterstützt, auch langfristig an der Erhaltung ihrer Abstinenz zu arbeiten – darüber ist bislang wenig bekannt. Die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer arbeitet seit 20 Jahren mit suchtkranken Frauen. Seit neun Jahren bietet sie eine begleitete Selbsthilfegruppe für abstinenzorientierte Frauen in der Beratungsstelle an. Der nachfolgende Beitrag beschreibt die praktische Umsetzung dieses Angebots und geht auf die Frage ein, inwiefern begleitete/geleitete Selbsthilfe kein Widerspruch in sich sein muss.

B EGLEITETE S ELBSTHILFEGRUPPE

FÜR

F RAUEN

Die begleitete Selbsthilfegruppe für Frauen ist ein niedrigschwelliges Angebot für Klientinnen der Frauensuchtberatungsstelle FrauenZimmer. Teilnehmen können aber auch Klientinnen anderer Suchthilfeeinrichtungen in Freiburg, die bisher noch keinen Kontakt zu FrauenZimmer hatten. Manche Frauen kommen unmittelbar im Anschluss an eine qualifizierte Entzugsbehandlung in die Gruppe und sind erst kurze Zeit abstinent, andere befinden sich aktuell in einem teilstationären qualifizierten Entzug. Auch Frauen, die in anderen Einrichtungen eine



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Adaptions- oder Nachsorgebehandlung wahrnehmen, können an dem Gruppenangebot, ohne eine weitere Anbindung an FrauenZimmer, teilnehmen. Andere Frauen haben bei FrauenZimmer eine ambulante Rehabilitation oder Nachsorge nach einer stationären Langzeittherapie absolviert und kennen die Gruppe aus ihrer Betreuungszeit bei FrauenZimmer. Auch Klientinnen, die nur wenige Gespräche im Rahmen einer Orientierungsberatung bei FrauenZimmer wahrgenommen haben und nicht über eine suchtmedizinische Vorbehandlung verfügen, sind bzw. können Teilnehmerinnen sein. Das Angebot findet einmal wöchentlich statt. Eine Anmeldung zu dem Gruppenangebot ist nicht erforderlich – interessierte Frauen können einfach kommen. Das Gruppenangebot wird geleitet und begleitet von einer langjährig erfahrenen, qualifizierten Suchttherapeutin, die sich zusätzlich, wie alle Mitarbeiterinnen im Team, für die geschlechtsbezogene Arbeit mit Frauen qualifiziert hat. Die Klientinnen Von den 20 Frauen, die die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer jährlich für eine ambulante Rehabilitation oder Nachsorge nutzen, besucht etwa ein Fünftel nach Abschluss der Behandlung für eine gewisse Zeit die begleitete Selbsthilfegruppe. Von im Schnitt 18 Frauen, die regelmäßig an der Gruppe teilnehmen und sich ihr zugehörig fühlen, sind zwischen 6 und 14 Frauen je Gruppenabend anwesend. Einige der Teilnehmerinnen leben seit Jahren stabil abstinent und sind in ihre Berufstätigkeit und/oder Familie gut integriert. Sie nehmen regelmäßig und mit einer hohen Motivation an dem Angebot teil. Obwohl jüngere Frauen explizit willkommen sind und auch Frauen zwischen 23 und 40 Jahren an der Gruppe teilnehmen, sind die meisten Teilnehmerinnen zwischen 40 und 60 Jahre alt. Ein Großteil der Frauen hat erwachsene Kinder und/oder Enkelkinder. Als Zielgruppe sind Frauen mit einer Alkoholabhängigkeit als Hauptdiagnose angesprochen. Zusätzlich weisen Frauen Essstörungen, eine Medikamentenabhängigkeit oder eine Abhängigkeit von illegalen Drogen auf. Es sind aber auch Frauen willkommen, die beispielsweise ausschließlich von Medikamenten, Heroin oder Cannabis abhängig sind, jedoch in Bezug auf den Alkoholkonsum eine klare Abstinenzentscheidung getroffen haben. Ein häufig als sehr belastend empfundenes Thema der Teilnehmerinnen sind Schuldgefühle den eigenen Kindern und dem Partner oder der Partnerin gegenüber. Besonders, wenn kleine Kinder durch die Suchterkrankung ihrer Mutter belastet waren, kommt es im Verlauf der Abstinenzstabilisierung oft zu Ausei-



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nandersetzungen mit den heute erwachsenen Kindern. Die Beziehung steht auf dem Prüfstein und die Frauen sehnen sich nach Heilung dieser Beziehungen. Die abstinente Lebensweise schafft die Grundlage dafür, dass sich die Frauen mehr und mehr auf sich selbst einlassen können. Die regelmäßigen Besuche in der Gruppe ermutigen dazu, sich selbst kennenzulernen, auszuhalten und die Reise nach innen fortzusetzen, Gefühle und Bedürfnisse besser wahrzunehmen und zu kommunizieren. Nach den ersten „trockenen“ Tagen, Wochen und Monaten geht es darum, „nüchtern“ – im Sinne von „direkt und pur“, wie es eine Teilnehmerin der Gruppe einmal ausgedrückt hat – den Umständen und dem eigenen Selbst begegnen zu können. Ablauf, Ziele und Inhalte der begleiteten Selbsthilfegruppe Der Ablauf jeder eineinhalbstündigen Sitzung der begleiteten Selbsthilfegruppe ist klar strukturiert. Bei der Ankunft der Teilnehmerinnen ist der Raum mit einem Stuhlkreis vorbereitet. Der Ablauf der Gruppensitzung hängt am Flipchart und Namensschilder für die Teilnehmerinnen liegen aus. Zu Beginn der Gruppensitzung wird das Bedürfnis nach einer Entspannungsübung erfragt. Diese wird, bei Bedarf, in Form einer Achtsamkeitsmeditation, einer Atemübung oder eines Body Scans von der Therapeutin angeleitet. Das Ziel dieses Einstiegs in die Gruppenarbeit ist es, den Teilnehmerinnen zu ermöglichen, Abstand von den Ereignissen des Tages zu erlangen, anzukommen und sich auf die Gruppensituation einzulassen. Wichtige Konzept-Bestandteile sind die verschiedenen „Runden“. So sind die „Eingangsrunde“ und „Abschlussrunde“ wichtige Elemente für das aktuelle Stimmungsbild: Wie geht es mir, wie fühle ich mich in diesem Moment? Gab es seit der letzten Sitzung einen Rückfall? Wie gehe ich jetzt nach Hause? Während der Runde „Offenes vom letzten Mal“ besteht die Gelegenheit, etwas anzusprechen, was noch beschäftigt. Die Anregung ist hier, Ehrlichkeit mit sich und anderen einzuüben, eigenen Ärger und/oder Verletzungen ernst zu nehmen und Mut zum Sprechen zu trainieren. In der Runde „Schönes und Erfreuliches“ geht es darum, den Fokus von den Defiziten und Mängeln weg, hin zu positiven Aspekten des Lebens zu lenken. Die Frauen berichten von Erlebnissen, die ihnen in den letzten Tagen Freude bereitet haben und lassen so die anderen an ihrem Leben und an ihrem Alltag teilhaben. Das Kernelement der Gruppenstunde ist die „Austausch- und Unterstützungszeit“, die einen Zeitraum von etwa fünfzig Minuten umfasst. Die Teilnehmerinnen sind aufgefordert, zu formulieren, welches Thema sie aktuell beschäftigt. Zunächst setzt sich jede für sich allein in einem inneren Prozess mit dieser



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Frage auseinander, anschließend stellt sie ihr Anliegen der Gruppe vor. Meist sind Themen, die im direkten Zusammenhang mit dem Suchtmittel stehen, besonders dringlich: z. B. Suchtdruck und die Vermeidung von Rückfällen, Abweisen von Trinkaufforderungen, Verhalten auf Betriebsfesten und Familienfeiern. Auch Probleme, die leicht zu Suchtdruck führen, werden thematisiert, so z. B. Mutlosigkeit oder Verzweiflung bei der Wohnungssuche, der Arbeits- oder Therapeut_innensuche. Fragen nach praktischen Tipps haben hier ebenso Platz wie tiefer gehende Fragestellungen, etwa bezogen auf Möglichkeiten im Umgang mit Schuldgefühlen und Abgrenzung in Beziehungen. Die Gruppe bietet einen Rahmen, in dem Kontinuität, Verlässlichkeit und klare Strukturen verbindlich eingehalten werden. Somit stellt sie auch ein Modell zur Verfügung, auf das die Teilnehmerinnen sich sicher verlassen können. Verlässlichkeit und Beständigkeit haben suchtkranke Frauen in ihrer Biografie häufig nicht erlebt und erlernt. Gleichzeitig finden sie einen Rahmen vor, in dem sie nichts leisten oder mitbringen müssen, außer der Bereitschaft, sich auf diesen Rahmen einzulassen und die Motivation, ohne Alkohol und Drogen leben zu wollen. Wichtig für die Gruppe sind die „Wünsche im Umgang miteinander“. Diese umfassen zentral die Verschwiegenheit, der sich alle Teilnehmerinnen verpflichten: Persönliches bleibt in der Gruppe. Der Umgang mit Rückfällen wird ebenfalls als eine Gruppenregel beschrieben: Rückfälle werden grundsätzlich in der Gruppe „geöffnet“ und unter dem Fokus reflektiert, welche Hinweise der Rückfall bezogen auf eine bessere Rückfallprophylaxe geben kann. Diese Regeln sind als verbindliche Wünsche von den Teilnehmerinnen formuliert, sind schriftlich fixiert und liegen sichtbar für alle Frauen der Gruppe im Gruppenraum aus. Jede neue Teilnehmerin wird über die Gruppenregeln informiert und bekommt eine Kopie dieser Gruppenregeln mit nach Hause. Bei der nächsten Sitzung hat sie die Gelegenheit, mögliche Fragen zu diesen Regeln zu stellen, Anmerkungen zu formulieren und Ergänzungen vorzuschlagen. In regelmäßigen Abständen werden gemeinsam diese „Wünsche für den Umgang miteinander“ diskutiert und überprüft. Manchmal erfahren diese Gruppenregeln Anpassungen, Korrekturen oder Ergänzungen. So erlangen die Teilnehmerinnen nicht nur das Gefühl, an den Regeln tatsächlich beteiligt zu werden, sondern sie gestalten aktiv den Umgang miteinander. Zentral werden somit auch die Fragen: „Wie möchte ich, dass andere mit mir umgehen?“ und „Wie gehe ich mit anderen um?“ bearbeitet. Bei diesen Themen finden sich häufig deutliche Parallelen von (Selbst-)Entwertung und Missachtung im biografischen Kontext von Frauen. Eine Sensibilisierung von Zusammenhängen zwischen der



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Entwicklung von Selbstachtung und Selbstbewusstsein und der eigenen Geschichte kann somit als Thema in die Gruppensitzungen einfließen. Die Ziele der Gruppenarbeit sind die Entwicklung von Mitgefühl, Empathie und Akzeptanz sich selbst und anderen gegenüber sowie die Stärkung der Konfliktfähigkeit, z. B. indem die Teilnehmerinnen miteinander ins Gespräch kommen und lernen, ehrliches und konstruktives Feedback zu geben. Sie haben in der Gruppe die Möglichkeit, praktische Erfahrungen damit zu sammeln, wie befriedigende Beziehungen gestaltet werden können. Die Teilnehmerinnen berichten, dass diese Erfahrungen ihr Selbstwertgefühl stärken und zu neuen Verhaltenserprobungen, auch außerhalb der Gruppe, ermutigen. Sie erleben, dass es sich gerade in den Beziehungen zu Kindern oder Partner_innen lohnt, Neues auszuprobieren, schwierige und konflikthafte Themen anzusprechen, sich mehr mit der eigenen Haltung und Meinung zu zeigen, (beherzter) zu streiten und insgesamt mutiger zu handeln. Frauen, die die begleitete Selbsthilfegruppe besuchen und sich auf ihre eigene Entwicklung einlassen, erhalten durch das Konzept der begleiteten Selbsthilfe drei wichtige Bausteine für das Fundament ihrer langfristigen, abstinenten Lebensgestaltung: 1) Selbstwertsteigerung durch positive eigene Erfahrungen, 2) Ankommen und Getragen werden in einem sozialen Gefüge durch Gemeinschaft und 3) Orientierung und Sicherheit durch die Begleitung im Gruppensetting.

B EGLEITETE S ELBSTHILFE –

EIN

W IDERSPRUCH ?

Selbsthilfegruppen sind in der Regel selbst organisierte Zusammenschlüsse von Menschen in ähnlichen Lebenssituationen, mit ähnlichen Problemen oder Anliegen. Mit dem Ziel, sich gegenseitig zu unterstützen, die eigenen Bewältigungsstrategien zu stärken und die persönliche Lebenssituation zu verbessern, ist die gemeinsame Betroffenheit eine Grundlage des Selbsthilfe-Engagements. Die Begleitung der Gruppe durch eine Suchttherapeutin unterscheidet sich von dieser Form der Selbsthilfe. Die Therapeutin übernimmt in der professionellen Begleitung Aufgaben, die in einer traditionellen Selbsthilfegruppe, in der alle Teilnehmenden von einer Abhängigkeitserkrankung betroffen sind, nicht wahrgenommen werden können. Sie verfügt über theoretische Auseinandersetzungen und Praxiserfahrungen mit den unterschiedlichen Aspekten von Suchtdynamiken, insbesondere hinsichtlich geschlechtsbezogener Aspekte. Zudem hat sie einen anderen Blick auf suchtrelevante Themen als die Teilnehmerinnen selbst. Sie übernimmt die Verantwortung der professionellen Leitung, fördert Offenheit und Vertrauen und sensibilisiert die Teilnehmerinnen für eine grenzüberschrei-



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tende Anteilnahme. Darüber hinaus stoppt sie offensiv beispielsweise das Erteilen von Ratschlägen. Ebenso zeigt sie Bagatellisierungen im Gespräch über Suchtmittel bzw. deren Konsum auf. Ihre wertschätzende und respektvolle Haltung allen Teilnehmerinnen gegenüber fördert Achtung und Respekt unter den Frauen. Gleichzeitig steht die Therapeutin als Bindeglied zwischen den betroffenen Frauen, da sie durch ihre Tätigkeit in der Suchtberatungsstelle viele von ihnen bereits kennt und zu einem großen Teil eine tragfähige Arbeitsbeziehung zu ihnen erarbeitet hat. Die professionelle Begleitung ermöglicht neben der Moderation der Sitzungen insbesondere den Einbezug von Konzepten und Methoden psychotherapeutischer oder anderer Methoden. Genutzt werden Methoden aus der Verhaltenstherapie, der Transaktionsanalyse, der GFK (Gewaltfreie Kommunikation von Marshall B. Rosenberg) oder der TZI (Themenzentrierten Interaktion von Ruth C. Cohn). Bei Interesse der Teilnehmerinnen werden diese Methoden in Kurzsequenzen zur Informationsvermittlung im Sinne der Psychoedukation theoretisch eingebracht. Wie von den Teilnehmerinnen immer wieder benannt wird, vermittelt das lenkende, aber auch begrenzende und insistierende Eingreifen der begleitenden Therapeutin ein Gefühl von Sicherheit. Dieses fördert Freiheit, Offenheit und Verständnis untereinander. Der unterstützende Rahmen, der so geschaffen werden kann, ermutigt auch diejenigen Frauen, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, die sich ansonsten nicht trauen würden, teilzunehmen. Ebenso stärkt er, sich nach einer subjektiven Entwicklungszeit selbst einzubringen. Dies ermöglicht es z. B. auch chronisch mehrfach abhängigen Frauen sowie Frauen mit komorbiden Störungen einen Nutzen und Gewinn aus der Selbsthilfegruppe zu erlangen, ohne sich selbst zu überfordern. Gleichzeitig fördert dieser Rahmen ein offenes, integrierendes und gleichzeitig im positiven Sinne konfrontatives Miteinander, welches auch mit der heterogenen Zusammensetzung der Gruppe im Zusammenhang steht: Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten werden gesehen, benannt und reflektiert, sodass die einzelnen Teilnehmerinnen sowohl die Möglichkeit bekommen, voneinander zu lernen, als auch sich abzugrenzen. Die Selbsthilfeidee steht trotz der intensiven professionellen Begleitung stets im Mittelpunkt. Die Frauen bringen aktiv ihre Themen, ebenso ihre Erfahrungen, Anregungen und Lösungsansätze ein. Die Solidarität untereinander und die häufig erstmals erlebte Erfahrung, als Frau mit dem Suchtproblem nicht allein zu sein, wird als enorm stärkend und unterstützend erlebt. Frauen, die bereits über einen längeren Zeitraum an dem Gruppenangebot teilnehmen und stabil abstinent sind, können aus einem reichen Erfahrungsschatz berichten und stellen so-



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mit für Frauen, die erst am Anfang ihres neuen Weges sehen, ein Modell von großem Wert dar. Teilnehmerinnen des Gruppenangebots, die sich nach einer Phase in diesem begleiteten Konzept autonom und aktiver in einer Selbsthilfegruppe engagieren wollen, können dies bei „Frau Sucht Hilfe“ tun. Diese nicht professionell begleitete Selbsthilfegruppe trifft sich alle zwei Wochen in den Räumen von FrauenZimmer. Sie ist ebenfalls abstinenzorientiert und steht in engem Kontakt mit der Suchtberatungsstelle, ist aber unabhängig und selbstständig. Teilnehmerinnen der begleiteten Gruppe werden über diese Möglichkeit informiert und zu einer Teilnahme ermutigt – aber nicht gedrängt oder dorthin entlassen. Alle Frauen, die an einer der Selbsthilfegruppen teilnehmen, können bei Bedarf auch zusätzlich eine weitergehende Hilfestellung durch die Frauensuchtberatungsstelle FrauenZimmer bekommen, in Form von Einzelgesprächen oder ambulanter Betreuung/Begleitung. Für diejenigen, die keine ausreichende Unterstützung durch die begleitete Selbsthilfegruppe erlangen können, besteht die Möglichkeit, sich alternativ in der Suchtberatungsstelle FrauenZimmer für eine Orientierungsberatung anzumelden. Die Praxis zeigt, dass eine Teilnahme an dem Gruppenangebot für manche Frauen die Schwelle, sich im Suchthilfesystem Hilfe zu organisieren, senkt und somit der erste Schritt in die weitere Behandlung ermöglicht wird. Besonders erfreulich aus professioneller Sicht ist es zu erleben, dass es vielen Frauen gelungen ist, mithilfe dieses Gruppenangebotes stabil abstinent und zufrieden zu leben. In dem Wissen, dass es eine umfassende persönliche Leistung darstellt, sich aus der Suchtbindung zu lösen, gebührt jedem gelungen Ausstieg Respekt und Achtung.





Angehörige Frauen von suchtkranken Menschen V ERENA D ETHLEFS

Es gibt keine konkreten Zahlen darüber, wie viele Menschen von der Sucht eines ihnen nahestehenden Menschen betroffen sind: Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2015) gehen von acht Millionen Angehörigen allein von Alkoholabhängigen aus. Zusätzlich sind viele Angehörige von medikamenten- und drogenabhängigen Menschen unmittelbar mitbetroffen. Knapp 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in alkoholbelasteten Familien, hinzu kommen Kinder, deren Eltern drogenabhängig sind und andere Suchterkrankungen haben (vgl. Klein 2005). Angehörige unterstützen in vielfältiger Weise und leisten einen erheblichen Beitrag, um die negativen Folgen der Suchterkrankung zu reduzieren. Sie sind massiven Belastungen ausgesetzt und haben ein erhöhtes Risiko, selbst psychisch oder psychosomatisch zu erkranken. Diese Belastungen treten in der Regel durch den chronischen Verlauf der meisten Abhängigkeitserkrankungen auf. Die Angehörigen bleiben häufig lange ohne Unterstützung. Ihrer Problematik wurde und wird oft wenig Beachtung geschenkt. Es ist daher längst überfällig, den Blick für Angehörige von suchtkranken Menschen zu schärfen und insbesondere die angehörigen Frauen in den Fokus zu rücken. Von zentraler Bedeutung ist es hierbei, Vorurteilen zu begegnen, die sich in vielen Köpfen hartnäckig halten und die mit Abwertungen und Schuldzuweisungen gegenüber den Angehörigen einhergehen. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer geschichtlicher Überblick über Veröffentlichungen und Studien gegeben, die sich mit Angehörigen suchtkranker Menschen befassen. Anschließend werden die Belastungen der Angehörigen und ihre Bewältigungsstrategien beschrieben. Abschließend wird die praktische Ar-



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beit am Beispiel des Zentrums für Angehörige beim Träger Frauen Sucht Gesundheit e. V. geschildert.

