Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger [Reprint 2010 ed.] 9783110937114, 9783484106536

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German Pages 558 [1076] Year 1992

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Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger [Reprint 2010 ed.]
 9783110937114, 9783484106536

Table of contents :
Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter
Differenzierung der Differenz. Grundlagen der Autobiographie in Abaelards und Héloises Briefen
Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik
Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion
Vae Soli. Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neuzeit
Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance
Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen Neuzeit
Eneas der Verräter
Mittelalterliche Ödipus-Varianten
Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert
>Narrheit< und >WahnsinnBoccaccio und die Tradition der Novelle

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Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger Band II

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Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger Band II

MAX N I E M E Y E R VERLAG TÜBINGEN

herausgegeben von: Johannes Janota, Paul Sappler, Frieder Schanze, Konrad Vollmann, Gisela Vollmann-Profe, Hans-Joachim Ziegeler

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger / [hrsg. von: Johannes Janota ...I.Tübingen : Niemeyer. NE: Janota, Johannes [Hrsg.]; Haug, Walter: Festschrift Bd. 2 (1992) ISBN 3-484-10653-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Band I Dieter Kartschoke Der ain was grà, der ander was chai. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter

1

Gerhart von Graevenitz Differenzierung der Differenz. Grundlagen der Autobiographie in Abaelards und Héloises Briefen

25

Fritz Peter Knapp Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik

47

Ursula Peters Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion

63

Aleida Assmann Vae Soli. Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neuzeit

87

Friedrich Wolfzettel Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance

103

Gerhild Scholz Williams Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen Neuzeit ·

123

Hans Fromm Eneas der Verräter

139

Christoph Huber Mittelalterliche Ödipus-Varianten

165

Volker Mertens Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert

201

VI

Inhalt

Ingrid Kasten >Narrheit< und >Wahnsinne Michel Foucaults Rezeption von Sebastian Brants 'NarrenschifF

233

Hans Helmut Christmann Leistung und Schicksal eines Philologen: Der Romanist Alfons Hilka als Erzählforscher, Mittellateiner und Textherausgeber

255

Ernst Hellgardt ...

der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen.

Ü b e r Voraus-

setzungen und Ziele der Otfridausgabe des Matthias Flacius Illyricus (Basel 1571)

267

Richard Newhauser alle sunde hant vnterschidunge.

D e r T u g e n d - u n d Lastertraktat als lite-

rarische Gattung im Mittelalter

287

Erika Bauer Zur Geschichte der 'Hieronymus-Briefe'

305

Kurt R u h Fragen und Beobachtungen zu den Poetica der Hadewijch

323

Klaus Grubmüller Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechtild von Magdeburg

. . . .

335

Loris Sturlese Mystik und Philosophie in der Bildlehre Meister Eckharts. Eine Lektüre von Pred. 16 a Quint

349

Susanne Hummler Sprache als Medium der mystischen Erfahrung. Über das Verhältnis von Aktion, Kontemplation und Sprache in Eckharts Interpretationen von Lk 10,38

363

Alois M. Haas Civitatis Ruinae. Heinrich Seuses Kirchenkritik

389

Werner Williams-Krapp Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der 'Vita' Heinrich Seuses

405

Derk Ohlenroth Darbietungsmuster in dominikanischen Schwesternbüchern aus der Mitte des 14. Jahrhunderts

423

Karin Schneider Felix Fabri als Prediger

457

Hans Unterreitmeier Paraliturgische Erinnerungen

469

Inhalt

VII

Walter Roll Der 'Convertimini'-Traktat als Quelle der 'Gesta Romanoram'

. . . .

Gisela Kornrumpf Das 'Buch der Könige'. Eine Exempelsammlung als Historienbibel

485

. . . 505

Band II Jan-Dirk Müller Tristans Rückkehr. Zu den Fortsetzern Gottfrieds von Straßburg

. . . .

529

J. H. Winkelman Der Ritter, das Schachspiel und die Braut. Ein Beitrag zur Interpretation des mittelniederländischen 'Roman van Wale wein'

549

Eberhard Neilmann 'Wilhelm von Orlens'-Handschriften

565

Joerg O. Fichte Historia and Fabula. Arthurian Traditions and Audience Expectations in 'Sir Gawain and the Green Knight'

589

Isolde Neugart Beobachtungen zum 'Gauriel von Muntabel'

603

Paul Sappier Zufügen und Weglassen. 'Friedrich von Schwaben'

Das

Verhältnis

der Redaktionen

des

Horst Brunner Gunterfai sein bek derschal. Kommentar zum Musikinstrument des Spielmanns in Heinrich Wittenwilers 'Ring'

617

625

Daniel Rocher Rabelais, Wittenwiler und die humanistische Anschauung des Kriegs

. . 641

Joachim Heinzle Vom Mittelalter zur Neuzeit? Weiteres zum Thema >Boccaccio und die Tradition der Novelle
Willelm ehkumeys, willekomen, werder Franzeys.
GesamteindruckFahndungsbild< ausgesehen haben könnte, hat Hubert Schrade an zeitgenössischen Personendarstellungen plausibel zu machen versucht. »Mit Sicherheit hatte das Bildnis Anselms diesen unkünstlerisch-abbildlichen Charakter (sc. eines Steckbriefes) nicht. Aber die Folgerung, daß Anselm seinen Häschern entkommen konnte, weil das Bildnis nicht >ähnlich< gewesen sei, wäre auch unzutreffend. Denn Wilhelm von Malmesbury hätte die Geschichte von dem Bildnis niemals erwähnt, wenn er Bildnistreue für etwas gehalten hätte, das der Kunst der Zeit vollkommen unmöglich war.«82 Im 12. Jahrhundert mehren sich solche (den Kunsthistorikern nicht geläufigen) literarischen Auskünfte. Sie dringen auch in die Volkssprache ein und lassen den Schluß zu, daß populäre Vorstellungen im Spiel sind. In der deutschen 'Kaiserchronik' wird unter anderm die Silvesterlegende erzählt. Es geht um die Heilung des Kaisers Konstantin v o m Aussatz. Eines Nachts liegt der Kaiser im Schlaf. Da erscheinen ihm - unerkannt, denn er ist noch nicht zum Christentum übergetreten die Apostel Petrus und Paulus und verweisen ihn auf einen guten Arzt: den Papst Silvester. A m Morgen schickt der Kaiser nach dem Papst und erzählt ihm den Traum. Silvester ahnt, daß hier eine Vision vorliege und aufzulösen sei. Er läßt 77 78

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82

Der oben nicht zitierte folgende Satz lautet: Sicque Greco pervicaciter repudiato [...]. Müller [Anm. 1], S. 1223. - Beispiele in: Adolf Reinle, Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Zürich/München 1984, S. 150f. So Müller [Anm. 1], S. 1223 zur Stelle. Die Funktion der Episode liegt aber w o h l im Überbietungstopos >schöner als ein gemaltes Bildauthentischer< Bildnisse (Ikonen) von Christus und — wenig später — auch von Maria und einzelnen Heiligen, die nicht von Menschenhand gemacht seien und dementsprechend >Achiropoiiten< genannt werden. 87 Dieser Glaube hatte in der Abgarlegende seinen folgenreichen literarischen Ausdruck gefunden.88 Die von R o m ausgehende Veronikalegende ist von ihr abgeleitet. Aus dem 12. Jahrhundert sind uns drei deutsche Fassungen der Veronikalegende überliefert. Nur fragmentarisch erhalten ist der entsprechende Passus in der 'Mittelfränkischen Reimbibel' (ed. Maurer, vv. 320 ff.). Vollständig sind die Veronikaerzählungen in der deutschen 'Kaiserchronik' (vv. 729 ff.) und in den Gedichten eines rätselhaften Autors, der sich di wilde man nennt 89 und die für unsern Zusammenhang aufschlußreichste Version liefert. Während die beiden andern Fassungen vom Faktum des wunderbaren Bildes ausgehen,90 erzählt der Wilde Mann ausführlich von dessen Entstehung.

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Schrade [Anm. 30], S. 48. - Vgl. zur Bilderfrage und ihrer Geschichte die jüngste, ausfuhrliche Darstellung von Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. Wilhelm Grimm, Die Sage v o m Ursprung der Christusbilder, Göttingen 1942. Wieder in: ders., Kleine Schriften 3, Berlin 1883, S. 138—199. - Ernst von Dobschütz, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, Leipzig 1899 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 18, N F 3). — Johannes Kollwitz u. a., Christus, Christusbild, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, 1968, Sp. 355—454. — Zuletzt Belting [Anm. 86], S. 6 0 ff. Jutta Seibert, Abgar-Legende, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, 1968, Sp. 18f. Z u m >Wilden Mann< zuletzt Dieter Kartschoke, Der Wilde Mann und die religiösen B e wegungen im 12. Jahrhundert, in: Aspekte der Germanistik (Fs. Hans-Friedrich Rosenfeld), hg. v. Walter Tauber, Göppingen 1989 (GAG 521), S. 6 9 - 9 7 . Im Falle der 'Mittelfränkischen Reimbibel' ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr groß, wenn auch angesichts der Verstümmelung der Handschrift letztlich nicht zu beweisen.

18

Dieter Kartschoke

W ä h r e n d der Herr auf Erden wandelte und viele Wunder tat, folgte ihm eine Frau nach, die sich an seinem Antlitz nicht satt sehen konnte: Veronika (ed. Maurer, vv. 89 ff.). Sie bittet den meister Lukas, er m ö g e das verehrte Antlitz auf ein Tuch malen. Lukas verspricht, den Heiland so zu malen, wie er an diesem Tag ausgesehen habe (v. 106: ich scriven di alse he hude was). Der Auftrag wird ausgeführt, und das Bild scheint gelungen zu sein. U m sich davon zu überzeugen, gehen der Maler und seine Auftraggeberin zum Heiland: Idoch versuhten si sich of iz im ware glich, (vv. 131 f.)

Als aber Lukas dem Heiland ins Gesicht blickt (v. 136: alse en under den ougen sach), findet er das antlizze so verwandelt, als ob er es noch nie gesehen hätte. Lukas malt ein zweites Bild, das zum K u m m e r der Veronika noch ärger mißlingt. Nach einem ebenso vergeblichen dritten Versuch erhört Gott das Gebet der Frau und greift auf wunderbare Weise ein. A m Abend erscheint der Heiland bei ihr auf ein luzil imbis. Er verlangt Wasser, wäscht sich und trocknet Hände und Gesicht mit dem Tuch ab: Die dwehele daz antlizze inphinc giscaffen alse der gotis sun ginc. unde alse der heilant si ane sach, zume guten wibe her sprach: >dit mach mir wol wesin glicht, (vv. 187 ff.)

Hier ist in wünschenswerter Deutlichkeit v o m Ähnlichkeitsverhältnis die Rede, von physiognomischer Wahrnehmung, von der N a c h a h m u n g der physischen Erscheinung in der Malerei und v o m Wiedererkennen des Urbilds im Abbild. »Die Forderung nach >Ähnlichkeitzeichnen, malenwilde Mannmehreren Menschen< sprechen, wenn sie durch mehrere Seelen belebt [sind], S. 177/179)

(ThSB,

Gleichrangig mit dieser handfesten Demonstration der propria als abtrennbarer particulada fuhrt Abaelard seinen grammatikalischen Musterfall, die Sprechsituationen der Personalpronomina an. Gesetzt, von den drei Personen, welche nach den Grammatikern in Sokrates sind, ist jede für sich Sokrates oder ein Mensch, weil er selber der sprechende Mensch oder Sokrates und derjenige ist, zu dem und über den jemand spricht. [Gleichwohl] sprechen wir deshalb nicht von >drei Sokraten< oder >drei MenschenPersonPerson< oder >Identität< und >Differenz< einer Klärung nähergebracht wird. Was die Grammatik anbelangt, so ist der Bezug zwischen Trinitätsschrift und Paraklet-Buch ganz eng. Die drei Teile des Paraklet-Buches — Abaelards 'Historia calamitatum' als emphatische Ich-Geschichte, der Briefwechsel Abaelards und Héloises, ein ebenso emphatischer Dialog, und die Abhandlung über die Klosterregel mit ihrem distanzierten Entwurf eines Lebensplans - diese drei Teile folgen der Grammatik der Sprechsituationen in den Personalpronomina. Die 'Historia calamitatum' beschreibt das Ich des Redenden, der Briefdialog inszeniert die Instanz des >Du< »in bezug auf den, der eine Rede an den anderen richtet«. Die Klosterregel für die Bräute Christi redet zu Héloise vom >Du< Héloises, als wäre sie eine dritte Person: »die Äbtissin soll.. .«.9 Die eigentliche Leistung des Paraklet-Buches ist, so der zweite Teil der 9

Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloise, vollständige Ausgabe,

Differenzierung

der

Differenz

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These, daß es diesen Aspekten von >Person< jeweils verschiedene Differenztypen und verschiedene Schreibweisen zuordnet. Damit zeigt die Ganzheit des Paraklet-Buches, wie sich nur in einem E n s e m b l e vielfältiger autobiographischer Schreibhaltungen die Differenzierungsbedingungen von Identität darstellen lassen. II. Die kompositorische Einheit der Paraklet-Briefe läßt sich nur behaupten, wenn man eine Differenzstruktur des Textes in Rechnung stellt, wie sie für die ältere Autobiographie überhaupt kennzeichnend ist. So legten Augustins 'Confessiones' einen deutlichen Schnitt zwischen die confessio peccati und die confessio fidei, der zu langanhaltenden Diskussionen über die Einheit des Werkes gefuhrt hat. Guibeft de N o gents Autobiographie, von Georg Misch als die erste umfassende des lateinischen Mittelalters bezeichnet, 10 wechselt vergleichbar abrupt vom Ich-Bezug zur memoirenhaften Historiographie des Augenzeugen. Die Komposition des Paraklet-Buches legt zwischen die Ich-Geschichte der 'Historia calamitatum' (1. Brief) und die Lebensregel für die Nonnen (8. Brief mit Anhang) eine Art Übergangs- und Vermittlungszone. Die Briefe 2 bis 7, in denen zwischen Abaelard und Héloise das Drama der consolatio durchgespielt wird, zeigen gerade in ihrer Dramatik, welche Kluft zwischen der individuellen Leidensgeschichte einerseits und der Allgemeinheit von Klosterregeln andererseits liegt, die die Abwendung von den Leiden der Welt befördern sollen. Es ist der Schnitt der Kastration, der die Kluft geschaffen hat und der als Wende, als erzwungene >Bekehrung< zum mönchischen Dasein in der consolatio bewältigt werden muß. Zuletzt soll in der Rolle des Kloster- und Regelstifters derjenige Abaelard gezeigt werden, der im christlichen und monastischen Sinne >überwunden< hat. Die Differenzstruktur der Textanordnung ist also biographisch motiviert, vergleichbar den Augustinischen 'Confessiones', in denen biographisch wie textuell das Sünden- und das Glaubensbekenntnis geteilt und zugleich verbunden sind durch die Wende der >BekehrungAHCousinRitter< und >Gelehrtem< im Zeichen der Kampfeslust ist, wie das um ungefähr 15 Jahre ältere Beispiel des Guibert de Nogent 14 zeigt, für Klerikerautobiographien des 12. Jahrhunderts offensichtlich konstitutiv. Was bei Abaelard problemlos äquivalent erscheint, das Verhältnis von Ritter und Kleriker, ist bei Guibert selbst agonal bezogen. Guibert beschreibt die Bedrohung des monastischen Schrift- und Wissenschaftsmonopols in doppelter Frontstellung, einmal zum machtpolitisch involvierten Weltklerus, dessen mörderisches Schicksal er in der breiten Schilderung der >Kommune von Laon< vor Augen führt, zum anderen in Front gegen ein weltliches Rittertum, das längst begonnen hat, sich eigene Schriftkom12

Augustinus, Bekenntnisse, lateinisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt u n d erläutert von Joseph Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt a. M . 1987. 13 Vgl. A H S. 9, Cousin S. 4. Z u Literatur über die militärische Metaphorik in der 'Historia' vgl. Petrus Abaelardus, Person, Werk, W i r k u n g , hg. v. R u d o l f T h o m a s in Verbindung mit Jean Jolivet, D. E. Luscombe und L. M . de R i j k , Trier 1980 (Trierer theologische Studien 38), S. 24. Von den acies argumentorum spricht auch die ThSB, S. 82. 14 Self and Society in Medieval France, T h e Memoirs of Abbot Guibert of N o g e n t , edited with an Introduction and Notes by J o h n F. Benton, N e w York 1970.

Differenzierung

der

Differenz

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petenzen anzueignen, das G u i b e r t d a r u m auch als B e d r o h u n g seiner monastischen Identität e r f a h r e n m u ß u n d dessen Vertreter er als Teufel v o n U n w i s s e n h e i t , Sittenlosigkeit u n d Brutalität v o r f u h r t . A u c h G u i b e r t transponiert diesen Konflikt ins a u gustinische M u s t e r . D i e bei A u g u s t i n u s angelegte psychische O p p o s i t i o n zwischen M u t t e r - u n d Vaterbezug w i r d offen ausgestaltet z u m K a m p f zwischen monastischer M u t t e r - u n d ritterlicher Vaterwelt. A u f Seiten der M u t t e r stehen sexuelle E n t haltsamkeit u n d Gelehrsamkeit, auf Seiten des Vaters W a f f e n k a m p f u n d P r o m i s k u i tät. D e r S o h n w i r d , bis in seine T r ä u m e hinein, v o n diesem K a m p f zerrissen. Seine e n d g ü l t i g e >Bekehrung< vollzieht er als R ü c k k e h r z u m m ö n c h i s c h e n Erziehungsideal seiner M u t t e r v o n e i n e m Ausflug in die Freizügigkeit der ritterlichen juvenes. Für Abaelard verlaufen die K a m p f l i n i e n anders. Er ist Vertreter eines neuen, nicht m o nastischen Typs v o n Wissenschaft. G u i b e r t ist der eher konservative M ö n c h , der die Verteilungskämpfe des Schriftlichkeitsschubs nach 1060 zwischen R i t t e r n u n d Kler i k e r g r u p p e n nachzeichnet. Abaelard ist der A n g r e i f e r innerhalb der n e u e n Verhältnisse, in denen Interessenausgleich u n d >Äquivalenz< v o n S c h r i f t k o m p e t e n z u n d R i t t e r t u m m ö g l i c h sind. Er verficht selbstbewußt einen n e u e n T y p v o n klerikaler Gelehrsamkeit u n d w i r d , w i e v o r allem die Auseinandersetzung mit B e r n h a r d v o n C l a i r v a u x zeigt, v o n der monastischen O p p o s i t i o n z u m monastischen Ideal g e z w u n gen. 1 5 G a n z f o r m a l gesprochen: G u i b e r t m a c h t in seiner k ä m p f e r i s c h e n A b w e h r R i t t e r u n d Weltkleriker äquivalent. Abaelard n i m m t diese Äquivalenz G e l e h r t e r R i t t e r in A n s p r u c h , u m u m g e k e h r t gegen die m ö n c h i s c h e Wissenschaft ins Feld zu ziehen. Äquivalente, Substitution o d e r O p p o s i t i o n v o n Ä q u i v a l e n t e n sind die Dif— ferenzkategorien der 'Historia c a l a m i t a t u m ' . D i e Liebe tritt an die Stelle der Wissenschaft, w e n n der Wissenschaftler nicht m e h r k ä m p f t : »Wer in dieser Welt nicht m e h r zu k ä m p f e n b r a u c h t , der verliert die S p a n n k r a f t u n d verfällt schließlich den L o c k u n g e n des Fleisches« ( A H S. 18, Cousin S . 9 ) . D i e Substitution ist ganz handgreiflich zu verstehen. »Meine H a n d hatte o f t m e h r an i h r e m Busen zu suchen als i m B u c h , u n d statt in den wissenschaftlichen T e x t b ü c h e r n zu lesen, lasen w i r sehnsuchtsvoll eins in des anderen Auge« ( A H S. 21, C o u s i n S. 10). D e r O n k e l gab Abaelard das Z ü c h t i g u n g s r e c h t ü b e r Héloise, Z ü c h t i g u n g u n d V e r g e w a l t i g u n g (vgl. A H S. 132, C o u s i n S. 99f.) sind die agonalen Spielarten ihrer Liebe. D i e Liebe f u h r t z u m Verrat, u n d dessen W i e d e r g u t m a c h u n g folgt d e m g e w a l t s a m e n Ä q u i v a l e n z d e n k e n des ius talionis: »Gottes gerechtes Gericht — ich k o n n t e das nicht v e r k e n n e n - hatte m i c h an d e m Teil gestraft, m i t d e m ich gesündigt hatte« ( A H S. 32, C o u s i n S. 16). A u c h in der Strafe bleibt die Äquivalenz v o n W i s senschaft u n d Liebe erhalten: z w e i >Krankheitengeheilt< ( A H S. 18, C o u s i n S. 9). Freilich verschieben sich nach der Kastration die Akzente: »ich beklagte die Schänd u n g meines wissenschaftlichen N a m e n s n o c h leidenschaftlicher als die meines Leibes« ( A H S. 44, C o u s i n S. 23) u n d »der Verlust meines g u t e n N a m e n s ist eine g r ö ß e r e Q u a l als der Schaden an m e i n e m Körper« ( A H S. 63, C o u s i n S. 32). D i e Ä q u i v a l e n -

15

Vgl. dazu u. a. Arno Borst, Abälard und Bernhard, HZ 186 (1958), S. 497-526. »Die neue Schulwissenschaft und die erneuerte monastische Unterweisung waren sich noch kaum begegnet.« (S. 507).

34

Gerhart von Graevenitz

zen werden ungleichgewichtig, die Regel der Substituierbarkeit versagt zunehmend. Abaelard ist nicht mehr Herr des Kampfes, ist nicht mehr der Angreifer in klar gegliederten Fronten. Aus der Sicht des Opfers ist das Agonale nicht mehr Kampf gleich starker Positionen. Es ist das Überwältigende, das die Asymmetrie der Positionen erzeugt. Abaelard sieht nur noch Feinde. Ein wenig entsteht der Eindruck, als habe der Autor der 'Nouvelle Héloise' auch fur den Verfolgungswahn in den 'Confessions' sein Maß an Abaelard genommen. Die Erzählgrammatik der 'Historia calamitatum' ist angesichts dieser Befunde auf folgende Formel zu bringen: In der Ersten Person Singularis, in der Redesituation >dessen, der sprichtDu< werden im >Ich< gegenwärtig. Das Ferne ist dabei nicht einfacher Gegenbegriff des Nahen, das Nahe nicht mehr äquivalente U m k e h r des Fernen. Der nahe Brief macht den fernen Freund nur als Abwesenden nah. Nach der privatio kann Ferne nicht mehr durch das Äquivalent der Nähe aufgehoben werden. Auch ganz nah bliebe der frühere Freund ein Entfernter. Im Brief ist die negative

Differenzierung

der

Differenz

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Präsenz des Unerreichbaren eine doppelte: Der von sich selbst durch die privado entfernte Freund ist weit entfernt. An die Stelle von Opposition und Äquivalenz in der 'Historia calamitatum' tritt im Briefwechsel zwischen Héloise und Abaelard die Negativität 16 als leitender Differenztyp. Zunächst freilich knüpft Héloise an das Äquivalenzdenken der 'Historia calamitatum' an und versucht ihrer beider Schicksal als Folge einfacher Umkehrungen zu rationalisieren. Alle Gebote der Billigkeit sind ins Gegenteil verkehrt worden, erlaubte Liebe wurde in verbotene verkehrt. Gott strafte Gleiches mit Gleichem und verkehrte die sanktionierte Ehe in die Unfähigkeit zur Liebe (vgl. AH S. 105, Cousin S. 87). Gutes ist in Böses verkehrt worden, und durch äquivalente Kompensation soll das Böse wieder aufgehoben und Abaelard, der Kranke, durch die Wunde geheilt worden sein. Abaelard versucht, Héloises Äquivalenz- und Oppositionsdenken dadurch zu verändern, daß er den Zusammenhang von Gut und Böse, Sünde und Erlösung nicht der Gerechtigkeit Gottes, die straft, wie der Onkel sich rächt, sondern der Gnade unterstellt, in der alles Böse zum Guten werden muß, weil alles Böse privatio, negative Präsenz des Guten ist. Die Gegenüberstellungen eines kontradiktorischen und eines privativen Verhältnisses von Gut und Böse haben unter den theologischen Differenztheorien gleichen prinzipiellen R a n g wie die Analysen der Trinität. 17 In Augustins 'Confessiones' markieren die beiden Verhältnisse eine biographische Schwelle, den Wechsel vom dualistischen Denken der Manichäer zur katholischen Theodizee, den der Text der 'Confessiones' nacharbeitet in langen R e flexionen zur Freiheit des Willens. Von der Oppositionslogik der anti-augustinisch akzentuierten 'Historia calamitatum' vollziehen die Abaelard-Briefe im zweiten Teil des Paraklet-Buches eine Wende zur Negativität, die mit der augustinischen Position verträglich ist. Dabei erweitert sich die Konnotation von privatio (Cousin S. 100). Bezeichnete sie zunächst nur Abaelards Verstümmelung, ausgeübt nach den Regeln des ius talionis, gilt sie jetzt zunehmend als logischer Begriff, der es erlaubt, im Fehlenden oder Verborgenen das Negierte als abwesendes Positives zu denken (vgl. bes. Cousin S. 100). Abaelard teilt mit Augustinus die Grundlage für die theologische Systematisierbarkeit des Negativitätsdenkens, die platonisch inspirierte Bildtheologie. Im Bild der Schöpfung ist der Entfernte präsent, und doch ist diese Präsenz ein »leerer ErsatzNegativität< meint zunächst privatio im Unterschied zur contradictio. Im Kontext der T h e o logie ist die Denkfigur der Verbergung gemeint, die Immanenz und Transzendenz Gottes zusammendenkt und so alle Präsenz immer zugleich auch unter dem Aspekt der Absenz deutet. Z u r Begriffsgeschichte von >Negativität< vgl. Wolfgang Hübener, Hegels Idee der Negativität und die metaphysische Tradition, in: Positionen der Negativität, hg. v. Harald Weinrich, München 1975 (Poetik und Hermeneutik 6), S. 4 7 6 - 4 8 1 .

17

Z u r klassischen Position bei Augustinus vgl. Kurt Flasch, Augustin, Einfuhrung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 95f.

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Gerhart von Graevenitz

via negationis oder die via eminentiae der negativen Repräsentierbarkeit. Abaelard selbst hat sich dazu ausfuhrlich in seiner Trinitätsschrift geäußert, als es um die Begriffe der Philosophen von Gott ging. 18 Negativität ist aber nicht nur ein Problem theologischer Differenztheorien. In Héloises Briefen ist sie Grundstruktur der Selbsterfahrung. Das Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit wird zum Paradox eines sich selbst negativen Ich. Sichtbar wird diese Negativität des Ich gleichermaßen im Du-Bezug wie im Selbst-Bezug. N e gativität im Du-Bezug macht das Ich zur negativen Präsenz des fernen Anderen: »Ist mein Selbst nicht bei dir, so ist es nirgends, und ohne Dich hat es kein Sein und Wesen« (Cousin S. 85). Negativität im Selbst-Bezug zeigt sich als radikaler SelbstZweifel, als »Täuschung« des Ich über sich selbst (vgl. Cousin S. 111). Die Negativität des Ich im Du-Bezug artikulieren die Briefe in (1) der Hierarchisierung von >hoch< und mieden, die Negativität des Ich im Selbst-Bezug in (2) der Zuordnung von >außen< und >innenhöhere< und >niedere< Stufen unterschieden werden können, ist geordnet auf einen unsichtbaren Schöpfer hin. Alle Komparative der »unähnlichen Ähnlichkeit«, alle Annäherungsversuche auf die via eminentiae bleiben unabschließbar angesichts der Negativität Gottes. D e m Aufstieg auf den Leitern der Ähnlichkeit komplementär ist die Methode der Erniedrigung. Demütiges Hervorkehren der Unähnlichkeit macht die Seele bereit zum Empfang des Gnadengeschenks der Ähnlichkeit. Solche Selbsterniedrigung, die auf ihre Umkehrung hofft, betrieb auch Héloise, nicht vor Gott, sondern vor dem Geliebten. »Die tiefste Erniedrigung vor Dir [als >Deine Schlafbuhle, Deine DirneInnen< und >Äußern. Skepsis zersetzt das Abbildverhältnis zwischen Augenschein und Seelenzustand. »Es ist das Herz ein trotzig Ding, wer kann es erforschen und wer ergründen« (Jer. 17,9, AH S. 112, Cousin S. 91). Der »äußere Augenschein«, die »äußerlichen Werke« (ebd.) können dem Zustand des Inneren ähnlich sein, doch der Zweifel unterstellt Unähnlichkeit und Heuchelei, und was von außen rühmenswert erscheint, »hat vor Gottes Auge keinerlei Wert« (ebd.). Das >Innen< des Ich entzieht sich vor seinen eigenen Augen in die Nichtabbildbarkeit, das Außen steht unter permanentem Verkehrtheitsverdacht: »wie selten ist diese Betrübnis wahrer Reue.« (AH S. 109, Cousin S. 89). Gegen Héloises doppelte Inszenierung der Selbstnegativität in der Selbsterniedrigung und im Selbstzweifel verwahrt sich Abaelard. Doch setzt er die Selbstnegativierung nicht etwa außer Kraft. Er will sie nur fur sich in Anspruch nehmen. Es beginnt eine Art Rangstreit darüber, wer mehr Recht zur Selbsterniedrigung habe. Das Agonale ist dieser Liebe geblieben, nur die Logik des Kampfes ist eine andere geworden, Negativitätsdenken hat das Oppositionsdenken abgelöst. »Und daß Du höher stehst als ich, das trifft zu, laß es Dir gesagt sein, seit Du meines Herrn Christi Braut geworden und damit meine Herrin!« (AH S. 118, Cousin S. 93). Wer sich erniedrigt, der wird erhöht werden, die Ersten werden die Letzten sein, und Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Der Theologe Abaelard zieht alle R e gister seiner Gelehrsamkeit und seiner methodischen Schulung, um seine Version der Negativitätsordnung zu belegen. In einem Musterbeispiel mittelalterlicher Exegese deutet er die Mohrin des Hohen Liedes als Verschränkung der Relationen von >hoch< und mieden, >innen< und >außeninnen< und >außenInnen< und >Außen< in die Trennung von »Kammer« und »Welt«. In die Kammer verlegt er die heimlich genossene Sinnlichkeit von Braut und Bräutigam und macht sie so zum Sinnbild fur Abaelards und Héloises heimliche Ehe (vgl. AH S. 121, Cousin S. 95). Héloises ganze Lebensgeschichte und gegenwärtige Situation, die Erniedrigung der heimlichen Ehe

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und deren Zerstörung, die Einsamkeit des Klosterlebens, zu der auch die Ferne des Freundes gehört, und die Leiden ihrer Selbsterniedrigung, all das soll über die M o h rin des Hohen Lieds zurückgeholt werden in die theologische Weltdeutung, in die Systematik einer auf die Negativität Gottes hin geordneten Schöpfung. Ihrer Tendenz nach erschließen Héloises Klage und Beichte und Abaelards Tröstung und Belehrung in entgegengesetzter Richtung die Konsequenzen der Negativität Gottes. Héloise leidet am Schnitt der Unähnlichkeit, sie begreift die unüberwindliche Trennung von Immanenz und Transzendenz. Differenzen und Negationen sind nicht rückbezüglich auf die Negativität Gottes, sondern sie werden zu Negativitätswunden eines an seiner fensterlosen Immanenz verzweifelnden Ich. Abaelard setzt auf das aller Unähnlichkeit und Differenz komplementäre Ähnlichkeits- und Relationsargument, nicht minder verzweifelt vielleicht, aber in der Artikulation diszipliniert durch die wissenschaftlichen Argumentationstechniken. Hermeneutik enthüllt den in der Äußerlichkeit der Zeichenkörper verhüllten inneren Ähnlichkeitszusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem. Als Sinnbildrede, als Metapher (Cousin S. 95) ist auch die heimliche Sinnlichkeit zuletzt Abbild der Gottesliebe. Ohne direkt davon zu sprechen, mutet Abaelard Héloise den Gedanken zu, daß das, was sie getan haben, bis hin zur Vergewaltigung, nachdem es nun zwangsweise und endgültig in die Vergangenheit abgetrennt worden ist, daß alles das aufzufassen sei als gelebte Sinnbildrede, daß die leibhaftige Erotik in ihren Erinnerungsbildern zugleich Zukunftsbild der mystischen Christusliebe sei. Héloise folgt Abaelard und läßt die theologische Umbesetzung ihrer selbstbezogenen und immanenten Negativitätserfahrung geschehen. Sie wechselt das Thema: »Einen eingeschlagenen Nagel treibt ein neuer Nagel wieder heraus: so verdrängt ein neuer Gedanke den früheren, wenn der Geist sich anders einstellt und die Erinnerung an Früheres schwinden oder doch zurücktreten läßt« (AH S. 149, Cousin S. 106). In der Entfernung durch Vergessen geschieht allerdings nicht wirkliche Substitution, nur Ähnliches tritt als negative Präsenz des Fernen supplementär an dessen Stelle. Die Negativitätsordnung von >Innen< und >AußenHoch< und >Nieder< wird jetzt im praktischen Leben aufgesucht. Héloise bittet um eine Aufklärung über den Stand der Nonnen und um eine Klosterregel. >Innen< und >AußenHoch< und >Nieder< verschränken sich wieder, wenn sie zum Beispiel fragt, ob den schwächeren Frauen die strikte männliche Observanz der Askeseregeln nicht erlassen werden könne, wo die Verbindung zwischen äußerer Übung und innerer Wirkung doch ohnehin zweifelhaft sei. Abaelards erste Antwort, der siebte Brief, ist ein Glanzstück mittelalterlicher Frauenspiegel. Aufgehäuft werden die Belege über die besondere Erwähltheit der Frauen, nicht um am Ende ihre Unterordnung aufzuheben, sondern um gerade an ihnen die Dialektik der Negativität aufzuzeigen. Ihre Schwachheit und Niedrigkeit ist verhüllte, negative Präsenz des Höheren: die Kraft Gottes ist in den Schwachen mächtig. Der achte Brief, die sogenannte >KlosterregelKlosterregelBraut Christi< und ihres Lebenswandels, weicht ab von dem, was in der Realität vorkommen kann. Wieder wird, wie in Senecas Gegenüberstellung von Briefen und Bildern der Abwesenden, ein Bild zur Veranschaulichung des Differenztheorems benutzt. Ciceros Zeuxis-Anekdote über das aus vielen Schönheiten zusammengesetzte Bild der Schönheit steht für den Entwurf einer Klosterregel, die abweichend von dem, was in der »Natur« möglich ist, »der Seele Schönheit« malt und die »Vollkommenheit der Braut Christi« (AH S. 246, Cousin S. 154) abzeichnet. Eine künstliche d r i t t e P e r s o n entsteht: »In meinem Werk sollt Ihr, wie in einem Spiegel, die g e i s t e r f ü l l t e J u n g f r a u immer vor Augen haben und in diesem Spiegel Eure Schönheit oder Häßlichkeit erkennen« (ebd., Hervorh. G. v. G.). Was der Anfang des Briefes für Héloise entwirft, wird am Schluß des Briefes in gleicher Weise für Abaelard gelten. Nicht eine Klosterregel, nicht Abaelards eigene Schriften, sondern die Heilige Schrift selbst wird ihm dort den Spiegel des abweichenden Ideals vorhalten. »>Die Heilige Schrift hältsie< als Ideal einer Nonne, >ihn< als Ideal eines monastischen Theologen und Exegeten. Der Traktat hat demnach nicht die Aufgabe, Realität zu beschreiben. Die D i f ferenz zur Realität, die idealisierende Darstellung, die gerade nicht von realen Befunden beeinträchtigt wird, macht unentstellte Wahrheit erst möglich. Das ist ein entscheidender Schritt hin auf die Funktionen von Fiktionalität: das im Traktat entworfene Ideal ist »wahren als die Wirklichkeit. Solchermaßen von der Wirklichkeit >abweichendes< Schreiben ist Instrument der Wahrheit. Auf Seiten der »Wahrheit« und der »Vernunft« steht das »geschriebene Wort< des Traktats und damit gegen das unzuverlässige und trügerische »Herkommen« (AH S. 245, Cousin S. 153). »Wer die Wahrheit mißachtet, und sich einfallen läßt, der Gewohnheit zu folgen, der vergeht sich in teuflischer Bosheit an den Brüdern [...]. Vernunft und Wahrheit stehen über dem Herkommen«, schreibt Abaelard mit Zitaten Cyprians und Gregors VII. (AH S. 302f., Cousin S. 182). Doch nicht nur das Schreiben erfüllt die Funktion der

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Abweichung, auch das Beschriebene. Denn das Leben im Kloster ist Dienst an der Wahrheit, der abweicht vom Weltlauf des Üblichen. In der Hohelied-Exegese des fünften Briefs war die »Kammer« der Klosterniederlassungen der Öffentlichkeit der Welt gegenübergestellt worden, die Religion der Armen dem Mißbrauch des üppigen Weltklerus: »Ich bin die Wahrheit«, sagt der Herr der Klöster, »aber nicht >Ich bin die GewohnheitTeilIch< vom >Du< wird zur Voraussetzung einer Selbstunterscheidung. Die Setzung der Autonomie, so könnte man idealistisch sagen, erfährt ihre komplementäre Nicht-Setzung. Die >Macht< zur Autonomie ist zugleich die >Macht< zu deren Alterität. In der Selbstunterscheidung, Selbstnegativierung 20

