Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag am 17. Juli 1996 [Reprint 2018 ed.] 9783110898415, 9783110143652

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Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag am 17. Juli 1996 [Reprint 2018 ed.]
 9783110898415, 9783110143652

Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
I. Allgemeines zu Recht und Justiz
Migration, Akkulturation und Bikulturalität aus rechtsanthropologischer Sicht
Die Universität München an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts
Die Entdeckung des Gewissens im Rechtsdenken des 16. Jahrhunderts
Die Justiz als modernes Dienstleistungsunternehmen
Einige Bemerkungen zum Stellenwert und zur Funktion juristischer Kommentare
Aufbauhilfe für die Justiz in den neuen Ländern, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg für Sachsen
Das Bayerische Oberste Landesgericht in Geschichte und Gegenwart
Menschenbild und Recht
II. Verfassungsrecht; Europäisches Recht; Öffentliches Recht
Die Lösung kommunaler Aufgaben durch Stiftungen
Kodifikatorische und rechtsgestaltende Wirkung von Grundrechten
Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung
Das Subsidiaritätsprinzip
Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung
Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft
Die Europäische Menschenrechtskonvention: ein Verfassungsgesetz für das ganze Europa
Das Bundesverfassungsgericht und sein Umgang mit dem „einfachen Recht“
III. Strafrecht; Strafprozeßrecht
Der Strafbefehl auf dem Vormarsch?
Strafverteidigung und Strafrechtspflege - eine Momentaufnahme
Schuld und Entschuldbarkeit von Mauerschützen und ihren Befehlsgebern
Erfahrungen mit dem Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (Geldwäschegesetz - GWG - ) vom 25. Oktober 1993
Die Strafrahmenbestimmung in minder schweren Fällen und beim Vorliegen gesetzlicher Milderungsgründe
Auf der Suche nach dem richtigen Recht
Die Reue des Täters
Gnade und Recht
Verwertungsverbote und Richtervorbehalt beim Einsatz Verdeckter Ermittler
Aussageverweigerung und Beugehaft
Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers
Erweiterung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts auf den Bereich Organisierter Kriminalität
Strafprozessuale Bezüge in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Amtshaftungsrecht
Zur Mittäterschaft beim Versuch
Das Zeugnisverweigerungsrecht wegen drohender Strafverfolgung (§ 152 Abs. 1 2 1 öStPO)
IV. Bürgerliches Recht; Zivilprozeßrecht
Zum Vermögensausgleich nach gescheiterter Ehe
Das Tierische in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
DDR-Altfälle und Grundgesetz
Das Bayerische Oberste Landesgericht als Revisionsgericht in Zivilsachen
Die Gewährleistung bei Organisationsmängeln des Bauunternehmers
Zur Reichweite gesetzlicher Haftungsmilderungen
Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung
Teilurteile über unselbständige Anschlußberufungen
Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Berufungsinstanz in Patentnichtigkeitsverfahren - ein alter Zopf?
Die elektronische Form
Auf dem Wege zu neuen Dimensionen des Einstweiligen Rechtsschutzes
Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden
Treu und Glauben - ein supranationaler Grundsatz ?
Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes
V. Handels- und Gesellschaftsrecht; Unternehmensrecht
Das Trennungsprinzip des § 13 Abs. 2 GmbHG und seine Grenzen in der neueren Judikatur des Bundesgerichtshofes
Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 HGB auf dem Prüfstand der Verfassung
Deutscher Konzernabschluß: International Accounting Standards und das Grundgesetz
Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der OHG und KG
Eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung
Blockabstimmungen im Aktien- und GmbH-Recht
Das lex mercatoria-Problem
Zur Treuhand an GmbH-Anteilen
Gesellschaftsrechtliche Risiken bei der bankmäßigen Projektfinanzierung
Gedanken zur Vermögensordnung der Personengesellschaft
VI. Kartellrecht
Zurechnung in der Fusionskontrolle
Kartellrecht und Urhebervertragsrecht
Kartellrechtliche Wirkungen von Aktienoptionen
Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB
VII. Anwaltsrecht und anwaltliche Tätigkeit
Sog. Rechtspflegeentlastung, ein Angriff auf den Rechtsstaat?
Zum Kausalitätsbeweis in der Anwaltshaftung
Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft
Bewältigung von SED- und Stasi-Vergangenheit im Anwaltsrecht
Die GmbH als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung
Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

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Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag

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Festschrift für

WALTER ODERSKY zum 65. Geburtstag am 17. Juli 1996

herausgegeben von

Reinhard Böttcher Götz Hueck Burkhard Jähnke

w DE

G 1996

Walter de Gruyter • Berlin • New York

©

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift für Walter Odersky z u m 65. Geburtstag a m 17. J u l i 1996 / hrsg. von Reinhard Böttcher ... - Berlin ; N e w Y o r k : de Gruyter, 1996 ISBN 3-11-014365-8 NE: Böttcher, Reinhard [Hrsg.]: Odersky, Walter: Festschrift

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, D - 1 0 9 9 7 Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer G m b H , D - 1 0 9 6 3 Berlin

Inhalt Geleitwort

XIII I. Allgemeines zu Recht und Justiz

WOLFGANG

FIKENTSCHER,

Dr.

iur.,

LL.M.

(Michigan),

o. Professor an der Universität München, auswärtiges Mitglied des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht, München: Migration, Akkulturation und Bikulturalität aus rechtsanthropologischer Sicht

3

ANDREAS HELDRICH, D r . iur., o . P r o f e s s o r an der U n i v e r s i t ä t

München: Die Universität München an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts - Rede anläßlich einer Rektoratsübergabe PETER MACKE, D r . iur., P r ä s i d e n t des V e r f a s s u n g s g e r i c h t s

Landes Brandenburg, Präsident Oberlandesgerichts, Brandenburg:

des

33

des

Brandenburgischen

Die Entdeckung des Gewissens im Rechtsdenken des 16. Jahrhunderts - Das Werk des Johannes Oldendorp als Beispiel . . . .

39

MICHAEL MEISENBERG, Ministerialdirigent, Leiter der Personalabteilung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München: Die Justiz als modernes Dienstleistungsunternehmen

61

PETER RIESS, D r . iur., M i n i s t e r i a l d i r e k t o r i m B u n d e s m i n i s t e r i u m

der Justiz a. D., Bonn, Honorarprofessor an der Universität Göttingen: Einige Bemerkungen zum Stellenwert und zur Funktion juristischer Kommentare

81

WOLFGANG SCHAFFER, Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg: Aufbauhilfe für die Justiz in den neuen Ländern, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg für Sachsen . .

95

HORST TILCH, Dr. iur., Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts, München: Das Bayerische Oberste Landesgericht in Geschichte und Gegenwart

107

VI

Inhalt

Dr. iur., o. Professor an der Universität Tübingen: Menschenbild und Recht 123

WOLFGANG ZÖLLNER,

II. Verfassungsrecht; Europäisches Recht; Öffentliches Recht ANGERER, Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium des Innern, Vorstand der Stiftung Maximilianeum, München:

HANS

Die Lösung kommunaler Aufgaben durch Stiftungen PETER BADURA,

143

Dr. iur., o. Professor an der Universität München:

Kodifikatorische und rechtsgestaltende Wirkung von Grundrechten 159 Dr. iur., Ministerialdirektor, Amtschef des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen, Honorarprofessor an der Universität München:

WERNER BUCHNER,

Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung - Ausgangslage, Ziele und Grenzen einer grundlegenden Modernisierung der öffentlichen Verwaltung (mit besonderem Bezug zur Umweltverwaltung) 183 Dr. iur., Richter am Europäischen Gerichtshof, Kammerpräsident, Luxemburg: Das Subsidiaritätsprinzip - Architekturprinzip oder Sprengsatz für die Europäische Union? 197

GÜNTER HIRSCH,

Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung 215

PETER LERCHE,

Dr. iur., Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung für öffentliches Recht im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München: Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft 233

ELMAR MAYER,

RYSSDAL, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Straßburg: Die Europäische Menschenrechtskonvention: ein Verfassungsgesetz für das ganze Europa 245

ROLV

VII

Inhalt

Dr. iur., Präsident des Landgerichts a. D., Honorarprofessor an der Universität Freiburg/Br.: Das Bundesverfassungsgericht und sein Umgang mit dem „einfachen Recht" 259

HERBERT TRÖNDLE,

III. Strafrecht; Strafprozeßrecht Dr. iur., Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, Honorarprofessor an der Universität München: Der Strafbefehl auf dem Vormarsch? 299

REINHARD BÖTTCHER,

Dr. iur., Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Universität Bonn: Strafverteidigung und Strafrechtspflege - eine Momentaufnahme 317

HANS DAHS,

Dr. iur., Dr. h. c., M. C . J., o. Professor an der Universität Freiburg/Br., Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht: Schuld und Entschuldbarkeit von Mauerschützen und ihren Befehlsgebern - Zu einem unbewältigten Problem bei der 337 Bewältigung von DDR-Alttaten

ALBIN ESER,

FROSCHAUER, Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht München: Erfahrungen mit dem Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (Geldwäschegesetz - GWG - ) vom 25. Oktober 1993 351

HERMANN

GOYDKE, Präsident des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt und des Oberlandesgerichts, Naumburg, Honorarprofessor an der Universität Göttingen: Die Strafrahmenbestimmung in minder schweren Fällen und beim Vorliegen gesetzlicher Milderungsgründe 371

JÜRGEN

Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Karlsruhe: Auf der Suche nach dem richtigen Recht - Gedanken zum Beschluß des Großen Senats für Strafsachen vom 3. 5.1994 (BGHSt. 40,138) 387

GÜNTER GRIBBOHM,

HAMMERSTEIN, Dr. iur., Rechtsanwalt, professor an der Universität Freiburg/Br.: Die Reue des Täters

GERHARD

Honorar401

VIII

Inhalt

WOLFGANG HELD, Ministerialdirektor, Amtschef des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz, München: Gnade und Recht 413 BURKHARD JÄHNKE, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Verwertungsverbote und Richtervorbehalt beim Einsatz Verdeckter Ermittler 427 KAY NEHM, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Aussageverweigerung und Beugehaft 439 GERD PFEIFFER, D r . iur., Präsident des B u n d e s g e r i c h t s h o f e s a. D . ,

Karlsruhe, Honorarprofessor an der Fernuniversität Hagen: Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers

453

KURT REBMANN, D r . iur., G e n e r a l b u n d e s a n w a l t a. D . , H o n o r a r -

professor an der Universität Konstanz: Erweiterung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts auf den Bereich Organisierter Kriminalität

465

EBERHARD RINNE, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Strafprozessuale Bezüge in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Amtshaftungsrecht 481 CLAUS ROXIN, D r . iur., D r . h. c. mult., o. P r o f e s s o r an der

Universität München: Zur Mittäterschaft beim Versuch - Zugleich ein Beitrag zur Frage, ob Vorbereitungen Mittäterschaft begründen können . . . 489 HERBERT STEININGER, Dr. iur., Präsident des Obersten Gerichtshofs der Republik Österreich, Honorarprofessor an der Universität Wien: Das Zeugnisverweigerungsrecht wegen drohender Strafverfolgung (§ 152 Abs. 1 Z 1 öStPO) 499 IV. Bürgerliches Recht; Zivilprozeßrecht FRIEDRICH

BLUMENROHR, D r .

iur., V o r s i t z e n d e r

Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Zum Vermögensausgleich nach gescheiterter Ehe

Richter

am

517

IX

Inhalt

DAGMAR COESTER-WALTJEN,

Dr.

iur., o. P r o f e s s o r i n

an

der

Universität München: Das Tierische in der höchstrichterlichen Rechtsprechung HORST HAGEN, Dr. iur., Vizepräsident des Bundesgerichtshofes, Karlsruhe, apl. Professor an der Universität Kiel: DDR-Altfälle und Grundgesetz

529

547

GERHARD HERBST, Dr. iur., Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts a. D., München: Das Bayerische Oberste Landesgericht als Revisionsgericht in Zivilsachen

561

ARNO LANG, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die Gewährleistung bei Organisationsmängeln des Bauunternehmers - Beispiel einer höchstrichterlichen Rechtsfortbildung

583

DIETER MEDICUS, Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Zur Reichweite gesetzlicher Haftungsmilderungen

589

HERBERT MESSER, Dr. iur., Rechtsanwalt, Präsident der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung . .

605

BRUNO RIMMELSPACHER, Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Teilurteile über unselbständige Anschlußberufungen

623

RÜDIGER ROGGE, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Berufungsinstanz in Patentnichtigkeitsverfahren - ein alter Zopf?

639

HELMUT SCHIPPEL, Dr. iur., Notar, Honorarprofessor an der Universität München: Die elektronische Form - Neue Formvorschriften für den elektronischen Rechtsverkehr

657

PETER F. SCHLOSSER, Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Auf dem Wege zu neuen Dimensionen des Einstweiligen Rechtsschutzes

669

X

Inhalt

KARSTEN SCHMIDT, D r .

iur., o. P r o f e s s o r

an der

Universität

Hamburg: Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden - Grenzen des § 389 B G B HANS JÜRGEN SONNENBERGER, D r . iur., o. P r o f e s s o r

an

685

der

Universität München: Treu und Glauben - ein supranationaler Grundsatz? Deutschfranzösische Schwierigkeiten der Annäherung

703

ERICH STEFFEN, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Karlsruhe: Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes

723

V. Handels- und Gesellschaftsrecht; Unternehmensrecht KARLHEINZ BOUJONG, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Karlsruhe, Honorarprofessor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer: Das Trennungsprinzip des § 13 Abs. 2 GmbHG und seine Grenzen in der neueren Judikatur des Bundesgerichtshofes . . . .

739

CLAUS-WILHELM CANARIS, D r . iur., D r . h. c. mult., o. P r o f e s s o r an

der Universität München: Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 H G B auf dem Prüfstand der Verfassung

753

PETER HOMMELHOFF, D r . iur., R i c h t e r a m O L G a. D . , o. P r o -

fessor an der Universität Heidelberg: Deutscher Konzernabschluß: International Standards und das Grundgesetz

Accounting 779

KLAUS J . HOPT, D r . iur., D r . phil., M . C . J . , o. P r o f e s s o r an der

Universität Hamburg, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg: Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der O H G und KG 799 GÖTZ HUECK, Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung - Rechtsfortbildung durch die „Lagergrundstück"-Urteile des Bundesgerichtshofs . . .

823

MARCUS LUTTER, D r . iur., D r . h. c., o. P r o f e s s o r an der U n i v e r s i t ä t

Bonn: Blockabstimmungen im Aktien- und GmbH-Recht

845

XI

Inhalt

HANS-JOACHIM MERTENS, Dr. iur., o. Professor an der Universität Frankfurt am Main: Das lex mercatoria-Problem

857

PETER ULMER, Dr. iur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Heidelberg: Zur Treuhand an GmbH-Anteilen - Notwendige Differenzierung zwischen einfacher (verdeckter) und qualifizierter (offener) Treuhand HARM

PETER

WESTERMANN,

Dr.

iur.,

o.

Professor

an

873

der

Universität Tübingen: Gesellschaftsrechtliche Risiken bei der bankmäßigen Projektfinanzierung

897

HERBERT WLEDEMANN, Dr. iur., o. Professor an der Universität zu Köln: Gedanken zur Vermögensordnung der Personengesellschaft

925

VI. Kartellrecht HELMUT BRANDES, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Zurechnung in der Fusionskontrolle WILLI ERDMANN, Dr. Karlsruhe:

iur., Richter

am

Bundesgerichtshof,

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht ULRICH IMMENGA, D r .

Göttingen:

iur., o. P r o f e s s o r

945

959 an der

Universität

Kartellrechtliche Wirkungen von Aktienoptionen

975

JOACHIM VON UNGERN-STERNBERG, Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB - Zu den Abwägungsgrundsätzen der Rechtsprechung

987

VII. Anwaltsrecht und anwaltliche Tätigkeit FELIX BUSSE, Rechtsanwalt, Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Bonn: Sog. Rechtspflegeentlastung, ein Angriff auf den Rechtsstaat? Eine Betrachtung aus anwaltlicher Sicht 1003

XII

Inhalt

GERO FISCHER, Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Zum Kausalitätsbeweis in der Anwaltshaftung 1023 EBERHARD HAAS, Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Bremen; H E I K E L Ö R C H E R , Dr. iur., Rechtsanwältin, Geschäftsführerin der Bundesrechtsanwaltskammer, Bremen/Brüssel: Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft - Ein Rechtsvergleich 1037 KLAUS KÖTZER, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Bewältigung von SED- und Stasi-Vergangenheit im Anwaltsrecht 1049 HENNING PIPER, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die G m b H als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung 1063 HERBERT SCHIMANSKY, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof 1083

Geleitwort Am 1. August 1996 tritt Professor Dr. Walter Odersky, Präsident des Bundesgerichtshofes, mit Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand. Freunde, Weggefährten, Kollegen wollen mit der vorliegenden Festschrift ihre Hochachtung und ihre Sympathie für Walter Odersky ausdrücken, der Recht und Rechtspraxis in Deutschland viele Jahre lang mitgestaltet hat. Die Autoren der Festschrift wissen, daß sie zugleich für viele andere stehen, die gerne an der Festschrift mitgewirkt und damit zur Ehrung von Walter Odersky beigetragen hätten. Es war für die Herausgeber eine schwere Aufgabe, gemeinsam mit dem Verlag die aus praktischen Gründen unerläßliche Beschränkung des Autorenkreises vorzunehmen. Ihr Bestreben war es, alle die Lebens- und Berufskreise, mit denen der Jubilar auf seinem beruflichen Wege in Verbindung gekommen ist, in der Festschrift zu Wort kommen zu lassen. Es waren viele und unterschiedliche Berufsfelder, und das mußte dazu führen, daß jeweils nur einige wenige Repräsentanten angesprochen werden konnten. Die Herausgeber sind sich bewußt, daß ihre Grenzziehungen da und dort mit guten Gründen angefochten werden können. Sie bitten nach allen Seiten um Verständnis. Dies gilt nicht zuletzt im Verhältnis zu Odersky selbst, der den einen oder anderen Namen im Autorenverzeichnis vermissen mag. Walter Odersky wurde am 17. Juli 1931 in Neustadt in Oberschlesien geboren. Nach Kriegsende fand die Familie Aufnahme in Bayern. In Schwandorf in der Oberpfalz besuchte Walter Odersky das Gymnasium, machte ein ausgezeichnetes Abitur und wurde, für ihn eine wichtige Weichenstellung, als Stipendiat in die Bayerische Hochbegabtenstiftung Maximilianeum aufgenommen. Er konnte damit nicht nur unter fast idealen Bedingungen an der Münchener Universität und an der Universität Pisa Rechtswissenschaft studieren. Er fand Anschluß an einen Kreis ähnlich begabter junger Menschen und an eine Institution, die die guten Traditionen des bayerischen Staatsdienstes verkörpert wie kaum eine andere. Für die Förderung, die er hier erfuhr, dankt Odersky auf seine Weise, indem er seit vielen Jahren ehrenamtlich in verantwortlicher Stellung für die Stiftung tätig ist. 1954 wurde Odersky an der Münchner Universität mit einer gesellschaftsrechtlichen Arbeit „summa cum laude" promoviert, als Schüler von Alfred Hueck, bei dem er - ein wichtiger Lebensabschnitt - in der Folge wissenschaftlicher Assistent wurde. Von Alfred Hueck spricht er bis heute mit großer Verehrung; aus der Zugehörigkeit zum Kreis der Assistenten der Münchner Fakultät entstanden Freundschaften, die bis

XIV

Geleitwort

heute gehalten haben. Nach glanzvoll bestandenen Juristischen Staatsprüfungen trat Odersky 1957 in den Dienst der bayerischen Justiz. Der Münchener Juristischen Fakultät blieb er gleichwohl stets eng verbunden. Er leitete Arbeitsgemeinschaften und übernahm Lehraufträge; 1974 wurde er dann zum Honorarprofessor für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht sowie Zivilprozeßrecht bestellt. Die Pflichten dieses ehrenvollen Amtes hat er, ein beliebter und außerordentlich erfolgreicher akademischer Lehrer, immer mit Freude erfüllt. Mancher, der ihn als Leiter der Strafrechtsabteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz kennenlernte, mochte kaum glauben, daß er es - universitär gesehen - mit einem Zivilrechtler zu tun hatte. In der bayerischen Justiz wurde Odersky, rasch wechselnd in unterschiedlichen Aufgaben, als Richter und Staatsanwalt sowie im Ministerialdienst, eingesetzt. Es war eine weitere wichtige Weichenstellung in seinem beruflichen Leben, daß ihn 1962 der damalige bayerische Justizminister und frühere Ministerpräsident Dr. Hans Ehard zu seinem persönlichen Referenten berief. Vier Jahre arbeitete Odersky an der Seite dieses großen alten Mannes der bayerischen und deutschen Nachkriegsgeschichte. Diese Zeit hat Odersky nach eigenem Bekenntnis nachhaltig geprägt. Es folgten Verwendungen als Referent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, wo Odersky sich nicht zuletzt um die Einführung der R-Besoldung verdient gemacht hat, und als Richter am Oberlandesgericht München. 1971 wurde ihm, dem knapp Vierzigjährigen, die Leitung der Abteilung für Strafrecht im Bayerischen Staatsministerium der Justiz übertragen. Er gewann in dieser Aufgabe Ansehen und Autorität innerhalb und außerhalb Bayerns. Sein Rat war gesucht und einflußreich, in der Justiz des Landes ebenso wie in den Gremien auf Bundesebene. Odersky arbeitete in der Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - Reform des Wirtschaftsstrafrechts mit, in der er mit Gerd Pfeiffer, seinem Vorgänger im Amt des Präsidenten des Bundesgerichtshofes, zusammentraf. Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer versicherte sich seiner Mitarbeit; die Diskussion mit den dort versammelten Strafverteidigern hat Odersky als besonders anregend und bereichernd erlebt. 1983 wurde Odersky zum Präsidenten des Bayerischen Obersten Landesgerichts berufen. Er schloß sich dort einem Zivilsenat an, und damit beginnt seine Rückkehr zum Zivilrecht, zu dem er lange Jahre nur über seine universitären Verpflichtungen und seine Mitwirkung an den Juristischen Staatsprüfungen Verbindung halten konnte. Schon als Assessor war es, so bekannte er, sein Wunsch gewesen, später einmal, wenn es sich so fügen sollte, Richter an einem Revisions- oder Rechtsbeschwerdegericht zu sein. Das war nun in Erfüllung gegangen. Mit der Justizverwaltung blieb Odersky in Verbindung vor allem in seiner Ei-

Geleitwort

XV

genschaft als Vorsitzender des Präsidialrats der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Bayern, der bei allen Richter betreffenden Beförderungsentscheidungen beteiligt ist. Das Strafrecht ließ ihn deshalb nicht los. 1984 wurde Odersky in die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags gewählt und betreute dort sechs Jahre lang das Strafrecht. Folgenreich war sein Referat zur Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren beim 55. Deutschen Juristentag. Die Beschlüsse dieses Juristentags, zu denen er wesentlich beigetragen hatte, gewannen großen Einfluß auf das Opferschutzgesetz von 1986. 1988 leitete Odersky die strafrechtliche Abteilung des 57. Deutschen Juristentags, die sich mit der Reform des Umweltstrafrechts befaßte. Auch die Empfehlungen dieses Juristentags fanden, wenn auch erst einige Jahre später, die Beachtung des Gesetzgebers. 1987 kam der Ruf nach Karlsruhe, gewiß nicht erwartet, noch weniger erstrebt, aber ohne Zögern angenommen. Freilich fiel Odersky der Abschied von der Bayerischen Justiz, in der er wie kaum ein anderer von Wertschätzung und Sympathie getragen wurde, nicht leicht. Der Freude, mit der er sich der neuen, noch größeren Aufgabe stellte, tat dies keinen Abbruch. Auch dem badischen Land und seinen Menschen ist er rasch nahegekommen. Im Bundesgerichtshof übernahm Walter Odersky kraft Gesetzes den Vorsitz im Senat für Anwaltssachen und in den Großen Senaten sowie hierin einer Übung seiner Amtsvorgänger folgend - im Kartellsenat. Weitreichende Entscheidungen fällte der Bundesgerichtshof unter seiner Mitwirkung. Erwähnt seien aus dem Bereich des Anwaltsrechts die entschlossene Stellungnahme zur Zulässigkeit der überörtlichen Sozietät, im Strafrecht die nahezu vollständige Beseitigung des Rechtsinstituts der fortgesetzten Handlung. Eine besondere Herausforderung brachte auch für den Präsidenten des Bundesgerichtshofes das Jahr 1990 mit der Herstellung der deutschen Einheit. Der Bundesgerichtshof übernahm die beim Obersten Gericht der DDR und die beim Obersten Rückerstattungsgericht in München anhängigen Verfahren. Die neuen Bundesländer konstituierten sich; die beibehaltene frühere Gerichtsorganisation verlangte die Lösung vieler organisatorischer Fragen. Die Rechtsprechung sah sich mit einer Fülle neuer Probleme konfrontiert, so im Anwaltssenat mit der belastenden und menschlich bedrückenden Uberprüfung von Anwaltsbewerbern und zugelassenen Anwälten auf ihre Verstrickung in das SEDUnrechtsregime. Als eine positive, für die Zukunft bedeutungsvolle Entscheidung hat es Odersky gesehen, aus Anlaß der Vermehrung der Bevölkerungszahl der Bundesrepublik um etwa ein Viertel keine Vergrößerung des Bundesgerichtshofes anzustreben, sondern die Arbeitsfähigkeit des Gerichts durch sachgerechte Zugangsregelungen zu si-

XVI

Geleitwort

ehern. Dagegen hat ihn sehr bedrückt, daß weiterhin nicht alle Senate am Sitz des Bundesgerichtshofes amtieren sollen. Mit Würde und gewinnender Herzlichkeit hat Odersky stets den Bundesgerichtshof vertreten. Damit hat er auch viele fruchtbare Kontakte knüpfen können, insbesondere nach Osteuropa. Er sah diese Kontakte eingebettet in eine gesamteuropäische Entwicklung, welche ihm ein Anliegen ist. Innerhalb des Bundesgerichtshofes bedeutete die ungewöhnlich starke Personalfluktuation ein besonderes Problem. In den achteinhalb Jahren der Amtszeit Oderskys waren die Stellen aller Senatsvorsitzenden neu zu besetzen. Von den jetzt amtierenden 123 Richtern des Bundesgerichtshofes sind 76 erst nach der Amtsübernahme Oderskys ernannt worden. Behutsamkeit und Integrationskraft waren erforderlich, um Kontinuität und Qualität der Rechtsprechung zu wahren. Walter Odersky hat beides, gepaart mit großer Redlichkeit, aufgebracht. Ehrenämter und -pflichten in beträchtlicher Zahl kamen auf Walter Odersky zu. Ein Ehrenamt, welches den Kreis zur Studentenzeit, die ihn auch nach Italien geführt hatte, schließt, sei besonders erwähnt: das des Präsidenten der Vereinigung für den Gedankenaustausch zwischen deutschen und italienischen Juristen. Es ist kein Zweifel, daß die Berufung Oderskys an die Spitze des Bayerischen Obersten Landesgerichts und sodann in das Präsidentenamt am Bundesgerichtshof seinem Wesen in glücklicher Weise entgegenkam. Die vielen Jahre, die Odersky in der Bayerischen Justiz im Ministerialdienst tätig war, wo er ungewöhnlich früh in eine Spitzenstellung kam, haben ihm reiche Erfahrung und vielfältige Wirkungsmöglichkeiten gegeben. Immer jedoch war unverkennbar, daß er im Innersten auf den Richterberuf angelegt ist. Richterliche Tugenden prägten seine Jahre in der Justizverwaltung. Dem Richterberuf galten sein Nachdenken und seine Leidenschaft. Geprägt durch das Vorbild des richterlichen Vaters - zuletzt Vizepräsident des Landgerichts Regensburg - und seines akademischen Lehrers Alfred Hueck, der der Justiz als Richter im Nebenamt verbunden war, aber nicht weniger durch die Jahre an der Seite von Ministerpräsident a. D. Hans Ehard, Richter auch er, bis ihn die Not der Nachkriegszeit in die Politik führte, und auch dann nach eigenem Bekenntnis ein „Mann des Rechts", ließ Odersky die Frage nach Anspruch und Realität des richterlichen Amtes nicht los. Existentiell war und ist für ihn die Auseinandersetzung mit der Rolle der Justiz im 3. Reich und, dies kam später dazu, mit der Rolle der Justiz in der DDR. Hellsichtig für die Gefährdung gerade des Juristen in totalitären Systemen und für die vielen Möglichkeiten der Verstrickung in das Unrecht, fordert er, vor allem von sich, präzise Wahrnehmung der geschichtlichen Fakten, Ehrlichkeit, vor allem aber Bescheidenheit bei dieser Auseinandersetzung. Überhebliche Empörung und pauschalie-

XVII

Geleitwort

rende Wertungen können ihn zutiefst deprimieren, weil er damit die Chance für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den schrecklichen Ereignissen verspielt sieht. Er macht sich keine Illusionen über die Anpassungsbereitschaft des Menschen und eben auch des Juristen. Gerade daraus begründet er sein Eintreten für die Idee des Rechts und für den Rechtsstaat. Mit wieviel Behutsamkeit und Vorsicht bei der Deutung der Fakten und ihrer Bewertung, aber auch mit welchen Hoffnungen in das Recht er sich diesem Themenkreis näherte, kann man in seinem Vortrag über die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung des politischen Unrechts nachlesen, den er 1992 vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe gehalten hat. Wer Walter Odersky kennt, weiß, daß er juristische Probleme leicht und souverän bewältigt und in klarer Spache konzentriert darzustellen versteht. Der sich daraus ergebenden Versuchung selbstgefälliger Brillanz ist er nie erlegen. Stets darauf drängend, die anstehenden Fragen in den größeren Zusammenhängen zu sehen, geradezu bohrend, wenn es um den ethischen Gehalt einer Fragestellung geht, sah und sieht er sich selbst und seine Möglichkeiten durchaus bescheiden. Immer wieder hat Odersky das Verhältnis von Recht und Politik thematisiert. Überzeugt, daß Recht und Rechtstaatlichkeit eines Klimas bedürfen, in dem sie gedeihen und wachsen können, forderte er dies, die Erhaltung und Erneuerung eines solchen Klimas, mit großem Ernst von der Politik und letztlich von der gesamten Rechtsgemeinschaft ein. In einem Vortrag, den er 1993 in Paris gehalten hat, heißt es am Schluß: „Die inhaltliche Erfüllung und Ausgestaltung des Rechts ist ein geistiger Prozeß, der sich durch unzählige Verhaltensweisen und Äußerungen in der Gemeinschaft vollzieht; man kann ihn so auch einen politischen Prozeß nennen. Dieser Prozeß ist nie sicher vor der Gefahr, daß die Entwicklung in Irrwege und Abwege, manchmal sogar in Abgründe führt. Gefordert ist der Einsatz aller, mit Herz und Verstand, mit Energie und redlichem, offenem Sinn für diese ständige Erneuerung des Rechtsbewußtseins einzutreten.