D AS A NGEHÖRIGENTHEMA Ü BERBLICK

IM GESCHICHTLICHEN

Die Ursprünge der Angehörigenarbeit liegen vermutlich im systemischen Denken. Mögliche Ursachen von psychischen Störungen wurden in der Familie gesucht (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2013). Frühe Familienstudien legten den Fokus vor allem auf die Mütter und ihr Erziehungsverhalten. Aus Beschreibungen von Partnerinnen von Alkoholkranken wurde gefolgert, dass diese ihre eigene primäre Pathologie in der Beziehung ausgleichen (vgl. Whalen 1953). Die Literatur von Al-Anon1 aus den 1960er Jahren sprach bei einer Suchterkrankung von einer „Familienkrankheit“ und beschrieb die Auswirkungen auf die Familien (vgl. Rennert 1990). Die Al-Anon Familiengruppen waren aus den Anonymen Alkoholikern (AA) hervorgegangen. Frauen als Angehörige von Alkoholikern hatten wegen ihrer persönlichen Belastungen eigene Gruppen gegründet, die sich an den 12 Schritten der AA orientierten. Sie gingen von einem eigenen Krankheitsbild der Angehörigen aus. Auswirkungen auf die Kinder aus suchtbelasteten Familien beschrieben Autorinnen (vgl. u. a. Wegscheider 1981, Rennert 1990) mit der Übernahme verschiedener „typischer“ Rollen durch die Kinder: Unterschieden wurden die Rollen des Familienhelden, des Sündenbocks, des verlorenen Kindes und des Maskottchens. Der Begriff der Co-Abhängigkeit ist wahrscheinlich in den 1970er Jahren aus der Angehörigenselbsthilfe in den Vereinigten Staaten entstanden (vgl. Ruckstuhl 2014). Der Begriff beschrieb zuerst die eigene Mitbetroffenheit von einer Suchterkrankung, hat dann aber eine Wandlung vollzogen. Angehörige wurden mehr und mehr als eine Ursache für Suchterkrankungen gesehen und wegen ihres Verhaltens für die Aufrechterhaltung des Substanzkonsums verantwortlich gemacht. Diese Sichtweise war vor allem in den 1980er Jahren in der Suchthilfe, in vielen populärwissenschaftlichen Publikationen und der Selbsthilfeliteratur weit verbreitet – wobei der Suchtbegriff hier häufig sehr weit gefasst wurde – und ist auch heute noch dort zu finden (vgl. u. a. Norwood 1986, Beattie 1990, Mellody 1992, Assfalg 1993, Hühn 2010). Rennert (1990) sah in der Co-Abhängigkeit

1



Der Name Al-Anon leitet sich ab von „Alcoholics Anonymous“.

A NGEHÖRIGE F RAUEN VON SUCHTKRANKEN M ENSCHEN

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ein komplementäres Verhaltensmuster zur Abhängigkeit, d.h., dass Drogen- und Co-Abhängigkeit sich gegenseitig beeinflussen. Co-Abhängigkeit zeige sich in sporadischen Verhaltensweisen bis hin zu zwanghaftem Verhalten und Störungen der Persönlichkeit. Rennert (ebd.) beschreibt typische suchtfördernde Verhaltensweisen: Vermeiden und Beschützen; Versuche, den Konsum zu kontrollieren; Übernahme von Verantwortung; Rationalisieren und Akzeptieren; Kooperation und Kollaboration; Retten und Sich-nützlich-Machen. Co-Abhängigkeit wurde sogar als allgemeines Störungsbild oder als Persönlichkeitsstörung entworfen (vgl. Schaef 1996) und vor allem Frauen zugeschrieben, überwiegend aufgrund von Sozialisationserfahrungen. Obwohl Versuche unternommen wurden, eine co-abhängige Persönlichkeitsstörung als psychiatrische Diagnose zu definieren (vgl. Cermak 1986), liegen bis heute keine empirischen Belege für co-abhängige Störungen vor. Lediglich eine kleine Gruppe von Angehörigen weist eine Erkrankung im Sinne der abhängigen oder selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung auf (vgl. Klein/Bischof 2013). Dennoch wurde das Konzept der Co-Abhängigkeit lange Zeit nicht kritisch und differenziert betrachtet. Auf seiner Grundlage wird Angehörigen geraten, jegliche Unterstützung gegenüber Betroffenen aufzugeben. Dies ist jedoch nicht nur teils unrealistisch und greift zu kurz, sondern wirkt für die Angehörigen, wenn es ihnen nicht gelingt, wie eine zusätzliche Schuldzuweisung. In der Suchtkrankenhilfe ist die Thematik einer professionellen Angehörigenarbeit bisher eher vernachlässigt worden und ist somit randständig. Bislang gibt es kaum neue und vor allem geschlechterdifferenzierte Konzepte dafür, wie die Arbeit mit Angehörigen von suchtkranken Menschen in der Praxis sinnvoll gestaltet werden kann. Es gibt keine implementierten, umfassenden Angebote für Angehörige. In der Regel werden sie als „Anhängsel“ der suchtkranken Menschen betrachtet, die „mitbehandelt“ werden, um einen besseren Zugang zu den Betroffenen zu erreichen. Häufig ist daher der Weg zur Suchthilfe für sie nur über den/die Suchtkranke/n möglich – dies allerdings auch nur sehr eingeschränkt, z. B. im Rahmen ambulanter und stationärer Rehabilitation. Damit sind aber all diejenigen Angehörigen von den Angeboten ausgeschlossen, deren betroffene Partner_innen, Eltern und Kinder sich noch nicht im Hilfesystem befinden. Eine aktuelle Diskussion in der Fachöffentlichkeit befasst sich kritisch mit dem Konzept der Co-Abhängigkeit. Hier wird die Notwendigkeit betont, eine nicht stigmatisierende Einstellung gegenüber Angehörigen einzunehmen und ihre Situation als komplex und vielschichtig zu betrachten. Differenzierte Konzepte und Angebote für die Bereiche Prävention, Beratung und Therapie werden gefordert, ebenso neue Forschungsansätze, um der Problematik der Angehörigen



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gerecht zu werden (vgl. Klein/Bischof 2013). Aktuelle Forschungen fokussieren vor allem auf die Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien.

F RAUEN

ALS

A NGEHÖRIGE

In bisher veröffentlichten Untersuchungen wird häufig erwähnt, dass es überwiegend angehörige Frauen sind, die Angebote des Hilfesystems in Anspruch nehmen und sich für Interviews zur Verfügung stellen (vgl. Ruckstuhl 2014). Als ein Grund für diese Geschlechterverteilung wird die größere Anzahl suchtkranker Männer gesehen, die entsprechend auch eine größere Anzahl angehöriger Partnerinnen zur Folge hat. Darüber hinaus werden vereinzelt unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und Rollenanforderungen bzw. -zuschreibungen als Erklärungen herangezogen. Die geringe Inanspruchnahme von Hilfsangeboten durch angehörige Männer wird u. a. mit ihren Schwierigkeiten erklärt, aktiv Unterstützung für sich in Anspruch zu nehmen und über ihre Gefühle zu sprechen (vgl. Löffler et al. 2012). Erfahrungen aus gemischten Einrichtungen bestätigen, dass es eher Partnerinnen von süchtigen Männern oder Mütter suchtmittelabhängiger Kinder sind, die Beratung nachsuchen (vgl. Stoll 2002). Auch sind es anscheinend eher Frauen, die lange bei ihren alkoholabhängigen Partnern bleiben. Angehörige Männer verlassen ihre süchtige Partnerin häufig zu einem früheren Zeitpunkt (vgl. Franke 2005). Diese Annahmen und Erfahrungen müssten folgerichtig zu einer geschlechterdifferenzierten Auseinandersetzung mit der Thematik und einer entsprechenden psychosozialen Versorgungsstruktur führen. Als Hintergrund für die hohe Zahl betroffener Frauen, die um Hilfe nachsuchen, sind unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und geschlechtsbezogene Rollenerwartungen anzunehmen: Traditionell sind Mädchen und Frauen nach wie vor eher zuständig für die Beziehungsarbeit und damit für die Erfüllung der Bedürfnisse anderer. So übernehmen Frauen in weit größerem Maß als Männer neben ihrer Berufstätigkeit auch die Familienaufgaben. Frauen fühlen sich stärker verantwortlich – bzw. werden verantwortlich gemacht –, wenn Probleme in Beziehungen und/oder in der Familie auftreten. Sie entwickeln dann teilweise massive Schuld- und/oder Versagensgefühle. Dies trifft im Besonderen auf Mütter zu. Das Konzept der Co-Abhängigkeit wirft angehörigen Frauen jedoch genau jenes Verhalten vor, das gleichzeitig gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Auch angehörige Männer erleben die Suchtkrankheit eines ihnen nahestehenden Menschen als belastend. In der Regel können sie sich aber leichter gegen



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familiäre Konflikte abgrenzen und ziehen sich bei Problemen in Beziehungen eher zurück. Belastungen von Angehörigen Ebenso wie die Suchterkrankung ist die Angehörigenproblematik in vielen Fällen ein Generationenproblem. Studien zeigen, dass suchtkranke Menschen überdurchschnittlich häufig in suchtbelasteten Familien aufgewachsen sind. Kinder können durch die Abhängigkeit eines Elternteils massiv in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. Ein Drittel der Kinder aus Suchtfamilien wird selber suchtkrank, ein weiteres Drittel entwickelt später Symptome psychischer Störungen. Zudem geht etwa ein Drittel der betroffenen Töchter als Erwachsene Beziehungen zu suchtmittelabhängigen Partnern ein (vgl. Klein 2005). Kinder aus suchtbelasteten Familien sind zudem überdurchschnittlich häufig Opfer häuslicher und sexueller Gewalt (vgl. Velleman/Reuber 2007). Durch die Abhängigkeit eines Menschen im nahen Umfeld entsteht eine Vielzahl von Belastungen, die in der Folge massive Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Angehörigen haben. Angehörige haben ein höheres Risiko, selbst psychisch oder psychosomatisch zu erkranken (vgl. Ruckstuhl 2014). Jahrelanger chronischer Stress führt häufig zu körperlichen Beschwerden wie Verspannungen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Bluthochdruck und Erschöpfung. Als psychische Folgen können Depressionen, Ängste, ein niedriges Selbstwertgefühl oder eine eigene Suchterkrankung auftreten. Unter dem Einfluss von Suchtmitteln kommt es vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen und in der Folge zur Traumatisierung der Angehörigen. Emotionale Belastungen für Angehörige entstehen auch durch die Sorge um die Betroffenen, um deren Gesundheitszustand und deren Zukunft. Sie beziehen sich oft auf den Erhalt des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes sowie auf finanzielle Probleme, die insbesondere im Zusammenhang mit einer Spielsucht von großer Bedeutung sind (vgl. Buchner et al. 2013). In den Beziehungen häufen sich Konflikte und es kommt vermehrt zu Streitigkeiten, Kontaktabbrüchen und Trennungen. Menschen mit Suchtproblemen vernachlässigen zunehmend ihre Pflichten, sodass Angehörige in ihrem Alltag zusätzlich belastet sind. Das Stigma, das suchtkranke Menschen betrifft, fällt auch auf ihre Angehörigen zurück. Im Umfeld erleben Angehörige häufig wenig Verständnis für ihre Situation. Viele berichten über negative Erfahrungen bei der Suche nach Unterstützung. Sie hören Ratschläge, dass sie die Betroffenen „fallen lassen“ müssen oder sogar Schuldzuweisungen, mitunter auch von professioneller Seite. Dies führt zu sozialer Isolation und zu Scham- und Schuldgefühlen.



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Häufig erleben Angehörige auch Schuldgefühle aufgrund ihrer ambivalenten Gefühle der suchtkranken Person gegenüber sowie eine Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz. Auch Rückfälligkeit oder die Angst vor Rückfällen ist eine permanente Belastung. All dies hat auch Auswirkungen auf soziale Kontakte und das Freizeitverhalten von Angehörigen. Frau R. lebt mit einem alkoholabhängigen Mann zusammen, mit dem sie drei Kinder hat. Sie ist Hausfrau und überwiegend allein zuständig für die Versorgung der Kinder. Sie hat selbst einen alkoholabhängigen Vater. Aus Sorge um die Folgen für ihre Kinder kommt sie zur Beratung. In den Gesprächen beschreibt sie die fehlende soziale Unterstützung: Sie habe niemanden, mit dem sie sprechen könne. Mit Haushaltsaufgaben und Kinderbetreuung sei sie alleine. Sie lebe auf dem Land und fahre ihre Kinder selbst zu deren Terminen, weil ihr Mann auch betrunken Auto fahre. Da ihre Kinder nicht mit dem betrunkenen Vater am Abend alleine bleiben wollten, könne sie auch abends nichts unternehmen. Ihr Mann sei massiv abwertend ihr gegenüber und gebe ihr die Schuld an seinem Trinken.

Die Eltern eines (erwachsenen) suchtkranken Kindes erleben den Verlust der Beziehung zu ihrem Kind und häufig den Verlust von Lebensentwürfen. Dies gleicht einem Trauerprozess, obwohl das Kind lebt. Frau A. hat einen 21-jährigen Sohn, der seit seinem 15. Lebensjahr Cannabis konsumiere. Seit sie ihn vor zwei Jahren aus dem Haus „geworfen“ hat, hat sie kaum noch Kontakt zu ihm. Von sich aus melde er sich nur, wenn er Unterstützung braucht. Er mache keine Ausbildung und sitze nur zu Hause, kiffe und spiele am PC. Frau A. berichtet, dass sie viel weine, wenig Freude empfinden könne und sich zurückziehe.

Die mannigfaltigen Belastungen haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Angehörigen. Kinder und jüngere Geschwister von Suchtkranken sind hier in besonderer Weise betroffen. Frau S. ist die erwachsene Tochter einer alkoholabhängigen Mutter, bei der sie ohne Vater aufgewachsen ist. Sie ist 28 Jahre alt und wendet sich an die Beratungsstelle, weil sie endlich ihr eigenes Leben leben möchte, ohne ständig für ihre Mutter da sein zu müssen. In den Gesprächen mit ihr wird deutlich, dass sie sich von klein auf um ihre Mutter gekümmert hat, es keinen Platz für ihre eigenen Bedürfnisse gab und sie quasi die Mutterrolle übernommen hat. Wenn sie sich heute gegenüber ihrer Mutter abgrenzt, gibt es heftige Vorwürfe vonseiten ihrer Mutter und sie erlebt in der Folge massive Schuldgefühle. Auch in anderen Beziehungen fällt es ihr schwer, eigene Wünsche und Bedürfnisse wichtig zu nehmen.



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Frau P. ist die zehn Jahre jüngere Schwester einer alkoholabhängigen Frau. Sie hatte ihre Schwester zum wiederholten Male bei sich aufgenommen, nachdem diese ihre eigene Wohnung verloren hatte. Sie wendet sich an die Beratungsstelle, nachdem ihre Schwester ihre Wohnung zum zweiten Mal unter Alkoholeinfluss verwüstet hat.

Bewältigungsstrategien Angehörige verhalten sich zunächst unter den belastenden Umständen sehr nachvollziehbar, indem sie versuchen zu helfen und zu unterstützen. Diese Situation ist vergleichbar mit der pflegender Angehöriger von Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen (z. B. Demenz und psychische Erkrankungen), allerdings hat jedes Krankheitsbild seine Besonderheiten, die mitberücksichtigt werden müssen. Im Verlauf einer Suchterkrankung realisieren die meisten Angehörigen, dass ihre Bemühungen nicht zum Erfolg führen. Sie stecken in einem Dilemma: Wie verhalte ich mich richtig? Es ist schwierig, die Balance zu finden, zwischen dem eigenen Schutz, dem der Familie und dem Wunsch, den suchtkranken Menschen zu unterstützen. Dabei geraten Angehörige unweigerlich in einen Konflikt. Empirisch belegte Untersuchungen aus den 1990er Jahren, die in England durchgeführt wurden, unterscheiden drei unterschiedliche Verhaltensstrategien (vgl. Orford et al. 2010): Toleranz Der Substanzkonsum wird akzeptiert und hingenommen, der Konsum nach außen gedeckt und verheimlicht. Der jahrelange Kampf gegen die Sucht lässt viele Angehörige resignieren. Diese eher passive Strategie tritt häufig bei lang andauernden Prozessen auf und geht mit dem größten gesundheitlichen Risiko für die Angehörigen einher. Frau R.-B. lebt mit ihrem Mann zusammen, der phasenweise massiv trinkt. Er führt die Trinkepisoden auf beruflichen Stress zurück. So hat Frau R.-B. seinen Konsum jahrelang toleriert und ihn nach außen entschuldigt. Sie ist in den Phasen seines Trinkens häufig zu Hause geblieben, um auf ihn aufzupassen. Sie leben in einem kleinen Dorf und Frau R.-B. hat über Jahre versucht, das Trinken ihres Mannes gemeinsam mit ihm zu verheimlichen. Als sie selber gesundheitliche Probleme bekommt, ihrer Arbeit nur noch eingeschränkt nachkommen kann und die abstinenten Phasen ihres Mannes immer kürzer werden, wendet sie sich an die Beratungsstelle.



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Aufbegehren Gegen die Sucht wird angekämpft durch Unterstützung und Konfrontation, Druck wird ausgeübt, damit der/die Betroffene eine Behandlung aufnimmt. Angehörige versuchen, die Kontrolle zurück zu gewinnen. Diese Strategie stellt einen großen Energieaufwand für Angehörige dar und wird meist zu Beginn einer Suchterkrankung eingesetzt, häufig von den Eltern. Frau F. hat einen 23-jährigen cannabisabhängigen Sohn, der zu Hause lebt. Er hat mit ca. 15 Jahren begonnen zu kiffen. Sie ist mit ihm zu vielen verschiedenen Ärzten und Ärztinnen und Beratungsstellen gegangen. Einmal hat sie ihn in die Psychiatrie einweisen lassen. Heute weckt sie ihn jeden Morgen, damit er rechtzeitig zur Arbeit kommt. Auch sonst unterstützt sie ihn bei all seinen Angelegenheiten. Sein Vater und sie leben getrennt. Wegen dieser Trennung hat sie Schuldgefühle ihrem Sohn gegenüber. Der Vater kümmert sich nicht um seinen Sohn. Sie wendet sich an die Beratungsstelle, weil sie sich hoffnungslos und vollkommen erschöpft fühlt.

Unabhängigkeit Hier wird versucht, sich von dem suchtmittelabhängigen Familienmitglied zu lösen und zu distanzieren. Den Betroffenen wird die Verantwortung für ihre Erkrankung überlassen. Innere Distanz und/oder äußere Distanz werden hergestellt und eigene Bedürfnisse und Interessen verfolgt. Diese Strategie entwickeln Angehörige häufig erst im Laufe der Zeit. Frau N. wendet sich an die Beratungsstelle, weil sie sich von ihrem Partner trennen will und unsicher ist, ob es nicht doch noch einen anderen Weg geben kann. Sie hat seit zehn Jahren mit ihm eine Beziehung und hatte sich zwischenzeitlich schon einmal wegen seines Trinkens von ihm getrennt. Er hatte darauf Besserung versprochen und auch eine Selbsthilfegruppe besucht. Sie ist dann wieder zu ihm gezogen, er hatte aber bald wieder begonnen zu trinken. Sie will nicht mit ihm „vor die Hunde gehen“ und plant deshalb, erneut auszuziehen. Frau A. lebt seit 30 Jahren mit einem alkoholabhängigen Mann zusammen. Die jüngste Tochter ist ausgezogen und Frau A. richtet sich ein eigenes Zimmer im Haus ein. Dort will sie die Abende verbringen, um nicht mehr bei ihrem betrunkenen Mann sitzen zu müssen.

Die beschriebenen Strategien können ineinander übergehen aber auch parallel zueinander angewandt werden. Die Bewältigungsstrategien sind stark von den Umständen geprägt, in denen Angehörige sich befinden. Aus der Gesundheits-



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forschung ist bekannt, dass Frauen anders als Männer eher mit prosozialen, kommunikativen Strategien auf Stress reagieren (vgl. Möller-Leimkühler 2008). Daher stellt sich die Frage nach geschlechtsbezogenen Unterschieden im Umgang mit den Belastungen, die aus der Suchterkrankung eines nahestehenden Menschen entstehen.