21

Der Randstellung der 'Historia calamitatum' entspricht am Ende des Buches die Randstellung der Anhang-Briefe, in denen unter den Erwartungen und Bedingungen der klösterlichen Gemeinschaft, wie sie der achte Brief entworfen hat, geistliche Themen und Texte behandelt werden. Sie sind äußerlich wieder dialogisch verfaßt, wie die Beicht- und Trostbriefe. Aber wie die Ich-Position der Historia, so ist auch die Ich-Du-Situation des Dialogs jetzt den Funktionen der Gemeinschaft untergeordnet. Die Übersetzung der grammatischen Rollen, der Differenz- und Identitätstypen ins integrative Ideal ist abgeschlossen, der »Ich-Roman in Briefen« kann seine Funktion als »Gründungsdokument fur den Paraklet« übernehmen (von Moos, [Anm. 1], S. 64). Wie der 8. Brief das poetologische Prinzip der Zusammensetzung thematisiert, so der Anhang dasjenige der Hinzufugung: vgl. Frage XLI der 42 theologischen Fragen A H S. 373f., Cousin S. 287. Vgl. Borst [Anm. 15],

Differenzierung

der

Differenz

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wird die in praktischer Autonomie erfahrene Identität sich selbst theoretisch. Diese negative und theoretische Identität kann, ohne ihre Struktur zu ändern, in verschiedene Sinnbezirke übertragen werden, kann, wie das im Briefdialog geschieht, als erlebte Erfahrung ebenso formuliert werden wie als theologisches Theorem. Schließlich hat die »dritte Person«, der Heilige Geist, seinen Namen daraus, »daß er g ü t i g ist« ( T h S B , S. 143). Z u m posse des Vaters, dem discernere des Sohnes tritt die soziale Qualität des benignus, kein Verb der praktischen oder theoretischen Tätigkeit, sondern eine soziale Tugend als Eigenschaft. Sie entsteht in der Trinität durch das Ausgehen aus zwei Personen ( T h S B , S. 145), sie entsteht auf Erden in einer Gemeinschaft der Wechselseitigkeit, der idealen Form klösterlichen Zusammenlebens mit ihrer Zuweisung partikularer, sich erst wechselseitig zum Ganzen vervollständigender Einzelfunktionen. Ganz konsequent hat Abaelard darum seiner Klostergründung den Namen >ParakletDu< manifest ist, in der Aussparung des Dialogs durch das Schweigegebot. Zuletzt aber werden Opposition und Autonomie, Negativität und Alterität eingeholt in die ideale Sozialität des Artusprogramms. Die benignitas des Paraklet und Erees joie de la court durchdringen sich im Ideal der Abaelardschen Klostergemeinschaft ebenso wie im Ideal der Chrétienschen Rittergemeinschaft. Jenseits solcher allgemeinen Entsprechungen bleibt die logische Analyse der grammatischen Rollen Besonderheit der Abaelardschen Position, und sie verschärft sich zur grundlegenden Verschiedenheit, wenn gegenüber der einheitlichen Narration des R o m a n s das Paraklet-Buch ein Nebeneinander verschiedener Schreibweisen zusammenstellt. Den drei Differenz- und Identitätstypen, orientiert an den drei grammatikalischen Rollen der Personalpronomina, werden drei illokutionäre M o d i zugeordnet. Opposition und Autonomie mit ihrer Umkehrgeschichte werden in der Form

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des historischen, memoirenhaften Berichts vermittelt. Negativität und Alterität mit der Geschichte ihrer theologischen Umdeutung erscheinen in der Form des Briefdialogs, einer literarischen Gattung der Ferne und der negativen Präsenz. Partikularität und Sozialität mit ihrem Entwurf der Integration haben die Form der Abhandlung, einer Gattung, die nach Abaelards Auffassung die strukturelle Integration heterogener Materialien leistet. Die Zusammenstellung des Paraklet-Buches, entstanden aus den Bedürfnissen einer Klostergemeinschaft, entwirft zugleich eine ganz neue Möglichkeit autobiographischer Textkonstitution. Diese neue Möglichkeit besteht in der Korrelation von vier Kategorien, von grammatischer Rolle, Differenztyp, Identitätsaspekt und Schreibweise. Nicht aus e i n e m literarischen Gattungsbegriff, nicht aus e i n e m Konzept von Identität oder von Differenz wird die M ö g lichkeit von Autobiographie entwickelt. Sondern das Gründungsdokument einer Gemeinschaft zeigt autobiographisches Schreiben gewissermaßen auf dem Weg zur Sozialität, analysiert die Vielfalt der Konstituentien, die ein einfaches >Ich< zum Schnittpunkt hochkomplexer Bezüge machen, seinen zugleich selbstdifferenten und intersubjektiven Kern bloßlegen. U n d es gibt dieser Vielfalt der Aspekte ein strukturelles Äquivalent im Ensemble der Schreibweisen: die Vielfalt der autobiographischen Textsorten hat hier eine auf die Vielfalt des >Ich< direkt bezogene Funktion. D i e augustinische i n n e r t e x t u e l l e D i f f e r e n z v o n confessio peccati u n d confessio

fidei,

zusammengehalten durch einen hohen argumentativen Aufwand, ist gewissermaßen aufgebrochen in die Vielfalt der Ich-Aspekte und ihrer Texte, die aber nicht als Unverbundenes stehen bleibt, sondern die im sozialen Funktionszusammenhang die Aspekte des Ich zusammenfuhrt und die in der Poetologie des fasciculus ein Textmodell kombinierter Heterogenität entwirft. Die Trinitätsschrift legt nahe, daß die Vielheit der Ich-Aspekte und ihrer Texte kein Argument gegen ihre substantielle Einheit ist. Entscheidend ist, daß das Paraklet-Buch an dieser substantiellen Einheit kein thematisches Interesse hat. Abaelards Grundorientierung bleibt die auf die Logik der grammatischen Rollen. Auch das Paraklet-Buch ordnet die Differenz- und Identitätsaspekte verschiedenen illokutionären Rollen zu. Gerade darin aber ist Abaelards Verfahren von ungebrochener Aktualität, und was Jürgen Habermas in einer Studie zur Geschichte der Subjekttheorie als eine erstmals bei Humboldt zu beobachtende »sprachpragmatische Wende« bezeichnet, ist eine Wende zurück zu sprachorientierten Subjektanalysen des Mittelalters. Die Wendung, die »der welterschließenden Sprache - als dem Medium möglicher Verständigung, gesellschaftlicher Kooperation und selbstkontrollierter Lernprozesse — Vorrang einräumt vor der welterzeugenden Subjektivität« (S. 191), sie stellt gewiß eine »entscheidende Neuerung« dar gegenüber der idealistischen Subjektphilosophie, die »durch die Sprache wie durch ein gläsernes, eigenschaftsloses Medium« hindurchsieht. 22 Vielleicht ist aber auch die idealistische Subjektphilosophie nur eine kurze Unterbrechung einer schon immer sprach- und rhetorikorientierten Konstitution des Subjekts, zu der Humboldts »Neuerung« die moderne Theorie zu22

Jürgen Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988, S. 187-241, hier S. 191, 200.

Differenzierung

der Differenz

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rücklenkt. Humboldt, so schreibt Habermas, »verwendet große Mühe auf die Analyse des Gebrauchs der Personalpronomina, er vermutet nämlich in der von der Ich-Er und der Ich-Es-Beziehung differenzierten Ich-Du und Du-Mich-Beziehung die spezifischen Bedingungen, für jene gewaltlose Synthesis sprachlicher Verständigung, welche die Beteiligten gleichzeitig vergesellschaftet und individuiert.« 23 Den sprachlichen Zusammenhang von Vergesellschaftung und Individuierung, den »intersubjektiven Kern des Ich« legt auch George Herbert Meads Unterscheidung von »I« und »me« frei. Sie zeigt, wie in der »Einstellung auf eine zweite Person« ein Sprecher zu sich selbst in Beziehung tritt, wenn »er die Perspektive des anderen einnimmt und seiner als alter ego seines Gegenübers, als zweite Person einer zweiten Person, ansichtig wird. Die performative Bedeutung des >Ich< ist [ . . . ] Meads >michIch< Gottes drei performative Rollen zugeschrieben, die Konstitution autonomer Identität, ihre Unterscheidung im alter ego und ihre Vergesellschaftung in der dritten Person. Im Paraklet-Buch wird die rein theologische Argumentation auf die Ebene lebensweltlicher Ich-Konstitution übertragen. Das Schreiber-Ich des Buches wird in drei auf die grammatischen Rollen bezogenen illokutionären Modi gezeigt, und wie die Trinität zugleich in Einheit und Differenz der Personen besteht, so ist dieses >Ich< zugleich die Vielfalt der grammatischen Rollen von ich, du und er/sie. Abaelard stellt nicht nur die Instanz des >Mich< als >intersubjektiven Kern< im >Ich< dar, zeigt nicht nur die »Internalisierung des kommunikativen Redens mit anderen«25 als solche. Abaelard d i f f e r e n z i e r t die intersubjektive Differenz im Ich, stellt vor das Ideal einer internalisierten Konsensutopie die agonale und die negative Identität. Ich und Du begegnen einander nicht nur, um diskursive Harmonie zu stiften, sondern auch um einander zu bekämpfen oder sich aneinander zu verlieren. Abaelards >me< ist reicher als seine moderne Version, nicht nur weil es eine generalisierte Ich-Mich-Differenz differenziert, sondern weil es in seiner Paraklet-Version die propositionalen Aussagen der systematischen Schrift in performative Akte, in Literatur übersetzt. Das Ich ist affirmativ, negativ oder intersubjektiv nicht in grammatischen Rollen jenseits seiner performativen Sätze, sondern nur in ihnen. Das nicht nur zu sagen, sondern auch zu zeigen, haben Abaelard oder sein alter ego ihrem autobiographischen Schreiben aufgegeben.

23 24 25

Habermas [ A n m . 22], S. 201 f. Habermas [ A n m . 22], S. 229f. Vgl. zu Mead auch die 11. und 12. Vorlesung in: Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a. M . 4 1989, hier S. 245.

Fritz Peter K n a p p

Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik

Die Entdeckung der Fiktionalität durch Chrétien de Troyes in ihrer ganzen epochalen Tragweite richtig abzuschätzen, haben wir erst aus den Arbeiten Walter Haugs 1 gelernt. Haug hat auch klargestellt, daß die mittelalterliche Fiktionalität durch »das freie Spiel mit dem Unwahrscheinlichen«, wobei eben dieses »UnwahrscheinlichErfundene der Handlung den Zuhörer umso nachdrücklicher auf den Sinn hinfuhrt«, 2 die theoretische Bestimmung der fiktionalen Dichtung in der 'Poetik' des Aristoteles beträchtlich überholt, bindet dieser doch die Wahrheit der Dichtung an das Wahrscheinliche und Modellhafte. Zugleich ist es natürlich Haug nicht entgangen, daß Chrétien und seine Nachfolger mit ihren theoretischen Erörterungen die Neuerungen ihrer dichterischen Praxis gar nicht wirklich zu fassen vermochten. 3 Sie hätten es wohl nicht einmal gekonnt, wären ihnen die aristotelischen Überlegungen bekannt gewesen. Was den griechischen Autor des 4. Jahrhunderts v. Chr. zu diesen befähigte, war sein philosophisches BegrifFsarsenal gewesen. Gerade dasselbe trug ihm aber auch in der modernen Forschung den Vorwurf ein, im Grunde weder der Dichtung noch gar der — gegenüber der Dichtung abgewerteten — Geschichtsschreibung gerecht geworden zu sein. Die Kardinalstelle sei hier trotz ihres hohen Bekanntheitsgrades zitiert: Φανερόν δέ έκ των είρημένων καν ότι ού τό τα γενόμενα λέγειν, τοΰτο ποιητοϋ έργον εστίν, άλλ' οία αν γένοιτο, και τα δυνατά κατά τό εικός η τό άναγκαΐον. Ό γαρ ιστορικός και ó ποιητής ού τφ ή εμμετρα λέγειν η άμετρα διαφέρουσιν (ε'ίη γαρ αν τα ' Ηροδότου εις μέτρα τεθήναι, καί ούδέν ήττον αν ε'ίη Ιστορία τις μετά μέτρου ή άνευ μέτρων)· άλλα τούτω διαφέρει, τω τον μέν τα γενόμενα λέγειν, τον δέ οία αν γένοιτο. Διό καί φιλοσοφώτερον καί σπουδαιότερον ποίησις ιστορίας έστίν ή μέν γαρ ποίησις μάλλον τα καθόλου, ή δ' ιστορία τά καθ' εκαστον λέγει. Έ σ τ ι ν δέ καθόλου μέν, τω ποίφ τά ποια αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν κατά τό εικός ή τό άναγκαΐον, ού στοχάζεται ή ποίησις ονόματα έπιτιθεμένη· τό δέ καθ' εκαστον, τί 'Αλκιβιάδης επραξεν ή τί επαθεν. 1

2 3

Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, Darmstadt 1985; ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989. Haug, Literaturtheorie [Anm. 1], S. 106. Vgl. ebd., S. 104f.; Fritz Peter Knapp, Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter, DVjs 54 (1980), S. 581-635, hier S. 625 ff.

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Fritz Peter Knapp Aus d e m Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht A u f g a b e des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den R e g e l n der Wahrscheinlichkeit oder N o t w e n d i g k e i t Mögliche. D e n n der Geschichtsschreiber u n d der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen u n d der andere in Prosa mitteilt — m a n k ö n n t e j a auch das W e r k H e r o d o t s in Verse kleiden, u n d es w ä r e in Versen u m nichts w e n i g e r ein Geschichtswerk, als o h n e Verse —; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. D a h e r ist D i c h t u n g etwas Philosophischeres u n d Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die D i c h t u n g teilt m e h r das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch v o n b e s t i m m ter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder N o t w e n d i g k e i t b e s t i m m t e D i n g e sagt oder tut — eben hierauf zielt die D i c h t u n g , o b w o h l sie den Personen E i g e n n a m e n gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist i h m zugestoßen. 4

Diese berühmten Sätze konnten im Verbände mit dem fundamentalen MimesisPrinzip Poetikern der Renaissance und der Aufklärung die Handhabe zur rigorosen Ablehnung alles Wunderbaren in der Dichtung geben, wobei sie freilich gerade die ziemlich schroffe Distanzierung gegenüber der Geschichtsschreibung nicht so recht ernstnehmen durften. Sie will auch nicht ohne weiteres einleuchten. Die herbe Kritik von Historikern und Philologen unserer Zeit zusammenfassend, qualifiziert Peter von Moos die zitierten Sätze zwar als »poetologisch gewiß fruchtbare Konzeption«, sie enthalte jedoch leider in sich selbst schon ein höchst unzureichendes A b g r e n z u n g s k r i t e r i u m gegenüber der Geschichtsschreibung. D e n n diese verfährt im wesentlichen nicht anders als die so b e s t i m m te Dichtkunst. W o sie über das N i v e a u der bloßen Annalistik hinausragt u n d die szientistischen Ansprüche der m o d e r n e n Geschichtsforschung noch nicht kennt, strebt sie zu allen Zeiten letztlich genau den Wirklichkeitsbezug an, den Aristoteles f u r die Poiesis in Vers u n d Prosa reserviert: die wählende, strukturierende, v e r w a n d e l n d e u n d doch g l a u b w ü r d i g w i r k e n d e U m s e t z u n g der Ereignisse in die Modellhaftigkeit einer epischen Sprache. Die gesamte antik-mittelalterliche Literatur beweist die praktische Wirkungslosigkeit der aristotelischen Kontrastierung v o n D i c h t u n g u n d Historie. 5

Von Moos erinnert zurecht an den heilsgeschichtlichen Rahmen mittelalterlicher Historiographien auf der einen und an die geglaubte Geschichtswirklichkeit unzähliger mittelalterlicher epischer Werke auf der anderen Seite, hält den von Aristoteles behaupteten Gegensatz aber auch »von einem allgemeinen geschichts- und literaturtheoretischen Standpunkt aus« für »unannehmbar. Die Kategorie der auf das M ö g l i c h e bezogenen Allgemeingültigkeit verbindet beide Gattungen sogar weit mehr, als daß sie sie trennt: Beide sprechen durchaus >philosophisch< die Selbstverwirklichung des Menschen an, entweder als das Gewordene oder als das, was werden will« (S. 97).

4

5

Aristoteles, Poetik, Kap. 9,1451ab, hg. u. übers, v. M a n f r e d F u h r m a n n , Stuttgart 1982, S. 28-31; vgl. dazu u . a . M a n f r e d F u h r m a n n , E i n f ü h r u n g in die antike Dichtungstheorie, D a r m s t a d t 1973, bes. S. 22 ff.; W o l f g a n g Rosier, Die E n t d e c k u n g der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), S. 283-319, bes. S. 309 ff. (beide mit weiterer Literatur). Peter v o n Moos, Poeta u n d historicus i m Mittelalter. Z u m Mimesis-Problem a m Beispiel einiger Urteile über Lucan, Beitr. (Tüb.) 98 (1976), S. 93-130, hier S. 96.

Historie

und Fiktion

in der spätscholastischen

und frühhumanistischen

Poetik

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Selbstverständlich hat Aristoteles zwischen dem, was geschehen ist (τά γενόμενα) und dem, was geschehen kann (τά δυνατά) keinen absoluten Gegensatz gesehen, da es »im Falle des wirklichen Geschehens offenkundig ist, daß es möglich ist - es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre«.6 Ja, das Prinzip des Möglichen ist der freien Entfaltung der Fiktionalität in der frühen Neuzeit dann eben in der bekannten Weise zum Verhängnis geworden. N u n hatte der Philosoph den Grundsatz aber doch ein wenig eingeschränkt. Während er im Kap. 9 noch feststellt, »daß das Mögliche auch glaubwürdig ist,« räumt er in späteren Kapiteln einen denkbaren Konflikt zwischen den beiden Kategorien und damit der Dichtung »ein gewisses Maß von Eigengesetzlichkeit« 7 ein: »Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist« (Kap. 24, ähnlich in Kap. 25). Das Wahrscheinliche öffnet sich also gleichsam ein wenig auf das Irreale hin. Demselben wirkungsästhetischen Standpunkt entspringt aber auch die grundlegende Forderung der Handlungseinheit des epischen und dramatischen Kunstwerks, selbst wenn der Wortlaut der 'Poetik' das nicht verrät, da das Mimesisprinzip die »Einheit des Gegenstandes« (Kap. 8) eben gerade nicht verbürgt. W i r kennen aus der frühneuzeitlichen Literaturgeschichte die ebenso segensreichen wie verheerenden Folgen auch dieser aristotelischen Forderung zur Genüge und brauchen hier kein weiteres Wort darüber zu verlieren. Festzuhalten bleibt aber der kaum bestreitbare Umstand, daß Aristoteles hiermit eine zwar immer noch nicht absolute, aber doch beträchtliche graduelle Differenz zwischen Epos (bzw. Drama) und Geschichtsschreibung, die der bunten Vielfalt der Fakten auf jeden Fall ein ganz anderes Heimatrecht gewähren darf und soll als jene poetischen Gattungen, klar herausgestellt hat. 8 Der christlichen Literaturtheorie von der Spätantike bis zum Hochmittelalter stand dieses gewichtige Votum aber nur in undeutlichen Reflexen zur Verfügung, da die 'Poetik' früh in Vergessenheit geraten war, während die aristotelische 'Rhetorik' im römischen Schulbetrieb breite Wirkung entfaltete. Hier ging es natürlich nicht um Mimesis, sondern um die Überzeugungskraft des Redners im Widerstreit von Wahr und Falsch. Daß bei der dann erfolgten teilweisen Übertragung rhetorischer Maximen auf die Dichtkunst zahllose Unstimmigkeiten auftauchen mußten, versteht sich von selbst und ist von der Forschung weitgehend registriert worden. 9 Für unsere Zwecke muß es genügen, die dem Mittelalter vermittelten simplen Formeln zu zitieren, auf welche die antiken Grammatiker und Rhetoriker das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion gebracht haben. Da ist einmal diejenige, welche mit drei Kategorien arbeitet: 6 7 8

9

Poetik, Kap. 9,1451b; Fuhrmann [Anm. 4], S. 30f. Fuhrmann [Anm. 4], S. 136 (Anm. 13 zu Kap. 24). Ob Aristoteles selbst diese graduelle Differenz zu einer absoluten hypertrophiert hat, wie von Moos und andere Kritiker meinen, bleibe dabei dahingestellt. Die Widerständigkeit historischer Faktenfiille gegen die >Bändigung< im Epos hat sich jedenfalls in der dichterischen Praxis oft genug bewiesen. Wenn, wie von Moos [Anm. 5], S. 97, meint, Lucan »die symbolschaffende Organisation der rohstofflichen Fülle ereignishafter Erscheinungen zu einer allgemein intelligiblen Struktur« gelungen ist, so stellt er damit gerade die Ausnahme dar. Vgl. dazu Knapp, Wahrheit [Anm. 3], S. 584, 594 u. ö; ders., Similitudo, Bd. I, Wien/ Stuttgart 1975 (Philologica Germanica 2), S. 41 ff. (mit umfangreichen Literaturhinweisen).

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Fritz Peter

Knapp

Fabula ist (eine Erzählung), die weder wahre (=wirkliche) noch wahrscheinliche Ereignisse enthält, wie diejenigen sind, welche als Tragödien überliefert sind. Historia ist wirkliches Geschehen, aber eines, das der Erinnerung unserer Zeit entrückt ist. Argumentum ist ein erfundenes Geschehen, das gleichwohl hätte geschehen können wie die Handlungen der Komödien.10 Aus dieser D e f i n i t i o n geht, z u m i n d e s t oberflächlich betrachtet, eine g r ö ß e r e N ä h e v o n fabula u n d argumentum h e r v o r , da sie beide Fiktion sind. Allerdings hat Isidor v o n Sevilla, der dieser D r e i t e i l u n g nahezu kanonische G e l t u n g i m Mittelalter v e r schafft hat, auch hier die Trennungslinie stärker d u r c h g e z o g e n , i n d e m er di e fabula ausdrücklich auf N a t u r w i d r i g e s (contra naturam) festlegt. 1 1 D a b e i stützt er sich u. a. auf den V e r g i l k o m m e n t a t o r Servius, der seinerseits eine Z w e i t e i l u n g m i t der Gleichsetzung v o n historia u n d argumentum b e v o r z u g t : Es gilt zu wissen, daß der Unterschied zwischen fabula und argumentum, d. i. historia, darin besteht, daß fabula etwas ist, was gegen die Natur gesagt ist, mag es nun geschehen oder nicht geschehen sein, wie das über Pasiphae, und historia alles, was der Natur entsprechend gesagt wird, mag es nun geschehen sein oder nicht geschehen sein, wie das über Phaedra.12 D e r christliche Bischof Isidor k o n n t e diese B e g r i f f s b e s t i m m u n g , o b w o h l sie seiner andernorts g e g e b e n e n D e f i n i t i o n »Erfunden ist, was wahrscheinlich ist« (fictum quod verisimile est: 'Differentiae' I 2,21) e n t g e g e n k a m , w o h l schon deshalb nicht ü b e r n e h m e n , weil sie mit der M ö g l i c h k e i t rechnete, auch n a t u r w i d r i g e m y t h o l o g i s c h e G e schehnisse k ö n n t e n sich wirklich einmal so abgespielt haben. Jedenfalls w i r d in den f o l g e n d e n J a h r h u n d e r t e n die servianische F o r m e l v o n der isidorischen völlig ins A b seits g e d r ä n g t , u n d dies, o b s c h o n Isidor bei seiner U n t e r g l i e d e r u n g dei fabula deren eindeutige D e f i n i t i o n w i e d e r u m verletzt, da er außer den äsopischen Fabeln u n d den zur N a t u r d e u t u n g e r f u n d e n e n M y t h e n auch solche fabulae hier einreiht, w e l c h e b l o ß zur U n t e r h a l t u n g (delectandi causa) e r f u n d e n sind, w i e diejenigen, »welche m a n i m Volk erzählt o d e r welche Plautus u n d Terenz gedichtet haben« (orig. 1 4 0 , 3 ) . D e r spanische K i r c h e n v a t e r verläßt hier die gängige rhetorische Tradition m i t ihrer Z u teilung des argumentum verisimile an die K o m ö d i e , eine i m Mittelalter durchaus lebendige Tradition (vgl. z . B . B e r n h a r d v o n U t r e c h t a m E n d e des 11. Jh.s), 1 3 z u g u n sten des Anschlusses an die neuplatonische B e s t i m m u n g der fabula d u r c h den spätantiken lateinischen Philologen Macrobius. 1 4

10

Rhetorica ad Herennium (Incerti auctoris de ratione dicendi ad C. Herennium libri IV, hg. v . F r i e d r i c h M a r x , L e i p z i g 1 8 9 4 ) 1 , 8 , 1 3 : Fabula est, quae ñeque veras ñeque veri similes continet res, ut eae sunt, quae tragoedis traditae sunt. — Historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota. — Argumentum est ficta res, quae tarnen fieri potuit velut argumenta comoediarum.

11

Isidor von Sevilla, Origines sive etymologiae (hg. v. Wallace M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1 9 1 1 ) , 1 , 4 4 , 5 : fabulae

12

vero sunt quae nec factae

sunt nec fieri possunt,

quia contra naturam

sunt.

Servius, Commentarli in Vergilii carmina (hg. v. Georg Thilo / Hermann Hagen, 3 Bde., L e i p z i g 1881—1887), A e n . I 2 3 5 : sciendum est, interfabulam et argumentum, hoc est historiam, hoc interesse, quod fabula est dicta res contra naturam, sive facta sive non facta, ut de Pasiphae, historia est quicquid secundum naturam dicitur, sive factum sive non factum, ut de Phaedra.

13

14

Commentum in Theodulum (hg. v. Robert B. C. Huygens, Accessus ad auctores - Bernard d'Utrecht - Conrad d'Hirsau, Leiden 1970), S. 127. Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis, hg. v. James Willis, Leipzig 1970.

Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen

Poetik

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Macrobius kennzeichnet in seinem Kommentar zu Ciceros 'Somnium Scipionis' alle fabulae als »Ausdruck der Unwahrheit« (falsi professio), unterscheidet aber solche, die bloß zur Unterhaltung geschaffen werden, v o n solchen, die auch eine moralische Absicht verfolgen. D a v o n trennen möchte er schließlich die narratio fabulosa, die sich trotz ihrer fiktionalen Ausformung auf die »Festigkeit des Wahren« (veri soliditas) stützt. Damit meint er die alten Mythen, deren sich auch die Philosophen bedienen müssen, w e n n sie v o n geistigen und übernatürlichen Phänomenen sprechen. D e n beiden Arten der >echten< fabulae weist er einerseits die K o m ö d i e n und die Liebesromane, andererseits die äsopischen Fabeln zu. 15 Isidor stutzt dann dieses apologetische Element, stellt die fabula ad naturam rerum ficta mit der ad morumfinem relata auf eine Ebene und beläßt beiden sogar die Gattungsgemeinschaft mit der fabula, die jeder tieferen Bedeutung entbehrt (Is. orig. 1,40). Weitet Isidor hier auf der einen Seite die fabula in den Bereich des argumentum hinein aus, so öffnet er auf der anderen Seite auch der so rigoros eingegrenzten Historie das Tor zur Dichtung: Die Aufgabe des Dichters aber liegt darin, das, was wahrhaft geschehen ist, mittels bildhafter Darstellungen unter Einsatz gewisser Schmuckmittel in andere Gestalt überzuführen und umzuwandeln. 16 Das stammt nahezu wörtlich aus den 'Divinae institutiones' (111,24) des römischen Kirchenvaters Lactantius, der auf diese Weise die dichterische Freiheit gegenüber dem Vorwurf der Lüge verteidigt, aber dabei unversehens den historischen Kern aller poetischen Inhalte festzuschreiben scheint. 17 Bei Servius klingt dasselbe keinesw e g s apologetisch, sondern durchaus normativ: 15

E b d . , 1,2,7—13: Fabulae, quarum nomen indicai falsi professionem, aut tantum conciliandae auribus voluptatis, aut adhortationis quoque in bonam frugem gratia repertae sunt, auditum mulcent vel comoediae, quales Menander eiusve imitatores agendas dederunt, vel argumenta fictis casibus amatorum refería, quibus vel multum se Arbiter exercuit vel Apuleium non numquam lusisse miramur. hoc totum fabularum genus, quod solas aurium delicias profitetur, e sacrario suo in nutricum cunas sapientiae tractatus eliminai, ex his autem quae ad quondam virtutum speciem intellectum legentis hortanturfit secunda discretio. in quibusdam enim et argumentum ex ficto locatur et per mendacia ipse relationis ordo contexitur, ut sunt illae Aesopi fabulae elegantia fictionis illustres, at in aliis argumentum quidem fundatur veri soliditate sed haec ipsa Veritas per quaedam composita et ficta profertur, et hoc iam vocatur narratio fabulosa, non fabula, ut sunt cerimoniarum sacra, ut Hesiodi et Orphei quae de deorum progenie actuve narrantur, ut mystica Pythagoreorum sensa referuntur. ergo ex hac secunda divisione quam diximus, a philosophiae libris prior species, quae concepta de falso per falsum narratur, aliena est. sequens in aliam rursum discretionem scissa dividitur: nam cum Veritas argumento subest solaque fit narratio fabulosa, non unus reperitur modus per figmentum vera referendi. aut enim contextio narrationis per turpia et indigna numinibus ac monstre similia componitur ut di adulteri, Saturnus pudenda Caeli patris abscidens et ipse rursus a filio regni potito in vincla coniectus, quod genus totum philosophi nescire malunt - aut sacrarum rerum notio sub pio figmentorum velamine honestis et teda rebus et vestita nominibus enuntiatur: et hoc est solum figmenti genus quod cautio de divinis rebus philosophantis admittit. cum igitur nullam disputationi pariat iniuriam vel Er index vel somnians Africanus, sed rerum sacrarum enuntiatio integra sui dignitate his sit tecta nominibus, accusator tandem edoctus afabulis fabulosa secernere conquiescat. sciendum est tamen non in omnem disputionem philosophos admitiere fabulosa vel licita; sed his uti soient cum vel de anima vel de aeriis aetheriisve potestatibus vel de ceteris dis loquuntur.

16

Is. o r i g . [ A n m . 11], 8 , 7 , 9 : officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant.

17

Lactantius, Divinae institutiones (hg. v. Samuel Brandt / Georg Laubmann, Opera omnia,

in alias

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Fritz Peter Knapp An dieser Stelle berührt er (=Vergil) vorübergehend die Geschichte, welche er gemäß dem Gesetz der Dichtkunst unverhüllt nicht darstellen kann . . . Daß, wie wir gesagt haben, er durch die Dichtkunst gehindert wird, die Geschichte unverhüllt darzustellen, steht fest. Lucanus hat es somit nicht verdient, zu den Dichtern gezählt zu werden, da er offenkundig Historie und keine Dichtung geschaffen hat. 18

B e i Servius ist es also das w i r k l i c h e Geschehen, das als solches — w i e bei Aristoteles — nicht Gegenstand der D i c h t u n g sein, aber ihr selbstverständlich zugrunde liegen kann. B e i Isidor w e r t e t dagegen die historische Erzählsubstanz kraft der D i v i n i t ä t aller — letztlich v o n G o t t gelenkten - Geschichte eine epische D i c h t u n g wesentlich auf, so daß fur ihn und die meisten mittelalterlichen T h e o r e t i k e r der poeta graphus

den poeta

purus

bei w e i t e m übertrifft, w i e Peter v o n M o o s

historio-

überzeugend

dargestellt hat. 1 9 Z u m A n w a l t V e r g i b m a c h t sich i m 12. J a h r h u n d e r t ein K o m m e n t a t o r aus der Schule v o n Chartres, w o h l nicht B e r n a r d u s Silvestris, w i e zumeist a n g e n o m m e n , vielleicht B e r n h a r d v o n Chartres oder ein anderer. 2 0 In diesem A e n e i s - K o m m e n t a r w i r d die Vorgangsweise des antiken Epikers so beschrieben: Er beabsichtigt also, das Schicksal des Aeneas und die Beschwernisse der anderen gleicherweise herumirrenden Trojaner darzustellen; dies aber nicht durchgehend gemäß der historischen Wahrheit, die Dares Phrygius beschrieben hat; vielmehr erhöht er die Taten und die Flucht des Aeneas allenthalben mit Erfindungen, um die Huld des Augustus zu verdienen. 21 H i e r a u f w i r d Vergils Verfahren des ordo artificialis

charakterisiert. 2 2 Es folgt die E i n -

teilung der D i c h t e r in satirici,

nach den horazischen K a t e g o r i e n

der utilitas u n d der delectado.

comedi

u n d historici

D a s Z i e l der Satiriker sei nur der (moralische) N u t z e n ,

das der K o m ö d i e n s c h r e i b e r nur die U n t e r h a l t u n g , das der historici

schließlich eine

K o m b i n a t i o n v o n beiden, die n u n m e h r an der 'Aeneis' demonstriert w i r d . S o w o h l F o r m w i e Inhalt k ö n n e n den Leser ergötzen. A m Stil k a n n er sich aber auch selbst schulen u n d zugleich die Taten der Protagonisten als exempla

guten u n d schlechten

Verhaltens zu R i c h t l i n i e n des eigenen Lebens m a c h e n . 2 3 Bd. 1, Wien 1890 [CSEL 19]) 1,11,23—24: non ergo res ipsas gestas finxerunt poetae, quod si facerent, essent uanissimi, sed rebus gestis addiderunt quendam colorem. non enitn obtrectantes illa dicebant, sed ornare cupientes. hinc homines decipiuntur, maxime quod dum haec omnia ficta esse a poetis arbitrantur, colunt quod ignorant, nesciunt enim qui sit poeticae licentiae modus, quousque progredì fingendo liceat, cum officium poetae in eo sit, ut ea quae uere gesta sunt in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conuersa traducat. 18 Serv. Aen. I 382: hoc loco per transitum tangit historiam, quam per legem artis poeticae aperte non potest ponere ... Quod autem diximus eum poetica arte prohiberi, ne aperte ponat historiam, certum est. Lucanus namque ideo in numero poetarum esse non meruit, quia videtur historiam composuisse, non poema. 19 Von Moos [Anm. 5]. 20 The commentary on the first six books o f the Aeneid o f Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris, hg. v. Julian Ward u. Elizabeth Frances Jones, Lincoln/London 1977. 21 Ebd., 1,8—11: Intendit itaque casus Enee aliorumque Troianorum errantium labores evolvere atque hoc non usque secundum historie veritatem, quod Frigius describit, sed ubique ut Augusti Cesaris gratiam lucraretur, Enee facta fugamque ficmentis extollit. 22 Ebd., 1,15-2,9. 23 Ebd., 2,11-3,3: Poetarum quidam scribunt causa utilitatis ut satirici, quidam causa delectationis ut

Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik

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Fallen schon diese Angaben, die Vergil als poeta definieren, etwas sprunghaft aus, so folgt nun noch ohne logische Verbindung die Charakterisierung Vergils als philosophus,24 hatte doch Macrobius der 'Aeneis' sowohl poeticae figmentum als auch philosophiae veritatem zugebilligt. 25 In diesem Sinne versteht der K o m m e n t a t o r das Epos (im Gefolge des Fulgentius) als naturphilosophische und anthropologische Allegorie, die den moralischen Aspekt durchaus einschließt, aber übersteigt. Vergil erscheint somit zugleich als poeta purus, als poeta historiographus und als poeta philosophus.26 Dieses dreifache Ideal schwebt dann noch genauso den italienischen Frühhumanisten bei ihrer heftigen Polemik gegen die scholastischen Verächter der Dichtkunst vor. N a c h kräftigen Vorstößen Dante Alighieris ( 1 2 6 5 - 1 3 2 1 ) 2 7 und Albertino Mussatos (1261—1329) 2 8 sammelte Francesco Petrarca ( 1 3 0 4 - 1 3 7 4 ) 2 9 im großen Stile Argumente zum R u h m e der Poesie und trug viele davon in seiner R e d e vor, die er anläßlich seiner K r ö n u n g zum magnus poeta et historiens (!) im April 1341 hielt. 30 Eine nochmals erweiterte Zusammenfassung dieser Rechtfertigungsgründe lieferte schließlich Giovanni B o c c a c c i o (1313—1375) 31 namentlich in seinem Traktat zum comedi, quidam causa utriusque ut historici; unde Oratius »Aut prodesse volunt aut delectare poete aut simul et iocunda et ydonea dicere vite.« Et in hoc opere ex ornatu verborum et figura orationis et ex variis casibus et operibus hominum enarrandis habetur quedam delectatio. Si quis vero hec omnia studeat imitari, maximam scribendi peritiam consequitur; maxima etiam exempla et exeogitationes aggrediendi honesta et fugiendi illicita per ea que narrantur habentur. Itaque est lectoris gemina utilitas: una scribendi peritia que habetur ex imitatione, altera vero recte agendi prudentia que capitur exemplorum exhortatione. Verbi gratta: ex laboribus Enee tolerantie exemplum habemus, ex affectu eius in Anchisem et Ascanium pietatis, ex veneratione quam diis exibebat et ex oraculis que poscebat, ex sacrificiis que offerebat, ex votis et preeibus quas fundebat quodammodo ad religionem invitamur. Per immoderatum Didonis amorem ab appetitu illicitorum revocamur. Ebd., 3,8-11 Nunc vero hec eadem circa philosophicam veritatem videamus. Scribit ergo in quantum est philosophus humane vite naturam. Modus agendi talis est: in integumento describit quid agat vel quid paciatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus. 25 Macr. somn. [Anm. 14] 1,9,8; danach Bern. comm. [Anm. 13] 1,1-3. 26 Zur Intention des Vergilkommentators vgl. Earl G. Schreiber / Thomas E. Maresca, Commentary on the first six books o f Virgil's Aeneid by Bernardus Silvestris, Lincoln/London 1979, Einleitung; Christoph Huber, Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere, ZfdA 115 (1986), S. 79-100, hier S. 89 ff.; Fritz Peter Knapp, Integumentum und âventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere, Literaturwiss. Jahrbuch NF 28 (1987), S. 299-307. 27 Vgl. u. a. August Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 33 ff.; Concetta C. Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics, 1250-1500, London/Toronto 1981, S. 56 ff. 28 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 69 ff; Greenfield [Anm. 27], S. 79 ff. 29 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 72 ff.; Greenfield [Anm. 27], S. 95 ff. 30 Francesco Petrarca, Collatio laureationis, hg. v. Carlo Godi, Italia Medioevale e Umanistica 13 (1970), S. 1-27. Zur Bestimmung der Aufgabe des Dichters zitiert Petrarca hier zuerst (8,4) Lactanz [s. o. Anm. 17], dann (8,5) Macrobius in somn. Scip. 2,10,11 (über eine imago fabulosa Homers), um dann den allgemeinen Grundsatz aufzustellen, poetas sub velamine figmentorum, nunc fisica, nunc moralia, nunc hystorias comprehendisse. Zwischen der Aufgabe eines Dichters und der eines Historikers oder Philosophen bestehe derselbe Unterschied wie zwischen dem bewölkten und dem klaren Himmel. Der Gegenstand bleibe derselbe, stelle sich aber für die Erfassung durch den Beschauer verschieden dar (9,7). 31 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 77 ff.; ders., Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den 'Genealogie deorum', in: Boccaccio in Europe, hg. v. H. Tournoy, Leuven 1977, S. 53-65; Greenfield [Anm. 27], S. 110 ff. 24