Odersky hat diesen Appell sehr persönlich genommen. Die Autoren dieser Festschrift wünschen ihm, der nun von Amtspflichten entbunden ist, daß er weiterhin seinen unverwechselbaren Beitrag zu diesem Prozeß leisten kann. Sie wünschen ihm zugleich, daß ihm in der Freiheit des Ruhestandes viele Jahre regen Austausches und erfüllten Lebens im Kreis seiner großen Familie, die immer ein wesentlicher Teil seines Lebens war, und mit seinen Freunden und Kollegen geschenkt sein mögen. Reinhard Böttcher

Götz Hueck

Burkhard

Jähnke

I. Allgemeines zu Recht und Justiz

Migration, Akkulturation und Bikulturalität aus rechtsanthropologischer Sicht WOLFGANG FIKENTSCHER

I. Einleitende Bemerkungen Wanderungsbewegungen reichen in ihren Gründen von freiwilliger, durch keine besonderen Umstände veranlaßter befristeter oder unbefristeter Auswanderung bis zu brutaler Vertreibung. Alle Schattierungen von Zwang und Anlaß sind dazwischen denkbar. Erfaßt werden von Wanderungsbewegungen entweder einzelne Individuen und kleinere Gruppen oder ganze Stämme und Völkerschaften.1 Rechtlich führen Wanderungsbewegungen - nachstehend in internationaler Sprechweise als Migration bezeichnet - zu kollisionsrechtlichen, fremdenrechtlichen und staatsangehörigkeitsrechtlichen Fragen.2 Die folgenden Zeilen sind Walter Odersky in aufrichtiger Verehrung und als Ausdruck langjähriger Freundschaft gewidmet. Die Ausführungen möchten zum Thema der Migration in erster Linie Rechtstatsächliches beitragen, und dies aus rechtsanthropologischer Sicht. Migration wird noch für viele Jahre zu den Schicksalsthemen der Weltkultur gehören, die vom Ausgang des Zweiten Weltkriegs und von den NordSüd- und den Ost-West-Spannungen gestellt wurden. Die Migration ist unter dem Blickwinkel der Bevölkerungswissenschaften, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Geographie, der Geschichte, der Erziehung, der Psychologie und der rechtlichen Dogmatik (z. B. des Fremdenrechts) vielfach erforscht worden. Im Verhältnis dazu eher selten finden die anthropologischen und ethnologischen Fragen Beachtung, die sich bei der Untersuchung von Wanderungsbewegungen und ihren Ergebnissen stellen.3 1

Cavalli-Sforza, Menozzi und Piazza 1994, 5, 15 f. M. Ferid, Der Neubürger im IPR, 1949. 3 Die „Selected Bibliography on Migration Studies from 1980 to 1994" von Gisele Bousquet (Zweite Fassung), bisher nur hekt., hergestellt zur Vorbereitung der Konferenz „Migration and Immigration: Trends and Critical Policy Issues", Special Forum, Gruter Institute for Law and Behavioral Research, and Brookings Institution, Washington D. C., May 19-20,1994, enthält etwa 700 Einträge, und ihre „Selected Bibliography on Migration Studies from 1980 to 1994 in Foreign Languages" etwa 240. Von diesen 940 Einträgen beziehen sich nur zwei ausdrücklich auf Anthropologie (Douglass, William A., 1984. Emigration in a South Italian Town, an Anthropological History. New Brunswick, N. J.: Rutgers University Press; und Grillo, R. D., 1980. „Nation" and „State" in Europe: Anthropologi2

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Wolfgang Fikentscher

Untersuchungen zur Migration berühren in vielfacher Weise anthropologische Themen, von denen in dieser Arbeit nur einige angesprochen werden können. Im Rahmen des zur Verfügung stehenden Raums möchte ich mich auf zwei beschränken und (1) die Rolle der Migration in der Theorie der Akkulturation (II, unten) und (2) mögliche Beiträge der sogenannten „angewandten Anthropologie", namentlich der angewandten Rechtsanthropologie zur Migration (III, unten), behandeln. In der Anthropologie nimmt die Lehre von der Akkulturation einen bedeutenden Platz ein. Es folgt dies daraus, daß in der Anthropologie der Begriff der Kultur im Mittelpunkt steht, seit sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Rang einer modernen Sozialwissenschaft erhoben wurde. In seinem Buch „Primitive Culture" definierte der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor Kultur als „jenes komplexe Ganze, zu dem Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetzgebung, Sitte und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten gehören, die vom Menschen als einem Mitglied der Gesellschaft erworben wurden".4 Seitdem steht dieser Begriff unverändert im Brennpunkt anthropologischer Untersuchungen. Seine hervorragende Stellung wird kaum je in Zweifel gezogen.5 Der Begriff der Kultur ist gleichsam das Atom der Anthropologie, aus dem alles zusammengesetzt wird. So findet sich beispielsweise Akkulturation als der Prozeß und das Ergebnis „der Übernahme von Elementen einer fremden Kultur durch eine Gesellschaft, eine Gruppe oder einzelne Personen" definiert.6 Kultur ist dabei nicht als ein verfestigtes System vorgegebener Elemente anzusehen. Der Begriff kann, wie alle Kernbegriffe der Gesellschaftswissenschaften, sowohl synchron als auch diachron verstanden und verwendet werden.7 cal Perspectives. London. New York: Academic Press. Drei Arbeiten beziehen sich ausdrücklich auf Kulturen (Castles, S., 1992, „The Australian Model of Immigration and Multiculturalism - is it applicable to Europe?" 26 International Migration Review, 549-567; Bekouchi, Mohamed Hamadi, Du bled à la Z.U.P.: problématique culturelle des immigrés dans l'agglomération mantaise, Paris: C.I.E.M.: Editions L'Harmattan; und Pohle, Fritz, 1984, Das mexikanische Exil: ein Beitrag zur Geschichte der politisch-kulturellen Emigration aus Deutschland (1937-1946). Stuttgart 1986: J. B. Metzler. Außerdem beziehen sich zumindest 27 weitere Einträge indirekt auf Anthropologie; siehe Anhang 3: Bibliographie zum Thema Migration; Anhang 4 enthält das abgekürzt zitierte Schrifttum zum Thema Akkulturation. Für ethnomusikologische Hinweise danke ich Kai Fikentscher. * Edward Burnett Tylor, 1871, Primitive Culture, New York: Harper Sc Row, Torchbooks (Nachdruck), S. 1. (Alle Übersetzungen von mir.) 5 Siehe aus jüngster Zeit: Paul Bohannan, How Culture Works, New York 1995: Free Press. 6 Meyers Großes Taschenlexikon, Mannheim 1987: B. I. Taschenbuchverlag. 7 Fikentscher, W., Les rapports du droit privé et de son histoire, Studi in memoria di Lorenzo Mossa, Padua 1961, Band II, 181-191; auch als eigene Veröffentlichung, Padua 1960: Nachdruck in idem, Methoden des Rechts, Band 4, 685-692, Tübingen 1977: Mohr.

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Während die synchrone Betrachtungsweise der Kultur bis in den achtziger Jahren vorherrschte, sieht man im anthropologischen Schrifttum die Kultur seitdem zunehmend als Prozeß.8 Die Anthropologie umfaßt in traditioneller Einteilungsweise die kulturelle und die physikalische Anthropologie. Migration betrifft als kulturelles Phänomen vor allem die kulturelle Anthropologie. Deshalb konzentriert sich diese Arbeit auf die kulturellen Aspekte der Migration. Die Migration kann jedoch auch im Rahmen der physikalischen (synonym: physiologischen; oder: biologischen) Anthropologie erörtert werden, so etwa im Zusammenhang mit Problemen der Evolution, der Verhaltensforschung, der sprachlichen oder denkartlichen Kognition oder der Umwelt. Unter dem Einfluß des Zuzugs von Türken hat sich beispielsweise die Sprache auf vielen deutschen Baustellen in Richtung einer Art Esperanto, eines sogenannten Gastarbeiterdeutsch, gewandelt, das Artikel und die Konjugation von Verben sowie die formelle Anrede des „Siezens" vermeidet. Dies gilt auch dann, wenn die Türken, wie es oft der Fall ist, gutes Deutsch sprechen. Die meisten Fragestellungen zur Migration finden sich jedoch in der kulturellen Anthropologie wieder, und hier hauptsächlich innerhalb der Kategorie der „soziokulturellen Anthropologie", noch genauer: in bezug auf theoretische Aspekte der soziokulturell wichtigen Themen. Die dabei interessierenden Themen sind vor allem die Begriffe Kultur, kulturelle Veränderungen und Akkulturation. Vor allem aus praktischer Sicht ist auch der Bereich der Kulturpersönlichkeit von Interesse.' Für den Anthropologen ist die Migration also ein Problem, weil es bei Wanderbewegungen zur Begegnung von Kulturen kommt. Der Anthropologe fragt: Was geschieht, wenn sich durch Migration Kulturen begegnen, und wie lassen sich diese Begegnungen beschreiben und kategorisieren? Wenn sich ein Österreicher in Bayern niederläßt oder ein Bayer in Osterreich, kommt es im allgemeinen nicht zu einer „Begehung der Kulturen" und deshalb auch nicht zur Migration. Es hängt also von der Definition von „Kultur" ab, ob man von „Migration" sprechen kann. Dies ist das erste Ergebnis unserer anthropologischen Sicht der Migration.10

8 Bobannan (oben Anm. 5); eine Prognose: Ortner, Sherry, Theory, Anthropology Since the Sixties, 26 Comparative Studies in Society and History, 126-166 (1984). 5 Siehe die Ubersicht „System der Anthropologie" (Anhang 1 unten); s. a. Fikentscher, Modes of Thought, A Study in the Anthropology of Law and Religion, Tübingen 1995: Mohr, 95 ff. 10 Der Begriff der Migration wird also durch die Theorie von der Kulturenvielfalt beeinflußt; vgl. Pospisil, 1982, 139 f: 1988, 99 ff (s. Anhang 4 unten).

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II. Migration in der Theorie der Akkulturation Das Folgende ist zunächst eine kritische Uberprüfung der anthropologischen Akkulturationstheorie. Im Licht neuerer Entwicklungen wird die traditionelle Theorie der Akkulturation um die beiden Begriffe der teilweisen Assimilation und der Bikulturalität erweitert. Diese erweiterte Akkulturationstheorie wird dann auf die Migration angewendet. 1. Der Begriff der

Akkulturation"

a) Wenn zwei (oder mehr) selbständige ethnische Gruppen in Berührung kommen, gibt es nach bisheriger Theorie der Akkulturation 12 zwei mögliche Ergebnisse: Entweder kommt es zu kulturellen Veränderungen oder nicht. Wenn keine Veränderungen eintreten, spricht man von einer Koexistenz der Kulturen. Kartomi (237) spricht von „pluralistischer Koexistenz". 13 Migration führt fast immer zu mehr als bloßer Koexistenz. Migranten kommen aus bestimmten Gründen und werden deshalb der Kultur des sie aufnehmenden Landes ausgesetzt. Wenn es zu einer Veränderung kommt, wird das Ergebnis des Kulturkontaktes Akkulturation genannt.14 Nach Richard Thurnwald (1932) ist Akkulturation ein „Prozeß der Anpassung an neue Lebensbedingungen". 15 Eine maßgebende Definition der Akkulturation wurde 1930 vom „Subkomitee für Akkulturation" gegeben, das der US-amerikanische Social Sciences Research Council ernannte, und zu dem Robert Redfield, Ralph Linton und Melville J. Herskovits gehörten. Nach Meinung des Subkomitees umfaßt Akkulturation „jene Phänomene, die sich ergeben, wenn Gruppen von Menschen, die verschiedenen Kulturen angehören, anhaltend direkten („first-hand") Kontakt haben, was zu Veränderungen in den ursprünglichen kulturellen Mustern einer oder beider Gruppen führt". 16 Bei allen erwähnten Definitionen kommt es auf das Moment der Veränderung an. 11 Der folgende Text dieses Unterabschnitts ist eine stark überarbeitete Fassung eines Abschnitts aus Kap. 12 von „Modes of Thought" (s. o. Anm. 9). 12 Eine unvollständige Liste (in Anhang 4: „Bibliographie Akkulturation" werden weitere Namen angeführt): R. Thurnwald 1932; Redfield 1953; R. Linton 1940; B. Malinowski 1945; S. Tax (Hg.) 1949; E. Colson 1953; R. L. Beals 1953, 621; M.J. Herskovits 1938; E. H. Spicer 1943, id. 1952/1965; id. 1961; Bascom und Herskovits 1959; K. Wachsmann 1961; M. Gordon 1964; Teske und Nelson 1974; Kartomi 1981. , J Siehe auch L. Kuper und M. G. Smith 1969: J. Vanderlinden 1971. 14 Redfield et al. 1936,139; Pospisil 1986 a, 63. 15 Richard Thumwald, 1932. " Zitiert nach M. Gordon 60 ff: siehe die Bemerkung bei Herskovits 1938, 10: „Mit dieser Definition muß Akkulturation sowohl von kultureller Veränderung unterschieden werden, von der es nur ein Aspekt ist, als auch von Assimilation, die gelegentlich eine

Migration, Akkulturation und Bikulturalität aus rechtsanthropologischer Sicht

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b) Der Begriff Akkulturation wird seinerseits unterteilt, und zwar in unterschiedlicher Weise.17 Es gibt vier Kriterien, die hierbei als Bezugspunkte dienen: die kulturelle Quelle der kulturellen Veränderung (2.)a); die Ursache, die zur Akkulturation führt (2.)b); die persönliche Betroffenheit der Gruppenmitglieder (2.)c); und die Ergebnisse der Akkulturation (2.)d). Es lassen sich also vier Unterscheidungsmerkmale herausstellen und bis auf gelegentliche Ausnahmen miteinander kombinieren. Da die Literatur oft einige oder alle dieser vier Kriterien vermischt, unterscheiden sich notwendigerweise auch die von Forschern auf diesem Gebiet verwendeten Einteilungen. M. Gordon (77) beispielsweise verwendet Akkulturation und Assimilation austauschbar, während Teske und Nelson sich sehr darum bemühen, die beiden Begriffe zu unterscheiden. Aber im großen und ganzen stimmen die Autoren in bezug auf die sich ergebenden Formen der Akkulturation überein. 2. Formen der

Akkulturation

a) Wenn die Akkulturation aus dem Blickwinkel der Quellen gesehen wird, aus denen Kulturwandel entspringt, bietet sich (nur) eine grundlegende Unterscheidung an: „Die Innovation kann ihren Ursprung innerhalb der Kultur selbst haben, und dann sprechen wir entweder von Erfindung oder von Entdeckung, oder sie kann von außerhalb kommen, und dann nennen wir sie Übernahme oder Diffusion" ,18 Die Fälle, in denen Akkulturation durch Erfindung oder Entdeckung innerhalb der eigenen Kultur erreicht wird, sind im ganzen gesehen selten. Aber sie kommen beispielsweise dann vor, wenn eine Kultur, die mit einer anderen in Berührung geriet, daraufhin selbst eine Veränderung aus eigener Quelle entwickelt. Im ersten punischen Krieg zwischen Rom und Karthago kam es auf beiden Seiten in der Kriegsführung in beträchtlichem Ausmaß zu Akkulturation durch Übernahme oder Diffusion. Ein wesentliches Merkmal dieser Akkulturation war jedoch eine Erfindung der Römer aus eigener Quelle: Sie brachen mit der Gewohnheit, eine eroberte Stadt zu zerstören, die erwachsenen Männer zu töten und die übrigen Menschen zu Sklaven zu machen. Diese Änderung brachte Rom Freunde, und das verschaffte ihm einen Vorteil im Wettbe-

Phase der Akkulturation ist. Sie muß auch von Diffusion unterschieden werden, die zwar in allen Fällen der Akkulturation vorkommen kann, aber nicht nur ein Phänomen ist, das sich oft abspielt, ohne daß Völker in der obigen Definition angegebenen Weise in Berührung kommen, sondern auch nur einen Aspekt der Akkulturation darstellt." " R. Linton 1940; das Folgende geht jedoch in mancher Hinsicht über seine Einteilungen hinaus. 18 Beide Begriffe werden hier in einem umfassenden Sinn verwendet, siehe e) unten. Das Zitat stammt aus Pospisil 1986 a, 50.

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werb mit Karthago. Die Erfindung oder Entdeckung war also „adaptiv". Die (meist feindselige) Reaktion auf eine andere Kultur als ein Ergebnis der Akkulturation (siehe d) cc), unten) ist in der Regel in diesem Sinne erfunden. Normalerweise ist die Quelle der Akkulturation jedoch die Übernahme. Migration führt einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen aus einer Kultur in mindestens einen anderen Kulturbereich. In der Regel kommt es zu übernommenen kulturellen Merkmalen, so etwa in bezug auf Kleidung und Nahrung. Die aufnehmende Kultur diffundiert dann in Teile der wandernden Kultur.19 So versuchen Neuankömmlinge beispielsweise, die Sprache des fremden Landes zu lernen. Aber es kann auf der Seite der wandernden Kultur auch zu Erfindungen kommen, so etwa zu Selbsthilfe-Organisationen, Vereinen, Verbindungen, Landsmannschaften an Universitäten, oder auch zu Reaktionen (d, unten) wie Verteidigung der Bräuche, Sprache, Musik oder des Lebensstils der alten Heimat. b) Die Ursache der Akkulturation kann entweder eine sog. freie Übernahme sein (hier nicht in bezug auf kulturelle Quelle, sondern in einem anderen, engeren und auf den verursachenden Vorgang bezogenen Sinn) oder Dominanz. Freie Übernahme wird auch Einverleibung genannt. Ein Beispiel liefern die Navajo, die, als sie sich im 16. Jahrhundert dort niedergelassen hatten, wo sie jetzt leben, von den Spaniern die Weidewirtschaft (einschließlich der Verarbeitung der Schafwolle) und den Geldhandel übernahmen. Ein anderes Beispiel ist die Einführung des Büffeltanzes in den östlichen Pueblos, etwa in Taos in New Mexiko, die mit den Indianern der Ebene Handel trieben. Der Büffel gehört nicht zur Kultur der Pueblos. Aber mit den Fellen und dem Fleisch übernahmen diese Pueblo-Indianer auch den Tanz. Freie Übernahme (Einverleibung) kann einseitig sein (Beispiele sind die Rezeption des römischen Rechts im 15. Jahrhundert in Deutschland oder der chinesischen Schriftzeichen in Japan) oder beidseitig (wie häufig bei Märchen). Wenn die Akkulturation durch Dominanz erreicht wird, spricht man auch von gerichtetem Kulturwandel (Edward Spicer).20 Gewöhnlich ver-

" Die aufnehmende Kultur ist die Kultur, wo die Wanderbewegung aufhört. Die wandernde Kultur ist die Kultur, die zu einer anderen Kultur hinzukommt. Ich verwende lieber diese Ausdrücke als „Gastgeber-" oder „Gast"-Kultur, um die mit dem Status von „Gastgeber" und „Gast" verknüpfte Wertung zu vermeiden. Rosemarie Rogers (1985 siehe Anhang 3) spricht von „sendenden" und „empfangenden" Ländern. Aber meistens werden Migranten nicht „gesandt". Der Ausdruck „Empfänger"land findet sich z. B. in der Literatur zur Entwicklungshilfe. 20 Spicer, E. 1940 (1967; id. 1943; id. 1972).

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läuft Dominanz (gerichteter Kulturwandel) einseitig. Die Eroberung Englands durch die Normannen und viele andere Eroberungen sind dafür Beispiele. Natürlich werden die meisten Sieger schließlich auf weniger offensichtliche Weise auch von der Kultur der besiegten Nation beeinflußt, sie allerdings übernehmen diese Kultur der Unterlegenen frei. Migration kann zu freier Übernahme oder auch zu Dominanz führen. Die polnischen Arbeiter, die in großer Anzahl in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an die Ruhr kamen, um dort Bergleute oder Stahlarbeiter zu werden, übernahmen frei und erfolgreich das Fußballspiel von den Deutschen, die es ihrerseits frei von den Briten übernommen hatten. Andererseits müssen die Wanderarbeiter in Saudi-Arabien die Alkoholverbote ihrer Empfängerländer beachten, ein Fall von Dominanz (oder von gerichteter kultureller Veränderung). Ein weiteres Beispiel für die gerichtete kulturelle Veränderung der Gastarbeiter ist das Tragen von Schutzhelmen in deutschen Fabriken und auf Baustellen. c) Die Migranten sind durch die Akkulturation persönlich betroffen, wie sich zeigt, wenn die andere Kultur entweder internalisiert wird (Pospisil 1986 a, 60; 1982, 248 ff) oder eine Überfremdung stattfindet. Ein Beispiel für Internalisierung stellen die westdeutschen und europäischen Antitrustgesetze (GWB; Art. 85, 86, EC-Vertrag) dar, die auf einer rechtspolitischen bejahten „Verinnerlichung" der Antitrustgesetze der USA beruhen. Ein Beispiel für eine nur teilweise erfolgreiche Überfremdung ist die Rezeption des Schweizerischen Zivilrechts, die Kemal Atatürk 1925 für die Türkei verfügte. Ein Beispiel für erfolglose Überfremdung war Tschiang Kai-scheks Befehl, die Schnitzereien am Gebälk der Häuser der Ureinwohner in Taiwan abzuhobeln, den er im Rahmen seiner „Bewegung Neues Leben" (hsing sen hwo yun dong) erteilte, eine Bewegung, die er nach seinem Rückzug nach Taiwan 1948 auch auf dieser Insel einführte. Heute ist das Gebälk so reich geschnitzt wie eh und je. Die abgehobelten Stellen werden den Touristen als Kuriosum gezeigt. Eine Form der Akkulturation, die sich begrenzte Internalisierung nennen ließe, wird vor allem in der chinesischen und islamischen Welt durch solche Autoren beschrieben, die zwischen der zu erhaltenden eigenen und als wesentlich empfundenen traditionellen Kultur und den „unwesentlichen" westlichen Leistungen der Modernisierung unterscheiden, die aber nach diesen Autoren oberflächlich akzeptiert und toleriert werden dürfen. Dafür sind die „Chinatowns" malerische Beispiele. Auf diese Weise lassen sich, so wird behauptet, eigene „Kultur" einerseits und fremde „Zivilisation" andererseits auf eine Weise vermischen, die modernes Leben als „unwesentlich" in „wesentlicher" traditioneller Umgebung ermöglicht. Wolfgang Bauer zitiert Chang Chib-

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tung (1837-1909) in diesem Sinn.21 Wolffsohn, Diner und Sivan beziehen sich auf ähnliche Aussagen fundamentalistischer islamischer Autoren. 22 Bauer (loc. cit.) meint jedoch zutreffend, die Frage, ob sich die traditionelle Kultur und die moderne „westliche Lebensart" vereinbaren ließen, werde durch eine solche behauptete Rangordnung eher verschleiert als einer Lösung zugeführt. Trotzdem verdient der Gedanke Erwähnung. Es hat seine Berechtigung, wenn bewußt nur jener Teil der fremden Kultur übernommen wird, dem ein als höher eingestufter Standard an öffentlicher Versorgung, Wohlfahrts- und Arbeitsgesetzgebung, Gesundheitsfürsorge oder Hygiene zukommt, und gleichzeitig das „Wesentliche" der eigenen traditionellen Kultur, insbesondere in bezug auf Familientradition, religiöse Gebräuche oder lokale Amtervergabe, gewahrt bleibt. Im Rahmen der Akkulturationstheorie ist dies dann eine „begrenzte Internalisierung" der fremden Kultur, oder, in anderen Worten, ein halbes Betroffensein. Moderne Migration führt anscheinend oft zu solchen strategisch gewählten Zwischenstadien der Akkulturation. Einwanderer in die USA sind im allgemeinen begierig darauf, US-Bürger zu werden oder jedenfalls die „grüne Karte" zu erhalten. Im Gegensatz dazu wollen nur 6,6 % der Migranten, die nach Deutschland kommen (sie stammen relativ mehrheitlich aus der Türkei), Deutsche werden, und die meisten von jenen, die die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen möchten, weigern sich, ihre heimische Nationalität aufzugeben (was das deutsche Recht in der Regel nicht gestattet). 75 % der nach Deutschland kommenden Migranten sagen, sie wollten „eines Tages wieder nach Hause" 23 , selbst wenn sie beabsichtigen, drei, vier Generationen oder länger zu bleiben. Ein großer Teil der Kultur des Empfängerlands kann von Migranten internalisiert werden, so etwa die arbeitsrechtliche Mitbestimmung durch türkische Gastarbeiter in Deutschland oder die Arbeitsschutzgesetzgebung der USA durch Einwanderer in die USA. Die von Tschiang Kai-schek nach seinem und seiner Anhänger Rückzug nach Taiwan versuchte (und in bezug auf Staatsorganisation teilweise erfolgreiche) Überfremdung Taiwans mag als Fall einer teilweisen Nicht-Internalisierung angesehen werden, was sich dann förderlich auf die Demokratie-Entwicklung in der Republik China auf Taiwan auswirkte. Die Auferlegung von Einparteiensystemen, wie sie die Sowjets 1944/1945 nach der Eroberung der ost- und mitteleuropäischen Staaten erzwangen, ist ein Beispiel für 100%ige Überfremdung. Die Beispiele 21 22 2)

Bauer 1980,38. Wolffsohn 1992, 230; Diner (in Taubes 1987, 246 f); Sivan 1985. Francis 1982,13.

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zeigen, daß Überfremdung als „positiv" und als „negativ" empfundene Folgen haben kann. d) Schließlich lassen sich mögliche Ergebnisse des Vorgangs unterscheiden, den man Akkulturation nennt. Der überwiegende Teil der Literatur konzentriert sich auf diesen Aspekt, wobei im einzelnen unterschiedliche Betonung auf den Vorgang, den Prozeß (Teske und Nelson und die Mehrheit der Verfasser), oder das reine, prozeßfreie Ergebnis (Kartomi, Wachsmann)24 gelegt wird. Gewöhnlich werden im Schrifttum drei Arten von Ergebnissen angeführt: aa) Assimilation ist die vollständige Absorption einer Kultur durch eine andere.25 Kartomi bevorzugt den Ausdruck Transkulturation.2'' Gelegentlich wird der Ausdruck Assimilation nur in einem Zusammenhang benutzt, der sich auf einzelne Menschen bezieht, und Transkulturation in bezug auf Kultur. Beide, Assimilation und Transkulturation, werden als die Ersetzung einer Kultur durch eine andere definiert. 27 Ein Beispiel für eine solche praktisch vollständige und weitgehend erfolgreiche Ersetzung einer Kultur durch eine andere war 1945-1990 die Einführung des Marxismus in Ostdeutschland. bb) Fusion (auch Verschmelzung, Akkomodation oder Synkretismus) wird als die Entstehung einer neuen Kultur aus mehr als einer anderen definiert. Die Kulturen „fusionieren" oder „verschmelzen" zu einer neuen, die dann die Kulturen ersetzt, aus denen sie entstand. Viele behaupten, dieser „Schmelztiegel" sei das Ideal für die Entstehung der USA gewesen. Andere meinen, die Fusion sei das Vorbild einer multikulturellen Gesellschaft. Pidginisierung ist vereinfachende Fusion. cc) Auch die sog. Reaktion ist ein mögliches Ergebnis der Akkulturation. Sie wird als bewußte Ablehnung der anderen Kultur definiert und ist gelegentlich selbstzerstörerisch, manchmal aber auch adaptiv-vernünftig. Normalerweise wird sie erfunden, nicht übernommen. 28 24

Teske und Nelson 351 ff; Kartomi 234; Wachsmann 139 ff. Teske und Nelson, op. cit. 26 Kartomi, at 233. 27 Für diese Verwendung des Begriffs Assimilation (und eine politische Kritik) siehe auch Hing, Bill Ong, Beyond the Rhetoric of Assimilation and Cultural Pluralism: Adressing the Tension of Separatism and Conflict in an Immigration-Driven Multiracial Society, 81 California L. Rev. 862-925 (1993). 28 S. II. 2) a), oben. Zum Thema allgemein: E. Colson 1970; 1973; Allott 198: Widerstand gegen Modernisierung. Beispiele sind die Cargokulte (R. Linton 1943; W. W. Hill 1944; L. Spier 1927; J. Mooney 1896); chiliastische Bewegungen, gelegentlich mit selbstzerstörerischer Wirkung (Kottak 1987 a, 272;]. W. Raum 1984; 1988); weiter die verständliche und dem Selbstschutz dienende (siehe Suina, Anhang 4 unten) Schließung eines Pueblos für alle Außenstehenden mit Ausnahme des einen Tages, an dem eine bestimmte Zeremonie abge25

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dd) Es bleibt jedoch Raum für eine vierte Form der Ergebnisse des Vorgangs der Akkulturation und auch ein Bedarf danach. Assimilation und Fusion bedingen beide das Uberleben nur einer Kultur, und bei der Reaktion bleiben nur deshalb zwei Kulturen übrig, weil es den Widerstand gegen die eine gibt. Es finden sich aber auch Situationen, bei denen zwei (oder mehr Kulturen) übrig bleiben und sich doch bis zu einem gewissen Grad durch freie Übernahme oder Dominanz aneinander anpassen. Nützliche Begriffe für dieses Ergebnis der Akkulturation könnte die ein- oder auch wechselseitige teilweise Assimilation oder teilweise Anpassung sein. Sie lassen sich dem System der Akkulturation hinzufügen, indem die Assimilation (oder Transkulturation) in „volle" und „teilweise" Assimilation (oder Anpassung) eingeteilt wird. So sind etwa die Kulturen der USA und Europas zur Zeit in einem wechselseitigen Anpassungsprozeß begriffen, wobei die Amerikaner beispielsweise einige europäische Nahrungsmittel wie Müsli und Schwarzbrot und die Europäer bestimmte Kleidungsgewohnheiten (Blue Jeans) übernehmen. Uberzeugend weisen auch Teske und Nelson auf den Bedarf nach einem Begriff hin, der eine weniger als vollständige Assimilation beschreibt. 29 Sie führen das Beispiel eines Forschers an, der eine Reihe von Jahren im Ausland lebt und dort nicht assimiliert ist, sondern „nur akkulturiert". Teske und Nelson verwenden ihren eigenen engen Begriff von „Akkulturation", den sie der Assimilation gegenüberstellen, die ihrerseits Identifizierung mit der Außengruppe (der umgebenden Kultur) und Akzeptanz durch diese Außengruppe erfordert. Beides fehlt dem, was sie Akkulturation nennen. Diese enge Verwendung des Begriffs „Akkulturation" verträgt sich nicht mit den umfassenden Definitionen von Akkulturation, die Thurnwald und das Subkomitee gegeben haben (die wiederum bis heute die vorherrschende Meinung bestimmten), und denen hier durchweg gefolgt wird (oben II 1.). Bei Teske und Nelson bedeutet Akkulturation „weniger als volle Assimilation". Gleichsinnig spricht man besser von nicht vollständiger oder teilweiser Assimilation, oder einfacher von Adaptation. Im Ergebnis kann Migration zu (vollständiger) Assimilation, teilweiser Assimilation (Adaptation), Fusion oder Reaktion führen. Die polnischen Bergleute und Stahlarbeiter, die im 19. Jahrhundert nach Deutschland einwanderten, sind heute voll assimiliert. Türken sind fast durchweg halten wird (z. B. Santa Ana Pueblo); sowie die verzweifelten Viehopfer der Xhosa (/. W. Raum 1988, mit Literaturangaben), und schließlich der Geistertanz einiger Indianerstämme (W. W. Hill 1944). Eine besonders starke Form der Reaktion ist der Zusammenstoß zweier Kulturen (Hacker; vgl. auch I. Gomez und]. José, zu letzteren Anhang 3). 2' Teske und Nelson 1974, 351 ff. - Die Kunst kennt die „Creolisierung".

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auch nach mehreren Generationen nur teilweise assimiliert und bestehen im allgemeinen darauf, die türkische Staatsbürgerschaft zu behalten, auch um in dieser Weise die nur teilweise Zugehörigkeit zur deutschen Kultur zu dokumentieren. Das Leben der Native Americans („Indianer") in ihren Reservaten ist durch teilweise Assimilation gekennzeichnet. Argentinien könnte als Beispiel für eine Fusion genannt werden. Zumindest bilden die Einwanderer aus Spanien, Italien, Deutschland und anderen Ländern dort einen „Schmelztiegel" der Kulturen. Andere solche „verschmolzenen" oder „fusionierten" Kulturen sind - auf anderer Ebene - jene in Flughäfen und Touristenorten, wie etwa die Ansiedlungen des „Club Mediterrane". Reaktionäres Verhalten kann ein viertes Ergebnis des Kulturkontaktes durch Migration sein. Handlungen im Sinne akkulturationsbedingter Reaktion können von beiden Seiten kommen: Bürger des aufnehmenden Landes können gegen einen zu starken Einfluß der Migranten protestieren, und Migranten wiederum können auf diese Proteste reagieren. Feindseligkeiten gegen „Ausländer" und entsprechende Abwehrmaßnahmen sind solche Reaktionen. In jedem einzelnen Fall lassen sich Quellen, Ursachen, persönliche Betroffenheit und Ergebnisorientierung des Akkulturationsvorgangs kombinieren. Eine bestimmte Quelle oder Ursache führt nicht notwendig zu einem bestimmten Ergebnis. Nur Erfindung (als Quelle) und freie Übernahme (als Ursache) schließen sich einander gegenseitig aus. Migration kann zu allen der oben erwähnten Formen der Akkulturation oder ihren Kombinationen führen.

3. Zwei Statistiken In diesem Zusammenhang sind einige statistische Daten erwähnenswert. Ausländer, von denen viele - aber nicht alle - als Migranten von Süden nach Norden oder von Osten nach Westen kamen, stellen in Westeuropa folgende Anteile der Bevölkerung ihrer Zielländer dar:30 Luxemburg Belgien Deutschland31 Frankreich Niederlande Großbritannien Dänemark

28,2 % 8,8 7,9 6,6 4,2 3,2

% % % % %

2,8 %

30 Quelle: EU-Informationen, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Nr. 1/Januar 1994. Titelblatt. 31 Eine andere Zahl für Deutschland ist jedoch 10,5 %. D. Biemath in einem Brief an Die Welt. Nr. 61-12 vom 12. März 1994. S. 4.