A NGEHÖRIGENARBEIT IN DER P RAXIS : D IE A NGEBOTE VON F RAUEN S UCHT G ESUNDHEIT E . V. Mit Unterstützung der Deutschen Fernsehlotterie baut der Verein Frauen Sucht Gesundheit e. V. seit 2014 ein Zentrum für Angehörige auf. Angehörige Frauen von Suchtmittelabhängigen sollen hierdurch frühzeitig erreicht, durch passgenaue Hilfen ihre Lebensqualität verbessert und ihre sozialen, psychischen und körperlichen Belastungen reduziert werden. Die angesprochenen Zielgruppen sind Partnerinnen, Eltern, erwachsene Töchter aus suchtbelasteten Familien, Paare, Kinder und Jugendliche und alle Frauen, die im sozialen Umfeld von suchtmittelabhängigen Menschen in Schleswig-Holstein leben. Im Schwerpunkt handelt es sich um Problematiken bezüglich Alkohol, Cannabis, Kokain, Medien und Glücksspiel. Wie in allen Arbeitsbereichen von Frauen Sucht Gesundheit e. V. wird geschlechtsspezifisch, traumasensibel, stabilisierend und ressourcenorientiert gearbeitet. Den Rat suchenden Frauen wird parteilich, wertschätzend und auf Augenhöhe begegnet. Informationsveranstaltungen In regelmäßigen Abständen werden Informationsveranstaltungen angeboten. Hier werden interessierte Frauen über Sucht und über die Folgen für das nahe Umfeld informiert. Die Belastungen und die Bewältigungsversuche der Angehörigen werden erklärt und unterschiedliche Wege aus dieser Belastungssituation beschrieben und diskutiert. Dieses Angebot ermöglicht einen niedrigschwelligen und anonymen Zugang zur Einrichtung. Beratung (kurz- und längerfristig) In den Beratungsgesprächen haben angehörige Frauen den Raum, die Sorgen und Belastungen, die sie erleben, in den Mittelpunkt zu stellen und eigene Ziele für die Beratung zu entwickeln. Gemeinsam werden die individuellen Problem-



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und Belastungsbereiche und Strategien für den Umgang mit diesen Situationen erarbeitet. Die Frauen werden dabei unterstützt, eigene Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und zu erweitern. Wissen wird vermittelt und bei Bedarf über Sucht, Komorbidität und das Hilfesystem aufgeklärt sowie eine kritische Haltung zum Modell „Co-Abhängigkeit“ vertreten. Die Beratung kann auch online stattfinden. Ziele der Beratung können sein: • Vor- und Nachteile der bisher angewandten Bewältigungsstrategien zu analy-

sieren, • eigene Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und ernst zu nehmen, • Strategien zur Verbesserung der Selbstfürsorge, der Stressbewältigung und der • • • • •

Gesundheitsfürsorge zu entwickeln und umzusetzen, Selbstbehauptungsstrategien zu erweitern und anzuwenden, ein soziales Netz aufzubauen, den Betroffenen Grenzen zu setzen und Verantwortung abzugeben, die Interaktion konstruktiv zu verändern, mehr Unabhängigkeit zu entwickeln durch eigene Interessen und Hobbys.

Frau F. setzte sich anfangs in den Beratungsgesprächen mit ihren Schuldgefühlen gegenüber ihrem Sohn auseinander und konnte nach und nach erkennen, dass sie getan hatte, was ihr in den jeweiligen Situationen am besten erschienen war. Sie konnte auch wieder einen Teil der Verantwortung für die Entwicklung dem Vater des Sohnes und auch ihrem jetzt erwachsenen Sohn geben. In kleinen Schritten entschied sie, wo sie ihren Sohn nicht mehr unterstützen wollte und teilte ihm das jeweils vorab mit. Dadurch konnte sie sich im Alltag etwas entlasten. Frau F. hat über ein Gruppenangebot bei Frauen Sucht Gesundheit eine andere betroffene Mutter kennengelernt, mit der sie sich regelmäßig trifft. Die Trauer über die Entwicklung bleibt.

Die Beratungsaufnahme kann in manchen Fällen als Katalysator für Veränderung auch bei der suchtmittelabhängigen Person dienen. Frau R.-B. kam ca. ein halbes Jahr lang alle 14 Tage zu Beratungsgesprächen. Für sie ging es anfangs darum, zu erkennen, dass sie mit all der Unterstützung, die sie ihrem Mann gegeben hatte, überhaupt nichts an seinem Trinkverhalten verändert hat. Daraufhin und aufgrund ihrer eigenen Erschöpfung begann sie, für sich selbst aktiver zu werden und z. B. regelmäßig an Dorftreffen teilzunehmen. Sie ließ auch zu, dass die Alkoholprobleme ihres Mannes nach außen deutlicher wurden, und fand eine unterstützende Freundin in der Nachbarschaft. Nachdem sie sich in den Beratungsgesprächen darauf vorbereitet hatte, thematisierte sie ihrem Mann gegenüber zunehmend ihre Unzufriedenheit mit seinem



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Trinken. Aufgrund ihres veränderten Verhaltens ging es Frau R.-B. deutlich besser und sie fühlte sich sicherer, auch mit den Trinkphasen besser umgehen zu können. Ihr Mann konnte sich nicht zu einer Suchtbehandlung entschließen, nahm aber eine Psychotherapie auf, weil Frau R.-B. ihm nach und nach deutlich machen konnte, dass sein Trinken die Beziehung auf Dauer gefährdet.

Paar- und Familienberatung Da eine Suchterkrankung auch eine Beziehungsstörung zur Folge hat, beschreiben suchtbelastete Paare oder Familien ein Klima von häufigen Konflikten oder Sprachlosigkeit. Durch gemeinsame Gespräche in einem geschützten Rahmen und die Verbesserung der Kommunikation kann sich die Situation deutlich entspannen. Frau Sucht Gesundheit e. V. bietet Paaren und Familien gemeinsame Beratungen an, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Angehörigen Frauen, die sich in der Einzelberatung befinden, wird bei Bedarf und auf Wunsch hin angeboten, die betroffene Person zu Gesprächen mitzubringen. Frau H. kam anfangs allein zur Beratung, weil sie sich Sorgen um ihre erwachsene Tochter und deren kleine Tochter machte. Ihre Tochter trank in regelmäßigen Abständen massiv Alkohol und vernachlässigte dann ihre Tochter. Sie berichtete, dass jedes Gespräch über das Trinken im Streit ende. Die Tochter war bereit, sie zu einem gemeinsamen Gespräch zu begleiten, nachdem der Kindergarten sie auf Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes hingewiesen hatte. In Gesprächen gelang es Frau H. mit Unterstützung der Beraterin, ihre Sorge mitzuteilen, ohne der Tochter Vorwürfe zu machen. Dadurch konnte ihre Tochter ihrer Mutter gegenüber ihre eigene Verzweiflung und Überforderung äußern. Sie entschied sich in der Folge zu einer psychiatrischen Behandlung.

Beratung für Kinder und Jugendliche Kinder aus suchtbelasteten Familien wachsen in der Regel unter Bedingungen auf, die sich negativ auf ihre Entwicklungschancen auswirken. Für sie ist es häufig schwierig, bestehende Angebote wahrzunehmen, da sie sich ihren Eltern gegenüber loyal verhalten wollen und es innerhalb der Familien oft die unausgesprochene Regel gibt, aus Scham bestehende Probleme nach außen und auch nach innen zu verschweigen. Häufig nehmen auch Kinder und Jugendliche, deren Mütter in der Beratungsstelle angebunden sind, eine Beratung in Anspruch. Dadurch ist der Zugang für sie erleichtert. Kinder brauchen in erster Linie Informationen, um ihre Erlebnisse einordnen zu können. Sie müssen darin unterstützt werden, zu begreifen, dass Sucht eine



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Krankheit ist, an der sie keine Schuld tragen. Sie müssen einen Ort haben, um angstfrei über ihre Erlebnisse und Gefühle sprechen zu können, um diese zu verarbeiten und entlastet zu werden. Emilie, die 8-jährige Tochter von Frau R. kommt mit ihrer Mutter zum Gespräch. Sie möchte gerne mit der Beraterin allein sprechen. Nachdem sie ein wenig über ihre Schule und ihr Hobby erzählt hat, fragt sie, ob sie etwas gegen das Trinken ihres Vaters tun könne. Ihre Frage wird verneint und sie bekommt einige Informationen über Sucht. Sie erhält das Angebot, jederzeit wiederzukommen.

Coaching als strukturiertes Beratungsangebot („Craft“) „Craft“ – ein auf dem „Community Reinforcement-Ansatz“ basierendes Familientraining – ist ein relativ neuer verhaltenstherapeutisch ausgerichteter Ansatz, der seit 2008 in Deutschland auf seine Wirksamkeit überprüft wurde. Familienangehörigen werden mit dieser Methode Fertigkeiten vermittelt, die ihnen dabei helfen können, die konsumierende Person zu einer Behandlung zu motivieren (vgl. Meyers/Smith 2009). Grundlage des Programms ist es, die Verstärkung von konsumierendem Verhalten zu reduzieren bzw. zu beenden und abstinente, funktionale Verhaltensweisen gezielt zu verstärken. Bestandteile des Trainings sind folgende Module: • • • • • • •

Gewaltprävention; Funktionale Analyse des Substanzkonsums und ggf. abstinenter Phasen; Kommunikationstraining; Nutzung positiver Verstärker; Zulassen natürlicher Konsequenzen; Verbesserung der Lebensqualität der Angehörigen; Thematisieren von Behandlung.

Die Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Programm sind zum einen ein regelmäßiger und enger Kontakt zwischen der Angehörigen und der suchtmittelabhängigen Person sowie zum anderen, dass sich die suchtmittelabhängige Person noch nicht in Behandlung befindet. Dies trifft nur auf einen Teil der Rat suchenden Frauen zu. Für jenen Teil der Angehörigen, deren vorrangiges Ziel es ist, den suchtmittelabhängigen Menschen zu motivieren, Hilfe für sich in Anspruch zu nehmen, kann dieser Ansatz sehr hilfreich sein. Die Erfahrung von Frauen Sucht Gesundheit e. V. zeigt aber auch, dass „Craft“ von den Angehörigen einen großen Einsatz und viel Kraft verlangt. Viele angehörige Frauen



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kommen in einem Zustand großer Belastung und Erschöpfung zur Beratung, daher werden bei Bedarf eher einzelne Module in den Beratungsprozess integriert und „Craft“ weniger als Gesamtprogramm angewendet. Angeleitete Gruppenangebote für Frauen Die Teilnahme an Gruppengesprächen bietet Entlastung, weil die Teilnehmerinnen sich aufgrund ähnlicher Erfahrungen verstehen und Veränderungen begleiten können. Der Austausch entlastet von Isolation und Schuldgefühlen, denn die Teilnehmerinnen erfahren, dass sie ähnliche Strategien entwickelt haben, mit der Suchterkrankung einer nahestehenden Person umzugehen. Soziale Unterstützung ist eine zentrale Säule, um Belastungen zu bewältigen. Die Gruppe bildet ein Netz, das bei Veränderungsschritten und in Krisen begleiten und unterstützen kann. Sie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, soziale Kompetenzen zu üben, insbesondere in Bezug auf Selbstbehauptung und Abgrenzungsfähigkeit. Themen der halb strukturierten Gruppenabende sind u. a.: • • • • • •

Basisinformationen: Sucht, „Co-Abhängigkeit“, Behandlungsmöglichkeiten; Bewältigungsstrategien (Vor- und Nachteile); Kommunikation; Entspannungstechniken; Veränderungsschritte entwickeln und begleiten; Selbstfürsorge.

Die Gruppen werden über acht bis zehn Abende angeleitet. Häufig treffen sich die Teilnehmerinnen anschließend eigenständig weiter. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sinnvoll sein kann, – wenn diese Möglichkeit besteht – getrennte Gruppen für Partnerinnen und Mütter anzubieten, da im Gruppenverlauf Unterschiede deutlich werden. Häufig können die Partnerinnen für sich schneller neue Schritte ausprobieren und darüber Entlastung finden, während die Mütter in der Regel dafür mehr Zeit benötigen, dann eher unter Druck geraten und sich in der Folge abwerten. Darüber hinaus begleitet und initiiert Frauen Sucht Gesundheit e. V. Selbsthilfegruppen für angehörige Frauen. Auf Wunsch wird eine Anleitungsphase angeboten, um das Kennenlernen der Teilnehmerinnen zu begleiten und um Gruppen- und Kommunikationsregeln gemeinsam zu entwickeln. Nach dieser Anleitungsphase arbeitet die Gruppe selbstständig weiter.



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A USBLICK Für die Zukunft ist es notwendig, dass die Belange von Angehörigen, insbesondere die der großen Zahl der angehörigen Frauen, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Sie müssen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, damit psychische und physische Folgeprobleme verhindert oder reduziert werden können. Dadurch kann auch die Weitergabe der Probleme von einer Generation zur nächsten reduziert werden. Hierfür ist es erforderlich: • Differenzierte Angebote auszubauen und zu implementieren, die die biografi-

schen Erfahrungen, die komplexe Lebenssituation und die Bedürfnisse angehöriger Frauen berücksichtigen. Die Ansiedlung u. a. an Frauensuchtberatungsstellen scheint sinnvoll. Die Finanzierung ausreichender Angebote muss dauerhaft gesichert sein. • Forschung unter geschlechtsbezogenen Fragestellungen voranzutreiben und zu fördern, um gendersensible Konzepte in den Bereichen Prävention, Beratung und Therapie zu entwickeln, die die praktische Arbeit unterstützen. • Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeiterinnen bereitzustellen. • Durch Öffentlichkeitsarbeit eine Sensibilisierung für das Thema zu schaffen, die auch gezielt angrenzende Berufsgruppen einbezieht, z. B. Ärzt_innen, Psychotherapeut_innen, Psychiater_innen sowie angrenzende Arbeitsfelder wie Beratungsstellen für Frauen mit Gewalterfahrungen, in Trennungssituationen oder Erziehungsberatungsstellen.

L ITERATUR Assfalg, Reinhold (1993): Die heimliche Unterstützung der Sucht: CoAbhängigkeit, Geesthacht: Neuland. Beattie, Melody (1990): Die Sucht gebraucht zu werden, München: Heyne. Buchner, Ursula G./Koytek, Annalena/Gollrad, Tanja/Arnold, Melanie/Wordarz, Norbert (2013): Angehörigenarbeit bei pathologischem Glücksspiel. Das psychoedukative Entlastungstraining ETAPPE, Göttingen: Hogrefe. Cermak, Timmen (1986): „Diagnostic criteria for codependenc”, in: Journal of Psychoactive Drugs 18, 15-20. Franke, Alexa (2005): „Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit bei Frauen“, in: Singer, Manfred & Teyssen, Stephan (Hg.), Alkohol und Alkoholfolge-



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krankheiten. Grundlagen – Diagnostik – Therapie, Heidelberg: Springer, 457-464. Hühn, Susanne (2010): Ich lasse Deines bei dir – Co-Abhängigkeit erkennen und lösen, Darmstadt: Schirner. Klein, Michael (2005): „Kinder aus suchtbelasteten Familien“, in: Thomasius, Rainer & Küstner, Udo J. (Hg), Familie und Sucht. Grundlagen – Therapiepraxis – Prävention, Stuttgart: Schattauer, 52-59. Klein, Michael & Bischof, Gallus (2013): „Angehörige Suchtkranker – Der Erklärungswert des Co-Abhängigkeitsmodells“, in: Sucht 59, 2, 65-68. Löffler, Constanze/Wagner, Beate/Wolfersdorf, Manfred (2012): Männer weinen nicht. Depressionen bei Männern. Anzeichen erkennen, Symptome behandeln, Betroffene unterstützen, München: Goldmann. Mellody, Pia (1992): Wege aus der Co-Abhängigkeit: Ein Selbsthilfebuch, München: Kösel. Meyers, Robert J. & Smith, Jane Ellen (2009): Mit Suchtfamilien arbeiten. CRAFT: ein neuer Ansatz für die Angehörigenarbeit, Bonn: PsychiatrieVerlag. Möller-Leimkühler, Anna Maria (2008): „Depressionen – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern“, in: Der Gynäkologe 41, 5, 381388. Norwood, Robin (1986): Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden, Reinbeck: Rowohlt. Orford, Jim/Velleman, Richard/Copello, Alex/Tempelton, Lorna/Ibanga, Akanidomo (2010): „The experiences of affected family members: a summary of two decades of qualitative research”, in: Drugs Education Prevention & Policy 17, 44-62. Rennert, Monika (1990): Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet, Freiburg i. Br.: Lambertus. Ruckstuhl, Lea Anna (2014): Angehörige von drogenabhängigen Menschen – Suchterkrankung aus einer anderen Perspektive. Unveröffentlichte Dissertation, Zürich. Schaef, Anne Wilson (1996): Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht, München: Heyne. Stoll, Magrit (2002): „Co-Abhängigkeit – ein ewiges Frauenthema?“, in: Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hg.), Dokumentation des BundesFrauenKongress Sucht „Ungeschminkt“, Berlin, 60-66. Velleman, Richard & Reuber, Danielle (2007): Häusliche Gewalt und Misshandlungen bei Jugendlichen aus alkoholbelasteten Familien: Ergebnisse einer europäischen Studie. Online verfügbar unter:



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Basler 8 – ein Kooperationsmodell feministischer mädchen- und frauenbezogener Sozialer Arbeit und Suchthilfe B ÄRBEL K ÖHLER

D IE S UCHTBERATUNGSSTELLE F RAUEN Z IMMER Der Träger, der Verein zur Unterstützung suchtgefährdeter und abhängiger Frauen und Mädchen e. V., wurde im Jahr 1996 mit dem Ziel, suchtgefährdeten und abhängigen Frauen und Mädchen adäquate Unterstützungsformen zu eröffnen, gegründet. Im selben Jahr richtete er die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer ein. Diese wendet sich an Mädchen und Frauen, die Probleme haben mit Alkohol, Essstörungen, Medikamenten, illegalen Drogen und/oder anderen Formen der Sucht. Unterstützung erhalten aber auch Frauen und Mädchen mit suchtgefährdeten oder abhängigen Bezugspersonen. Darüber hinaus bietet FrauenZimmer Schulungen zum Thema Frauen/Mädchen und Sucht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Einrichtungen an. In den Frauenräumen der Beratungsstelle erhalten Frauen und Mädchen die Möglichkeit, sich mit ihrer derzeitigen Lebenssituation auseinanderzusetzen. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle unterstützen die Frauen und Mädchen darin, ihre Fähigkeiten und Stärken als Frauen und Mädchen wiederzuentdecken, sowie neue Perspektiven und suchtmittelfreie Handlungsstrategien zu entwickeln. Die Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen der Frauen und Mädchen sind Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit. Die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Trägervereins ermöglicht es bis heute, in der Suchtberatungsstelle Strukturen umzusetzen und Angebote zu



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entwickeln, die auf einer feministischen Haltung basieren und zielgerichtet, flexibel und ausschließlich der Unterstützung suchtgefährdeter und abhängiger Frauen und Mädchen zugutekommen. Die Suchtberatungsstelle wird von einem geschäftsführenden Leitungsteam in enger Zusammenarbeit mit dem Gesamtteam geführt. Die von den Mitfrauen des Vereins auf drei Jahre gewählten Vorstandsfrauen sind in grundsätzliche Entscheidungen zur Entwicklung der Suchtberatungsstelle miteinbezogen und unterstützen das geschäftsführende Leitungsteam mit ihren Kompetenzen. Der Trägerverein als gesellschaftspolitisches Organ ermöglicht der Suchtberatungsstelle neben dem Schwerpunkt der individuellen Suchtberatung von Frauen und Mädchen auch das politische Engagement zur Stärkung von Frauen und Mädchen als weiteren wichtigen Aufgabenbereich. FrauenZimmer: Ziele und Angebote In der Suchtberatungsstelle FrauenZimmer stehen suchtgefährdete und abhängige Frauen und Mädchen mit ihren Bedürfnissen im Zentrum. Die Beratungsstelle als Frauen-Mädchen-Raum, als eine Anlaufstelle, deren Räume und Angebote ausschließlich Frauen und Mädchen offenstehen, ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit und des Selbstverständnisses als frauen- und mädchenspezifische Einrichtung. Frauen und Mädchen mit einer Suchtproblematik oder Essstörung leben unterschiedlichste Lebensentwürfe in verschiedenen Lebenswirklichkeiten, gleichzeitig teilen sie aber durch ihr Frau- und Mädchensein einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Im FrauenZimmer soll es suchtgefährdeten und abhängigen Frauen und Mädchen ermöglicht werden, sich nicht als Randgruppe mit spezifischen Problemen zu erleben, sondern sich in ihrer Individualität und Vielfalt kennen und schätzen zu lernen. Hilfe suchende Frauen und Mädchen sollen unterstützt werden: in ihrer Freiheit von Suchtmitteln und Abhängigkeitsmustern, in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung, in der Stärkung ihres weiblichen Selbstwertgefühls, in der Stärkung von Eigenverantwortung und Gestaltungsfähigkeit und somit die Möglichkeit bekommen, • mehr Gesundheit und Lebenszufriedenheit leben zu können. • • • •

Die Aufgaben der Suchtberatungsstelle FrauenZimmer umfassen:



K OOPERATIONSMODELL FEMINISTISCHER S OZIALER A RBEIT UND S UCHTHILFE

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• Information und Orientierung: In den Orientierungsgesprächen unterstützt die







• •



Beraterin die Frau/das Mädchen – mit Blick auf die gesamte Lebenssituation – ihre eigenen Entscheidungen bezüglich der Abhängigkeitsproblematik oder der Essstörung zu treffen. Die Beraterin zeigt die dazu passenden Hilfemöglichkeiten auf und unterstützt ggf. die Frau/das Mädchen, diese in Anspruch zu nehmen. Vermittlung in stationäre Entgiftung und teil-/stationäre Rehabilitation: Frauen/Mädchen, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten und/oder illegalen Drogen einen körperlichen Entzug im geschützten stationären Rahmen machen wollen, werden bei der Aufnahme in eine entsprechende Suchtstation unterstützt. Auch bezogen auf eine Entwöhnungstherapie in einer Suchtfachklinik (stationäre Rehabilitation) oder Suchttagesklinik (teilstationär) werden Frauen/Mädchen umfassend unterstützt. Ambulante Rehabilitation bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit: Frauen mit einer Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit, die sich für eine suchtmittelfreie Lebensgestaltung entscheiden, werden in der Entwöhnungstherapie im FrauenZimmer (ambulante Sucht-Rehabilitation) bei der Festigung ihrer Abstinenz unterstützt. Nachsorgebehandlung nach der Entwöhnungstherapie in einer Klinik: Im Anschluss an eine stationäre oder teilstationäre Sucht-Rehabilitation können Frauen sich in der Suchtberatungsstelle FrauenZimmer durch eine ambulante Nachsorge in ihrer Abstinenz festigen. Psychosoziale Begleitung bei Substitution: Für substituierte Frauen bietet die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer eine Psychosoziale Begleitung an. Workshops für Mädchen in Schulen und Jugendeinrichtungen: In der Präventionsveranstaltung werden mädchenspezifische Aspekte, Hintergründe und Ursachen von Sucht bzw. süchtigem Verhalten aufgezeigt, sowie jenseits des „erhobenen Zeigefingers“ das eigene Konsum- und Risikoverhalten reflektiert. Feministische und suchtpolitische Arbeit: Neben der individuellen therapeutischen Unterstützung suchtgefährdeter und abhängiger Frauen und Mädchen ist die aktive Mitgestaltung sucht- und gesellschaftspolitischer Diskussionen Teil der Arbeit.