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Lobe Dantes (von 1360) und im 14. Buch von 'De genealogiis deorum gentilium' (von 1350/60). 32 In der italienischen Schrift über Leben und Werk Dantes33 rühmt Boccaccio den großen poeta vates, er habe schon früh erkannt, »daß die Dichtkunstwerke nicht eitle oder einfache fabulae oder mirabilia sind, wie viele Toren meinen, sondern im Innern ganz süße Früchte der historischen oder philosophischen Wahrheiten verborgen haben.«34 In der Abhandlung über die Götter liefert er eine ganze Gattungstheorie. Er unterscheidet vier Arten der fabula: Deren erste entbehrt überhaupt der Wahrheit an der Oberfläche, wie z. B. wenn wir unvernünftige Tiere oder auch unbelebte Wesen im Gespräch miteinander vorführen. Und ihr bedeutendster Autor war Äsop, ein griechischer Mann, verehrungswürdig wegen seiner Altertümlichkeit und seiner Würde. Obwohl sich ihrer nicht nur Bürger, sondern auch Bauern bedienen —, und das nicht selten — verschmähte es auch Aristoteles, ein Mann von himmlischem Genie und Führer der peripatetischen Philosophen, nicht, bisweilen seinen Büchern solche [Fabeln] einzufügen. Die zweite Art aber mischt an der Oberfläche bisweilen Fabulöses der Wahrheit bei, wie wenn wir sagen wollten, die Töchter des Minyas, welche webten und die Orgien des Bacchus verschmähten, seien in Fledermäuse verwandelt worden [vgl. Ovid, 'Metamorphosen' 4 , 1 - 5 4 u. 389-415]. Von Anfang an haben aber die ältesten Dichter, die Sorge trugen, Göttliches und Menschliches gleicherweise mit Erfindungen zu verbergen, diese (fabulae) erfunden, und die erhabensten unter den nachfolgenden Dichtern haben sie zum Besseren emporgeführt, obwohl einige Komödienschreiber sie verdarben, da sie sich mehr um den Beifall des lasziven Volkes als um Ehrenhaftigkeit kümmerten. Die dritte Art aber ist eher der historia als der fabula ähnlich. Auch ihrer haben sich auf die eine oder andere Art berühmte Dichter bedient. Denn die Dichter heroischer Epen meinen, wie sehr sie auch eine historia zu schreiben scheinen, wie Vergil, wenn er schreibt, daß Aeneas vom Meeressturm umhergetrieben wurde, oder Homer, daß Odysseus am Schiffsmast angebunden war, um nicht vom Sirenengesang angelockt zu werden, doch bei weitem anderes unter der Verhüllung, als gezeigt wird. Zudem bedienten sich die ehrenhafteren Komödienschreiber, wie Plautus und Terenz, auch dieser Art des Dichtens, ohne mehr darunter zu verstehen, als der Buchstabe aussagt, aber in der Absicht, mit ihrer Kunst Sitten und Worte verschiedener Menschen zu beschreiben und mitunter die Leser zu belehren und zu warnen. Und wenn auch diese Geschehnisse nicht wirklich stattgefunden haben sollten, konnten oder könnten sie dies, da sie der allgemeinen Erfahrung entsprechen. Die vierte Art besitzt freilich gar nichts an Wahrheit an der Oberfläche oder im Verborgenen, da sie eine Erfindung schwachsinniger Vetteln ist.35 Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium libri, hg. v. Vincenzo Romano, 2 Bde., Bari 1951; Buch X I V auch hg. in der Sammelausgabe v. Pier G. Ricci [Anm. 33], nach der ich hier zitiere. 33 Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante, in: Giovanni Boccaccio, Opere in versi, Corbaccio, Trattatello in laude di Dante, prose latine, epistole, hg. v. Pier G. Ricci, Mailand/Neapel 1965 (La letteratura italiana 9), S. 565-650. 34 Ebd., S. 574: le poetiche opere non essere vane o semplici favole o maraviglie, come molti stolti estimano, ma sotto sé dolcissimi frutti di verità istoriografe o filosofiche avere nascosti. 35 Genealogie [Anm. 32/33], 14,9 (S. 958—961): quorum prima omnino peritate caret in cortice, ut — puta — quando ammalia bruta aut etiam insensata inter se loquentia inducimus. Et autor harum permaximus fuit Esopus, vir grecus antiquitate ac etiam gravitate venerabilis. Et dato his non solum civile vulgus, sed etiam agrestes utantur, ut plurimum, non fastidivit aliquando suis libris inserere Aristotiles, celestis ingenti vir et perypatheticorum princeps phylosophorum. Secunda autem species in superficie non nunquam veritati fabulosa conmiscet, ut si dicamus Minei filias nenies spernentesque orgia Bachi in vespertiliones versas. Has autem a primevo vetustissimi invenere poete, quibus cure fuit divina et humana pariter palliare figmentis; et qui poetarum sublimiores secuti sunt, in melius evexere, posito non nulli comici depravaverint eas, magis de assensu lascivientis vulgi quam de 32

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in der spätscholastischen

und frühhumanistischen

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Boccaccio vermeidet es, exakte Termini zu prägen. Wollten wir zur besseren Verständigung welche einfuhren, so böten sich etwa fabula aesopica, mythologica, histórica, vana an. Während es Boccaccio natürlich nicht einfällt, die letztgenannten »Ammenmärchen* zu verteidigen, sucht er die drei anderen Arten der >echten< poetischen fabulae bereits in der Bibel nachzuweisen und damit unangreifbar zu machen. D e r fabula aesopica stellt er — w i e bereits Augustinus und Isidorus — die Fabel i m Buch Richter 9 , 8 - 1 5 an die Seite, 36 der fabula mythologica »beinahe das ganze heilige Buch des Alten Testaments«, insbesondere die Visionen der Propheten, der fabula histórica die Gleichnisse (parabolae) Jesu, welche v o n einigen w e g e n ihrer exemplarischen Verwendungsweise exempla genannt werden. Nichtsdestoweniger verabsäumt es der Verfasser des 'Decameron' auch nicht, noch auf den Unterhaltungswert der fabulae zu verweisen, die Entspannung den Mächtigen und Regierenden, Trost den Beladenen und Anreiz den Studierenden zu bringen vermögen. 3 7 Im Kapitel 13 verteidigt Boccaccio die Dichter nochmals eindringlich gegen den Vorwurf der Lügenhaftigkeit. W i e üblich geht er dabei v o n Augustins Schrift ' D e mendacio' 3 8 aus. U n s interessiert hier nur diejenige Art der Fiktion, welche aufgrund ihrer N ä h e zur >Wahrheit< (d. h. Wirklichkeit) der Täuschungsabsicht verdächtigt werden könnte, nämlich die fabula histórica. Diese ist nach Boccaccio »im uralten Urteil aller Völker frei v o m Makel der Lüge, da es nach altem Brauche einem jeden gestattet ist, sie z u m Z w e c k e eines Exempels zu benützen, in d e m weder die einfache Wahrheit gefragt noch die Lüge verboten ist.«39 Es folgt ein R ü c k b e z u g auf die Aufgabe des Dichters nach Lactanz und Isidor. Als Hauptbeispiel einer solchen >historischen< fabula in der klassischen Antike greift Boccaccio die 'Aeneis' auf und gibt vier Gründe an, w a r u m Vergil D i d o nicht entsprechend der historischen Uberliefehonestate curantes. Species vero tercia potius hystorie quam fabule similis est. Hac aliter et aliter usi poete celebres sunt. Nam heroyci, quantumcunque videantur hystoriam scribere, ut Virgilius, dum Eneam tempestate maris agitatum scribit, et Omerus alligatum malo navis Ulixem, ne a syrenarum cantu traheretur, longe tarnen aliud sub velamine sentiunt quam monstretur. Comici insuper honestiores, ut Plautus atque Terrentius, hac confabulando specie etiam usi sunt, nil aliud prefer quod Hetera sonat intelligentes, volentes tarnen arte sua diversorum hominum mores et verba describere, et interim lectores docere et cautos facere. Et hec si de facto non fuerint, cum comunia sint, esse potuere vel possent. Quarta quidem species nil penitus in superficie nec in abscondito veritatis habet, cum sit 36

delirantium vetularum inventio. Hauptquellen sind Macrobius und Isidor (s. o). Is. orig. 1,40,6; Augustinus, Contra mendacium (hg. v. Joseph Zycha, Wien [u.a.] 1900 [ C S E L 41], S. 4 6 7 - 5 2 8 ) 1 3 , 2 8 (S. 5 0 8 , Z . 2 2 bis S. 5 0 9 , Z . 12): in quo genere fingendi humana etiam dicta uel facta inrationalibus animantibus et rebus sensu carentibus homines addiderunt, ut eius modi fictis narrationibus, sed ueraeibus significationibus quod uellent commendatius intimarent. nec apud auetores tantum saecularium litterarum, ut apud Horatium, mus loquitur muri et mustela uulpecule, ut per narrationem fictam ad id, quod agitur, uerax significatio referatur: unde et Aesopi taies fabulas ad eumfinem relatas nullus tarn ineruditusfuit, qui putaret appellanda mendacia, sed in litteris quoque sacris, sicut in libro Iudicum, ligna sibi regem requirunt et loquuntur ad oleam et ad ficum et ad uitem et ad rubum. quod totum utique fingitur, ut ad rem, quae intenditur, ficta quidem narratione, non mendaci tarnen, sed ueraci significatione ueniatur.

37 38 39

Genealogie [Anm. 32/33], 14,19 (S. 960-965). Augustinus, De mendacio (Ausg. [Anm. 36], S. 411-466) 14,25. [Fabula histórica] antiquissimo omnium nationum consensu a labe mendacii inmunis est, cum sit consuetudine veteri concessum ea quis uti posse ratione exempli, in quo simplex non exquiritur Veritas, nec prohibetur mendacium ( 1 4 , 1 3 , S. 9 8 6 ) .

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rung, sondern nur in vager Anlehnung an diese mit dichterischer Freiheit dargestellt habe: (1.) den ordo artificialis, den Vergil - im Gegensatz zu dem historiographus Lucan — gebraucht; (2.) die Verkörperung des Ideals der begehrenswerten Frau in Dido, um den tiefen Zwiespalt des Helden zwischen heroischer Pflicht und erotischer Neigung zu demonstrieren; (3.) die Verherrlichung des julischen Hauses durch das Lob der Standhaftigkeit des Aeneas in diesem Zwiespalt und (4.) die Verkündigung der Größe R o m s in den (vergeblichen) Flüchen der sterbenden Dido (ebd., Schluß des 13. Kapitels). Es ist ebenso unübersehbar wie überraschend, daß der große Humanist des Trecento über den hochmittelalterlichen Standpunkt in keinem wesentlichen Punkt hinausgelangt ist, der sich natürlich nicht nur an Bernhards (?) Aeneiskommentar, sondern auch anderen grammatischen, rhetorischen und poetologischen Texten des 12. Jahrhunderts ablesen läßt. 40 Neu ist im Grunde nur der Versuch, durchgehend die >echte< fabula mit der Bibel zu parallelisieren. Das geht auf Dante und dessen Auseinandersetzung mit der Bibelexegese zurück. 41 Die Anwendung epischer Handlungen als moralischer exempla empfiehlt aber ebenfalls schon der Aeneiskommentar des 12. Jahrhunderts (s. o). Dahinter steht einerseits die antike Vorstellung von der Geschichte als magistra vitae,42 andererseits die oben beschriebene servianische Zusammenlegung von historia und argumentum, die es erlaubt, auch das historische Exempel und die biblische Parabel eng zu verbinden. Auch in der >Rehabilitierung< des Servius gegenüber Isidor ist dem Humanisten der Chartrenser Neuplatonist des Hochmittelalters stillschweigend vorausgegangen. Beide begeben sich aber damit natürlich auch der Möglichkeit, den eben doch bestehenden Unterschied zwischen tatsächlichem und bloß möglichem Geschehen für ihr poetologisches System fruchtbar zu machen. Unsere Verwunderung darüber steigt noch, wenn wir sehen, daß die Rezeption der 'Poetik' des Aristoteles vorerst keineswegs in der Lage war, dieses Manko zu beseitigen. Die im Jahre 1278 von dem großen Aristoteles-Ubersetzer Wilhelm von Moerbeke angefertigte lateinische Version der 'Poetik' 43 blieb nämlich aus bisher nicht einleuchtend geklärter Ursache unbeachtet, während sich die lateinische Fassung einer arabischen Bearbeitung der 'Poetik' durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreute. Diese Bearbeitung, teils Ubersetzung, teils Paraphrase, teils Kommentar, vorgenommen ca. 1175 von dem berühmten islamischen Philosophen Averroës (Ibn Ruschd), übersetzt 1256 in Toledo von Hermannus Alemannus, nach Ausweis der erhaltenen Handschriften über ganz Europa verbreitet, 44 bot jedoch die entscheidende, zu Anfang zitierte Stelle in völlig veränderter Form: 40 41

42

43

44

Vgl. Knapp, Wahrheit [Anm. 3], passim. Dante Alighieri, Convivio 2 , 1 (Tutte le opere, hg. ν. Luigi Blasucci, Florenz 1981, S. 123f.); Brief an Cangrande della Scala = Epist. X I I I , 7 - 9 (ebd., S. 343f.). Vgl. Buck [Anm. 27], S. 48f.; Greenfield [Anm. 27], S. 63 ff. Vgl. Joachim Knape, >Historie< in Mittelalter und früher Neuzeit, Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia 10), S. 67 ff., 153 u. ö. (mit reicher Literatur). Aristoteles Latinus, Bd. X X X I I I : De arte poetica, hg. v. Lorenzo Minio-Paluello, Brüssel/ Paris 1968. Von Wilhelms Übersetzung haben sich nur zwei Codices erhalten (Eton, Bibl. Coli. 129, ca. 1300; Toledo, Bibl. Capit. 47.10, ca. 1280). Andere Rezeptionszeugnisse der Übersetzung sind bisher auch keine aufgetaucht. Ausgabe ebd. Von dieser Fassung hat der Herausgeber 24 Handschriften in den Bibliotheken Europas von Spanien über Italien, Frankreich, England, Deutschland bis Polen

Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik

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DIXIT. Et patet etiam ex hiis que dicta sunt de intentione sermonum poeticorum, quoniam representationes queßunt perßgmenta mendosa adinventitia non sunt de opere poete. Et sunt ea que nominantur proverbia et exempla, ut ea que sunt in libro Esopi et consimilibus fabulosis conscriptionibus. Ideo poete non pertinet loqui nisi in rebus que sunt aut quas possibile est esse; talia quippe sunt que appetendo sunt aut refutanda aut quarum conveniens est assimilatio secundum quod dictum est in capitulis representationum. Compositorum vero fabularum et proverbiorum opus non est opus poetarum, quamvis huiusmodi proverbio et fabulas adinventicias componant sermone metrico; quamvis enim in metro communicent, tamen alterius eorum completur operatio intenta per fabulas etiam si sit absque metro; et est instructio quedam prudentialis que acquiritur per tales adinventicias fabulas. Poeta vero non pertingit ad complementum propositi sui per ymaginativas commotiones nisi per metrum. Fictor ergo proverbiorum adinventiciorum et fabularum adinvenit seu fingit individua que penitus non habent existentiam in re, et ponit eis nomina. Poete vero ponunt nomina rebus existentibus, etfortassis loquuntur in universalibus; ideoque ars poetrie propinquior est philosophie quam sit ars adinventicia proverbiorum. Et hoc est quod ipse dixit secundum consuetudinem ipsorum in poetria que imitativa videtur nature et apud gentes naturaliter se habentes.45 Soweit sich diesem typischen Übersetzerlatein ein Sinn entnehmen läßt, sind die aristotelischen Positionen vertauscht. V o m Werk des Dichters ausgeschlossen wird nicht die Historie, sondern die reine Fiktion. Diese hat, heißt es da, in F o r m von proverbia

45

und exempla,

wie sie bei Äsop und in vergleichbaren Fabeleien v o r k o m -

und Rußland nachgewiesen. Italienische Humanisten wie deren Gegner haben offenbar gleicherweise argumentatives Rüstzeug aus dieser Ubersetzung entnommen (vgl. Greenfield [Anm. 27], S. 88f., 132), doch muß sie auch in einigen Schulen des deutschen Sprachraums, namentlich der jungen Universitäten, zur Verfügung gestanden haben. Arist. lat. X X X I I I [Anm. 43], S. 51 f. - Die Vorlage der übersetzten Stelle findet sich in: Aristoteles, De poetica. E Graeco transtulit commentis auxit ac critica editione antiquae Arabicae versionis et Alfarabi, Avicennae Averroisque commentariorum 'Abdurrahman Badawi, Kairo 1953, S. 213f. Der arabische Text ist dem Sinn nach in der lat. Wiedergabe großteils erhalten geblieben. Diese Erkenntnis verdanke ich der freundlichen Hilfe von Herrn Dr. Leopold Helmuth vom Institut für Germanistik der Universität Wien, wofür ihm herzlich gedankt sei. Hier sein Übersetzungsvorschlag für die Stelle aus der arabischen Vorlage: Er sagte: Und es ist auch klar, nach dem, was über den Zweck (die Absicht) der poetischen Reden gesagt wurde, daß die Nachahmung mittels erfundener, lügnerischer Sachen nicht zur Tätigkeit des Dichters gehört. Und sie sind es, die amtäl ( = Gleichnisse, Parabeln, Fabeln, Sprichwörter etc.) und Geschichten genannt werden, wie das, was im Buch 'Kaiila wa-Dimna' steht. Der Dichter hingegen spricht von existierenden oder (zumindest) möglichen Sachen, denn diese sind es, die vermieden oder angestrebt werden und mit denen Vergleiche angestellt werden (?), entsprechend dem, was in den Abschnitten über die Nachahmung gesagt wurde. Und was die, welche amtäl und Geschichten verfertigen, betrifft, so ist ihre Tätigkeit nicht die Tätigkeit von Dichtern, selbst wenn sie die erfundenen amtäl und Erzählungen in Versen verfertigen. Wenn auch beide sich des Metrums bedienen, so vollbringt doch der eine seine Arbeit mit Hilfe (lügnerischer) Erfindung, und auch wenn diese nicht metrisch ist, zieht der Verstand doch aus den erfundenen Geschichten Nutzen. Der Dichter freilich erreicht das, was er sich in seiner Vorstellung vorgenommen hat, nur durch das Metrum völlig. Der Verfertiger erfundener amtäl und Geschichten jedoch erfindet Personen, die eigentlich keine Existenz haben und legt ihnen Namen zu. Der Dichter hingegen gibt existierenden Dingen Namen. Und manchmal haben sie ( = die Dichter) über allgemeine Dinge gesprochen, und deshalb war das Dichten der Philosophie näher als das Verfertigen erfundener amtäl. — Das hat er gemäß ihrer Gewohnheit in der (über die?) Dichtung gesagt, die bei den natürlichen Völkern einer natürlichen Sache nahekommt (nahekommen soll?).

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Fritz Peter Knapp

men, ihren Platz in der Weisheitslehre (instructio quedam prudentialis). Ein solcher Erfinder (fictor) erfindet »Individuen, die gar kein reales Sein besitzen und gibt ihnen Namen.« Das meint sprechende Tiere und dergleichen, während Aristoteles gerade die historischen Personen im Auge gehabt hatte, die als solche nicht in die Dichtung gehörten. Aus dem von Aristoteles gegen das Faktisch-Wirkliche abgehobenen Wahrscheinlich-Möglichen ist nun aber das Real-Natürliche geworden. Wahre Dichter verwenden nur res existentes in re (bzw. in natura, wie es weiter unten heißt). Damit ist grundsätzlich dieselbe Abgrenzung des Fiktiven erreicht wie bei Servius: historia und verisimile fallen in eins zusammen, auch wenn noch der hilflose Zusatz »und vielleicht sprechen sie (die Dichter) von allgemeinen (Wesen)« folgt, u m der aristotelischen Forderung Genüge zu tun. Etliche Humanisten haben dieses Buch nachweislich gekannt, während die 'Poetik' selbst weder im Original noch in lateinischer Übersetzung vor dem Ende des 15. Jahrhunderts in ihren Gesichtskreis trat. Boccaccio dürfte, wenngleich er sich der N a c h a h m u n g griechischer Dichtung rühmt, 4 6 dem griechischen Werk in keiner wie immer gearteten Fassung begegnet sein. Hätte er die von Averroes und Hermann eingesehen, so hätte er sich aber ohnehin in seinem Standpunkt nur bestätigt fühlen können. Dieser war, wie wir gesehen haben, bereits in der Renaissance des 12. Jahrhunderts vertreten worden, der hier wie in vielen anderen Fragen die Renaissance des 14. Jahrhunderts die Hand reichte. Davon gelöst hat sich hingegen ausgerechnet ein Scholastiker, der steirische Abt Engelbert von A d m o n t (um 1250-1331) in seinem 'Speculum virtutum'. In diesem ca. 1309 (also etwa gleichzeitig mit Dantes ' C o n vivio'!) abgefaßten Fürstenspiegel dienen aristotelische Schriften, insbesondere die 'Nikomachische Ethik', als Hauptquelle. Im Buch X stellt Engelbert im R a h m e n einer Konversationstheorie die Mittel der gefälligen R e d e nach der ' R h e t o r i k ' des Aristoteles und der pseudo-ciceronianischen 'Rhetorica ad Herennium' dar. Auf diese Weise liefert er unter der Hand auch eine Poetik der (klein)epischen Gattungen, worüber ich an anderer Stelle ausführlich gehandelt habe. 47 Hier nur das Nötigste. Die historia definiert Engelbert als »die geordnete Erzählung eines vergangenen Geschehens, so wie es geschehen ist«,48 und setzt sie gleich mit dem exemplum, das in der R e d e als Beweismittel verwendet wird. Die parabola ist nach Engelbert »nicht die Erzählung einer Tat, die von bestimmten Personen ausgeführt worden ist, sondern die von irgendwelchen Personen ausgeführt werden konnte. Daher sind die parabolae, o b w o h l sie an sich nicht wahr sind, soweit es die Erzählung einer ausgeführten Tat betrifft, doch wahr, soweit es die Bedeutung eines Geschehens für ein damit vergleichbares vergangenes oder zukünftiges Geschehen betrifft.« 49 Als Beispiele wer46 47

48

49

Vgl. Buck [Anm. 27], S. 85f. Fritz Peter Knapp, Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. v. Walter Haug / Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 1-22. Engelbert von Admont, Speculum virtutum (hg. v. Bernhard Pez, Regensburg 1724 [Bibliotheca ascetica III], S. 1 - 4 9 8 ) , X , 17 (S. 343): Historia ... est rei gestae, prout gesta est, ordinata narratio. Ebd., X , 19 (S. 348): parabola non est narratio rei gestae a certis personis, sed quae gerì potuit a

Historie

und Fiktion in der spätscholastischen

und frühhumanistischen

Poetik

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den u. a. die Gleichnisse Jesu u n d eine allegorische E r z ä h l u n g aus den 'Gesta R o m a n o r u m ' a n g e f ü h r t . Völlig u n m i ß v e r s t ä n d l i c h k o m m e n hier trotz einer gewissen quellenbedingten F o r m u l i e r u n g s n o t der bildhafte u n d der unhistorische C h a r a k t e r der parabola z u m A u s d r u c k . Diese n i m m t d a m i t eine Mittelstellung zwischen historia u n d fabula, ein, welche als »eine e r f u n d e n e u n d ausgearbeitete R e d e nicht ü b e r E r eignisse, die geschehen, sondern die fingiert sind,« 50 gekennzeichnet w i r d . D i e drei T y p e n dieser G a t t u n g b e s t i m m t E n g e l b e r t z w a r nach Isidor, d o c h w e r t e t er die rein u n t e r h a l t e n d e fabula g e g e n ü b e r d e m naturphilosophischen M y t h o s u n d der m o r a l philosophischen Fabel keineswegs ab. V i e l m e h r erklärt er die aus j e n e n Geschichten zu g e w i n n e n d e delectatio so: Deshalb aber ergötzen die fabulae, da sie aus Wunderbarem und Ungewohntem zusammengestellt sind. Es ist aber ergötzlich, was das Denkvermögen ausweitet und aus Ungewohntem und Fremdem, jedoch mit Ähnlichem und vorher Unbemerktem, auf das Verständnis von Gewohntem und Vertrautem hinführt.51 Das aus der ' M e t a p h y s i k ' des Aristoteles g e w o n n e n e admiratio-Prínzip, das weiter u n t e n i m Text ausdrücklich als solches b e n a n n t wird, 5 2 v e r m a g hier die Eigengesetzlichkeit dichterischen Erzählens auf eine ganz u n k o m p l i z i e r t e , nichtsdestoweniger einleuchtendere A r t zu b e g r ü n d e n , als es Aristoteles in der ' P o e t i k ' selbst g e l u n g e n w a r . Keine Richtlinie des M ö g l i c h e n schottet m e h r das Irreale ab. D i e Sagen des Volkes — Engelbert n e n n t romanische u n d deutsche Heldensagen, die zu seiner Zeit lebendig w a r e n — b r a u c h e n daher auch nicht m e h r aus den Kreisen der Gebildeten v e r b a n n t zu w e r d e n , sondern d ü r f e n hier ihren legitimen Platz b e h a u p t e n . Engelbert stand j a auch nicht w i e die H u m a n i s t e n u n t e r d e m Z w a n g , d e n h o h e n , theologiegleichen R a n g der D i c h t u n g zu b e h a u p t e n . D a z u hätte er sich auch gar nicht b e r e i t g e f u n d e n . W i e andere Scholastiker sprach er ihr n u r einen recht niedrigen Stellenwert in der Hierarchie der Wissenschaften zu, den j e d o c h die Geschichtsschreibung m i t ihr teilte, hatte d o c h Aristoteles seinen Wissenschaftsbegriff, der ihn zur A b w e r t u n g der Geschichtsschreibung veranlaßte, in m e h r e r e n Schriften b e g r ü n det u n d der Scholastik v e r m a c h t . N a c h Aussagen der ' M e t a p h y s i k ' u n d der ' Z w e i t e n Analytika' gelangt die E r f a h r u n g n u r zur K e n n t n i s des Einzelnen, zu e i n e m Wissen u m das b l o ß e D a ß , die Wissenschaft h i n g e g e n zur K e n n t n i s des A l l g e m e i n e n , zu einem Wissen u m das W a r u m . 5 3 In der Hochscholastik galt das A x i o m scientia non est quibuscunque personis. Unde parabolae, licet non sint in se verae quantum ad narrationem rei gestae, sunt tarnen verae quantum ad significationem rei ad earum similitudinem gestae ν el gerendae. 50 51

E b d . , X , 18 (S. 3 4 5 ) : Fabula vero est sermo de rebus non factis, sedfictis inventus et compositus. E b d . , X , 1 8 (S. 3 4 6 ) : Ideo autem delectant fabulae, quia componuntur ex win's et insolitis. Talia autem sunt delectabilia, quia dilatant mentent, et deducunt ad intelligenda solita et consueta ex insolitis et inconsuetis, sed cum similibus et prius non animadversis. Diese außergewöhnliche

Aussage hat nichts mit der von Renaissancepoetikern öfter aufgestellten, durch Übertragung aus der Bibelexegese auf die Poetik gewonnenen Behauptung zu tun, daß gerade der zur Durchdringung der poetischen Umhüllung nötige Aufwand den Genuß an der Dichtung erhöhe (vgl. z. B. Petrarca, Collado [Anm. 30], 9,8 Eo tarnen dulcior fit poests, quo laboriosius 52 53

quesita

Veritas magis atque magis inventa

dulcescit).

Ebd., X, 18 (S. 347). Vgl. Renate Zoepfel, Historia und Geschichte bei Aristoteles, Heidelberg 1975 (Abh. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Jg. 1975, 2. Abh.), S. 18 ff.

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Fritz Peter Knapp

singularium uneingeschränkt. 54 Dadurch war man sogar genötigt, die Theologie, die sich ja auf die in der Heiligen Schrift überlieferten Einzelereignisse stützte, vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu schützen. So schreibt etwa Thomas von Aquin: Singularien werden in der heiligen Wissenschaft überliefert, nicht weil über sie in erster Linie gehandelt werden soll, sondern sie werden eingeführt sowohl als Vorbild flir die Lebensführung, wie in den moralischen Wissenschaften, als auch zur Begründung der A u torität der Männer, durch welche die göttliche Offenbarung an uns ergangen ist, worauf sich die Heilige Schrift oder die Theologie gründet. 55

Gehören also sogar die Singularien der Bibel sozusagen nur in den Vorhof der Wissenschaft, so umso mehr die von der profanen Geschichtsschreibung überlieferten Einzelereignisse. Daß die historia zur Erkenntnis von Universalien vorstoßen könnte, traute ihr die Scholastik ebensowenig zu wie Aristoteles. Als Hilfsmittel für >echte< Wissenschaften wie Rhetorik und Ethik behauptete die historia aber natürlich ihren Platz — zusammen mit der Dichtung. Als solche fungieren sie beide denn auch in Engelberts 'Speculum virtutum'. Hier kann ihre Behandlung von theologischen Implikationen fast ganz frei bleiben, findet dann aber auch fast zwangsläufig in der poetologischen Debatte keine weitere Beachtung mehr, o b w o h l das 'Speculum virt u t u m ' in immerhin 14 mittelalterlichen Handschriften erhalten ist (darunter allerdings keiner in einer italienischen Bibliothek). 56 Wenn in der Mitte des 14. Jahrhunderts Boccaccio in seinem epochalen Erzählwerk Ί1 decameron' dessen hundert Novellen alsfabulae, parabolae oder historiae (o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo)57 bezeichnet, so ist die Ubereinstimmung mit Engelberts Terminologie gewiß zufällig. Die Begriffe begegnen ja auch in 'De genealogiis deorum gentilium', werden hier allerdings in einer Weise festgelegt, die dem Anliegen des 'Decameron' wenig entgegenkommt. Mit Engelberts aristotelischem Instrumentarium täte sich der Autor wesentlich leichter. So zieht er sich einfach auf die horazische Formel von delectatio und utilitas (diletto ...e utile consiglio)58 zurück und gesteht offen ein, v o m Parnaß der hohen Dichtkunst herabgestiegen zu sein.59 W i e ernst das gemeint ist, bleibe dahingestellt, und dasselbe gilt auch für des Erzählers Verteidigung gegenüber jenen, »welche behaupten, diese Ge-

54

Vgl. Arno Seifert, Historia im Mittelalter, Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 2 2 6 284, hier S. 269 ff. 55 Thomas Aquinas, Summa theologica I, Madrid 1951, Nachdruck 1978 (Biblioteca de A u tores Cristianos 77), q. 1, a. 2 ad 2: singularia traduntur in sacra doctrina, non quia de eis principaliter tractetur; sed introducuntur tum in exemplum vitae, sicut in scientiis moralibus; tum etiam ad declarandum auctoritatem virorum per quos ad nos relevatio divina processif, super quam fundatur sacra Scriptura seu doctrina. 56 Vgl. George Β. Fowler, Manuscripts o f Engelbert o f Admont, Osiris 11 (1954), S. 455-485; ders., Additional Notes on Manuscripts o f Engelbert o f Admont, Recherches de Théologie ancienne et médiévale 28 (1961), S. 269-282. 57 Giovanni Boccaccio, Il decamerone (hg. v. Enrico Bianchi, 2 Bde., Florenz 1976), Proemio, Bd. I, S. 20. 58 Ebd. 59 Ebd., Giornata quarta, Introduzione, Bd. 1, S. 361.

Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik

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schichten hätten sich nicht auf die erzählte Weise zugetragen«. 60 In jedem Falle läßt sich daraus entnehmen, daß der toposartige Vorwurf so aktuell ist wie eh und je. Zumindest in der poetischen Theorie - deren genaue Bestimmung freilich erst gestattet, ihren Einfluß auf die Praxis zu ermessen — bleibt im Frühhumanismus die mittelalterliche Forderung nach Veritas histórica vel philosophica — dies Boccaccios eigene Formel (s. o.) — unangefochten, und dabei steht die historische Wahrheit der philosophischen nicht nach. Es ist eben kein bloßes Kuriosum, daß Petrarca, Boccaccios bewunderter älterer Freund, ausgerechnet in seinem historischen Epos 'Africa' den Gipfelpunkt seines Schaffens erblickt, mit dem er die einst mit Daedalus nach Italien gekommenen, aber wieder entflohenen Musen hierher zurückzurufen glaubt. 61 N u r eine intensive Aristotelesrezeption hätte vermutlich eine andere Sicht der Dinge erlaubt, doch sie war den führenden Literaturtheoretikern der Zeit durch ihre antischolastische Haltung verbaut. Diese mochte auch Schuld daran tragen, daß sie sich nicht viel mehr als ihre antipoetischen Gegner um die 'Poetik' kümmerten. Engelbert von Admont hätte diese dagegen gewiß aufgegriffen, hätte er sie gekannt. O b er sie in derselben, eher einseitigen Weise wie dann die Poetiker der Hochrenaissance verstanden hätte, ist keineswegs gewiß. Daß diese, »was die Bindung des Fiktionalen an das Wahrscheinliche anbelangt, noch einmal hinter die mittelalterliche Position zurückgefallen« sind,62 wie Walter Haug mit Recht konstatiert, ist vermutlich nicht allein auf den Wortlaut der 'Poetik', sondern auch auf das Fortwirken der hier skizzierten platonisch-christlichen Literaturtheorie zurückzuführen. Die Kenntnis einer insgesamt stärker aristotelisch geprägten Position wie der Engelberts hätte da ein etwas anderes Ergebnis zeitigen können. Aber die Worte dieses einsamen Rufers, am falschen Ort an die falsche Adresse gerichtet, verhallten ungehört.

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61 62

Ebd., S. 362: Quegli che queste cose cosi non essere state dicono, avrei molto caro che essi recassero gli originali, li quali, se a quel che io scrivo discordanti fossero, giusta direi la loro riprensione, e d'amendar me stesso m'ingegnerei; ma infino che altro che parole non apparisce, io gli lascerò con la loro opinione, seguitando la mia, di loro dicendo quello che essi di me dicono. Vgl. Buck [Anm. 27], S. 75. Haug, Literaturtheorie [Anm. 1], S. 106.