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Irland Griechenland Spanien Portugal Italien

2,3 2,3 1,0 1,0 0,6

% % % % %

Nach einer Statistik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (iwd 36/8. 9. 1994, S. 1) lebten Ende 1993 knapp 7 Mio. ausländische Staatsangehörige in (West- oder Ost-)Deutschland, etwa 380 000 mehr als ein Jahr zuvor. Die Anteile in absoluten Zahlen sind: Türkei Rest-Jugoslawien Italien Griechenland Polen Osterreich Rumänien Kroatien Bosnien-Herzegowina Spanien Niederlande Großbritannien/Nordirland USA Portugal Iran Sonstige

1 918 930 563 352 261 186 163 153 139 133 114 112 108 106 102 1 540

000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

III. Migration in der angewandten Anthropologie 1. Angewandte Anthropologie als rechtspolitisches Instrument Wenn es um politische Strategien geht, die auf anthropologische Beobachtungen zurückgreifen, wird der sich daraus ergebende Forschungsgegenstand „angewandte Anthropologie" genannt. Dabei kann es sich um wirtschafts-, rechts-, entwicklungs-, innen-, außen-, verteidigungs- und andere politische Zielsetzungen handeln. Im allgemeinen wird von anthropologischer Beratung vor politischen Entscheidungen noch viel zu wenig Gebrauch gemacht. Die Weltbank läßt sich vor der Vergabe von Entwicklungsdarlehen etwa seit 1985 anthropologisch beraten. Die als Instrument der Politikberatung in der Koalitionsvereinbarung von 1994 vorgesehene „Deutsche Akademie der Wissenschaften", die als Akademie der Wissenschaften wegen unzulässiger Doppelmit-

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gliedschaften undurchführbar sein dürfte, ist vor dem Hintergrund erwünschter anthropologischer Beratung vor politischen Grundsatzentscheidungen sinnvoll. Angewandte Anthropologie könnte beispielsweise auch bei Gerichtsverfahren gegen Ausländer aus fremden Kulturen, bei der Planung von Entwicklungsprojekten oder bei Entscheidungen darüber eine Rolle spielen, ob die U N in einem Land eingreifen soll, das in einen Bürgerkrieg verstrickt ist. Auch bei der Lösung von Problemen der Migration könnte die angewandte Anthropologie ein nützliches Instrument der Rechtspolitik sein. Eines der Ziele der vorliegenden Kennzeichnung der verschiedenen Formen des Kulturkontaktes ist es, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die beteiligten Kulturen miteinander „auskommen" könnten (was einen gewissen Grad an wechselseitiger Verträglichkeit voraussetzt). Miteinander auskommen kann in diesem Zusammenhang sowohl Koexistenz als auch eine der im vorigen Abschnitt erwähnten Formen der Akkulturation bedeuten. Möglicherweise erfaßt jedoch diese grundlegende Alternative nicht alle Regeln für das, was bei der Begegnung zweier (oder mehrerer) Kulturen realisierbar oder auch nur wünschenswert ist. Koexistenz und Akkulturation umfassen nicht jede Situation, die in der Wirklichkeit zu finden ist. In bezug auf die theoretische Überlegung, ob Koexistenz und Akkulturation alle praktischen und denkbaren Möglichkeiten ausschöpfen, ist es erwähnenswert, daß „Assimilation" und „Fusion" zumindest eine Kultur auslöschen, und „Reaktion" notwendigerweise einen Zustand feindlicher Spannung erzeugt. Der Begriff der teilweisen Assimilation (oder Adaptation) mußte oben eingeführt werden, um den Fall beschreiben zu können, in dem es weder zum Auslöschen einer Kultur noch zu Feindseligkeit kommt. Aber auch dabei läßt sich nicht leugnen, daß teilweise Assimilation den negativen Aspekt der teilweisen Aufgabe einer Kultur bedingt. Wenn es um Ergebnisse geht, befriedigt das vorliegende System des Kulturkontaktes bestehend aus Koexistenz und Akkulturation selbst dann nicht alle praktischen Bedürfnisse, wenn es um den Begriff der „teilweisen Assimilation" erweitert wird. Es fehlt ein Modell, das es zwei (oder mehr) Kulturen erlaubt, im wesentlichen so zu bleiben, wie sie sind, und doch in eine Beziehung einzutreten, die über reine Koexistenz hinausgeht. Auch in bezug auf die Widerspiegelung der Realität weist die vorliegende Theorie der Akkulturation einen entsprechenden Mangel auf. Weder Koexistenz noch Akkulturation können das Wesentliche einiger Formen erklären, die im Fall kultureller Kontakte, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Migration, in der Praxis vorkommen. Beides, der Mangel an Theorie und mangelhafte Beobachtung der vorgefundenen Tatsachen laufen auf die Notwendigkeit eines neuen Be-

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griffs hinaus: Er sei hier eingeführt als das bikulturelle Modell, oder Bikulturalität. 2. Das bikulturelle

Modell

Das Bedürfnis, über die reine Koexistenz hinauszugelangen, während der Nachteil der vollständigen oder teilweisen Aufgabe einer Kultur zugunsten einer anderen unter den Vorzeichen der Akkulturation wenigstens tendenziell vermieden wird, belegt die Notwendigkeit, der reinen Koexistenz und der (kulturverändernden) Akkulturation einen dritten Begriff zur Seite zu stellen: das bikulturelle Modell. Bikulturalität läßt sich als Synonym für das bikulturelle Modell verwenden, wenn das Wesen der kulturellen Beziehungen stärker betont werden soll als die strukturelle Form („Modell"). Das bikulturelle Modell bedeutet die Konstruktion eines Rahmens, der Menschen in zwei Kulturen zu leben erlaubt, ohne an eine der beiden Zugeständnisse zu machen. Das wesentliche Kennzeichen ist eine Unterscheidung der kulturellen Funktionen und die Zusammenfügung dieser Funktionen in eine rechtliche Struktur. Das bikulturelle Modell ist nichts anderes als eine rechtlich integrierte, kulturelle Pluralität, sei sie koexistent oder (in irgendeiner Form) akkulturiert. Dies erklärt die mögliche Parallelität von Bikulturalität und Koexistenz einerseits und Bikulturalität und Akkulturation andererseits (siehe Anhang 2). Diese Parallelität kann in vielen Situationen eintreten. Sie findet sich in unterschiedlichem Grad in allen Pueblos und in vielen Indianerreservaten in den USA.32 So kann in einer gegebenen Situation beides, Bikulturalität wie Koexistenz, oder Bikulturalität und (eine Form der) Akkulturation vorliegen. Während also Koexistenz und Akkulturation einander ausschließen, gilt das nicht für Bikulturalität und Koexistenz, und auch nicht für Bikulturalität und Akkulturation. 3. Bikulturelles Modell und Verfassung Das bikulturelle Modell ist nur möglich im Rahmen einer rechtlichen Verfassung (im materiellen, nicht im formalen Sinn des Begriffs"), die die beiden Kulturen normativ so zueinander in Beziehung setzt, daß sie trotz dieser Beziehung im Grundsatz nicht verändert werden müssen. Bikulturalität setzt deshalb gedanklich die Forderung nach etwas voraus, das Elemente zu einer Einheit verbindet, die mehr ist als die Summe " Cooter und Fikentscher 1992; Fikentscher 1995, Kap. 7 und 12 (jeweils Anhang 4, unten); die Entdeckung der Existenz des bikulturellen Modells in der Wirklichkeit geht auf Feldforschungen bei den H o p i und in anderen Pueblos zurück. 55

Siehe z. B. Martin Kriele 93 f.

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ihrer Teile. Deshalb können sich Schwierigkeiten ergeben, wenn bestimmte Kulturen, z. B. primale Gesellschaften34, oder auch Islam und Marxismus, eine solche rechtliche Verfassung entwickeln sollen, die eine Kultur bewahrt, wenn sie einer anderen Kultur begegnet. Ostliches Detachment braucht eine solche rechtliche Verfassung im Prinzip nicht.35 4. Arten und ihre

Behandlung

Das bikulturelle Modell könnte in vielen Fällen praktische Anwendung finden. Beispiele sind Eingeborenenvölker wie die Indianer Nordund Südamerikas, nordsibirische Stämme oder die Altvölker Taiwans, ob sie in Reservaten angesiedelt leben oder nicht; die von der Landwirtschaft oder in Städten lebenden Armen Südamerikas und anderer Entwicklungsländer; türkische Gastarbeiter in Deutschland; slowenische Gruppen in Österreich; die Südtiroler in Italien; die Katalanen in Spanien; religiöse Minderheiten mit vergleichsweise strengen ethischen Regeln, die in vorwiegend säkularisierten Industriegesellschaften leben; Sprach- und Volksgruppen auf dem Balkan; Stammes- und Quasi-Stammesgesellschaften in Vielvölkerstaaten wie Südafrika, den Philippinen oder dem Sudan36; nichtseßhafte Ethnien wie Roma und Sinti37; religiösen Gruppen in überwiegend andersgläubigen Umgebungen, wie die Baha'i im Iran, die Sikhs in Indien und wieder die Altvölker Taiwans, und all die Situationen, die sich durch freiwillige oder erzwungene Wanderbewegungen ergeben. a) Bei genauerer Betrachtung lassen sich diese Fälle in drei Kategorien ordnen: (1) Die

Nachbar-Situation:

Die erste Gruppe umfaßt (mögliche) Bikulturalität, die durch die Existenz von zwei geographisch benachbarten Kulturen verursacht wird, die aus historischen oder politischen Gründen aneinandergrenzen. Dazu gehören z. B. Katalanen, Basken, Slowenen und Südtiroler. In diesen geographischen „Grenzsituationen" kommt es, jedenfalls unter heutigen Bedingungen, verhältnismäßig selten zur Migration. Moderner Ausdruck für Animismus (im weiteren Sinne). Einzelheiten in Fikentscher, Modes of Thought (s. oben Anm. 9). " Zum Sudan siehe Rafia Hassan Ahmed 1984, der den „intranationalen" Regionalismus kritisiert, welcher vorgibt, Eingeborenen-Kulturen zu schützen und durch die Entwicklung von mehr Nationalgefühl überwunden werden sollte. 37 Und zwar auf der Grundlage, die Weyrauch und Bell „autonomous lawmaking" nennen, Weyrauch, W. O. und Bell, M. A. (1993). 34

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In der Geschichte wurden wandernde Stämme gelegentlich als Grenzschützer angesiedelt. Ein modernes Beispiel einer durch Migration verursachten Nachbar-Situation ist die anhaltende chinesische Siedlungsbewegung jenseits der russisch-chinesischen Grenze.38 (2) Die Durchmischungs-Situation: Die zweite Gruppe betrifft die mögliche Bikulturalität von Kulturen, die miteinander leben wollen oder müssen, wie etwa türkische Gastarbeiter in Westeuropa, Wanderarbeiter in Texas und Kalifornien, viele der Sikhs, die Baha'i und Einwohner von Vielvölkerstaaten. Hier finden sich die meisten Fälle, die durch Migration verursacht wurden. (3) Die Enklaven-Situation: Die dritte Kategorie besteht aus kulturellen Enklaven („Kultur innerhalb einer Kultur"), die oft bei Altvölkern, Ureinwohnern, in Reservaten und Pueblos oder in den Armutsvierteln einer Stadtoder Landgesellschaft gefunden werden.39 In Städten können Stadtteile derartige Enklaven sein (z. B. die früheren Pascua Yaqui-Viertel in Tucson, Arizona). Enklaven können die Folge von Migration darstellen. Nicht selten werden sie „Ghettos" genannt. Der Balkan kennt die Kategorien (1), (2) und (3). Situation (1), also Minderheiten in Gebieten, die den von der Mehrheit bewohnten benachbart sind, gibt es im albanischen Kosowo in bezug auf die Serben. Situation (2), die räumliche Integration der verschiedenen Kulturen, findet sich in Sarajewo (dort lebten Serben, Kroaten und Bosnier, also Orthodoxe, Katholiken und Muslime). Situation (3), kulturelle Enklaven, gibt es (zumindest) heute z. B. in Bihac, Zepa und - vielleicht noch - Srebreniza. b) Die bikulturellen Lösungen müssen für alle drei Kategorien anders aussehen. Dies kann hier nicht im einzelnen ausgeführt werden. Nur einige Hinweise sind zu geben: Für Kategorie (1) bedarf es der politischen Vertretung einer „autonomen Region". Kategorie (1) ist im Sinne einer neueren deutschen Ausdrucksweise ein Fall des Multikulturalismus. Kategorie (2) setzt ein internalisiertes System gesellschaftlicher und rechtlicher Toleranz und des Respekts voraus, wie Guido Calabresi überzeugend darstellt.40 Christian Jäggi bemerkt zu Recht - mit einem 38 J. Glaubitz, Sibiriens unblutige Eroberung hat begonnen, Südd. Zeitung Nr. 234 vom 9./10. Oktober 1993, S. 9. 39 Zu Enklaven siehe Spicer 1972, 21 ff; Bischof-Okubo 1989, 240. 40 G. Calabresi, 1985; 1990.

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Seitenblick auf die Katastrophe in Jugoslawien —, daß es fast keine ethnisch oder religiös homogenen Staaten gibt.41 Wolf Lepenies plädiert für Toleranz im Neuen Europa.42 Kategorie (2) fragt im Sinne jener neuen deutschen Ausdrucksweise nach interkulturellen Verwaltungsformen. Kategorie (3) fordert eine rechtliche Verfassung, die es den Bewohnern erlaubt, als Bürger zweier Welten in einer kulturellen Enklave zu leben. Der angebliche Gegensatz von Multi- und Interkulturalismus versagt hier. Will man ihn trotzdem verwenden, so könnte man fordern: Die Grundlage für Kategorie (3) ist der jW«/izkulturalismus (oben 1), aber eine weise Verwaltung wird auch mierkulturelle Formen der Verwaltung (oben 2) in Betracht ziehen. c) Aus meinen Feldforschungen in Indianerreservaten und in Regionen, die die Regierung der Republik China (Taiwan) den Eingeborenen zur Verfügung stellt (1987-1996), schließe ich, daß fünf Vorbedingungen erfüllt sein müssen, wenn eine Enklave (oben a) (3)) lebensfähig sein soll: (1) Ein geographisches Gebiet ist der Gruppe in einer Weise zugesichert, die Verkäufe von Land an Außenstehende verhindert; (2) Die Verwaltungshoheit in bezug auf wirtschaftliche Aktivitäten wie Ernte, Holzverarbeitung, Bergbau, Supermärkte, Tankstellen, Hotels, Verkehr, Tourismus, Werbung usw. liegt bei der ethnischen Gruppe oder den ethnischen Gruppen in der Enklave, und ein entsprechender Schutz durch Gerichte muß gewährleistet sein; (3) Die Enklave genießt in bezug auf Sprache, Religion, Schulen, Presse, Fernsehen, Folklore usw. kulturellen Schutz; (4) Den Bewohnern der Enklave steht ein Minimum an Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zur Verfügung. (5) Der Enklave ist ein rudimentärer Standard von Verwaltungsgrundsätzen wie Wahlrecht, kontrollierte Finanzen und eine Gerichtsordnung von außen auferlegt. d) Ist das „bikulturelle Modell" damit überfordert? Natürlich lassen sich durch die Anwendung eines anthropologischen Konzepts nicht alle Probleme „lösen", die sich im Zusammenhang mit der Migration stellen. Aber man muß weiter nach Modellen fragen, die dann, wenn sie angewendet werden, bei der Lösung oder zumindest Entschärfung der Probleme hilfreich sein können. Die Forschung sollte nach einem Modell oder nach Modellen suchen, wie Angehörige zweier im Konflikt befindlicher Kulturen der Kultur ihrer Heimat verwurzelt bleiben, ob sie nun in einer „Nachbar-Situation" leben, oder in einer „ Durchmisch ungsSituation", oder ob sie innerhalb einer anderen, oft stärkeren und geleC.J.Jäggi 1993 a; 1993 b. W. Lepenies, Toleration in the New Europe: Three Tales, Uhlenbeck Lecture X I : 1993, Wassenaar 1993: NIAS. 41 42

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gentlich „moderneren" Kultur mit ihren anderen Lebensbedingungen wie Schul- und Steuersystem, öffentlichen Versorgungsbetrieben, Krankenhäusern oder Tourismus eine kulturelle Enklave bilden. e) In bezug auf die Migration und ihre unterschiedlichen möglichen Ergebnisse kann Bikulturalität nicht die einzige Lösung sein. Wohl aber könnte sie eine Lösung unter anderen darstellen. Denn die Migration endet notwendigerweise zunächst in einer der drei oben a) beschriebenen Situationen. 5. Rechtliche und methodologische Vorbedingungen des bikulturellen Modells „In Ubereinstimmung mit der Ansicht, daß Gruppen innerhalb des Staates nicht das Recht auf Selbstbestimmung haben, schließen sich die meisten Mitglieder der Vereinigten Nationen auch der Ansicht an, daß Minderheiten, als kollektives Ganzes betrachtet, keine Sonderrechte und keinen Sonderstatus haben sollten. Im allgemeinen ziehen sie (nämlich die Mitgliedstaaten der UN) die Assimilation der Differentiation vor; und wenn irgendmöglich leugnen sie gern, daß überhaupt Minoritäten zu ihrer Bevölkerung gehören. Die Erklärung dieser Einstellung liegt nicht so fern ,.." 43 Diese in den UN verbreitete Haltung führt zu großer Ungerechtigkeit, vielleicht zur größten, die sich als einzelner, definierbarer Sachverhalt in der heutigen Welt finden läßt. Es gibt jedoch eine Reihe rechtlicher Mittel, die, falls sie durchgeführt würden, eine hinreichende Begründung für die Anwendung des bikulturellen Modells überall dort liefern können, wo eine Kultur sich sowohl neben, zusammen mit, oder innerhalb einer anderen Kultur zu bewähren hat, und gleichzeitig in ihrer Identität vor dieser anderen (zumeist einflußreicheren) Kultur geschützt werden muß. René Kuppe fragt, wie sich erreichen läßt, daß Gruppen von Eingeborenen und Stammesverbände Seite an Seite mit den modernen Organisationsformen existieren können, denen sich die Ureinwohner zu beugen haben.44 Dieselbe Frage muß in bezug auf eine Minderheit gestellt werden, die sich als ein Ergebnis der Migration ergibt. Eine mögliche Antwort könnte das bikulturelle Modell sein, das, allgemein gesagt, eine Art „kultureller Antitrust" bedeutet, nämlich eine kulturelle Selbstbeschränkung der einflußreicheren Kultur mit dem Ziel eines Schutzes für die gefährdetere Kultur. Deshalb sollten Anthropologen auch die Möglichkeiten der UN (und anderer regionaler und nationaler Organisationen) 43 44

Van Dyke 1970, zitiert nach Weston/Falk/D'Amato Kuppe 1991,266 ff.

1980, 555.

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zum Schutz der Kulturen und ihrer Rechte und die wesentlichen Regeln des Antitrust-Denkens kennen, die auf einen rechtlichen Rahmen zur Selbstbeschränkung und Kontrolle wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Macht abzielen. Die Probleme der Entfremdung und der Gegenkultur, die kürzlich bei einem PEN-Treffen erörtert wurden, und die der „Offenheit" einer Kultur für eine andere, auch in Fällen von Wanderungsbewegungen, sind mit den hier diskutierten Fragen verwandt.45 Sie lassen sich leichter lösen, wenn ein konstitutioneller, antitrustähnlicher Schutz der weniger ausstrahlungskräftigen Kultur verwirklicht wird. Auch mit dem Problem der kulturellen und „supra-kulturellen", historischen und „suprahistorischen" Grundrechte läßt sich besser umgehen, wenn das Nachdenken über kulturellen Kontakt auf einer Meta-Ebene verläuft.46 Das bikulturelle Modell beruht auf einer entschiedenen Ablehnung des Ethnozentrismus. Es ist eine Tatsache, daß viele Soziologen und fast alle Wirtschaftswissenschaftler es als einen großen Vorteil für ihre Arbeit erachten, wenn sie von den Kulturen und ihren Implikationen absehen, indem sie ihrer Argumentation eine westlich-ethnozentrische Plattform zugrundelegen. Das hat zu vielen Unzuträglichkeiten geführt. Eine bessere anthropologische Erforschung des Lebens in zwei Kulturen ist gefragt. In einer Untersuchung der Streßfaktoren in traditionellen Gesellschaften schreibt Wulf Schiefenhövel Streß und Zivilisationskrankheiten in Stammeskulturen zum großen Teil eben dieser Form von Ethnozentrismus zu. „Diese Menschen können in keiner der beiden Welten Fuß fassen (in der sie nach der Ankunft des weißen Mannes leben müssen) und werden sehr bald zu Opfern von Streß und Zivilisationskrankheiten.47 Was Schiefenhövel über Stämme und traditionelle Gesellschaften sagt, ist auch auf jene Begegnungen der Kulturen anwendbar, die sich aus der Migration ergeben. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Insgesamt führt die Migration, wenn sie - wie erforderlich - kulturell definiert wird, zu den Formen von Kulturkontakt, die in der Anthropologie diskutiert werden. Diese Formen bedürfen der Erweiterung um die begrenzte Internalisierung, die teilweise Assimilation, und das bikulturelle Modell. Letztgenanntes ist vor allem ein Rechtsproblem. Alle diese Formen eignen sich zu besseren oder schlechteren politischen und rechtlichen Lösungen. Eine vielversprechende Möglichkeit, und deshalb ein Kandidat für angewandte Rechtsanthropologie, ist das hier entwickelte bikulturelle Modell. Vgl. R. R. Burt 1986,26,29. Siehe Arthur Kaufmann 1984, 386; Fikentscher 1980 a; 1980 b; 1987; 1995, Kap. 4. 47 Schiefenhövel 1985, 48; ähnlich auch Nader und Todd, jr. 1978; Groebel 1982; Burton-Bradley 1967. 45

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Anhang 1 System der Anthropologie (empirisch) kulturelle Anthropologie

biologische Anthropologie (= physikalische-physiol. A.)

I. A. Archäolog. Anthropologie

I. B. Evolutions-Anthrop. (einschl. Primatenethol.) II. A. Soziokulturelle Anthr. II. B. Humanethologie 1. Kultur (Begriff, kult. 1. Humanethologie der Wandel, Akkulturation, etc.; Universalien (z. B. Annex: FeldforschungsAngriffs-,Verteidigungsmethoden) verhalten) 2. Kulturen 2. Humanethologie a) Altägypten der Kulturen b) Stammeskulturen (z. B. Bejahung, c) Ost- und Südasien Verneinung, d) Tragic, Judaismus, Proxemics (Hall), Christentum Begrüßung, etc.) e) Islam f) Säkular-Totalitäre 3. Kulturpersönlichkeit 3. a) Kulturpersönlichkeitsbezogenes Verhalten (z. B. Brautwerbung, Eß-Sitten) b) psychologische Anthropologie III. A. Lingustische Anthropologie III. B. Kognitive Anthropologie der Sprache IV. A. Denkarten IV. B. Kognitive Anthropologie des Verhaltens (z. B. Meditations-, Dialog-Verhalten, Brainstorming, etc.) V. A. Angewandte Anthropologie V. B. Verhaltensaspekte (z. B. Umwelt-Verh.) der angew. Anthropologie Philosophie (anthropologische) Allg. nicht-empirische Anthropologie

Anthropol. Aspekte der Naturphilosophie

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Anhang 2

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Die Universität München an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts Rede anläßlich einer Rektoratsübergabe

ANDREAS H E L D R I C H

Der nachstehende Beitrag ist ein Fremdkörper in einer Festschrift für den Präsidenten des Bundesgerichtshofes. Seine einzige Rechtfertigung besteht darin, daß Walter Odersky seit mehr als 20 Jahren als Honorarprofessor der Juristischen Fakultät der Universität München angehört und einen wesentlichen Beitrag zu unserem Lehrprogramm geleistet hat. Ein natürliches Interesse an der Lage der Universität, an der er selbst studiert, promoviert und so viele Jahre erfolgreich gelehrt hat, darf bei dem Jubilar also unterstellt werden. Die kleine Rede anläßlich der Rektoratsübergabe am 14. 11. 1994 ihm deshalb mit dem herzlichen Glückwunsch seiner alma mater gewidmet.

Das Schauspiel, dessen Zeuge Sie soeben geworden sind, war die Amtsübergabe vom 708. auf den 709. Rektor der Universität. Die hohe Zahl wirkt ernüchternd. Sie führt uns vor Augen, daß der einzelne Rektor nur eine flüchtige Episode im Leben der Institution ist, ein Sandkorn in einem großen Stundenglas. Hinter Professor Steinmann und mir eröffnet sich eine schier endlose Ahnengalerie von mehr als siebenhundert Amtsvorgängern. Ein jeder von ihnen ein Kind seiner Zeit, mit ihren Hoffnungen und Idealen, aber auch mit ihren Ängsten, Vorurteilen und Irrtümern. Mitunter dürfen wir den Ausdruck „Kind seiner Zeit" sogar ganz wörtlich nehmen: Die Einladung zum heutigen Festakt ziert die bildliche Darstellung einer Rektoratsübergabe aus dem Jahr 1589. Der glückliche Nachfolger, seines Zeichens Bischof von Regensburg, war zu diesem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt, was die Bedeutung des Amtes in einem etwas fragwürdigen Licht erscheinen läßt. Allerdings ist kaum zu befürchten, daß dieser Präzedenzfall heute noch Schule machen könnte - allen Bekenntnissen zur Notwendigkeit einer radikalen Verjüngung des Lehrkörpers zum Trotz. Lassen Sie uns noch für einen Augenblick in dieser Ahnengalerie verweilen. Sie birgt Licht und Schatten. Zum Glück brauchen wir nach dem Licht nicht lange zu suchen. Zwei der noch lebenden Amtsvorgänger

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sind zu unserer Freude unter ans. Aber auch der Schatten liegt nicht fern. In der Geschichte einer Hochschule spiegelt sich die Geschichte eines Landes. Selbstverständlich war die Universität auch in der Zeit des sogenannten 3. Reichs nicht ohne Rektor. Von 1941 bis 1945 bekleidete das Amt ein ordentlicher Professor für arische Kultur- und Sprachwissenschaft. E r war - dem Jugendkult des NS-Regimes entsprechend nach einer steilen akademischen Karriere im Alter von 36 Jahren zum Rektor ernannt worden. In seine Amtszeit fällt die Ergreifung der Geschwister Scholl hier im Hauptgebäude und ihre Auslieferung an die Schergen der Geheimen Staatspolizei. Ich habe weder das Recht noch die Absicht, über individuelle Schuld und Verstrickung zu urteilen. Aber ebensowenig dürfen wir ein dunkles Kapitel der Universitätsgeschichte einfach totschweigen. Wir würden sonst die Mahnung überhören, die die Erinnerung an vergangenes Unrecht mit sich bringt. Aber lassen Sie uns von anderen, womöglich erfreulicheren Dingen sprechen. Die hohe Zahl der Amtsvorgänger stimmt noch unter einem anderen Blickwinkel nachdenklich: 708 Rektoren seit der Gründung der Universität vor 522 Jahren - das spricht für einen gewissen Verschleiß. Offenbar war es mit dem Durchhaltevermögen der Spezies nicht immer zum besten bestellt, zumal wenn man bedenkt, daß meine unmittelbaren Vorgänger Nikolaus Lobkowicz und Wulf Steinmann mit einer Amtszeit von 11 bzw. 12 Jahren die Statistik insgesamt gewaltig verbessert haben. Aber natürlich hat sich ihr Wirken an der Spitze der Universität nicht nur in einer Verbesserung der Statistik niedergeschlagen. Herr Steinmann hat in seiner Abschiedsrede vielen Mitgliedern der Universität für die gute Zusammenarbeit während seines Rektorats gedankt. V o r allem aber schulden wir ihm Dank für seine Amtsführung als Präsident und Rektor. E r hat seine ganze Kraft in den Dienst dieser Aufgabe gestellt. E r hat dabei auch unpopuläre Entscheidungen nicht gescheut, wenn sie im Interesse der gesamten Hochschule lagen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist es ihm gelungen, die Einheit der Universität zu wahren und zu festigen. Dies erreicht zu haben, ist bei einer H o c h schule, die in 20 Fakultäten gegliedert und auf das gesamte Stadtgebiet und Teile des Umlands von München zerstreut ist, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die zentrifugalen Kräfte innerhalb eines Konglomerats so unterschiedlicher Fachrichtungen und so disparater Gruppeninteressen sind stark. Sie zu überwinden, ist die vielleicht wichtigste Aufgabe, die der Universitätsleitung gestellt ist. Rektor Steinmann hat sie meisterhaft bewältigt. Ich sehe den Sinn der heutigen Feier vor allem darin, ihm in unser aller Namen dafür herzlich zu danken. In diesen Dank möchte ich ausdrücklich auch Frau Steinmann einschließen, die ihren Mann all die Jahre hindurch mit selbstloser Liebenswürdigkeit unterstützt hat.

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Dennoch werden sich Ihre Blicke mit einer Mischung von Besorgnis und Neugier natürlich auch auf den Nachfolger richten. Vermutlich werden Sie sich fragen: Wird der Neue dem Amt überhaupt gewachsen sein? Was wird er versuchen, anders oder gar besser zu machen? Auf solche Fragen gibt es zunächst einmal die beruhigende Antwort, daß Hochschulgesetz und Grundordnung dem Streben des einzelnen Rektors nach Machtentfaltung enge Grenzen ziehen. Vor allem seine Einbindung in das Rektoratskollegium läßt wenig Spielraum für sog. Selbstverwirklichung. Vielleicht die einzige Entscheidung, die der Rektor vollkommen frei zu treffen imstande ist, betrifft die Farbe seines Dienstwagens - wenn denn ein neuer, wie gerade jetzt, zur Beschaffung ansteht. Eine revolutionäre Wende in der Ludwig-Maximilians-Universität ist also von vornherein nicht zu befürchten. Das schließt freilich Veränderungen in der Akzentsetzung keineswegs aus. Lassen Sie mich deshalb im folgenden ganz kurz einige Probleme ansprechen, die mir bei unserer gemeinsamen Arbeit besonders vordringlich scheinen. Dabei will ich ausnahmsweise überhaupt nicht von Geld oder Stellen reden. Es geht mir vielmehr um grundsätzliche Fragen der künftigen Entwicklung unseres akademischen Gemeinwesens. Das erste Stichwort, das ich aufgreifen will, heißt „Verschulung der Universität". In ganz Deutschland erwerben heute knapp 25 Prozent eines Geburtsjahrgangs die sogenannte allgemeine Hochschulreife. Noch vor gut dreißig Jahren waren es rund fünf Prozent. Zwar machen keineswegs alle Abiturienten von der Möglichkeit Gebrauch, ein Studium an einer Universität aufzunehmen. Die Zahl der Studienanfänger ist sogar seit einiger Zeit leicht rückläufig. Auch die Zahl der an der Universität München eingeschriebenen Studentinnen und Studenten stagniert deshalb auf einem hohen Niveau. Trotzdem ist die Universität in vielen Fällen zweifellos überfüllt. Die Studienbedingungen sind alles andere als zufriedenstellend. Nicht wenige unserer Studienanfänger kehren deshalb der Hochschule nach einiger Zeit enttäuscht und resigniert wieder den Rücken. In ganz Deutschland wird heute der Anteil der Studienabbrecher auf 25 bis 30 Prozent geschätzt. Diese Ausbildungsmisere hat die deutschen Universitäten ganz von selbst in das Blickfeld der öffentlichen Kritik gerückt. Beklagt werden neben inhaltlichen und organisatorischen Mängeln vor allem die überlangen Studienzeiten. Die im ganzen berechtigte Kritik hat zu Therapievorschlägen geführt, die in ihrer Grundtendenz allesamt auf eine Verschulung der Universität hinauslaufen. Empfohlen wird etwa die straffere Organisation des Studiums in verbindlich vorgeschriebenen Zeittakten, Entrümpelung des Lehrprogramms, intensive Betreuung der Studierenden, Ersetzung der großen Abschlußprüfung am Ende des Studiums durch studienbegleitende Prüfungsleistungen in

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kleinen Schritten und Reduzierung der Prüfungsanforderungen durch Beschränkung auf das Wesentliche. Natürlich haben alle diese Vorschläge viel für sich. Wir sind deshalb auch dabei, sie im Rahmen unserer Möglichkeiten in die Tat umzusetzen. Allmählich wird aber deutlich, daß damit Nebenwirkungen verbunden sind, die das Selbstverständnis einer Universität in Frage stellen. Das Dilemma hat seinen Grund darin, daß die „Hochschulreife", die unseren Abiturienten heute bescheinigt wird, offenbar einen ganz anderen Hochschultyp im Auge hat als die klassische deutsche Universität. Diese hat ihren Studentinnen und Studenten die sogenannte akademische Freiheit gewährt - ein Begriff, der heute in Vergessenheit geraten scheint. An ihre Stelle tritt heute anscheinend mehr und mehr eine Bevormundung der Studierenden, die von den Betroffenen oft nicht als Wohltat empfunden wird. Ich habe Zweifel, ob wir nicht im Begriff stehen, in unserem Reformeifer das Kind mit dem Bad auszuschütten. Eine Universität muß auch in Zukunft mehr sein als eine Ausbildungsmaschine, in der nach festliegenden Produktionsplänen innerhalb genau bemessener Frist sich ständig erneuernde Wellen von Akademikern erzeugt werden. Sie ist darüber hinaus auch ein Freiraum, in dem junge Menschen nach manchen Zwängen der Schulzeit neue geistige Anregungen empfangen, in dem sie ihre Interessen und Begabungen entdecken und in dem sie - nicht zuletzt - auch ihre Persönlichkeit weiterentwickeln können. Zwar muß es selbstverständlich jedermann unbenommen bleiben, auf das umfassendere Bildungsangebot der Hochschule zu verzichten, um in voller Konzentration auf das gewählte Fach in kürzester Frist erfolgreich ein bestimmtes Studium zu absolvieren. Ein besonders geglücktes Reformmodell ist deshalb die sogenannte Freischußregelung, die es den Studierenden freistellt, ohne jedes Risiko versuchsweise schon nach 7 oder 8 Semestern die Abschlußprüfung abzulegen. Allein die Einführung dieses Angebots hat bei den Juristen zu einer drastischen Verkürzung der durchschnittlichen Studiendauer geführt. Dieser Erfolg ist deshalb so erfreulich, weil er ganz auf freiwilliger Akzeptanz beruht. Wir dürfen aber meines Erachtens nicht so weit gehen, die gesamte Universität in allen Studiengängen künftig nur noch am Leitbild der größtmöglichen Ausbildungseffizienz auszurichten. Wir würden damit berechtigte Erwartungen auch der heutigen Studentengeneration enttäuschen, die nicht ohne Not um Bildungschancen gebracht werden sollte, die die deutsche Universität den Generationen vor ihnen gewährt hat. Hinzu kommt aber natürlich auch, daß eine Orientierung an der reinen Lehrleistung einen anderen Typus von Professoren voraussetzt, als er bisher an unserer Universität vertreten ist. Zwar hat vermutlich jeder von uns seinen Beruf auch deshalb gewählt, weil er Spaß an der Lehre