FrauenZimmer will Frauen und Mädchen mit ihren Suchtproblemen und deren gesellschaftlichen Zusammenhänge sichtbar machen. In der suchtpolitischen Gremienarbeit, aber auch in der fachlichen Vernetzung werden frauen- und mädchenspezifische Akzente gesetzt, indem auf die spezifischen Bedürfnisse von süchtigen Frauen und Mädchen aufmerksam gemacht und die entsprechenden Lücken in der Versorgung aufgezeigt werden. Ziel ist es, dazu beizutragen,



374 | B ÄRBEL K ÖHLER

ein umfassendes geschlechtsbezogenes Hilfenetz für suchtgefährdete und abhängige Frauen und Mädchen zu knüpfen.

D IE B ASLER 8 –

FÜR

M ÄDCHEN

UND

F RAUEN

Die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer ist Teil der „Basler 8 – für Mädchen und Frauen“, einem Zusammenschluss von fünf frauen- und mädchenspezifischen Einrichtungen, die in einem gemeinsamen Haus in der Basler Straße 8 in Freiburg Information, Beratung, Begleitung, Prävention, Kurse und Seminare für Mädchen und Frauen anbieten. Alle fünf Einrichtungen blicken auf eine lange Geschichte zurück – die Trägervereine wurden zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre von engagierten Frauen aus der Selbsthilfe- und der Frauenbewegung gegründet. Aufbauend auf den Strukturen der politischen Frauenbewegung haben sich die fünf feministischen Trägervereine schon früh in ihrer Gründungsgeschichte immer wieder in der politischen Lobbyarbeit mit Stadtverwaltung und Fraktionen zusammengeschlossen und gegenseitig unterstützt. Im Jahr 2003 initiierte die Stadtverwaltung einen extern moderierten Prozess für alle zehn Freiburger Frauen- und Mädcheneinrichtungen. Mögliche Doppelstrukturen sollten, mit dem Ziel finanzieller Synergieeffekte, identifiziert und ggf. beseitigt werden. Im Laufe dieses Prozesses trafen die fünf Einrichtungen, die in autonomer feministischer Trägerschaft sind, die Entscheidung für einen räumlichen Zusammenschluss, welcher 2005 mit dem Bezug der Basler Straße 8 realisiert wurde. Dieser räumliche Zusammenschluss als „Basler 8 – für Mädchen und Frauen“ hatte zum Ziel, Frauen und Mädchen in verschiedenen Problem- und Lebenslagen eine zentrale Anlaufstelle zu bieten. Frauen können sich in einem Haus in vier Beratungsstellen Unterstützung zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten suchen: zu sexuellen Gewalterfahrungen, Frauengesundheit und Sucht. Mädchen finden in der Basler 8 in fünf Einrichtungen Unterstützung bei sexuellen Gewalterfahrungen, Mädchengesundheit, Sucht sowie Angeboten in der Freizeitgestaltung. Die in der Basler 8 zusammengeschlossenen Einrichtungen sind: • Frauenhorizonte, eine Anlauf- und Fachberatungsstelle für Frauen, die sexua-

lisierte Gewalt als junge Frau oder im Erwachsenenalter erlebt haben. Sie bietet betroffenen Frauen professionelle therapeutische Unterstützung und psychosoziale Prozessbegleitung – vertrauensvoll, kostenlos und auf Wunsch



K OOPERATIONSMODELL FEMINISTISCHER S OZIALER A RBEIT UND S UCHTHILFE

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anonym. Unmittelbar nach einem sexuellen Übergriff steht das Team Betroffenen rund um die Uhr für sofortige Hilfe zur Verfügung. Darüber hinaus richtet sich das Angebot von Frauenhorizonte auch an Bezugspersonen und Fachkräfte und bietet neben der Beratung und Unterstützung von Angehörigen und Freund_innen spezifische Fortbildungen zu den Hintergründen und Auswirkungen sexualisierter Gewalt an. • Frauen- und MädchenGesundheitsZentrum Freiburg (FMGZ): Hier erhalten Mädchen und Frauen Informationen, Beratung und Begleitung bei gesundheits- und krankheitsbezogenen Fragen und Anliegen, z. B. bei gynäkologischen Themen, frauenspezifischen körperlichen und psychischen Beschwerden, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten; zu Liebe, Sexualität und zur Gewaltprävention. Das FMGZ führt zudem Präventionsveranstaltungen an Schulen und in Jugendhilfeeinrichtungen durch und bietet Informationsabende, Kurse und Seminare für Mädchen und Frauen zu diesen Themen an. Darüber hinaus kooperiert das FMGZ mit verschiedenen Ärzt_innen, Therapeut_innen, Kliniken etc. • Wildwasser e. V. – Beratung und Information für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch unterstützt durch Beratung und Gruppenangebote Mädchen und Frauen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erfahren haben. Die Online-Beratung ermöglicht es betroffenen Frauen, sich anonym beraten zu lassen. Bei Erstattung einer Strafanzeige leistet das Team auf Wunsch der Frauen eine Begleitung und Unterstützung während des Strafverfahrens. Für Fachkräfte und Bezugspersonen werden Beratungen, Fallsupervisionen und Fortbildungen angeboten. An weiterführenden Schulen sowie in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe werden geschlechtsbezogene Präventionsprojekte in Kooperation mit der Jugendhilfe durchgeführt. • Tritta – Verein für feministische Mädchenarbeit bietet Präventions-, Bildungsund Freizeitangebote für Mädchen im Alter von 6 bis 21 Jahren an. In verschiedenen Projekten wird Mädchen und jungen Frauen Raum gegeben, ihre Interessen, Fähigkeiten und Stärken besser kennenzulernen und ausprobieren zu können. Ziel ist es, sie in ihrer Selbstbestimmung zu fördern und sie dabei zu unterstützen, ihren Platz und ihre Teilhabe in der Gesellschaft zu finden. Die Angebote umfassen den Bereich der Gewaltprävention (Selbstbehauptung, Selbstverteidigung, soziales Training), erlebnis- und naturpädagogische Projekte, Medienprojekte und Mädchenkulturarbeit sowie verschiedene Mädchengruppen. Ein Teil der Angebote findet in Kooperation mit Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen statt. Wesentlicher Bestandteil von Tritta ist außerdem die Lobbyarbeit für Mädcheninteressen (u. a. durch die Arbeit in städtischen Gremien).



376 | B ÄRBEL K ÖHLER • FrauenZimmer als einzige Einrichtung aus dem Bereich der Suchthilfe deckt

mit dem Suchtschwerpunkt und den darauf ausgerichteten Angeboten einen wichtigen Baustein in der Vielfalt der Basler 8 ab. Die Einzel- und Gruppenangebote von FrauenZimmer stehen den Klientinnen der anderen vier Einrichtungen als ergänzende Unterstützungsmöglichkeit zur Verfügung. Strukturell handelt es sich bei den fünf Einrichtungen weiterhin um eigenständige Trägervereine. Die gemeinschaftliche Nutzung des Hauses ist in einem Gesellschafterinnenvertrag geregelt. Leitprinzipien der Basler 8 – für Mädchen und Frauen Die Arbeit mit den Frauen und Mädchen basiert auf gemeinsam festgelegten Leitprinzipien. Was alle Einrichtungen der Basler 8 verbindet, ist der feministische bzw. frauen-/mädchenbezogene Ansatz. Gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten werden kritisch reflektiert und auf deren Veränderung sowohl in der Angebotsgestaltung als auch in gemeinsamen frauen- und mädchenpolitischen Aktivitäten hingewirkt. Parteilichkeit Zentrales Leitmotiv der Arbeit in der Basler 8 ist Parteilichkeit. Die Mitarbeiterinnen nehmen einen parteilichen Standpunkt für Mädchen und Frauen ein, d.h. betroffene Mädchen und Frauen werden in ihrer Wirklichkeit ernst genommen und in ihrem Recht auf Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe unterstützt und bestärkt (siehe den Beitrag von Peine in diesem Band). Die Mitarbeiterinnen benennen gesellschaftliche Abhängigkeiten und ermutigen Mädchen und Frauen, ihr eigenes Leben zu leben und zu gestalten. Vielfalt und Differenz: Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten Die Arbeit der Basler 8 bedeutet Vielfalt und vielfältige Angebote für Frauen und Mädchen. Denn: Jede Frau und jedes Mädchen ist anders. Alle leben unterschiedliche Lebensentwürfe in verschiedenen Lebenswirklichkeiten. Gleichzeitig ist es für Mädchen und Frauen wichtig zu sehen, dass es viel Gemeinsames gibt, das verbindet und stärkt. Die Einrichtungen haben unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte in ihren Angeboten.



K OOPERATIONSMODELL FEMINISTISCHER S OZIALER A RBEIT UND S UCHTHILFE

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Räume für Mädchen und Frauen Prinzipiell sind die Räume der Basler 8 für Mädchen und Frauen bestimmt und wirken für alle als Frei- und Schutzraum mit besonderen Möglichkeiten, insbesondere sich nicht in gewohnten Rollenmustern verhalten (zu müssen) oder ungestört von männlichem Dominanzverhalten zu sein. In allen Einrichtungen arbeiten ausschließlich Frauen als Mitarbeiterinnen. In einer sogenannten Zukunftswerkstatt, einer gemeinsamen Klausur der Mitarbeiterinnen aller fünf Einrichtungen, wurde das Selbstverständnis zur Basler 8 als Frauen-Mädchen-Raum reflektiert. In der Folge wurde der Einbezug von männlichen Unterstützern, beispielsweise Mitarbeiter anderer Einrichtungen, in die Beratung von Frauen und Mädchen ebenso wie die Möglichkeit zur Durchführung von Fortbildungsseminaren für Frauen und Männer in die Leitprinzipien der Basler 8 aufgenommen. Elemente, Umsetzung und Mehrwert der Kooperation für FrauenZimmer als Suchtberatungsstelle Durch den Zusammenschluss als Basler 8 sind für die Suchtberatungsstelle FrauenZimmer die Möglichkeiten für unkomplizierte Kooperationen in der unmittelbaren Klientinnenarbeit, eine umfassendere frauen- und mädchenbezogene konzeptionelle Weiterentwicklung sowie eine stärkere Präsenz von frauen- und mädchenpolitischen Themen in der Kommunalpolitik entstanden. Unmittelbare Klientinnenarbeit Der räumliche Zusammenschluss ist in der Arbeit mit den Klientinnen für FrauenZimmer eine fachliche Bereicherung. Die Möglichkeit, bei Bedarf Klientinnen innerhalb des Beratungsgespräches je nach Anliegen direkt und persönlich zu einer der anderen vier Einrichtungen im Haus zu begleiten, erleichtert es den Frauen und Mädchen, ergänzende Unterstützungsangebote anzunehmen. Bei vielen der Klientinnen steht ihre Suchterkrankung in engem Zusammenhang mit sexuellen Gewalterfahrungen. Immer wieder ist es für einzelne Frauen hilfreich, neben der Suchtberatung die Unterstützung von Wildwasser oder Frauenhorizonte anzunehmen. Klientinnen, die sich beispielsweise von den Auswirkungen der Wechseljahre beeinträchtigt fühlen, können in einer Selbsthilfegruppe des FMGZ Unterstützung finden. Ebenso werden Frauen, die zunächst wegen gesundheitlicher Fragen oder ihrer traumatischen Erfahrungen den Kontakt zu einer der Basler 8Einrichtungen aufgesucht haben, von den Kolleginnen an das FrauenZimmer zur Behandlung ihrer zusätzlichen Suchtproblematik vermittelt.



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Die Mitarbeiterinnen von FrauenZimmer werden ebenso bei der Vermittlung von Klientinnen in weiterführende ergänzende Maßnahmen durch die unterschiedlichen Netzwerke der anderen vier Einrichtungen mit einer Vielzahl an passenden Kontakten unterstützt. Darüber hinaus können sich die FrauenZimmer-Mitarbeiterinnen von den Kolleginnen aus den anderen Basler 8-Einrichtungen unkompliziert bei fachlichen (Nach-)Fragen beraten lassen, ebenso wie sie ihre Fachkompetenzen in Suchtfragen zur Verfügung stellen. Mit dem Angebot der Basler 8-Kennenlern-Rallye für Mädchengruppen kann FrauenZimmer sein Angebot für Mädchen um eine attraktive Möglichkeit erweitern. Auf spielerische und zugleich interaktive Art können Mädchen die Arbeitsweise der Suchtberatungsstelle wie auch die der anderen vier Basler 8Einrichtungen kennenlernen. Da der Zugang zur Rallye über alle fünf Einrichtung der Basler 8 hergestellt wird, erreicht FrauenZimmer über dieses gemeinschaftliche Angebot der Kennenlern-Rallye viele Mädchengruppen aus sozialen Einrichtungen, mit denen bislang keine aktive Vernetzung besteht. Konzeptionelle Weiterentwicklung Bei konzeptionellen Weiterentwicklungen, die nicht in erster Linie Frauen und Mädchen mit einer Suchtproblematik in den Fokus stellen, arbeitet und entwickelt die Suchtberatungsstelle zusammen mit den anderen vier Einrichtungen der Basler 8 neue Konzepte. Die Aufgaben der inhaltlichen Planung, Finanzbeschaffung, Organisation und Umsetzung werden gemeinsam getragen. Im FrauenZimmer wird dadurch konzeptionelle Weiterentwicklung möglich, die sich in die bestehenden Personalressourcen und den Beratungsstellenbetrieb integrieren lässt. Am Beispiel der interkulturellen Öffnung soll dieses Vorgehen exemplarisch dargestellt werden: Nachdem sich eine der Basler 8-Einrichtungen an einem kommunalen Projekt für Migrantinnen beteiligt hatte, wurde aus dieser Erfahrung heraus 2011 von allen fünf Basler 8-Einrichtungen gemeinsam entschieden, die interkulturelle Öffnung der Basler 8 weiterzuentwickeln. Eine Arbeitsgruppe beantragte Stiftungsgelder und organisierte mehrere gemeinsame externe Fortbildungen durch Fachfrauen und interne Fach-Diskussionen. Die Mitarbeiterinnen aller Einrichtungen hatten die Möglichkeit, ihre Kompetenzen in interkultureller Beratungsarbeit zu erweitern. Darüber hinaus wurde das Informationsblatt zur Basler 8 in 12 verschiedenen Sprachen aufgelegt und die Basler 8-Homepage, auf der FrauenZimmer und die anderen vier Einrichtungen vorgestellt werden, in mehrere Sprachen übersetzt. Zudem wurden die Kontakte der einzelnen Einrichtungen z. B. zu Migrati-



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onsfachdiensten oder Dolmetscherinnen zusammengeführt und ein gemeinsames Netzwerk interkultureller Arbeit mit Frauen und Mädchen entwickelt. Als Folge dieser neuen Vernetzung finden mittlerweile im FrauenZimmer niedrigschwellige Informationstreffen für Frauen mit Migrationshintergrund statt, in denen die Angebote der Suchtberatungsstelle im persönlichen Gespräch vorgestellt werden. Politische Arbeit Bereits das gemeinsame Haus, eine zentral gelegene Villa, sorgt für eine starke Präsenz in der öffentlichen und kommunalpolitischen Wahrnehmung und ist ein unübersehbares Statement frauen- und mädchenpolitischen Engagements. FrauenZimmer als Suchtberatungsstelle ist wie die anderen vier Einrichtungen der Basler 8 aus ihrem jeweiligen fachspezifischen Blickwinkel heraus gegen strukturelle Benachteiligung und Gewalt gegen Mädchen und Frauen aktiv. Aus diesem verbindenden Selbstverständnis heraus werden die fünf Einrichtungen immer wieder als Basler 8 gemeinsam politisch aktiv und • prangern beispielsweise sexistische Werbung und Darstellungen an, • sensibilisieren in Gesprächen mit Kommunalpolitiker_innen und anderen Ent-

scheidungsträger_innen für die Belange von Mädchen und Frauen, • melden sich bei kommunalpolitischen Themen, bezogen auf Mädchen und

Frauen, zu Wort etc. Ein gelungenes Beispiel für gemeinsame frauen- und mädchenpolitische Arbeit der Basler 8-Einrichtungen steht im Zusammenhang mit der Neuausschreibung der Personalstelle zur Gleichberechtigung der Frau im Jahr 2013. Mit einer öffentlichen Stellungnahme hat die Basler 8 erfolgreich dazu beigetragen, dass die gesellschaftspolitische Dimension dieser Stelle nicht, wie geplant, eingeschränkt wurde, sondern in vollem Umfang als Frauenbeauftragte wiederbesetzt werden konnte.

R ESÜMEE Im Jahr 2015 feierte die Basler 8 – für Mädchen und Frauen ihr zehnjähriges Bestehen und hat sich von einem räumlichen Zusammenschluss zu einem eigenständigen Strukturgebilde entwickelt.



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FrauenZimmer hat sich als Suchtberatungsstelle für Frauen und Mädchen von Gründungsbeginn an in Freiburg schon immer sowohl in der Suchthilfe als auch in der Frauen-/Mädchenarbeit vernetzt. Die Vernetzung in der Suchthilfe findet vorwiegend in über Jahrzehnte etablierten kommunal organisierten Arbeitskreisen und Gremien statt. Mit Ausnahme von FrauenZimmer sind die Einrichtungen der Suchthilfe an große Träger angebunden – mit entsprechendem politischen Gewicht. Die Vernetzung in der Frauen-/Mädchenarbeit hat für FrauenZimmer jedoch durch die Gründung der Basler 8 eine strukturierte und öffentlich sichtbare Form erhalten. Die zunehmende Stärkung der Basler 8 hat die Position von FrauenZimmer als Frauen-/Mädcheneinrichtung in der Suchthilfe gestärkt und weiter abgesichert. FrauenZimmer ist heute durch die Kooperation in der Basler 8 und durch die Mitarbeit in verschiedenen Arbeitskreisen der Suchthilfe in zwei öffentlich wirksamen und kommunalpolitisch aktiven Vernetzungszusammenhängen als Suchtberatungsstelle für Frauen und Mädchen engagiert und präsent. Damit besteht eine gute Grundlage, sich für die Anliegen von abhängigen und suchtgefährdeten Frauen und Mädchen einzusetzen. Die fachliche Arbeit von FrauenZimmer als Suchtberatungsstelle wird durch Impulse aus medizinischen und therapeutische Kongressen, Fortbildungen, Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Studien und Facharbeitskreisen ebenso wie aus gesetzlichen Neuregelungen, wirtschaftlichen Vorgaben oder Berichten der Bundesregierung gespeist. Im Suchtbereich stellt sich vor allem die Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen zu verfolgen und daraus adäquate Schwerpunkte für die praktische Arbeit zu entwickeln. Bezogen auf die fachliche Arbeit von FrauenZimmer als feministische Frauen- und Mädcheneinrichtung sind vor allem die Begegnungen und fachlichen Diskussionen im Arbeitsalltag der Basler 8 mit den Kolleginnen aus den anderen vier Einrichtungen elementar. Die Anregungen aus deren inhaltlicher Arbeit und thematischen Auseinandersetzungen ebenso wie die gemeinsame fachliche Weiterentwicklung als Basler 8 ermöglicht es den Mitarbeiterinnen von FrauenZimmer, ihre feministische Haltung lebendig zu gestalten und in die Angebotsgestaltung und Arbeitsweise zu integrieren. Die räumliche Situation in der Basler 8 ermöglicht es, das „FrauenZimmerStockwerk“ ausschließlich Frauen und Mädchen vorzuhalten. Gespräche mit männlichen Bezugspersonen im Rahmen der ambulanten Rehabilitation oder der ambulanten Nachsorge von Klientinnen können auf Anfrage in Räumlichkeiten einer anderen Einrichtung der Basler 8 stattfinden. Durch diese Kooperation kann FrauenZimmer einen tatsächlichen Frauen-Mädchen-Raum als wichtiges Alleinstellungsmerkmal in der Freiburger Suchthilfe behalten und zugleich fachlich angemessen arbeiten.