U r s u l a Peters

Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur S c h w e r p u n k t e einer interdisziplinären Forschungsdiskussion

Während bis in die frühen 80er Jahre die Erforschung der gesellschaftsgeschichtlichen Einbindung der mittelalterlichen Literatur im Z e n t r u m eines kulturhistorischen Forschungsinteresses stand und der Hinweis auf textbestimmende überhistorische Themen, Verhaltensweisen und Einstellungen mit d e m Verdikt einer Suche nach sogenannten anthropologischen Konstanten belegt wurde, hat sich die Diskussion seit einigen Jahren grundlegend geändert. N u n bestimmen nicht mehr die großen zeitspezifischen gesellschaftsgeschichtlichen Problembereiche der mittelalterlichen Dichtung die literarhistorische Argumentation, etwa die Frage nach d e m sozialen Status der Autoren und ihres Publikums, die Auseinandersetzung u m ministerialisches bzw. adeliges Bewußtsein, die sog. Territorialisierung und ihre B e d e u tung für die Entstehung einer höfischen Literatur, 1 sondern eher Fragen nach der literarischen Verarbeitung genereller Lebenssituationen, unbewußter Verhaltensweisen und unartikulierter Einstellungen: die literarisch vermittelten Vorstellungen von Geschlechterrollen und Weiblichkeit, literarische U t o p i e n von Eltern-KindBeziehungen und Familienbindungen, literarische Bilder der Angst und Abgrenzung, Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen, Phantasmen der Sexualität und Aggression, der freien Liebe und gesellschaftlichen Normenüberschreitung. 2 Vgl. etwa die Gemeinschaftsarbeiten und Sammelbände: Dieter Richter (Hg.), Literatur im Feudalismus, Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 5); Winfried Frey u. a. (Hgg.), Einfuhrung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, 3 Bde., Opladen 1979-1981; Horst Wenzel (Hg.), Adelsherrschaft und Literatur, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1980 (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 6). 2 Vgl. etwa die neueren Sammelbände: Xenja von Ertzdorff / Marianne Wynn (Hgg.), Liebe — Ehe — Ehebruch in der Literatur des Mittelalters. Vorträge des Symposiums vom 13. bis 16. Juni 1983 am Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur der Justus Liebig-Universität Gießen, Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 58); Danielle Buschinger / André Crépin (Hgg.), Amour, mariage et transgressions au moyen âge. Actes du colloque des 24, 25, 26 et 27 mars 1983, Université de Picardie, Centre d'Etudes Médiévales, Göppingen 1984 (GAG 420); Ulrich Müller (Hg.), Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göppingen 1986 (GAG 440); Jeffrey Ashcroft u. a. (Hgg.), Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985, Tübingen 1987; Maria E. Müller (Hg.), Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. und 16. Jh.s, Weinheim/Basel 1988 (Ergebnisse der Frauenforschung 14) und neuerdings HansJürgen Bachorski (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991 (Literatur — Imagination - Realität 1). 1

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Ursula

Peters

Diese Verlagerung der mediävistischen Forschungsdiskussion von einer mehr oder weniger konkreten sozialgeschichtlichen Entzifferung der literarischen Texte auf die Rekonstruktion der ihnen zugrundeliegenden und sie implizit bestimmenden epochenspezifischen, aber eher langfristigen, weil vorbewußten affektiven Dispositionen der Menschen gegenüber Grundsituationen und -problemen des Lebens erfolgte in engem Kontakt mit einem speziellen Zweig der Geschichtswissenschaft: der in Frankreich seit 1945 erfolgreichen Nouvelle Histoire, die sich programmatisch von den singulären Ereignissen der politischen Fakten- und intellektuellen bzw. literarischen Geistesgeschichte löst und zunächst unter den Schlagworten histoire des mentalités,

n e u e r d i n g s e h e r anthropologie

b z w . ethnologie

historique

e i n e histoire

totale

der alltäglichen Gewohnheiten, der kollektiven Verhaltensweisen und Lebenshaltungen sozialer Gruppen wie auch der gruppenübergreifenden, vorbewußten und überdauernden Vorstellungsgeflechte und Einstellungen der Menschen anstrebt. 3 Bestimmend für dieses anspruchsvolle Konzept einer histoire totale ist eine dezidierte Interdisziplinarität: vornehmlich aufgrund der erweiterten Materialbasis, da neben den traditionellen historischen Quellen auch archäologische Funde, Alltagsgegenstände, Werke der Bildenden Kunst und literarischen Fiktion und damit auch die entsprechenden Disziplinen der Archäologie, der Volkskunde, der Kunst-, Sprach- und Literaturwissenschaft einbezogen werden; aber auch in methodischer Hinsicht, da eine Erforschung der kollektiven, langfristigen und unbewußten Orientierungen und Verhaltensweisen notwendigerweise eine Annäherung an Fragestellungen, Themenbereiche und Arbeitstechniken der Psychologie, Psychoanalyse und Ethnologie bzw. Anthropologie impliziert. Da es dieser historischen Richtung weniger um die Einzelpersönlichkeit als die kollektiven Dispositionen und gruppenspezifischen Vorstellungsgeflechte geht und mit den attitudes mentales nicht, zumindest nicht nur situationsspezifische Emotionen und Reaktionen, sondern eher generelle Haltungen und Reaktionsmechanismen der Menschen angesichts grundlegender Lebenssituationen gemeint sind, sind die Methoden und Forschungsergebnisse der Psychologie und Psychoanalyse nur sehr zurückhaltend, bestenfalls im Sinne einer vergleichbaren Suche nach dem verborgenen Unformulierbaren oder im Hinblick auf punktuelle Verhaltenserklärungen, aber nie grundsätzlich und auf breiter Basis rezipiert worden. U m so intensiver hat sich die Nouvelle Histoire jedoch um einen Dialog mit der Ethnologie bemüht, von deren Erfahrungen bei der Erforschung oraler Gesellschaften in ihrer sozialen Organisation, körpersprachlichen 3

Zur Programmatik dieser historischen Schule vgl. aus der Vielzahl der Darstellungen und Sammelbände: Claudia Honegger u. a. (Hgg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977 (edition suhrkamp 814); Michael Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die Annales, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 110); Robert Deutsch, »La Nouvelle Histoire« - die Geschichte eines Erfolgs, HZ 233 (1981), S. 107-129; Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987 (Wagenbachs Taschenbücherei 152) und vor allem die Selbstdarstellung: La Nouvelle Histoire. Sous la direction de Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revel, Paris 1978 (Les encyclopédies du savoir moderne). Teilübersetzung: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1990.

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Kommunikation und Mythenbildung sich das neue mediävistische Interesse an den kollektiven Einstellungen, archaischen Verhaltensweisen und magisch-rituellen Praktiken entscheidende methodische und sachliche Einsichten verspricht. Die wichtigsten >Gesprächspartner< waren Marcel Mauss mit seinen Arbeiten zum >totalen sozialen P h ä n o m e n s zur Anthropologie von Gabentausch und Körpertechniken und Claude Lévi-Strauss mit seinen weitausgreifenden Untersuchungen der elementaren Strukturen von Verwandtschaft und Familie, die — auch nach den Selbstaussagen der französischen Historiker — ganz entscheidend die historisch-anthropologisch orientierten Studien der Nouvelle Histoire mitgeprägt haben. 4 A m explizitesten und produktivsten haben in den letzten 2 0 Jahren die im U m kreis von Jacques Le Goff und Georges D u b y entstandenen Arbeiten die Möglichkeiten einer an ethnologischen Fragestellungen und Arbeitsmethoden orientierten historischen Anthropologie des Mittelalters erprobt und dabei in zahlreichen Detailuntersuchungen die Konturen eines >anderen< Mittelalters mit seinen alltäglichen Gewohnheiten, archaisch-paganen Glaubenspraktiken, vorbewußten Einstellungen und kollektiven Reaktionen der Menschen herausgearbeitet. Allerdings auf m e t h o disch und thematisch sehr unterschiedliche Weise: Jacques L e Goff verfolgt seit seinen im Jahre 1977 unter dem programmatischen Titel >Pour un autre M o y e n Age< zusammengefaßten Studien bis zu der nicht weniger programmatisch gemeinten Aufsatzsammlung >L'imaginaire médiéval· von 1985 5 konsequent und in den verschiedensten thematischen Konstellationen dieses >anderevolkstümlichen< Vorstellungsbereichen, seinen magischen Praktiken und geheimen Kulten. Georges D u b y hingegen entwirft - unter dem vieldiskutierten Stichwort histoire des mentalités — Perspektiven einer historischen R e konstruktion und Durchdringung des komplexen Zusammenhangs und Wechselspiels von politischem Handeln, gesellschaftlichen Verhaltensweisen, expliziten Ideologemen und affektiven Dispositionen, die er in programmatischen Studien zu berühmten Szenarien der faktischen wie intellektuellen Ereignisgeschichte des Mittelalters entfaltet: dem Gesellschaftsmodell der drei Ordnungen, der Schlacht von B o u vines, den aufsehenerregenden Eheskandalen französischer Königs- und Fürstenhäuser, der Ritterbiographie Wilhelm Marschalls. 6 Das Ergebnis dieser im weitesten Sinne anthropologisch orientierten B e m ü h u n gen der mediävistischen Nouvelle Histoire ist eine deutliche Zentrierung des historischen Interesses auf bestimmte Themenbereiche und Fragestellungen. Dabei zeichnen sich drei große Schwerpunkte ab: die Geschichte des Körpers, der familialen O r ganisation des Lebens und der Volkskultur, die in einem weitgespannten, die Alltäglichkeit der Gewohnheiten, aber auch die Spezifität ideologischer Konzepte umfassenden Umkreis erforscht werden. 7 Da diese Themenkreise auch in der literarhistorischen Diskussion der letzten Jahre eine zunehmende Rolle spielen, lassen sich an ihnen die literarhistorische Bedeutung, die möglichen Perspektiven und m e t h o dischen Probleme dieses neuen historisch-anthropologischen Forschungsinteresses erörtern. Im Umkreis des Themenbereichs Körper/Körperlichkeit hat die Nouvelle Histoire entsprechend ihrer Nähe zur Historischen Demographie bislang die intensivsten Forschungsaktivitäten entfaltet, die ein thematisch weit ausdifferenziertes Feld abdecken: mit ganz unterschiedlichen Arbeiten zur Ernährung, zu den E ß g e w o h n heiten, Hungersnöten und Mortalitätsraten mittelalterlicher Bevölkerungsgruppen, zu ihrem Verhalten angesichts der grundlegenden Lebenssituationen von Geburt, Krankheit und Tod, zu den Ausdruckssystemen von Gestikulation, Gebärdensprache und körperlicher Repräsentation, zu dem Wandel von Körpergefuhl und Sexualverhalten, zur Rolle kirchlicher Sexualitätsverbote und gesellschaftlicher Körpertabus im Mittelalter. Dieser thematischen Vielfalt entspricht auch in methodischer Hinsicht ein breites Spektrum: von demographischen Untersuchungen zu den Verbindungen von Klimaschwankungen, Anbaumethoden, Bevölkerungswachstum und Eßgewohnheiten, 8 über zivilisationstheoretische Überlegungen zu Veränderun6

Georges Duby, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme (1978). Dt.: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a. M. 1981; ders., Le dimanche de Bouvines. 27 juillet 1214 (1973). Dt.: Der Sonntag von Bouvines. 27. Juli 1214, Berlin 1988; ders., Le chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale (1981). Dt.: Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, Frankfurt a. M. 1988 (suhrkamp taschenbuch 735); ders., Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde (1984). Dt.: Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter, Frankfurt a. M. 1986. 7 Zu diesen Themenschwerpunkten einer historischen Anthropologie vgl. die Darstellungen von Burguière [Anm. 4], Le Goff, L'Histoire et l'homme quotidien [Anm. 4] und Erbe, Historisch-anthropologische Fragestellungen [Anm. 4]. 8 Vgl. vor allem die bei Burguière [Anm. 4], S. 75—80, aufgeführten Arbeiten aus dem U m kreis der Annales.

Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur

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gen des Verhaltens im Bereich von körperlicher Hygiene, Körperkontakten und Schamschwellen, 9 mentalitätshistorische Untersuchungen der sich wandelnden Einstellungen zu Sexualität, Liebe und Ehe 1 0 und diskursanalytische Überlegungen zum quantitativen und qualitativen Wandel des Sprechens über Sexualität und K ö r p e r lichkeit 11 bis zu dem Versuch einer an Marcel Mauss' Arbeit über die Körpertechniken anknüpfenden systematischen Erschließung der verschiedenen

Repräsenta-

tionssysteme des Körperlichen, der differenzierten Zeichensysteme von Gestikulation und Körpersprache, auf die sich neuerdings eine spezielle Arbeitsgruppe der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, die Groupe d'anthropologie historique de l'Occident médiéval, konzentriert. 1 2 Für die Literaturgeschichte ist diese Erforschung der Geschichte des Körpers von unterschiedlicher Relevanz. W ä h r e n d die demographisch orientierten Arbeiten zu den materiellen Lebensbedingungen und -Situationen im Mittelalter dem Literarhistoriker zwar wertvolle Informationen bieten, aber nur sehr vermittelt entscheidende Probleme des Textverständnisses betreffen, zielt die historische Diskussion u m Schamgrenzen, Sexualität und Körpersprache auf einen zentralen Themenbereich der mittelalterlichen Literatur: die literarische Signifikanz des Körpers, die lange Zeit in der literarhistorischen Diskussion wenig beachtet worden ist, in den letzten Jahren jedoch — in den Fragekomplexen Sexualität, weiblicher Körper und Repräsentationssysteme des Körpers - ganz neue Dimensionen gewonnen hat. 9

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Grundlegend ist hier natürlich die 1939 erstmals publizierte Arbeit von Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Frankfurt a. M. 2 1976, die in Frankreich erst im Jahre 1973 unter dem Titel >La civilisation des moeurs< erschienen ist, dann — vornehmlich im Umkreis der Annales — vehement rezipiert und in die verschiedensten Richtungen weitergeführt wurde. Ergebnis dieses zivilisationstheoretischen Interesses ist u. a. die Arbeit von Georges Vigarello, Le propre et le sale (1985). Dt.: Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt a. M./New York 1988. Vgl. etwa Jean-Louis Flandrin, L'Eglise et le contrôle des naissances, Paris 1970 (Questions d'Histoire 23); ders., Mariage tardif et vie sexuelle: Discussions et hypothèses de recherche, Annales E. S. C. 27 (1972), S. 1351-78; ders., Repression and Change in the Sexual Life o f Young People in Medieval and Early Modern Times, Journal o f Family History 2 (1977), S. 196-210; ders., Le sexe et l'Occident. Evolution des attitudes et comportements, Paris 1981 (Univers Historique); Duby, Ritter, Frau und Priester [Anm. 6]; Philippe Ariès / André Béjin (Hgg.), Sexualités occidentales (1982). Dt.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt a. M. 1984; Jean-Louis Flandrin, Un temps pour embrasser. Aux origines de la morale sexuelle occidentale ( V P - X P siècle), Paris 1983; L'amour et la sexualité, Paris 1984 (L'Histoire 63); Danielle Jacquart / Claude Thomasset, Sexualité et savoir médical au moyen âge, Paris 1985 (Les chemins de l'Histoire); Jacques Rossiaud, La prostitution médiévale (1988). Dt.: Dame Venus. Prostitution im Mittelalter, München 1989; Georges Duby, Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, Berlin 1989. Vor allem Michel Foucault, Histoire de la sexualité (1976-1984). Dt.: Sexualität und Wahrheit, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1977—1986, und in Anlehnung an Foucault Marie-Claude Derouet-Besson, >Inter duos scopulosKuß< bietet neuerdings Klaus Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (Osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Hedda Ragotzky und Horst Wenzel (Hgg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 89-132. 23

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Vgl. neben den Hinweisen von Le Goff [Anm. 12] die ersten Ergebnisse von Jean-Claude Schmitt, Gestus — gesticulatio. Contribution à l'étude du vocabulaire latin médiéval des gestes, in: La lexicographie du latin médiéval et ses rapports avec les recherches actuelles sur la civilisation du Moyen Age, Paris 1981, S. 377—390; ders., Le faire et le dire: vers une anthropologie des gestes iconiques, in: ders. (Hg.), Gestures, London 1984 (History and Anthropology 1, 1984/85, Heft 1), S. 1-23; ders., La raison des gestes dans l'Occident médiéval, Paris 1990; ders., The Ethics o f Gesture, in: Feher, Fragments [Anm. 20], Part Two, S. 129-147. Vgl. etwa die zusammenfassende Darstellung der fOix-Problematik in Paul Zumthor, La poésie et la voix dans la civilisation médiévale, Paris 1984 (Collège de France. Essais et Conférences), aus der das folgende Zitat stammt, sowie die übergreifende Arbeit: La lettre et la voix. De la »littérature« médiévale, Paris 1987. Vgl. den Forschungsüberblick bei Claudia Händl, Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 16 ff.

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Kreuzlied M F 218,5 2 6 war allerdings der Gedanke einer nonverbalen Verständigungs- und Sinnebene kaum noch an Texten bzw. in der Textanalyse konkretisiert worden. Neue Impulse für eine generelle Diskussion dieses Problems sind schließlich von der Mündlichkeit-Schriftlichkeit- bzw. der Text-Bild-Forschung ausgegangen, die sich zunehmend auf den Aspekt der körperlichen Kommunikation im mittelalterlichen Literaturvortrag konzentriert, dabei - wie etwa Sylvia Huot — bildliche und literarische Zeugnisse im Umkreis des Themenspektrums Gebärdensprache und Literaturrezeption zusammenstellt27 oder — wie Horst Wenzel - einen Zusammenhang zwischen der Bedeutung körperlicher Kommunikation in der mittelalterlichen Erziehung und der didaktischen Visualisierung von Inhalten in der Literatur sieht und auf diese Weise das für den mittelalterlichen Literaturbetrieb charakteristische Zusammenspiel von körperlicher Kommunikation, mündlichem Literaturvortrag, schriftlicher Buchkultur und Didaxe in den Blick rückt. 28 Schon diese ersten Versuche, die noch punktuell, von ganz unterschiedlichen methodischen Ansätzen her das thematische Umfeld nonverbaler Kommunikation in ihrer Bedeutung für die Wirkungsweise und Sinnerschließung mittelalterlicher Literatur abschreiten, erweisen die Fruchtbarkeit dieses neuen anthropologisch orientierten Interesses der Literaturgeschichte an der >Kommunikation der Körper< im Mittelalter. Eine systematische Erschließung ihrer literarhistorischen Bedeutung ist allerdings noch nicht in Sicht: es fehlen nicht nur fachübergreifende Forschungsreferate, die die unübersichtliche, in den unterschiedlichsten Disziplinen und oft auch abseits der üblichen Fachzeitschriften ausgetragene Diskussion zusammenstellen und kritisch auf ihre Relevanz für literarhistorische Fragenkomplexe überprüfen, sondern auch inhaltliche Bestimmungen und Eingrenzungen eines spezifisch literarhistorischen Interesses an diesem Themenumkreis. Die literarhistorische Forschung bewegt sich bislang zwischen den Extrempositionen punktueller Erforschung in der Auflistung bedeutungstragender Gebärden bzw. in Einzelinterpretationen gestischer Ausdrucksszenen und weitausgreifender poetologischer Überlegungen zur Körperlichkeit mittelalterlicher Textpräsentation und -Vermittlung. Die gesamte Zwischenschicht eines anthropologischen Blicks für die explizite Körperthematik mittelalterlicher Texte ist dabei noch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Es fehlen übergreifende Untersuchungen etwa zur Rolle des Körpers in der höfischen Dichtung, zur spezifischen Körperlichkeit höfischen Verhaltens, zum Zusammenspiel von körperlicher und verbaler Kommunikation, zu den körperlichen Implikationen des höfischen Sprechens, zum Bedeutungssystem des von Jacques Le Goff an Chrestiens Erecroman vorgeführten »code alimentaire et vestimentaire«29 in den höfischen R o -

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Hugo Kuhn, Minnesang als Aufführungsform, in: ders., Text und Theorie, Stuttgart 1969, S. 182-190. Vgl. Sylvia Huot, From Song to Book. The Poetics o f Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry, Ithaca/London 1987, hier vor allem S. 83 ff., 135 ff. Horst Wenzel, Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am H o f und in der höfischen Literatur, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 750), S. 178-202. Jacques Le Goff, Quelques remarques sur les codes vestimentaire et alimentaire dans 'Erec et

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manen, die auf der Darstellungsebene der Texte die repräsentative und bedeutungstragende R o l l e des Körpers verfolgen. In diesem Sinne bietet der Themenbereich Körper/Körperlichkeit der literarhistorischen Forschung eine Fülle noch kaum beachteter Fragestellungen, deren systematische Erörterung zu neuen Einsichten in die spezifische Wirkungsintention der höfischen Dichtung fuhren wird. Demgegenüber gehört Familie und Verwandtschaft, der zweite Themenschwerpunkt der historischen Anthropologie, bereits seit langem zu den etablierten F o r schungsgegenständen nicht nur der Ethnologie, sondern auch der Geschichtswissenschaft, die mit der historischen Familienforschung sogar über eine Art Spezialdisziplin fur die Erforschung der historischen Vorformen der neuzeitlichen Kernfamilie Westeuropas verfugt. 3 0 In der Nouvelle Histoire hat das T h e m a famille et parenté, v o r allem im Bereich der Mediävistik und Frühneuzeitforschung, sogar einen besonderen Platz als Grundkategorie der gesellschaftlichen Organisation, deren Erforschung - im Gegenzug gegen materialistische Deutungsmodelle - neue und bessere Einsichten in die Epocheneinteilung der vorindustriellen Gesellschaft, in die Hintergründe gesellschaftlicher Antagonismen, die Antriebskräfte religiöser und politischer B e w e g u n gen und schließlich auch in die Entstehung bestimmter Ideologeme über Frau, J u gend, Liebe und Ehe in der Literatur verspricht. 3 1 Dementsprechend wird schon seit

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Enide' (1982). Dt.: Kleidungs- und Nahrungskode und höfischer Kodex in Erec und Enide, in: ders., Phantasie und Realität [Anm. 5], S. 201-217, 386-390. Aus der umfangreichen Literatur zur historischen Familienforschung vgl. die übergreifenden Darstellungen und Gemeinschaftsarbeiten: Peter Laslett / Richard Wall (Hgg.), Household and family in past time. Comparative studies in the size and structure o f the domestic group over the last three centuries in England, France, Serbia, Japan, and colonial North America, with further materials from Western Europe, with an analytical introduction on the history of the family, Cambridge 1972; Edward Shorter, The Making of the Modern Family (1975). Dt.: Die Geburt der modernen Familie, Reinbek 1977; Karin Hausen, Familie als Gegenstand historischer Sozialwissenschaft. Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie, Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 171-209; dies., Historische Familienforschung, in: Reinhard Rürup (Hg.), Historische Sozialwissenschaft, Göttingen 1977, S. 59-95; Michael Mitterauer / Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977 (Beck'sche Schwarze Reihe 158); Hans R e i f (Hg.), Familien in der Geschichte, Göttingen 1982; Michael Mitterauer / Reinhard Sieder (Hgg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a. M. 1982 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 387); Richard Wall u. a. (Hgg.), Family Forms in Historie Europe, Cambridge/ New York 1983; Jack Goody, The Development o f the Family and Marriage in Europe (1983). Dt.: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986; David Herlihy, Medieval Households, Cambridge, Mass. 1985; Martine Segalen, Historical Anthropology o f the Family, Cambridge 1987; Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987. Dieses spezielle Interesse der Nouvelle Histoire fur Familie und Verwandtschaft im Mittelalter zeigt sich in themengebundenen Heften der Annales, in Tagungsbänden und Gemeinschaftsarbeiten wie: Georges Duby / Jacques Le Goff (Hgg.), Famille et parenté dans l'Occident médiéval, R o m 1977 (Collection de l'Ecole Française de R o m e 30); Philippe Ariès / Georges Duby (Hgg.), Histoire de la vie privée, Tome 2: De l'Europe féodale à la Renaissance (1985). Dt.: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, Frankfurt a. M. 1990; André Burguière u. a. (Hgg.), Histoire de la famille. 1. Mondes lointains, mondes anciens, Paris 1986.

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einigen Jahren i m U m k r e i s der Zeitschrift Annales b z w . der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in sehr unterschiedlicher methodischer Ausrichtung systematisch und kontinuierlich das historische u n d ideologische U m f e l d v o n Familie und Verwandtschaft abgeschritten: Übergreifend-programmatische Studien informieren über die historische Entwicklung u n d Strukturmerkmale mittelalterlicher Familienorganisation, 3 2 demographisch orientierte serielle Reihenuntersuchungen verfolgen auf der Basis einer Vielzahl v o n Daten der Geburts- und Taufregister, der Testamente u n d Kataster für die sogenannte Schwellenzeit des 16. bis 18. Jahrhunderts die Veränderungen in der familialen Organisation, i m Verhalten u n d den Einstellungen einzelner sozialer Gruppen gegenüber grundlegenden Lebenssituationen der Familie. 33 Ethnologisch orientierte Arbeiten konzentrieren sich h i n g e g e n in methodischer und terminologischer A n l e h n u n g an Claude Lévi-Strauss' Thesen zu den Interdependenzregeln verwandtschaftlicher Relationen auf die verhaltensprägende B e deutung elementarer Verwandtschaftsstrukturen. 3 4 U n d schließlich steht in einer R e i h e mentalitätsgeschichtlicher Arbeiten in der N a c h f o l g e v o n Philippe Ariès' Kindheits-Buch auf der Basis u n d am Beispiel literarischer Familienaufzeichungen und künstlerischer Familiendarstellungen der Aktions- und Emotionsraum der Familie i m Mittelpunkt des Interesses: das Beziehungsgeflecht v o n generativem Verhalten, Eltern-Kind-Konstellationen, Generationskonflikten, Heiratsstrategien und Erbregelungen in seiner historischen Entwicklung. 3 5 32

Georges Duby, Structures familiales aristocratiques en France du XI e siècle en rapport avec les structures de l'Etat (1968), wieder in: ders., Mâle moyen âge. De l'amour et autres essais, Paris 1988, S. 139—146; Jean-Louis Flandrin, Familles. Parenté, maison, sexualité dans l'ancienne société (1976). Dt.: Familien. Soziologie - Ökonomie — Sexualität, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1978; Georges Duby, Structures familiales dans le moyen âge occidental (1970), wieder in: ders., Mâle moyen âge, S. 129—138; Robert Fossier, Les structures de la famille en occident au moyen-âge, in: Congrès International des Sciences Historiques. Bukarest 1980, Rapports II, S. 115-132; Christiane Klapisch-Zuber, La famille médiévale, in: Jacques Dupâquier / Jean-Noel Biraben (Hgg.), Histoire de la population française. I. Des origines à la renaissance, Paris 1988, S. 463-511. 33 So etwa die bereits in Anm. 10 genannten Arbeiten von Jean-Louis Flandrin zu Sexualität und Heiratsverhalten; vgl. auch André Burguière, De Malthus à Max Weber: le mariage tardif et l'esprit d'entreprise, Annales E. S. C. 27 (1972), S. 1128-38 oder Michel Vovelle, La mort et l'occident de 1300 à nos jours, Paris 1983. 34 Vgl. etwa Pierre Maranda, French Kinship. Structure and History, La Hague/Paris 1974 (Janua Linguarum Series Practica 169); Marc Augé (Hg.), Les domaines de la parenté. Filiation, alliance, résidence, Paris 1975 (Dossiers africains. Ecoles des Hautes Etudes en Sciences Sociales); J. E. Ruiz Domenec, Système de parenté et théorie de l'alliance dans la société catalane (env. 1000 - env. 1240), Revue historique 532 (1979), S. 305-326; Anita Guerreau-Jalabert, Sur les structures de parenté dans l'Europe médiévale, Annales E. S. C. 36 (1981), S. 1028—49; Emmanuel Terray, Sur l'exercice de la parenté (Note critique), Annales E. S. C. 41 (1986), S. 259-270. 35 Philippe Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime (1966). Dt.: Geschichte der Kindheit, München 1975; Robert Muchembled, Famille et histoire des mentalités (XVI e XVIII e siècles). Etat présent des recherches, Revue des Etudes Sud-Est Européennes 12 (1974), S. 349-369; Marie-Thérèse Lorcin, Façons de sentir et de penser. Les fabliaux français, Paris 1979; Doris Desdáis Berkvam, Enfance et maternité dans la littérature française des XII e et XIII e siècles, Paris 1981 sowie die perspektivenreichen, sich teilweise überschneidenden Aufsatzsammlungen von Christiane Klapisch-Zuber, Women, Family and Ritual in

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Von besonderer Bedeutung sind für die mediävistische Diskussion die Arbeiten von Georges Duby, der seit 25 Jahren die nordfranzösische Adelsfamilie des Mittelalters von den verschiedensten Seiten umkreist: in prosopographischen Untersuchungen zur wirtschaftlichen Basis adeliger Herrschaften, zur Ehepraxis und Erbregelung, in sozialgeschichtlichen Analysen des komplizierten Verhältnisses von Adel und Rittertum, Familienverband und Geschlecht, der Rolle der seniores, der Stellung der jüngeren Söhne und adeligen Frau im Familienverband, in Arbeiten zum adeligen Familienbewußtsein und genealogischen Denken, in Studien zur Heiratspolitik, kanonistischen Ehelehre und feudaladeligen Heiratsmustern und schließlich in sozialpsychologischen Überlegungen zu den Heiratsphantasien, Integrationswünschen der juvenes, ihren Aggressionsneurosen und sozialen Ängsten. 36 Und im Gegensatz zu den seriellen Datenreihen demographischer Familienuntersuchungen etwa zu Schwangerschaftsabfolgen und Mortalität, Heiratsverhalten und Familienpolitik, unehelichen Geburten und Kindstötungen stützt sich Duby mit Vorliebe auf die Aussagekraft singulärer narrativer Texte, auf Genealogien, Chronikberichte, Biographien und dichterische Werke, die mit ihren spärlichen Angaben über berühmte Vorfahren, ihren juristischen Notizen über aufsehenerregende Ehe-Skandale, ihren biographischen Berichten über die Jugend von Fürstensöhnen, ihren literarischen Utopien von Familienwünschen und Liebesehen sowohl den kurzfristigen gesellschaftlichen Wandel als auch die langfristigen Verhaltens- und Einstellungsänderungen kommentierend und antizipierend begleiteten und deshalb dem Familienhistoriker, der sich für das Zusammenspiel von gesellschaftlicher Lebenswelt, normativen Vorstellungen und geheimen, die Wirklichkeit überschreitenden Wunschwelten interessiert, signifikante Informationen über die mit dem Thema famille et parenté verbundenen Einstellungen und Reaktionsweisen der Menschen bereitstellten: die Genealogien nordfranzösischer Fürstenhäuser etwa über die Ausbildung agnatischer, auf einen Spitzenahn und einen Herrschaftssitz ausgerichteter Adelsgeschlechter mit einem ausgeprägten Bewußtsein von ihrer Abstammungsgemeinschaft, 37 die juristischen Dokumente zu den Ehe-Prozessen etwa über den Widerstreit kirchlicher und feudaladeliger Auffassungen von adeliger Familienpolitik und Ehepraxis, 38 die Ritterbiographie des englischen Aristokraten Wilhelm Marschall über das ungebärdige Auftreten jugendlicher Fürsten und ihrer Begleiter, die Einstellung des Hochadels zur Kirche, den Frauen und Kindern 39 und schließlich die höfische Liebes- und

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Renaissance Italy, Chicago/London 1985 und La maison et le nom. Stratégies et rituels dans L'Italie de la Renaissance, Paris 1990 (Civilisations et Sociétés 81). Neben den bereits Anm. 6 genannten Arbeiten von Georges Duby vgl. seine >Familienstudien< in den Sammelbänden: Hommes et structures au moyen âge. Recueil d'articles, Paris 1973; ders., Mâle moyen âge [Anm. 32]; ders., Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalters, Berlin 1986. Vgl. Georges Duby, Remarques sur la littérature généalogique en France aux XI e et XII e siècles (1967), wieder in: ders., Hommes et structures [Anm. 36], S. 287-298; ders., Structures familiales [Anm. 32]. Duby, Ritter, Frau und Priester [Anm. 6]. Georges Duby, Les »jeunes« dans la société aristocratique dans la France du Nord-Ouest au XIP siècle (1964). Dt.: Die Jugend in der aristokratischen Gesellschaft, in: ders., Wirklichkeit und höfischer Traum [Anm. 36], S. 103-116, 171-173 sowie ders., Guillaume le Maréchal [Anm. 6].

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Abenteuerdichtung über verdeckte Verwandtschaftsphantasien und herrschaftliche Heiratswünsche der von der strikten Familien- und Ehepolitik des Adels empfindlich betroffenen nachgeborenen Söhne. 40 Auch die Literarhistoriker beteiligen sich seit einigen Jahren an dieser Diskussion der historischen Familienforschung, auch sie in unterschiedlicher sachlicher und methodischer Ausrichtung: In psychoanalytisch bzw. psychohistorisch orientierten Arbeiten werden auffallende Eltern-Kind-Beziehungen, Vater-Sohn-Konflikte, Inzestdarstellungen, problematische Familientableaux der literarischen Texte als Versuche der literarischen Bewältigung komplizierter Familienkonstellationen gedeutet,41 in strukturalistischen Arbeiten hingegen die Familien- bzw. Verwandtschaftsthemen Uterarischer Texte im Hinblick auf die in der strukturalen Anthropologie erforschten verwandtschaftlichen Interdependenzregeln von Filiation und Allianz analysiert: etwa die Dominanz der mütterlichen Verwandtschaft im 'Parzival', die auffallende Verteilung von affektiven Onkel-Neffen-, problematischen Bruder-Schwester- und komplizierten Vater-Sohn-Beziehungen in den Chansons de geste und den höfischen Romanen, die Regeln von Exogamie und Endogamie in den literarischen Ehedarstellungen.42 Die größte Resonanz haben allerdings in der Literaturgeschichte Georges Dubys Familienuntersuchungen gefunden: seine Darstellung der allmählichen Entwicklung adeliger Sippen des Frühmittelalters zu eng geschlossenen, patri40

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Georges D u b y , Q u e sait-on de l ' a m o u r en France au XII e siècle? (1983). Dt.: Was w e i ß m a n über die Liebe im Frankreich des 12. Jahrhunderts?, in: ders., Die Frau o h n e S t i m m e [ A n m . 10], S. 33-51; ders., A p r o p o s de l ' a m o u r que l'on dit courtois (1986). Dt.: Ü b e r die höfische Liebe, ebendort, S. 81—90; ders., Le modèle courtois, in: ders. et Michelle Perrot (Hgg.), Histoire des f e m m e s en occident, Bd. 2: Le M o y e n Age. Sous la direction de Christiane Klapisch-Zuber, Paris 1991, S. 261-276. Vgl. etwa neben Beiträgen der in A n m . 2 a n g e f ü h r t e n S a m m e l b ä n d e R o l f Endres, M i n d e r wertigkeit, Geltungsproblem u n d Gemeinschaftsgefühl in Texten W o l f r a m s v o n Eschenbach, in: R ü d i g e r K r o h n u . a . (Hgg.), Stauferzeit, Geschichte, Literatur, Kunst, Stuttgart 1978, S. 377—398; Danielle Buschinger, Das Inzest-Motiv in der mittelalterlichen Literatur, in: K ü h n e l u. a. (Hgg.), Psychologie in der Mediävistik [ A n m . 14], S. 107—140; T h e l m a S. Fenster, T h e Family R o m a n c e of A y e d ' A v i g n o n , R o m a n c e Q u a r t e r l y 33 (1986), S. 11—22; W i l h e l m E.Jackson, Das M ä r e v o m Helmbrecht als Familiengeschichte, E u p h o r i o n 84 (1990), S. 45-58. Aus der Vielzahl v o n Arbeiten, die terminologisch u n d inhaltlich m e h r oder weniger direkt an Lévi-Strauss a n k n ü p f e n , vgl. D o n a l d L. M a d d o x , Kinship Alliances in the Cligès of Chrétien de Troyes, L'Esprit Créateur 12,1 (1972), S. 3 - 1 2 ; W o l f g a n g Busse, V e r w a n d t schaftsstrukturen im 'Parzival', W o l f r a m - S t u d i e n 5 (1979), S. 116-134; Karl Bertau, Versuch über Verhaltenssemantik v o n Verwandten i m 'Parzival', in: K. B., W o l f r a m v o n Eschenbach. N e u n Versuche über Subjektivität u n d Ursprünglichkeit in der Geschichte, M ü n c h e n 1983, S. 190-240; Elisabeth Schmid, Familiengeschichten u n d Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen u n d deutschen G r a l r o m a n e n des 12. u n d 13. Jahrhunderts, T ü b i n g e n 1986 (Beihefte zur Z f r P h 211); J e a n - G u y Gouttebroze, Famille et structures de la parenté dans l ' œ u v r e de Chrétien de Troyes, E u r o p e 60, N r . 642 (1982), S. 77-95; M a r i o Mancini, Aiol et l ' o m b r e du père, in: VIII. Congrès International de la Société Rencevals, P a m p l o n a 1981, S. 305—311, eine R e i h e v o n Beiträgen des S a m melbands: Les relations de parenté dans le m o n d e médiéval, A i x - e n - P r o v e n c e 1989 (Senefiance 26) sowie Walter Delabar, Erkantiu sippe u n t hoch geselleschaft. Studien zur F u n k tion des Verwandtschaftsverbandes in W o l f r a m s v o n Eschenbach Parzival, G ö p p i n g e n 1990 ( G A G 518).