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hat. In der Tat gibt es kaum ein erfreulicheres Erfolgserlebnis als eine in jeder Hinsicht geglückte Vorlesung. Nicht minder wichtig ist aber wohl uns allen die eigene wissenschaftliche Arbeit. Sie gerät heute leider oft genug wegen der Überbeanspruchung durch die Lehrtätigkeit in der zum Bersten überfüllten Hochschule ins Hintertreffen. Die Gewichte noch weiter zugunsten eines stärkeren Engagements in der Lehre zu verschieben, wie es uns gegenwärtig von allen Seiten empfohlen wird, würde eine nachhaltige Veränderung des Berufsbilds des Universitätsprofessors zur Folge haben. Dies hätte für uns alle schwerwiegende Konsequenzen - nicht zuletzt für die Qualifikation des Personenkreises, der sich in Zukunft noch für diese Laufbahn interessieren würde. Damit bin ich bei meinem zweiten Stichwort: der Abwanderung der Forschung. Der Vorsitzende unseres Kuratoriums, dessen Worten ich naturgemäß mit besonderer Aufmerksamkeit lausche, hat kürzlich in einem Vortrag ausgeführt, daß nur noch 13 Prozent des deutschen Brutto-Forschungsprodukts in den Universitäten erarbeitet werden. Diese seien heute im wesentlichen nur noch Ausbildungsstätten, in denen junge Menschen das Rüstzeug für eine Forschung erhalten, die anderswo betrieben wird. „Anderswo" heißt z. B. in den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft, in den Großforschungseinrichtungen und natürlich vor allem in der Industrie. Ich halte die Zahl - wenn sie denn stimmt - für ein Alarmsignal, das uns alle aufschrecken sollte. Der Rückzug der Forschung aus der Universität kann den Staat und die Gesellschaft nicht gleichgültig lassen. Er bedeutet nämlich zugleich ein allmähliches Verkümmern der Grundlagenforschung, d. h. der nicht unmittelbar anwendungsorientierten, zweckfrei betriebenen Forschung. Sie allein bereitet das Fundament für jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt. Der Versuch, unter Umgehung der Grundlagenforschung nur solchen Fragestellungen nachzugehen, die einen konkreten gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Nutzen versprechen, hat sich immer wieder als Fehlschlag erwiesen. Die Leistungen der Universitäten auf dem Gebiet der Grundlagenforschung sind also ganz unverzichtbar. Dies gilt auch und gerade im Bereich der Naturwissenschaften, auf den die alarmierende Diagnose unseres KuratoriumsVorsitzenden wohl in erster Linie gemünzt war. Der Freistaat Bayern hat dies erkannt. Die mutige Entscheidung der Staatsregierung, trotz knapper Haushaltsmittel moderne Neubauten für unsere gesamte Fakultät für Chemie und Pharmazie in Großhadern zu errichten, ist deshalb ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich möchte mich für diese zukunftweisende Entscheidung auch an dieser Stelle noch einmal in unser aller Namen herzlich bedanken. Derartige Investitionen werden sich aber natürlich nur dann wirklich lohnen, wenn der Universität die Möglichkeit erhalten bleibt, ihre

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Kräfte nicht allein in die Lehre, sondern - gleichberechtigt - auch in die Forschung zu stecken. Den Freiraum dafür stets aufs neue einzufordern, ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulleitung. Dabei ist auch zu bedenken, daß in vielen unserer Arbeitsgebiete eine wirkliche Alternative zur Hochschulforschung überhaupt nicht existiert. Dies gilt für weite Teile der Humanmedizin ebenso wie der Tiermedizin. Es gilt aber darüber hinaus vor allem für den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften. Nahezu jeglicher Erkenntnisfortschritt in diesen Disziplinen wird von Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern in deutschen Universitäten geschaffen. Hier und nirgendwo sonst entsteht ein beträchtlicher Teil des kulturellen Reichtums unseres Landes. Die Erhaltung der Leistungsfähigkeit unserer Forschung ist deshalb nicht nur ein Anliegen der Universität. Auch diese banale Tatsache scheint bei der modischen Forderung, wir sollten uns in Zukunft vornehmlich der Ausbildung widmen, ein wenig in Vergessenheit zu geraten. Natürlich bin ich mir bewußt, daß die Ausbildungsmisere in der Massenuniversität allein durch unbeirrtes Festhalten an den überkommenen Standards und Methoden des Hochschulstudiums nicht behoben werden kann. Reformen sind und bleiben unerläßlich. Daß wir dazu bereit und in der Lage sind, lehren zahlreiche neue Studien- und Prüfungsordnungen, die unser Senat in rascher Folge verabschiedet. Wir dürfen dabei aber die Grundwerte einer wissenschaftlichen Hochschule - die Einheit und Freiheit von Forschung und Lehre - nicht aufs Spiel setzen. Die Universität München hat in ihrer Geschichte bewiesen, daß sie die rechte Mitte zwischen Beständigkeit und Wandel zu finden versteht. So hat sie das Kunststück vollbracht, zweimal ihren Standort zu wechseln und trotzdem aller Welt glaubhaft zu machen, daß es sich immer noch um dieselbe Hochschule handelt. Allein mit dieser Leistung steht sie vermutlich weltweit einzig da. Sie wird deshalb, dessen bin ich gewiß, auch ihre Metamorphose zu einer Massenuniversität ohne Identitätsverlust überstehen. Wir müssen aber versuchen, dabei soviel wie möglich von dem guten Geist zu bewahren, der diese Hochschule liebenswert macht. In diesem Sinne bitte ich Sie alle um Ihre Unterstützung und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Die Entdeckung des Gewissens im Rechtsdenken des 16. Jahrhunderts Das Werk des Johannes Oldendorp als Beispiel1

PETER MACKE

A. Das 16. Jahrhundert ist eine höchst bedeutsame Epoche der mitteleuropäischen Geistes- und damit auch der Rechtsgeschichte. Das Mittelalter, seit langem in einer Art Agonie mit fortschreitender Zersetzung der Macht des Kaisers und mit zunehmenden Mißständen in der Kirche, geht unwiederbringlich zu Ende und die Neuzeit beginnt. Sie beginnt mit einem Wandel im Denken und mit einem Wandel im Glauben. Europa erlebt die erste Periode des Humanismus und den Beginn der Reformation. Die beiden Strömungen sind mit zwei Namen verbunden: Erasmus von Rotterdam und Martin Luther, gelehrter der eine, radikaler der andere, eine Zeitlang beinahe Bundesgenossen, aber schließlich verschiedene Wege gehend und dadurch vermittelnde Geister auf den Plan rufend wie Philipp Melanchthon aus Bretten (1497-1560) und, im Bereich des Rechtsdenkens, Johannes Oldendorp aus Hamburg (1488-1567).

B. Die Jurisprudenz an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert war in eine Sackgasse geraten und hatte sich weitgehend in Spiegelfechtereien verloren. Das römische Recht hatte sich, zwar nicht überall in der Rechtspraxis, wohl aber allenthalben in der Rechtslehre, durchgesetzt. Grundlage war der altehrwürdige Codex Justinianus, aber nicht als Rechtsquelle in dem Sinne, daß man eigenverantwortlich daraus schöpfte, sondern als Plattform für die Wiedergabe der Auslegung durch bestimmte anerkannte Lehrautoritäten, die Glossatoren und Postglossatoren. Die Codex-Ausgaben der Zeit führen die Versteinerung des Rechtsdenkens plastisch vor Augen: der Codex in Normalschrift, die Randglossen in kleinerer, die Randglossen zu diesen Glossen in noch 1 S. bereits Macke, Das Rechts- und Staatsdenken des Johannes Oldendorp, jurist. Diss. Köln 1966.

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kleinerer Schrift - eine Verengung auf lehramtliche Definitionen ohne Raum für eigene oder gar eigenwillige Auslegungen und Fortentwicklungen. Die Jurisprudenz hatte sich auf diese Weise in ein Dickicht von Worthülsen begeben und den Bezug zur Realität mehr oder weniger verloren. Damit war weitgehend ein Verzicht auf moralische Kontrolle verbunden. Die Rechtsgelehrten mochten persönlich fromme Männer sein, aber in ihrem Beruf waren sie Gefangene einer wertfreien Begriffsjurisprudenz. Bei Gericht entschied definitorische Kunstfertigkeit, die Ausrichtung an einer Leitidee war verlorengegangen. „Juristen schlechte Christen", so faßt Luther das Unbehagen an der Jurisprudenz seiner Zeit zusammen. Aber ein Konzept dagegen hat überraschenderweise weniger der Reformator, der vielmehr die Kluft zwischen Welt und Glauben durch seine Lehre von den „Zwei Reichen" eher vertieft, als Erasmus, der diese Kluft zu überbrücken trachtet. I. 1. Erasmus empfindet zutiefst, daß sich die Wissenschaft nicht in Förmelei erschöpfen darf, sondern ihren eigentlichen Sinn darin findet, das Gute im Menschen zur Entfaltung zu bringen. Er ist Christ, ein aufgeklärter und auf Ausgleich bedachter Christ, aber ein Christ, und der Inbegriff des Guten ist ihm daher Christus. Folgerichtig sind ihm Wissenschaft und Christentum Verbündete und gehen Wissenschaft, darauf gerichtet, den Menschen zu veredeln, und Christentum, gerichtet auf das Gute und Rechte, ineinander über. Leidenschaftlich wendet sich Erasmus gegen diejenigen, „qui sivi hoc constanter habent persuasum, non conhaerere cum pietate Christiana litteraturam, quam illi vocant secularem"2. Er setzt das Neue Testament in einen evolutionären Zusammenhang auch mit der vorangegangenen geistigen Entwicklung, die ihm als Humanisten so teuer ist. Das Neue Testament ist ihm die Krönung der geistig-moralischen Entwicklung, aber es entwertet nicht, was zuvor gedacht und erkannt worden ist. Seine Äußerungen hierzu gehören zum Besten, was christlicher Humanismus zu Papier gebracht hat. In den Schriften der Alten, so schreibt Erasmus, findet sich vieles „tarn caste, tam sancte, tarn divinitus ... Et fortasse latius se fundit spiritus Christus quam nos interpretamur"3. „Proinde mihi nihil umquam legisse videor ..., quod aptius quadret in hominem vere Christianum, quam quod Socrates dixit ... quum huiusmodi quaedam lego de talibus viris, vix mihi tempero, quin dicam: Sancte Sokrates, ora pro nobis"4. 2 3 4

Erasmus, Antibarbarorura über primus, in: Opera omnia, Band 10 (1706), Sp. 1720 D. Erasmus, Convivium religiosum, in: Colloquia Famillaria, Leipzig 1929, S. 122 f. Erasmus, Convivium religiosum (Fn. 3) S. 126.

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Solcherart Christentum, Antike und Wissenschaft versöhnend findet Erasmus zugleich einen Bezugspunkt, der der Wissenschaft Maß und Richtung gibt. Die Besinnung auf das Evangelium bewahrt die Wissenschaft ihrerseits davor, ihrem humanistischen Auftrag untreu zu werden und zum Selbstzweck zu entarten. „Exemplum nostrum Christus est, in quo uno omnes insunt beate vivendi rationes. Hunc sine exceptione licebit imitari" 5 . 2. Das gilt auch für Staat und Recht. Die hierfür Verantwortlichen sollen sich nicht davon beeinflussen lassen, was ihre Vorgänger in der Vergangenheit getan oder unterlassen haben, sondern allein danach fragen, ob das, was sie tun, „non abhorret a doctrina Domini nostri" 6 . Recht und Staat haben darauf abzuzielen, „quod respondet ad mores Dei" 7 . Die Gesetze müssen „honestatis ideae" 8 entsprechen und „ad archetypum aequi et honesti" 9 ausgerichtet sein, welcher Christus selbst ist10. „Debent humanae leges ab hoc archetypo peti ... Ab eodem lumine legum humanarum scintillae sumuntur" 11 . Wo die leges humanae dem Willen Gottes zuwiderlaufen, sind sie aufzuheben oder zu verbessern12. In alledem, gerade auch in letzterem, schwingt unverkennbar die Rechtsstufenlehre der Scholastik nach, wie sie Thomas von Aquin entwickelt hat13. Erasmus entschlackt und modernisiert sie und rettet sie so in die Neuzeit hinüber. Das also ist das Konzept des Erasmus gegen die Gefahr der Beziehungslosigkeit der Wissenschaft im allgemeinen und der Rechtswissenschaft im besonderen: Orientierung am „archetypus Christus". Das bedeutet nicht etwa Unterordnung unter die Kirche. Die Kirche und ihre Funktionsträger spielen für Erasmus in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Es ist Christus selbst, und zwar als Urbild (archetypus) und Sinnbild des Guten und Gerechten, der Erasmus vor Augen steht.

5 Erasmus, Enchiridion militis Christiani, in: Ausgewählte Werke, herausgegeben von H. Holbom, München 1933, S. 56, 91. ' Erasmus, Enchiridion (Fn. 5) S. 106. 7 Erasmus, Institutio principis Christiani, in: Opera omnia (Fn. 2), Band 4 (1703) Sp. 600 D. 8 Erasmus, Enchiridion (Fn. 5) S. 42. 9 Erasmus, Institutio (Fn. 7) Sp. 595 D. 10 S. Erasmus, Reverendo in Christi Patri, in: Ausgewählte Werke (Fn. 5), S. 7. " Erasmus, Ratio seu Compendium verae theologiae, in: Ausgewählte Werke (Fn. 5), S. 204. 12 Vgl. Erasmus, Institutio (Fn. 7) Sp. 599 B/C, 602 A. 13 S. näher Thomas von Aquin, Summa Theologica, Prima Secundae partis, Rom 1925, S. 649 ff, und hierzu Ernst von Hippel, Rechtsgesetz und Naturgesetz, Tübingen 1943, S. 31.

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3. Wie aber gelingt es, die Gesetze, soweit als solche mit dem archetypus Christus vereinbar, diesem ihrem Zweck entsprechend anzuwenden? Erasmus sieht in seiner Erörterung des Adagiums „Summum ius summa iniuria" die Gefahr, daß die Gesetze „ad ... nimis severam rationem" ausgelegt werden14, daß „maxime superstitiose haeretur legum litteris" und „de verbis contenditur, neque spectatur, quid senserit is qui scripsit"15. Dies zu verhindern ist Aufgabe der aequitas. Sie hat sicherzustellen, daß bei der Rechtsanwendung im Einzelfall entsprechend dem Sinn allen Rechts ein dem Willen Gottes gemäßes Ergebnis zustandekommt. "... haec quoque servanda regula, ut sensus, quem ex obscuris elicimus, respondeat ad orbem illum doctrinae Christianae, respondeat ad illius (Christi) vi tarn, denique respondeat ad aequitatem naturalem" 16 . Damit greift Erasmus in verchristlichter Form auf die emefoceia-Lehre des Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik zurück 17 . Die emeixeia ist für Aristoteles das Prinzip, durch das im Einzelfall das dem menschlichen Recht vorgegebene Gerechte zum Durchbruch gebracht wird. Sie hat einen materialen und einen funktionalen Aspekt. Unter ihrem materialen Aspekt beinhaltet sie, daß das abstrakt im Gesetzesrecht enthaltene Gerechte in der konkreten Situation tatsächlich verwirklicht wird, daß dabei die von den Rechtsnormen in ihrer generellen Fassung nicht bedachten konkreten Umstände des Einzelfalls in Ubereinstimmung mit dem Prinzip des Gerechten angemessen berücksichtigt werden, daß in diesem Sinne die Rechtssätze nicht allzu strikt gehandhabt, daß sie nicht ungebührlich und im Ergebnis unbefriedigend auf die Spitze getrieben werden. In dieser Hinsicht verlangt die eitieixeia eine sorgfältige und interessengemäße Auslegung des Gesetzes gemäß dem übergeordneten Prinzip des Gerechten und gestaltet so die dem Gesetzesrecht zu entnehmende Lösung. Unter ihrem funktionalen Aspekt vermag die emeixeia den Rahmen des Gesetzesrechts zu sprengen. Sie verlangt insoweit, daß die zur Anwendung stehende Rechtsnorm, wenn sich ein Widerspruch zwischen der durch sie nahegelegten Lösung und den Anforderungen des Gerechten ergibt und sich dieser Widerspruch wegen der strikten Fassung des Gesetzes im Wege der Auslegung nicht auflösen läßt, entsprechend dem Prinzip des Gerechten verbessernd umzugestalten oder, wenn das nicht möglich erscheint, vollends unbeachtet zu lassen ist. 14

Kisch, 15

Erasmus, Collectanea Adagiorum veterum, nach der Urfassung (1500) zitiert aus Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, Basel 1960, S. 58. Erasmus, wie Fn. 14, nach der erweiterten Ausgabe (1508) zitiert aus Kisch (Fn. 14)

S. 59. Erasmus, Ratio (Fn. 11) S. 286. S. zum folgenden insgesamt Kisch (Fn. 14), S. 19 ff, der seinerseits auf Max Hamburger, Morals and Law, The growth of Aristotle's legal theory, New Häven 1951, Bezug nimmt. 16 17

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Aequitas: Das ist ein Prozeß, der sich im Inneren des Menschen abspielt. Erasmus beschreibt ihn nicht näher. Er ist der Mann des Denkens, nicht des Gemüts. Über die Vorgänge im Inneren des Menschen weiß der andere große Geist der Zeit besser Bescheid: Martin Luther. II. 1. Luthers Auffassungen zu Staat und Recht sind aufs Ganze gesehen wenig ergiebig, teilweise verwirrend, teilweise bedenklich. Es verblüfft zunächst, daß für ihn die Heilige Schrift zu diesem Fragenkreis nicht einschlägig ist18. Luther trennt - jedenfalls theoretisch - scharf zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment Gottes. Der „offenbare" Gott der Heiligen Schrift ist ihm allein für die christlich-geistige Existenz des Einzelnen19 und das „heimliche Reich" der Kirche wichtig20. Das Geschehen in den äußeren Abläufen der Welt dagegen wird nach Luther, der hier an die Vorstellung von Gottes Allmacht anknüpft, von Gott als einem „verborgenen" Gott durch in ihren Entschlüssen von ihm gelenkte und insoweit unfreie Menschen21 nach einem nicht geoffenbarten und nicht durchschaubaren Plan beherrscht, mögen selbst die Zustände, die sich ergeben, in Widerspruch zu den Lehren des Evangelismus geraten22. Genau dies ist im übrigen der Punkt, an dem die Wege von Erasmus und Luther endgültig auseinandergehen. Des Erasmus Traktat „De libero arbitrio" und Luthers Traktat über den „knechtischen" Willen - „De servo arbitrio" - markieren den inneren Bruch der beiden Männer. Auf dem Boden seiner Lehre von den „Zwei Reichen" steht Luther Staat und Recht weitgehend kritik- und wehrlos gegenüber. Im Staat sieht er eine „treffliche Gabe Gottes" 23 zur Vermeidung sonst unaus18 Vgl. auch Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche W ü r d e (1961), S. 43 f, sowie Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl. 1964, S. 99 f. Z u m folgenden s. weiter Ernst von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie in Hauptkapiteln, Band II (1957), S. 33 ff.

" S. insoweit Luther, Das fünfte, sechste und siebend Capitel Matthei, in: Werke, kritische Gesamtausgabe, Weimar 1 8 8 3 - 1 9 3 0 , Band 32, S. 387, 440. 20 S. Luther, Dictata super Psalterium, in: Werke (Fn. 19), Band 4, S. 42; W a r u m b des Babsts ... bucher ... vorbrannt seyn, in: Werke (Fn. 19), Band 7, S. 168 f; Von weltlicher Uberkeytt, in: Werke (Fn. 19), Band 11, S. 249 f. 21 S. hierzu Luther, De servo arbitrio, in: Werke (Fn. 19), Band 18, S. 600 ff, 634, 699. 22 Vgl. Luther, Uberkeytt (Fn. 20) S. 250 ff, 253 f; Von Kaufshandlung und Wucher, in: Werke (Fn. 19), Band 15, S. 302, 306; Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, in: Werke (Fn. 19), Band 18, S. 390; Ü b e r das erst buch Mose, in: Werke (Fn. 19), Band 24, S. 586, 677; Auslegung über etliche Capitel des fünfften Buches Mosi, in: Werke (Fn. 19), Band 28, S. 646; Matthäus (Fn. 19) S. 316,. 374, 391; Tischreden, Band 4, S. 240. 23 S. Luther, Eine Predigt, das man Kinder zur Schulen halten sollte, in: W e r k e (Fn. 19), Band 30, S. 554; Katechismus, in: Werke (Fn. 19), Band 30 I, S. 152 f.

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bleiblicher Mißstände. Hinter allen Äußerungen des Staates steht das Wirken des „verborgenen" Gottes. Die Obrigkeit ist dieses verborgenen Gottes „larva" 24 , „cooperator" 25 oder „instrumentum" 26 . Da es der „verborgene" Gott ist, der durch die Obrigkeit wirkt, ist der Bürger ihr in allem zum Gehorsam verpflichtet27. Gehorsam gegenüber der Obrigkeit ist eine Art „Gottes-Dienst" 28 und kann vom Staat in allen ihm gutdünkenden Angelegenheiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erzwungen werden29. Wie die Obrigkeit ist auch das von ihr gesetzte Recht vom „verborgenen" Gott so gewollt. Es ist wesentlicher Teil seines „weltlichen Regiments" 30 . Die Gesetze können deshalb jeden beliebigen Inhalt annehmen31 und gelten ohne Einschränkung32. Wo sich Luther zu Staat und Recht äußert, will er dem Menschen helfen, sich in die obrigkeitliche Ordnung einzufügen, wie sie eben ist. Um eine gezielte Ausrichtung dieser Ordnung an der Bibel geht es ihm dabei letztlich nicht33. 2. Wenn Luther dennoch auch auf das Rechtsdenken seiner Zeit einwirkt, so ist das der Strahlkraft seines Aufrufs zur Innerlichkeit zuzuschreiben. Wie kein anderer vor ihm hält er den Menschen dazu an, in sich hineinzuhorchen und sein Gewissen zu befragen. Die Stimme des Gewissens ist für Luther der sicherste und schlechthin maßgebende Anhaltspunkt für ein richtiges Verhalten34. Sein Gewissen ist es, das es ihm 24

Luther, Predigten über das 2. Buch Mose, in: Werke (Fn. 19), Band 16, S. 262 f; ebenso In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, in: Werke (Fn. 19), Band 40 I, S. 176. 25 Luther, In quindecim Psalmos graduum, in: Werke (Fn. 19), Band 40 III, S. 210, 238 f. 26 Luther, wie Fn. 25. 27 S. Luther, Decem praecepta, in: Werke (Fn. 19), Band 1, S. 460; Uberkeytt (Fn. 20), S. 253 f. 28 S. Luther, O b kriegsleutte auch ynn seligem stände seyn künden, in: Werke (Fn. 19), Band 19, S. 660; Katechismus (Fn. 23) S. 152. 29 Vgl. etwa Luther, 2. Mose (Fn. 24) S. 321. 30 Vgl. Luther, Uberkeytt (Fn. 20) S. 262; Kinder (Fn. 23) S. 568; 1. Mose (Fn. 22) S. 677; Kaufshandlung (Fn. 22) S. 302, 306; Matthäus (Fn. 19) S. 374, 391; Tischreden, Band 6, S. 284. J1 Vgl. Luther, 1. Mose (Fn. 22) S. 677; auch Kaufshandlung (Fn. 22) S. 302, 306; Matthäus (Fn. 19) S. 374, 391. 32 S. Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation, in: Werke (Fn. 19), Band 6, S. 459; vgl. ferner Tischreden, Band 2, S. 489, 490. 33 Vgl. abermals Bloch (Fn. 18) S. 43 f. 34 S. Deutelmoser, Luther, Staat und Recht, Jena 1937, S. 48 f, 180, 197 f, 212 ff; bei Luther: Predigt am 10. 8. 1522, in: Werke (Fn. 19), Band 10, S. 260; Uberkeytt (Fn. 20) S. 262 ff; 5. Mose (Fn. 22) S. 334; Kriegsleutte (Fn. 28) S. 656; Briefe, Band 3, S. 515, und Band 5, S. 83; Die kleine Antwort auf H . Georgen nähestes buch, in: Werke (Fn. 19), Band 38, S. 146.

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erlaubt, mit Rom zu brechen und sich über hergebrachte kirchliche Lehrsätze, Übungen und Vorschriften, auch über sein Mönchsgelübde, hinwegzusetzen35. „Solcher Apostata und verlauffen Münch", sagt er trotzig, „bin ich auch, und wils auch sein und ist mein hohester rhum einer für Gott und inn meinem gewissen" 56 . Die Hervorhebung der Gewissensentscheidung als letzte moralische Instanz37 konnte vor dem Rechtsleben nicht haltmachen. Sie mußte die Jurisprudenz der Zeit, die nach Formeln verfuhr und in der allzu oft Spitzfindigkeiten den Ausschlag gaben, gleichsam ins Mark treffen und setzte eine Entwicklung in Gang, die das Gewissen auch in den Fragen des Rechts wirksam sah. Luther selbst löst diese Entwicklung nicht bewußt aus. Sie ist eine mittelbare Folge seines Wirkens. Immerhin streift er das Verhältnis von Recht und Gewissen. „Die Juristen", sagt er, „sind nicht zu leiden, wenn sie sich in Sachen, so das Gewissen belangen, mischen und einlassen wollen" 38 . Und gelegentlich ermahnt er die Richter, im Prozeß nach ihrem Gewissen zu verfahren. Kein Prozeßrechtssatz, meint er, könne den Richter zwingen, sich auf unnötige Prozeßverschleppungen einzulassen oder gar entgegen der materiellen Rechtslage zu entscheiden39. Er erkennt, daß das Recht „mus und soll einfeltiglich mit dürren kurtzen Worten gestellet werden" und „gar nicht alle zufeile und hindernisse mit einfassen" kann40, und zieht daraus die Konsequenz, daß jede Rechtsanwendung „der Billicheit als der meysterynn unterworffen" sei41. Billig aber ist für Luther die Entscheidung, die das Gewissen eingibt. So will er, daß die Juristen nach Billigkeit gemäß ihrem Gewissen zugunsten von Witwen, Armen, Waisen und Alten entscheiden42, etwa davon absehen, einen sehr armen Schuldner zur fristgerechten Rückgabe entliehenen Gutes zu verurteilen43. III. Im Rechtsdenken dieser Epoche fließen der christliche - genauer: der auf Christus als „archetypus" ausgerichtete - Humanismus des Erasmus von Rotterdam und die Gewissensethik Luthers zu einer beide Elemente Vgl. Deutelmoser (Fn. 34) S. 48 f, auch S. 180. Luther, Antwort (Fn. 34) S. 146. 37 Vgl. auch Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. (1963), S. 139. 38 Luther, Tischreden, Band 1, S. 143. 39 Vgl. Luther, Praecepta (Fn. 27) S. 508 ff; Katechismus (Fn. 23) S. 173. 40 Luther, Kriegsleute (Fn. 28) S. 632. 41 Luther, wie Fn. 40. 42 Vgl. Luther, An die Pfarrherrn, in: Werke (Fn. 19), Band 51, S. 371. 43 Vgl. Luther, Uberkeytt (Fn. 20) S. 279. 35

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aufnehmenden und die Jurisprudenz aus ihrer formelhaften Enge hinausführenden neuen Sicht von Recht und Gerechtigkeit zusammen. Das Gewissen wird in seiner Bedeutung auch für den Bereich des Rechts erkannt und rechtssystematisch eingeordnet. Aber das ist keine Einladung zu Beliebigkeit und Eigenmächtigkeit. Gewissen: Das ist vielmehr Gewißheit kraft Orientierung an übergeordneten Wertvorstellungen und damit letztlich an Gott. Gewissen und dessen Orientierung an übergeordneten Wertvorstellungen gehören dabei engstens zusammen und bedingen einander. Einschaltung des Gewissens bedeutet Abgleich an höherrangigen Normen und Grundsätzen, bedeutet Anrufung einer diese Normen und Grundsätze befragenden inneren Instanz. Gewissen - das ist das Horchen zwar in sich hinein, aber nicht auf die eigene Stimme, sondern auf die Stimme Gottes. Unbeschadet dieser Gebundenheit auch des Gewissens führt die Institutionalisierung des Gewissens, die sich im Rechtsdenken des 16. Jahrhunderts vollzieht, zu einer bis dahin im Rechtsleben nicht gekannten Aktivierung der Einzelpersönlichkeit und zu einer deutlichen Veränderung des Rechtsbewußtseins weg von Formal- und hin zu Inhaltsjurisprudenz. Das alles liegt im 16. Jahrhundert unter dem Einfluß von Erasmus und Luther gleichsam in der Luft und zeigt sich in einer Art Parallelentwicklung bei einer ganzen Reihe wichtiger Rechtsdenker dieser Jahre, unter denen etwa an Cantiuncula, Budaeus und Althusius zu denken ist. Mit besonderer Eindringlichkeit befaßt sich mit der Rolle des Gewissens im Recht der humanistisch geprägte und zugleich früh der Reformation gewonnene Johannes Oldendorp (1488-1567), von Ernst Troeltsch als „maßgebendster Jurist des Reformationszeitalters"44, von Roderich Stintzing in seiner unübertroffenen vielbändigen „Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft" als die „bedeutendste Erscheinung unter den deutschen Juristen um die Mitte des 16. Jahrhunderts" bezeichnet, „hervorragend über Alle durch die Macht seiner Persönlichkeit wie durch seine Bedeutung als Schriftsteller und Lehrer" 45 . „De iure et aequitate"46 ist in bezeichnender Weise der Titel seiner interessantesten Schrift, die er - das Beispiel Luthers ist unverkennbar - in einer volkstümlicheren Form auch in einer deutschen Version verbreitet: „Wat byllick unn recht ys" 47 . Oldendorps Gedanken zu Recht und Gewissen seien im folgenden nachgezeichnet.

44 Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 545 (bei Anm. 253). 45 Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Erste Abtheilung, München und Leipzig, 1880, S. 311. 46 Oldendorp, De iure et aequitate disputatio forensis, Ausgabe Lyon 1547. 47 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys, eyne körte erklaring, allen Stenden denstlick, Rostock 1529.

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1. a) Zur Bestimmung des Wesens des Rechts setzt Oldendorp, scheinbar begriffsjuristisch, bei der berühmten „ius est ars aequi et boni"-Definition48 aus den Digesten an und fährt fort, daß wie jede Kunst auch die des Rechts aus bestimmten Regeln und Vorschriften bestehen müsse: „Si ars, argo constat (ius) ex praceptis"49. Damit stellt sich ihm bereits die Frage nach der „Sicherheit" und Verbindlichkeit der praecepta. „Sed praecepta oportet esse certa"50, fährt er fort; „nisi enim certa sit et finita: non potest dici ars, sed inertia"51. So stößt Oldendorp in eine für die Rechtswissenschaft seiner Zeit neue - bis dahin der Theologie und der Philosophie vorbehaltene - Dimension vor. Die praecepta dürfen, wenn sie „certa", wenn sie gewiß und verbindlich sein sollen, nicht beliebigen Inhalts sein, sondern müssen sich - und hier mündet die Deduktion in die Gedankenwelt des Erasmus ein - an dem ausrichten, was Gott eingibt. „Igitur (praecepta) non ex opinione hominum vaga", drückt es Oldendorp aus, „sed ex praescripta divinitus ratione naturali colligenda sunt" 52 . „Et sie", heißt es an anderer Stelle, „lex est notitia naturalis a deo nobis insita"53; „Quoties igitur audis haec voces: lex, ius ... statim cogita te divinum aliquid ... audire"54. Der eigentliche Sinn des Rechts, ihre causa finalis, besteht darin, dem Menschen ein mit Gott in Einklang stehendes und zu Gott führendes Leben zu ermöglichen: „Iuris finis est, ut pacifice transigamus hance vitam umbratilem, ac perducamus ad Christum et aeternam vitam" 55 . Das Recht ist Oldendorp geradezu „Paedagogus ad Christum" 56 . Eine ganz ähnliche gedankliche Operation vollzieht Oldendorp über die Ableitung des Begriffs ius von iustitia. „Est enim a iustitia appelatum" 57 . Auch hier greift Oldendorp auf eine geläufige Definition zurück: „Iustitia est constans et perpetua voluntas, ius suum cuique tribuenda. Ulpianus" 58 , um darüber seine eigene Ansicht zu transportieren. „Jedem 48 Oldendorp, Juris naturalis gentium et civilis EujaYCuyri, Köln 1539, in: von Kaltenborn von Stachan, Die Vorläufer des Hugo Grotius, Leipzig 1848, S. 16; auch: Actionum iuris civilis loci communes, in: Variarum lectionum libri, Köln 1540, S. 148, sowie Annotationes in Primum librum Pandectarum, in: Opera, Band I, Basel 1559, S. 4. 49 Oldendorp, EiaaYü)yT| (Fn. 48) S. 16. 50 AaO. 51 Oldendorp, Annotationes (Fn. 48) S. 5. 52 Oldendorp, EiaaYtüYn (Fn. 48) S. 16, vgl. auch ebenda S. 12. 53 AaO S. 6. 54 AaO S. 7. 55 Oldendorp, Lexicon iuris, Marburg 1546, S. 249; ähnlich De copia verborum et rerum in Iure civili, Köln 1542, S. 252. 56 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 257; ähnlich Usucapionum et praescriptionum tempora ex iure civili, in: libri (Fn. 48), S. 308. 57 Oldendorp, Annotationes (Fn. 48) S. 4 f; ähnlich Copia (Fn. 55) S. 250; Loci communes iuris civilis, Lyon 1551, S. 169; Antinomiae, Frankfurt 1568, S. 111. 58 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 246.