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In den regelmäßigen Haushaltsverhandlungen erlebt FrauenZimmer den Zusammenschluss zur Basler 8 als große Stärkung. Die Basler 8 wird mittlerweile auch von der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitik als erfolgreiches Vorzeigemodell erlebt. Die finanzielle Gefährdung einer der fünf Basler 8Einrichtungen würde den gesamten Zusammenschluss gefährden, da die Basler 8 sowohl finanziell als auch fachlich nicht von den verbleibenden vier Einrichtungen getragen werden könnte und sich in dieser Form auflösen müsste. Diese Tatsache ist der Kommunalpolitik und Stadtverwaltung sehr bewusst und wird in den Verhandlungen berücksichtigt. FrauenZimmer hat in den vergangenen zehn Jahren ebenso wie die anderen vier Einrichtungen regelmäßig Personalressourcen in die Basler 8 investiert. Der Arbeitsauswand hat sich mit der Entwicklung vom räumlichen zum fachlichen und politischen Zusammenschluss in den letzten Jahren vergrößert. Wie in der Aufbauphase vieler Projekte ist vieles davon mit ehrenamtlichem Engagement umgesetzt, manches aber auch aus dem Personaletat der fünf Einrichtungen geleistet worden. Die Basler 8 ist heute aus der Projektphase entwachsen und hat sich als fester Zusammenschluss etabliert. Sie zeigt ein gelungenes und erfolgreiches Modell der Kooperation feministischer Einrichtungen unterschiedlicher thematischer Ausrichtungen auf. Die vergangenen zehn Jahre zeigen, dass dieses Modell nicht statisch sein kann und darf, sondern sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen muss. Es gilt daher, die notwendigen Entwicklungen zu erkennen und gemeinsam Lösungen und Umsetzungsmöglichkeit zu finden.





Weiterentwicklung der Frauensuchtarbeit





Herausforderungen an die Zukunft der Frauensuchtarbeit M ARTINA T ÖDTE & C HRISTIANE B ERNARD

E INLEITUNG Nach mehr als drei Jahrzehnten Frauensuchtarbeit in Deutschland ist der Generationenwechsel ein dringliches Thema: Die „Pionierinnen“ sind in den Ruhestand eingetreten, die „zweite Generation“ der Verantwortlichen wird in den kommenden Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden. Junge Kolleginnen als Nachfolgerinnen sind nur schwer zu erreichen, da die Thematik „Frauen (bzw. Gender) und Sucht“ bislang kaum Eingang in die Ausbildung der entsprechenden Berufsgruppen gefunden hat und keine Konzepte/Methoden existieren, wie das über Jahrzehnte erworbene Fach- und Handlungswissen gesichert und weitergegeben werden kann. Parallel dazu sind die Klientinnen mehrheitlich in jüngerem Alter und weisen veränderte Konsummuster, Lebenslagen, -perspektiven etc. auf. Insofern findet aktuell ein „doppelter Generationenwechsel“ statt. Darüber hinaus machen gesellschaftliche Veränderungen Auseinandersetzungen notwendig, die danach fragen, welche Konsequenzen hieraus für die frauengerechte Suchtarbeit zu ziehen sind (siehe den Beitrag von Schwarting in diesem Band). Damit rücken grundlegende konzeptionelle sowie Haltungsfragen in den Fokus, die im Sinne eines umfassenden Qualitätsverständnisses einer Überprüfung und eventuellen Neujustierung der Angebotsstrukturen bzw. -gestaltung sowie der Ziele und Zieldefinitionen der Frauensuchtarbeit bedürfen und effektive Strategien und Konzepte auf den Ebenen der Träger-, Einrichtungs- und Personalstruktur erfordern. Dass Generationenwechsel und Qualitätssicherung dringliche Themen in der Frauensuchtarbeit sind, wird seit mehreren Jahren auch im „Verbund der femi-



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nistischen Suchthilfeeinrichtungen für Mädchen und Frauen in Deutschland“, dem bundesweiten Zusammenschluss von autonomen feministischen Trägern im Bereich der Suchthilfe, diskutiert. Aufgrund der knappen Ressourcen und der geografisch breiten Streuung der feministischen Einrichtungen in Deutschland konnte bislang jedoch keine gezielte und kontinuierliche Auseinandersetzung erfolgen. Regionale oder überregionale Fachtagungen zu diesem Thema haben bislang nicht stattgefunden. Mit einer zweitägigen Fachkonferenz im Juli 2015, die vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde, konnte erstmals dieser überregionale Rahmen für einen intensiven, differenzierten und strukturierten Austausch zum Thema „Generationenwechsel“ geschaffen werden (vgl. Tödte/Bernard 2015). Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Generationen der feministischen Suchthilfeeinrichtungen konnten für die Teilnahme an der Tagung gewonnen werden. Im Fokus standen der Dialog über die Positionen der „ursprünglichen“ Frauensuchtarbeit und das heutige Verständnis von feministischer Beratung und Behandlung. Darauf basierend galt es, die bisherigen Arbeitsansätze und -ziele auf ihre Aktualität hin zu reflektieren und weiterzuentwickeln sowie Strategien für die Generationenübergabe und die Erfahrungssicherung unter Berücksichtigung von Gelingensfaktoren und „Stolperfallen“ zu erarbeiten. Die Herausforderungen, denen sich die feministischen Einrichtungen der Suchthilfe in den kommenden Jahren stellen müssen, sind umfassend und komplex. Aber: War das nicht „schon immer“ so? Bei einem Blick zurück fällt auf, dass die Entwicklungen der Frauensuchtarbeit ebenso wie die der jeweiligen Einrichtungen durchgängig mit der Bewältigung umfangreicher und vielschichtiger Herausforderungen verbunden waren. Inwiefern es gelingen kann, aus den vorliegenden Erfahrungen die für die bisherige, erfolgreiche Entwicklung genutzten Strategien, Haltungen und Handlungen zu analysieren, zu extrahieren und perspektivisch – gesellschaftlich, politisch, ökonomisch und persönlich – abzuleiten und für neue, veränderte Herausforderungen nutzbar zu machen, muss sorgfältig reflektiert werden.

D IE AUTONOMEN FEMINISTISCHEN S UCHTHILFETRÄGER IN D EUTSCHLAND Im „Verbund der feministischen Suchthilfeeinrichtungen für Mädchen und Frauen in Deutschland“ haben sich insgesamt zehn autonome Träger der Suchthilfe zusammengeschlossen, die allesamt ihre Wurzeln in der Frauenbewegung haben. Die meisten der Trägervereine gründeten sich Mitte/Ende der 1980er Jahre; das



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FrauenTherapieZentrum – FTZ München e. V., als ältester im Verbund vertretener Träger, wurde bereits 1978 von Frauen aus der Frauenbewegung, der AntiPsychiatrie- und der Selbsthilfebewegung ins Leben gerufen. Im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung der Träger und Einrichtungen zeigen sich deutliche Parallelen: Die Trägergründung und die Bemühungen um eine Finanzierung von Sucht-/Drogenhilfeeinrichtungen für Frauen erforderte einen immens hohen Arbeitsaufwand – nicht nur von den angestellten Mitarbeiterinnen, sondern auch von ehrenamtlich tätigen Frauen. Die Bemühungen um eine Finanzierung frauenbezogener Arbeit in eigener Trägerschaft waren durch eine mangelnde Auseinandersetzungsbereitschaft potenzieller Leistungs/Kostenträger zu Fragen der Geschlechterdifferenzierung gekennzeichnet, gleichzeitig lagen keine Forschungserkenntnisse zu dieser Thematik vor. Für die Frauen der „ersten Generation“ standen von daher keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse als Argumentationshilfen zur Verfügung, sondern es waren in erster Linie ihre Praxiserfahrungen, auf deren Basis sich das Engagement für eine geschlechtsbezogene und geschlechtshomogene Arbeit mit Frauen entwickelte. Darüber hinaus gab es auch intensive „Konkurrenzsorgen“ etablierter Träger der Sucht-/Drogenhilfe, die offensiv eine Anerkennung und Förderung von Fraueneinrichtungen vor Ort zu verhindern suchten. Die Gründungsjahre waren insofern vor allem durch mühevolle Debatten um die Berechtigung und Notwendigkeit einer geschlechtsbezogenen Suchtarbeit mit Frauen und entsprechende geschlechtshomogene Angebote und Einrichtungen geprägt. Gleichzeitig fehlte eine ausreichende institutionelle Förderung und Absicherung. Parallel fand aber bereits eine Professionalisierung statt: Fragen, die sich erst durch die spezifische Arbeit mit Frauen ergaben – viele Mitarbeiterinnen der „ersten Generation“ verfügten über Berufserfahrungen in der „traditionellen“, geschlechterheterogenen Drogenhilfe – mussten beantwortet und die Erkenntnisse, die sich aus der fachlich veränderten Arbeit ergaben, für die Entwicklung von Konzepten und deren Modifikation genutzt werden. Ebenso mussten Organisationsstrukturen entwickelt und gelebt werden: Insbesondere die internen Debatten um Macht und Hierarchie in institutionellen Strukturen und die Suche nach alternativen Formen zu den bestehenden traditionell-hierarchischen Strukturen der Sucht-/Drogenhilfe waren zeit- und energieintensiv. Heute sind alle Fraueneinrichtungen in der Suchthilfe etablierte Einrichtungen, die eine hohe fachliche Anerkennung vor Ort, z. T. auch bundesweit, genießen. Auch wenn ihre jeweiligen Entwicklungen viele Parallelen aufweisen, sind sie dennoch vielfältig in ihren Unterschieden. Als deutlichste Unterschiede zwischen den Einrichtungen können identifiziert werden:



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Akzeptanz- vs. Abstinenzorientierung bei der Trägergründung, die jeweiligen Ausrichtungen bzw. Spezialisierungen, unterschiedliche Finanzierungen, kontinuierliches Wachstum vs. wiederholte Veränderungen durch Wegfall von Einrichtungen/Projekten aufgrund mangelnder Finanzierung, • Krisen durch Personalknappheit bzw. durch Unterbrechungszeiten bei den Gründungsfrauen (z. B. durch Mutterschutz-, Erziehungs- und Elternzeiten), • Tätigkeitsprofile und finanzielle Bewertung der Geschäftsführerinnen/Leiterinnen der Einrichtungen: Der überwiegende Teil der Geschäftsführerinnen war/ist auch noch in der praktischen Arbeit tätig, da es in der Regel keine Finanzierung für die Personalstellen der Geschäftsführerinnen gibt – dadurch besteht häufig keine Möglichkeit, die Frauen in Personal- und Finanzverantwortung entsprechend zu entlohnen, • die Einrichtungsgröße (die kleinste Einrichtung hat heute fünf festangestellte Mitarbeiterinnen, die größte 117). • • • •

Der dennoch auch heute noch bestehende Legitimations- und Rechtfertigungsdruck bezieht sich weniger auf die Notwendigkeit der Arbeit – die bisherige Forschung hat die Ausgangslagen und Erkenntnisse aus den Anfängen längst bestätigt und viele Themen sind mittlerweile „etabliert“ (siehe dazu auch den Beitrag von Tödte in diesem Band) – sondern nach wie vor auf die Finanzierung der Einrichtungen und Angebote.

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Unbenommen sind der gesellschaftliche Nutzen, den die Frauensuchteinrichtungen erfüllen und die umfassenden Innovationen, mit denen sie (auch) die traditionelle Suchthilfe bereichert haben. Ebenso unbenommen ist, dass sie all dies fast immer mit äußerst knappen Ressourcen – insbesondere bezogen auf ihre finanzielle und personelle Situation – geleistet haben und immer noch leisten. Aufgrund der unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen in Deutschland – Flächenländer und Stadtstaaten – sind die jeweiligen öffentlichen Förderungen der Frauensuchteinrichtungen nicht miteinander vergleichbar. Eine Tatsache jedoch verbindet sie: Die öffentliche Förderung durch Kommunen, Bezirke, Senat oder Landesregierung ist gleichermaßen unentbehrlich wie einschränkend, oft auch nahezu erdrückend. Innovationen und Flexibilität im Sinne der Angebotsgestaltung – z. B. als Reaktion auf fachliche Auseinandersetzungen aufgrund aktueller Erkenntnisse oder identifizierter Problemlagen der Klientinnen –, eine der



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Stärken der Frauensuchteinrichtungen, können mit jährlich im Voraus festgelegten und zu leistenden „Produkten“ nur eingeschränkt umgesetzt werden. Die Finanzierung von Personalstellen für die Geschäftsführung der Trägervereine erfolgt nur in Ausnahmefällen – bei gleichzeitigem hohen Erwartungsdruck an die verantwortliche Umsetzung der geschäftsführenden Aufgaben und zunehmenden Verwaltungsanforderungen vonseiten der Kosten-/Leistungsträger. Entsprechend leisten viele der mit der Geschäftsführung betrauten Mitarbeiterinnen auch Tätigkeiten der originären Praxis und müssen die (Rollen-)Anforderungen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen miteinander in Einklang bringen. Gleichzeitig ist die Förderung häufig von den jeweils aktuellen politischen Machtverhältnissen abhängig – verändern sich die politischen Mehrheitsverhältnisse, kann dies zu Mittelkürzungen bis zur Einstellung der Förderung, oder umgekehrt, zu einer Erweiterung und Absicherung der Förderung führen. Zukunftssicherung über die jeweilige Legislaturperiode hinaus ist also kaum möglich. Mit dieser „Beliebigkeit“, die eher einen Bezug zu den jeweiligen Haltungen und subjektiven Einschätzungen der politischen Akteur_innen denn zu den inhaltlich-fachlichen Notwendigkeiten der Tätigkeit der Frauensuchteinrichtungen aufweisen, wird es auch zukünftig eine Herausforderung bleiben, die feministische Suchthilfe ausreichend zu finanzieren. Zusätzliche Projektmittel zu generieren, ist oftmals eine Chance, einzelne Angebote zu erproben und somit die Alltagsarbeit zu entlasten. Projektförderungen beinhalten allerdings in der Regel nicht die Förderung des „Overhead“ – gerade dieser wird aber durch den hohen Aufwand, der mit der Antragstellung, Durchführung, Dokumentation, Evaluation und Abrechnung der jeweiligen Zuwendungen von Projekten einhergeht, deutlich gefordert. Wie sehr inhaltliche, organisatorische und strukturelle Weiterentwicklungen und somit auch der fachliche Erkenntnisgewinn an finanzielle Ressourcen geknüpft sind, zeigt sich insbesondere dann, wenn es Trägern gelingt, eigene Mittel zu erwirtschaften und sich so, zumindest partiell, eine eigene „finanzielle Autonomie“ zu erarbeiten: Die trägerinterne Entscheidung, für welche Angebote finanzielle Ressourcen wie eingesetzt werden, eröffnet völlig neue Handlungsalternativen und in der Konsequenz eine Verbesserung der Angebotsstruktur und der tatsächlichen Unterstützungsmöglichkeiten.1

1

Beispielsweise hat eine der feministischen Einrichtungen, um die Erreichbarkeit von drogenabhängigen Frauen mit kleinen Kindern zu verbessern, die Komm-Struktur zugunsten einer Hol-Struktur aufgehoben. Da es vielen Frauen faktisch kaum möglich ist, zu vorgegebenen Zeiten eine Beratungsstelle aufzusuchen, wenn sie mit mehreren



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Zudem sind alle Träger darauf angewiesen, Rücklagen für unvorhergesehene Situationen oder Notfälle zu bilden. Die rechtliche Organisationsstruktur – viele der Träger sind eingetragene, gemeinnützige Vereine – lässt hier nur einen begrenzten Spielraum zu. Die Veränderung hin zu anderen Organisationsformen, wie etwa einer gemeinnützigen GmbH, wurde in der Vergangenheit von einem der Träger der feministischen Suchthilfe geleistet. Eine der Herausforderungen der Zukunft wird es sein, die Trägerstrukturen insgesamt zu überprüfen und den Bedarfen anzupassen. Für diese Prozesse sind Zeit- und Personalressourcen unabdingbar. Wirtschaftlichkeit wird kleinen Einrichtungen in der Sozialen Arbeit häufig abgesprochen. So entwickelt sich auch in der Suchthilfe schon seit vielen Jahren der „Trend“ zur Ökonomisierung: große ambulante Einrichtungen („alles unter einem Dach“) und, im stationären Bereich, Fachkliniken mit vielen Betten. Die Vorteile eines breit gefächerten Hilfesystems hinsichtlich der Heterogenität der Zielgruppen stehen hier eher weniger im Fokus: Gerade die kleineren (sozialtherapeutischen) stationären Einrichtungen zeigen eine hohe Wirksamkeit für substanzkonsumierende Frauen und bieten ihnen Schutz- und Entwicklungsräume (siehe die Beiträge von Langgassner sowie Umminger in diesem Band). Die Ökonomisierung der Suchthilfe stellt eher weniger die Frage „[w]elche Hilfeangebote zu welcher Zeit ein Höchstmaß an Unterstützung ermöglichen“ (Rauschenbach 1999: 241) in den Mittelpunkt, sondern drückt aus, dass „Effizienz, Qualitätssicherung und Kundenorientierung […] zu Schlüsselbegriffen in einer Branche geworden [sind], in der bislang vornehmlich von Humanität und Ethik die Rede war. Sozialmanagement und Marketingorientierung lautet nun das Gebot der Stunde.“ (Wilken 2000: 17) Somit ist „nicht mehr das sozial Sinnvolle maßgeblich [...], sondern lediglich das wettbewerbsfähige Soziale“ (ebd.: 16). Inwiefern insbesondere spezialisierte Institutionen wie z. B. die Frauensuchteinrichtungen mit ihrer inhaltlichfachlichen Orientierung an den Lebenssituationen, Problemlagen und Bedarfen ihrer Zielgruppen diesen Wettbewerb aufnehmen können – vor dem Hintergrund eines deutlichen Mangels an (Wirksamkeits-)Forschung und gleichzeitiger ideologischer Interpretation „von außen“, wird sich perspektivisch zeigen müssen, denn es

kleinen Kindern auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, werden sie von den Mitarbeiterinnen zu Hause abgeholt und im Anschluss an die Angebote wieder zurückgefahren. Zur Erleichterung der Situation für die Mitarbeiterinnen hat der Träger Dienstwagen erworben. Die Erkenntnisse aus dieser veränderten Haltung sind umfassend positiv (vgl. Tödte 2014).



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„ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Soziale in vielen Bereichen einen ‚Warencharakter’ erhält und sich eine Praxis entwickelt, in der lediglich lukrative Marktsegmente interessant sind mit der Folge, dass immer häufiger nur die wirtschaftlich rentierlichen Zielgruppen bedient werden und entsprechende Dienstleistungen ausbleiben, wenn es dem ‚Kunden’ an Kaufkraft fehlt“ (ebd.: 17).

Dass auch kleine Institutionen wirtschaftliche Unternehmen sind, haben die feministischen Suchthilfeeinrichtungen längst bewiesen – unter erschwerten Bedingungen: erfolgreiche Weiterentwicklung, Profilschärfung und Qualifizierung von Teams und Einrichtungen mit durchgängig knappen Ressourcen (siehe den Beitrag von Tödte in diesem Band). Eine ökonomische Ausrichtung hat zwangsläufig seit Beginn der Tätigkeit der Frauensuchteinrichtungen deren Handeln geprägt: Aus wenig viel gemacht! Die Träger, die eigene Mittel erwirtschaften, investieren diese unmittelbar wieder in die praktische Arbeit, insbesondere in die Weiterentwicklung von Angeboten. Sie sind, auch weil sie kleine Einrichtungen sind, flexibel und dynamisch und können unmittelbar auf die anstehenden Bedarfe reagieren. Daraus entstehen innovative Impulse, Aktivitäten und Energien – und effektive und effiziente Antworten auf spezifische Belange spezifischer Zielgruppen. Für die nachfolgenden Generationen wird es eine große Herausforderung bleiben, neben dem Trend zur Ökonomisierung auch hinsichtlich der veränderten bzw. sich weiter verändernden Diskussion zu Geschlechterfragen die Finanzierung der Einrichtungen sicherzustellen. Die Thematik „Gender“ und die heutige Kultur, in der nahezu alle Einrichtungen der Suchthilfe vermeintlich selbstverständlich geschlechtersensibel arbeiten, beinhaltet auch die Gefahr einer Inflation von Inhalten, Fachlichkeit und Strukturen – insbesondere bezogen auf eine qualifizierte, konsequent geschlechtsbezogene Arbeit mit Frauen im geschlechtshomogenen Rahmen. „[…] Gender ist heute […] eine Schlüsselqualifikation, mit der man Gelder und Posten gewinnen kann, mit Feminismus gewinnt man keinen Blumentopf.“ (Feminismus Seminar 2014: 21) Eine feministische Perspektive, die gesellschaftliche Ungleichheiten und strukturelle Benachteiligungen einbezieht, wird von der Suchthilfe, die sich an Frauen und Männer richtet, in der Regel jedoch nicht umgesetzt. Indem eine geschlechtsbezogene Suchtarbeit mit Frauen nicht definiert und differenziert wird, bleibt die feministische Suchthilfe bei der Diskussion um die Notwendigkeit eigener Träger und Organisationen weiterhin unter Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck. Paradox zeigt sich die Situation unter dem Aspekt, dass die traditionelle, geschlechtsheterogene Suchthilfe weder Standards und Qualitätskriterien geschlechtersensibler Arbeit aufweist noch eine umfassende Umsetzung –



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die entsprechend auch Angebote für Männer einschließt – nachweisen muss. Diese Situation trifft auch engagierte Mitarbeiterinnen der traditionellen Suchthilfe, die, wenn sie die Notwendigkeit einer geschlechtsbezogenen Arbeit mit Frauen formulieren, keine selbstverständliche Unterstützung in ihren Einrichtungen erfahren. Günstigstenfalls können die zukünftigen Mitarbeiterinnen der feministischen Suchthilfe für die anstehenden Prozesse von den nicht-materiellen Ressourcen ihrer Vorgängerinnen profitieren: Von den Erfahrungsschätzen, die sich in Flexibilität, Kreativität, Mut und der Bereitschaft, neue Wege zu entwickeln und zu gehen, ausdrücken. Möglicherweise kann es ihnen gelingen, zunehmend finanzielle Autonomie zu erlangen und damit die Freiheit zu gewinnen, über das eigene Handeln, die Konzipierung, Umsetzung und Implementierung von Angeboten und Strukturen zu bestimmen.