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Literatur

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linear-agnatisch ausgerichteten hochmittelalterlichen Adelsfamilien, die — eine positive Konsequenz dieser Umstrukturierung - ein ausgeprägt genealogisches Geschlechtsbewußtsein zeigten, zugleich aber - negativ — mit ihren strikten Erb- und Heiratsregelungen eine Gruppenbildung innerhalb des Familienverbands bewirkten, einen Gegensatz zwischen den älteren Söhnen als den Herrschaftsträgern und den von der Herrschaft ausgeschlossenen jüngeren Söhnen, den juvenes. In der literarhistorischen Diskussion sind beide Seiten des Dubyschen Familienbildes präsent: Einerseits wird die große Bedeutung der lignage-Themztik für die mittelalterliche Literatur herausgestellt, die literarische Glorifizierung von agnatischer Verwandtschaft und Primogenitur, von Geschlechtsdenken und erblicher Herrschaft in der höfischen Dichtung, die in historischer Anbindung als geschlechtermythologische Genealogie oder ancestral romance, im fiktionalen Kontext als roman de lignage bzw. Enfances die Konstituierung hochmittelalterlicher Adelsgeschlechter begleitet habe.43 Andererseits werden die von Duby angesprochenen Schattenseiten der hochmittelalterlichen Adelsfamilie in ihren literarischen Spuren verfolgt: die literarische Verarbeitung von Familienkonflikten, Generationsproblemen und Erbauseinandersetzungen, die literarische Problematisierung familialer Heiratsstrategien, die Stimmen der Jeunes, der herrschaftslosen Adelssöhne als den Opfern streng geschlechtsbezogener Familienpolitik. 44 Die gesellschaftsgeschichtliche Interpretation mittelalterlicher Dichtung ist jedenfalls in den letzten Jahren zunehmend zur familiengeschichtlichen Argumentation im Sinne von Dubys Diktum geworden, daß die hochmittelalterliche Adelsfamilie bzw. der Prozeß der Herausbildung der hochmittelalterlichen Adelsgeschlechter als eine Art Grundprinzip der mittelalterlichen Gesellschaft sämtliche gesellschaftlichen Bereiche durchdringe, die wichtigsten gesellschaftlichen Antagonismen steuere und insofern auch die volkssprachige Adelsliteratur auf vielfältige Weise bestimme. Der Romanist Howard Bloch geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht im genealogischen Denken des Mittelalters die allen Äußerungsformen inhärente Bewußtseinskategorie, die zentrale Denk- und Lebensbereiche durchdrin-

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Vgl. die Arbeiten von Friedrich Wolfzettel, Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik I.II., ZffSL 83 (1973), S. 3 1 7 - 3 4 8 ; 84 (1974), S. 1 - 3 2 ; ders., Idéologie chevaleresque et conception féodale dans Durmart le Gallois: l'altération du schéma arthurien sous l'impact de la réalité politique du XIII e siècle, in: Actes du 14 e Congrès International Arthurien Rennes, 16—21 Août 1984. T o m e premier, Rennes o . J . , S. 6 6 8 - 6 8 6 ; R e n é Perennec, Artusroman und Familie: Daz welsche buoch von Lanzelete, Acta Germanica 11 (1979), S. 1—51; ders., Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XII e et XIII e siècles, 2 Bde., Göppingen 1984 (GAG 393); Alfred Ebenbauer, W i g a m u r und die Familie, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposiums der deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft v o m 10. bis 13. N o v e m b e r 1983, Gießen 1984, S. 28—46, und Marie-Louise Chênerie, Le chevalier errant dans les romans arthuriens en vers des XII e et XIII e siècles, Genève 1986 (Publications romanes et françaises 177).

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So etwa a m Beispiel ganz unterschiedlicher Texte Helmut Brall, Gralsuche und Adelsheil. Studien zu Wolframs Parzival, Heidelberg 1983 (Germanistische Bibliothek. 3. Reihe: Untersuchungen), hier S. 107 ff.; Marie-Gabrielle Garnier-Hausfater, Mentalités épiques et conflits de générations dans le cycle de Guillaume d'Orange, Le Moyen Age 93 (1987), S. 17—40; Jeffrey Ashcroft, Als ein wilder valk erzogen. Minnesang und höfische Sozialisation, in: Konzepte der Liebe im Mittelalter, LiLi 19 (1989) Heft 74, S. 5 8 - 7 4 .

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ge: die etymologische Sprachtheorie ebenso wie Literatur, Familienbewußtsein und Verhaltensformen des Adels. 4 5 Selbst wenn man diese Extremposition nicht teilt, so zeigt sich doch, daß die literarhistorische Forschung der letzten Jahre mit ihrer familiengeschichtlichen Orientierung neue W e g e einer gesellschaftsgeschichtlichen Funktionsbestimmung der mittelalterlichen Literatur eingeschlagen hat, die eine wichtige Seite der Adelsliteratur in den Blick rücken und i m ganzen erfolgversprechend sind. Allerdings unter der Voraussetzung, daß klarer, als es bisher geschehen ist, zwischen historischempirischer Rekonstruktion und thematisch-ideologischer Deutung unterschieden wird. A u f der Ebene einer empirisch-institutionellen Anbindung mittelalterlicher Texte an historische Adelsfamilien und ihr Geschlechtsbewußtsein müßte sich die familiengeschichtliche Argumentation auf Fragen nach dem Status der mittelalterlichen Literatur als adelige Hausüberlieferung, als literarisches Selbstzeugnis adeligen Familienwissens, als spielerisch-fiktionaler E n t w u r f historischer Familiengeschichte konzentrieren. Betroffen sind davon historische wie literarische >FamilientexteStifterchronik< zusammengestellten historischen Texte im Sinne von Gerd Althoffs Insistieren auf den > Anlässen« der schriftlichen Fixierung von Familiengeschichte auf ihren Charakter als adelige Familienüberlieferung zu überprüfen 4 7 und schließlich auch die volkssprachigen ancestral romances des anglonormannischen Bereichs, die geschlechtermythologischen R o m a n e des Typs Lohengrin oder Melusine kritisch in ihrer funktionalen Ausrichtung auf das Selbstverständnis und Familienwissen der ange-

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R . Howard Bloch, Etymologies et généalogies: théories de la langue, liens de parenté et genre littéraire au XIII e siècle, Annales E. S. C. 36 (1981), S. 946-962; ders., Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology o f the French Middle Ages, Chicago 1983; ders., Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form, in: Ursula Link-Heer / Peter-Michael Spangenberg (Hgg.), La littérature historiographique des origines à 1500, Tome 1 (Partie historique), Heidelberg 1986 ( G R L M A XI, 1), S. 135-156. Karl Hauck, Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter von Adelssatiren des 11. und 12. Jahrhunderts her erläutert (1951), wieder in: Walther Lammers (Hg.), Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1959, Darmstadt 1965 (Wege der Forschung 21), S. 165199. Zum Problem der Nibelungentradition als Hausüberlieferung vgl. Reinhard Wenskus, Wie die Nibelungen-Überlieferung nach Bayern kam, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36 (1973), S. 393-449 sowie Wilhelm Stornier, Nibelungentradition als Hausüberlieferung in frühmittelalterlichen Adelsfamilien? Beobachtungen zu Nibelungennamen im 8./9. Jahrhundert vornehmlich in Bayern, in: Fritz Peter Knapp (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, Heidelberg 1987, S. 1-20. Gerd Althoff, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstverständnisses, Z G O 134 (1986), S. 34-46; zur Problematik des Begriffs der Hausüberlieferung ders., Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde und andere Beispiele, in: Michael Borgolte / Herrad Spilling (Hgg.), Litterae Medii Aevi (Fs. Johanne Autenrieth), Sigmaringen 1988, S. 117-133, hier S. 120f. und genereller ders., Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, hier S. 67-77.

Historische

Anthropologie

und mittelalterliche

Literatur

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sprochenen adeligen Geschlechter zu untersuchen. Dabei w i r d m a n mit sehr unterschiedlichen Intentionen u n d Möglichkeiten der Ausgestaltung rechnen müssen: v o n der Verschriftlichung mündlicher Traditionen der Adelsfamilie, der panegyrischen R e k o n s t r u k t i o n fürstlicher Genealogien bis zu zielgerichtet-polemischen Familienanekdoten oder fiktionalen Geschlechtermythologien historischer Adelsfamilien. Erst auf der Basis dieses breiten Spektrums unterschiedlich motivierter Konstruktionen von Familienwissen ließe sich genereller auch die R o l l e der Literatur als Zeugnis u n d Begleiter des Prozesses der Herausbildung der hochmittelalterlichen Adelsfamilie angemessen diskutieren. Im Bereich der familiengeschichtlichen Interpretation der volkssprachigen Dichtung stellen sich andere Probleme. Hier m ü ß t e zunächst die historische Grundlage der literarhistorischen Familiendeutungen, vor allem Georges D u b y s Aussagen über die mittelalterliche Adelsfamilie, die sozialen u n d psychischen Auswirkungen ihrer E r b - u n d Heiratsstrategien bei bestimmten Adelsgruppen, auf ihre Evidenz befragt werden. D u b y s Familienbild ist bislang von den Literarhistorikern unbesehen übern o m m e n u n d in attraktive Deutungsszenarien umgesetzt worden, o b w o h l schon seit einiger Zeit in der historischen Diskussion zentrale Punkte seiner A r g u m e n t a t i o n — die B e d e u t u n g väterlicher b z w . mütterlicher Abstammungslinien, der Z u s a m m e n hang der Entstehung von P a t r o n y m e n u n d agnatischen Geschlechtern, die Praxis der Primogenitur u n d die gesellschaftliche Stellung der j ü n g e r e n Adelssöhne — problematisiert werden. 4 8 U n d weiter ausgreifend m ü ß t e die Familiendarstellung der mittelalterlichen Adelsdichtung, ihre Familienbilder u n d Verwandtschaftskonzepte in einer systematischen Durchsicht der Texte auf ihre familiengeschichtlichen I m plikationen hin befragt u n d im Blick auf die von Georges D u b y initiierte famille et ¿weníé-Interpretation noch einmal neu diskutiert werden. Erst dann wird sich zeigen, ob etwa die literarischen Jeune-Figuren tatsächlich auf die gesellschaftlichen Frustrationserfahrungen j ü n g e r e r Adelssöhne verweisen, ob die in manchen Texten so positiv bewertete mütterliche Verwandtschaft eine Kritik der Autoren an der strikt agnatisch organisierten Welt adeliger Familien implizieren, ob schließlich die höfische D i c h t u n g insgesamt — wie im Anschluß an Dubys Jeune-Thesen vermutet wird — als eine literarische Verarbeitung und Bewältigung der problematischen Seiten adeliger Familienpolitik zu verstehen ist. Mit diesen familiengeschichtlichen

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A m nachdrücklichsten Constance Β. Bouchard, The Structure o f a Twelfth-Century French Family: The Lords o f Seignelay, Viator 1979, S. 39-56; dies., Family Structure and Family Consciousness among the Aristocracy in the Ninth to the Eleventh Century, Francia 14 (1986), S. 639-658. Die Kritik richtet sich zugleich gegen Karl Schmid und seine von D u b y weitergeführten Überlegungen zur Umstrukturierung frühmittelalterlicher Sippenverbände in die hochmittelalterliche Adelsfamilie: vgl. dazu Karl Leyser, The German Aristocracy from the ninth to the early twelfth century. A historical and cultural sketch, Past and Present 41 (1970), S. 25—53; ders., Maternal kin in early medieval Germany. A reply, Past and Present 46 (1970), S. 126-134; Wilhelm Stornier, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich v o m 8. bis 11. Jahrhundert, 2 Teile, Stuttgart 1973 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6, I.II.), II, hier S. 51 ff.; ders., Adel und Ministerialität im Spiegel der bayerischen Namengebung (bis zum 13. Jahrhundert). Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Führungsschichten, D A 33 (1977), S. 84-152.

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Ursula

Peters

Überlegungen wäre zugleich jene die literarhistorische Forschung in den 60er und 70er Jahren ungemein befruchtende Diskussion über die gesellschaftsgeschichtlichlebensweltlichen Voraussetzungen der Entstehung und Verbreitung der höfischen Dichtung neu belebt: nun allerdings auf anthropologischer, d. h. um bedeutende Themenbereiche erweiterter Grundlage und — wie ich denke — mit erfolgversprechenden Perspektiven fur unser Verständnis der hoch- und spätmittelalterlichen Dichtung. A m problematischsten fur die Literaturgeschichte ist der dritte Themenkomplex der anthropologisch orientierten Geschichtswissenschaft: die Erforschung der sogenannten Volkskultur, der sich seit 20 Jahren zunächst in Frankreich, in Italien und den angelsächsischen Ländern, in den letzten Jahren auch in Deutschland unter den Schlagworten >Geschichte von untenGeschichte der kleinen LeuteAlltagsgeschichte< etabliert hat. 49 Schwerpunkt dieser kontroversen Diskussion ist die Mittelalter- und Frühneuzeitforschung mit programmatischen Arbeiten und Fallstudien etwa von Emmanuel Le R o y Ladurie, Robert Muchembled und Roger Chartier zu den Einstellungen und Verhaltensweisen der französischen Land- und Stadtbevölkerung des 13. bis 18. Jahrhunderts, 50 von Peter Burke zur europäischen Volkskultur im allgemeinen, 51 von Carlo Ginzburg zu dem sektiererischen Weltbild eines friaulischen Müllers im 16. Jahrhundert, 52 Natalie Zemon Davis zu dem Aggressionspotential jugendlicher Charivaribräuche 53 oder Aaron Gurjewitsch zur mittelalterlichen Volkskultur. 54 In Deutschland haben diese neuen Bemühungen um die Volkskultur in den letzten Jahren zu einer kontroversen Methodendiskussion gefuhrt, die vordergründig an sachlichen und methodischen Implikationen der Begriffe Volk und Kultur einsetzt, aber zugleich das Selbstverständnis der an ihrer 49

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Zur Problematik der mit diesen Begriffen verbundenen Geschichtskonzeption vgl. R. Samuel (Hg.), People's History and Socialist Theory, London 1981; Peter Burke, Popular Culture between History and Ethnology, Ethnologia Europaea 14 (1984), S. 5—13; Norbert Schindler / Richard van Dülmen (Hgg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags, Frankfurt a. M. 1984; Wolfgang Kaschuba, Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit, Frankfurt a. M . / N e w York 1988; A. Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M . / N e w York 1989. Emmanuel Le R o y Ladurie, Montaillou village occitan de 1294 à 1324 (1975). Dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980; Robert Muchembled, Culture populaire et culture des élites dans la France moderne (XV C -XVIIP siècles) (1978). Dt.: Kultur des Volks - Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982; Roger Chartier, La culture populaire en question, Histoire 8 (1981), S. 85-98. Peter Burke, Popular Culture in Early Modem Europe (1978). Dt.: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981. Carlo Ginzburg, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio de '500 (1976). Dt.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a. M. 1979. Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule: Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France (1971). Dt.: Die Narrenherrschaft, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987 (Fischer-Taschenbuch 4369), S. 106-135. Aaron J. Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur (1981), München 1987.

Historische

Anthropologie

und mittelalterliche

Literatur

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E r f o r s c h u n g beteiligten Disziplinen tangiert. 5 5 B e t r o f f e n ist d a v o n v o r allem die Volkskunde, der i m n e u e n G e w a n d einer empirischen Kulturwissenschaft b z w . Sozialanthropologie, die sich den Fragestellungen der E t h n o l o g i e , Religionssoziologie u n d neueren Geschichtswissenschaft öffnet, n e u e thematische u n d m e t h o d i s c h e A u f gaben u n d M ö g l i c h k e i t e n zugewiesen w e r d e n . Eine gewichtige S t i m m e h a b e n hierbei in m e t h o d i s c h e r u n d sachlicher Hinsicht die französischen Mediävisten der N o u v e l l e Histoire, die k o n z e p t u e l l schon i m m e r die historische B e d e u t u n g der Glaubensvorstellungen, Verhaltensformen u n d traditionellen P r a k t i k e n des >Volkes< i m Mittelalter, die longue durée der culture b z w . religion populaire b e t o n t h a b e n u n d i m A n s c h l u ß an M a r c Blochs B u c h ü b e r den G l a u b e n an die W u n d e r h e i l u n g e n der französischen Könige 5 6 v o n den verschiedensten Seiten her die komplizierte Interdependenz v o n culture folklorique u n d culture des élites, v o n religion populaire u n d culture cléricale verfolgen. 5 7 U n d z w a r in e i n e m archäologisch-ethnologischen Analyseverfahren der R e k o n s t r u k t i o n , da diese culture b z w . religion populaire des Mittelalters in einer leidvollen u n d bis h e u t e a n d a u e r n d e n Geschichte der Interpretation, A u s g r e n z u n g u n d U n t e r d r ü c k u n g hinter e i n e m dichten V o r h a n g n o r m a t i v e r Selbstdeutungen u n d R e p r ä s e n t a t i o n s m u s t e r der offiziellen Welt der Kirche w i e des Feudaladels v e r b o r g e n sei u n d deshalb i m Verfahren einer diffizilen Spurensuche u n d E n t z i f f e r u n g hinter den verschiedensten Schüben j a h r h u n d e r t e l a n g e r Verschüttung n e u entdeckt w e r d e n müsse. H a u p t q u e l l e n dieser R e k o n s t r u k t i o n sind D o k u m e n t e kirchlicher U n t e r w e i s u n g u n d Verhaltenskodifizier u n g , R e c h t s q u e l l e n u n d Pastoraltexte, B u ß b ü c h e r , Beichtspiegel, Inquisitionsprotokolle, E x e m p l a u n d Visionsberichte. Als offizielle D o k u m e n t e b ö t e n sie z w a r keine genuine U b e r l i e f e r u n g dieser Volkskultur, sondern n u r R e a k t i o n e n auf b e s t i m m t e croyances populaires, die sich j e d o c h u n t e r der expliziten Ebene geistlicher u n d feudaladeliger A d a p t a t i o n , U m d e u t u n g u n d A u s b l e n d u n g aufspüren ließen. Jacques Le G o f f d e m o n s t r i e r t dies a m Beispiel des v o l k s t ü m l i c h e n Melusinem y t h o s der Fruchtbarkeit, den er aus lateinischen E x e m p l a b z w . A n e k d o t e n des 12. u n d 13. J a h r h u n d e r t s u n d den französischen M e l u s i n e r o m a n e n des 14. J a h r h u n d e r t s erschließt, an mittelalterlichen Visionsberichten ü b e r Jenseitsreisen, deren v o l k s t ü m 53

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Aus der breiten Diskussion vgl. Peter Dinzelbacher, Mittelalterliche Volkskultur. Skizze ihrer Forschungsproblematik und bibliographische Einfuhrung, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984/85), S. 313-360; ders., Volkskultur und Hochkultur im Spätmittelalter, in: Peter Dinzelbacher / Hans-Dieter Mück (Hgg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters, Stuttgart 1987 (Böblinger Forum 1), S. 1—14; Wolfgang Brückner, Popular Culture. Konstrukt, Interpretament, Realität. Anfragen zur historischen Methodologie und Theorienbildung aus der Sicht der mitteleuropäischen Forschung, Etimologia Europaea 14 (1984), S. 14-24. Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre, Strasbourg 1924 (Publications de la faculté des lettres de l'université de Strasbourg 19). Neben Jacques Le Goff vor allem Jean-Claude Schmitt in programmatischen Arbeiten: >Religion populaire< et culture folklorique, Annales E. S. C. 31 (1976), S. 941—953; ders., Les traditions folkloriques dans la culture médiévale. Quelques réflexions de méthode, Archives de sciences sociales des religions 52 (1981), S. 5-20; ders., Der Mediävist und die Volkskultur, in: Peter Dinzelbacher / Dieter R . Bauer (Hgg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn 1990, S. 29-40.

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liehe Grundlagen einer mehrfachen monastischen Überformung ausgesetzt gewesen seien, und dem popularen Glauben an die dritte Welt des Fegefeuers. 58 Emmanuel Le R o y Ladurie entwirft in einer Fallstudie auf der Basis der Inquisitionsakten einer Untersuchung des Dorfes Montaillou vom Ende des 13. Jahrhunderts die populare Welt heidnischen Wunderglaubens und Geheimwissens, unorthodoxer Einstellungen und archaischer Verhaltensweisen, 59 und Jean-Claude Schmitt rekonstruiert in einer exemplarischen historisch-anthropologischen bzw. ethnohistorischen Studie zum Kult des Windhundes Guinefort, der, als Lebensretter eines adeligen Kindes unschuldig von dessen Vater getötet, um die Wende des 12. Jahrhunderts von den Bauern der Gegend als Beschützer und Retter kranker Kinder verehrt worden sein soll, die verschlungene Geschichte der Entstehung und Verbreitung eines paganen Kultes v o m Mittelalter bis in die Neuzeit. 60 Diese eindrucksvolle Rekonstruktion paganer Glaubensvorstellungen aus den Sedimenten klerikaler und feudaladeliger Uberformung zeigt jedoch zugleich die mit dieser Arbeitsweise der Spurensuche verbundenen methodischen Probleme, wie sie in der Diskussion um die culture populaire bzw. folklorique immer wieder angesprochen werden. Die Vorbehalte konzentrieren sich vor allem auf die Fragen, ob diese im Verfahren des Vergleichs eruierten croyances populaires tatsächlich jenes vermutete Widerstandspotential haben, das durch klerikale und aristokratische Uberblendung verdeckt werden sollte, ob sie mit jenen überdauernden elementaren structures bzw. attitudes mentales gleichgesetzt werden können, denen sich die Nouvelle Histoire widmet, und schließlich grundsätzlicher, ob nicht die Vorstellung eines Neben- und Übereinander von zwei autonomen >KulturenEvangiles des Quenouilles
Evangeliums< alter Frauen eingebundenen Systems popularen Wissens durch einen gebildeten Autor des 15. Jahrhunderts. Und das ist eine für die literarhistorische Volkskultur-Diskussion typische Konstellation, die sich auch an anderen Texten erweisen ließe.68 Dieser Forschungsüberblick über Themen und Fragestellungen einer von historischanthropologischen Interessen geleiteten literarhistorischen Mediävistik bietet kein ausgewogenes Bild von ihren Möglichkeiten. Durch seine Orientierung an den thematischen und methodischen Vorgaben der französischen Nouvelle Histoire sind bestimmte Schwerpunkte einer historischen Anthropologie — etwa der Themenkreis Familie—Verwandtschaft oder Volkskultur—Elitekultur — überrepräsentiert, während andere, nicht weniger zentrale Themenbereiche einer historisch-anthropologischen Interpretation, Überlegungen etwa zum Menschenbild, zu den Individualitätsvorstellungen, zur Geschlechterthematik literarischer Texte, unberücksichtigt geblieben sind. Aber selbst dieser eingeschränkte und unvollständige Forschungsbericht verdeutlicht die vielfältigen Möglichkeiten einer historisch-anthropologisch fundierten Literaturbetrachtung, die Gefahren wie Chancen, die sich der Literaturgeschichte beim Ausgreifen auf Themen und Methoden einer historischen Anthropologie ergeben. Die Probleme sind offensichtlich: Wie im Falle der sozialgeschichtlichen Interpretation droht die Literatur mit ihren spezifischen Informationen zum puren Dokument zu werden: etwa für die sich wandelnden mentalen und affektiven Dispositionen der mittelalterlichen Menschen, ihre Einstellungen und Reaktionen angesichts grundlegender Lebenssituationen, für die verhaltensprägende Wirkung elementarer Verwandtschaftsstrukturen, die subliterarische Existenz und Wirkungsmächtigkeit paganer Glaubensvorstellungen und geheimer Alltagspraktiken. Und im Gegenzug gegen die immer wieder inkriminierte unvermittelte sozialhistorische Anbindung literarischer Texte an konkrete soziale Konflikte, spezifische gesellschaftliche

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( X V e siècle), Montreal 1982 (Le moyen français 10); ähnlich Anne Paupert, Les fileuses et le clerc. U n e étude des Evangiles des Quenouilles, Paris/Genève 1950 (Bibliothèque du X V I siècle 52) und Werner R ö c k e , Zur Literarisierung populären Wissens im deutschen ' R o k ken-Evangelium', in: Bachorski, Ordnung und Lust [Anm. 2], S. 447—475, am Beispiel der 1537 in Köln gedruckten, bislang noch unedierten deutschen Übersetzung. Werner R ö c k e verweist in seiner A n m . 67 genannten Studie zum 'Rocken-Evangelium' auf Hans Vintlers 'Blumen der Tugend' und Johann Hartliebs 'Buch der verpoten Kunst', S. 455.

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Ursula Peters

Erfahrungen und aktuelle Legitimationsbedürfnisse von Autor wie Publikum besteht bei einer historisch-anthropologischen Lektüre der Texte die Gefahr, daß diese aus ihrem historisch-gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang herausgelöst und abgehoben von ihrer literarischen Konstruktion - zu überhistorischen Gliederungsmarken in der longue durée sich langsam verändernder Haltungen und Einstellungen werden. Dennoch überwiegen für die Literaturgeschichte die Vorteile einer Anknüpfung an historisch-anthropologische Themen und Fragestellungen bei weitem. Denn sie bietet die Möglichkeit, die aporetischen Diskussionen um die Vermittlung von gesellschaftlichem Leben und literarischer Produktion zu überwinden, die immer wieder beklagte Kluft zwischen ökonomisch-sozialen Strukturen der Gesellschaft und den Einzeltexten im Rückgriff auf den Bereich elementarer Lebenssituationen und Kollektiverfahrung, auf die vorbewußten Haltungen, affektiven Dispositionen und ideologischen Ausdrucksformen der Menschen zu überbrücken und sich damit um die zentralen, von der sozialgeschichtlichen Interpretation aufgeworfenen, aber nur unzureichend beantworteten Fragen der >Funktion< mittelalterlicher Literatur zu bemühen. Nun allerdings nicht mehr ausschließlich unter den Stichworten soziale Sinnangebote, gesellschaftliche Selbstdeutung, ständisches Bewußtsein oder gesellschaftliche Legitimierung, sondern erweitert um den historisch-anthropologischen Bereich der literarischen Thematisierung und Verarbeitung bestimmter Grund- und Grenzerfahrungen im thematischen Umfeld von Körperkommunikation und Sexualität, Individualitätsproblematik, Liebe, Ehe, Krankheit, Jugend, Alter und Tod, Verwandtschaftssysteme und Glaubensvorstellungen. Und das sind Themen, die zumindest bei bestimmten literarischen Texten und Typen ins Zentrum der literarischen Darstellung fuhren und deren literarhistorische Erforschung neue Einsichten in die Ausgestaltung, Wirkungsintention und Funktionsbestimmung mittelalterlicher Texte versprechen.

Aleida Assmann

Vae Soli Ü b e r die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neuzeit

1.

Melancholie u n d Konversation (Cesare Ripa)

Im Jahre 1593 erschien in R o m das letzte einer erfolgreichen Serie von EmblemHandbüchern, in denen die Weisheit der Antike gesammelt und für gelehrte und künstlerische Praxis aufbereitet war. Es handelt sich um Cesare Ripas 'Iconologia', ein Werk, das keinen Anspruch auf Originalität erhebt, uns dafür aber einen zuverlässigen Eindruck von dem gehobenen Allgemeinwissen der Zeit vermittelt. Die Sammlung besteht aus einer Serie durchnumerierter und alphabetisch angeordneter Allegorien, wobei jedem Bild eine erläuternde Beschreibung beigefügt ist. Greifen wir zwei von ihnen heraus.

Abb. 1: 'Malinconico' aus: Iconologia di C. Ripa, Siena 1613

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Aleida Assmann

Das erste ist die N r . 59, 'Malenconico' oder Melancholie. Die Beischrift dechiffriert die zeichenhaften Attribute, die der Gestalt zugeordnet sind: der Kubus unter dem Fuß konnotiert Beständigkeit, das offene Buch in der Linken Studium, der verbundene Mund Schweigen, der Geldsack Geiz. Der Sperling auf dem Haupte steht für Einsamkeit, da dieser Vogel dafür bekannt ist, daß er jeden Umgang mit Artgenossen meidet. 1 Stellen wir dieser Figur eine weitere gegenüber. Es ist die Nr. 70 mit dem Titel 'Conversatione'. Dargestellt ist ein fröhlicher junger Mann von gewinnendem Äußeren mit Lorbeerkranz auf dem Haupt. In der Rechten hält er einen Stab, um den sich Myrte und Granatapfel schlingen zum Zeichen »gegenseitiger Verbundenheit in Konversation«; gekrönt wird der Stab durch eine Zunge, die auf Gesprächsbereitschaft hindeutet. In ihrer Linken hält die Gestalt ein Schriftband mit der Aufschrift VAE SOLI bzw. in der englischen Fassung spiegelschriftlich: WOE TO HIM THAT

IS

A[LONE].2

Wir dürfen vermuten, daß diese beiden Gestalten komplementär aufeinander bezogen sind und ein BegrifFspaar abbilden. Melancholie ist die Negation der Konversation, Konversation die Therapie der Melancholie. Unsere These ist, daß mit diesem Begriffspaar in der Renaissance der Komplex Einsamkeit - Geselligkeit thematisiert wird. Uberspringt man diese Begrifflichkeit, dann bleiben bestimmte Zusammenhänge und für dieses Thema einschlägige Quellen verborgen. 3 Diese These ist gewagt angesichts der weitausgreifenden und hochspezialisierten MelancholieLiteratur, die sich in medizinische, ikonographische, literarische und soziologische Studien auffächert und deren eindrucksvolle Resultate hier auch nicht in Frage gestellt werden. Es soll im folgenden lediglich der Versuch unternommen werden, einen bislang übersehenen begrifflichen Kontext der Melancholie-Diskussion im 16. Jahrhundert zu rekonstruieren. Das Motto VAE SOLI wollen wir als Leitsatz der Konversationskultur reklamieren. Was es einmal mit dem Begriff >Konversation< auf sich hatte, ist heute so gut wie vergessen. Im Wörterbuch philosophischer Grundbegriffe findet sich kein Eintrag zu 1

2

3

Der Sperling als Vogel der Melancholie stammt aus dem Psalm: »Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache« (Ps. 102,7—8). Walter Magaß, der mich auf den Psalm hingewiesen hat, fügt hinzu, daß Schlaflosigkeit und Klagen zu den bestimmenden Tätigkeiten des weltlosen Anachoreten gehören. Die Assoziation von Wiedehopf und Melancholie findet sich auch bei dem Paracelsisten Oswald Crollius, Von den Signaturn oder Wahren und lebendigen Anatomia der großen und kleinen Welt, Frankfurt 1629, S. 53. Eine enge Parallele zu dieser Melancholie-Darstellung findet sich bei Peacham (1612, S. 126). Das Motto geht auf einen Bibelvers zurück (Prediger 4,9-10; fur den Hinweis danke ich Walter Magaß): Zweie sind besser dran als nur einer; Denn fallen sie, so hilft der eine dem andern auf. Doch wehe dem Einzelnen, wenn er fallt und kein andrer da ist, ihm aufzuhelfen! Das gilt auch fur das brillante Melancholie-Buch von Wolf Lepenies (1981), der den wechselnden sozialgeschichtlichen Horizont des Melancholie-Syndroms sehr genau rekonstruiert hat, dabei aber gänzlich ohne den komplementären Schlüssel-Begriff der >Konversation< auskommt.

Vae Soli — Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen

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diesem Lemma, o b w o h l damit einmal ein philosophisches P r o g r a m m verbunden gewesen ist. Konversation hat heute ihre W ü r d e verloren; sie wird von denjenigen gemacht, die sich nichts zu sagen haben. Für Kant, der den Begriff noch kannte, schwang weniger der bürgerliche Affekt gegen aristokratische U m g a n g s f o r m e n als das Element der Unverbindlichkeit mit. Er definierte Konversation als »zweckfreies Spiel der Gedanken und der Einbildungskraft«. 4 Im >Konversations-Lexikon< ist noch etwas v o m Ideal polyhistorischer Bildung zu spüren. Impliziert ist ein Wissen, das in U m l a u f gebracht wird und dem zwischenmenschlichen U m g a n g zugute k o m m t , im Gegensatz zu einem Wissen, das auf das Abstellgleis pedantischer Gelehrsamkeit gerät. U m an den ursprünglichen Bedeutungsumfang des Begriffs heranzukommen, müssen wir über den Buckel der Sattelzeit klettern. Dann werden wir eines Begriffs gewahr, der in nuce ein ganzes P r o g r a m m sozialer und literarischer, sprachlicher und pragmatischer, ethischer und ästhetischer Erziehung einschließt. Wiederzugeben ist er am ehesten mit Worten wie >UmgangKrankheit< ein Heilmittel parat h a b e n . Das gilt auch f ü r Augustin, der der U n b e s t ä n d i g k e i t u n d Vergänglichkeit des M e n s c h e n G o t t als den sicheren H a l t u n d konstanten B e z u g s p u n k t gegenüberstellt. D i e schadhafte menschliche N a t u r gilt es nicht zu bessern m i t den M i t t e l n der K u l t u r , w i e C i c e r o es wollte, sondern radikal zu ü b e r w i n d e n m i t d e m M i t t e l der R e l i g i o n . Diese Einstellung hat f ü r unsere Frage nach Einsamkeit o d e r Geselligkeit K o n s e q u e n z e n . D e n n Geselligkeit, U m g a n g m i t anderen, Pflege menschlicher Gemeinschaft ist f ü r A u g u s t i n das falsche Heilmittel der condicio humana. Seine Suche nach etwas wirklich Sicherem, nach e i n e m enttäuschungsfesten Halt, k a n n sich m i t nichts w e n i g e r als G o t t zufrieden geben, den er als den einzig sicheren P a r t n e r in einer Welt der Unsicherheit ausmacht. D i e enge B e z i e h u n g zu G o t t , auf die hin die augustinische A n t h r o p o l o g i e ausgerichtet ist, e n t w e r t e t radikal

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Thomas von Aquin, De regimine principum; Über die Herrschaft der Fürsten 1,1; zit. nach Borst (1979), S. 335f. Augustin, De Civitate Dei xix, 4, 5 u. 7.

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alle zwischenmenschlichen Bindungen. Sie entwickelt dagegen mit der Ausformung des inneren Menschen die Möglichkeit sozialer Isolierung und der Unabhängigkeit von umgebenden Gruppen, eine Fähigkeit, die unter widrigen Umständen — Augustin schrieb als historischer Zeuge des Untergangs R o m s — zur Uberlebenstechnik wird. Mit einer solchen radikalen Einstellung ließ es sich nicht nur überleben, sondern unter geschützten Bedingungen — auch leben. Davon zeugt die mönchische Lebensform, die der negativen augustinischen Anthropologie viel verdankt. Machen wir einen Sprung von tausend Jahren, dann gelangen wir zur Bewegung der Devotio moderna, die wichtige Elemente mönchischer Lebensformen zu demokratisieren und unter alltäglichen Bedingungen zu sichern half. Dazu gehört an erster Stelle wiederum die Vorrangigkeit der Beziehung des Menschen zu Gott vor den Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Ein Kapitel des berühmtesten Buchs zwischen Mittelalter und Neuzeit, die um 1420 verfaßte 'Imitado Christi' des Thomas von Kempen, enthält ein Kapitel mit der Überschrift: >Von der Liebe zur Einsamkeit und StilleDraußen< steht hier für so harmlose Beschäftigungen wie Spaziergänge, Gespräche, Zerstreuungen, Geselligkeiten. Sie alle stehen im Zeichen des Müßiggangs, der Unbeständigkeit, der vergeudeten Zeit. Der Leitspruch für den Eintritt der Mönche in den Konvent der Augustiner lautete: »Du mußt wissen, daß du berufen bist zum Dulden und Arbeiten, nicht zum Müßiggang und Plaudern.« 8 Das Äquivalent zur geschlossenen Kammer ist das Schweigen. Es ist leichter, ganz zu schweigen, als im Reden nicht zu weit zu gehen. [ . . . ] Im Schweigen und in der Stille macht die fromme Seele Fortschritte und lernt die Geheimnisse der Bibel begreifen.9

Die räumliche Abgeschiedenheit der Zelle, das Schweigen und die konzentrierte Andacht sind Formen produktiver Einsamkeit, die die mönchische Lebensform bestimmen. Mit der Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna jedoch hören sie auf, Privileg religiöser Virtuosen zu sein, und werden zu verallgemeinerbaren N o r men methodischer Lebensführung. »Verborgen leben und fur sich besorgt sein, ist 7 8 9

De Imitatione Christi 1,20; zit. nach Borst (1979), S. 249. Borst (1979), S. 250. De Imitatione Christi 1,20; zit. nach Borst (1979), S. 248.