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das Seine zu geben", das bedeutet auch und vor allem, Gott das Seine zu geben. „Iustitiae munus est, ius suum unicuique tribuere. Unde fit in homine iustus quidem ordo naturae, ut anima subdatur DEO: animae caro: ac per hoc DEO anima ipsa et caro"59. Recht und Staat sind für Oldendorp, so faßt Erik Wolf zusammen, „Ordnungen nach Gottes Willen"60. b) Oldendorps Vorstellung von der Determiniertheit allen Rechts von Gott aus und zu Gott hin findet ihren Niederschlag in einem eigenwilligen rechtsdogmatischen System, in dem - und da setzt der Einfluß Luthers ein - auch das Gewissen, und zwar als eigene Rechtsquelle, seinen festen Platz hat. aa) Gott selbst ist für Oldendorp nicht lediglich Bezugspunkt und Maßgabe allen Rechts, sondern seinerseits Rechtsetzungsautorität. Die Weisungen der Heiligen Schrift, die gesetzesgleich formuliert sind, sind für ihn unmittelbar geltendes Recht. Die Menschen sind zunächst und vor allem anderen „Gade horsam the leysten schueldich und plichtich"61, dem „goedlyken bevel und willen"62 unterworfen. Das ist durchaus (auch) technisch-juristisch gemeint. Oldendorp ist sich bewußt, daß die Bibel nicht allzu oft gesetzesgleich formuliert, daß, um ihn selbst zu zitieren „gades wort nicht vele (= viel)" - aber eben doch mitunter „von butenwendigen (= äußerlichen) dingen", sondern in erster Linie „von der seelen salicheyt" handelt63. Aber es gibt solche Stellen in der Bibel, Weisungen an die Menschen, mit denen Gott als „legislator"64 aufgetreten ist, etwa bei den Zehn Geboten65. Auch sonst ordnet Oldendorp Weisungen der Bibel wiederholt als „leges" ein, so wenn er daran erinnert, daß Gott den Hebräern „certas leges tulit, ut ex praescripto res iudicarent"66, oder wenn er verlangt, daß bei der Gewährung eines Privilegiums zu prüfen sei, ob es nicht „legem Dei" verletze67. Als konkrete Beispiele für unmittelbar durch die Bibel aufgestellte Verbote nennt " AaO. 60 Wolf, Rechtsdenker (Fn. 37) S. 269. 61 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 19. 62 Oldendorp, Van radtslagende, wo men gude Politie und ordenunge ynn Steden und landen erholden moeghe, Rostock 1530, S. 17. 63 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 20. 64 Oldendorp, Divinae tabulae X praeceptorum, in: von Kaltenborn von Stachau (Fn. 48) S. 21. 65 Vgl. Oldendorp, EicraytOYr] (Fn. 48) S. 3, 11; Divinae tabulae (Fn. 64) S. 17 ff; auch: Leges duodecim tabularum, in: libri (Fn. 48) S. 9. 66 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 259. 67 Oldendorp, De iure singulari brevis enarratio, in: libri (Fn. 48) S. 310; Theses seu regulae aliquot de privilegiis, Anhang zu der vorgenannten „enarratio", Köln 1539, S. 86 (unter regula 12).

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Oldendorp etwa die der Ehescheidung und des Wuchers „und andern handelen, welckere als wedder Gades wort ... synt affgedan"68. Dieses unmittelbar der Bibel zu entnehmende Recht nennt Oldendorp, insofern enger und - wenn man so will - naiver als die Scholastiker, „ius divinum" im Gegensatz zum „ius humanuni"'9. bb) Mit dem ius humanum ist die Normsetzungsautorität der res publica angesprochen, ausgeübt im Wege der förmlichen Rechtsetzung „dorch den Senatt tho Rome, unde folgende dorch de Keysere, ock andere stende eynes ydern ordes", gegebenenfalls auch aus der res publica heraus entstanden über „loefflike gewaenheyde"70. Oldendorp hat sich in dieser Hinsicht mit der Volksbewegung der Schwärmer auseinanderzusetzen, die menschliche Rechtsetzung ablehnen und sich ausschließlich an die Bibel halten wollen71. Er betont, daß es ohne festgefügtes ius humanum kein gedeihliches Miteinander gäbe, daß die leges rei publicae wohltuende Anhaltspunkte für den wankelmütigen und verderblichen Einflüssen ausgesetzten Menschen72, daß sie in diesem Sinne ein wahres „donum Dei" 73 seien. „Non obstant ea", stellt er klar, „quae ex Euangelio solent allegari a phanaticis de non vindicando". Die Stellen der Heiligen Schrift, in denen zum Erdulden des Übels und zum Hinhalten auch der anderen Wange angehalten werde, handelten allein „de vita aeterna et spirituali in corde, non de vita momentanea et corporali" und verböten lediglich „privatam ... vindictam, quae sine ullo permissu legetimo fit" 74 . Insbesondere durch die berühmte Bibelstelle im 13. Kapitel des Römerbriefes sieht Oldendorp die menschliche Rechtsetzung ausdrücklich gebilligt: „Euangelium CHRISTI nullas abolet leges, quas ipse probavit ... vultque pro conservanda tranquillitate observari. Rom XIII" 7 5 . Nur mit Hilfe einer ausgewogenen Rechtsetzung lasse sich die Forderung des Aristoteles im fünften Kapitel der „Ethik" verwirklichen: „Non homo imperet, sed ratio"76.

Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 21 f. " S. Oldendorp, Actionum loci communes (Fn. 48) S. 151; De sententia et re iudicata, in: libri (Fn. 48) S. 343. 70 Oldendorp, War byllock unn recht ys (Fn. 47) S. 14. 71 S. hierzu Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 98 f; auch: Loci communes (Fn. 48) S. 156. 72 S. Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 100. 73 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 246, auch S. 3; s. ferner De iure et aequitate (Fn. 46) S. 98,100. 74 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 98 f (Zitate in anderer Reihenfolge). 75 Oldendorp, Certissima politia in orbe Romano restauranda, Lyon 1551, S. 6; s. auch De iure et aequitate (Fn. 46) S. 100. 76 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 100, 74 sowie Copia (Fn. 55) S. 259. 68

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cc) Oldendorp weiß, weiß als Praktiker wie als juristischer Analytiker, daß in den Rechtsfällen des Alltags die Bibel nicht ausreicht und das menschliche Recht versagen kann. Die Bigel handelt, wie bereits zitiert77, vor allem „van der seelen salicheyt" und das weltliche Recht kann nicht für jeden vorkommenden Fall eine abrufbare Lösung bereithalten78. Was füllt diese Lücke? Der Jurist, der Oldendorp ist, braucht da eine Norm. Sie kann, da sich das menschliche Recht eben als unzulänglich erweist, wiederum nur von Gott kommen. Wie also läßt Gott die Menschen außer durch die Bibel wissen, was rechtens ist? Genau an dieser Stelle stößt Oldendorp auf das Gewissen: Gott erteilt den Menschen Weisungen nicht nur über die Heilige Schrift, sondern auch durch das Gewissen. Er hat dem Menschen die Anlage mitgegeben, hat es, wie Oldendorp bildhaft formuliert, dem Menschen „ins Herz gemeißelt" („DEUS insculpsit cuisque animo"), bei der Lösung auch von Rechtsfällen Gewissensentscheidungen zu treffen79. Wo das geschriebene Recht schweigt, „si quid ... in lege praetermissum fuerit", muß die Entscheidung durch das reine Gewissen des zur Entscheidung Berufenen, „per conscientiam omnibus modis synceram", getroffen werden80. „Conscientia enim certa est, non fallitur"81. Der Richter kann, wo die positive Rechtsordnung mit ihren „grothen boeken edder geschryfften"82 nicht weiterhilft, „nicht gewissers weten als ut syner conscientien" 83 - ein Satz, wie er von Luther stammen könnte. Für Oldendorp, auf der Suche nach einem die Lücke zwischen (ausdrücklichem) ius Divinum und ius humanuni überbrückenden System, ist die Anlage des Menschen zu Gewissensentscheidungen nicht erst eine Rechtsanwendungs-, sondern bereits eine Normkategorie. Liegt nicht auch der Gewissensentscheidung, so fragt er sich, eine Rechtsnorm, eine lex, zugrunde? „lex" ist ein jedermann betreffendes, ein allgemeingültiges Verhaltensgebot, ein „commune praceptum"84, „universaliter loquitur" 85 . Im Sinne dieser Definition konstatiert Oldendorp, daß die Anlage zu Gewissensentscheidungen einem jeden Menschen innewohnt: „Conscientia cuilicet indicat, num bene an male fecerit" 86 . Er registriert, daß

S. Fn. 63. S. Oldendorp, Actionum forensium progymnasmata, Frankfurt 1608, S. XIII f; De iure et aequitate (Fn. 46) S. 74. 79 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 259. 80 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 73. 81 AaO. 82 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 12. 83 AaO S. 43; s. auch Oldendorp, Lexicon iuris (Fn. 55) S. 235. 84 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 259; Loci communes (Fn. 57) S. 176. 85 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 87. 86 Oldendorp, EiaaYCüyr| (Fn. 48) S. 8. 77

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die Gewissensentscheidung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit folgt, daß sie ,,a(b)... aliqua communi formula petitur" 87 . Und sie ist etwas das jeweilige „factum accusans vel defendens88, führt also zu einer Anklage oder Billigung, wie sie sich in anderen Fällen aus einer verbietenden oder gestattenden ausdrücklichen Rechtsnorm herleitet. Damit enthält die Anlage zu Gewissensentscheidungen ihrerseits die tragenden Elemente einer lex. Wie diese lex eingreift, beschreibt Oldendorp so: Wenn die positive Rechtsordnung keine Antwort bereithält, „geschueth eyn gerichte ynn dynem gemoethe edder conscientien, de dy alle gebreke der ... handele ... egentlick nawyset, efft (= ob) dar under ytwes den guden seden und oerdentliken levende entyegen befunden werde" 89 . Es kommt also durch das Gewissen zu einer Bemessung von Recht und Unrecht, zu einer richterlichen Entscheidung (einem „gerichte"), wie sie sonst aufgrund positiver Rechtsnormen zustandekommt. Der Richter erscheint seiner Gewissensentscheidung verpflichtet wie der richtigen Schlußfolgerung aus einem Rechtssatz90. Ahnlich wird auch in den lateinischen Schriften Oldendorps die Gewissensentscheidung wiederholt als Rechtsentscheidung, als iudicium, bezeichnet91 und in Ubereinstimmung hiermit der Richter an seine zur Gewissensentscheidung führende innere Anlage gebunden wie an einen Rechtssatz92. Im „Lexicon iuris" heißt es: „Iudex conscientiam suam ... sequi debet: imo non habet aliquid, quod tutius sequatur in omni re"93. Mit zunehmender Sicherheit verwendet Oldendorp für die der Gewissensentscheidung zugrundeliegende Veranlagung der Menschen auch die Vokabel „lex": „Apostulus probat in nobis esse legem ..., a qua petitur infallibile iudicium quod vocat comscientiam" 94 . Vollends deutlich formuliert Oldendorp in seiner „EiDaycoyri". Nach der bereits wiedergegebenen Stelle: „Conscientia cuilicet indicat, num bene an male fecerit", fährt Oldendorp fort: „... Sed tale iudicium non potest fieri in conscientia sine aliqua formula legis, quae indicat in corde hominis esse iustum aut iniquum id, quod fecit. Ergo est in homine lex'"1''. Ahnlich heißt es an anderer Stelle: „Est ...

87 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 259; Actionum loci communes (Fn. 48) S. 158; Formula investigandae actionis, in: libri (Fn. 48) S. 227; De iure et aequitate (Fn. 46) S. 133. 88 Oldendorp, Eioaycovii (Fn. 48) S. 8; Copia (Fn. 55) S. 259. 89 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 13. 90 S. aaO. 91 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 74; ElaayooYri (Fn. 48) S. 8; Copia (Fn. 55) S. 259. 92 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46), S. 132 ff; Formula (Fn. 87) S. 227; Adsertiones ex iure et aequitate, in: Opera (Fn. 48) S. 553, 554. 93 Oldendorp, Lexicon iuris (Fn. 55) S. 235. 94 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 74; ähnlich Copia (Fn. 55) S. 259. 95 Oldendorp, EiaayiOYii (Fn. 48) S. 7 (kursiv von Verf.).

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conscientia ...: Est igitur lex. Quid enim aliud est consientia quam iudicium, quod a Lege aliqua petitur"96. c) Für die Ordnung innerhalb der nebeneinander wirksamen Rechtsnormen - ius divinum, ius humanum und „lex in homine" - gilt zwangsläufig, daß das ius divinum zu oberst steht. Gott ist der Schöpfer und Lenker allen Seins und aller Ordnung und eben auch der Rechtsordnung: „Deus omnium est principium et medium et terminus ... Unde convenit, ut et legislationes nostras exinde pendeant et eo respiciant et hoc earum principium simul et medium atque finis sit"97. Daher sind die Gott vollkommener entsprechenden Rechtsnormen vorrangig und haben folglich bei Normenkollisionen Gott ferner stehende Rechtsnormen zurückzutreten98. Es müssen, wie es Oldendorp ausdrückt, diejenigen Rechtsnormen, die „prope accedant ad formulam naturalis hoestatis", „aliarum legum duces" sein99. Das sich daraus ergebende Normengefüge nach ihrer Nähe zu Gottes Willen gegeneinander abgegrenzter Rechtsnormen ist für Oldendorp das Naturrecht. Er bezeichnet damit anders als die Scholastiker vor ihm und die Naturrechtsdenker nach ihm nicht eine besondere Rechtsschicht, sondern das gesamte Recht, das Gott gemäß ist. aa) Hiernach bilden die in der Bibel enthaltenen Rechtssätze als unmittelbar von Gott gesetztes Recht die oberste Stufe im Stufenbau des Rechts. In ihnen „renovatum et decriptum est ius vel lex naturae ... certo testimonio"100. Das aus ihnen bestehende ius divinum „nullam admittit dispensationem"101 und geht stets vor. Ihm etwa widersprechendes ius humanum kann keine Gültigkeit beanspruchen. „... alle minschen gesette (moeten [= müssen]) Gades worde unde willen stede geven (= stattgeben, dahinter zurückstehen)"102. Die Menschen können „in Gades regimente ... mit ghesetten nicht grypen, synes eyngebarn soenes Christi heylsamen bevele nichts entgegen syn laten" und müssen ihre „politie no dem ende synes Goedlyken wordes ... lencken und holden"103. bb) Ein Gegensatz zwischen den unmittelbar durch die Bibel gegebenen leges und der lex in homine kann für Oldendorp nicht auftauchen. Die lex in homine schreibt vor, daß neben den leges der Bibel „religione Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 259. Oldendorp, Loci communes (Fn. 48) S. 98 u. S. 96 ff insgesamt. 98 Vgl. Oldendorp, Theses (vgl. Fn. 67) S. 86 (regulae 12 u. 17); Antinomiae (Fn. 57) S. 166. " Oldendorp, EiaaYcoyii (Fn. 48) S. 15. 100 AaO. 101 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 21, Randglosse; s. auch EioaY(uyr| (Fn. 48) S. 15. 102 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 19. 105 Oldendorp, Van radtslagende (Fn. 67) S. 30. 96

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iudicantium"104 weitere Gott gefällige Grundsätze beachtet werden, die sich ebenfalls aus der Bibel ergeben. Uber die lex in homine werden somit auch diejenigen Teile der Heiligen Schrift in das Rechtsleben eingeführt, die nicht bereits als „leges Bibliae" rechtsbeachtlich sind. Für Oldendorp spricht demzufolge im Gewissen, wie es Erik Wolf ausdrückt, „nichts Beliebiges, keine persönliche Meinung ... und erst recht keine nur augenblickliche Gefühlswallung, sondern Gottes Gesetz selbst"105. Letztlich ist die lex in homine für Oldendorp darauf gerichtet, nach dem Geiste der Heiligen Schrift zu verfahren. So besagt denn die erste von fünf „ghemeynen regelen"106, die er aufstellt, daß man sich leiten zu lassen habe von dem, „wat Gades worde und willen gemete ys"107. In den weiteren „regelen" werden weitere Grundsätze der Heiligen Schrift markiert, vorzugsweise das neutestamentliche Hauptgebot der Liebe, auch und vor allem in der Form der Verpflichtung auf das Allgemeinwohl (weil damit nicht nur einem einzelnen Nächsten, sondern gleich einer Vielzahl von Menschen geholfen werde), und die Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit108. cc) So zeitbedingt die Ausfüllung der lex in homine durch die Heilige Schrift erscheinen mag, so mutig, konkret und weitreichend, ja revolutionär ist es, daß Oldendorp auch die lex in homine, daß er auch die Stimme des Gewissens dem ius humanuni überordnet. Sie ist den Menschen von Gott gegeben, ihnen von Gott „ins Herz gemeißelt"109. Folgerichtig ist sie, weil nämlich Gott näher, stärker als menschliches Gesetzeswerk und vermag sie die Gott ferner stehenden leges rei publicae außer Kraft zu setzen. Bei Zweifeln, ob eine menschliche lex „recte sit receptum", also bei Zweifeln an ihrer Gültigkeit und Beachtlichkeit, hat die „norma naturae ... in corde"110, offensichtlich dasselbe wie die lex in homine, zu entscheiden. Zu der (damals in der Rechtswissenschaft umstrittenen) Frage, ob ein Bösgläubiger Eigentum ersitzen könne, heißt es exemplarisch: „si mille facies Statuta ..., tarnen non purgabis conscientiam, quae syncera, non simulata requiritur. Proinde hanc postremam cautelam Ius non admittet, etiamsi tota Baldi schola probat"111. Als naturrechtswidrig erweist sich die gesetzliche Gestaltung strenger For-

Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 70. Wolf, Rechtsdenker (Fn. 37) S. 150. 106 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 19 ff; s. auch De iure et aequitate (Fn. 46) S. 103 ff. 107 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 19. 108 S. näher aaO S. 25 ff. S. oben zu Fn. 79. 110 Oldendorp, Eiaayu)Yn (Fn. 48) S. 15. 1,1 Oldendorp, Tempora (Fn. 56) S. 307. 104 105

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men der servitus wie insbesondere der Sklaverei112, „haec omnia de praedura Servitute introducta sunt iure civili contra ius naturale. Ergo non sunt servanda"113. Ein - sei es auch gesetzliches - privilegium ist nur gültig, wenn es „iustas causas" hat; privilegia contra Ius naturae ... non magis sunt privilegia quam tyrannis lex est"114. Wegen Verstosses gegen die zufolge der lex in homine gebotene Beachtung persönlicher Bande115 hält es Oldendorp für unzulässig, daß das Gesetz die Enterbung naher Angehöriger zuläßt116. Weiter gibt er unter Hinweis auf den aus dem Liebesgebot hergeleiteten Grundsatz, daß der Vorteil eines Menschen keinen unverdienten Nachteil anderer Menschen zur Folge haben darf, zu bedenken, ob es nicht zu weit geht, daß das Gesetz dem Eigentümer gestattet, selbst ihm in keiner Weise schadende Einwirkungen von seinem Grundstück abzuwehren117. Sehr deutlich auch zeigt sich die derogierende Kraft der lex in homine im Verfahrensrecht. Hier führt die Verpflichtung zur Wahrheit dazu, daß Vorschriften, soweit sie zur Erschwerung und Verschleppung von Rechtsstreiten führen, nicht beachtet werden dürfen: „Wor de handel ynn sick ... klar ys, oeverst eyn part ... lenet sick op behende uthtöge des rechten, so geboeuth (= gebeut) einem richter, nicht der scharpheyt des rechten, sondern dem wahrhafftigen gründe des handels to folgen ... Als wann eyner dem andern ytwes tho donde warhaffigen schueldich were, wolde oeverst uthfluechtige, exceptien edder ynrede vorwenden, de sake tho vorwilden, so ys byllick, dat unangeseen synes anbringendes, wath he schueldich tho donde, dorch den richter angeholden worde"118. Scharf wendet sich Oldendorp gegen den Prozeßrechtssatz, daß ein Richter selbst dann nach Aktenlage und Parteivorbringen oder Beweisregeln zu urteilen habe, „wann he schone by sick suelvest de warheyt anders wueste"119. Ihm gilt allein, daß der Richter gemäß „syner conscientien" „der warheyt folgen schoele ... Wo mochte denn bestan, dat du anders oerdelen und anders ynn warheydt weten scholdest?"120. Auch im Völkerrecht entfaltet die lex in homine ihre derogierende Wirkung. Beispielsweise setzt sie den dort

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S. Oldendorp,

Actionum loci communes (Fn. 48) S. 151; auch EloaYOjyr| (Fn. 48)

S. 13. 113

Oldendorp, Antinomiae (Fn. 57) S. 443, ähnlich EioayoJYr| (Fn. 48) S. 12. Oldendorp, Enarratio (Fn. 67) S. 310, vgl. auch S. 311, 315, 339. 115 Vgl. hierzu etwa Oldendorp, D e iure et aequitate (Fn. 46) S. 107. 116 S. Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 33. 117 S. aaO S. 38. 118 A a O S. 39 f. A a O S. 42. 120 A a O S. 42 sowie S. 41 ff insges.; desgleichen D e iure et aequitate (Fn. 46) S. 132 ff (Tit. XIII: Utrum Iudex conscientiam suam, an probationes sequi debeat); s. auch Lexicón iuris (Fn. 55) S. 559 u. Adsertiones (Fn. 92) S. 553, 554. m

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entwickelten Gewohnheitssatz außer Kraft, daß jeder Krieg erlaubt sei, wenn er nur eine bestimmte Zeit vor Beginn der Kriegshandlungen erklärt werde: „... o vanam hominum caecitatem, qui putamus bellum ex eo cum primis iustum censeri, si praecedat denuntiatio: ... Nullum bellum deo licitum videri potest, quod triduo prius indicatum sit aut... decennio: nisi syncera conscientia suscipiatur: pro tuendis bonos adversus malos ..." 121 . Die Konsequenzen, welche bereits Oldendorp aus der vorrangigen Geltung der lex in homine zieht, führen deutlich vor Augen, welche Sprengkraft dem Gedanken innewohnt. 2. a) Oldendorp scheint zu ahnen, daß nicht so sehr seine systematische Einordnung der Anlage zu Gewissensentscheidungen als höherrangige lex als vielmehr das praktische Ergebnis dieser seiner Auffassung Aufmerksamkeit finden wird; daß es die Rolle des Gewissens bei der Rechtsfindung, also als Element des Erkenntnisprozesses, ist, zu der seine Leser und Hörer Näheres wissen wollen. Mit der Charakterisierung als lex: Damit begründet Oldendorp dogmatisch, daß der Jurist in seiner Arbeit immer auch sein Gewissen zu befragen und ihm zu folgen hat wie er eben auch sonst dem Gesetz folgt. Indessen legt Oldendorp seinerseits den größten Wert darauf, das auf diese Weise systematisch in der Rechtsordnung verankerte Gewissen in der praktischen Rechtsanwendung wirksam zu sehen. Hier setzen seine Überlegungen zur Billigkeit - aequitas, byllicheytt, zuweilen von ihm auch als Emeixeia122, bona fides, naturalis lanx, arbitratus boni viri oder remissio angusti iuris123 bezeichnet - ein. Er definiert: „aequitas vero singulas negotiorum species curiose perlustrat, perpendat casus praesentes, et in iam natis hominum controversis diiudicat"124. Durch die Billigkeit wird das Recht im konkreten Fall zutreffend zur Anwendung gebracht wie eine Arznei durch einen guten Arzt125. Sie ist gegenüber dem Normenrecht zwar nicht „diversi generis"126, aber auch nicht identisch mit ihm, vielmehr eine notwendige Ergänzung, dasjenige, das den Rechtsnormen Leben und Konkretheit gibt, die „medulla iuris"127. Es gilt: „byllicheyt gehoert thom rechte, yha se ys dat alder beste deel ... der wahrhafftigen rechtferdicheyt"128. Ius und Aequitas gehören eng zusammen, sie ergänzen sich in Oldendorp, Tempora (Fn. 56) S. 295; auch: Annotationes (Fn. 48) S. 15. S. Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 68. 123 S. aaO S. 68 ff, 72, 73 ff und 86 ff sowie Oldendorp, Formula (Fn. 87) S. 224 und Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 11 ff. 124 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 87 f, s. auch S. 97 sowie 86 ff, ferner Formula (Fn. 87) S. 223,224 f, 226. ,2S S. Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 88; Formula (Fn. 87) S. 225. 126 Oldendorp, Formula (Fn. 87) S. 224. 127 AaO. ,2! Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 11. 121

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gewisser Weise zu „eynem dinck" 129 , sind für Oldendorp, wie es Erik Wolf ausdrückt, „verschiedene Blickpunkte, unter denen die eine Realität des Rechtlichen betrachtet werden (muß)"130. Als Garantin einer richtigen Anwendung des Rechts131 hat die Billigkeit sicherzustellen, daß das abstrakt auf Gott hin geordnete Recht auch tatsächlich Gott gemäß verwirklicht wird. Sie ist „des gesettes unbeschreven schrotwacht"132 „yn bedenckende, wat Gade dem herren behegelick ... syn moege" 133 . Im einzelnen hat sie mit dieser Zielrichtung drei Funktionen: Normenauslegung134, Normenverbesserung („emendatio legum" 135 ) im Sinne einer über den Wortlaut der Norm hinausgehenden, jedoch ihre Tendenz erhaltenden Rechtsanwendung136 und gegebenenfalls Normenverdrängung im Einzelfall137; „wowol dat du ene ... mit scharpem rechte nicht drengen koendest, so vormach doch de byllicheyt, dat he dy ... nicht hyndere"138. b) Bei der Auffindung eines der Billigkeit entsprechenden Ergebnisses weist Oldendorp wiederum dem Gewissen den entscheidenden Part zu. Er entwickelt eine Methodik der Rechtsanwendung, die einerseits juristische Exaktheit voraussetzt, aber stets die Befragung und Anspannung auch des Gewissens verlangt. Der Weg zur Billigkeit, den Oldendorp aufzeigt, korrespondiert mit der von ihm entwickelten Rechtsnormenordnung, ist ihr in gewisser Weise spiegelbildlich, führt jedoch nicht wie dort von oben nach unten, vom ius divinum zum ius humanum, sondern gleichsam umgekehrt von unten nach oben, vom Menschen zu Gott, und zwar jeweils über das Gewissen, das damit in der Rechtsanwendungslehre Oldendorps einen zentralen Platz einnimmt. „Aequitas", so definiert Oldendorp für den Zweck der Auffindung der Billigkeit, „est iudicium animi, ex vera ratione petitum, de circumstantiis rerum, ad honestatem vitae pertinentium, cum incidunt, recte dis-

A a O S. 20; ähnlich Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 89. Wolf, Rechtsdenker (Fn. 37) S. 161. 131 Vgl. Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 101; ferner Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 12. 132 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 13. 133 A a O S. 16. S. Oldendorp, Formula (Fn. 87) S. 223; Antinomiae (Fn. 57) S. 93; Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 16; Eicaytoyii (Fn. 48) S. 6. 135 Oldendorp, Copia (Fn. 55) S. 109. 136 Vgl. etwa Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 70, 107, 111; Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 32, 33; Enarratio (Fn. 67) S. 338; Theses (Fn. 67) S. 110 (regula 211); Lexicon (Fn. 55) S. 251. 137 S. Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 22; D e iure et aequitate (Fn. 46) S. 104, 106. 138 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 38. 129

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cernens, quid fieri aut non fieri oporteat" 139 . „Vera ratio" aber, wie sie zur Billigkeit führt, „est duplex ... Altera vero ratio est civilis"140. Bei der Suche nach einer der Billigkeit entsprechenden Entscheidung ist daher zunächst die ratio civilis, der menschliche juristisch geschulte Verstand, zu betätigen. Ihre Aufgabe besteht darin, aus den leges rei publicae die schuljuristisch saubere Lösung zu erarbeiten141. Sie hat den zur Entscheidung stehenden Fall in seinen rechtserheblichen Momenten zu erfassen und zu gliedern sowie aus dem ius humanum die richtigen Normen zu suchen und „sine vitio"142 die ihnen entsprechende Lösung zu entwickeln. „... lath dy nicht vordrethen, dat suelvige gesette eyn mal, twe edder dre, ock ... den gantzen tytel tho vorlesen ... Bedencke flytich, wanner, wor unde van weme dat suelvige gesette upgerichtet" und so weiter143. Besondere Aufmerksamkeit ist der vernünftigen Berücksichtigung der näheren Umstände des Falles zu schenken: „causa, persona, locus, tempus, quantitas, qualitas, eventus"144. Die durch die ratio civilis gefundene Lösung ist nicht notwendig bereits auch billig. „Quanto enim subtilius argumenteris, quanto plura congeras ad fulciendum ... ius", desto größer ist die Gefahr eines unbilligen Ergebnisses; „Existunt etiam saepe ... iniuriae ... callida iuris interpretatione: Ex quo illud SUMMUM IUS SUMMA INIURIA factum est proverbium" 145 . Billig, so ist zu wiederholen, ist eine Entscheidung nur dann, wenn sie der „vera ratio" entspricht, innerhalb derer die ratio civilis lediglich die erste Stufe bildet. Das durch die ratio civilis gefundene schuljuristische Ergebnis bedarf deshalb, soll es billig sein, der Uberprüfung durch die zweite Stufe der „duplex" „ratio vera": durch die „naturalis ratio" 146 („naturlike vornufft" 147 ). „Verum (enim) naturalis ratio (est) omnium rerum optima moderatrix" 148 . Die ratio naturalis aber ist identisch mit dem Anruf des Gewissens: rationi naturali „omnes homines velint, nolint, adsentiri conscientia coguntur, propter apertam veritatem, quam Deus insculpsit cuiussque animo"149; „vormeddelst der natur-

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Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 73. A a O S. 73 f. 1,1 S. aaO S. 74; ferner Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 46 f; Progymnasmata (Fn. 78) S. VIII ff. 142 S. Oldendorp, Formula (Fn. 87) S. 223. 14 > Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 47 ff. 144 A a O S. 74 f. ,4S Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 79; vgl. auch Copia (Fn. 55) S. 107 u. Formula (Fn. 87) S. 224. 146 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 73. 147 Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 12, 13. 148 Oldendorp, Actionum loci communes (Fn. 48) S. 152. 149 Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 73 f; s. auch Copia (Fn. 55) S. 242. 140

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liken vornufft" spricht „deyne conscientien"150. Durch die ratio naturalis, die Stimme des Gewissens, wird das durch die ratio civilis aus den leges rei publicae hergeleitete schuljuristische Ergebnis darauf überprüft, ob es sich mit dem Geist der Heiligen Schrift vereinbaren läßt, wie er nach der lex in homine zu berücksichtigen ist. Hier liegt im übrigen die Begründung dafür, daß sich nach der wiedergegebenen aequitas-Formel151 die „circumstantiae" nur insoweit auswirken, als sie „ad honestatum vitae" von Bedeutung sind. Wie sich aus einem eigenen Kapitel „De gradibus honestatis circa aequitatem obervandis" in „De iure et aequitate"152 ergibt, gereichen nur diejenigen circumstantiae „ad honestatem", die - wie durch die lex in homine aufgegeben - nach der Heiligen Schrift zu erwägen sind, darunter insbesondere die circumstantiae, die die Liebe zu Gott153 und gemäß dem Gebot der Nächstenliebe das Wohl der Allgemeinheit und das Wohlergehen des Einzelnen betreffen. Wo ratio civilis und ratio naturalis voneinander abweichen, hat die ratio civilis zurückzustehen und gibt das Gewissen den Ausschlag. Je nachdem ist das ius humanum - entsprechend den drei möglichen Funktionen der Billigkeit154 - entweder anders auszulegen oder rechtsgestalterisch zu verbessern oder - notfalls - ganz unbeachtet zu lassen. Mit dem Postulat, daß die von der ratio civilis gefundene schuljuristische Lösung jeweils vom Gewissen zu überprüfen sei, gelangt Oldendorps Billigkeitslehre zu einem klaren praktischen Ergebnis. Jenes Postulat ist der Kern seiner Billigkeitslehre. Das Problem, daß das Gewissen im Widerspruch zum ius divinum entscheiden möchte, ist für Oldendorp eher akademischer Art. Die Lösung ist für ihn klar. Immerhin stellt er sich im Zusammenhang mit der Gewissensentscheidung die Frage: „Quid si multi dissentiant ...?" Die Antwort lautet: „recurrendum est ad tabulas divinas"155. „Futurum ... providebat (deus), ut imbecillitate quadam in errorem facile lapsuri essent homines: nisi certum extrinsecus adiiceretur praeceptum, ad quod hesitantes confugerent ... Perpendamus igitur diligenter has tabulas"156. Es gelten also gegebenenfalls die Zehn Gebote. Aber ein Konflikt zwischen Gewissen und Bibel kann für Oldendorp in Wahrheit nicht auftreten, nachdem er das Gewissen auf die Grundsätze der Bibel als den Inbegriff des Guten und Gerechten festgelegt sieht. Von daher ist die Fragestellung für ihn ohne Brisanz. Von Brisanz ist allein die Konkurrenz von ratio civilis und ratio ,so 151

,5J 1H

155 156

Oldendorp, Wat byllick unn recht ys (Fn. 47) S. 13. S. oben zu Fn. 139. Oldendorp, De iure et aequitate (Fn. 46) S. 102 ff. S. auch aaO S. 154: „religionis prima est causa in aestimatione aequitatis". S. oben zu Fn. 134-138. Oldendorp, Eiaavcoyii (Fn. 48) S. 15. Oldendorp, Divinae tabulae (Fn. 64) S. 17.