G ESTALTUNGS - UND E NTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN – U NTERNEHMERINNENGEIST , V ISIONSKRAFT , K REATIVITÄT Trotz der äußeren „Widrigkeiten“ und des hohen Einsatzes von Energie, um diese zu bewältigen, findet sich bei allen zehn Trägern der feministischen Suchthilfe und über die gesamte „Tradition“ der Frauensuchtarbeit eine deutliche Gemeinsamkeit: Die stetige inhaltliche, konzeptionelle sowie fachliche Weiterentwicklung und ein kreatives Wachstum, welches aus einer mutigen Visionskraft immer wieder neu entstanden ist und entsteht. Und auch wenn diese fortwährenden Veränderungen als eine zusätzliche Anstrengung von den Mitarbeiterinnen wahrgenommen wurden und werden, kommt der konstruktiven Entwicklung und Gestaltung des Arbeitsfeldes sowie der Konzepte und Angebote eine eigene Bedeutung zu: Diese Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, die die Einrichtungen der Frauensuchtarbeit kennzeichnen, führen auch zu einer hohen Arbeitszufriedenheit bei den Mitarbeiterinnen und unterstützen dabei, flexibel, pragmatisch und qualifiziert auf die unterschiedlichen und sich verändernden Bedarfe der Klientinnen zu reagieren. So sind neue Konzeptionen und Angebote auch in Zeiten von massiven Finanzierungseinbrüchen entstanden – im Prinzip gegenläufige Tendenzen, die bei einem Blick auf die „Tradition“ der Fraueneinrichtungen jedoch veranschaulichen, dass Existenzdruck und finanzielle Unsicherheiten als Bestandteile der Alltagsrealität integriert werden mussten/müssen, ohne jedoch dazu zu führen, dass Fachlichkeit und Weiterentwicklung stagnieren. Dass diese Prozesse häufig einen Spagat für die in der Finanzverantwortung stehenden Mitarbeiterinnen darstell(t)en, wird als eine der großen Belastungen in



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diesem Arbeitsfeld gesehen. Die umfangreichen Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten jedoch, die dieses Arbeitsfeld und die jeweiligen Arbeitsplätze auszeichnen, sind der Gegenpol zu diesen Belastungen. In den Gestaltungsmöglichkeiten drücken sich auch die sozialen Haltungen der Träger gegenüber ihren Mitarbeiterinnen aus. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird konsequent versucht umzusetzen – Personalstellen in Teilzeit sind in allen Variationen bei den feministischen Trägern vorhanden; Träger, die es aufbringen können, zahlen eine betriebliche Zusatzversorgung für ihre Mitarbeiterinnen, deren Entlohnung (u. a. aufgrund der Teilzeittätigkeit) keine ausreichende Rente generieren lässt. Auch die Übernahme von Kinderbetreuungskosten wird durch die Träger gewährleistet, wenn es finanziell möglich ist. Die persönliche Qualifizierung der Mitarbeiterinnen wird explizit unterstützt – nicht immer mit der Möglichkeit, dies auch konkret finanziell zu tun, jedoch mit der Bereitstellung von (Arbeits-)Zeit oder einem entsprechenden Ausgleich. Hinzu kommen die Anforderungen von Leistungsträgern hinsichtlich vorgegebener Zusatzqualifikationen, etwa im Rahmen der ambulanten Rehabilitation, die allerdings in der Regel keine oder kaum Gewicht auf geschlechtsbezogene Aspekte legen. Spezifische Fort- und Weiterbildungen werden entsprechend von den Trägern angeregt, organisiert und/oder finanziert. Diese Entscheidungen sind auch politische Entscheidungen, bei denen es nicht ausschließlich darum geht, einen Arbeitsplatz „aufzuwerten“: Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der sogenannten „helfenden Berufe“ spiegelt sich in Tarifverträgen und entsprechend in der Entlohnung wider. Gleichzeitig werden die sozialen Probleme und deren gesellschaftliche und individuelle Konsequenzen komplexer und wirken unmittelbar auf die eigene soziale Realität und die Soziale Arbeit. So sind die Frauensuchteinrichtungen mit den generationenübergreifenden Auswirkungen von Armut durch ihre Klientinnen durchgängig konfrontiert, ebenso mit einem Aufwachsen in Armut durch deren Kinder. Die geringen Teilhabemöglichkeiten und schlechten Bildungschancen ihrer Klientinnen benötigen zunehmend intensivere professionelle Bemühungen bei der Unterstützung eines abstinenten Lebens. Dass es nicht ausschließlich individuelle Probleme der Hilfesuchenden sind, sondern strukturelle Probleme, die aus der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik resultieren und Frauen, z. B. in ihrer Lebenssituation als Alleinerziehende, unmittelbar (be-)treffen, schließt somit auch diejenigen Frauen ein, die in ungesicherten, weil befristeten Teilzeitbeschäftigungen in Einrichtungen der Frauensuchtarbeit tätig sind. Eine ungesicherte Finanzierung verunsichert auch zwangsläufig die Mitarbeiterinnen. Die in der Finanzverantwortung stehenden Mitarbeiterinnen haben die Aufgabe, auch diese Aspekte in ihr Handeln einzubeziehen – neben vielen anderen



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Aufgaben. Für die Mitarbeiterinnen der nachfolgenden Generation stellt sich die Herausforderung, auch diese Rolle zu füllen – eine Perspektive, die bislang, so zeigten die Diskussionen während der Fachkonferenz der feministischen Einrichtungen im Sommer 2015, als nicht sehr „verlockend“ eingeschätzt wird.

D RAHTSEILAKTE , A KZEPTANZ - UND I DENTITÄTSFRAGEN – K OMPLEXITÄT DER A NFORDERUNGEN AN DIE R OLLE DER G ESCHÄFTSFÜHRUNG Die Situation der Leitungs- bzw. Geschäftsführungsposition ist eine der zentralen Herausforderungen der kommenden Jahre. Die Arbeitsplätze der hoch engagierten „alten“ Mitarbeiterinnen sind insbesondere für die jungen Frauen nicht ansprechend – wobei sich die Frage der Attraktivität bei den „hoch engagierten alten Mitarbeiterinnen“ im Verlauf der „Geschichte“ in der Regel gar nicht stellte: Die Aufgaben mussten erledigt werden und eine musste es tun. Dennoch wird zu Recht heute die Frage gestellt, wie diese Personalstellen attraktiv gestaltet werden können, oder ob beispielsweise – als ein alternatives Modell einer der Fraueneinrichtungen – die Aufgaben auf zwei Schultern aufgeteilt und getragen werden können. Ein zentrales Merkmal der Leitungs-/Geschäftsführungsposition ist die Vielzahl verschiedener Aufgaben, die zeitweise parallel erfüllt werden müssen: Einerseits sind es die fachlichen Fragestellungen und Aufgaben, die nicht nur als Sachthematik bewältigt werden. Sie beinhalten, sich hinsichtlich der Fachthemen immer wieder durch „Updates“ – etwa Literatur, Tagungen, Weiterbildungen – auf dem aktuellen fachlichen Stand zu halten bzw. weiterzuentwickeln. Hinzu kommen die originär organisatorischen Aspekte der Einrichtungen, Leitung von Teams, Planung von Aufgaben und Tätigkeitsbereichen, z. T. ebenso konzeptionelle Arbeiten sowie die Personalplanung, Mittelbeschaffung, Nachweise der Verwendung und Zukunftssicherung, Arbeitssicherheit, Qualitätsmanagement und die Kommunikation und Abstimmung mit dem Träger. Und letztendlich haben sich Fraueneinrichtungen seit ihrer Existenz auch immer im politischen Raum bewegen müssen – eine weitere Anforderung an die Geschäftsführerinnen. Der Einfluss der „Mehrfachrolle“ von Frauen, die in der Geschäftsführung und somit der Finanzverantwortung und gleichzeitig in der Praxis tätig sind, kann jedoch nicht ausschließlich unter den Aspekten der komplexen Mehrfachbelastungen und Herausforderungen gesehen werden: Bezogen auf die innovative Entwicklung der Frauensuchteinrichtungen scheint es auch explizit diese



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Mehrfachrolle zu sein, die dazu führt, auf die konkreten Belange der Praxis und der Klientinnen mit folgerichtigem Ressourceneinsatz zu reagieren. Damit kommt dieser Doppelrolle auch eine zentrale, institutionsfördernde Bedeutung zu. Insofern handelt es sich um eine Fülle von unterschiedlichen Anforderungen, die unterschiedliche Strategien, Kompetenzen, Techniken und Bewältigungsmöglichkeiten erfordert. Wie diese Anforderungen jeweils erfüllt werden, entspricht auch dem jeweils persönlichen Stil der Frau, die diese Rolle füllt – die ursprünglichen Ausbildungen haben auf diese Komplexität nicht vorbereitet. Die Suche nach dem eigenen Stil – oder die Entwicklung dieses Stils – ist in der Regel eine individuell zu lösende Aufgabe. Für die Mitarbeiterinnen in Leitungsfunktionen lässt sich als heutige Übereinstimmung feststellen, dass die erforderlichen Qualifikationen in der Regel nicht durch die bisherige(n) Ausbildung(en) erworben werden konnte(n). Vielmehr könnte „Lernen nach Bedarf“ hier die Überschrift sein: Ein großer Teil der Mitarbeiterinnen in Leitungs- bzw. Geschäftsführungsfunktion hat zusätzliche Kompetenzen durch Zusatzausbildungen erworben, so etwa in Betriebswirtschaft und betriebswirtschaftlichem Management, Sozialmanagement, Rhetorik etc. Instrumente wie Coaching und externe Supervision werden von ihnen ebenfalls mit positiver Erfahrung genutzt. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass es mehr braucht als Fachwissen und betriebswirtschaftliche Kompetenzen – als Frau Führungsverantwortung in einer Fraueneinrichtung mit „Frauenthemen“ zu übernehmen, bedeutet auch immer, sich in einem fachöffentlichen und/oder politischen Umfeld zu bewegen, in dem die Erwartungen an Weiblichkeit mit den Zuschreibungen, die mit dem häufig negativ besetzten Begriff der „Feministin“ verbunden sind, in einem besonderen Verhältnis stehen: Insbesondere in den Anfangsjahren der Frauensuchteinrichtungen wurde der Fokus weniger auf die Chancen, die feministische Einrichtungen den Hilfesuchenden bieten, gerichtet, sondern vielmehr auf deren Abgrenzung – Institutionen, die von Frauen mit Frauen und für Frauen gegründet wurden. Damit „kann schon die Suche nach Gleichheit und Autonomie der Frau eine grundlegende Herausforderung der modernen Geschlechterordnung […] bedeuten“ (Lenz 2008: 736) und somit Abwehr produzieren, ohne sich überhaupt mit Fachthemen beschäftigen zu müssen. Es sind insgesamt eher wenige Frauen, die Leitungsfunktionen innerhalb der Suchthilfe innehaben; beispielsweise hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen einen Frauenanteil bei der Gesamtleitung/Geschäftsführung von 31,1 % (vgl. Schu 2014). Das heißt, die Gremien auf Leitungs-/Geschäftsführungsebene sind (nach wie vor) überwiegend mit Männern besetzt.



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Es erforderte zu allen Zeiten Strategien, sich als Vertreterin einer feministischen Einrichtung im fachöffentlichen und politischen Raum zu bewegen. Für die nachfolgenden Generationen wird es weiterhin eine Herausforderung bleiben, sich hier zu positionieren und strategisch zu handeln. Unterstützung z. B. durch gute Netzwerke – sowohl beruflich als auch privat –, so zeigen die Erfahrungen, sind ausgesprochen wichtig. Ebenso bedeutsam ist die bewusste Auseinandersetzung mit einer Entscheidung zur Übernahme von Verantwortung in Form einer Leitungs- und/oder Geschäftsführungsrolle. Diese Chance haben die Nachfolgerinnen in den Einrichtungen der Frauensuchtarbeit heute, denn sie treffen auf Institutionen, die eine intensive Auseinandersetzung mit Organisationsfragen geleistet haben: Von den basisdemokratischen Idealen der Gründungsjahre als autonome Projekte, die alternative Modelle zu den Hierarchien traditioneller Einrichtungen suchten, zu intensiven Ausdifferenzierungsprozessen hinsichtlich verbindlicher Leitungs-, Arbeits- und Organisationsstrukturen.

M ACHT

H IERARCHIE – A USEINANDERSETZUNGEN WEITREICHENDEN F OLGEN UND

MIT

Viele der Auseinandersetzungen und Entwicklungen, die die Einrichtungen der feministischen Suchthilfe insbesondere in ihren Gründungsjahren geführt und geleistet haben, sind für einen Teil der jungen Mitarbeiterinnen heute nicht primär von Bedeutung. Die dahinter liegenden Prozesse und deren tiefere Bedeutung, auch für die Entwicklung von persönlicher und fachlicher Haltung, sind für sie im Kontext der aktuellen Situation, die sie in den Einrichtungen vorfinden, häufig nicht nachvollziehbar. Die Diskussionen um Macht und Hierarchie hatten anfänglich das Ringen um Alternativen zu den klassischen hierarchischen Strukturen in sozialen Einrichtungen zum Inhalt: Die Leitideen von Basisdemokratie, selbstbestimmtem Arbeiten, Selbstorganisation und Entscheidungsstrukturen auf solidarischer Basis wurden vor dem Hintergrund der Debatten um Sexismus, Geschlechterverhältnisse und Feminismus und auf der Suche nach einer Verortung der feministischen Projekte analysiert. Diese Auseinandersetzungen und Werteorientierungen in der Anfangs- und Aufbauarbeit nahmen maßgeblich Einfluss auf die Ausdifferenzierung der strukturellen Entwicklung und führten von einem ursprünglichen Projektstatus zu wachsenden sozialen Organisationen mit spezifischen Unternehmenskulturen.



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Die Diskussionen um strukturelle Gewalt und Benachteiligung und die so angeregten Entwicklungsprozesse hatten auch weitreichende Folgen für die fachlichen Haltungen der feministischen Suchthilfe und prägen ihre Arbeit noch heute ganz wesentlich: Die zugrunde liegende Annahme, dass sich strukturelle Bedingungen eines Gesellschaftssystems nicht ausschließlich individuell, sondern auf die gesamte Geschlechtergruppe auswirken, führte zu der Konsequenz, den Blick sowohl auf die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen Frauen zu richten – in diesem Fall auf die Beraterin/Therapeutin auf der einen und die Hilfe suchende Klientin auf der anderen Seite. „Geschlecht wird als gesellschaftliches Strukturprinzip und Verhaltensset gesehen. Sowohl in Beratung als auch in Therapie sind Konzepte handlungsleitend, die Geschlechterstrukturen und die Gestaltung eigener Geschlechtsidentitäten aufarbeiten und reflektieren.“ (Scheffler 2010: 48) Zuschreibungen und Rollenerwartungen aufgrund geschlechtsbezogener Normen und Werte betreffen Frauen erst einmal gleichermaßen. Abweichungen von vorgegebenen Rollen ziehen Konsequenzen von äußerer – gesellschaftlicher – Be- und Entwertung nach sich und beeinflussen individuelle innere Entwicklungsprozesse. Substanzkonsum von Frauen, insbesondere der Konsum illegalisierter Stoffe, der mit Beschaffungsdelikten einhergeht, entspricht nicht den gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen (siehe den Beitrag von Bernard in diesem Band). Widersprüche und Spannungsfelder sind ihnen bewusst und müssen ausgehalten werden. Praxisrelevant für die feministische Suchthilfe war das Erkennen, dass die innere Entwertung, die die Klientinnen in sich tragen, eine Bedeutung für jeglichen unmittelbaren Kontakt mit der Beraterin/Therapeutin hat, ebenso mit dem grundsätzlichen Vermögen, nach Hilfe zu suchen und diese anzunehmen. Die Analyse des strukturellen Machtgefälles zwischen Hilfe suchender und professioneller Frau im Kontext von Beratung und Therapie hat die Sensibilität für die unmittelbare Gestaltung jeder Begegnung maßgeblich beeinflusst. Diese Entwicklungen haben die Praxis der Frauensuchtarbeit in ihrem Kern geprägt. Der Blick auf strukturelle Benachteiligung von Frauen führte zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass diese Benachteiligung alle Frauen (be-)trifft – die Beraterin/Therapeutin ebenso wie die Klientin. Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit weiblicher Sozialisation und Identitätsbildung. Gesellschaftliche Geschlechtsrollenerwartungen und geschlechtsbezogene Zuschreibungen sowie die damit in unmittelbarer Verbindung stehenden Begrenzungen und Einschränkungen für die eigenen Lebensentwürfe treffen jede Geschlechtergruppe, entsprechend die Beraterin/Therapeutin ebenso wie die Klientin. Die Konsequenzen einer Nicht-Erfüllung gesellschaftlich zugewiesener, traditioneller Frauenrollen –



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individuell und gesellschaftlich –, die sich deutlich in der Stigmatisierung drogenabhängiger Frauen darstellen, treffen in unterschiedlichen Ausprägungen auch Mitarbeiterinnen der feministischen Einrichtungen, die es gewagt haben, die vorgegebenen Strukturen der traditionell hierarchischen Organisationsmodelle der Suchthilfe zu verlassen und sich „selbst zu ermächtigen“. Die Differenzierung von „Mitleid“ und „Mitgefühl“ und das Verständnis der Bedeutung von Empathie im Beratungs- und Therapieprozess hat Haltungen und Methoden wegweisend bereichert. Die Entwicklung hin zu einer Differenzanerkennung, zu der Akzeptanz individuell unterschiedlicher Lebensentwürfe, sowohl für die Beraterin/Therapeutin als auch für die Klientin, war ein Ergebnis weiterer Entwicklungsprozesse: Autonomie, die Selbstbestimmung über das eigene Leben, kann viele Facetten haben. Zentral wurde die Haltung von Respekt und Wertschätzung gegenüber jeder Frau implementiert, ebenso hinsichtlich ihrer Lebensentwürfe und Visionen – der Kollegin gleichermaßen wie der Klientin. Diese Prozesse waren Identitätsprozesse, die jede einzelne Mitarbeiterin und die Organisation als solche geprägt haben. Sie sind Grundlagen für die Entwicklung und Umsetzung der professionellen Haltung und Identität, die die Institutionen der feministischen Suchthilfe auszeichnen. Sie drücken sich aus in einem wertschätzenden, ressourcenorientierten Umgang mit den Klientinnen und den Mitarbeiterinnen; sie beinhalten die Sensibilität für stereotype und geschlechtsbezogene (Gegen-)Übertragungen und zielen darauf ab, eine zufriedene Lebensperspektive, auch jenseits von Geschlechtsrollenzuschreibungen, zu unterstützen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Für die Hilfesuchenden eröffneten diese Prozesse neue, individuelle Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, für die Mitarbeiterinnen erweiterten sie fachliche und strukturelle Erfahrungs- und Entwicklungsschritte. Die Weiterentwicklungen umfassten den achtsamen Umgang mit sich selbst in der professionellen Rolle, die Reflexion der professionellen Beziehung und Haltung als Qualitätsmerkmal und die Verantwortung für die eigenen Grenzen. Die Herausforderungen an die Zukunft der feministischen Frauensuchtarbeit liegen darin, die bisherigen Entwicklungsprozesse und deren Konsequenzen für Haltungs- und Professionalisierungsfragen an die künftigen Mitarbeiterinnen zu vermitteln. Dabei muss die Entwicklung von Haltungen als ein sozialer Lernprozess angesehen werden, der auch eine Orientierung für ein professionelles Selbstverständnis der künftigen Mitarbeiterinnen beinhaltet. Dieser Lernprozess kann einerseits durch die bewusste Reflexion im teaminternen Kontext oder im Rahmen von Supervision, Fort- und Weiterbildung erfolgen. Dabei müssen, in reflexiver Abgrenzung zu den vergangenen Entwicklungen, die heutigen gesell-



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schaftlichen Verhältnisse, Werte und Normen zugrunde gelegt werden ebenso wie neue Fachkenntnisse und die Diskussionen um Zweigeschlechtlichkeit, Gender etc. Da Haltungsfragen bzw. die Entwicklung einer Haltung hinsichtlich einer geschlechtshomogenen Suchthilfe mit Frauen eher selten Bestandteil von Ausbildung und Qualifizierungsmaßnahmen sind, ist es die Verantwortung der Institutionen, Orientierungshilfen im Sinne von Handlungsanleitungen zu vermitteln, Praxisprozesse zu begleiten und zu reflektieren und eine biografisch individuelle Auseinandersetzung der jüngeren Kolleginnen anzuregen, zu unterstützen und zu fördern. Die Mitarbeiterinnen, die die Arbeit perspektivisch leisten werden, müssen die Entscheidung treffen, sich auf diese Prozesse einzulassen und sowohl ein eigenes, qualifiziertes, professionelles und ethisches Selbstverständnis entwickeln als auch ein Fundament für ihre Kompetenzen. Die Reflexion der eigenen Geschlechtsrolle und Identitätsentwicklung ist dabei – auch heute noch – unverzichtbar, auch vor dem Hintergrund, dass gesellschaftliche Erwartungen, Rollenzuschreibungen etc. sich verändert haben und weiter verändern.