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besser als Wunder wirken und sich vernachlässigen.« In diesem Satz hat ein altes Ethos einen neuen Platz gefunden. Die cura sui, die Sorge um sich selbst, die einst im Mittelpunkt heidnisch antiker Lebenskunst stand, 10 ist zu einem Bestandteil christlicher Askese geworden. 2.3

Profane Einsamkeit (Justus Lipsius und der Neostoizismus)

Die andere Einsamkeits-Tradition, die in der humanistischen Renaissance zu Ehren kam, stammt aus der stoischen Philosophie. »Die Einsamkeit ist j a heilig, einfach, unverdorben, und sie ist wirklich das Reinste von allem Menschlichen«, schrieb Petrarca in seinem Werk 'De Vita solitaria'. 11 Petrarcas Lob der Einsamkeit tritt kontrafaktisch an die Stelle des paulinischen Lobpreises der Liebe: »Sie will niemanden täuschen, sie heuchelt nicht und verbirgt nichts, sie gibt nichts vor.« Hinter dem Ideal der Autarkie, das mit der Einsamkeit verbunden ist, steht die Suche nach einem festen Halt in einer von Unsicherheit und Schwankungen gezeichneten Welt. Ruhe, Sicherheit, Beständigkeit sind Werte, die auf dem Erfahrungsboden tiefgreifender Umbrüche und Wandlungen wachsen. 1584 verfaßte Justus Lipsius einen Dialog mit dem Titel 'De constantia'. Darin definierte er die Grundhaltung der Beständigkeit als »aufrechte und feste Geistesstärke«. Stärke sage ich und meine damit eine dem Geiste innewohnende Festigkeit, die nicht aus dem bloßen Meinen zu gewinnen ist, sondern allein aus dem Urteil und der ungebeugten Vernunft. (1,4)

Arno Borst hat den Zusammenhang von existentieller Unsicherheit und dem Ideal der Beständigkeit klar herausgearbeitet, als er (mit Blick auf Augustin) schrieb: In geschichtlichen Krisenlagen, beim Untergang der römischen Republik oder beim Beginn der germanischen Völkerwanderung, schwankt so viel von dem, was ist, daß stattdessen das, was sein soll, zum archimedischen Punkt wird. 12

Dieser archimedische Punkt muß >enttäuschungsfest< sein. Er wird gegen die beständige Unbeständigkeit der Welt, der Gesellschaft, des Menschen aufgerichtet und hat verschiedene Namen erhalten: Gott, Gewissen, Geist, Vernunft, Selbst. Es handelt sich dabei grundsätzlich um Schutzburgen, Bastionen gegen den Wandel, Petrarca spricht vom »Hafen vor allen Stürmen«. Die biedere Tugend der Beständigkeit wird im Späthumanismus zur hochaktuellen Strategie der Selbstbehauptung. Man hat den Neostoizismus treffend als »Philosophie der Krise« bezeichnet. 13 Die Innerlichkeit des Subjekts wird zum letzten Ort der Freiheit und moralischen In10

11 12 13

»Die Mittel und Wege dieser Arbeit bezeichnet Foucault als >SelbsttechnikenPöbelKonversation< wurde zum Leitbegriff einer Lebensform, die die Differenzen zwischen Aristokratie und Bürgertum nivellierte und dem Selbstbewußtsein und Selbstdarstellungsbedürfnis einer neuen staatstragenden Schicht zum Ausdruck verhalf. 17 Das erste von vier Büchern dieser Konversationslehre ist dem Thema Einsamkeit gewidmet. 18 Es wird, wie in einem Werk über Konversation nicht anders zu erwarten, in Dialogform erörtert. Das Plädoyer für die Einsamkeit übernimmt Guglielmo Guazzo, der Bruder des Autors, der sich als akuter Melancholiker zu erkennen gibt; das Plädoyer für Konversation verkörpert sein Freund und Mentor, ein gewisser Annibal Magnoconvalli. So stehen sich in diesem Gespräch zugleich Patient und Therapeut gegenüber, womit die zwischen ihnen geführte Unterhaltung nicht nur Lehrgespräch ist, sondern auch eine >talking curePolitica< wird in der letztgenannten Schrift definiert als »eine Kunst / sich klüglich in seinem Stande aufzuführen/ das ist so zu leben/ daß man den äuserlichen Schaden/ so viel möglich/ von sich abwendet/ andere Menschen sich zu Freunden macht / und auf honette Weise sein äuserlich Glücke befördert.« (zit. nach Sinemus [1978], S. 158). Knigge [s.u. Anm. 26] hatte ursprünglich als Titel fiir sein Werk im Sinn: »Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen« (zit. nach Pittrof [1989], S. 72f.).

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Das zweite und dritte Buch behandeln zwischenmenschliche Beziehungen außerhalb und innerhalb des Haushalts, das vierte Buch schildert ein modellhaftes Festbankett.

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es ist Schwerarbeit f ü r meinen Geist, der R e d e anderer Menschen zu folgen, mir passende A n t w o r t e n einfallen zu lassen u n d auf all die U m s t ä n d e zu achten, die die R a n g o r d n u n g u n d meine Ehre mir abverlangen: all das ist nichts als M ü h e u n d U n t e r w e r f u n g . W e n n ich mich aber in mein Haus zurückziehe, sei's u m zu lesen, zu schreiben oder mich auszuruhen, dann g e w i n n e ich meine Freiheit zurück u n d lasse die Z ü g e l schießen. D a n n bin ich niem a n d e m m e h r etwas schuldig u n d w i d m e mich ganz m e i n e m Vergnügen u n d W o h l ergehen. (S. 17)

Der erste wichtige Therapieschritt besteht darin, daß der Patient lernt, die Einsamkeit, die er als Erleichterung empfindet, als eigentliche Wurzel des Übels zu erkennen. Einsamkeit ist die Droge der Melancholie, nicht ihre Linderung, geschweige denn ihr Heilmittel. Die Lehre des Therapeuten lautet: Deine Krankheit b e r u h t auf einer falschen Vorstellung, nach der du, wie die M o t t e das Licht, mit Lust dein Verderben suchst, u n d statt das Ü b e l auszumerzen, i h m i m m e r neue N a h r u n g gibst. W ä h r e n d du glaubst, durch Einsamkeit Linderung zu erfahren, gibst du den zersetzenden Körperflüssigkeiten (ill / corrupt humours) N a h r u n g , die v o n dir Besitz ergreifen [ . . . ] u n d schließlich den edlen Palast deines Geistes zerstören. Deshalb rate ich dir, diese lebensgefährliche H a l t u n g aufzugeben u n d den entgegengesetzten W e g einzuschlagen. D u m u ß t die Einsamkeit als das erkennen, was sie ist, nämlich als Gift, und Gesellschaft (ιcompanie) als Gegengift u n d Lebens-Grundlage. Verjage die K o n k u b i n e der Einsamkeit und n i m m Gesellschaft zu dir als deine rechtmäßige Gemahlin. (S. 18)

Diese Rezeptur steht am Anfang, nicht am Ende der Auseinandersetzung um die Einsamkeit. Der Patient ist weit davon entfernt, sich von diesen Ermahnungen schnell überzeugen, geschweige denn heilen zu lassen. Es ist erst der Rahmen gesetzt, in dem alle folgenden Argumente für und wider die Einsamkeit ihren Platz finden können. 3.2

Plädoyer fur Einsamkeit: die christliche und die stoische Option

Der Melancholiker widersetzt sich einer Geselligkeits-Therapie, die möglicherweise dem Körper nützen, mit Sicherheit aber der Seele oder seinem Geist schaden muß. Er, der aus der Tradition heraus argumentiert, kann in aller Breite die wohlbekannten Einsamkeits-Argumente zur Sprache bringen. Für die fromme Seele, die sich auf der Leiter der Kontemplation zu Gott erheben will, ist die Menschenwelt nichts anderes als ein widriges Gemenge von H a k e n u n d Zangen, die uns mit M a c h t aus der Bahn unserer heüsamen Gedanken ziehen u n d auf den W e g des U n t e r g a n g s setzen. D e n n das gesellschaftliche Leben ist voller Verdächtigungen, Täuschungen, schnöder Lust, Meineide, Zerstreuungen, N e i d , B e d r ü c k u n g , Gewalt u n d unzähliger anderer U n b i l d e n . [ . . . ] D e r Einsame dagegen, der sich fern hält v o n allen Verlockungen, Verstrickungen u n d Ü b e r w ä l t i g u n g e n , der der Welt entschlossen den R ü c k e n gekehrt hat, k o m m t seinem ursprünglichen Glückszustand wieder nahe. (S. 24)

Die Stadt gilt als Ort der Lüge und des Lasters für diejenigen, die ihrem Gewissen und ihrem Geist leben wollen. Die großen Philosophen haben den Umgang mit ihren Mitmenschen geflohen wie Scylla und Charybdis; nicht nur haben sie sich von der Masse ferngehalten, sondern auch von allen Ämtern und Ehren, nach denen die Ehrgeizigen so sehr verlangen. Der Stoiker, das wird aus dieser Argumentation deutlich, distinguiert sich als Individuum vor dem Hintergrund einer verachtungs-

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w ü r d i g e n M e n g e , die ununterscheidbar, u n g e b i l d e t u n d auf p u r e n Z e i t v e r t r e i b aus ist. Das L o b der Einsamkeit gipfelt in d e m Satz: »Die Stadt ist m i r ein Gefängnis, die Einsamkeit ein Paradies« (S. 27). D i e A n t w o r t darauf ist zuerst ein K o m p l i m e n t f ü r die F o r m der K o n v e r s a t i o n ; G u a z z o w i r d gelobt, weil er die w o h l b e k a n n t e n A r g u m e n t e v o n Petrarca u n d Vida auf so gesellige Weise einzustreuen w e i ß . Sachlich stellt der T h e r a p e u t in R e c h n u n g , daß das C h r i s t e n t u m ursprünglich eine R e l i g i o n der G e m e i n d e u n d nicht der Einsamkeit gewesen ist u n d d a ß die christlichen T u g e n d e n m e h r w e r t sind, w e n n sie sich i m Leben b e w ä h r e n . Ähnliches gilt f ü r die Philosophie, die sich v o m Leben u n d der E r f a h r u n g a b k e h r t u n d aus der menschlichen Gemeinschaft ausschert: sie w i r d a b strakt u n d abstrus. 3.3

D i e E r z i e h u n g des M e n s c h e n zur Gesellschaft

D i e Position des T h e r a p e u t e n ist a n t h r o p o l o g i s c h u n d pragmatisch. Er g e h t v o n einer D e f i n i t i o n des M e n s c h e n als Gemeinschaftswesen aus. W e n n die Geselligkeit zur N a t u r des M e n s c h e n g e h ö r t , d a n n m u ß die Einsamkeit als Perversion gelten. Man darf also mit Recht sagen, daß der, der die menschliche Gemeinschaft verläßt, um in der Wüste zu leben, gewissermaßen zum Tier wird und eine animalische Natur annimmt. So kennt auch der Volksmund nur zwei treffende Namen für den Einsamen: Tier oder Tyrann. (S. 30) Einsamkeit w i r d als pathologisch eingestuft, w o Geselligkeit u n d Gesellschaft zur N o r m w e r d e n . D i e stoische cura sui o d e r die exklusive S o r g e u m das eigene Seelenheil sind nichts anderes als H o c h m u t u n d Geiz, d. h. F o r m e n eines Egoismus, der den Z u s a m m e n h a l t des G e m e i n w e s e n s in Frage stellt. D e r antisoziale Impuls verstößt gegen das erste G e b o t der Gesellschaft, das die Z i r k u l a t i o n der G ü t e r u n d des W i s sens f o r d e r t . Das H o r t e n v o n S a c h w e r t e n u n d E r f a h r u n g e n erweist sich d a n n als ebenso subversiv w i e die selbstbezüglichen T u g e n d e n : Darum sollte dieser Satz in goldenen Lettern geschrieben werden: daß der seine eigene Schande sucht, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. (S. 32) Das zentrale P a r a d i g m a sozialer B e z i e h u n g e n ist die Sprache. Sie überschreitet das I n d i v i d u u m auf den anderen hin, kolonisiert d e n zwischenmenschlichen R a u m u n d bildet den u n v e r z i c h t b a r e n Z e m e n t sozialen Z u s a m m e n l e b e n s . Durch das Medium der Sprache sind wir in der Lage zu lehren, zu fordern, zu vermitteln, zu verhandeln, zu beraten, zu korrigieren, zu argumentieren, zu richten und den Regungen unseres Herzens Ausdruck zu verleihen. Sie ist das Band, durch das Menschen einander lieben und sich aneinander gliedern. (S. 35) Sie ist freilich, das g e h ö r t zu d e n Prämissen der K o n v e r s a t i o n s k u l t u r , auch das Gegenteil: M e d i u m der Z w i e t r a c h t u n d Bosheit, der V e r l e u m d u n g u n d des K l a t sches. Deshalb ist der g r ö ß t e Teil des ersten Buches den verschiedenen F o r m e n des M i ß b r a u c h s v o n Sprache g e w i d m e t . Das I m - Z a u m - H a l t e n böser Z u n g e n u n d die I m m u n i s i e r u n g g e g e n b e s t i m m t e R e d e w e i s e n g e h ö r t m i t zur K u n s t der rechten K o n v e r s a t i o n w i e das S c h w e i g e n z u m R e d e n .

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Der antike Leitsatz vom Menschen als Maß aller Dinge wird von Annibal signifikant abgewandelt in: der Mitmensch ist das Maß aller Dinge. Deshalb sind Integration und Kommunikation nicht nur die vorzüglichsten menschlichen Tugenden, es sind auch die förderlichen Lebensbedingungen in einer Zeit expandierender Stadtkulturen, prosperierenden Handels, entstehender neuer Öffentlichkeiten und der Vermischung bislang geschiedener Lebenskreise.19 Gegen die Stadt als emblematischen Ort der Korruption und des Lasters stellt Annibal eine konkrete Alltagserfahrung, die zeigt, daß es in der modernen Stadt keine Alternative mehr gibt zum obligatorisch gewordenen Sozialverkehr. Sein Beispiel ist eine Schiffsreise von Padua nach Venedig, die »Männer und Frauen, fromme und profane Menschen, Soldaten, Höflinge, Deutsche, Franzosen, Spanier, Juden und andere Menschen verschiedener Nationen und Arten« zusammenwürfelt. Eine solche Gesellschaft sucht man sich nicht aus, aber das Leben verlangt täglich, daß man sich in sie einfügt. Annibal gesteht offen, daß er sich zuerst nicht gerade wohl fühlte, doch hinterher war ich ganz zufrieden und fröhlich. Ich habe mich nämlich auf die Eigenheiten der anderen sehr gut einzustellen vermocht, bin mit Anstand aus der Sache herausgekommen und habe in der Gruppe sogar noch einen guten Eindruck hinterlassen. (S. 22)

Die Episode fuhrt die unspektakulären Tugenden des sozialen Lebens vor Augen. Die Überfahrt auf dem Schiff ist nichts anderes als der Regelfall städtischen Lebens. Soll dieses Leben erträglich sein, so müssen in erster Linie die sozialen Tugenden kultiviert werden: Rücksicht, Toleranz, Heiterkeit, Bescheidenheit, Nachgiebigkeit; verbannt werden Tiefsinn und schroffer Ernst, Eigensinn, Unbelehrbarkeit sowie alles, was brüskiert, geniert, isoliert.20 >Konversation< meint nichts anderes als die Summe dieser sozialen Tugenden. >Zivil< wird definiert als eine universalistische Haltung, die Stadt und Land ebenso wie die unterschiedlichen Stände übergreift: Du siehst also, daß wir dem Wort >zivil< einen denkbar weiten Bedeutungsumfang geben. [ . . . ] U m es kurz zu sagen: zivile Konversation bedeutet eine ehrliche, angenehme und tugendhafte Art, in der Welt zu leben. (S. 55)

Der Akzent fällt auf das »in«. In der Welt soll man sich zurechtfinden, in die Welt soll man investieren, und zwar gemeinsam. Das erfordert keine radikale Umwertung aller Werte, wohl aber eine Herabstimmung aller radikalen Werte. Was Laster,21 19

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21

In Deutschland steht die Sprache als Medium sei's der Urbanisierung, Demokratisierung oder Nationalisierung der Kultur im Mittelpunkt der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Diese Gesellschaften, die nicht an Höfe, sondern Städte gebunden waren, boten jedenfalls in der Tendenz einen progressiv sozialen Kontext, in dem zwar noch keine neue Öffentlichkeit ihren Ausdruck fand, wohl aber ein kritischer, die Standesgrenzen übersteigender Tugendbegriff entwickelt werden konnte. Vgl. van Ingen (1978). In der 'Ars aulica' des Lorenzo Ducci heißt es (in einer frühen englischen Übersetzung): »Society is nothing else but a mutual & a reciprocal exchange o f gentlenes, o f kindnesse, o f affabilitie, o f familiaritie, and o f courtesie among men.« Zit. nach W . Lee Ustick, Advice to a son: A type o f seventeenth century conduct book, Studies in Philology 29 (1932), S. 4 0 9 441, hier S. 430. Z u m pejorativen Begriff des >Singularisten< vgl. Sinemus (1978), S. 157, 159. Dazu Kant: »Das einige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (senjwi privatus)«; zit. nach Lepenies (1981), S. 107. Ein großer Teil des Dialogs kann unter die Überschrift >Einübung in Toleranz< gestellt

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Ehre, Tugend, j a sogar was Wahrheit ist, soll fortan durch das F o r u m der anderen bestimmt werden. 2 2 Absolute Instanzen jenseits des menschlichen Verkehrs werden nicht mehr zugelassen; weder i m N a m e n Gottes noch des Selbst haben sie Einspruchsrecht. Alles wird in die soziale Zirkulation einbezogen, selbst die Wahrheit, die erst aus Disput und Konsens menschlicher Meinungen hervorgeht (S. 41). 3.4

Schriftgestützte Einsamkeit

Die Schrift ermöglicht interaktionsfreie Kommunikation. Damit ist sie ein m a c h t volles Inzentiv für Einsamkeit. Im 16. Jahrhundert gewinnt dieses Potential unter den neuen medialen Bedingungen des gedruckten Buches neue Aktualität. M a n m u ß nicht mehr ein religiöser Virtuose oder ein großer Philosoph sein, u m sich den Freuden der Einsamkeit hinzugeben. Es genügt schon, daß man ein leidenschaftlicher Leser ist. Diese Art v o n Einsamkeit droht im Zeitalter des Buchdrucks epidemisch zu werden. Ripas Melancholie ist mit einem B u c h ausgerüstet. Auch bei Guazzo spielen Lesen und Schreiben als Inzentiv für Einsamkeit eine besondere Rolle. Für die stoizistische Lebenform sind, wie wir gesehen haben, Schreiben und Lesen existentiell. M a n wird von seiner unmittelbaren U m g e b u n g in dem Maße unabhängig, wie man literarisch sozialisiert ist. 23 Für Seneca, Petrarca und Lipsius spielt der B r i e f eine hervorragende Rolle, für M a r c Aurel und Montaigne die schriftliche Selbstkommunikation. 2 4

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werden. Rigide Normen werden ersetzt durch flexible Akzeptanz. Was im Begriff ist, sich durchzusetzen (wie öffentliches Kartenspiel), soll nicht mehr unter moralische Sanktion gestellt werden. Guazzo spielt hier auf die Akademien an, von denen er selbst eine mitbegründet hat (die Accademia degli Illustrati von 1566, vgl. Auernheimer 1973, S. 5). Die Beziehungen zwischen Konversationskultur und Sozietätenbewegung sind so eng, daß man von unterschiedlichen Erscheinungsformen desselben Phänomens sprechen muß. Ihre gemeinsamen Leitideen sind: Kommunikation, Kompetition, Progressivität, Praxisbezug und Gemeinnützigkeit. Dazu die instruktive Arbeit von Im H o f (1982, S. 226 ff.), der beschreibt, daß in den italienischen Akademien Wissenschaft, Spiel, Musik, Tanz und Galanterie ungeschiedene Elemente waren. In den stoizistischen Gedichten des 17. Jahrhunderts in England spielen die Bücher eine wichtige Rolle (zit. nach Grierson/Bullough 1968): Let plots and news embroil the State, Pray what's that to my books and me? (Noms, S. 949) Books should, not business, entertain the Light And sleep, as undisturb'd as Death, the Night. (Cowley, S. 716) Ah, yet, e'er I descend to th'Grave May I a small house, and large Garden have! And a few Friends, and many Books, both true, Both wise, and both delightful too! (Cowley, S. 694) 1563 starb Etienne de la Boétie, ein Freund, mit dem Montaigne vier Jahre lang das Prinzip vom Dialog als Lebensform verwirklicht hatte. Die Essays sind nicht zuletzt der Versuch, den unterbrochenen Dialog auf dem Papier weiterzuführen. An die Stelle des Freundes, der ihm sein Spiegelbild zurückwirft, tritt das Buch, in dem er sich selbst zu konturieren und enträtseln unternimmt. Die schriftliche Introspektion tritt an die Stelle der geselligen Konversation. Zum Kommunikationswandel unter den Bedingungen der Schrift gehört, daß

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Daran schließt sich die grundsätzliche Frage an: Ist in der Ära des Buchdrucks das Ideal der Konversation nicht längst überholt? Kann Geselligkeit — verstanden als überschaubare direkte Interaktion, persönlicher Kontakt, wechselseitige Wahrnehmung und Beeinflussung im Meinungsaustausch, kurz: als Prinzip der Anwesenheit —, kann diese Form der Geselligkeit wirklich zur sozialen N o r m erhoben werden in einer Zeit, deren Öffentlichkeitsmodus bereits wesentlich an Schrift, und das bedeutet: Ferne-Kommunikation, Generalisierung und Anonymisierung, gekoppelt ist? Ist nicht, mit anderen Worten, der Kampf gegen die Einsamkeit im Schatten des heraufziehenden Buchzeitalters bereits verloren? In der Tat klingt in Guazzos Erziehungsbuch die Befürchtung an, daß sich im Rückzugsverhalten des Lesens eine neue Legierung von frommer Weltflucht und stoischem Selbstgenuß ankündigt. Der Therapeut reagiert auf diesen Trend mit einer ganzen Sammlung schriftkritischer Gemeinplätze. Nachdem des längeren das erfahrungsarme Bücherwissen gegeißelt wurde, nimmt das Gespräch eine Wendung, die man unter das Motto >Meister versus Bücher< oder >geselliger Dialog vor schriftlichem Monolog< stellen könnte: Es ist ein großer Fehler anzunehmen, daß Wissen eher im einsamen Umgang mit Büchern zu erwerben ist, als im Umgang mit kundigen Menschen. Es ist ein Leitsatz der Philosophie, den die Erfahrung bestätigt, daß Wissen leichter durch die Ohren als durch die Augen aufgenommen wird. Deshalb sollte sich keiner die Augen verderben oder seine Finger mit Umblättern strapazieren, wenn er doch lebendige Menschen um sich haben und auf deren natürliche Stimme hören kann, die sich mit wunderbarer Kraft seinem Geiste einprägt. Übrigens, wenn du auf eine schwierige und unverständliche Stelle stößt, dann kannst du das Buch nicht bitten, sich zu erklären. Du mußt unbefriedigt aufgeben und zum Buche sagen: wenn du dich durchaus nicht verstehen lassen willst, dann werd ich dich halt nicht verstehen! Daraus ergibt sich, daß es weit besser ist, sich mit Lebenden als mit Toten zu unterhalten. Hinzu kommt, daß der Geist eines einsamen Menschen stumpf und träge wird, wenn er niemanden hat, der ihn stimuliert, herausfordert und mit ihm diskutiert. Oder aber er wird überheblich und aufgeblasen, weil er aufgehört hat, sich mit anderen zu messen. (S. 40f.)

Wir dürfen zusammenfassen: die 'Zivile Konversation' ist das Erziehungsbuch einer neuen Schicht, die sich nicht mehr durch Wappen, Genealogien oder andere Privilegien definiert. Der Kern des neuen Standesethos ist eine Kultur der Sprache und des geselligen Umgangs, der sich den veränderten Lebensverhältnissen in den prosperierenden freien Städten anpaßt. Hier entsteht mit der Durchsetzung des Geldverkehrs ein dichtes Netz sozialer Beziehungen und Interdependenzen, in dem die älteren ständischen Distinktionsprinzipien an Bedeutung verlieren. Mit der sich ausweitenden Vergesellschaftung des Individuums wird ein neues Sozialethos erforderlich. Guazzos Werk, das den engen Rahmen traditioneller Tugenden überwindet und die mächtige Option der Einsamkeit dialogisch außer Kraft setzt, ist gleichsam ein Fokus, in dem der allgemeinere soziale Umwandlungsprozeß an der Schwelle der Neuzeit in aller Schärfe faßbar wird. der Schreiber umso expliziter und öffentlicher sprechen kann, je impliziter und anonymer der Adressat ist.

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Zugleich wird im Rückblick sowohl die Schwäche wie die Bedeutung dieses Werks sichtbar. Die Schwäche liegt in der Ausrichtung der sozialen Semantik am Modell der persönlichen Interaktion. Im Zeitalter des Buchdrucks und des Geldverkehrs setzen sich dagegen Formen einer generalisierten Kommunikation durch, die es ermöglichen, »sich aus Interaktionssystemen zurückzuziehen und trotzdem mit weitreichenden Folgen gesellschaftlich zu kommunizieren«.25 Die Anpassung an die mit diesem Evolutionsschritt gesteigerte Komplexität des Sozialen kann nicht mehr mit Hilfe eines Erziehungsbuches geleistet werden, das ausschließlich an dem Modell der Nähe-Kommunikation persönlicher Beziehungen geeicht ist. Die Bedeutung von Guazzos Werks hegt in der Erhebung des Dialogs zu einem generalisierten Paradigma gesellschaftlicher Beziehungen. Die Nobilitierung des Sozialen, verbunden mit einem Postulat von Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, die es zu erlernen gilt, um das Miteinander-Leben erträglich zu machen — das ist eine Denktradition, die zumindest im deutschsprachigen Kontext, von wenigen Ausnahmen abgesehen,26 stark unterentwickelt ist. Die großen Theoretiker des Sozialen sind bezeichnenderweise auch Theoretiker des Dialogs gewesen. Shaftesbury und George Herbert Mead setzen die Regeln direkter Interaktion in solche einer generalisierten Kommunikation situationsnah um und damit jene Linie fort, die in der Konversationstheorie des 16. Jahrhunderts ihren Anfang und ersten Höhepunkt hatte. In Deutschland dagegen hatte die soziale Tugend der Geselligkeit es schwer, an die obere Spitze der Wertordnung vorzudringen. Hier blieb der antisoziale Affekt unbestritten in Geltung. Im bürgerlichen Wertekosmos herrschte die Melancholie in ihren verschiedenen Metamorphosen als Einsamkeit, Innerlichkeit, Genialität, als Verehrung des Sublimen, der Authentizität, und schließlich: als Größe. >Gesellschaft< wurde hier selten als ein dem Individuum förderliches Milieu erfahren. Rückzugsverhalten wurde nobilitiert und Anpassungsverhalten diskreditiert. In einem Klima heroischer oder gemeinsam genossener Einsamkeiten blieb der Sinn fur lockeren und anmutigen Umgang, fur Spielregeln und Gewohnheiten, fur Konventionen und Konsens unterentwickelt. Kein Wunder, daß der Begriff >Konversation< so gründlich in Vergessenheit geriet.

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Luhmann (1984), S. 581. Vgl. Anm. 17. Zu erwähnen ist hier vor allen der Freiherr Adolph von Knigge, Über den Umgang mit Menschen (1788). Während Pittrof (1989, S. 78, 80 ff.) im Sinne des Verfassers vor allem die Originalität des Werkes hervorhebt in seiner eigentümlichen Mischung von Universalismus und Kasuistik, überständischem Ethos und Mikrologie des Sozialen, reiht Bonfatti (1979) das Umgangsbuch in die Tradition der Konversationskultur ein. Der andere Name, der hier zu nennen ist, ist der Schleiermachers.

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Bibliographie

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Friedrich Wolfzettel

Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance

»Aus alter Form zu neuem Leben« ist ein früher Beitrag Manfred Bambecks 1 überschrieben: Darin zeigt der Verfasser, wie der frühhumanistische Hofdichter Jean Lemaire de Beiges die ausklingende Tradition der sog. Rhétoriqueurs im Rahmen eines optimistischen frühhumanistischen Dichtungsideals neu funktionalisiert. Das mittelalterliche Memento mori weicht in den scheinbar noch ganz traditionellen Totenklagen um fürstliche Gönner dem neuen Topos der Unsterblichkeit der Dichtung, die primär den Sänger, nicht den Toten adelt; und im allegorisch geprägten Naturmotiv wird eine dynamisch-kosmische Verankerung sichtbar, welche in der Vorstellung des Schöpferischen gründet. Der Autor aber partizipiert an dieser schöpferischen Energie. Mit Bambeck: Der Dichter vollzieht die eigene, willentliche Zustimmung zu einer mit dem Blick des Künstlers geschauten biologischen Gegebenheit. Die Natur ist ihm selbst die erste, die schöpferische Künstlerin schlechthin. (S. 35)

Der burgundische Frühhumanist, Hofdichter Margaretes von Österreich, initiiert mithin in Frankreich jenen folgenreichen Paradigmenwechsel der Dichtungskonzeption von einem handwerklich-rhetorischen Verständnis 2 zu den - neuplatonisch beeinflußten — Inspirations- und Schöpfungstheorien, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Theorie und Praxis der Pléiade am Hofe Heinrichs II. gipfeln werden. Indessen bezeichnet rückblickend gerade die Durchsetzung der Inspirationslehre, die ja bekanntlich in der Romantik erneut vorherrschend wird, einen entscheidenden Schritt zur Irrationalität, ja zum Gnadencharakter eines Dichtens, das im U m kreis der Verhofung des Dichters auch dessen Grundlagen als bloßes Geschenk begreifen läßt. Zunächst aber scheint es, daß die Selbstaufwertung des sich schöpferisch verstehenden Künstlers, Dichters und Gelehrten jener allgemein als Frührenaissance bezeichneten Übergangsphase zwischen den Italienfeldzügen Karls VIII. und dem frühabsolutistischen Hofstaat Franz I. an eine Vorstellung gebunden ist, die man mit dem neuzeitlichen Arbeitsbegriff umschreiben könnte und die überhaupt die Voraussetzung für eine neue Einschätzung menschlicher Aktivität bietet, wie sie das Mittel1

2

Manfred Bambeck, Aus alter Form zu neuem Leben. Versuch einer Deutung der Dichtung des Jean Lemaire de Beiges, Zs. f. frz. Sprache und Literatur 68 (1958), S. 1—42. Hierzu Paul Zumthor, Le Masque et la Lumière. La poétique des grands rhétoriqueurs, Paris 1978 (collection Poétique).

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alter noch nicht und auch der italienische Humanismus nur in Ansätzen entwickelt haben. 3 Das schöpferische Moment äußert sich in dem Ideal einer selbstbewußten Fülle, die Terence Cave — mit einer Entlehnung aus dem 'Tiers Livre' von Rabelais — the »cornucopian text«4 genannt hat. Ist dies richtig, so stünden Dichtungstheorie und Epochenbewußtsein in engem Zusammenhang, und darüber hinaus könnte so die Eigentümlichkeit und Eigenwertigkeit einer Epoche hervortreten, deren Anfang nach dem Hundertjährigen Krieg der französische Historiker Georges Duby mit der Formel »trois générations de reconstructeurs« 5 umschrieben hat. Wir wollen dies an einigen Beispielen zeigen, die aus unterschiedlichen Gattungstraditionen stammen und für die sog. Frührenaissance charakteristisch erscheinen. Kehren wir zunächst zu unserem Autor zurück und zwar zu dessen dichtungstheoretischer Schrift 'La Concorde des deux langaiges', 6 die — 1513 erschienen — das Selbstbewußtsein des jungen französischen Humanismus dokumentiert. 7 Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst des Hauses Österreich und der Übernahme des Amtes eines »judiciaire de la reine« deutet der Schüler des burgundischen Rhétoriqueur Jean Molinet programmatisch die Versöhnung und Gleichwertigkeit der italienischen und der französischen Tradition an. In den fast gleichzeitigen 'Illustrations de Gaule et singularités de Troyes' (1511-12), einer phantastischen Gründungssage und Genealogie des französischen Königshauses, geschieht dies durch bewußten Rückgriff auf Inhalte und Formen der nationalen Uberlieferung im Zusammenhang mit der anglonormannischen Trojasage des 12. Jahrhunderts. Das dem Rhétoriqueur Guillaume Crétin gewidmete dritte Buch verbindet ausdrücklich die eigene Berufung z u m D i c h t e r (l'art oratoire) m i t d e m G e b r a u c h v o n ceste nostre langue françoise

et

gallicane. In der 'Concorde' ist die national-humanistische Bewußtwerdung in die Form der allegorischen Traumreise gekleidet, die den angestrebten Einklang der beiden Sprachen und Kulturen als Ergebnis eines Erkenntnisweges ausweist. Da

3

Vgl. hierzu Karl Bosl, Armut, Arbeit, Emanzipation. Zu den Hintergründen der geistigen und literarischen Bewegung vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, in: Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte des Mittelalters (Fs. Herbert Heibig), hg. v. Knut Schulz, Köln 1976, S. 128-146. Der Beitrag bleibt freilich skizzenhaft und geht auf den literarischen Aspekt nicht ein. Zur >Geistesgeschichte< der Arbeit siehe Paul Münch (Hg.), Ordnung. Fleiß und Sparsamkeit: Texte und Dokumente zur Entstehung der bürgerlichen TugendenIdeologie< im kritischen Wortsinn. Die demütige Geste des Neulings hat den gegenteiligen Effekt. Er wird zurückgestoßen, und aus dem traditionellen Normenhorizont entlassen. Oder anders: Der Versuch, an die eigene, höfische Tradition anzuknüpfen, ist ebenso verfehlt wie sinnlos. Nun könnte man angesichts der Inschrift an dem Steilfelsen, die von Jean de Meung, orateur françois stammt, folgern, die allegorische Reise sei eine Reise durch die beiden Teile des altfranzösischen 'Rosenromans' und schließe mit der Parteinahme für die nichthöfische, klerikale Fortsetzung durch Jean de Meung. Die Auseinandersetzung bezöge sich dann auf zwei eher schichtspezifische Aspekte, die beide der mittelalterlichen Literatur zuzurechnen sind. Und tatsächlich sprechen j a Giraud/Jung von einer »conception traditionnelle s'il en fut«.12 Das psychologische Argument Frappiers, daß sich an die erste, mißglückte Wanderung eine zweite anschließt, die dann offensichtlich nicht damit erklärt wird, daß eine angeblich heitere Sinnlichkeit der Ergänzung durch Reife bedarf, wirkt in jedem Fall einseitig; und auch Frappiers Vergleich der Personen des Venustempels mit den gentils compagnons in der Rabelais'schen Abtei T h é lème (S. XLVIII) erscheint außerordentlich fragwürdig. Entscheidend dürfte die innere Dialektik beider Reise- und Erkenntnisstufen sein. So ist mit R e c h t daraufhingewiesen worden, daß der Dichter seine Anwesenheit im Temple de Vénus auch dazu benützt, um Jugend und Natur hymnisch zu besingen, und so das eingangs angesprochene schöpferische Verständnis der Dichtkunst thematisiert. Das herrliche Konzert demonstriert die Überlegenheit der n e u e n Musik (nouveaux monocordes) über alte Instrumente und läßt erstmals die neuplatonischpythagoreische Vorstellung der Sphärenharmonie anklingen. Wenn es aber möglich ist, in dieser Weise den Triumph des Neuen von der dazugehörigen höfischen Tradition zu trennen, so müßte ähnliches auch für die zweite, >klerikale< Stufe gelten, die im Zeichen Jean de Meungs steht. Die Modernität, die der Dichter im Venustempel lediglich erfährt, aber zu der er keinen Zugang findet, wäre mithin im Tempel der Minerva zu suchen, der das Paradiesmotiv mit humanistischen Konnotationen umwertet. Denn es geht j a gerade darum, eine andere Form des Paradieses zu finden, zu dem man zugelassen ist und in dem die eigene industrie etwas gilt. Damit wird aus der bloßen Sukzessivität der Wege und Paradiese ein Verhältnis der wechselseitigen Ausschließlichkeit, welches die biblische Alternative zwischen dem bequemen Weg, der ins Verderben führt, und dem steilen Weg zum Himmelreich nahelegt. Der steile Weg ist aber auch der lange Weg voller Irrungen und Gefahren, und das Ziel steht nur dem neugierig Suchenden — die Rede ist von curiosité (S. 38) — offen. Die damit verknüpften Begriffe wie cueur noble oder cueur loyal erscheinen von ständischen 12

Giraud/Jung [Anm. 10], S. 202.

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Konnotationen abgekoppelt und verweisen nurmehr auf eine individuelle Tüchtigkeit, die durch die Tugenden estude, labeur und soucy, d. h. mühseliges Lernen, Fleiß und Arbeit sowie Sorge ausgewiesen wird. Dahinter steht offensichtlich das neue Ideal einer Elite, das auf s e i n e Weise Lust und ewiges Leben verheißt. Ewiges Leben als Lohn für individuelle Leistung, für >Arbeit< — nicht nur im alten Wortsinn von Mühsal und Dulden, sondern bereits auch im heutigen Verständnis. Entscheidend ist so z . B . nicht, daß der hohe Felsen den bis in die Antike zurückzuverfolgenden Topos des Tugendberges (Frappier, S. X X X V ) variiert, sondern gerade die Tatsache, daß die eigentliche Bedeutung nicht mehr mit der herkömmlichen moralischen Interpretation des Topos identisch ist und der Berg zum Symbol von Leistung - im humanistischen Sinn — wird. Der aus der höfischen Ordnung entlassene bürgerliche Humanist, Dichter und Gelehrte, dem der Zutritt zu dem höfischen Paradies verwehrt wurde, schafft sich durch eigene Anstrengung ein Paradies neuer Art und ersetzt zugleich den adligen Ehrbegriff durch eine berufsständische Ehrvorstellung, die man mit Max Weber 13 »als spezifisch bürgerliches Berufsethos« bezeichnen könnte. Die industrie, die vordem nichts galt, wird nun zum höheren Zweck und zum Ausweis des Selbstwertes aufgewertet; Arbeit ist nicht mehr nur instrumental im Sinn der mittelalterlichen Sündenfalltheologie und der scholastischen Tradition bis Thomas von Aquin; sie ist vielmehr Daseinsform, j a Telos und Erfüllung eines Lebensentwurfs, der den höfischen programmatisch ersetzt. Von einer Versöhnung der Gegensätze im oben genannten Sinn kann dann nur unter der Bedingung die Rede sein, daß man diese Versöhnung auf einer dialektisch höheren, fortgeschrittenen historischen Stufe ansiedelt. Der französische Humanist orientiert sich an der Wertwelt des italienischen Humanismus und versucht, aus dieser Position heraus das eigene Erbe zu retten - gleichsam auf eine neue Stufe zu heben, so wie das neue humanistische Paradies h ö h e r hegt als das alte höfische. Der humanistische Dichter reiht sich nicht in einen gegebenen Normenhorizont ein; er schafft im Gegenteil die Utopie einer neuen Ordnung, welche auf die Kategorie der - intellektuellen — Arbeit gegründet ist. Nicht zufällig erscheint am Ende der Traumreise die Vision von Labeur Hystorien in Gestalt eines einsamen Eremiten. Dessen hermitaige, tres solitaire, mais bien gamy de librairie ancienne et nouvelle (S. 45), verweist j a nicht nur auf das neue Ideal des gelehrten Dichters, sondern zuallererst auf ein Verfügen über die Tradition: geistige Macht, die durch geistige Arbeit legimitiert ist. Und diese Neudefinition des Traditionsbezugs wird durch die Neufunktionalisierung der älteren Gattungstradition zum Ausdruck gebracht. Der Optimismus, der hier sichtbar wird, scheint freilich das besondere Merkmal jener frühhumanistischen Epoche zu sein, die zugleich - wie unser Beispiel ebenfalls zeigt — unter präreformatorischen Kennzeichen steht und die andere Seite der Arbeit, das bürgerliche Erwerbsstreben, noch weitgehend ausklammern kann. Schließlich geht es j a um die Selbstadelung der neuen Humanistenklasse, die sich ihrer kulturellen und politischen Bedeutung für den erstarkenden zentralistischen Nationalstaat durchaus bewußt war. Der ideologische >Fallstrick< dürfte in der implizit angedeu13

Max Weber, Die protestantische Ethik, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1920 (Nachdruck 1965), S. 184.