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naturalis, von Schuljuristerei und Gewissen. Indem sich Oldendorp hier dazu bekennt, die schuljuristisch erarbeitete Lösung jeweils dem Gewissen, einem am Guten und Gerechten orientierten Gewissen, vorzulegen, indem er in dieser Weise dem Gewissen in der juristischen Methodik einen festen Platz zuweist, leistet er einen bemerkenswerten Beitrag zur juristischen Erkenntnis- und Methodenlehre. C. Die das Geistes- und Gefühlsleben Mitteleuropas im 16. Jahrhundert beherrschenden Gestalten, Erasmus von Rotterdam und Martin Luther, und ihr Gedankengut, der christlich ausgerichtete und die aristotelische Ethik integrierende Humanismus auf der einen und die das Gewissen zur Richtschnur des Handelns machende Reformation auf der anderen Seite, haben das Rechtsdenken dieser Zeit tiefgreifend beeinflußt und ihm eine bis heute fortwirkende Wendung gegeben. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht die Entdeckung des Gewissens als einer Kategorie auch des Rechtslebens, und zwar eines seinerseits an übergeordneten Grundsätzen orientierten Gewissens. Für das 16. Jahrhundert finden sich die auf diesem Wege in das praktische Rechtsleben hereingeholten übergeordneten Grundsätze in der Heiligen Schrift. Daß diese in der pluralistischen Gesellschaft, die sich in der Folge entwickelt hat, als gemeinsame Charta nicht mehr dienen kann, kann die Fruchtbarkeit des gedanklichen Ansatzes nicht in Frage stellen. Schon die Rechtsdenker des 16. Jahrhunderts, die an der hier beschriebenen Entwicklung beteiligt waren, waren keine Fundamentalisten, sondern Christen, die im Evangelium fanden, was sie bewegte, ohne sich aber in ihrer Arbeit von kirchlichen Autoritäten innerlich abhängig zu machen. Sie unterscheiden sich darin nicht allzusehr von denen, die bis heute für sich selbst aus der Bibel schöpfen, unbeschadet dessen aber in Fragen des Rechts und des Staates Schulter an Schulter mit Menschen stehen, die verwandte Wertvorstellungen aus anderer Quelle beziehen. Letztlich ist die Konstituierung des Gewissens im Recht, wie sie die Rechtsdenker des 16. Jahrhunderts unter gleichzeitiger Bindung auch des Gewissens an die Heilige Schrift vornahmen, der zeitbedingte Ausdruck der allgemeineren These, daß oberhalb der menschlichen Rechtsetzungsmacht allgemeingültige Prinzipien stehen, die über das auf diese Prinzipien ausgerichtete Gewissen des Einzelnen im Rechtsleben zur Geltung gebracht werden müssen. Diese - im weiteren Sinne - naturrechtliche Anschauung kann dazu beitragen, im Zusammenleben der Menschen der Herrschaft des Willkürlichen und somit möglicherweise auch Bösen entgegenzuwirken. So gesehen hat die Entdeckung des Gewissens im Rechtsdenken des 16. Jahrhunderts die Jurisprudenz bis heute in den Stand versetzen hei-

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fen, sich aus Erstarrungen, die gleichwohl immer wieder vorgekommen sind, wieder zu lösen und aus absolutistischen Vereinnahmungen, denen sie gleichwohl immer wieder erlegen ist, wieder zu befreien. Um nochmals Oldendorp zu zitieren: „... si mille facies Statuta, ... tarnen non purgabis conscientiam, quae syncera, non simuluta requiritur"157. Die Rechtsgeschichte der Neuzeit beginnt mit der Aktivierung des persönlichen Gewissens für den Bereich des Rechts.

157

W i e F n . 111.

Die Justiz als modernes Dienstleistungsunternehmen MICHAEL MEISENBERG

I. Vielbeschäftigte Justitia Justitia scheint trotz ihres beträchtlichen Alters eine attraktive Dame zu sein. So schrieb die Wochenzeitung „Die Zeit" 1989: „Die Deutschen fühlen sich von Justitia angezogen." Das Blatt bezog sich dabei auf eine Befragung des Instituts für Demoskopie in Allensbach, der zufolge mehr als ein Viertel aller Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland ab 16 Jahre im zurückliegenden Jahrzehnt mindestens einmal „in einen Prozeß" verwickelt war. Gemeint war damit jede Berührung mit der Justiz: sei es als Partei, als Zeuge, als Angeklagter, als Betroffener. Die gegenwärtige Situation der Justiz ist gekennzeichnet durch eine hohe quantitative und qualitative Belastung mit seit Jahren stets zunehmenden Geschäftszahlen1. Zahlenvergleiche mit anderen europäischen Staaten belegen: Die Deutschen scheinen besonders streitlustig zu sein. Bei aller Vorsicht mit Vergleichen bei unterschiedlichen Rechtssystemen zeichnet sich doch eine eindeutig unrühmliche Spitzenstellung der Bundesrepublik Deutschland ab. Nach einer Studie des Bundesministeriums der Justiz 2 kommen bei uns ungefähr 28 Richter auf 100 000 Einwohner3. Bei den Eingängen erster Instanz in Zivilsachen einschließlich Mahnsachen sind nach dieser Untersuchung die alten Länder der Bundesrepublik mit etwa 94 Eingängen pro 1000 Einwohnern nur von Österreich übertroffen (108) 4 .

1 So sind z. B. die Neueingänge in Zivilsachen 1. Instanz (Amts- und Landgericht) in Bayern von 1980 bis 1994 um 58 % gestiegen, die Zahl aller Richterstellen dagegen nur um

11 %.

2 Mögliche Entwicklungen im Zusammenspiel von außer- und innergerichtlichen Konfliktregelungen, Speyer 1990, S. 9. 3 Im Vergleich dazu in Osterreich und Belgien 20, in Frankreich 10, in den Niederlanden 6 und in den anglo-amerikanischen Ländern ca. 5 Richter auf 100 000 Einwohner. 4 Die anderen europäischen Länder liegen weit darunter (z. B. England: 44; Italien: 20; Frankreich und Niederlande: 16). Es ist klar, daß derartige Zahlenspiele wenig wissenschaftlich sind; sie werfen aber ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Situation.

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Zur quantitativen Belastung kommen neue qualitative Anforderungen hinzu 5 . Das Eigentümliche aller dieser Geschäftsaufgaben ist, daß sie von der Justiz nicht beeinflußbar sind. Sie müssen erledigt werden, ob man will oder nicht; einen „Annahmeschluß" gibt es bei der Justiz nicht. Das unterscheidet sie von der Privatwirtschaft und von vielen Bereichen der öffentlichen Hand, wo Aufgaben mangels Finanzierbarkeit und Personals einfach nicht mehr angegangen, vielmehr weite Bereiche privatisiert werden. Die „Dame" Justiz muß es hinnehmen, daß „jeder von ihr etwas will", sie kann eben „ihre Dienste" nicht verweigern. Trotz all dieser Begehrlichkeiten, der sie sich ausgesetzt sieht, sollte sich die Justitia keiner Illusion hingeben: sie ist nicht sonderlich beliebt6. Drastisch wurde ihr dies jüngst wieder auf dem 48. Deutschen Anwaltstag 1995 in Berlin vor Augen geführt - trägt Justitia vielleicht vor Scham eine Binde? - , als der Präsident des Deutschen Anwaltvereins wenig schmeichelhaft meinte, es sei ein offenes Geheimnis, daß die Arbeitsweise vieler Gerichte wenig mit der Organisation, Ausstattung und Personalführung eines Dienstleistungsbetriebs gemein habe7. Das ist im übrigen nicht nur die Meinung eines Außenstehenden, auch viele Justizbedienstete beklagen die schlechte Ausstattung ihrer Arbeitsstätte und die häufig unzumutbaren Arbeitsbedingungen. Auf dem genannten Anwaltstag wurde auch kritisiert, wie wenig sich der Staat seine Justitia kosten läßt, angeblich habe der Staat 1991 für die Rechtspflege (ohne Strafvollzug) nur etwa vier Milliarden DM ausgegeben, das seien etwa vier Promille der Summe aller öffentlichen Ausgaben 8 . Schließlich muß sich Justitia auch noch Hohn und Spott gefallen lassen9.

5 Allein für die Mehrbelastungen, die das Betreuungsrecht, das seit 1. Januar 1992 gilt, mit sich brachte, mußten in Bayern ca. 80 zusätzliche Richter eingesetzt werden. Für das Insolvenzrecht, das am 1. Januar 1999 in Kraft treten soll, wird für Bayern geschätzt, daß ungefähr 30 Richter, 180 Rechtspfleger und 220 Beschäftigte des mittleren Dienstes und Angestellte zusätzlich benötigt werden. 6 Vgl. u. a. Der Spiegel, 1993, Heft 38, Faule Justiz; Stern, 1995, Heft 7, Das versteht keiner mehr. Sieht man einmal vom Bundesverfassungsgericht und den obersten Bundesgerichten ab, die nach einer Umfrage mit + 2,1 bzw. + 1,8 an der Spitze einer Skala von + 5 (volles Vertrauen) bis - 5 (kein Vertrauen) stehen, wobei die politischen Parteien mit - 0,5 das Schlußlicht bilden; vgl. Bay. Staatszeitung vom 14. Januar 1994. 7 FAZ vom 26. 5. 1995, Anwälte gegen neue Einschränkungen. Vgl. dazu auch H u f f , DRiZ 1995, 282. 8 FAZ aaO. Diese „Milchmädchen"-Rechnung, die nur Ein- und Ausgaben in den Haushalten der einzelnen Länder gegenüberzustellen scheint, übersieht u. a. die erheblichen Pensionszahlungen und die Beihilfeleistungen. ' Typisch dafür der Ausspruch: „Bei Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand".

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Die Justiz als Aschenputtel des Staates? Ist da die Überschrift zu diesem Beitrag nicht arg vermessen? Mitnichten. Es gibt zwar viel zu tun; auch ist der Standard der Justiz naturgemäß nicht überall gleich. Aber alle Landesjustizverwaltungen sind mitten in einer Umbruchphase hin zu modernen Strukturen10, manche sind dabei schon sehr weit fortgeschritten11. Die Justiz ist auf dem besten Weg vom königlich-bayerischen Amtsgericht zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen12. Das näher darzustellen, ist Ziel dieses Beitrages, wobei der Verfasser als Leiter der Personalabteilung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz sich in erster Linie der Situation der bayerischen Justiz und speziell - mangels eines Rechtspflegeministeriums - der ordentlichen, freiwilligen und Strafgerichtsbarkeit sowie der Staatsanwaltschaften zuwenden will. II. Justitia im neuen Gewand „Die Lean-Welle ist keine Modeerscheinung, sondern eine Uberlebensübung", so leitete die Süddeutsche Zeitung13 eine Artikelserie zum „Aufbruch in eine neue Management-Ära" ein. Ausgehend von Japan und den USA werden in Deutschland und in allen marktwirtschaftlich orientierten Ländern neue Strukturen diskutiert, um die Rezession der letzten Jahre zu überwinden. Dies wäre als solches nicht besonders bemerkenswert, Rationalisierungsmaßnahmen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten hat es immer schon gegeben; neuartig an der jetzigen Diskussion ist das ganzheitliche Konzept, das auf eine umfassende Veränderung der bisherigen Betriebs- und Organisationsabläufe, der hierarchischen Gliederung der Unternehmen und der Beschäftigtenentwicklung abzielt und die menschliche Kreativität auf allen Stufen in den Mittelpunkt stellt sowie eine bedingungslose Orientierung an den Kundenwünschen fordert. 10 Vgl. Koetz, Organisation der Amtsgerichte, Beiträge zur Strukturanalyse der Rechtspflege, Kienbaum Unternehmensberatung GmbH, Bundesanzeiger 1992, und ders., Organisation der Kollegialgerichte und des Instanzenzuges der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wie oben, Bundesanzeiger 1993; im weiteren abgekürzt Koetz, Amtsgerichte bzw. Landesgerichte; im Entwurf liegt derzeit die Organisationsuntersuchung der Staatsanwaltschaften und Generalstaatsanwaltschaften durch die Kienbaum Unternehmensberatung vor. " Auf den hohen Ausstattungsgrad in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen weist Koetz, Justizmanagement - Wege zu einer modernen Rechtspflege, Tagungsbericht, herausgegeben vom Justizministerium Baden-Württemberg, ausdrücklich hin. Zur Situation in Österreich, Die Verwaltung der Gerichte - Wege zu einem neuen Justizmanagement, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Wien; Schweiz, Prestel, Tagungsbericht aaO, S. 58 ff; USA, Röhl, Tagungsbericht aaO, S. 30 ff; Großbritannien, Ridley, D Ö V 1995, 569 ff. 12 Zur Fragwürdigkeit des Begriffs und zu wesentlichen Elementen einer zeitgemäßen Justiz vgl. Makowka, DRiZ 1987,257 ff. " SZ vom 12. 7. 1994, S. 22.

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Nach den Berichten aus dem Wirtschaftsleben hat diese Methode erste Früchte gezeitigt. Viele Unternehmen sind zufrieden, die Rezession der vergangenen Jahre ist relativ schnell überwunden worden. Kein Wunder, daß sich alsbald auch die öffentliche Verwaltung für die neuen Strukturen interessierte14. Auf allen Ebenen werden Aktivitäten entfaltet15. Es sind verschiedene Parameter, die auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung ein Umdenken erforderlich machen: Die Bürokratie sieht sich einem immer stärkeren Legitimations- und Leistungsdruck der Öffentlichkeit ausgesetzt. Ein gesellschaftlicher Wertewandel hin zu stärkerer Selbstentfaltung stellt einerseits höhere Anforderungen an eine bürgerfreundliche Verwaltung, fordert andererseits aber auch mehr Partizipation und aktive Mitgestaltung am öffentlichen Geschehen. Die angespannte Haushaltslage und veränderte Wirtschaftsstrukturen lassen den Ruf nach Innovation und Kreativität laut werden, um mit wenig Mitteln den neuen Herausforderungen Herr zu werden. Schließlich hat sich das Innenleben unserer Behörden durch neue Informationsund Kommunikationstechniken völlig verändert. Schon spricht man von „Vernetzung" wichtiger Lebensbereiche, von „Datenautobahnen" und dgl. Es leuchtet ein, daß die Verwaltung kurz vor Beginn des neuen Jahrtausends anders geführt werden muß als noch vor einigen Jahren. Bei allem Glauben an die neuen Strukturen dürfen freilich die Unterschiede zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst nicht vernachlässigt werden. Hier ist zunächst die unterschiedliche Zielsetzung zu berücksichtigen16. Wirtschaftsunternehmen reagieren auf Marktveränderungen, sie maximieren das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen, kurz sie sind gewinnorientiert. Dieser Gedanke steht jedenfalls bei der Verwaltung nicht im Vordergrund; sie hat heute mehr denn je Ansprüche nach Daseinsvorsorge zu erfüllen. Andererseits ist staatliches Handeln auch dort, wo weite Ermessensspielräume bestehen, an gesetzliche Vorgaben gebunden, die die politischen Ziele der demokratisch gewählten Gesetzgebungsorgane widerspiegeln. Daraus folgt aber auch, daß das staatliche Handeln der direkten Kontrolle durch den Haushaltsgesetzgeber unterliegt. Die Legislative gibt die Vorgaben, die Exekutive

" Hill, Verwaltung neu denken, VOP 1993, 15 ff; ders., Staatskonzeption, VOP 1994, 301 ff; Skulimma, Praktische Ansätze zur Leistungssteigerung in der öffentlichen Verwaltung, VOP 1995, 172 ff; König, Neue Verwaltung oder Verwaltungsmodernisierung, DOV 1995, 349 ff. 15 Vgl. u. a. Perspektivbericht der Bundesregierung vom 19. Juli 1994, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern; in Bayern Schlußbericht der Kommission „Zukunft des öffentlichen Dienstes", Januar 1994; Ergebnisprotokoll der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder am 22. Juni 1995. " Aus jüngerer Zeit vgl. Hablützel, New Public Management, VOP 1995, 142 ff, eine sehr aufschlußreiche, manchmal etwas überspitzt ironisierende Darstellung.

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füllt sie aus. Aber innerhalb dieses Rahmens gibt es ein weites Betätigungsfeld für ein modernes Verwaltungshandeln, wobei zu berücksichtigen ist, daß es sich dabei um höchst unterschiedliche öffentliche Institutionen mit verschiedenen Aufgaben handelt. Wo steht bei dieser Diskussion unsere Justitia? Viele der oben genannten Rahmenbedingungen gelten auch für die Justiz. Ein vermehrtes Anspruchsdenken führt zu immer ausgefeilteren Rechtsvorschriften, die vor Gericht auch geltend gemacht werden wollen und das möglichst (notfalls durch mehrere Instanzen) mit Erfolg. Das Justizhandeln soll dabei durchschaubarer und damit kundenfreundlicher werden. Die Haushaltslage zwingt zu neuen Überlegungen über die Verfahrensabläufe, nachdem der schnell und gern laut werdende Ruf nach mehr Personal künftig ungehört bleiben wird17. Das Personal, selbstverständlich demselben Wertewandel mit erhöhtem Anspruchsdenken nach beruflicher Entfaltung unterworfen wie der Bürger, fordert von der Justizverwaltung neue Ideen nach besseren Arbeitsplätzen mit moderner Bürotechnik und einer kreativen Beschäftigung. Justizmanagement ist deshalb gefragt, da die Funktionsfähigkeit der Justiz angesichts der zunehmenden Geschäftsbelastung mit herkömmlichen Methoden auf Dauer nicht mehr aufrechtzuerhalten ist18. Darüber sind sich alle Verantwortlichen inzwischen wohl einig19. Selbstverständlich ist aber auch, daß die Eigentümlichkeiten der Justiz beachtet werden müssen. Bei der Frage, ob und welche modernen Managementstrukturen übernommen werden können, ist zunächst einmal zu berücksichtigen, daß der Justizapparat eine Doppelfunktion hat. Im Vordergrund steht die Justiz als Rechtspflegeorgan. Im wesentlichen auf die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung hin orientiert ist dagegen die Justizverwaltung20. Die Justiz als Rechtspflegeorgan hat die Aufgabe, den Justizgewährleistungsanspruch zu verwirklichen. Darauf muß die Justizverwaltung, die als besondere Form staatlichen Handelns auf die Verwirklichung dieses Anspruchs ausgerichtet ist, Rücksicht 17 Im Gegenteil muß Personal eingespart werden, in der bayerischen Staatsverwaltung von 1993 bis 1997 insgesamt 4200 Stellen, in Baden-Württemberg von 1997 bis 2002 4148 Stellen, davon 572 in der Justiz, in Hessen bis 1999 insgesamt 2750 Stellen. 18 „Justizmanagement - Wege zu einer modernen Rechtspflege" war auch das Thema auf dem Triberger Symposium 1994, vgl. Tagungsbericht aaO sowie DRiZ 1995, 157; zur „Organisation der Gerichte" siehe auch DRiZ 1995, 248 f. " Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang bereits auf „die Vorschläge zur Verbesserung der Verfahren und Entlastung der Justiz" vom Deutschen Richterbund, Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Deutschen Anwaltverein, DRiZ 1989, 241 ff. 20 Vgl. Koetz, Landgerichte, S. 83: Danach ist der Verwaltungsanteil beim B G H 9 %, bei den O L G 39 %, bei den L G 8 % und nach Koetz, Amtsgerichte, S. 32 bei den Amtsgerichten 4 , 1 % (Richter), 12,6% (Rechtspfleger) und 11,1% (mittlerer Dienst und Schreibdienst).

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nehmen, z. B. bei Fragen nach den Kosten eines Verfahrens. Die Justiz kann in diesem Bereich regelmäßig keine Kosten-Nutzen-Analyse zugrunde legen21. Im Bereich der Rechtsfindung ist die richterliche Unabhängigkeit zu beachten, die den Richter vor unerlaubten Maßnahmen des Justizmanagement schützt, ihn sozusagen zu einem eigenständigen „freien Unternehmer" im Gesamtunternehmen „Justiz" macht. Die Justizverwaltung unterliegt zusätzlich weitgehenden Beschränkungen durch die Verfassung, durch sonstige gesetzliche Vorschriften, Richtlinien und Bekanntmachungen sowie durch die Mitwirkung unabhängiger richterlicher Selbstverwaltungsorgane, in deren Hand das unternehmerische Management für den Richterdienst liegt. Alles dies sind Gründe, die zu bedenken sind, die aber Justitia nicht hindern können und dürfen, in ein neues modernes Gewand zu schlüpfen. III. Die Justiz als modernes Dienstleistungsunternehmen Im folgenden Hauptteil sollen einzelne Elemente aufgeführt werden, die die Justiz zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen machen. Auf Vollständigkeit muß dabei nicht nur aus Raumgründen, sondern schon allein aus methodischen Gründen verzichtet werden, weil es ja gerade zu den modernen Managementgedanken gehört, die Abläufe stets auf Verbesserungsmöglichkeiten zu überprüfen22. Der rechtssuchende Bürger als externer Kunde beklagt seit vielen Jahren die ungebrochene Flut der Rechtsnormen, ihre Unübersichtlichkeit und die Unverständlichkeit der Rechtssprache; er resigniert vor der langen Dauer der Verfahren. Dieses leidige Kapitel muß hier ausgespart werden, da Abhilfemaßnahmen im wesentlichen nicht im Verantwortungsbereich der Dritten Gewalt liegen. Andererseits muß sich Justitia aber hüten, untätig zu bleiben und gebannt auf den Bund und seine Gesetzgebungskompetenz zu schielen; vieles hat sie nämlich selbst in der Hand23. 21 Beispiel: Inzwischen weiß man, daß den Staat ein Zivilprozeß mit einem Streitwert bis zu 600,- D M im Durchschnitt mehr kostet, als der Kläger je erstreiten kann. Es ist klar, daß der Staat sein Rechtsprechungsorgan dennoch zur Verfügung stellen muß, auch wenn es ihm billiger käme, jedem Kläger einfach die Klagesumme auszubezahlen. 22 Es ist daher nur vernünftig, daß auch das sog. Vorschlagswesen, nämlich das Verfahren zur Prämierung von Verbesserungsvorschlägen, verfeinert wurde. 23 Was das Ausufern der richterlichen Rechtsfortbildung im Bemühen um eine möglichst differenzierte Einzelfallgerechtigkeit und die verfeinerte revisionsgerichtliche Rechtsprechung anbelangt, streben unsere Obergerichte häufig vergeblich nach der erforderlichen Selbstbeschränkung. Z u m Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Rechtseinheit hat sich der Jubilar häufig zu Wort gemeldet, ob als ehemaliger Leiter der Strafrechtsabteilung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, ob als späterer Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts oder als Präsident des Bundesgerichtshofs, siehe zuletzt Odersky, 40 Jahre Bundesgerichtshof, D R i Z 1990, 365 f.

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Die derzeitige Diskussion über die Umgestaltung des in Deutschland traditionellen viergliedrigen Gerichtsaufbaus in einen dreigliedrigen, in dem viele das Allheilmittel für eine moderne funktionstüchtige Justiz sehen und dem Glauben anhängen, allein die Reduzierung von vier auf drei mache die Justiz „lean", soll jedoch kurz erwähnt werden. Den Hauptgesichtspunkt, nämlich Personal einzusparen, erreicht man mit dem dreigliedrigen Gerichtsaufbau als solchen überhaupt nicht. Seine Einführung wäre eine personalneutrale Maßnahme, die weder zu einer Entlastung der Gerichte führt noch zu einer Beschleunigung der Verfahren24. Mit einer Metapher könnte man sagen: Mit dem dreigliedrigen Gerichtsaufbau schafft man ein leeres Gebäude, dessen Funktionsfähigkeit erst der Innenarchitekt entscheidend konzipiert. Dessen Konzept 2 5 läßt sich durchweg im Rahmen des herkömmlichen viergliedrigen Aufbaus realisieren, wodurch aber erhebliche Probleme und Nachteile eines U m baus in die Dreigliedrigkeit vermieden würden. Diese liegen in den ganz erheblichen, den Zielen der Reform zuwiderlaufenden Kosten für die erforderlichen größeren Gebäudeeinheiten 26 , im Verlust an Bürgernähe als Konsequenz dieser Konzentration und in der Notwendigkeit, am Eingangsgericht jedenfalls in Strafsachen, wohl aber auch bei bestimmten Zivilsachen Ausnahmen von der Idee des einheitlichen Einzelrichters zu schaffen 27 . Der gegenwärtige Gerichtsaufbau hat den Vorzug, daß er für Verfahren von unterschiedlicher Bedeutung ein differenziertes System von Spruchkörpern bereithält. Dieser Aufbau entspricht der Forderung nach einer zweckmäßigen, im Einsatz der Mittel sinnvoll gestalteten Justizorganisation 28 . 24 Der dreigliedrige Gerichtsaufbau darf nicht mit einer Reduzierung der Rechtsmittel verwechselt werden. 25 Diskutiert wird die weitgehende Ersetzung von Kammer- durch obligatorische Einzelrichterzuständigkeiten z. B. bis zu einem Streitwert von 30 000,- D M in Zivilsachen, 1. Instanz; der Ausbau der Möglichkeiten außergerichtlicher Streitschlichtung; die Entwicklung von Vorschaltverfahren in Zivilsachen; die Übertragung von Aufgaben des Richters auf den Rechtspfleger; die Schaffung verstärkter Möglichkeiten vereinfachter und beschleunigter Verfahren in Strafsachen; die Beschränkung des Rechtsmittelzugangs. 26 Für das einheitliche Eingangsgericht werden Mindestzahlen der Gerichtseingesessenen diskutiert, was sinnvoll ist, da man an Kleinstgerichten nicht alle Rechtsangelegenheiten für den Bürger effektiv vorhalten kann. 27 Wer von den Reformern immer wieder auf den besonders erfahrenen Eingangsrichter verweist, muß sich fragen lassen, wo dieser Einzelrichter seine Erfahrung gewinnen soll, wenn das Kollegialgericht entfällt. Bei einem großen Justizkörper wie in Bayern, wo auch künftig jährlich ca. 80 Nachwuchskräfte eingestellt werden, ist der Ausweg über die propagierten Berufungsgerichte kaum gangbar, ganz abgesehen von der Wirkung auf den Bürger. 2B Wenn die Umgestaltung freilich nur so vonstatten gehen soll, daß lediglich das „Türschild" geändert wird, ansonsten Mischformen unter der Bezeichnung „Eingangsgericht" nach herkömmlichem Modell bestehen bleiben, verdient sie kaum die Bezeichnung als „Reform".

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1.

EDV-Ausstattung

Wie in der Privatwirtschaft ist auch beim Staat Ausgangspunkt aller Überlegungen nach Modernität die technische Büroausstattung. Die Ausstattung der bayerischen Gerichte und Staatsanwaltschaften mit moderner EDV-Technik ist weit fortgeschritten29. So sind in der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Bayern heute mehr als 7500 Bildschirmarbeitsplätze eingerichtet, an denen die Mitarbeiter ihre Arbeit mit modernen, justizspezifischen DV-Programmen verrichten30. Für fast alle Aufgabenbereiche wurden DV-Verfahren31 entwickelt, die die Bediensteten von zeitraubenden Routine- und stets gleichförmigen Erfassungstätigkeiten entlasten und überflüssige Mehrfacherfassungen vermeiden. Der Schwerpunkt der Mitte der achtziger Jahre bereits begonnenen EDV-Ausstattung liegt im Bereich der Geschäftsstellen und des Schreibdienstes sowie der Rechtspfleger. In zunehmendem Maße wird auch der Richter- und Staatsanwaltsarbeitsplatz in geeigneten Fällen mit EDV ausgestattet32. Besonders geeignet ist der Einsatz im Bereich des Familienrichters und am Arbeitsplatz des Verkehrsrichters und -Staatsanwalts, da hier vielfach Berechnungen anzustellen sind. Bei verschiedenen Gerichten wird die Protokollierung im Sitzungssaal am Bildschirm praktiziert, so daß die Prozeßvertreter bereits im Anschluß an die Sitzung das fertige Protokoll mitnehmen können. Um weitere Planungen zu ermöglichen, für die das Interesse überraschend hoch ist, wird im Auftrag des Ministeriums von Kollegen der Praxis ein Grobkonzept für den DV-Arbeitsplatz des Richters und Staatsanwalts entwickelt. Die Sorge, der Computer werde eines Tages dem Richter die Rechtsfindung abnehmen, ist längst einem aufgeschlossenen Interesse an den technischen Möglichkeiten gewichen. Andererseits ist selbstverständlich, daß vornehmlich ältere Richter, die sich mit der technischen Neuerung nicht anfreunden können, schon wegen der richterlichen Unabhängigkeit zur Anwendung der EDV nicht

" Der weitere zusätzliche Ausbau wird dadurch erschwert, daß ein Großteil der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel für den Ersatzbedarf durch eine neue Gerätegeneration verschlungen wird. 30 Rund 80 % der in den Geschäftsstellen eingesetzten Angestellten sowie ca. 60 % der dort tätigen Beamten des mittleren Dienstes sind an Bildschirmarbeitsplätzen tätig. Bayern besitzt damit den bundesweit höchsten Ausrüstungsgrad mit moderner Bürotechnik. Bei rund 14 000 Beschäftigten in allen Laufbahnen der bayerischen Justiz (ohne Strafvollzug) kann mit einem Sättigungsgrad von etwa 9500 Bildschirmarbeitsplätzen gerechnet werden. " Derzeit über 40 verschiedene Verfahren. 52 Zum Stichtag 31. Dezember 1994 waren 334 Arbeitsplätze von Richtern und Staatsanwälten mit EDV ausgestattet. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Bayern damit zunächst einen Schwerpunkt bei den Geschäftsstellen und im Schreibdienst gesetzt, da hier die meisten computergerechten Routinearbeiten anfallen und in diesem Bereich die im Ballungsraum bis vor kurzem vorherrschende Personalknappheit gelindert werden konnte.

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gezwungen werden. Freilich ist allen Computer-Freaks unter den Richtern und Staatsanwälten auch deutlich zu machen, daß Maximalforderungen, z. B. nach bester Hard- und Softwareausstattung und nach einem stets einsatzbereiten Systemverwalter zur Behebung von Fehlerquellen aus finanziellen Gründen nicht erfüllt werden können. Besonders ausgeprägt ist der EDV-Einsatz im Grundbuchbereich, wo mit Solum bei allen 104 bayerischen Grundbuchämtern ein leistungsstarkes DV-System zur Anwendung kommt. Mit Solum-Star, das von der bayerischen Justiz in Zusammenarbeit mit anderen Landesjustizverwaltungen entwickelt wurde, erprobt Bayern das vollautomatisierte, papierlose Grundbuch, an das gegen entsprechende Gebühr Notare, Kreditinstitute und sonstige berechtigte Grundbucheinsichtsnehmer online angeschlossen werden können. Durch ein Pilotprojekt im Bereich des Datenhochgeschwindigkeitsnetzes, das in Bayern derzeit aufgebaut wird, soll an dieses vollautomatische Verfahren in München das Grundbuchamt Nürnberg angeschlossen werden. Der Einsatz der E D V erfordert eine stärkere Gewichtung der Ausbildung der Justizbediensteten im Umgang mit den Einrichtungen der modernen Büro- und Kommunikationstechnologie. Hierfür wurde in der Bayerischen Justizschule in Pegnitz ein DV-Schulungszentrum eingerichtet, in dem über 1000 Justizbedienstete jährlich entsprechend ausgebildet werden. Zudem ist die DV-Ausbildung integrierter Bestandteil des fachtheoretischen Unterrichts für den mittleren Justizdienst. Die Integration der DV-Ausbildung des gehobenen Dienstes wurde vor kurzem vollzogen. Neben der EDV-Ausrüstung gehört zu einem effektiven Dienstleistungsunternehmen natürlich auch in anderen Bereichen eine moderne Ausstattung, die hier nur kurz skizziert werden kann: freundliche, funktionsgerechte Büros und Sitzungssäle, professionelle technische Hilfsmittel wie ständig benutzbares Telefon und Faxgeräte, Fotokopierer und vieles mehr bis hin zu Sozialräumen und allen erdenklichen Erleichterungen für Anwälte und rechtssuchenden Publikum. 2.