F EMINISMUS , F EMINISMEN … – H ERAUSFORDERUNGEN , W IDERSPRÜCHE UND A NFORDERUNGEN Die Frage, ob eine Frau Feministin sein muss, um in einer feministischen Einrichtung zu arbeiten, war ein zentrales Thema in der Diskussion der Fachkonferenz der feministischen Suchthilfeeinrichtungen im Juli 2015. Das Ziel dieses Diskurses war es nicht, eine einheitliche Position zu erarbeiten, sondern die je eigene Positionierung zu schärfen und das eigene Rollenbild zu klären. Deutlich wurde, dass Begriffe wie „Feminismus“ oder „feministische Theorien“ nicht allgemeingültig zu definieren sind, da sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verschiedene Schwerpunkte und Perspektiven entwickelt haben. Die Verwendung des Plural: „Feminismen“ drückt diese Vielfalt aus. Ebenso deutlich wurde, dass gleichzeitig viele Klischees, Ab- und Entwertungen mit diesen Begriffen und mit Frauen, die sich selbst als Feministinnen verstehen, (zählebig) verbunden sind. Bei näherer Betrachtung des Begriffs „Feminismus“ in Bezug auf die Tätigkeit der Frauensuchteinrichtungen in Deutschland zeigte sich zum einen, dass es ausschließlich die Fraueneinrichtungen sind, die bei der Bearbeitung der Themen „Substanzkonsum, Sucht“ eine durchgängige Geschlechterperspektive anlegen und einen unmittelbaren Zusammenhang zu strukturellen Benachteiligun-



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gen von Frauen herstellen sowie die Reflexion von Geschlechterverhältnissen einbeziehen. Universitäre oder suchtbezogene Ausbildungen berücksichtigen hingegen nicht selbstverständlich und durchgängig eine Geschlechterperspektive, z. T. ist dies auch von den Studierenden oder Auszubildenden gar nicht gewünscht: „Nicht selten werden etwa in Universitätsseminaren feministische Anliegen mit der Begründung abgetan, dass es der Emanzipation von Frauen nicht mehr bedürfe.“ (Franke et al. 2014: 25) Nicht nur die Gesellschaft insgesamt, sondern auch das Suchthilfesystem ist nach wie vor männlich strukturiert und dominiert: „Während also das Bewusstsein für geschlechtliche Ungleichheit geschwunden ist und sich eine Gleichheitsnorm entwickeln konnte, bleiben die strukturellen und institutionellen Ungleichheiten gleichwohl bestehen.“ (Ebd.) Eine kritische Analyse sowohl bezogen auf die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Frauen abhängig von Substanzen werden und leben, als auch die Analyse von Machtstrukturen und -verhältnissen im traditionellen Suchthilfesystem waren und sind Beweggründe für eine veränderte Arbeit mit betroffenen Frauen. Das Ziel der Arbeit, Frauen dabei zu unterstützen, gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei leben zu können sowie sie zu befähigen, ihre Rechte und Interessen eigenständig wahrzunehmen, drückt zwar sicherlich erst einmal die Perspektive der Institution und Mitarbeiterinnen aus. Ebenso sind es erst einmal deren Analysen der gesellschaftlichen Bedingungen und Reflexionen von Geschlechterstereotypen, die Anhaltspunkte für die durch strukturelle Benachteiligung eingeschränkten Entwicklungschancen liefern. Definitiv sind es aber die Institutionen der feministischen Suchthilfe, die ihren Klientinnen eine unmittelbare Tatsache aufzeigen: Frauen können ohne die Beteiligung von Männern funktionierende und anerkannte Einrichtungen betreiben. Damit haben sie auch eine Vorbildfunktion für andere Frauen. Weiterhin zeigten die Diskussionen während der Fachkonferenz, dass, wenn der Begriff der „Generationen“ u. a. durch gemeinsame „Generationserlebnisse“ charakterisiert ist – also auch durch prägende gesellschaftliche und politische Ereignisse in der Kindheit und Jugend, die einen Einfluss auf ganze Geburtenjahrgänge haben – sich zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit Feminismus und feministischen Theorien „zwischen den Generationen“ unterscheiden muss. Selbst wenn sich ein Teil der zentralen Themen und Debatten „des Feminismus“ über die Jahrzehnte gehalten hat, unterscheidet sich der Blick durch die persönlich unterschiedlichen Prägungen aufgrund der unterschiedlichen Lebensjahre, der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Situationen. Die jeweiligen Themen und Anliegen haben also



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immer einen Bezug zu den aktuellen Herausforderungen. Aus diesem Grund müssen sich die heutigen Debatten um Feminismus zwangsläufig von früheren Inhalten unterscheiden. Dass zwischen den jeweils historischen und/oder aktuellen Ansätzen durchaus auch Kontroversen bestehen, scheint folgerichtig – es bleibt die Frage, wie es gelingen kann, diese Debatte konstruktiv miteinander zu führen. Eine kritische Auseinandersetzung zwischen den Generationen, die die jeweils unterschiedlichen Positionen wohlwollend in den jeweiligen historischen Kontext setzt, ist bislang insgesamt in den Frauensuchteinrichtungen nur begrenzt geführt worden. Neben der Arbeitsalltagsbelastung, die wenig Spielraum für „aktuell nicht zwingende“ Themen lässt, zeigte sich jedoch auch, dass jüngere Kolleginnen durch die Älteren Bevormundung befürchten und/oder „Anweisungen“, wie eine „korrekte feministische Haltung“ auszusehen habe. Die „älteren“ Kolleginnen hingegen befürchten eher, dass die feministischen Haltungen und Handlungen, die zur Gründung und Etablierung von Fraueneinrichtungen geführt haben, „verloren gehen könnten“, diese Haltungen heute gegenüber jüngeren Frauen unter einem Rechtfertigungsdruck stehen und nicht wertgeschätzt werden, da sie in einem anderen gesellschaftlichen und politischen „Klima“ entstanden sind. Die mittlerweile frauenpolitischen Selbstverständlichkeiten, die die Jüngeren erleben (oder in die sie hinein geboren wurden), machen eine Vermittlung der Ausgangssituation in den Gründungsjahren der Einrichtungen (Ende 1970er bis Anfang 1990er Jahre), die damaligen persönlichen und politischen Prozesse, die geführten Debatten und erlebten Hindernisse nur schwer vermittelbar. So kann die Sorge entstehen, „Empowerment“ im Sinne der „Selbstermächtigung“ von Frauen, z. B. durch die Gründung von Fraueneinrichtungen mit einer politischen und feministischen Überzeugung, könnte als „altmodisch“ und/oder „überholt“ von jüngeren Frauen eingeschätzt werden. Demgegenüber wurde deutlich, dass „der“ Feminismus, der die Frauensuchteinrichtungen begründete und etablierte, pragmatisch anzuerkennen ist als „eine historische Tatsache“: Es waren die damaligen Debatten, Auseinandersetzungen und Haltungen, durch die heute auch für junge Frauen eine beruflich interessante Perspektive besteht. Aber: Zu der Realität der Frauensuchteinrichtungen gehört auch, dass die heutigen Einrichtungen z. T. älter sind als ihre jüngsten Mitarbeiterinnen. Die Herausforderungen, die an die jüngere(n) Generation(en) gestellt werden, sind deutlich andere als vor zwei oder drei Jahrzehnten – dass heute veränderte Herausforderungen, neue Denkformen, Positionierungen, Reaktionen und Aktionsformen erforderlich sind, ist unbestritten. So zeigte die Diskussion auch, dass die „älteren“ Frauen keinen Anspruch auf ein Definitionsmonopol erheben, ihre Ansprüche aber deutlich formulieren: „Wenn nicht wir, wer dann?“



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Für eine „heutige“ Feminismus-/Feminismen-Debatte scheint die Beschäftigung mit den Errungenschaften der Frauenbewegungen als Ausgangspunkt von Bedeutung. Gleichzeitig kann rückblickend kritisch analysiert werden, welche Erfolge, aber auch welche Niederlagen aus den Diskussionen und Aktionen über die Jahrzehnte zu verzeichnen sind. Die heutige Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit muss jedoch insgesamt anerkannt und immer wieder neu verhandelt werden, denn Kernthemen des Feminismus wie z. B. das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt, das Recht auf politische und gesellschaftliche Teilhabe, ökonomische Unabhängigkeit etc. haben nicht an Aktualität verloren. Bezogen auf die Ausrichtung der Frauensuchteinrichtungen ist unbenommen, dass die feministische Grundhaltung nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal im Suchthilfesystem in Deutschland darstellt und dass es dies zu erhalten gilt. Für die nachfolgende Generation wird es eine Herausforderung sein, sich bezogen auf die verschiedenen Standpunkte, Haltungen und Perspektiven der vielfältigen Feminismen zu positionieren. Auch unter den Aspekten der Veränderungen der Suchthilfe-Landschaft hinsichtlich einer zunehmenden Ökonomisierung muss konstatiert werden, dass diese nicht geschlechtslos ist und Auswirkungen auf Frauen hat, die sich beispielsweise in der Art des Angebots, des Settings und der konkreten Beratungs- und/oder Therapiesituation spiegeln. Ungleichheitserfahrungen sind also vorprogrammiert und werden sich verstärken, wenn „gerade viele junge Frauen feministische Forderungen für nicht mehr zeitgemäß erachten.“ (Franke et al. 2014: 25)

B EWAHREN

UND VERÄNDERN

– G ENERATIONENWECHSEL

Dass der Generationswechsel eine planerische und emotionale Herausforderung darstellt, war eine übereinstimmende Einschätzung aller Teilnehmerinnen der Fachkonferenz der feministischen Suchthilfeeinrichtungen im Juli 2015. In den Diskussionen zeigte sich die Vielfalt der Ebenen, die einbezogen werden müssen: Neben der „Einrichtungskultur“ und grundlegenden Fragen der Haltung muss der Blick neben der strukturellen auch auf die persönliche Ebene gerichtet werden. Die persönliche Identität hat zwangsläufig auch einen gesellschaftlichen Bezug. „Die Art und Weise, wie diese subjektiven Entwicklungsverläufe in einer späteren Berufstätigkeit mit den Gesamtkonzepten der jeweiligen Lebensentwürfe verknüpft werden können, wird deutlich beeinflusst von kulturellen Leitbildern und damit zusammenhängenden politischen und administrativen Vorgaben und Verhältnissen.“ (Kurmeyer 2012: 56)



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Die Beteiligung an dem Prozess des Generationenwechsels durch die jüngeren Mitarbeiterinnen muss also im Fokus stehen. Dabei ist auch von Bedeutung, Prozesse zu integrieren, die analysieren, inwiefern die Arbeitsplätze in den feministischen Suchthilfeinstitutionen „Arbeitsplätze wie jede andere in der Suchthilfe“ sind: Zentral hierfür ist die Diskussion um Haltungsfragen hinsichtlich der persönlich eingenommenen Perspektiven und Standpunkte mit Blick auf strukturelle Ungleichheiten und Benachteiligungen, auch wenn junge Mitarbeiterinnen diese als solche in ihrer Sozialisation vielleicht nicht, besser: vermeintlich nicht, individuell erfahren haben. Der Austausch über beispielsweise Rollen und Wirkungen von Frauen in der Öffentlichkeit und Politik; über weibliche Vorbilder, die die eigene Entwicklung positiv geprägt haben – oder die, die abgelehnt werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität, mit geschlechtsbezogenen, als individuell erlebten Begrenzungen und Entfaltungsmöglichkeiten sind keine Anforderungen, die die traditionelle Suchthilfe erwartet oder fördert. In den Institutionen der feministischen Suchthilfe gehören sie (bislang) neben einem umfassenden Fachwissen zur professionellen Grundlage. „Die Chancen und Risiken der handelnden Subjekte auf dem Weg zur Professionalisierung sind nicht zuletzt abhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen, Veränderungen konstruktiv für die eigene alltägliche Lebensführung zu nutzen oder als zusätzliche Belastung abzulehnen. Entscheidenden Einfluss auf diese Voraussetzungen haben die erlernten und erfahrenen Bewältigungsstrategien, Verhaltensmuster und Wertvorstellungen, die unter dem Begriff Sozialisation zusammengefasst werden.“ (Kurmeyer 2012: 55)

Im Sinne eines Verständnisses von Sozialisation als lebenslange Entwicklung, die sich auch im beruflichen Kontext fortsetzt, werden die für die feministische Arbeit erforderlichen Auseinandersetzungen eher selten in der beruflichen Ausoder Weiterbildung geführt oder vermittelt. So bleibt es eine institutionsinterne Aufgabe, Prozesse zu integrieren, die eine Verbindung schaffen zwischen der jeweiligen Mitarbeiterin, ihrer Berufsrolle, ihrer Geschlechts(rollen)identität, den Merkmalen der inhaltlich-fachlichen Tätigkeit und den gesellschaftlichen Bezügen unter einer geschlechterdifferenzierenden Analyse. Und es bleibt die Aufgabe jeder Mitarbeiterin, zu prüfen, ob sie diese Auseinandersetzungen bereit ist, zu leisten. Eine der Herausforderungen für den Generationenwechsel wird es sein, diese Diskussionen zu führen, um eine Verortung in der heutigen Vielfalt feministischer Themen, Theorien und Positionierungen zu finden und die zukünftigen Profile zu schärfen. Diese Aufgabe ist umso dringlicher, als im Rahmen von



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Gender eine Geschlechterdifferenzierung in der traditionellen Suchthilfe „angesagt“ ist bzw. auch gefordert wird, aus unterschiedlichen Gründen eine tatsächliche Implementierung aber nicht stattfindet (siehe den Beitrag von Schwarting in diesem Band). So fehlen zwar Ausdifferenzierungen, Definitionen, Merkmale und ein umfassendes Qualitätsverständnis einer konsequenten geschlechtsbezogenen Arbeit auf allen Ebenen (Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität), es gehört aber inzwischen zum „guten Stil“ vieler Einrichtungen der traditionellen Suchthilfe, ihre Arbeit als geschlechtersensibel, -differenziert und/oder -spezifisch zu bezeichnen. Es wird also eine Herausforderung bleiben, die feministische Arbeit offensiv in die fachlichen Diskussion einzubringen und dafür gleichzeitig die Basis – die Inhalte, Standpunkte, Haltungen und Sichtweisen – unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Veränderungen, deren Bedeutungen für diese Arbeit und möglicher Veränderungsziele zu schärfen. Eine weitere aktuelle Herausforderung ist es, die Vielfalt von Themen, die die heutige Arbeit bereits prägen und mit dem Generationenwechsel, auch auf der Klientinnenebene, einhergehen, einzubeziehen: Zum einen sind es mannigfaltig unterschiedliche Themen, die aufgrund des großen Spektrums der Klientinnen zwangsläufig entstehen – der großen Altersspanne der Klientinnen und der damit verbundenen, auch altersspezifischen Themen, der Nutzung von unterschiedlichen Stoffen und deren Bedeutung, der unterschiedlichen psychosozialen Bedarfe. Zum anderen sind zwangsläufig veränderte Realitäten durch Neue Medien entstanden, andere Zugangs- und Verabredungskulturen, andere Begrifflichkeiten und ein verändertes Verständnis von Kontakt, Begegnung und Kommunikation. Neue Handlungsoptionen sind bereits jetzt in den Einrichtungen erforderlich, um auf diese Fülle zu reagieren. Diese umfassen ebenso die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die das heute deutlich größere Spektrum der Mitarbeiterinnen unter Kriterien wie Alter, Berufs- und Lebenserfahrung, Qualifizierung, Schwerpunktsetzung etc. einbezieht, wie auch die ganz basalen Fragen nach der Interaktion in Beratung und Therapie: Welche Vor- und Nachteile ergeben sich aus der Altersdifferenz zwischen Beraterin/Therapeutin und Klientin für die Beziehung und den Prozess? Sollen jüngere Mitarbeiterinnen auch eher mit jüngeren Klientinnen arbeiten oder welche Effekte sind zu verzeichnen, wenn junge Klientinnen von älteren Mitarbeiterinnen – und umgekehrt – beraten/betreut werden bzw. mit ihnen therapeutisch arbeiten? Welche lebensweltlichen und individuellen Erfahrungen, aber auch welche Kompetenzen sind erforderlich, um auf die veränderten Bedarfe, Motive, Konsummuster und Substanzen der jünge-



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ren Klientinnen einzugehen, welche, um die Belange der älteren Klientinnen zu erfassen und adäquat auf sie zu reagieren? Hinzu kommen bei diesen Reflexionen auch die unterschiedlichen Situationen in Deutschland hinsichtlich der regionalen Zugangsmöglichkeiten zu Substanzen, sodass diese Auseinandersetzungen unterschiedlich geführt werden müssen. Auch die Diskussionen um Trans- und Intersexualität, Transgender und Queer sind regional in Deutschland sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Differenzierungen zwischen dem biologischen Geschlecht (Körper), dem psychischen Geschlecht (Psyche) und dem sozialen Geschlecht (Geschlechterrolle/n) haben Auswirkungen auf die feministische Suchthilfe, wenn es sich um die Komponenten wie Zugang zu den Einrichtungen und Angeboten handelt sowie um die Besetzung von Personalstellen. Die Frage, welche Konsequenzen das gewandelte Verständnis von „Geschlecht“ sowie die Dekonstruktion einer heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit haben, beinhaltet zwangsläufig auch die Frage nach den Geschlechtsidentitäten. Da diese eine zentrale Bedeutung für die feministischen Suchteinrichtungen und deren Ausrichtung und Tätigkeit hat, fordern diese Diskussionen auch zu prüfen, welcher Umgang mit Identitäten, mit welchen Begrifflichkeiten und Konzepten, für die zukünftige Ausrichtung der Frauensuchthilfe relevant und möglich sein wird und welche Veränderungen zwangsläufig erforderlich sein werden. Hilfreich für die aktuell und zukünftig anstehenden Diskussions- und Veränderungsprozesse im Rahmen des Generationenwechsels ist der Rückgriff auf die Kultur von Auseinandersetzungsfähigkeit, Modifizierung und Weiterentwicklung, die die Frauensuchteinrichtungen durchgängig auszeichnet. Explizit deutlich werden diese Kompetenzen auch hinsichtlich der Anpassungsprozesse von bestehenden, geschlechtsneutralen Konzepten und/oder Manualen für die spezifische feministische Arbeit, beispielsweise bei dem Konzept „Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten (FreD) (LWL 2002)“ oder „Sicherheit finden“ (Najavits 2009) (siehe dazu auch den Beitrag von Herschelmann in diesem Band). Versäumt wurde bislang, die Modifizierungen bestehender Konzepte/Manuale auf die konkrete Situation von Mädchen und Frauen zu dokumentieren und somit auch vergleichbar und nutzbar für andere mädchen- und frauenbezogene Angebote zu machen. Unmittelbar damit verbunden ist das Versäumnis, einzufordern, dass alle diese oder ähnliche Manuale und Konzepte, deren Entwicklung in der Regel mit kostenintensiver öffentlicher Förderung verbunden ist, die Geschlechterperspektive selbstverständlich umfassend und qualifiziert einbeziehen.



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Die Dokumentation der Arbeit, der Praxiserfahrungen und Anforderungen an Weiterentwicklungen, der Diskussionen um Haltungen, Verortungen, Ausrichtungen und Perspektiven der feministischen Frauensuchtarbeit sind insgesamt seit ihrem Bestehen zu kurz gekommen. Diese Entwicklung ist nachvollziehbar unter dem Aspekt der knappen Ressourcen, und dennoch sehr bedauerlich unter vielen Aspekten, etwa von Fachlichkeit, Öffentlichkeitsarbeit, politischer Diskussion, Akzeptanz und damit auch der Anerkennung. Günstigstenfalls ist somit auch dieser Sammelband ein Beitrag zum konstruktiven Gelingen des Generationenwechsels in den Institutionen der feministischen Frauensuchtarbeit.