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teten, kulturellen und politischen Translatio-Theorie zu sehen sein. Z u r gleichen Zeit nämlich, da Ludwig XII. den durch Karl XIII. wieder eingeführten Ämterkauf kodifiziert und der später berühmte Gräzist Guillaume Budé als Leiter des Bureau des parties casuelles für Ämterkauf fungiert, projiziert Jean Lemaire die Abhängigkeit von Geld und R e i c h t u m auf die überlebte höfische Idylle und weist so das neu gefundene Humanistenparadies als Bereich eines gleichsam interesselosen Strebens und Wirkens aus. Er hat damit nicht nur, wie ein älterer Kritiker meint, »compris la grandeur du travail intellectuel et cru à sa profonde moralité«; 14 er hat die Arbeit vor allem als Instrument der Wahrheitssuche moralisiert und von ihren realen Voraussetzungen abgekoppelt. Der Hofdichter steht am Anfang eines ideologischen Paradigmas, dessen Echo wir auch bei Erasmus, Thomas Morus, Guillaume Budé, Etienne Pasquier u. a. finden. Der amerikanische Soziologe George Huppert hat diesbezüglich von einer Generation von »Bourgeois Gentilshommes« 15 gesprochen. Daß im Z u g e bewußter Ü b e r n a h m e und Aneignung ursprünglich adliger Codes auch der eben gewonnene Arbeitsbegriff — selbst in seiner geistigen Variante — bald wieder in den Hintergrund tritt, hat z . B . Gilbert Gadoffre 1 6 in einer Fallstudie zu Budé gezeigt. Höfisierung und Aristokratisierung des Dichter-Gelehrten gehen offensichtlich Hand in Hand. Doch auch aus anderer R i c h t u n g droht Gefahr. Der labeur hystorien, bei Jean Lemaire noch Inbegriff positiver Weltaneignung und Wahrheitsgewinnung, konnte sich dem Einfluß der reformatorischen Auseinandersetzungen u m Wahrheit und Tradition nicht ganz entziehen. Die Fragwürdigkeit eines solchen labeur war schon Zeitgenossen offenkundig und dürfte mit zur Entstehung pagan-hedonistischer Strömungen gerade auch in humanistischen Kreisen - man denke nur an Etienne Dolet und Rabelais - beigetragen haben. Daß dabei die spätmittelalterliche Tradition der lachenden Satire, von Narrenspiel und Karneval, eine wichtige Rolle spielt, ist sicherlich kein Zufall; denn der neuzeitliche Geltungsanspruch des neuen Ethos wird so im Rückgriff auf eine scheinbar überwundene Geisteshaltung in Frage gestellt. U n d zugleich eröffnet nun diese karnevaleske Infragestellung 17 des humanistischen Arbeit-Wahrheit-Ideologems die Möglichkeit, das bisher ausgesparte tätige Leben selbst zumindest in den Blick zu rücken. Dies scheint jedenfalls der eigentliche Sinn einer Stelle aus dem noch immer nicht völlig geklärten und erklärten ' C y m b a l u m 14

15

16

Paul Spaak, Jean Lemaire de Belges. Sa vie, son œuvre et ses meilleures pages, Paris 1926, S. 107. George Huppert, Les Bourgeois Gentilshommes. An Essay on the Definition of Elite in Renaissance France, Chicago 1977, bes. Kap. V, IX und Χ. Gilbert Gadoffre, Culpabilisation sociale et déculpabilisation culturelle chez Guillaume Budé, in: Klaus W. Hempfer u. Gerhard Regn (Hgg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissanceliteratur (Fs. Alfred Noyer-Weidner), Wiesbaden 1983, S. 191200.

17

Zu dem gelehrten, nicht-volkstümlichen Charakter des »karnevalesken« Paradigmas und der damit verbundenen Kritik an den Thesen Bachtins siehe Richard M. Berrong, Rabelais and Bakhtin. Popular Culture in »Gargantua and Pantagruel«, Lincoln/London 1986. Zur Funktion der Narrheit in der Humanistensatire siehe Barbara Könneker; Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Brant - Murner — Erasmus, Wiesbaden 1966.

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Mundi' zu sein, das 1537 anonym in Lyon erschien. Als wahrscheinlicher Verfasser gilt Bonaventure des Périers, der als Mitarbeiter an der protestantischen Bibelübersetzung von Olivétan und Korrektor des berühmten Lyoner Buchdruckers Etienne Dolet zunächst proreformatorischen Strömungen des französischen Humanismus nahegestanden haben dürfte; um 1536, also kurz vor Erscheinen des 'Cymbalum', muß er in die Hofhaltung Margaretes von Navarra eingetreten sein. Das 'Cymbalum', die Weltschellentrommel — vielleicht auch in Anspielung an das Pauluswort vom »tönenden Erz« und von der »klingenden Schelle«, einer Wahrheitssuche ohne die Liebe - ist zweifelsohne zumindest in einzelnen Teilen eine Reformatorensatire, 18 die mittelalterliche Karnevaleske und lukianische Tradition 19 miteinander verbindet. Ohne dabei im Rahmen der sogenannten Rationalismusdebatte in die Forschungsdiskussion einzugreifen, die vor allem durch Lucien Febvre 20 1942 in eine neue Phase trat, gehen wir mit Jan R . Morrison von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer weniger antichristlichen und strikt theologischen als moralischen Satire aus.21 Offensichtlich geht es ja, wie vor allem die hier nicht relevanten späteren Dialoge des 'Cymbalum' zeigen, um den Status und das Selbstverständnis der humanistischreformatorischen >Intelligenzmodern< ausfallen kann: indem sie den Sinn des eben erst entdeckten und aufgewerteten Arbeitsbegriffs wieder in Frage stellt. Der Rückzug aus dem Zwangsbereich bürgerlicher Ehre wird als Rückzug in eine ursprüngliche simplicité und vie innocente fern von vaine gloire, biens transitoires und honneurs begriffen und als höhere Form der joyeuseté, einer an Rabelais erinnernden Fröhlichkeit, definiert. Das heißt aber nichts anderes, als daß die scheinbar wiedergefundene vita contemplativa wenig mit mittelalterlicher Askese zu tun hat und stattdessen auf eine neue Aneignung des Kosmos hinzielt, die gerade durch die arbeitsteilige Aneignung im bürgerlichen Leben verhindert wird. Nicht zufällig stellen sich ja auch die Anspielungen auf die arkadischbukolische Tradition mit ihrem Hof-Land-Gegensatz ebenfalls als trügerisch heraus. Das Ideal einer rurale science im Zyklus der Jahreszeiten und im Eingehen auf die konkrete Welt ist gebunden an eine anstrengungs- und absichtslose Haltung, die allein die innere Autonomie des Ich zu verbürgen scheint: Il vit à soy sans témoing, qui le juge./ Il pend de soy, comme qui est son juge (S. 186). Dies scheint bereits Montaigne vorwegzunehmen und zeigt den Abstand zu dem humanistischen Optimismus der Frührenaissance. Fassen wir zusammen: Im Zeichen kosmischer Ganzheit und eines universalen Bildungsideals hatte die humanistische Frührenaissance — bei Lemaire de Beiges — den Arbeitsbegriff als Funktion schöpferischer Produktivität entdeckt. Aber in dem Maße, wie jener zugleich als Funktion von Bereicherung und Entfremdung avant la lettre begriffen wird, setzt das Ideal des Wissens und der Selbstgewinnung schon wieder die Infragestellung der Arbeit voraus oder doch deren Problematisierung.

42

Œuvres poétiques complètes de Maurice Scève, hg. ν. Bertrand Guégan, Paris 1927 (Nachdruck 1967), S. 181. Vgl. auch Verdun-L. Saulnier, Maurice Scève (ca. 1500-1560), Paris 1948-49 (Nachdruck 1981), 2 Bde., S. 312 ff.: »La retraite bucolique«.

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Vielleicht gilt dies sogar schon fur den späten Rabelais, denn es ist zumindest auffallig, daß der Verehrer der 'Utopia' des Freundes Thomas Morus auf eine genauere Beschreibung seiner eigenen Utopia - mit Ausnahme der Abtei Thélème - weitgehend verzichtet und stattdessen seine Helden lieber auf eine - nicht weiter begründbare - Suchfahrt schickt. Sie wäre dann zu interpretieren als Audruck des bewußten Verzichts auf die traditionell humanistische Verbindung von Arbeit und Wissen. Und vielleicht wäre dann die freiheitlich lustvolle Lebensführung der gentils compagnons in der Abtei Thélème doch als Gegenentwurf zu einem auf Arbeit gegründeten Lebenskonzept zu verstehen. Wir hätten es also schon bei Rabelais mit zwei konfligierenden Haltungen zu tun, um deren Harmonisierung sich der schalkhaft lachende Autor erst gar nicht bemüht. Offensichtlich ist die aufgebrochene Widersprüchlichkeit vorerst nur im Lachen, in der karnevalesken Subversion, wie Bachtin gezeigt hat, zu ertragen. Die nachfolgende Generation der Pléiade, anders als die Humanisten der Reformation eine »höfische Generation«, schiebt die genuin bürgerlich intellektuelle Problematik beiseite und schafft sich mit der neuen Inspirationstheorie platonischer Herkunft ein ideologisches Instrument, das Auserwählung von Gnade und Begabung, nicht mehr von Arbeit und Fleiß abhängig erscheinen läßt. In nur wenigen Jahrzehnten durchmißt die französische Frührenaissance so das ganze Spektrum der Problematik, die inhaltlich neu, im Rückgriff auf alte Gattungen und Traditionen reflektiert, demonstriert, relativiert und schließlich bewußt ignoriert wird.

Gerhild Scholz W i l l i a m s

Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen Neuzeit

Der glücklichen Natur ist es zu verdanken, daß sie das Notwendige leicht erreichbar und das schwer Erreichbare nicht notwendig gemacht hat. (Epikur) In einer kürzlich in Amerika veröffentlichten dreibändigen Aufsatzsammlung zum Renaissance-Humanismus erscheint das W o r t >Epikur< in den Variationen >EpicureanismEpicurians< und >Epicurus< als Stichwort ganze fünfzehnmal. Im dritten Band verweist Paul Oskar Kristeller außerdem kurz auf die positive Rezeption von Epikurs Lehre bei Valla, Raimondi und Ficino. 1 Im wesentlichen scheint die W i r k u n g Epikurs in der Frühen Neuzeit auf diese Humanisten beschränkt zu sein. Demgegenüber stellt Gerald Strauss unter Hinweis auf den Gebrauch des Namens Epikur und seiner Variationen bei Luther, Calvin und Melanchthon fest, daß mit dem sechzehnten Jahrhundert das W o r t >Epikureer< ein Schlagwort (»buzzword«) geworden war und als solches benutzt wurde. 2 Howard Jones begeht in seiner Studie zur epikureischen Tradition den Mittelweg zwischen beiden Fronten, indem er nachweist, daß sich die Erwähnung des Namens Epikur im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert zwar häuft, ein tieferes Verständnis seiner Philosophie jedoch ausbleibt. Er verfolgt den Gang der Philosophie Epikurs durch die Zeitalter bis ins achtzehnte Jahrhundert. 3 Paul Oskar Kristeller, Humanism and Moral Philosophy, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy, Vol. 3: Humanism and the Disciples, hg. v. Albert Rabil, Jr., Philadelphia 1988, S. 271-309. 2 Brief vom 21. Januar 1990. Hiermit sei Prof. Strauss fur seine hilfreichen Hinweise gedankt. 3 Howard Jones, The Epicurean Tradition, London/New York 1989. Das Buch beschreibt zuerst in Kürze die Grundzüge der Philosophie Epikurs, verfolgt ihre Verbreitung von Griechenland nach Italien, ihre Aufnahme und Kommentierung bei den Kirchenvätern, ihr »mittelalterliches Zwischenspiel« und, für uns besonders wichtig, ihre Aufnahme und Diskussion unter den Humanisten, erst in Italien und dann in Nordeuropa. Jones stellt fest, daß Epikurs Lehre als ernstzunehmende Philosophie oder kritisierter Hedonismus im Mittelalter kaum eine Rolle spielt, im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eine sehr geringe verglichen mit den viel bekannteren Stoikern, Neoplatonikern und den Peripatetikern. Jones untersucht die Druckgeschichte der Hauptwerke, die Epikurs Lehre vermitteln. Lukrez' 'De rerum natura', Diogenes Laertius' 'Leben berühmter Philosophen' und der Schriften Ciceros, in denen epikureisches Gedankengut im allgemeinen nicht positiv kom1

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Gerhild Scholz

Williams

Meine Arbeit gilt der Untersuchung der vielfältigen, oft widersprüchlichen Wege, auf denen Epikur das späte fünfzehnte und ganz besonders das sechzehnte Jahrhundert begleitete und inspirierte; mein Interesse gilt der Wirkungsgeschichte dieses Konzepts und, notwendigerweise kurzgefaßt, dem Zusammenhang von Sozialdisziplinierung und der Polemik gegen epikureische Transgressionen in der 'Historia von D. Johann Fausten'. 4 Es wird zum Schluß Zumindestens in aller Kürze zu fragen sein, inwieweit sich der Begriff des Epikureismus als brauchbar erweist in der Artikulation religiöser, philosophischer und politischer Orthodoxien und Heterodoxien und inwieweit die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts virulent werdende Hexenverfolgung in Verbindung zu bringen ist mit der Unfähigkeit der angeklagten Frauen, eine adäquate Sprache religiöser Dissidenz zu entwickeln. I

Epikur, dem neben Sokrates, Plato und Aristoteles sicher bekanntesten griechischen Philosophen aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, erging es in der Frühen Neuzeit nicht anders als immer schon. Der N a m e >Epikur< war ein Schlagwort mit vielfältigen positiven und negativen Bedeutungsvarianten, aber vor allem ein Signal der Häresie und der Verdammung, seit seine Philosophie von den Kirchenvätern und im Mittelalter rezipiert wurde. Mit ganz besonderer Eindringlichkeit reflektiert ihre Rezeption die religiöse und politische Zerrissenheit des reformatorischen Jahrhunderts. Leidenschaftlich verteidigt, aber auch vielfach mißverstanden und geschmäht, war Epikurs Philosophie, wie Jungkuntz meint, »ein guter Knüppel, mit dem man alle möglichen Häretiker schlagen konnte«. 5 Jemanden einen >Epikureer< zu schimpfen, ob moralisch, politisch oder religiös verstanden, bedeutete immer auch den Versuch, den so Bezeichneten außer Gefecht zu setzen, ihn an den R a n d der Diskussion zu drängen, zu marginalisieren. 6 Die Philosophie, die Epikur im privaten Bereich seines Hauses und Gartens im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts einer ausgewählten Gruppe von Anmentiert wird. Wiederholt stellt er fest, daß selbst Humanisten, die Lukrez hoch schätzten, noch lange nicht Epikur in diese Hochschätzung einbezogen, »embracing Lucretius the poet while rejecting the Epicurean message« (S. 162). Er konstatiert, daß spätestens mit d e m Mittelalter zwei Epikur-Inkarnationen die Vorstellung von der Lehre dieses Philosophen beherrschten, die des Hedonisten und Erzhäretikers und die des Philosophen, der sich in der Weltabgeschiedenheit seines Gartens i m Kreise seiner Freunde der Naturbetrachtung und den geistigen Freuden eines maßvollen Lebens hingab. Erst Mitte des siebzehnten J a h r h u n derts, mit den Arbeiten des Franzosen Gassendi, rückt Epikur mehr ins Z e n t r u m philosophischer Diskussionen. — D i e A u f s a t z s a m m l u n g v o n M a r g a r e t Osler lag bei D r u c k l e g u n g leider noch nicht vor: M . O . (Hg.), A t o m s , P n e u m a and Tranquillity. Epicurean and Stoic themes in European thought, C a m b r i d g e u . a . 1991. 4 Historia v o n D . J o h a n n Fausten. Text des D r u c k s v o n 1587. Kritische Ausgabe, hg. v. Stephan Füssel und Hans J o a c h i m Kreutzer, Stuttgart 1988. 5 R . P. J u n g k u n t z , Fathers, Heretics, and Epicureans, T h e Journal o f Ecclesiastical History 1966, S. 3. 6 J o h n Yoders K o m m e n t a r zu M a r c Lienhard in: C r o y a n t s et sceptiques [ A n m . 29], S. 5 1 - 5 3 , hier S. 51.

Faust verführt: Epikur in der Frühen

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hängem, darunter auch Frauen, vortrug, gab seit jeher Anlaß zur Kritik. Seine Götter lebten in ewiger Indifferenz und unberührter Glückseligkeit in ihrem Himmel, sie trugen keine Verantwortung für das Leiden der Welt, ihre Unsterblichkeit war keine Auszeichnung, ihre Haltung den Menschen gegenüber von undurchdringlicher Gleichgültigkeit. Der Mensch Epikurs fürchtete nicht den Tod, hatte deshalb auch keine Furcht vor den Göttern. 7 Er strebte weder nach R u h m noch nach politischer Macht. Das höchste Gut war das Leben in der Harmonie mit der Natur und mit sich selbst. Lernen und Lehren bedienten sich sanfter Uberzeugung, nicht scharfer Drillmethoden. Das gemeinsame Lernen war ein lebenslanger Prozeß, der unter dem wachsamen Auge des weisen Lehrers ablief. Da nach dem Tode keine Unterwelt drohte, entfiel für die Anhänger Epikurs die Furcht vor Strafe als Mittel der Sozialdisziplinierung. 8 Die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit, eine ausgeprägte Leidensscheu9 und eine sanft entschiedene Weigerung, sich den Problemen des Lebens zu stellen und in Arbeit und Mühe sein Leben hinzubringen, machten die Haltung der Epikureer Generationen von Christen, aber ganz besonders den Reformatoren noch verdächtiger als ihre Philosophie. 10 Das Universum Epikurs bestand aus Atomen und leerem Raum. Die Atome formten eine Vielzahl von Welten; die Menschen, die Seele, die Götter; alles, was nicht Leere war, setzte sich zusammen aus Atomen von unterschiedlicher Feinheit. Die Schöpfung war das Resultat einer momentanen Unordnung in der Bahn der Atome, wonach die neu etablierte kosmische Ordnung nicht mehr unterbrochen wurde. Epikurs Atome sind von unendlicher Zahl. Sein Kosmos erschließt sich nicht dem bewundernden und forschenden Blick des Menschen, denn der Mensch steht dieser Welt distanziert und leidenschaftslos gegenüber. Epikurs Mensch ist kein Stürmer und Dränger, kein Entdecker und Forscher; die Betrachung der Natur befreit ihn von der Furcht vor dem Tode, sie spornt ihn nicht zu Höhenflügen unerlaubten Wissenwollens an.11 Im Zentrum der Philosophie Epikurs stand immer und nachdrücklich die Glücksmöglichkeit des Menschen. 12 Fragen über die Natur des Universums sollten ihn nicht beunruhigen, denn das Ziel des menschlichen Lebens war allein die gleichmütig-glückselige Anschauung der Schöpfung, deren Ursprung unbekannt bleiben mußte.

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Benjamin Farrington, The Faith of Epicurus, London 1967; A. Festugière, Epicurus and his Gods, Oxford 1955; weiterführend die Bibliographie von Howard Jones [Anm. 3]. »Death, the most horrifying of evils, is nothing to us, since, for the time that we are alive, it is not present, and, whenever it comes, we no longer exist. Therefore, death concerns neither the living nor the dead« (Jones [Anm. 3], S. 61). »Every animate thing, the moment it is born, reaches out for pleasure and shrinks from pain« (Norman Wentworth de Witt, Epicurus and his Philosophy, N e w York 1954, S. 129). Gottfried Maron, Martin Luther und Epikur. Ein Beitrag zum Verständnis des alten Luther, Hamburg 1988, S. 30 u. 31. Jones konnte Marons Studien nicht mehr berücksichtigen, was seine Diskussion von Luthers Haltung zu Epikur sehr kurz ausfallen läßt. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 21973, S. 65. Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und Überarb. Neuausgabe der Legitimität der Neuzeitrichtig< oder >falsch< verstanden, beeinflußte die Morallehren verschiedenster Philosophen und Theologen; zweitens fand sie Eingang in die Ethik der Frühen Neuzeit, und sie beinflußte drittens die Kosmologie, das Naturverständnis und die Soziallehre bis hin in die Zeit der Aufklärung. Die Rezeptionsstränge blieben selten säuberlich getrennt; meistens vermischte sich das Rationalistisch-Kosmologische mit der Morallehre, z . B . bei Pomponazzi und den Humanisten an der Akademie von Padua, etwa bei Henri Estienne und Jacques Gruet oder am Ende des Jahrhunderts bei Giordano Bruno. Diese Humanisten akzeptierten die Möglichkeit einer Vielzahl von Welten in einem unendlichen Kosmos, sie äußerten Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele, an der Gottessohnschaft Christi und an der Dreieinigkeit. Giordano Bruno lehnte gar die Realität der Hölle ab. Diese Heterodoxien hatten ihrerseits schwerwiegende Konsequenzen im mangelnden Sündenbewußtsein dieser >EpikureeratheosEpikureerLibertiner< und manchmal als >Atheisten< und versuchte, sie damit zum Schweigen zu bringen. 29 Schwerer zu identifizieren sind mögliche positive Einflüsse der epikureischen Pädagogik auf Erasmus und auf den vermutlich von Erasmus beeinflußten Wickram wie auch auf die Kosmologie des Nikolaus von Kues und des Kopernikus. 30 Doch die Invektiven überwogen bei weitem, und man tat sich im allgemeinen keinen Zwang an. So oft wie Luther Erasmus einen Epikureer schimpfte, attackierte Bucer mit demselben Begriff und allen seinen Synonymen seine Straßburger Mitbürger. Die Reformatoren hetzten gegeneinander, die Katholiken gegen die Reformatoren. Zwischen diesen Extremen, diesen polaren Gegensätzen der Bewunderung und Idealisierung der Lehre Epikurs als Beispiel für geistliche Freude und Bescheidenheit einerseits und der Benutzung als bitteres Schimpfwort und somit der schließlichen Abnutzung durch überhäufigen Gebrauch andererseits präsentiert sich die Wirkungsgeschichte des wie ungenau auch immer definierten Epikureismus im sechzehnten Jahrhundert. 31 Eine weitere sicher auch von Lukrez und Horaz beeinflußte Form der Epikurrezeption, die des sinnenfreudigen, gefährlich unorthodoxen, jedoch noch nicht he26 27

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Roland Crahay in: Croyants et sceptiques [Anm. 29], S. 53f. Maron [Anm. 10], S. 28. Der Vorwurf des Atheismus wurde Epikur und seinen Anhängern schon zu dessen Lebzeiten gemacht (De Witt [Anm. 9], S. 279). Boyle [Anm. 25], S. 70: »Epicurissimus: In his manner of life he was without God, lived with a great sense of security, and died in the same way«. Siehe Marc Lienhard, Les épicuriens à Strasbourg entre 1530 et 1550 et le problème de l'Épicurisme au XVI e siècle, in: Croyants et sceptiques au XVI e siècle. Le dossier des »Epicuriens«. Actes du colloque organisé par le GRENEP, Strasbourg, 9-10 juin 1978, hg. v. M. L„ Strasbourg 1981, S. 15-45, hier S. 34 u. 36. Zu Wickram und Erasmus siehe die Dissertation von Elisabeth Waghall, Washington University in St. Louis 1992; zu Kopernikus und Epikur die genannten Arbeiten von Blumenberg. Im >Frühneuhochdeutschen Glossar< von Alfred Götze, Berlin ?1967, S. 66 erscheint »epikureisch« als >ungläubig, materialistisch, schlemmerhaftMaterialistEpikureismenepikureischem< Wohlleben und tugendhafter Standfestigkeit gegenüber einem unberechenbaren Schicksal löst Massimi problemlos. Tugend besiegt selbst die Götter und den Einfluß der Sterne: »Tugend besiegt die Götter und die Sterne, / Tugend knüpft von neuem die von den Parzen zerrissenen Fäden/ . . . Wenn das Schicksal droht, / dem Weisen kann es nichts anhaben. / A m Ende liegt die R u h e nach den Mühen«. 37 Der Mensch, der sein Glück im Himmel sucht, findet dort nichts als unbeteiligte Götter. 38 Massimi mischt Aristotelisches mit Epikureischem, wenn er von den vier Elementen spricht, aus denen alles geformt ist, und von der ganz leichten Materie, der quinta essentia, die die obersten R ä u m e des Kosmos füllt. Das epikureische Universum ist unendlich und leer: »Man findet nie den Grund noch das Ende . . . keine einzige Stimme ertönt in der Leere«.39 Dieser Kosmos erschließt sich dem Verstand, - die Welt ist erschaffen um des Menschen willen, damit er diesen Himmel mit Göttern füllt, die ihn in seiner Welteinsamkeit trösten sollen. Massimis zeitweilig an Zynismus grenzende Skepsis wird sich im sechzehnten Jahrhundert in den Soziallehren einiger scharf verurteilter und verdammter R e f o r mer wiederfinden. 40 Einige von diesen, so etwa der schon erwähnte Henri Estienne, wagten Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Festellung, daß alle Religionen lediglich Produkte des Menschenhirns seien. Der Franzose Jacques Tahureau ging noch einen Schritt weiter mit der Behauptung, daß alle Institutionen, auch die Kirche, nur dazu dienten, den Menschen das Fürchten zu lehren. 41 Das Echo Pomponazzis ist nicht zu überhören. In seiner Schrift 'De immortalitate animae' (1516) meint auch er, daß die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele eine Erfindung der Theologen sei, um die einfachen Menschen zum tugendhaften Leben anzuhalten. Pomponazzi postuliert Tugend um ihrer selbst willen als das höchste Gut des Menschen und vornehmste Aufgabe menschlicher Erziehung. 42 Massimi starb, hundertjährig, am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Obwohl seine 'Elegien' noch gelesen wurden — man lobte das dichterische Talent des Autors, kritisierte jedoch seine Themenwahl und seine Offenheit - , geriet er allmählich in Vergessenheit. Erst in den Jahrhunderten nach der Reformation wird er hier und dort wieder erwähnt, hauptsächlich als Dichter der freien, sorglosen Muse in der Art der Vagantenlyrik. IV Nach der teilweisen Aneignung und U m f o r m u n g des moralischen, ethischen und kosmologisch-naturphilosophischen Gedankenguts Epikurs im Laufe der Jahrhunderte kam mit der Reformation die politische Wirkung. Über bisherige Inter37

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42

Vincuntur uirtute dei super antur et astra/ Parcarum rursus truncaque fila ligat/ ... si fata minantur ... posse nocere negai, ι Aeternos uideo tandem finisse labores (S. 314). Nil praeter nudos inuenit esse déos (S. 404). Insanii: cantus illic qui sperai amoenos: / Nam uox: si tollas aera: nulla sonai (S. 406). Margolin [ A n m . 14], S. 1-33. Gerhard Schneider, D e r Libertin. Z u r Geistes- u n d Sozialgeschichte des B ü r g e r t u m s i m 16. und 17. J a h r h u n d e r t , Stuttgart 1970, S. 18. Kristeller [ A n m . 22], S. 83.

Faust verfiihrt: Epikur in der Frühen

Neuzeit

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pretationsvarianten hinausgehend, wandelten die Reformatoren Epikurs Philosophie in ein machtvolles Instrument politisch-kirchlicher Propaganda um. Die Lehren Epikurs, in Italien schon hundert Jahre zuvor von den Humanisten vielfach und unterschiedlich interpretiert, trugen im reformatorischen Deutschland erheblich zur Schärfe der schismatischen Rhetorik bei. Die frühneuzeitliche Rezeption unterscheidet sich von der mittelalterlichen u. a. in ihrer politisch-religiösen Virulenz und in ihrer Wirkung auf die Wissenschaft. In raschen Metamorphosen brachte die Lutherische Reformation nicht nur viele rivalisierende Konfessionen und aggressiv fundamentalistische Glaubensgruppen hervor, sondern in ihrer Mitte entstanden auch heterodoxe Glaubenshaltungen, deren Hauptmerkmal eine zunehmende Skepsis gegenüber jedweder Religion überhaupt zu sein schien. In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts treten uns die Heterodoxien in einer Vielzahl von N e o logismen entgegen. Worte wie Atheist, Deist, Libertin und Nikodemiker erscheinen in der Mitte des Jahrhunderts im Sprachgebrauch neben >EpikureerEpikureer< und die >Libertiner< reflektierte seine Unfähigkeit, das Verhalten der Stadtbürger schärfer zu reglementieren. Wie die Stadtordnungen Straßburgs zwischen den Jahren 1521 und 1559 zeigen, hatten die Maßnahmen gegen das Glücksspiel, gegen Festlichkeiten, Prostitution, Fluchen erheblich zugenommen. 47 Diese Entwicklung führte zu einem zunehmenden Exodus der radikalen Protestanten aus der Stadt; Männer wie Engelbrecht, Schultheiss und Ziegler suchten in anderen Städten Glaubensgenossen, die willens waren, sie aufzunehmen. Bucers Versuch, kirchliche und weltliche Autorität unter seine Kontrolle zu bringen, indem er unermüdlich gegen seine Gegner, die >Ungläubigen< und die >EpikureerNikodemikerHistoria von D. Johann Faustenanderen< Protestanten zeigen. In der sich über das Jahrhundert hinziehenden öffentlichen Diskussion wurde eine Sprache politischer und religiöser Auseinandersetzung geformt, die manchmal gefährlich, ja sogar tödlich werden konnte, wie die vielen Hinrichtungen zeigen. An der Vielfalt der Diskurse, mit deren Hilfe das sechzehnte Jahrhundert seine religiöse Schizophrenie artikuliert, wird die systembildende Kreativität dieses Jahrhunderts erkennbar. Die theologischen Kämpfe um die Hauptglaubensartikel der christlichen Religion erzwingen eine sprachliche Kreativität, die zunehmend R a u m für religiöse Dissidenz verschafft. Diese Sprache über Glaubensfragen war Männersprache. Frauen waren von ihr zum größten Teil ausgeschlossen. Im Chaos der Auseinandersetzungen um die Reformation im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts in Nordeuropa entwickelten die Reformatoren zunehmend die Fähigkeit, religiöse Dispute in der Volkssprache zu bewältigen, religiöse Opposition zu artikulieren, dogmatische Streitpunkte gegeneinander abzugrenzen. Bis auf wenige dramatische Ausnahmen, die auch hier die Regeln bestätigen, redeten sich die Männer in Glaubensstreitigkeiten am Scheiterhaufen vorbei. Den Frauen war weder Aristoteles, Plato noch Epikur zugänglich. Sie waren, wie Johann Weyer ihnen bescheinigt hatte, zu d u m m selbst für die Häresie. Sie waren damit auch lange unfähig, diesen dogmatisierenden Lernprozeß, der in erster Linie ein linguistischer war, mitzumachen. Auch Weyer setzt in seinen 'Praestigiis daemonum' »atheism, l'epicurism, l'impiete« gleich. 55 Frauen, mit ihrer »Weichköpfigkeit« (»mollesse de tête«) hatten kaum Zugang zu den Diskussionen der Männer, und die wenigen, die am Anfang der protestantischen Bewegung diesen Zugang forderten, verschwanden schnell wieder von der Bildfläche. In den unzähligen Faustinterpretationen ist, soweit ich weiß, nie die Frage berührt worden, warum Faust nicht verbrannt worden ist, ja, warum ihm nicht einmal mit der Strafe irdischer Richter gedroht wurde. Für sein Vergehen und seine Lebensweise wäre das völlig passend gewesen. Passend in der Tat, aber im Rahmen der Auseinandersetzungen mit den religiösen Heterodoxien des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts keinesfalls wirkungsvoll: sein Sterben als verführter, >verkehrter< (Sebastian Franck) Gelehrter, als unersättlicher Genußmensch, ist nicht nur Zeugnis für die gerechte Strafe Gottes, sondern auch für ein Weltbild, das nicht zuletzt durch die Glaubenssätze Epikurs ins Wanken geraten sollte. 55

Joan Wier, Histoires, disputes et discours des illusions et impostures des diables, Paris 1885 (1579), B u c h 1, Kapitel XLIV.

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Gerhild Scholz

Williams

Es ist kein Zufall, daß >Epikureer< ein Modewort des sechzehnten Jahrhunderts wurde. Epikurs Lehre lieferte Denkschemata und Sprachformen fur die religiösen, moralischen und politischen Auseinandersetzungen der Reformation und zur Artikulation gesellschaftlichen Außenseitertums. Auch wenn über Jahrhunderte hinweg im wesentlichen mißverstanden, fand man in seiner Lehre das andere Griechenland, die heterodoxe Tradition, die notwendig war, um nebem dem Erlaubten auch das Unerlaubte zu denken. Auch wenn letztendlich ein besseres Verständnis seiner Lehre sich durchsetzen konnte, hat dieser Triumph der geschichtlichen Wahrheit wenig zu tun mit der Rolle Epikurs als Vertreter eines Denkens, das versuchte, die Grenzen des Erlaubten und des Möglichen ein bißchen weiter hinauszuschieben. Darin gleicht er dem mythischen Hermes Trismegistus. Dessen magisches Weltbild und Epikurs R a tionalismus machten neues, radikal anderes Denken möglich, ja sie inspirierten es sogar.

Hans F r o m m

Eneas der Verräter

Bald zweitausend Jahre — etwa v o m 2. Jahrhundert v. C h r . bis z u m 17. J a h r h u n d e r t n. C h r . — haben über den antiken Sagenhelden Aeneas mehrere Überlieferungen nebeneinander gelebt, deren Symbiose nach unserem Verständnis rätselhaft ist: Aeneas das U r b i l d der Sohnestreue u n d Aeneas der Verräter, pius et impius, Aeneas der glanzvolle Auftakt einer frührömischen Herrscherfolge u n d Aeneas der Gewaltherrscher. Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach, w o u n d in welcher Weise sich die Traditionen im lateinischen u n d deutschen Mittelalter berührt haben u n d welches die M e r k m a l e ihrer Existenz waren. 1

I

Erste Hinweise gibt schon H o m e r : Aineias steht im K a m p f gegen Achilleus vor der Niederlage, doch Poseidon hat sein ferneres Schicksal im Auge, denn das Schicksal gönnt ihm Errettung, daß nicht samenlos das Geschlecht hinschwind und der N a m e Dardanos', den der Kronid aus allen Söhnen sich auskor, welche von ihm aufwuchsen und sterblichen Menschentöchtern. Denn des Priamos Stamm ist schon verhaßt dem Kronion; jetzo soll Aeneias' Gewalt obherrschen den Troern, und die Söhne der Söhn', in künftigen Tagen erzeuget. (Übers, v. Johann Heinrich Voss, Ilias X X , 302-308)

Das verweist auf den vergilischen Helden, der einen Rest des trojanischen Volkes aus der brennenden Stadt mit sich fuhren u n d dereinst im fernen Latium z u m S t a m m vater eines neuen trojanischen Geschlechtes werden wird. A u f diesen mythischen S t a m m b a u m werden sich später viele Herrscherhäuser, S t ä m m e und Völker f ü r die 1

Franz-Josef Schmale (Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985) stellte die distanzlose Übernahme der Quellen, die Ketten des Abgeschriebenen unter den Begriff des »ungeheueren Vertrauens«. »Was man geschrieben fand, war wahr, war richtig . . . Dieses Vertrauen . . . war ein Grundbestandteil von mittelalterlicher Wissenschaft und Gelehrsamkeit.« Eine einzige Ausnahme ließ er explizit zu: »Erst bei zwei oder mehr Aussagen zu e i n e r Person oder zu Sachverhalten, die nicht übereinstimmten, traten Zweifel auf« (S. 74 u. 88).