Service-Einheiten

Dort, wo Richter und Geschäftsstelle durch EDV verbunden sind, entwickelt sich ein ausgesprochen positiver Teamgeist zwischen dem Richter und seinen Mitarbeitern. Dies fördert die Bildung sog. ServiceEinheiten, die auch von externen Prüfungsgesellschaften gefordert werden33. In den Service-Einheiten, die es je nach den örtlichen Gegebenhei33 Dazu Abschlußbericht der Arbeitsgruppe „Strukturelle Veränderungen in der Justiz" an die 66. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister. Vgl. auch Riehe/ Vießues, NJW-CoR 1995, 257 f.

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ten in verschiedenen Gestaltungen gibt, sollen vor allem die Aufgaben der Geschäftsstellen und Kanzleien mit Ausnahme der Aufgaben des Anweisungsbeamten und eines noch erforderlichen Langtextschreibdienstes sowie der Aufgaben des Kostenbeamten ganzheitlich erledigt werden 34 . Dabei soll jeder in der Service-Einheit Beschäftigte mit sämtlichen von der Einheit zu erledigenden Tätigkeiten befaßt werden (Mischarbeit). In der Service-Einheit werden somit die Arbeitsabläufe beschleunigt, weil kleine, überschaubare Arbeitseinheiten bestimmten Richtern oder Staatsanwälten organisatorisch und räumlich zugeordnet sind. Sie sind damit bürgerfreundlich und zugleich motivationsfördernd, weil die Mitarbeiter die anfallenden Arbeiten teamorientiert erledigen und weil sie dazu durch Weiterbildung vorwärtskommen 35 . Die Service-Einheiten werden auch ein neues Richterbild hervorbringen. Der Richter der Zukunft ist nicht mehr der Rechtsanwender, der sich ansonsten um organisatorische Abläufe nicht zu kümmern braucht, er ist vielmehr der Rechtsmanager, der „Justizunternehmer", der personelle und organisatorische Verantwortung trägt. Ohne entsprechende Schulung in Managementfragen und in Personalführungsmethoden geht das nicht. Es ist zu hoffen, daß diese Aussichten jedenfalls die jüngere Juristengeneration auch besonders motivieren. Allerdings wird die Einrichtung von Mischarbeitsplätzen durch tarifliche und besoldungsrechtliche Hemmnisse erheblich erschwert. Die 66. Konferenz der Justizministerinnen und -minister 1995 bat die Tarifgemeinschaft deutscher Länder mit Nachdruck, die bereits 1993 vereinbarten Tarifverhandlungen über justizspezifische Tätigkeitsmerkmale endlich aufzunehmen. Da die attraktiven Mischarbeitsplätze in den Service-Einheiten zwangsläufig zu einer Höhergruppierung der Angestellten führen, müßten auch die entsprechenden Planstellen oder jedenfalls Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, die aber leider auch nicht in Sicht sind. Es ist zu hoffen, daß die überall im Gang befindliche Reform des öffentlichen Dienstrechts eine gewisse Schubkraft entwickelt.

31 Bei den bayerischen Amtsgerichten wird schon jetzt in ca. 90 % der Fälle kleines Schreibwerk in den Geschäftsstellen miterledigt. 35 Uber die Ausgestaltung der Aus- und Fortbildung herrscht Streit. Manche Länder, z. B. Baden-Württemberg, fordern eine umfassende Reform der justizinternen Ausbildung hin zu einem neuen einheitlichen Berufsbild „Gerichtsassistentin/Gerichtsassistent". In Bayern soll die bewährte Zweiteilung in mittlerer Dienst (Schwerpunkt) und Justizangestellte bestehen bleiben. Als Alternative zur Ausbildung von Justizfachangestellten wurde hier seit längerem das Modell einer behördeninternen, arbeitsplatzbezogenen Weiterqualifikation der Justizangestellten entwickelt, kurz „Schnupperkurs" genannt.

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3. Organisationsberater, Organisationsseminare Wo und in welcher Form Service-Einheiten eingerichtet werden sollen, welche sonstigen organisatorischen Maßnahmen ergriffen werden können, um die Geschäftsabläufe zu vereinfachen und zu verbilligen, bedarf eines geschulten Auges. Die bayerische Justiz hat deshalb mit der gerichtlichen Praxis vertraute, speziell fortgebildete Beamte des gehobenen Dienstes zu Organisationsberatern bestellt, die - wie die ersten Berichte ergeben - mit viel Erfolg arbeiten. Inzwischen ist bei jedem bayerischen Oberlandesgericht und bei jeder Generalstaatsanwaltschaft ein solcher Berater für den jeweiligen Bezirk im Einsatz. Ferner wird bei Tagungen für Behörden- und Geschäftsleiter, künftig wohl auch vermehrt für Richter und weitere Mitarbeiter der ServiceEinheiten, verstärkt auf Fragen der Organisation eingegangen. 4. Zeugenberater Ein weiteres Element der modernen Kundenorientierung im Bereich der Justiz ist der seit 1. August 1994 zunächst in Aschaffenburg, Ingolstadt und Traunstein eingerichtete Zeugenberater, der von ca. 10 bis 20 % der Zeugen in Anspruch genommen wird. Sinn der Betreuungsstelle ist es, den Zeugen die Angst vor ihrem Auftritt im Gerichtssaal zu nehmen. Sie dient aber auch dem Opferschutz, insbesondere bei Kindern. Nach Möglichkeit soll diese Institution auf alle größeren Gerichte ausgedehnt werden. 5. Justizverwaltung als modernes Management Wenden wir uns nunmehr stärker dem Innenleben des Justizapparats zu, der Justizverwaltung, die im wesentlichen auf die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung hinarbeitet36. Die vielfältigen Verwaltungsaufgaben, die im Rahmen der Justizverwaltung anfallen, werden bei Gericht von den Richtern, die von Justizbeamten der übrigen Laufbahnen und von Angestellten unterstützt werden, ausgeübt. Man nennt dies die Selbstverwaltung der Justiz. Auch in den Justizministerien sind meist Beamte tätig, die ebenfalls Gerichtserfahrung mitbringen. Ahnlich sind die Staatsanwaltschaften organisiert. Von modernen Managementwissenschaftlern wird kritisiert, daß die Justiz förmlich nebenbei von eigenen Kräften verwaltet werde, die dazu gar nicht ausgebildet seien. Und in der Tat, wir müssen Abschied nehmen von dem Gedanken, daß jeder 36 Definitionsfragen, was Justizverwaltung und Gerichtsverwaltung bedeuten, sollen hier vernachlässigt werden. Vgl. dazu Scbmidt-Räntscb, Deutsches Richtergesetz, 5. Aufl., § 4 Rdn. 16; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 1981, § 12 Rdn. 33 bis 84; Sprau, Justizgesetze in Bayern, 1988, Art. 19 A G G V G Rdn. 1 f.

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hochqualifizierte Richter auch ein geborener Verwaltungsfachmann sei. Aufgeben sollte man aber nicht die bewährte Grundidee der Selbstverwaltung37. Zunächst weiß der praktizierende Richter und Staatsanwalt am besten, wo seinen Kollegen „der Schuh drückt". Die effektiven Maßnehmen der Aufbauhilfe in den Beitrittsländern sind ein schlagender Beweis dafür. Die größte Erfahrung wird dabei der gewinnen, der viele Justizsparten kennenlernt. Von besonderem Vorteil für Verwaltungsaufgaben ist daher der in Bayern seit alters her bewährte Laufbahnwechsel zwischen der Tätigkeit des Richters und des Staatsanwalts, in den durch gezielte Personalplanung für geeignete Personen eine Verwaltungstätigkeit miteinbezogen wird38. Aber ohne spezielle Schulung werden die meisten an Grenzen stoßen. Deshalb bieten viele Landesjustizverwaltungen inzwischen ein Geflecht von Fortbildungsveranstaltungen an bis hin zu Führungslehrgängen für die Spitzenämter in der Justizverwaltung durch externe Managementtrainer. Die Selbstverwaltung der Justiz unterstreicht besonders ihre Unabhängigkeit gegenüber den anderen Gewalten im Staat und trägt dazu bei, das Spannungsverhältnis zwischen Richterschaft und Justizverwaltung abzubauen. Die Abwechslung, die in den vielfältigen Tätigkeiten der Rechtsprechung und Verwaltung steckt, ist besonders motivierend, wogegen der Einsatz eines reinen Verwaltungsfachmanns, der in der Justiz auch nur begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten hätte, das Getenteil bewirkte. Damit das Justizverwaltungsmanagement auch schlagkräftig ist, müssen alle Möglichkeiten des Aufgabenabbaus und der Delegation ausgeschöpft werden. Wir werden heute in allen Lebensbereichen überflutet von einer Unmenge von Daten, die uns den Blick auf das Wesentliche verstellen. Wir müssen uns von liebgewordenen Gewohnheiten trennen, auch wenn dadurch im Einzelfall - isoliert betrachtet - manches Herrschaftswissen verloren gehen wird. Anders laufen wir aber auch Gefahr, daß uns vor lauter Detailkenntnisse ein wichtiger Gesichtspunkt entgeht, was dann doppelt nachteilig ist, wenn sich auch kein anderer für diesen Gesichtspunkt verantwortlich fühlt. So müssen rigoros Mitteilungs- und Berichtspflichten abgebaut werden39, Statistiken müssen stark ausgedünnt und Aufgaben müssen dort37 Zur vergleichbaren Situation in Osterreich, Die Verwaltung der Gerichte, aaO, S. 13, 30 ff, 42, 158 ff. 38 Die Vorzüge des bayerischen Systems des Laufbahnwechsels werden besonders von Kienbaum, Staatsanwaltschaften (vgl. Fn. 10), betont. 39 Es genügt in vielen Fällen, wenn nur noch aus wichtigem Grund berichtet wird. Dies stärkt die Verantwortung der unteren Instanz, die über die Wichtigkeit selbst entscheiden muß. Ob die Fehlerquellen dadurch größer werden, ist zu bestreiten.

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hin verlagert werden, wo Orts- und Sachnähe herrschen. Insbesondere muß vermieden werden, daß sich zwei Ebenen mit ein und derselben Sache unter jeweils dem gleichen Blickwinkel beschäftigen 40 . Die bayerische Justiz nimmt derzeit mit einem Amtsgericht an einem Modellversuch einer dezentralen Mittelbewirtschaftung teil. Die Übertragung von Aufgaben und Verantwortung erfordert andererseits ein modernes Kontrollsystem, weniger in Form der Uberwachung, der repressiven Dienstaufsicht, als vielmehr in Form eines präventiven Steuerungsmittels 41 . Hierbei hilft wiederum die moderne EDV, die auch in der Verwaltung stark eingesetzt wird. Der Computer kann mit relativ geringem Aufwand unter den verschiedensten Blickwinkeln in eine Organisation hineinleuchten. Das wird weit mehr als früher ausgenützt, z. B. um sich mit dem Erledigungsverhalten der Richter und Staatsanwälte zu befassen 42 . Neuerdings wird immer häufiger angestrebt, die Kosten als Kontrollmechanismus heranzuziehen 43 . Was in der Privatindustrie gang und gäbe ist, sollte im Bereich der Justiz wegen des oben erwähnten Justizgewährleistungsanspruchs mit aller Vorsicht und Zurückhaltung angewandt werden 44 . Punktuell mag ein Blick auf die Kosten eines bestimmten Justizverhaltens heilsam sein, um eine gewisse Nachlässigkeit abzustellen 45 , ein globaler Kostenvergleich von Verfahren bei verschiedenen Gerichten, um das Konkurrenz- und damit Wettbewerbsdenken zu schärfen, sollte unterbleiben. 6. Fragen der Personalgewinnung Wenden wir uns nunmehr in den nächsten Kapiteln dem Personal zu, das die wichtigste Ressource einer bürgernahen und effizienten Justiz ist. 40 Bayern hat deshalb vor einigen Monaten die bisher im Justizministerium angesiedelte Zuständigkeit über die Zulassung der Rechtsanwälte mit all den Folgeberichterstattungen, die bei derzeit über 12 000 Anwälten in Bayern besonders arbeitsintensiv ist, auf die Oberlandesgerichte übertragen, die bisher schon für die Vorbereitung der Zulassungen zuständig waren (Vermeidung von Doppelarbeit!). 41 Zum Kontrollsystem (innere Revision) in Osterreich, Die Verwaltung der Gerichte, aaO, S. 83 ff. 42 Bisher stand das „Pensendenken" im Vordergrund, das nach den Verfahrenseingängen fragt und sie zum Maßstab der Belastung der Justiz macht („Input-Denken"). Interessanter dürfte aber die Frage nach den Erledigungen sein („Output-Denken"). Wenn, wie in der Praxis, im Durchschnitt ungefähr 20 % mehr, als die „Pensen" angeben, erledigt wird, liegt es nahe, den Personalbedarf an diesen Zahlen auszurichten. 43 Vgl. Krumsiek, Kosten der Justiz, ZRP 1995, 173 ff. 44 Zu weitgehend der auf dem Triberger Symposium geäußerte Gedanke, ein Staatsanwalt müsse bei Freispruch für die unnütz verursachten Kosten Rede und Antwort stehen, vgl. Tagungsbericht aaO S. 89. 45 So werden vielfach unbedacht Zeugen im Strafverfahren förmlich geladen, was eine Unsumme kostet, obwohl diese Ladungsform im Gesetz nicht vorgeschrieben und auch nicht bei jedem Zeugen erforderlich ist.

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Die Privatindustrie legt bekanntermaßen ein besonderes Gewicht auf die Ausbildung des Personals. Schlagworte sind „lebenslanges Lernen", „Just-in-time-Lernangebote" mit einer stärkeren Verzahnung von Theorie und Praxis und „Sozialkompetenz" als neuer Bildungsinhalt. Die Ausbildung in der Justiz, und beispielhaft sei die Juristenausbildung herangezogen, ist zur Zeit wieder stark im Gespräch46. Trotz mancher Kritik an der im europäischen Vergleich vermeintlichen langen Dauer der deutschen Ausbildung betonen doch viele Personalchefs der freien Wirtschaft die hohe Qualifikation der deutschen Juristen. Die Juristenausbildung ist in den letzten Jahren sehr an die modernen Gegebenheiten angepaßt worden: Das Grundlagenstudium wurde verstärkt, eine Spezialisierung findet nur noch in wenigen Bereichen statt, Kurse für Managementmethoden, betriebswirtschaftliche Zusammenhänge, Rhetorik, EDV und anderes werden angeboten, durch den inzwischen auch auf andere Studiengänge übertragenen „Freischuß"47 wird das Studium verkürzt. Die Gewinnung des Justizpersonals wirft derzeit keine nennenswerten Probleme auf. Nachwuchsjuristen gibt es in großer - zu großer48 Zahl. Auch für die Bedarfsausbildung der Rechtspfleger gibt es genügend Interessenten. Entspannt hat sich aber auch die Situation im mittleren Dienst und bei den Schreibkräften, wo nur in Zeiten der Vollbeschäftigung geeignete Kräfte am Arbeitsmarkt schwer zu finden sind. Das Verfahren49 zur Einstellung der Nachwuchskräfte in den Justiz-, allgemein in den Staatsdienst, unterscheidet sich nicht unwesentlich vom Auswahlverfahren in der Privatwirtschaft. Das staatliche Verfahren ist durch die Verfassung und die Beamtengesetze strukturiert, die Freiräume der Privatwirtschaft bestehen nicht, der Bewerber hat vielmehr einen gerichtlich einklagbaren Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Vorgaben sind das Leistungsprinzip und das Wettbewerbsprinzip, wobei letzteres besagt, daß dem Ergebnis von Prüfungen maßgebende Bedeutung zukommt50. Die Übertragung der in der freien

46 Heftig diskutiert wird die Ausbildung zum Wirtschaftsjuristen an einigen Fachhochschulen und allgemein die Ausbildung zum Einheitsjuristen. " Danach gilt eine Prüfung, die innerhalb einer Mindestfrist absolviert und nicht bestanden wird, als nicht abgelegt, vgl. z. B. § 29a der Bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen in der vom 1. April 1993 an geltenden Fassung (GVB1 S. 335). Dies führt häufig zu einer Studienverkürzung, weil der Examensteilnehmer frei ist von der Sorge, bei Nichtbestehen nur eine Wiederholungsmöglichkeit zu haben. 48 Der starke Zusatzbedarf an Juristen in den Beitrittsländern ist inzwischen größtenteils gedeckt. 49 Flotho, Richterpersönlichkeit und Richterauslese, DRiZ 1988, 16 ff; allgemein dazu Schnellenbach, Personalpolitik in der Justiz, NJW 1989, 2228 f. 50 BayVerfGHE 16, 107 f; 17, 54 f; 23, 174 f.

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Wirtschaft beliebten Assessment-Center zur Bestenauslese auf den öffentlichen Dienst mag nach derzeitiger Rechtslage problematisch sein; für den Justizbereich in Bayern hat sich eine Notwendigkeit dafür auch noch nicht gestellt, da das hiesige zentrale Auswahlverfahren beim Justizministerium sich in der Praxis jedenfalls nicht als schlechter erwiesen hat als ein Assessment-Center. Die Justiz hat statt dessen ein eigenes Instrumentarium, um den Nachwuchs zu testen, nämlich die allgemein für Beamte geltende Probezeit und den für die bayerische Justiz eigentümlichen obligatorischen Laufbahnwechsel zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Geschäftsaufgabe. Unbestritten ist freilich, daß der für Führungsaufgaben vorgesehene Nachwuchs weiter stärker fortgebildet werden muß als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag. Bei den Neueinstellungen liegt der Frauenanteil im höheren Dienst in Bayern regelmäßig bei fast 50 % 51 . Im Rechtspflegedienst sind ca. 40 % weiblich, im mittleren Dienst und bei den Justizangestellten beträgt die Frauenquote ungefähr 75 %. Die Justiz in Bayern ist damit ein frauenfreundlicher Arbeitgeber. Frauen52 schöpfen vermehrt die gesetzlichen Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung aus, die ihrerseits ausgedehnt werden müssen53. Um den Teilzeitkräften bessere Berufsaussichten zu bieten und damit motivierend zu wirken, müssen ihnen auch verbesserte Beförderungschancen eingeräumt werden54. 7. Fragen der

Personalentwicklung

Hinter diesem Stichwort verbirgt sich eine Vielzahl von Einzelthemen. Personalentwicklung ist heute nicht mehr rein dem Zufall, der Eigeninitiative oder einem geneigten Vorgesetzten überlassen, sondern wird operativ, planmäßig angegangen. Personalentwicklungspläne, Mitarbeitergespräche, Fortbildungsveranstaltungen, Leistungsanreize, Beurteilungen und dergleichen mehr sind die Instrumente, die den Beschäftigten weiterführen können, im öffentlichen Dienst letztlich hin zur Beförderung. Dies sollen deshalb auch die Stichworte für eine kurze Betrachtung sein. Personalentwicklungspläne, die in der freien Wirtschaft mit den dort herrschenden freieren Gestaltungsmöglichkeiten weit verbreitet sind, 51 Aufgrund der Situation in der Vergangenheit führt dies zu einem Frauenanteil im richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Dienst von derzeit knapp 25 % . 52

Neuerdings auch verstärkt Männer.

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Diskutiert wird derzeit eine voraussetzungslose Teilzeit.

F ü r die bayerische Justiz wird derzeit geprüft, in welchen Leitungs- und Führungsaufgaben ohne Probleme auch Teilzeitkräfte eingesetzt werden können. 54

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stecken in der Staatsverwaltung noch in den Kinderschuhen55. Im richterlichen Dienst wird das Planen zudem erschwert durch die richterliche Unabhängigkeit. Damit ist nicht gemeint, daß die richterliche Unabhängigkeit den Richter vor verpflichtenden Lenkungsmaßnahmen schützt56; dies ist eine Selbstverständlichkeit, eine zwangsweise durch autoritären Führungsstil bewirkte Personalentwicklung wäre im übrigen auch kaum von Erfolg gekrönt, erst durch den kooperativen Führungsstil wird Personalplanung zur motivierenden Chance57. Gemeint ist vielmehr, daß eine Richterkarriere58 oft nur schwer vorbereitet werden kann, da das Präsidium dem Richter in richterlicher Unabhängigkeit ohne Begründung nach freiem Ermessen59 eine andere Geschäftsaufgabe zuteilen kann. Ob aber gleich gesetzgeberischer Handelsbedarf besteht, muß die Praxis erweisen; Erfahrungen mit den Präsidien bei der Beförderung zum Richter am Amtsgericht als weiteren aufsichtführenden Richter, der neben den Verwaltungsaufgaben als Abteilungsleiter auch ein Richterreferat ausübt, zeigen, daß insoweit die Zusammenarbeit zwischen Justizverwaltung und Gerichtspräsidium reibungslos ist60. Was Mitarbeitergespräche anbelangt, liegt manches aufgrund der Struktur der Dienstaufsicht im argen. Die derzeit meist repressive, Mißstände ahndende Dienstaufsicht muß künftig verstärkt zu einer aktivunterstützenden Dienstaufsicht werden, die durch persönliches Gespräch und gemeinsame Erarbeitung von Lösungen (Zielvorgaben) motiviert. In der Privatindustrie werden Mitarbeitergespräche regelmäßig von einem Vorgesetzten geführt, der nur wenige Mitarbeiter unter sich hat. In der Justiz sind die Einheiten, die einem Dienstvorgesetzten unterstehen, mitunter unübersichtlich groß. Zunächst müßte der Kreis derjenigen, die zur Führung eines solchen Gesprächs befugt sind, erheblich vergrößert werden61. Durch das dadurch erreichte Näheverhältnis zwischen den Gesprächsteilnehmern wird mehr Vertrauen er-

Zur „Personalentwicklung in der Justiz" vgl. Hofe, D Ö V 1994, 377 ff. Darauf scheint Hofe aaO, S. 380 den Schwerpunkt zu legen. Besonders eng Piorreck, DRiZ 1990, 115, für den Personalführung hierarchische Personalbeeinflussung ist und deshalb zur richterlichen Unabhängigkeit in einem unauflöslichen Widerspruch steht. " Schäuble, DRiZ 1995, 157; Hofe, aaO, S. 380. s ' Anders ist es für eine Verwaltungstätigkeit, zu der theoretisch sogar eine Verpflichtung besteht, § 42 Abs. 2 DRiG. 59 Gummer in Zöller, ZPO, 14. Aufl., § 21e GVG Rdn. 6. 60 Fälle, daß ein Richter Abteilungsleiter einer Abteilung wird, das Präsidium ihm aber eine ganz andere geartete Richteraufgabe zuweist, sind dem Verf. nicht bekannt. " Neben dem Gerichtspräsidenten müßten dessen Vertreter, weitere Richter der Verwaltung, evtl. die Senats- und Kammervorsitzenden, Abteilungsleiter beim Amtsgericht zu Mitarbeitergesprächen mit Richtern, Geschäftsleiter und Gruppenleiter für das übrige Personal sowie entsprechende Personen bei der Staatsanwaltschaft herangezogen werden. 55

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zeugt, das sich günstig auf die Motivation auswirkt. Um diese Gespräche sinnvoll zu gestalten, ist eine entsprechende Schulung der Gesprächsführer unabdingbar62. Eine Form des Mitarbeitergesprächs ist das Beurteilungsgespräch anläßlich der Eröffnung einer Beurteilung. Daß dies bei einem regelmäßig vierjährigen Beurteilungszeitraum nicht ausreicht, liegt auf der Hand, ganz zu schweigen, daß ein Gespräch nach erfolgter Beurteilung wenig bringt. Viele Gerichtspräsidenten sind deshalb im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu übergegangen, entsprechende Gespräche, die besonders motivierend wirken können, auch zwischen den Zeiten zu führen. Diese Gedanken leiten zwanglos über zum Thema „Beurteilung Eine sinnvolle Personalentwicklung, die letztlich einmünden soll in die Personalförderung von künftigen Leistungsträgern durch Beförderung, setzt Beurteilung von Qualifikation voraus. Dem Beurteilungswesen kommt daher eine besonders verantwortungsvolle, zentrale Bedeutung zu. Die Privatwirtschaft, die sich dieses Themas in der letzten Zeit intensiv angenommen hat, hat dazu zum Teil ausgefeilte Verfahren entwickelt63. Im öffentlichen Dienst mag das Mitarbeitergespräch - wie bereits festgestellt - noch verbesserungsbedürftig sein, das Beurteilungswesen selbst ist in Gesetzen und Richtlinien umfassend und sinnvoll ausgestaltet. Problem dürfte aber auch hier sein, daß der Beurteiler einem zu großen Kreis an zu Beurteilenden gegenübersteht, so daß es an der Transparenz für die Mitarbeiter mangelt. In Zukunft sollten deshalb mehr Beurteiler aus dem Kreis der unmittelbaren Vorgesetzten eingesetzt werden, was aber eine weitere intensive Anleitung erfordert, um der hohen Verantwortung gerecht zu werden, über einen anderen Menschen ein sachlich richtiges und zutreffendes, objektives, fundiertes und gesichertes, beratendes und förderndes und vor allem gerechtes und vergleichbares Werturteil abgeben zu können64. Für eine erfolgreiche Personalentwicklung wird man in Zukunft verstärkt das Augenmerk auf Führungseigenschaften legen müssen. Allgemein wird es darauf ankom-

62 Dazu gibt es in Bayern seit vielen Jahren bereits eine eintägige Veranstaltung, die ein Oberlandesgerichtspräsident abhält. Inzwischen wird in mehreren Führungsseminaren das Thema ausführlich behandelt. 65 Meist wird nach intensiver Vorbereitung vom unmittelbaren Vorgesetzten ein Beurteilungskonzept entworfen, dem Arbeitnehmer zur Uberprüfung übergeben, ein Gesprächstermin vereinbart, bei dem der Arbeitnehmer Ergänzungen vorschlagen kann und die Beurteilung mit künftiger Zielvereinbarung festgelegt wird. " Ein gewisser Rückschritt liegt m. E. darin, daß der Bund und teilweise auch die Länder dazu übergegangen sind, die Mitarbeiter durch Vergabe von Noten zu beurteilen, was zwar die schnelle Vergleichbarkeit fördern mag, der Qualifizierung eines erwachsenden Menschen aber unwürdig erscheint.

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men, einen Zusammenhang zwischen Beurteilung, Mitarbeiterführung durch Zielvereinbarungen, Mitarbeitergespräch und Personalentwicklung herzustellen. Oben, bei den Fragen zur Ausbildung, wurde bereits darauf hingewiesen, daß die freie Wirtschaft auf ein lebenslanges Lernen setzt, das sie durch Job-Rotation, Job-Enlargement und durch praxisorientierte interne und externe Fortbildungsmaßnahmen zu verwirklichen sucht. Daß sie dafür viel Geld investiert, ist bekannt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Staat hier noch einen erheblichen Nachholbedarf hat65. Auch die Justiz ist dabei, ihr Fortbildungsprogramm umzustellen und verstärkt Themen zur Sozial- statt zur Fachkompetenz anzubieten. Zur Personalentwicklung gehört es auch, gezielter als bisher die Bediensteten für Fortbildungsmaßnahmen auszuwählen und zur Teilnahme zu motivieren. Im übrigen ist Job-Rotation in Bayern im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern seit alters her durch den bereits erwähnten obligatorischen Wechsel zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht eingeführt. Um die Tätigkeit in den Service-Einheiten zu fördern und das Schreibpersonal an die Mischfunktionen heranzuführen, wird bei verschiedenen bayerischen Amtsgerichten und Staatsanwaltschaften ein behördeninternes, arbeitsplatzbezogenes Qualifizierungsprogramm für Angestellte durchgeführt66. Während die Personalentwicklung in der freien Wirtschaft zu einem abgestuften System von monetären Leistungsanreizen führt, steht dem öffentlichen Dienst bislang nur das Instrument der Beförderung als Leistungsanreiz zur Verfügung. Inzwischen wird aber auch für die öffentliche Verwaltung ein ganzes System von einmaligen Leistungsprämien und befristeten Leistungszulagen für erheblich über dem Durchschnitt liegende Leistungen diskutiert67; darüber hinaus sind neue Beförderungsmodelle im Gespräch (Erprobungszeit vor der Beförderung, Erprobungszeit im Beförderungsamt und - besonders umstritten - die Vergabe von Führungsaufgaben auf Zeit). Es ist für diese Abhandlung nicht erforderlich, auf Einzelheiten einzugehen, zumal die Diskussion im Fluß ist, es genügt der Appell, daß sich die Justiz als modernes Dienstleistungsunternehmen den genannten Leistungsanreizen durch Prämien und Zulagen trotz mancher Bedenken, was die praktische Verwirklichung anbelangt68, nicht entziehen sollte. Die Leistung der Richter 65 In den letzten Jahren wurde auf diesem Gebiet bereits viel in die Wege geleitet; so haben mehrere Länder zentrale Verwaltungsakademien eingerichtet, z. B. Bayern die Akademie für Verwaltungsmanagement. 66 Siehe Fn. 35. " Summer, Leistungsanreize/Unleistungssanktionen, ZBR 1995, 125 ff. 68 Besonders vehement sprechen sich die Richtervertretungen gegen die diskutierten Leistungsanreize aus, weil sie einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit befürchten.

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wird in dienstlichen Beurteilungen bewertet, die Rechtsprechung der Dienstgerichte hat dabei die Grenzen, die die richterliche Unabhängigkeit setzt, aufgezeigt. Warum soll es nicht gelingen, Kriterien für monetäre Leistungsanreize zu entwickeln, die die richterliche Unabhängigkeit ebenfalls wahren 69 ? Es mag Richter zu zusätzlichen Tätigkeiten ohne Entlastung im Richteramt wenig motivieren, wenn sie erleben müssen, daß andere Justizbedienstete in vergleichbarer Situation finanzielle Anreize erhalten. Anders verhält es sich dagegen mit der Vergabe von Führungsfunktionen auf Zeit. Eine Anwendung im Richterrecht wird von niemandem angenommen, und das ist gut so, ist doch der Gedanke einer Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit jedenfalls nicht ganz abwegig 70 . 8.

Öffentlichkeitsarbeit

Alle Bemühungen um ein modernes Dienstleistungsunternehmen nützen aber nichts, wenn nicht eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit die Justiz aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm oder besser „Paragraphenturm" herausbringt. Viel ist hier an Informationsarbeit in den letzten Jahren bereits geschehen. Durch Broschüren, „Tage der offenen Tür" und insbesondere durch eine intensive, vorausschauende Pressearbeit versucht die Justiz sich der Öffentlichkeit positiv darzustellen. Solange aber der Richter - wie meist in Kinderzeichnungen bei Malwettbewerben - immer nur als der strafende „schwarze Mann" hingestellt wird, solange die Öffentlichkeit, die Medien und teilweise auch die Exekutive nicht davor zurückschrecken, die Entscheidungen der Justiz mit oft völlig überzogener, unsachlicher Kritik zu kommentieren, obwohl eigentlich die komplizierten, unübersichtlichen Gesetze zu schelten wären, ist noch viel zu tun. Letztlich kann auch jeder, der in der Justiz tätig ist, seinen Beitrag leisten, ist es doch häufig eine negative Grundstimmung in der Justiz selbst, die die Medien aufgreifen. Wie man aber positiv als Vorbild wirken kann, das hat der Jubilar in seinem Berufsleben vorgelebt.

" Zu Fragen der Richterbesoldung vgl. BVerfGE 12, 81 ff; 26, 79 ff; 55, 372 ff. Diese Entscheidungen schließen m. E. monetäre Anreize f ü r besondere Leistungen außerhalb des Kernbereichs richterlicher Tätigkeit nicht aus. 70 Unbedenklich dürften dagegen die oben erwähnten ErprobungsmodeWc sein. Viele Länder praktizieren die Erprobung im Wege der Abordnung an das Oberlandesgericht bereits seit langem; vgl. Schnellenbach, N J W 1989, 2230. Bayern verzichtet auf diese Methode, die im praktischen Vollzug gelegentlich als problematisch angesehen wird, weil es aufgrund des obligatorischen Laufbahnwechsels hierfür keine Notwendigkeit sieht.

Einige Bemerkungen zum Stellenwert und zur Funktion juristischer Kommentare PETER RIESS

Der Jubilar, dem sich der Autor dieses Beitrags seit einem Vierteljahrhundert in verschiedenen amtlichen Funktionen freundschaftlich verbunden weiß, hat sich darauf eingelassen, die Mitherausgeberschaft in der 11. Auflage eines der angesehensten und des zweifellos umfangreichsten Kommentars zum Strafgesetzbuch, des Leipziger Kommentars, zu übernehmen. Ich widme ihm deshalb keinen Beitrag, der sich mit Sachfragen des Rechts befaßt, sondern will über juristische Kommentare reflektieren. Dabei ist keine vollständige Abhandlung über dieses Phänomen beabsichtigt. Es sollen nur einige Gedanken mehr bruchstückartig geäußert werden, und zwar nicht nur - aber auch - aus der Benutzerperspektive, sondern auch aus dem Nachdenken als Herausgeber und Mitautor eines Kommentars heraus. I. Der Kommentar hat als eine spezifische - und vielleicht auch spezifisch deutsche - Literaturform in der breiten Palette des rechtswissenschaftlichen Schrifttums eine fast überraschende Zählebigkeit bewahrt, wenn nicht eine Renaissance erfahren. Auf nahezu allen Rechtsgebieten erscheinen nicht nur traditionelle Kommentare in Neuauflagen, sondern es gesellen sich zu den herkömmlichen und vertrauten Namen neue hinzu. Trotz der teilweise nicht besonders benutzerfreundlichen Preisgestaltung ist eine entsprechende Nachfrage zu unterstellen. Selbstverständlich ist das nicht. Denn es läßt sich fragen, ob die tatsächlichen und rechtstheoretischen Grundlagen, auf denen das heute noch vielfach als Leitbild maßgebende Kommentarbild beruht, noch uneingeschränkt gelten. Unter den großen Universallexika, die sonst das Thema eher stiefmütterlich behandeln, definiert unter dem Gesamtstichwort „Kommentar" und dem Unterstichwort „Recht" die Brockhaus-Enzyklopädie unseren Gegenstand wie folgt: „Die fortlaufende, streng der Abfolge der einzelnen Vorschriften folgende Erläuterung (Kommentierung) eines Gesetzes in der Form einer die Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen zergliedernd behandelnden Interpretation, wobei nicht nur die Meinung des Kommentators dargestellt, sondern i. d. R. auch auf die Meinung der übrigen Fachliteratur und der Rechtsprechung Bezug genommen wird."