A USBLICK – A LLTAG

UND

Z UKUNFT

Die feministischen Frauensuchteinrichtungen in Deutschland zeichnen sich alle durch ein hohes Maß an Unternehmerinnentum aus. Sie haben Organisationen und Einrichtungen gegründet, aufgebaut und erfolgreich entwickelt, es ist ihnen gelungen Angebote, Konzepte und Einrichtungen auszubauen, aktuelle Bedarfe und Impulse aufzunehmen und weiterzugeben, sich umfangreich zu qualifizieren, Maßstäbe für die traditionelle Suchthilfe zu setzen und vieles mehr. Es ist ihnen geglückt, auch in finanziell und politisch schwierigen Zeiten zu überleben, interne Krisen zu bewältigen, zu bewahren, was zu bewahren ist und zu verändern, was erforderlich war. Nun ist es an der Zeit, Übergänge zu schaffen – für die Weiterentwicklung der Arbeit in veränderten Zeiten, für die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit und für den anstehenden Generationenwechsel. Dafür gibt es ein solides Gerüst, weil umfangreiche Erfahrungen und gewinnbringende Organisationsstrukturen vorliegen. Komplexität ist Alltag – genauso wie Handeln und Entscheiden in wenig planbaren Zusammenhängen, die Identifizierung praxisrelevanter Aspekte sowie Ausdifferenzierungsprozesse, um die Qualität der Arbeit zu verbessern und neue oder veränderte Angebote zu implementieren. Viele Fachthemen und Themen der Klientinnen sind vertieft, inhaltlich und fachlich aufbereitet worden; mangelnde Forschung steht dem nach wie vor großen Erkenntnisinteresse diametral gegenüber. Finanzautonomie könnte die notwendige Freiheit bieten, um dem Mühsal der andauernden Legitimation und Ressourcenknappheit entgegenzuwirken und die noch immer umfangreiche Entdeckungslust zu unterstützen. Versäumnisse und persönliche, strukturelle und fachliche Irrtümer und Fehler haben als Bestandteile der Tätigkeit Berücksichtigung gefunden, Visionen erwachsen noch immer – die Chancen für den Generationenwechsel und die damit einhergehenden Veränderungsmöglichkeiten sind groß.



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So kann es auch eine gute Zeit dafür sein, das Verbindende und das Trennende zwischen den Generationen zu analysieren und in die zu entwickelnden Konzeptionen für den Generationenwechsel einzubeziehen. Dazu gehören die Fragen nach den Strategien, wie die Sicherstellung von Grundprinzipien feministischer Suchthilfe gelingen kann, insbesondere unter den aktuellen politischen, gesellschaftlichen und fachöffentlichen Entwicklungen, in denen ein fachliches Selbstverständnis jenseits gesellschaftlicher und politischer Verknüpfungen die Norm darstellt. Ebenso wie die Frage danach, wie der Gestaltungsspielraum für die feministischen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung der Ökonomisierung der Suchthilfe erhalten bzw. erweitert werden kann. Insbesondere sind auch Auseinandersetzungen erforderlich, inwiefern die Arbeit in einer feministischen Einrichtung „ein Job wie jeder andere“ sein kann/darf und welche Zugänge und Motive der zukünftigen Mitarbeiterinnen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit einem individuellen feministisch-politischen Selbstverständnis bestehen. Zu überlegen wird sein, welche Verbindungen geschaffen werden können zwischen dem ursprünglichen Verständnis einer feministischen Suchthilfe und den heutigen gesellschaftlichen und politischen Kontexten von Frauenleben sowie den Konstruktionsprozessen von Geschlecht und geschlechtlicher Identität. So kann es gelingen, unterschiedliche Haltungen, Entwicklungen und Strömungen zusammenzubringen, mögliche Unterschiede als konstruktive Bereicherung zu verstehen und die unterschiedlichen Erwartungen und Anliegen zwischen den Generationen besprechbar zu machen. Hilfreich und unterstützend für die aktuellen und perspektivisch anstehenden Themen zeigt sich seit Jahrzehnten der Austausch des „Verbund der feministischen Suchthilfeeinrichtungen für Mädchen und Frauen in Deutschland“, der allerdings aufgrund der räumlichen Distanzen nur einmal jährlich stattfinden kann. Die Fachkonferenz im Juli 2015 war die erste gemeinsame Tagung, an der gezielt Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Generationen aus den Institutionen der Frauensuchthilfe teilgenommen haben. Ersichtlich wurde, dass in allen Einrichtungen ein hoher Wunsch und Bedarf besteht, sich mit den drängenden Themen „Generationenwechsel“, „Führungs- und Arbeitszusammenhänge unter Frauen“ und „Feminismus heute und dessen Bedeutung für die Frauensuchtarbeit“ auseinanderzusetzen. Allerdings, dies war eine zentrale Erkenntnis der Tagung, lässt der stressreiche Arbeitsalltag in den Einrichtungen dafür kaum Raum, sodass diese komplexen Themen leider allzu oft in den Hintergrund treten. Dies gilt auch für den einrichtungsübergreifenden Austausch, der in der Form, wie es die Tagung ermöglichte, ansonsten nicht besteht. Auch der Austausch über Konzepte und Erfahrungen für eine zeitgemäße, qualifizierte frauengerechte Prävention und Suchtarbeit hat im deutschlandwei-



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ten Austausch eine besondere Bedeutung. Die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Ausrichtungen und Spezialisierungen und somit auch die umfangreichen Erfahrungsschätze der feministischen Einrichtungen bereichern jede einzelne Institution und Mitarbeiterin. Die große Bereitschaft voneinander zu lernen – innerhalb der Generationengruppen und zwischen den Generationen – macht Mut, dass nicht nur der Erfahrungs- und Wissenstransfer gelingen, sondern auch eine fruchtbare Auseinandersetzung geführt werden kann über das, was es zu bewahren, und das, was es zu verändern gilt.

L ITERATUR Feminismus Seminar (Hg.) (2014): Feminismus in historischer Perspektive. Eine Reaktualisierung, Bielefeld: transcript. Franke, Yvonne/Mozygemba, Kati/Pöge, Kathleen/Ritter, Bettina/Venohr, Dagmar (Hg.) (2014): Feminismen heute: Positionen in Theorie und Praxis, Bielefeld: transcript. Kurmeyer, Christine (2012): Mentoring: Weibliche Professionalität im Aufbruch, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lenz, Ilse (Hg.) (2008): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland: Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. LWL (Landschaftsverband Westfalen-Lippe) (2002): Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten (FreD), Beschreibung des Bundesmodellprojekts, Münster. Online verfügbar unter: https://www.lwl.org/FreD/praxisprojekte/bundesmodellprojekt-fred [16.05.2016]. Najavits, Lisa M. (2009): Posttraumatische Belastungsstörungen und Substanzmissbrauch. Das Therapieprogramm „Sicherheit finden“, Göttingen: Hogrefe. Rauschenbach, Thomas (1999): „Grenzen der Lebensweltorientierung – Sozialpädagogik auf dem Weg zu ‚systemischer Effizienz’. Überlegungen zu den Folgen der Ökonomisierung Sozialer Arbeit“, in: Fatke, Reinhard/Hornstein, Walter/Lüders, Christian/Winkler, Michael (Hg.), Erziehung und sozialer Wandel. Brennpunkte sozialpädagogischer Forschung, Theoriebildung und Praxis, Weinheim u. a.: Beltz, 223-244 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft; 39).



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Scheffler, Sabine (2010): „…und sie bewegt sich doch! Entwicklung und Zukunft frauenspezifischer Psychotherapie und Beratung“, in: Frauen beraten Frauen (Hg.), In Anerkennung der Differenz. Feministische Beratung und Psychotherapie, Gießen: Psychosozial-Verlag, 45-60. Schu, Martina (2014): Einige Ergebnisse der Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich (FOGS): Erhebung und Analyse zum Stand der Umsetzung von Gender Mainstreaming in der ambulanten und stationären Sucht- und Drogenhilfe in NRW. Auf der Tagung „Zukunftswerkstatt Suchthilfe NRW“ in Mühlheim an der Ruhr 2014 vorgestellt. Online verfügbar unter: https://www.lzg.nrw.de/_media/pdf/service/veranstaltungen/140625_zukunft swerkstatt_suchthilfe/Schu_Forum1.pdf [06.04.2016]. Tödte, Martina (2014): „Schwangerschaft und Mutterschaft bei jungen, traumatisierten, drogenabhängigen Frauen“, in: Zeitschrift Trauma & Gewalt 3, 232-238. Tödte, Martina & Bernard, Christiane (2015): Fachkonferenz: Generationenwechsel und Qualitätssicherung in der Frauensuchtarbeit in Deutschland. Dokumentation. Online verfügbar unter: http://www.belladonnaessen.de/fileadmin/user_upload/documents/Publikatio nen/Abschlussbericht_Endfassung.pdf [06.05.2016]. Wilken, Udo (Hg.) (2000): Soziale Arbeit zwischen Ethik und Ökonomie. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit e. V., Band 7, Freiburg i. Br.: Lambertus.





Autorinnen

Bernard, Christiane, Dr. phil., Dipl. Erziehungswissenschaftlerin, Mitarbeiterin der Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA. Langjährige Tätigkeit in der sozialwissenschaftlichen Drogenforschung (genderbezogene Aspekten des illegalen Substanzkonsums, deviante Subkulturen) sowie in der niedrigschwelligen Drogenarbeit, Lehr- und Forschungstätigkeit in Frankfurt und New York, diverse Veröffentlichungen. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Frauen und Drogen, Weiterentwicklung der geschlechtsbezogenen Arbeit mit Frauen in der Suchthilfe, Drogen konsumierende Mütter/Väter und ihre Kinder. Dethlefs, Verena, Dipl. Pädagogin, Psychotherapeutin (KJP/HPG), Gestalt- und Suchttherapeutin, Ausbildung in Prozess- und Embodimentfocussierter Psychologie (PEP), Tätigkeit in einem Forschungsprojekt zu Frauen und Sucht Universität Kiel. Gründerin und Mitarbeiterin von Frauen Sucht Gesundheit e. V., langjährige Tätigkeit in der Frauensuchtarbeit (Beratung und Therapie) und in der Angehörigenarbeit mit Frauen, seit 2014 Leiterin des Zentrums für Angehörige. Gahleitner, Silke Birgitta, Prof. Dr. phil. habil., Studium der Sozialwissenschaften, Promotion in Klinischer Psychologie, Habilitation in den Erziehungswissenschaften, langjährig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen für traumatisierte Frauen und Kinder sowie in eigener Praxis tätig. Seit 2006 Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice-Salomon-University of Applied Sciences in Berlin, von 2012 bis 2015 Forschungsaufenthalt am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems. Heedt, Christa, Dipl. Sozialarbeiterin, Erzieherin, Weiterbildung zur Gestalttherapeutin, Zusatzausbildung in Körpertherapie, zertifizierte Kinderschutzfach-



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kraft (§ 8a SGB VIII), mehrjährige Tätigkeit in Einrichtungen der stationären medizinischen Rehabilitation für drogenabhängige Frauen und Männer. Umfangreiche Fortbildungen zur geschlechtsbezogenen Arbeit mit drogenabhängigen Frauen, seit 1995 in der Drogenberatungsstelle für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA, tätig. Arbeitsschwerpunkt: Beratung und Betreuung von Drogen konsumierenden Mädchen und Frauen, schwangeren Frauen und Frauen mit Kindern. Heintze, Sabine, Dipl. Sozialpädagogin, Mitarbeiterin bei FrauSuchtZukunft – Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V., langjährige Tätigkeit im Bereich Betreutes Wohnen für süchtige Schwangere und Mütter mit Kindern. Herschelmann, Susanne, Dipl. Theologin, Weiterbildung in Traumazentrierter Fachberatung (DeGPT), seit 1993 Mitarbeiterin bei Kajal/Frauenperspektiven e. V. in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Suchtprävention und Beratung weiblicher Jugendlicher, insbesondere Arbeit mit traumatisierten, substanzkonsumierenden oder essgestörten weiblichen Jugendlichen, Fallsupervision (seit 2015 auch für das ZEP/Hamburg), Fortbildung für Fachkräfte der Hamburger Jugendhilfe, Mitarbeit an der Erstellung und Durchführung des Basiscurriculums „Jugend und Sucht“ in Hamburg. Homann, Antje, Dipl. Sozialpädagogin (FH), integrative Suchttherapeutin (VDR), Gestalttherapeutin in Ausbildung, Mitarbeiterin bei Frauenperspektiven e. V. in Hamburg. Langjährige Tätigkeit als Sozialpädagogin in der Hamburger Suchthilfe: von niedrigschwelliger Drogenarbeit über Suchtberatung bis zu ambulanter Suchttherapie. Arbeitsschwerpunkte: Frauen und Sucht; Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit; konzeptionelle Weiterentwicklung der Arbeit mit Frauen in der Suchthilfe. Kaubisch, Silvia, Dipl. Sozialpädagogin (FH), Leitung der Arbeitsbereiche Frauenberatung (PSB) und Zeitraum – Ambulant Betreutes Einzelwohnen von Lilith e. V., mehrjährige Tätigkeit als Sozialpädagogin in einem Frauenhaus, langjährige Erfahrung in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen und traumatisierten Frauen; Arbeit mit Frauen, die aktuell oder ehemals illegale Drogen konsumieren/konsumiert haben sowie substituierten Frauen in einer niedrigschwelligen, feministischen Drogenhilfeeinrichtung. Köhler, Bärbel, Dipl. Psychologin, Klinische Gestalttherapeutin (IGW), seit 1999 als Suchttherapeutin in der Suchtberatungsstelle FrauenZimmer in Freiburg



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mit den Arbeitsschwerpunkten: Beratung, ambulante Rehabilitation, Fortbildungsangebote, Essstörungen, Trauma-Sucht-Gruppe; seit 2008 im geschäftsführenden Leitungsteam mit den Bereichen: therapeutische Leitung, Personal, Öffentlichkeitsarbeit. Kreke, Renate, Dipl. Pädagogin, suchtherapeutische Zusatzausbildung, Mitarbeiterin und Koordinatorin der Drogenberatung für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA, seit 1998 dort tätig, zuvor: mehrjährige Tätigkeit in Einrichtungen der stationären medizinischen Rehabilitation für Frauen und Männer. Umfangreiche Fortbildungen zur geschlechtsbezogenen Arbeit mit drogenabhängigen Frauen. Langgassner, Ludwiga, Dipl. Sozialpädagogin (FH), Systemische Therapeutin, Supervisorin, Einrichtungsleitung von Prima Donna, Condrobs e. V. – Sozialtherapeutische Wohngemeinschaften, seit 1998 Mitarbeiterin in der Frauensuchteinrichtung Prima Donna, Condrobs e. V. Arbeitsschwerpunkte: Frauen und Mädchenarbeit in der Jugendhilfe und Suchthilfe. Leuders, Anne, Dipl. Sozialarbeiterin (FH), Mitarbeiterin von Lilith e. V. – Drogenhilfe für Frauen und Kinder, seit 2011 Leitung des Arbeitsbereichs Liliput - Mutter + Kind. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit mit und Frühe Hilfen für aktuell und ehemals Drogen konsumierende bzw. substituierte Schwangere, Mütter und ihre Kinder, zuvor: Arbeit mit psychisch Kranken in einer Fachklinik; ASD/Jugendamt; Aufbau einer Koordinierenden Kinderschutzstelle, Fortbildungen für Fachkräfte zu Kindeswohlgefährdung. Lind, Antje, Dipl. Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, seit 2010 in leitender Funktion bei FrauSuchtZukunft e. V., hier der Beratungs- und Behandlungsstellen StoffBruch und FAM und des Mädchenprojekts Catch up : ), langjährige Tätigkeit im Bereich Sucht (Beratung, Therapie) mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Oelke, Christrun, Dipl. Sozialarbeiterin (FH), Erzieherin, Sozialtherapeutin Sucht/VT, Therapeutin und geschäftsführende Leitung im Bereich Finanzen, Verwaltung und Vernetzung in der Frauensuchtberatungsstelle FrauenZimmer, Freiburg. Langjährige Arbeit mit Gewalt betroffenen Frauen und Kindern im Frauenhaus Basel.



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Peine, Elke, Dipl. Erziehungswissenschaftlerin, Dipl. Sozialökonomin, Geschäftsführerin Frauenperspektiven e. V. Über Jahre andauernde Tätigkeiten in der stationären Drogenlangzeittherapie und Nachsorge mit drogenabhängigen Frauen, Aufbau und Mitarbeit in der suchtpräventiven Einrichtung mit den Zielgruppen jugendliche Mädchen und pädagogische Fachkräfte. Rasche, Elke, Dipl.-Psychologin, Leitung des Bereichs „Beratung, Therapie, PSB“ bei FrauSuchtZukunft, Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e. V.; langjährige Tätigkeit in der niedrigschwelligen Berliner Drogenhilfe, primär in der Psychosozialen Betreuung (PSB) für substituierte Menschen. Implementierung der PSB in der AiD Neukölln und im Frauenladen. Mehrjährige Tätigkeit in der frauenspezifischen Drogenberatung. Arbeitsschwerpunkte: Frauen, Drogen und Trauma; Bedarfsermittlungen und Konzeptentwicklung. Schwarting, Frauke, Dr. phil., Soziologin, Professorin am Department Soziale Arbeit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Langjährige Tätigkeit in der frauenbezogenen Suchtarbeit (Sozialtherapie, Prävention, Beratung, Fortbildung, Institutionenberatung) und als freiberufliche Referentin für geschlechtsbezogene Themen im Sucht- und Gesundheitsbereich. Aktuelle Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Lebenslauf und Lebensformen in der Perspektive Sozialer Ungleichheit, Lebenslagenanalyse, Gender Studies und Intersektionalität, Methoden qualitativer Sozialforschung, Biografiearbeit. Sußmann, Claudia, Dr. phil., Dipl. Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, seit 1993 Einrichtungsleitung FTZ Frauentherapiezentrum 2 Suchtberatung. Teunißen, Sybille, Dipl. Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv), Spezielle Psychotraumatherapie (DeGPT). Eigene Praxis für Psychotherapie und Supervision, langjährige Leitungstätigkeit in Suchtfachkliniken. Therapeutischer Schwerpunkt: Behandlung von Patient_innen mit komplexen Traumafolgestörungen. Supervisionstätigkeit hauptsächlich im psychiatrischen und psychosozialen Bereich. Referentin und Fortbildnerin zu den Themenkomplexen der Traumatherapie und Traumapädagogik, der geschlechtsbezogenen Beratung und Therapie und der Biografiearbeit. Diverse Fachveröffentlichungen. Tödte, Martina, Dipl. Sozialpädagogin, Geschäftsführerin des Trägervereins der Drogenberatung für Mädchen und Frauen, BELLA DONNA und der Lan-



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deskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA. Langjährige Erfahrungen in der ambulanten Drogenhilfe. Schwerpunkte: Konzeptentwicklung, Konzipierung und Umsetzung von Qualifizierungsangeboten; Förderung und Weiterentwicklung der geschlechtsbezogenen Arbeit mit Frauen in der Suchthilfe; nationale und internationale Referentinnentätigkeit; diverse Veröffentlichungen. Ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Töpfer, Rena, Dipl. Politologin, M.A. Klinische Sozialarbeit, seit elf Jahren in der feministischen Frauensuchtarbeit tätig mit den Schwerpunkten berufliche Integration und Arbeitsmarktpolitik. Umminger, Gertrud, Dipl. Sozialarbeiterin, Psychotherapeutin HP, Traumatherapeutin, EMDR-Therapeutin, Mediatorin. Leiterin der Therapeutischen Wohngemeinschaft „Camille“ für suchtmittelabhängige Frauen mit zusätzlichen psychischen Störungen (Königstein im Taunus), langjährige Tätigkeit in verschiedenen Bereichen der Suchthilfe mit Schwerpunkt Frauen und Sucht. Gründungsmitglied und langjährige Geschäftsführerin von CALLA, Verein zur Förderung der Lebensqualität von Frauen mit Suchtproblemen e. V. Vogt, Irmgard, Prof. Dr. phil., PD an der Goethe-Universität Frankfurt, Dipl. Psychologin, bis 2009 Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt University of Applied Sciences mit den Schwerpunkten: Beratung in der Sozialen Arbeit; Theorie, Politik, Praxis des Konsums von psychoaktiven Substanzen sowie von Substanzkonsumstörungen in genderspezifischer Perspektive. 2000-2009 Direktorin des Instituts für Suchtforschung Frankfurt, heute dort Mitglied. Aktuell Mitarbeit in verschiedenen Forschungsprojekten. Voigt, Wibke, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Zertif. Trauma- und EMDR Therapeutin, Tiefenpsychologische Psychotherapeutin, strukturell-strategische Familientherapeutin; Ausbildung in Hypno-, Tanz- und Musiktherapie. Ausgedehnte Vortragstätigkeit, Inhouse-Schulungen, Seminare etc. Arbeitsschwerpunkt: Spezielle Psychotraumatherapie (DeGPT) bei komplexer PTBS und dissoziativen Störungen, Sucht und Trauma, Chefärztin der Fachklinik Kamillushaus, Essen.



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Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) ›Gender-Medizin‹ Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin (unter Mitarbeit von Tobias Fischer) 2014, 212 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2131-0

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