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Hans

Fromm

legale Verankerung ihrer Herrschaft berufen — Britannier, Franzosen, Franken, Bayern und zahllose andere. 2 Die mittelalterliche Vergildichtung des ' R o m a n d'Eneas' und Heinrichs von Veldeke fuhrt ihn von Eneas bis zu Romulus und Augustus, und mit dieser Verbindung ist zugleich die translatif) des trojanischen Rittertums bis ins europäische Mittelalter gegeben. 3 Außerdem ist in den Versen vom Haß des Poseidon auf das Geschlecht der Priamiden die Rede. Uber seine göttliche Herkunft berichtet Aineias selbst in der 'Ilias' im gleichen Zusammenhang. Er ist der Sohn des Anchises und der Aphrodite in einer Geschlechterkette, die letztlich bei Zeus und Dardanos begann (Ilias X X , 215-40), doch er gehört einer jüngeren Linie an; die ältere, in Troja herrschende, vertritt das Geschlecht der Priamiden, deren Vorkämpfer Hektor ist. Auch da wird eine Spannung sichtbar, die so weit sich auswirken kann, daß Aineias hinter den Schlachtreihen zu finden ist und dort von Deiphobos gesucht werden muß, denn immerdar dem göttlichen Priamos zürnt' er [Aineias], weil er [Priamos] ihn nicht ehrte, den tapferen Streiter des Volkes. (Ilias XIII, 460f.)

Die Aeneiden sind nach der Uberlieferung Zugewanderte. Aineias kommt aus thrakisch-illyrischem Gebiet. 4 Seine Sippe ist an den Hängen des Ida-Gebirges heimisch geworden, und der dort ansässige Kult der Großen Muttergöttin mag das Mythologem von der Vereinigung des Anchises mit Aphrodite befördert haben. Das Überleben des Aineias ist zugleich der Übergang von den Priamiden zu den Aeneaden. Im II. Gesang werden die Stämme vorgestellt: Drauf vor den Dardanern ging Aineias einher, des Anchises starker Sohn, den ihm Aphrodite gebar auf des Idas waldigen Höhn, die Göttin zum sterblichen Manne gelagert. Nicht er allein; zugleich ihm die beiden Söhn' Antenors, Akamas und Archilochos, beid' allkundig des Streites. (Ilias 11,819-823)

Hier ist der Name genannt, mit dem zusammen Aeneas in seiner zweiten Existenz, als Hoch- und Landesverräter, seine Wanderung durch das europäische Mittelalter antritt. Antenor ist trotz der Zuordnung nicht aus dardanischem Geschlecht, sondern 2

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Vgl. dazu Anneliese Grau, Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters. Trojasage und Verwandtes, Würzburg 1938; reiches Material ist gesammelt von Helene Homeyer, Beobachtungen zum Weiterleben der trojanischen Abstammungs- und Gründungssage im Mittelalter, Res publica litterarum (Univ. of Kansas) 5,2 (1982), S. 93—123; Gert Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter J. Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, S. 203-309, hier S. 233 ff.; vgl. auch Reg. s. v. Troja. Vgl. Franz Josef Worstbrock, Translatio artium. Uber die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, AfK 47 (1965), S. 1-22. Hierzu mit umfassendem Material Ludolf Malten, Aineias, Archiv f. Religionswiss. 29 (1931), S. 33-59.

Eneas der Verräter

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v o r n e h m e r troischer H e r k u n f t . Seine Frau ist Athene-Priesterin, die das Stadtheiligt u m hütet. G e g e n ü b e r den Griechen ist er ganz anders aufgeschlossen als die Priamiden; v o r d e m A u s b r u c h der K ä m p f e v o r T r o j a hatte A n t e n o r d e n Menelaos u n d den Odysseus gastlich in seinem H a u s e e m p f a n g e n . Als Gesandte w a r e n sie g e k o m men, u m ü b e r eine freiwillige R ü c k g a b e Helenas u n d d a m i t ü b e r eine V e r m e i d u n g des K a m p f e s zu verhandeln (II. 111,200-208). A n t e n o r ist älter als Aineias; er w i r d v o n H o m e r schon γεραιός g e n a n n t (II. 111,191). Später, in hellenistischer Zeit, genauer: i m 2. vorchristlichen J a h r h u n d e r t spann der D i c h t e r L y k o p h r o n in e i n e m Gedicht, das die Weissagungen Kassandras z u m Anlaß n i m m t , u m v o n den Leiden der Troer u n d der h e i m k e h r e n d e n Griechen zu berichten, die zwischen den P r i a m i d e n u n d d e m k o n k u r r i e r e n d e n Geschlecht des A n t e n o r sichtbaren S p a n n u n g e n zu e i n e m Verrat A n t e n o r s an der trojanischen Sache aus. 5 A u c h A n t e n o r w u r d e , w i e sein M i t v e r s c h w ö r e r Aeneas, z u m W e s t w a n d e r e r u n d S t ä d t e g r ü n d e r . Er soll P a d u a gestiftet haben 6 u n d d o r t auch b e g r a b e n sein. A u f der r o t f i g u r i g e n attischen Vase des sogenannten A l t a m u r a m a l e r s in Boston ist A n t e n o r abgebildet, w i e er d e m Aeneas voranschreitet. 7 D e r M y t h o s des pius Aeneas ist schon viel f r ü h e r nach Westen g e d r u n g e n . 8 Aus Etrurien sind r u n d 60 M ü n z e n u n d Vasenbilder erhalten geblieben, die das b e r ü h m t e M o t i v des Aeneas zeigen, der den Vater Anchises auf seinen Schultern aus d e m zerstörten Troja trägt u n d auch das Palladium, die sacra o d e r Stadtpenaten, mit sich f ü h r t . D i e ältesten dieser Zeugnisse s t a m m e n schon aus d e m 6. J a h r h u n d e r t v. C h r . A u f d e m M o t i v g r ü n d e t der R u h m des Aeneas, seiner pietas g e g e n ü b e r d e m Vater, der gens u n d den S t a d t g ö t t e r n . Aeneas hat in Etrurien u n d in L a t i u m kultische V e r e h r u n g genossen. O v i d ( M e t a m . X I V , 584 ff.) hat v o n seiner A p o t h e o s e b e r i c h tet: tempestivus erat caelo Cythereius heros »der cythereische H e l d w a r reif f ü r den 5

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Lycophronis Alexandra, ed. Lorenzo Mascalino, Leipzig 1964 (Bibl. Teubneriana); mit engl. Übersetzung in der Ausg. v. George W. Morney, London 1921. Das Gedicht wurde 197 v. Chr. von den Pergamenern in Auftrag gegeben und sollte erklären helfen, warum sie sich in den Kämpfen zwischen den hellenistischen Diadochenstaaten und R o m auf die römische Seite geschlagen hatten. Die Zerstörung Trojas steht symbolisch und warnend für die drohende Zerstörung des pergamenischen Staates. Die Gründung bei Livius, Ab urbe condita, 1,1; vgl. auch Vergil, Aeneis 1,242 ff. Die lautliche Nähe hat im Mittelalter auch Passau zu entsprechendem Ruhm gebracht. Darüber fabeln mehrere Redaktionen der Kaiserchronik und die Chronik des Jans Enikel (v. 16889), nach welchem Antenor auch Mantua gegründet haben soll, sowie Ulrich Fuetrer im 'Buch der Abenteuer' (v. 549) (vgl. Peter Kesting, Hectors Erbe. Beobachtungen zu Ulrich Fuetrers 'Trojanerkrieg', in: Horst Brunner [Hg.], Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990, S. 469-490, hier S. 489). Brunners Kompendium habe ich noch fur den vorliegenden Aufsatz nutzen können. Ich glaube mich daraufhin in manchem kürzer fassen zu können, als es zuerst von mir geplant war. Abb. bei Andreas Alföldi, Das frühe R o m und die Latiner, Darmstadt 1977, Tafel XXIII, Abb. 1. Der Forschungsstand wird vorzüglich zusammengefaßt von Alföldi [Anm. 7], S. 228 ff., 249 ff.; vgl. auch Franz Börner, R o m und Troja. Untersuchungen zur Frühgeschichte Roms, Baden-Baden 1951, S. 14 ff., 39 ff.; Andreas Alföldi, Die trojanischen Urahnen der Römer, Basel 1957; Konrad Schauenburg, Äneas und Rom, Gymnasium 67 (1960), S. 176-191, mit Zusammenstellung der archäologischen Zeugnisse.

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Hans Fromm

Himmel«. Von den Etruskern gelangten schließlich Sage und Mythos nach R o m und mündeten letztlich in Vergils Epos. Man hat vermutet, daß Griechen die Brücke vom Osten nach Etrurien gebildet hätten.9 Das Wohlwollen der Griechen gegenüber Aeneas bezeugte zu Vergils und Oktavians Zeit auch Livius, der dem Mittelalter fast ganz unbekannt blieb. Mit dem ersten Satz seines Geschichtswerkes spannte er Aeneas und Antenor wieder zu dem ominösen Paar zusammen und erzählte - zwar explizit nicht von einem Verrat der beiden an Troja, wohl aber davon, daß die Griechen nach der Niederlage Antenor und Aeneas gegenüber auf das Kriegsrecht verzichtet hätten, weil sie für einen Friedensschluß und die Rückgabe Helenas eingetreten seien.10 Das ist in der Spätantike wie auch im Ausgang des Mittelalters als Zeugnis für den Verrat gewertet worden. 9

Es gibt seltsamerweise i m späten Mittelalter ein D e n k m a l , das Eneas auf seinem W e g in die Toskana in Griechenland k ä m p f e n d zeigt. Er unterliegt hier d e m Sohn des A g a m e m n o n . Das ist der ' G ö t t w e i g e r Trojanerkrieg' (v. 25079 ff.), in w e l c h e m Eneas - A n t e n o r fehlt hier — der alleinige Verräter ist u n d seine Flucht nach Westen, die zur G r ü n d u n g R o m s f u h r t , praktischerweise gleich zusammen mit R o m u l u s u n d R e m u s antritt. Ein GriechenlandAufenthalt des Aeneas ist schon in der Antike bezeugt (Vergil, Aeneis 3 , 7 3 ff.; O v i d , M e tani. XIII, 630 ff.; vgl. auch Karl Bartsch, Albrecht v o n Halberstadt u n d O v i d im Mittelalter, Quedlinburg/Leipzig 1861 [Bibl. d. ges. dt. Nat.lit. 38], p. C L I X ) .

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Iam primum omnium satis constat Troia capta in ceteros saevitum esse Troianos; duobus, Aeneae Antenorique, et vetusti iure hospitii et quia pads reddendaeque Helenae semper auctores fuerunt, omne ius belli Achivos abstinuisse. Die Klassischen Philologen sind nicht d u r c h w e g bereit, die Liviusstelle (1,1) im Sinne der Verrätertradition zu deuten. Diese w i r d . z . B . bestritten v o n A r n a l d o M o m i g l i a n o , S o m e observations on the ' O r i g o gentis R o m a n a e ' , J R S 48 (1958), S. 56-73, hier S. 69; vgl. auch R . M . Ogilvie, A c o m m e n t a r y on Livy, 2. ed., O x f o r d 1978, S. 37. Ich sehe indes keine andere Möglichkeit der Interpretation. D a ß Livius sich explizit auf Verrat nicht einlassen will, hat natürlich nach d e m Erscheinen der 'Aeneis' gute G r ü n d e , aber schon Servius hat die Stelle im Sinne des Verrats verstanden (zu Aen. 1,242). Die O r i g o gentis R o m a n a e ' ist eine a n o n y m e Schrift des 4. J h . n. C h r . u n d geht höchstens auf eine kaiserzeitliche Quelle zurück. Sie ist dadurch i m Z u s a m m e n h a n g des T h e m a s von besonderem Interesse, daß sie das P r o b l e m der Symbiose der beiden Traditionen auf eine elegante Weise löst: A n t e n o r hat Troja verraten, u n d Aeneas hat mit d e m Vater auf den Schultern die Stadt verlassen: Post Faunum Latino, eius filio, in Italia regnante, Aeneas, Ilio Achivis prodito ab Antenore aliisque principibus, cum prae se déos penates patremque Anchisen humeris gestans nec non et parvulum filium manu trahens noctu excederet ... (in: S. Aurelius Victor, Liber de caesaribus, ree. Fr. Pichlmayr, 2. Aufl., Leipzig 1970, S. 10f.). Ein paar Zeilen später w i r d dann d e m Geschichtsschreiber u n d R h e t o r C . Lutatius Catulus (2. Hälfte 2. Jh. n. Chr.) zugeschrieben, Aeneas ebenfalls z u m Verräter gemacht zu haben, u n d — zu ergänzen: daher — sei i h m von A g a m e m n o n gestattet w o r d e n , die Stadt zu verlassen. N a c h d e m volkstümlichen W a n d e r m o t i v d u r f t e er das i h m Liebste auf seinen Schultern m i t n e h m e n , u n d durch diese pietas seien die Fürsten der Achäer b e w o g e n w o r d e n , ihn freizulassen (9,3-5). Vgl. dazu den K o m m e n t a r v o n Jean-Claude R i c h a r d , Ps.-Aurelius Victor, Les O r i g i n e s du peuple r o m a i n ' , Paris 1983, S. 136f. mit weiterer Lit. Eine weitere Variante steuerte ein Zeitgenosse Vergils bei, der in R o m lebende, griechisch schreibende Historiograph Dionysios v o n Halikarnassos. Er bezeugt (46,1) das N e b e n e i n ander v o n zwei Überlieferungen, die des hölzernen Pferdes u n d die des Verrats durch die Antenoriden. Er schildert, wie Aeneas mit seinen dardanidischen Streitkräften den Einbruch der Griechen in die untere Stadt zeitig b e m e r k t , sich mit einem Teil der B e v ö l k e r u n g in der oberen B u r g festsetzt u n d diese lange erfolgreich verteidigt. U n b e m e r k t v o m Feinde kann er Frauen u n d Kinder ins Ida-Gebirge schicken, bis er sich selbst schließlich mit d e m R e s t der Flüchtigen den Griechen ergibt. Er öffnet die B u r g t o r e u n d verläßt in Streitwagen mit seinem Vater, Frau u n d Kindern sowie d e m wertvollsten Besitztum die B u r g . I h m gelingt

Eneas der Verräter

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Es besitzt also auch die Tradition, die im Mittelalter die weithin gültige war und die ich im folgenden kurz die Verräter-Tradition nenne, ihre antiken, hinter die spätantiken berühmt-obsoleten Vermittler Dares und Dictys zurückreichenden antiken Wurzeln. Dares und Dictys ersetzten dem Mittelalter, zusammen mit der 'Ilias Latina', den H o m e r . 1 1 Dieser lebte allein als N a m e und stand, oft mit dem des Vergil verbunden, fur das Urbild des Dichters überhaupt. D e r Phrygier >Dares< in seiner Schrift 'De excidio Troiae historia' und der Kreter >Dictys< in seinen 'Ephemeridos belli Troiani libri sex' 1 2 verfolgen mit ihren D a r stellungen des trojanischen Krieges explizit das Ziel, der Lügendichtung Homers die durch Augenzeugenschaft als authentisch erwiesene, historisch wahre Geschichte der Ereignisse entgegenzustellen. 13 Beide >Historiographen< haben auf trojanischer bzw. griechischer Seite an den Kämpfen teilgenommen. Das Mittelalter wird später konkretisieren: Was Dares am Tage erlebte, hat er des Nachts

aufgeschrieben.

Griechisch-hellenistischer Ursprung ist durch zwei Papyrusfunde flir Dictys erwiesen und damit auch fur Dares wahrscheinlicher, als früher angenommen. Alles - Verfassernamen, Anspruch und Werkinhalte — sind Fälschungen. O b die Fabeleien einem Unterhaltungszweck dienen oder in ernster Absicht auf einen entmythologisierten H o m e r zielen oder sogar in einer rationalistisch sich gebenden Epoche parodistisch verstanden werden sollten, muß offen bleiben. 14 Die beiden >Augenzeugen< vermittel-

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es, die Griechen zum Frieden zu bewegen, und mit seinem Vater, seinen Söhnen und den Götterbildern verläßt er die eroberte Stadt und segelt über den Hellespont. — Dies, sagt Dionysius (48,1), sei die wahrscheinlichste Uberlieferung. Unter den anderen, weniger glaubwürdigen, erwähnt er (48,3) die von Menecrates von Xanthus tradierte Nachricht, wonach Aeneas die Stadt gegen griechische Zusicherungen verraten habe und danach auf die griechische Seite gewechselt sei. Vgl. Dionysius o f Halicarnassus, The Roman antiquities . . . , (ed.) on the basis o f the version o f Edward Spelman, Bd. 1, London/Cambridge, Mass. 1960, 1,46-48 (vgl. auch neuerdings dazu den Kommentar von Valérie Fromentin u. Jacques Schnäbele, Paris 1990). Die Hinweise auf die vorstehend in dieser Anmerkung genannte Literatur verdanke ich der liebenswürdigen Aufmerksamkeit von Anette Syndicus, München. Zum mittelalterlichen Zitieren des Homer vgl. Wolfgang Kulimann, Einige Bemerkungen zum Homer-Bild des Mittelalters, in: Litterae medii aevi (Fs. Johanne Autenrieth), hg. v. Michael Borgolte u. Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 1—15, und Worstbrock [Anm. 3], S. 248 ff. Dares Phrygius, De excidio Troiae historia, ree. Ferd. Meister, Leipzig 1873 [unzureichende Ausg.] u. Dictys Cretensis, Ephemeridos belli Troiani libri . . . , ed. Werner Eisenhut, 2. Aufl., Leipzig 1973. — Die lange umstrittenen Datierungen: Dictys: 4.-5. Jh. n. Chr. mit einem durch Papyri gesicherten griechischen Original ca. 66—200 n. Chr., Dares: 5.-6. Jh. n. Chr. (Vgl. Werner Eisenhut, Spätantike Trojaerzählungen — mit einem Ausblick auf die mittelalterliche Trojaliteratur, Mlat. Jb. 18 (1983), S. 1-28, hier S. 26-28; Stefan Merkle, Troiani beili verior textus. Die Trojaberichte des Dictys und Dares, in: Brunner [Anm. 6], S. 491—522, hier S. 505, 522). Noch nicht zugänglich war mir Andreas Beschorner, Untersuchungen zu Dares Phrygius, Tübingen 1991. Die Augenzeugenschaft als Grundlage aller historischen Authentizität legte Isidor von Sevilla fest: Dicta autem historia άπό τον ίστορείν, id est a videre vel cognoscere. Apud veteres enim nemo conscribebat historiam, nisi is qui interfuisset (Origines, 1,41,1). Unbefriedigend zu diesem Thema bleibt Jeanette M. A. Beer, Narrative conventions o f truth in the Middle-Ages, Genève 1981 (cap. 2: Truth and eye-witness). Einen griechisch schreibenden Dares setzen, ohne daß daraus Uberlieferungsschlüsse ge-

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Hans Fromm

ten ihren mittelalterlichen Lesern den Eindruck historischer Faktentreue durch die trocken addierende, fast annalistische Berichtsform und die vollständige Eliminierung mit- und einwirkender Götter. Zwischen den beiden Berichten bestehen größere und kleinere sachliche Differenzen. Ich versuche, diese um der gebotenen Kürze willen im folgenden weitgehend zu ignorieren, und folge damit mittelalterlichem Vorbild; denn schon die 'Historia destructionis Troiae' des Guido de Columnis (1287), eine für das späte Mittelalter vielfach benutzte Quelle, hat die beiden Darstellungen zu einer vers c h m o l z e n (quasi una uocis

consonantia).

Erzählt wird von Dares, dem im Mittelalter wirkungsmächtigeren Autor, wie nach dem Fall Hectors und der Amazonenherrscherin Penthesilea sich in Troja gegenüber Priamus und seinen >Durchhalteparolen< eine Opposition bildet, welche die Rückgabe Helenas an die Griechen und den baldigen Friedensschluß zum Programm erhebt. Sie wird von Antenor und Polydamas, seinem nichtehelichen Sohn, und Aeneas mit seinem Vater Anchises angeführt. Antenor ist zum Verrat bereit (patriam prodendam esse). Priamus furchtet einen solchen Verrat nach einem längeren consilium, auf dem Aeneas den vorpreschenden Antenor lenibus mitibusque dictis unterstützt hat, mit Recht und beauftragt seinen Sohn, die >Viererbande< bei der nächsten Versammlung hinterrücks zu übermannen und zu ermorden. Aber die Vier bekommen Wind davon, erscheinen bewaffnet, und der Anschlag unterbleibt. Die Führer der >Friedenspartei< begeben sich heimlich ins Griechenlager. Trotz einzelnen Äußerungen des Mißtrauens, besonders von Seiten des Ulixes und Nestor, wird die Auslieferung der Stadt fur die nächste Nacht vereinbart. Den Verrätern - so werden sie in beiden Texten übereinstimmend durchweg genannt — wird dabei von den Griechen die Immunität ihres Besitzes und auch des Eigentums ihrer Angehörigen ebenso zugesichert wie versprochen, daß sie bei dem zu erwartenden Blutbad geschont werden würden. Sinon prüft an der trojanischen Mauer die Stimmen von Aeneas, Anchises und Antenor, und diese erwarten dann auch die Griechen nachts an dem mit einem skulpierten Pferdekopf geschmückten skäischen Tor und lassen sie eindringen. 15 In dem sich anschließenden Gemetzel versteckt Aeneas auf Bitten der Hecuba die Priamustochter Polyxena. Auch nach dem Sieg sind die Griechen übereinstimmend der Meinung, daß gegenüber denen, qui una patriam prodiderint, fides zu bewahren sei. Allerdings wird Polyxena entdeckt, ermordet, und der empörte Agamemnon befiehlt Aeneas, außer Landes zu gehen. Dieser verläßt mit den 22 Schiffen

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zogen werden dürften, später Benoît de Sainte-Maure (ν. 109 ff.) und nach i h m Konrad von W ü r z b u r g im 'Trojanerkrieg' an (v. 296 ff. Dâres, ein ritter Hz erweit, der selber vil vor Troye streit, swaz der in kriechisch hât geseit ...). Auch 'Moriz von C r a û n ' nahm den Topos auf (v. 37—40). Jean-Pierre Callu, >Impius Aeneaso échos virgiliens du Bas-Empire, in: R . C h e vallier (Hg.), Présence de Virgile. Actes du Colloque . . . 1976, Paris 1978 (Caesarodunum 13 bis), Sr 161—174, hat in einem materialreichen Aufsatz die Gründe flir die Entstehung der >antivergilischen< Tradition — »la désacralisation du pius Aeneas« — in dem anti-mythologischen, rationalistischen Geist des 4.-5. Jh. n. C h r . gesucht. O h n e ihn in Frage stellen zu wollen, so bleibt die Schwierigkeit der Verratszeugnisse vor dieser Zeit, darunter die Dictys-Papyri. Das Detail, welches das hölzerne Pferd >ersetztFriedenspartei< fahren m i t i h m ins Exil. A u c h Dares selbst b e k e n n t , zur O p p o s i t i o n g e h ö r t zu haben, deren V o r g e h e n er g l e i c h w o h l als Verrat bezeichnet. D e r in allem ausführlichere u n d Dares auch in der literarischen Qualität ü b e r legene Dictys f ü h r t n o c h einige m a r k a n t e Einzelheiten dazu an: D i e Friedensbündler sind die proceres. Sie stehen gegen P r i a m u s u n d seine reguli. D e m Aeneas w i r d v o n den Griechen nicht n u r die I m m u n i t ä t , sondern auch ein Beuteanteil versprochen. D e m eigentlichen Verrat gehen, teilweise mit Billigung des Priamus, v o n A n t e n o r u n d Aeneas eingeleitete Friedensverhandlungen voraus, bei denen beschlossen w i r d , das Vaterland freizukaufen. Bei h a r t e n V e r h a n d l u n g e n i m trojanischen Palast, g e p r ä g t v o n einer D u r c h h a l t e r e d e des Parissohnes Idaeus u n d der trojanischen D r o h u n g , eher selbst die Stadt a n z u z ü n d e n , als sich d e n h a r t e n griechischen F o r d e r u n g e n zu b e u g e n , w i r d die proditio p e r f e k t g e m a c h t . A n t e n o r erbeutet heimlich mithilfe der Priesterin das P a l l a d i u m u n d h ä n d i g t es den Griechen aus. Es w i r d ein riesiges h ö l zernes P f e r d gebaut, aber es ist ein O p f e r p f e r d , das M i n e r v a m i t der Z e r s t ö r u n g ihrer Stadt v e r s ö h n e n soll. 16 N a c h d e m Z u s a m m e n b r u c h versucht sich Aeneas der H e r r schaft ü b e r Troja zu b e m ä c h t i g e n , aber A n t e n o r gelingt es, dies a b z u w e h r e n — das Verhältnis zwischen beiden w a r feindlich g e w o r d e n . Aeneas m u ß Troja verlassen, segelt z u m Adriatischen M e e r u n d g r ü n d e t d o r t die Stadt C o r c y r a nigra (d. i. die Insel C o r c u l a an der dalmatinischen Küste). W e d e r Dares n o c h Dictys b e w e r t e n das Berichtete, es fehlt j e d e Interpretation. D e r Leser k a n n n u r erschließen, daß Aeneas bis z u m kritischen Z e i t p u n k t der a b sehbaren N i e d e r l a g e sich völlig loyal verhalten u n d auch danach mit seiner Friedenspolitik das W o h l des G e m e i n w e s e n s i m A u g e g e h a b t hat. Er sucht sie m i t A n t e n o r durchzusetzen, getragen offenbar v o n einem g r o ß e n , w e n n nicht ü b e r w i e g e n d e n Teil des Volkes. D e r M o r d p l a n des Priamus, der andererseits bei Dictys kein u n z u gänglicher V e r h a n d l u n g s p a r t n e r ist, k ö n n t e so etwas w i e eine moralische R e c h t f e r t i g u n g f ü r den Verrat bieten. A b e r es k a n n nach den ersten V e r h a n d l u n g e n m i t den Griechen f u r Aeneas nicht zweifelhaft sein, daß der v o n den Griechen in h i n t e r listiger Absicht p r o p a g i e r t e Friede gleichbedeutend sein w i r d m i t Z e r s t ö r u n g , M o r d u n d U n t e r g a n g u n d d a ß die w e n i g e n Ü b e r l e b e n d e n ein Dasein in R u i n e n fristen w e r d e n . U n d widerspricht nicht den edlen Zielen der F ü h r e r der >Friedenspartei< der L o h n , den sie v o n d e n Griechen a n n e h m e n u n d m i t d e m sie ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen dürfen? M a n sieht, was schon H o m e r hatte anklingen lassen. Aufschlußreich ist die Z u s a m m e n s e t z u n g der oppositionellen G r u p p e . Es sind A n t e n o r mit seinem S o h n u n d Aeneas m i t seinem Vater — die p r o m i n e n t e n Vertreter zweier m i t den P r i a m i d e n rivalisierenden gentes u n d i m Falle des Aeneas einer gens z u d e m , die nicht so e n g m i t Troja v e r b u n d e n w a r w i e das Geschlecht des Priamus. Es g e h t hier, w i e schon aus H o m e r herauszulesen, in internen Auseinandersetzungen zwischen den g r o ß e n gentes u m die M a c h t in Troja u n d die Herrschaft v o n m o r g e n . Aufschlußreich ist die 16

Daß Dictys für das Motiv des hölzernen Pferdes wie auch für anderes Vergil benutzt hat, ist seit Hermann Dunger, Die Sage vom trojanischen Kriege in den Bearbeitungen des Mittelalters und ihre antiken Quellen, Leipzig 1869, S. 46, bekannt.

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Hans Fromm

Nachricht, daß nach dem Fall der Stadt und Priamus' Tod Aeneas dem neuen Herrscher Antenor die Macht wieder zu entreißen sucht und die trojanische Bevölkerung, die nicht Stadtvolk ist, zu einer Herrschaft der Aeneaden überreden will: Aeneas apud Troiam

manet:

paeneinsula

qui post

Graecorum

perfectionem

adit, orat, uti secum Antenorem

cunctos ex Dardano

regno exagerent

atque ex

próxima

( D i c t y s , cap. X I I ) . 1 7

II Das Mittelalter übernahm von Antike und Spätantike beide Überlieferungen, die vergilische und den Verräter. Otto von Freising ist einer der ganz wenigen, der sie mit seiner bekannten Formel des alii dicunt n e b e n e i n a n d e r stellt: Quod [i. e. Troiae excidium] Homerum

eiusque

imitatorem

originem

ab Enea profugo

proditore

nicromantico,

Pindarum

seu Vergilium.

et, ut ipse adulatur,

utpote qui etiam uxorem

Hinc

qui scire desiderai,

Romanorum

légat

gentem

duxisse

viro forti — ut vero ab aliis traditur,

patriae

suam diis suis immolaverit,

scribit

Vergi-

lius.ls Mit dem »Homer« ist natürlich die 'Ilias Latina', eine im 1. Jahrhundert n. Chr. entstandene, rd. 1000 Hexameter lange und mit dem Namen des Pindarus Thebanus verknüpfte, kunstlose lateinische Epitome der homerischen 'Ilias' gemeint, die über Jahrhunderte im Mittelalter als Schulbuch genutzt wurde. 19 Bemerkenswert ist, daß die Tapferkeit des latinischen Kämpfers als eine dichterische Aufhöhung Vergils gedeutet ist. Die unklare Weise, wie bei Vergil dem Aeneas auf der Flucht die Gattin Creusa abhanden kam (Aeneis II, 738 f f ) , mußte in dem Augenblick, wo göttliche Fügung nicht mehr gelten darf, ebenso zur Verdächtigung fuhren, wie die Unterweltsfahrt zur Nigromanzie wird. 20 Auf Vergil, dem zugleich Empfohlenen, lastete seit Dares und Dictys der gleiche Vorwurf wie auf Homer: Die agierenden Götter können die Wahrheit nicht sein, aus dem Geschehen dort und damals muß sie unmittelbar hervorgehen. Nagt hier schon an der Größe des latinischen Herrschers ein Zweifel, so wird er ein gutes Jahrhundert später, u m 1250, volkssprachig bestätigt in der 'Weltchronik' des Rudolf von Ems. Dieser berichtet von der Überfahrt des Eneas von Troja nach Italien in den Tagen der biblischen Richter in zweinzig schiffin, der Besiegung des 17

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Das Wissen um die Rivalität zwischen beiden hat sich zäh gehalten. Im 2. Jh. n. Chr. berichtete Chrysostomus, der Freund Trajans, daß Troja zwar belagert, aber nicht gefallen sei. Vielmehr seien die Griechen unverrichteter Dinge abgezogen und Hector habe Aeneas außer Landes zu gehen geraten, weil es für zwei Könige in Troja keinen Platz gebe (Dion Cocceianus von Prusa, gen. Chrysostomus, ed. H. L. Crosby, XI, 140f., besprochen v. G. A. Highet, The classical tradition. Greek and Roman influences on western literature, N e w York 1957, S. 51-53, sowie von Callu [Anm. 14], S. 163, 171. Vgl. auch Jean Perret, Les origines de la légende troyenne de R o m e , Paris 1942, S. 159—166, 172—177). Ottonis episcopi Frisingensis Chronica, hg. ν. Walther Lammers, Darmstadt 1960 (Freiherr v o m Stein-Gedächtnisausgabe 16), S. 90, Ζ. 14—19. Ausg.: Italici Ilias latina, ed. . . . Fridericus Plessis, Paris 1885. Vgl. auch Elisabeth Heyse im Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, 1991, Sp. 379. Z u m Zauberer Vergil vgl. John Webster Spargo, Virgil the necromancer. Studies in Virgilian legends, Cambridge, Mass. 1934 und Lily Weiser-Aall im H D A VIII, 1665-1672. Magische Sagen werden seit dem 12. Jh. mit Vergil in Verbindung gebracht. Anlaß dazu war wohl sein neuer R u f als philosophus (s.u. S. 151 Anm. 33).

Eneas der Verräter

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Turnus und wie der wise degin ellenthaft mit der Gewinnung Lavinias die Herrschaft übernimmt. Dann wird vom Ursprung der Franzosen durch den Bruder des Eneas, Frigias, erzählt und schließlich von der Herrschaft des Eneas über Latium. Diese aber war eine harte und grausame Gewaltherrschaft. Gott selber rächt des Eneas vrevelliche gir an ihm, indem er ihn durch einen Blitz erschlägt — ze räche über sine site. Es ist das Ende eines rex iniustus, wie wir es viele Male aus der 'Kaiserchronik' kennen. 21 R u d o l f hat hier nicht seine beiden Hauptgewährsleute, sondern eine etwas ältere Quelle herangezogen. A u f Petrus Comestor scheint sich der Terminus biwege (entspricht incidentia) zu berufen, mit dem der größere Abschnitt eröffnet wird (v. 26380). Aber die 'Historia scholastica' beschränkt sich im Liber Judicum allein auf das Faktum von Aeneas' Herrschaft, samt ihrer Dauer und den Vorgängern (MPL 198,1285 C D ) . Auch die zweite Hauptquelle, Gottfrieds von Viterbo 'Speculum regum' kann nichts beitragen; denn dieses Mitglied der Hofkapelle Barbarossas hat den Jupiter-Abkömmling Aeneas als staufischen Ahnherrn hoch gewürdigt. 22 R u dolf hat vielmehr fur die negative Darstellung die Chronik des Frutolf von Michelsberg (letztes Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts) beigezogen, w o es kurz und knapp geheißen hatte: Qui [=Aeneas] dum sevissimus esset ac crudelissimus beüigerator et nullt parceret, ob tantam impietatem a Deo ictu fulminis percussus interiit.23 Woher das stammt, wußte schon der Herausgeber Waitz seinerzeit nicht anzugeben (ebd., Anm. 16). — Eine frühchristliche Quelle ist wahrscheinlich, aber die für Frutolf allerwichtigste, die Weltchronik des Eusebius in der Fortsetzung des Hieronymus, kommt nicht in Frage, denn sie begnügt sich mit der formalen Angabe, wie sie noch bei Petrus Comestor (s. o.) zu lesen ist. Die Verteufelung des Aeneas von christlicher Seite hat indes ein noch höheres Alter. Sie ist mit Tertullian Bestandteil frühchristlicher Apologetik, und Angriffspunkt ist der kultisch verehrte Aeneas (s. o. S. 141). In seiner Schrift 'Ad nationes' (11,9,12—18) stellt Tertullian an den Pranger, wem hier eigentlich unter der Bezeichnung des Pater Indiges Aeneas Altäre errichtet wurden: 24 einem miles numquam glorio21

R u d o l f von Ems, Weltchronik, hg. v. Gustav Ehrismann, Berlin 1915, v. 2 6 3 9 6 - 2 6 5 5 1 . R e c h t unwahrscheinlich ist, daß auf die Überlieferung die in der zum troischen sogen. Epischen Zyklus gehörenden 'Iliupersis' aufbewahrte Sage einen Einfluß ausgeübt hat, w o nach der Vater des Aeneas, Anchises, v o m Blitzstrahl getroffen worden sei (vgl. Malten [Anm. 4], S. 35). Entrückungssagen hat es fur Aeneas früh gegeben. So berichtet Servius (zu Aen. IV, 260), daß Aeneas nach gewonnener Schlacht beim Opfer am Fluß Numicus ausgeglitten, in den Fluß gestürzt und nie mehr daraus gefunden worden sei. Das geht klar auf Ovids Bericht über die Apotheose des Aeneas zurück (Metam. X I V , 581, vgl. auch Servius zu 1,259).

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Dazu jetzt Heinz Thomas, Matière de R o m e - matière de Bretagne. Z u den politischen Implikationen von Veldekes 'Eineide' und Hartmanns 'Erec', ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 6 5 - 1 0 4 , hier S. 76f. Ekkehardi Uraugiensis Chronica [vielm. Frutolf, Ekkehard von Aura u. die sogen. Kaiserchronik], ed. Georg Waitz, Hannover 1844 ( M G H SS VI), S. 3 3 - 2 1 0 , hier S. 44, Z . 42f. Den Frutolf-Nachweis verdanke ich der Freundlichkeit Hubert Herkommers, Bern. Der Blitztod ist außer bei Konrad von Hirsau (unten S. 150) noch bewahrt als Beischrift in der Göttinger Hs. des Lampert von Hersfeld (Annales, ed. Oswald Holder-Egger / Wolfgang Dietrich Fritz, Darmstadt 1957 [Freiherr v o m Stein-Gedächtnisausgabe 13], S. 6, Z. 4 mit der Randnotiz hie [i. e. in Italia] fulmine periit).

23

24

Tertulliano, Opera, Bd. 1, Turnhout 1954 ( C C Ser. lat.), S. 55f.

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Hans Fromm

sus, lapide debilitatus. E r k e n n t d i e V e r r ä t e r - T r a d i t i o n (Sed et proditor patriae Aeneas inuenitur, tarn Aeneas quam Antenor), m u ß a b e r z u g e s t e h e n , d a ß sie n i c h t ü b e r a l l

Glauben gefunden hat (Ac si hoc uerum nolunt), und richtet seinen Angriff dann gegen den Flüchtling Aeneas: Schmählich habe er seine Genossen bei der Flucht aus der brennenden Stadt im Stich gelassen. Nach Erwähnung des karthagischen Abenteuers bricht er in den R u f aus: »Heißt er pius Aeneas wegen eines einzigen Sohnes und eines abgelebten Greises, nachdem er Priamus und Astyanax getäuscht (destitutis >im Stich gelassen