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Auf den ersten Blick und vordergründig wird das in seinem Kern auch unter Juristen konsensfähig sein. Bei weiterem Nachdenken entstehen Zweifel, ob es die aktuellen Erscheinungsformen und Funktionen des Kommentars noch voll widerspiegelt. Es segelt heute wohl einiges unter der Flagge Kommentar, das dieser Definition nicht entspricht, und ob der Kommentar sich an der in ihr enthaltenen Beschreibung seiner Eigenarten orientiert und begrenzt, und ob er das überhaupt noch kann und darf, sollte kritisch hinterfragt werden. Vor allem seit Mitte der achtziger Jahre ist der „Kommentar" zum Gegenstand selbständiger Behandlung im Schrifttum geworden, so etwa durch die Beiträge von Flame (JZ 1985, 470), Henckel (JZ 1984, 966), H. P. Westermann (Festschr. für Rebmann, 1989 S. 105) und Zöllner (JuS 1984, 730). Ausgelöst worden ist die damalige Debatte wohl durch das als Programm gemeinte Erscheinen der Reihe der „Alternativ-Kommentare"; sie zentriert sich auf die sog. „Großen Kommentare" und hier wiederum auf das Bürgerliche Recht, und sie hat als thematischen Schwerpunkt die Rolle der Kommentare für die systematische Rechtswissenschaft. Welche Existenzberechtigung der Kommentar als rechtswissenschaftliche Literaturform überhaupt noch hat, ist in der seinerzeitigen Diskussion kaum erörtert worden, und seine Funktion als fast selbstverständliches Arbeitshilfsmittel für die juristische Praxis hat in ihr eine eher untergeordnete Rolle gespielt.

II. Nach wie vor und unabhängig von Informationsträgern neuer Technologien dürfte im Rechtsleben die Literaturform rechtswissenschaftlicher Kommentar angebbare Bedürfnisse der Praxis und der Wissenschaft jedenfalls besser befriedigen als alternative Informationsvermittlungsformen und vielleicht ist die Erkenntnis von deren beschränkter Leistungsfähigkeit ein Grund mit für ihre Renaissance. Die entscheidende Besonderheit des Kommentars, die ihn von anderen Formen des rechtswissenschaftlichen Schrifttums trennt, ist seine an einem Gesetzestext orientierte erläuternde Funktion; der Kommentar ist wesensmäßig davon abhängig, daß es einen verbindlichen Primärtext gibt, der interpretiert werden muß und interpretiert werden kann. Er verspricht darüber hinaus nur dann einen Nutzen, wenn der Gegenstand seiner Erläuterungen, also der Gesetzestext, die Rechtslage einigermaßen zutreffend und vollständig erfaßt; er ist deshalb gedanklich und als prägendes Leitbild mit der Idee der umfassenden Kodifikation einer Materie verbunden. Nun haben sich insoweit seit der Zeit der großen Kodifikationen von 1870 bis nach der Jahrhundertwende die Grundlagen deutlich verändert.

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Das Gesetz und insbesondere die Kodifikation hat an Verbindlichkeit verloren. Rechtsinstitute haben sich praeter, wenn nicht contra legem entwickelt; die Generalklauseln - und sie nicht allein - sind Einfallstor für richterrechtliche Entwicklungen geworden; das Verfassungsrecht durchdringt allgegenwärtig die Rechtsanwendung, und der Gesetzgeber handelt nicht mehr kodifikations- und systembewußt, sondern systemübergreifend und problemorientiert. Wenn dennoch, wie die Realität zeigt, die Literaturform des Kommentars ihre Wirkungskraft behalten hat, dann mag das entweder daran liegen, daß aus der Benutzerperspektive diese Probleme keine Bedeutung haben, oder der Kommentar ist dem dank seiner Grundkonzeption gewachsen, was vielleicht auch zu einer veränderten Erscheinungsform führt. Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden, und zwar einmal in Ansätzen einer Phänomenologie der heutigen Kommentarlandschaft (dazu unter III.) und dann mit einigen Hinweisen zur Funktion des Kommentars und die dabei zu berücksichtigenden Probleme (dazu unter IV.) bis hin zum Versuch einer Bilanz (dazu unter V.). III. Genau genommen gibt es in der juristischen Literatur den Kommentar als eine einheitliche Erscheinungsform nicht, sondern es haben sich seit langem unterschiedliche Kommentarformen herausgebildet. Hier sollen nur einige Einteilungsgesichtspunkte erörtert werden. 1. Der Kommentarumfang, bezogen auf die Menge des zu erläuternden Gesetzesstoffes, beeinflußt auch Charakter und Funktion des Kommentars. Als Antipoden erscheinen die auch als „Markenzeichen" und „Reihenbezeichnung" verwendeten Begriffe des Kurzkommentars und des Großkommentars. Manche der heute als Großkommentar erscheinenden Werke mit einer weit zurückreichenden Tradition haben freilich als Kurzkommentare begonnen, und der gegenwärtige Kurzkommentar übertrifft nicht selten durch drucktechnische Maßnahmen und weitgehende Verwendung von Abkürzungen von seinem Informationsgehalt her das, was früher als Kommentar mittleren Umfangs erschienen wäre. Die 1. Auflage von 1877 des heutigen Großkommentars Löwe-Rosenberg zur StPO mit ihren rund 1000 Seiten (in großzügigem Druck) wird heute vom Kurzkommentar „Kleinknecht/Meyer-Goßner" mit seinen 1850 Seiten um ein mehrfaches übertroffen und bei diesem wiederum ist die erste Nachkriegsauflage mit ihren kleinformatigen 760 Seiten weniger als 'A so umfangreich wie die neueste. Das Phänomen ist auf allen Rechtsgebieten nachweisbar. Es ist das fast unausweisliche Schicksal von Kommentaren, von Auflage zu Auflage zu wachsen. Ausnahmen, die in

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erstaunlicher Weise Umfangdisziplin bewahren, sind selten; sie bestätigen die generelle Wachstumsregel. Dieses Wachstumsphänomen hängt fast unvermeidbar mit der Grundkonzeption des Kommentars zusammen, das jeweilige Recht möglichst vollständig zu erläutern, und mit dem Schmerz des Autors, sich von Vorhandenem zu trennen. Der Kurzkommentar wird regelmäßig durch einen oder wenige Autoren verfaßt; der Großkommentar neigt in immer stärkerem Maße zu einem großen Autorenteam mit gelegentlich hierarchischen Strukturen mit Gesamtherausgebern, Bandredaktoren und Einzelautoren. Liegen die Probleme des Großkommentars mit seinem Autorenteam darin, die Einheitlichkeit in Form und Inhalt noch notdürftig aufrechtzuerhalten, und zu verhindern, daß aus dem Kommentar ein Sammelband von Monographien wird, so sind die Leiden des (oder der wenigen) Autoren eines Kurzkommentars von anderer Art. Er muß alles lesen, verstehen und verarbeiten, ohne alles bringen zu können; er muß auswählen, verdichten, ohne unvollständig zu sein, und er kann - von wenigen Schwerpunkten abgesehen - Kritik und eigene Meinung allenfalls in verkürzten und damit der Gefahr des Mißverständnisses ausgesetzten Andeutungen durchklingen lassen, während der Autor kleinerer Teilbereiche eines Großkommentars sich gemächlich und nicht selten auf seinem Spezialgebiet entfalten kann. Er muß darüber hinaus sein Manuskript jederzeit auf dem laufenden halten, denn der Lohn für diese entsagungsvolle Arbeit ist in der Regel die von einem Großkommentar nicht zu leistende Aktualität und damit die Chance, durch entsprechende Akzentsetzung auf die Rechtspraxis einzuwirken, die durch den preisbedingt höheren Verbreitungsgrad kleinerer Kommentare gesteigert wird. In der Alltagspraxis der Rechtspflege dürfte gerade der Kurzkommentar das am meisten verwendete und damit auch einflußreichste Arbeitshilfsmittel darstellen, auch wenn er aus der Perspektive der Rechtswissenschaft ein wenig belächelt werden mag. Dem Großkommentar kommen andere Eigenschaften zu. Vollständige Dokumentation von Rechtsprechung und Schrifttum ist angesichts der zunehmenden Veröffentlichungsflut freilich oft mehr ein Versprechen als eine einlösbare Zusage. Aber der Autor im Großkommentar hat die Möglichkeit, die Probleme deutlicher zu entfalten, die Darstellung lesbarer, weil ausführlicher zu gestalten, über die vorrangige Information über das Aktuelle hinaus die Entwicklungslinien deutlich zu machen und eigene Lösungen zu artikulieren. Durch Einleitungen, Vorbemerkungen, Darstellung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, Schrifttumsverzeichnisse, die in die Nähe von Spezialbibliographien geraten, und manches andere mehr, kann der Großkommentar einen Service bieten, der über die bloße Erläuterung des Gesetzestexte weit hinausgeht.

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Dieses Bild vom Großkommentar mit einem den Gesetzestext fast erdrückenden Uberangebot an Informationen läßt sich an Äußerlichkeiten illustrieren; ich wähle als wohl repräsentatives Beispiel die die Einleitung und die StPO enthaltenden Bände 1 bis 5 der 24. Auflage des Löwe-Rosenberg (1984 bis 1989). Von den 6193 Seiten dieses Kommentars umfaßt die Wiedergabe des Gesetzestextes mit 122 Seiten knapp 2 % . Die Schrifttumsverzeichnisse machen mit 103 Seiten etwa 1,6 % aus; in ihnen sind - über die im allgemeinen Literaturverzeichnis enthaltenen Standardwerke hinaus und Mehrfachnachweise mitgerechnet 5630 Monographien und Aufsätze nachgewiesen; das läuft fast auf eine Bibliographie des Strafprozeßrechts hinaus. 90 Seiten, also etwa 1,4 % umfassen die jeweils den einzelnen Vorschriften vorangestellten Entstehungsgeschichten und 169 Seiten, also 2,7 % die den Erläuterungen vorangestellten Übersichten. Die Erläuterungen selbst umfassen 5770 Seiten, also rund 90 % des Gesamtumfangs. Davon entfallen 670 Seiten (knapp 12 % ) auf Einleitung und Vorbemerkungen. Setzt man, was in diesem Kommentar etwa zutrifft, den Anteil der Fußnoten mit dem Anteil der Dokumentation von Rechtsprechung und Schrifttum gleich, so umfaßt diese Dokumentation rund 1090 Seiten, also etwa 17 % des Gesamtumfangs und 19 % der eigentlichen Kommentierung. Eine Hochrechnung ergibt, daß darin im einzelnen 60 000 Rechtsprechungs- und 65 000 Schrifttumsnachweise enthalten sind. Ein Leiden des Autors im Großkommentar besteht darin, daß man das ihm Mögliche von ihm auch erwartet, und daß er an diesem Anspruch gemessen wird. Er ist gezwungen, in die „Wirren" mancher Urteile und Aufsätze tiefer einzudringen und „Farbe zu bekennen". Sein weiteres Leiden liegt darin, daß er die Rechtspraxis und die Rechtsanwendung jedenfalls im Tagesgeschäft weniger leicht erreicht. Sein Leiden ist ferner darin begründet, daß seine Worte in einer Zeit hektischer Gesetzgebung allzu schnell veralten, was, wenn es evident wird, die Zitierfreudigkeit der Benutzer massiv reduzieren kann. Insgesamt haben sich in den gängigen Rechtsgebieten die Kommentare unterschiedlichen Umfangs (Kurzkommentar, Kommentar mittleren Umfangs, Großkommentar) zu selbständigen Unterformen von unterschiedlichem Erscheinungsbild und verschiedenen Funktionen entwickelt. Sie befriedigen verschiedenartige Nachfragebedürfnisse und stellen unterschiedliche Anforderungen an die Verfasser. 2. Auch vom Adressatenkreis her hat sich das Bild des Kommentars im Laufe der Zeit ausdifferenziert; die Bezeichnung als „Kommentar der Praxis", als Lehrkommentar oder als Studienkommentar bringt dies gelegentlich zum Ausdruck, ist aber nicht immer entscheidend. Dominierend dürfte nach wie vor und unabhängig von solchen Bezeichnungen

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der Universalkommentar sein, der als Zielgruppen sowohl die tägliche Rechtsanwendungspraxis bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft als auch die universitäre Rechtswissenschaft und schließlich Studenten und Referendare im Auge hat. Schwerpunktsetzungen sind dabei vorstellbar. Bei starker Betonung des Praxisbezuges werden Rechtsprechungsnachweise und handhabbare Anwendungsregeln oft auf größeres Interesse stoßen als die Behandlung von Grundsatzfragen und weit aus ausholenden systematischen Erläuterungen. Der vorwiegend für das juristische Studium bestimmte Kommentar wird im Detailreichtum seiner Einzelinformationen zurückhaltender sein dürfen (und müssen) als der für die tägliche praktische Rechtsanwendung bestimmte. 3. Zum Begriff des Universalkommentars gehört, was die Präsentation und Auswahl des Materials angeht, eine Darstellungsform, die den Problemstand bei den einzelnen Erläuterungen unter Rückgriff sowohl auf Schrifttum als auch auf Rechtsprechung möglichst mit Hilfe einer eigenen Systematisierung aufarbeitet. Dem steht der reine Rechtsprechungskommentar bis hin zum bloßen Leitsatzkommentar gegenüber; Erscheinungsformen, die die Kommentarlandschaft eher abrunden als bestimmen. 4. Kommentarbezeichnungen können mehr sein als erläuternder Zusatz, sie enthalten manchmal Programm, Versprechen oder Drohung. a) Der Begriff Alternativkommentar und sein Verhältnis zu den sogleich als (pejorativer) Gegenbegriff gebildeten affirmativen Kommentaren ist alsbald in Rezensionen und gesonderten Abhandlungen so ausführlich behandelt worden, daß ich darauf nicht näher einzugehen brauche. Nicht selten ist in den Rezensionen mit einer gewissen Befriedigung festgestellt worden, so alternativ sei das jeweilige Werk nun doch wieder nicht, und insgesamt muß sich auch diese spezifische Kommentargattung, wenn die programmatische Aussage ernst genommen wird, den Hinweis gefallen lassen, daß sie nur auf dem Hintergrund des Universalkommentars, demgegenüber sie sich als alternativ absetzen kann, ihre Existenz rechtfertigen kann. Der Universalkommentar, dem die Darstellung und erforderlichenfalls Erarbeitung alternativer Positionen nicht fremd sein muß und nicht fremd sein sollte, bleibt auch insoweit die Grundlage. b) Mit dem Begriff des systematischen Kommentars ist wohl der Anspruch verbunden, in besonderem Ausmaß die Fülle des Materials systematisch zu ordnen und unter übergreifenden Prinzipien zu würdigen. Freilich scheint mir dies inzwischen nach der Uberwindung des sogenannten Notenkommentars ein Standard zu sein, dem sich die größeren Universalkommentare auch dann verpflichtet fühlen, wenn sie auf diese

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Bezeichnung verzichten, und freilich entbindet das Attribut nicht von der Notwendigkeit, weil das dem Kommentar wesenseigen sein dürfte, die vorgegebene Gesetzessystematik (auch mit ihren Mängeln und Schwächen) den Erläuterungen zugrundezulegen, wenn auch gegebenenfalls zu kritisieren. Innerhalb eines Kommentars entfaltet sich der selbständige systematische Aspekt vielfach außerhalb der Einzelkommentierung in den Einleitungen oder in den Vorbemerkungen zu einzelnen Gesetzesabschnitten. Eine völlige Ubereinstimmung darüber, was in die Einzelerläuterungen einerseits und in die Einleitung und die Vorbemerkungen andererseits gehört, läßt sich unter den Kommentatoren nicht feststellen. Eher mit Skepsis sind allerdings die gelegentlichen Versuche zu betrachten, Einleitungen als „Quasi-Lehrbuch" selbständig zu publizieren, weil sie dem Benutzer eine Vollständigkeit suggerieren, die sie nicht haben - und nicht haben dürfen. Denn Einleitungen und Vorbemerkungen sollten in einem Kommentar immer nur Ergänzungen der den Schwerpunkt bildenden Einzelerläuterung sein. Lehrbuch und Kommentar sind unterschiedliche juristische Literaturformen, die sich nicht zu einem Mischtyp vereinen lassen. Ausnahmen gibt es, wie etwa der Teil I des Lehrkommentars von Eb. Schmidt zur StPO; es sind personengebundene Meisterleistungen, die sich kaum kopieren lassen. In der Entwicklungsgeschichte von Kommentaren ist allerdings ein deutlicher Zuwachs dieser allgemeineren Partien unverkennbar, und er dürfte seine Erklärung mit darin finden, daß mit dem Alterungsprozeß von Kodifikationen die Notwendigkeit steigt, neuere übergreifende Erkenntnisse sozusagen vor die Klammer zu ziehen und daß - eine Domäne der Großkommentare - auch das Bedürfnis wächst, die vielfach auslegungsrelevante Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte eines Gesetzeswerkes offenzulegen. In Einleitungen läßt sich auch dort, wo das Gesetz hierauf, wie vielfach im Verfahrensrecht verzichtet, so etwas wie ein allgemeiner Teil des zu erläuternden Rechtsgebietes jedenfalls ansatzweise skizzieren. c) Eine andere, nicht ganz unproblematische Sonderform ist der Referentenkommentar, also die Erläuterung des (neuen) Gesetzes aus der Feder derjenigen, die es entworfen, im Gesetzgebungsverfahren betreut und seinen Inhalt mehr oder minder beeinflußt haben. Der Referentenkommentar hat den Vorteil, daß er Insiderwissen für die Auslegung verwenden kann, freilich verbunden mit der Problematik, daß der Verfasser seine Intention weitgehend unkontrollierbar als die Auffassung des Gesetzgebers verbreiten kann und dies dazu noch mit einem erheblichen zeitlichen Vorsprung. Referentenkommentare sollten deshalb, obwohl vielfach von den aktuell sachkundigsten Kennern der Materie geschrie-

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ben, mit einer gewissen Vorsicht und nur zurückhaltender Gläubigkeit benutzt werden. Nicht selten freilich wird aus dem Referentenkommentar im Laufe der Zeit und der weiteren Auflagen als Standardkommentar ein angesehener Universalkommentar der Materie. 5. N u r scheinbar eine Äußerlichkeit ist betroffen, wenn es um die Erscheinensform des Kommentars geht, also darum, wie bei der zunehmenden Gesetzgebungs- und Veröffentlichungsflut dem Anspruch entsprochen werden kann, das jeweils geltende Recht unter aktueller Verarbeitung von Literatur und Rechtsprechung zu erläutern. Auch insoweit unterliegen die meist einbändigen Kurzkommentare, die das Problem durch eine (keineswegs unproblematische) schnelle Auflagenfolge zu lösen versuchen, anderen Bedingungen als die notwendigerweise auf einen deutlich längeren Auflagenrhythmus und einen Mehrjahreszeitraum für jede Auflage abstellenden Großkommentare. Bei diesen gibt es drei miteinander kombinierbare Grundtypen, die alle nicht problemfrei sind: das lieferungsweise Erscheinen, den Nachtragsband und die Loseblattausgabe. Für die klassischen Rechtsgebiete (im Steuerrecht mögen die Dinge anders liegen) liegt der strukturelle Nachteil der Loseblattausgabe nicht zuletzt darin, daß sie den Rückgriff auf die längerfristige Entwicklung und die unterschiedliche Problembehandlung wesentlich erschwert und damit einen fast ahistorischen Charakter hat.

IV. Funktion und Stellenwert der Kommentare im Rechtsleben müssen wohl differenziert gesehen werden. 1. Festzuhalten ist zunächst: der Kommentar ist - unabhängig von seiner Typisierung als Kurz- oder Großkommentar, als Praktikerkommentar oder Lehrkommentar, als systematischer oder alternativer Kommentar - wie das Lehrbuch ein fachjuristisches, von Juristen für Juristen geschriebenes Werk; er wendet sich als Arbeitshilfsmittel an den Fachjuristen, nicht an den Laien. Dessen Versuch, sich seiner zu bedienen, kann nur zur Verwirrung, Enttäuschung und Irritation führen. Der Kommentar erläutert nicht den Gesetzeswortlaut in verständlicher F o r m für den Nichtjuristen, sondern er differenziert ihn für den Fachgenossen weiter aus, und zwar nicht nur da, wo die Kommentierung von Generalklauseln, wie etwa § 242 B G B , notwendigerweise zum Entstehen von monographischen Darstellungen führen muß, weil es eigentlich keinen erläuterbaren Gesetzeswortlaut gibt, sondern auch dort, wo dieser ein größeres Maß an inhaltlicher Bestimmtheit aufweist. Kommentare sind, wie

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Monographien, juristische Insichgeschäfte und sie sind wohl in aller Regel stärker als Lehrbücher zur Benutzung durch den „fertigen" Juristen konzipiert. 2. a) Innerhalb der juristischen Fachliteratur ist, jedenfalls beim Kommentar zu einer größeren Kodifikation, nicht zu einem kleineren Einzelgesetz, nicht die Monographie oder der Aufsatz das Vergleichsobjekt, sondern das Lehr- oder Studienbuch. Insoweit erscheinen mir als wichtige Unterschiede folgende hervorhebenswert: Der stärkere Praxisbezug auch des den theoretischen und systematischen Zusammenhang nicht vernachlässigenden größeren Universalkommentars, die größere Informationsmenge auch des kleineren Kommentars gegenüber dem umfangreicheren Lehrbuch und das stärkere Zurücktreten des Kommentars bei der Darstellung der eigenen Meinung gegenüber dem Lehrbuch. b) Besonders über den letzten Punkt wird man freilich streiten können. Er ist mit der Frage verbunden, ob man den Kommentar schwerpunktmäßig als Dienstleistung für die juristische Kollegenschaft oder als Instrument zur Entfaltung der eigenen Auffassung ansehen will. Hier neige ich mindestens für den Universalkommentar der ersten Deutung zu. Der Griff zum Kommentar ist primär dadurch motiviert, daß der Leser, der ja als Fachjurist idealtypisch gleichermaßen sachkundig ist, sich möglichst schnell über den Sachstand der ihn interessierenden Fragen unterrichten will, den er - ebenfalls idealtypisch - mit erheblichem Aufwand auch durch eigenes Literatur- und Rechtsprechungsstudium ermitteln könnte. Das darf allerdings nicht als Plädoyer für die bloße kompilatorische Aneinanderreihung von Fundstellen und Lesefrüchten mißverstanden werden, sondern es verlangt vom Kommentator, und darin liegt wohl seine wichtigste Aufgabe, auch die systematische Zusammenfassung und eigene Deutung, und es ist auch mit der zu nutzenden Möglichkeit verbunden, die eigene (affirmative oder alternative) Auffassung darzustellen und zu begründen. Es ist ebensowenig zu verkennen, daß der Anspruch auf Unterrichtung über den Streitstand auch an das Lehrbuch gerichtet werden kann und daß dieses ihm vielfach entspricht. Dennoch meine ich, daß die Tätigkeit als Kommentator, jedenfalls beim Universalkommentar, insoweit ein größeres Maß an Zurückhaltung erfordert als bei der lehrbuchmäßigen Darstellung oder gar bei der monographischen Behandlung. c) Freilich scheint mir, daß sich - historisch betrachtet - eine zunehmende Konvergenz in Stil und Inhalt der - jedenfalls größeren - Kommentare und der Lehrbücher feststellen läßt. Einerseits nimmt wohl im Lehrbuchbereich tendenziell (nicht in allen Fällen) der Informationscharakter gegenüber dem Entfalten eines eigenen Systems und der Entwicklung einer individuellen Meinung zu; andererseits gewinnen manche

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Passagen der Kommentare, was die Rezensionen teils zustimmend, teils kritisch vermerken, lehrbuchartigen Charakter. Es hängt dies vielleicht, wenn man diesem Befund folgen will, auch damit zusammen, daß das Gesetz als der eigentliche Bezugspunkt des Kommentars gegenüber seiner positivistischen und auf umfassende Kodifikation angelegten Geisteshaltung an Verbindlichkeit eingebüßt hat und der Kommentar deshalb mehr vom bloßen Erläutern des Textes übergehen muß zu seiner Ausdeutung, Fortbildung und Relativierung. Es hängt möglicherweise aber auch damit zusammen, daß die Zahl der Autoren in Großkommentaren in den letzten Jahrzehnten erheblich angewachsen ist, mit der Folge, daß sich der jeweilige Spezialist seines Rechtsgebietes, der es monographisch, lehrbuchmäßig und kommentatorisch behandelt, sehr viel weniger bereit findet, dem spezifischen Stil des Kommentars als Literaturgattung zu entsprechen. Anders als bei den Kurzkommentaren, bei denen der die Eigenarten des Kommentarstils beherrschende und ihr souverän entsprechende Autor wohl noch die Regel ist, wird der sich dieser spezifischen Aufgabe verbunden fühlende „Kommentator" in den Großkommentaren mehr und mehr durch den fachlich orientierten Spezialisten verdrängt, der sein Spezialthema in allen literarischen Darstellungsformen bearbeitet und dabei auch kommentiert.

3. a) Ob man den Kommentar nun in erster Linie als Dienstleistung für die juristischen Fachgenossen oder als Mittel zur Entfaltung eigener Auffassung verstehen will, Meinungsfilter und Meinungsbildner bleibt er in jedem Fall. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß der Weg des Aufsatzes, und gleiches gilt für Monographien und in ähnlicher Form für Entscheidungen, in erster Linie über das Medium des Kommentars in die Praxis der Rechtsanwendung führt. Was in die Standardkommentare, jedenfalls als Auffassung, besser noch als Quellenangabe, keinen Eingang findet, hat wenig Chancen, von den praktizierenden Juristen zur Kenntnis genommen zu werden. In abgeschwächter Form gilt dies auch für Lehrbücher, die zwar für die Einarbeitung in ein ganzes Rechtsgebiet, aber eher seltener für die Lösung einer Einzelfrage in Rate gezogen zu werden pflegen. Der Kommentar ist unverändert das klassische Medium zur komprimierten Vermittlung des Meinungsstandes. b) Wegen dieser unmittelbar auf die Rechtsanwendung durchschlagenden Filterfunktion und der meinungsbildenden Wirkung des Kommentars trägt der Kommentator eine hohe und schwer erfüllbare Verantwortung schon bei der scheinbar eher simplen Aufgabe, über den Sach- und Streitstand zuverlässig zu unterrichten. Denn ein Kommentar ist keine juristische Datenbank - und wird deshalb auch durch das Vordringen dieses Systems der Informationsvermittlung nicht überflüssig - , sondern er soll von seiner Grundanlage her gewichten, auswerten und systemati-

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sieren; und er soll auch diejenigen Äußerungen, Meinungen und Zusammenhänge herausfinden, die bei dem mehr formalen äußerlichen Zugang durch Deskriptoren für juristische Datenbanken nicht auffindbar wären. Dabei muß der Kommentator in Rechnung stellen, daß die Praxis das zu glauben pflegt, was der Standardkommentar behauptet, und sich der Gefahr bewußt sein, daß eine problematische Mindermeinung ohne relativierenden Zusatz nicht unerhebliche Irritationen auslösen kann. c) Das Vordringen von juristischen Informationssystemen in automatisierter Form kann allerdings den Kommentar - in Grenzen - von der früher durch ihn allein leistbaren Aufgabe entlasten, Rechtsprechung und Literatur möglichst vollständig zu dokumentieren, ein Versprechen, das sich nicht selten noch in den Vorworten von Großkommentaren findet, das aber angesichts einer nicht mehr beherrschbaren Veröffentlichungsflut schwerlich einzulösen ist. Freilich sind auch hier dem Verweis auf Datenbanken Grenzen gesetzt, weil die Dokumentation im Sinne des Kommentars mehr und anderes darzustellen hat, als die bloße Aneinanderreihung von Fundstellen. 4. Meinungsbildende Funktion ist also dem Kommentar immanent und sie ist wohl auch für viele Benutzer ein wesentliches Motiv für den Griff zum Kommentar. Das muß auch der Autor berücksichtigen, der sich primär der Dienstleistungsfunktion des Kommentars verpflichtet fühlt. Eine Lösung anzubieten, gehört mit zu den zu erbringenden Dienstleistungen. Aber es sollte deutlich werden, worauf dieses Lösungsangebot beruht, daß es nicht verbindlich ist und was dagegen eingewendet wird oder eingewendet werden kann. Eine meinungsmonopolisierende Funktion hat der Kommentar nicht und eine meinungsmanipulierende Funktion, etwa durch Auswahl und Präsentation des Meinungsstandes, wäre ein Mißbrauch dieser Literaturgattung. Diese Gefahr ist freilich gering, da es, anders als im juristischen Schrifttum der D D R , das Phänomen des offiziellen, amtlich genehmigten Kommentars mit Ausschließlichkeitsanspruch nicht gibt - und nicht geben darf. Auch sind für alle größeren Rechtsgebiete mehrere aktuelle Kommentare vorhanden, die in Zweifelsfragen selten einer Meinung zu sein pflegen, und auch der ein Rechtsgebiet beherrschende Kommentar muß sich der Beurteilung durch fachkundige Rezensenten stellen. Dennoch könnte es auch Aufgabe der juristischen Ausbildung sein, zu verdeutlichen, daß der juristische Kommentar nur ein Hilfsmittel bei der Gewinnung der eigenen Auffassung ist. Auch der Umgang mit juristischen Kommentaren muß erlernt werden, und die Verlockung in der täglichen Praxis, statt des Gesetzespositivismus einem „Kommentarpositivismus" zu erliegen, ist nicht gering; sie kann allerdings dem Kommentator ebensowenig angelastet werden wie dieser Literaturgattung insgesamt.

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5. Durch den Vorrang des Dienstleistungscharakters nicht veranlaßt, sondern insoweit eher kontraproduktiv, wohl aber durch die vorgegebene Arbeitsweise des Kommentarautors befördert ist ein eher retrospektiver Charakter des Inhalts. Denn die Anwendungsprobleme des geltenden Rechts entstehen bei der einzelfall- und gesetzesorientierten Arbeitsweise, die zu unterstützen der Kommentar stärker als das Lehrbuch berufen ist, primär und zunächst in der Rechtspraxis. Auf den Schreibtisch des Kommentators kommen sie vielfach erst dann, wenn sie in der juristischen Fachliteratur ihren Niederschlag gefunden haben. Die Konsequenz ist oft, daß bei neu auftauchenden Zweifelsfragen der Griff zum Kommentar vergeblich bleibt. Es gehört, vor allem bei der Erläuterung neuer oder neu gefaßter Vorschriften, mit zu den Aufgaben des Autors, hier prognostische Fähigkeiten zu entwickeln und die Anwendungsschwierigkeiten vorauszuahnen, an die vorher niemand gedacht hat - oder die im Gesetzgebungsverfahren zugedeckt worden sind. Dazu mag es sinnvoll sein, sich gedanklich darauf zu konzentrieren, was man bei der Rechtsanwendung alles falsch machen kann und dem vorzubeugen versuchen. 6. Das umgekehrte, aber damit verbundene Problem steckt in der N o t wendigkeit, den Kommentar in späteren Auflagen zu „entrümpeln". Das hat mehrere Aspekte. Einmal geht es darum, dasjenige kürzer zu behandeln, was bei der Erstkommentierung fälschlich als ein potentielles Problem erahnt worden ist, zweitens sollten ältere Streitfragen, bei denen sich inzwischen eine allgemeine Meinung durchgesetzt hat, nicht in der gleichen Breite behandelt werden wie aktuelle Probleme. Die Verfasser von Kurzkommentaren sind schon von ihren Umfangvorgaben her zu derartigen „Entrümpelungsarbeiten" eher gezwungen, als die Autoren älterer Großkommentare, bei denen der Umfangszuwachs auch hierauf beruht. Nun ist es bei diesen allerdings auch nicht damit getan, solche veralteten Problemdarstellungen ersatzlos zu tilgen; die G r o ß kommentare der klassischen Rechtsgebiete erfüllen ihre Dokumentation auch dadurch, daß sie dem wissenschaftlich orientierten Benutzer den früheren Streitstand nachweisen. D o c h kann dem hieran Interessierten wegen der Einzelheiten wohl auch der Gang in die Bibliothek zugemutet werden; und dafür reicht in der jeweils aktuellen Aufgabe eine Kurzzusammenfassung unter Verweisung auf die Vorauflagen aus. Loseblattwerken allerdings ist diese Lösung verschlossen.

V. 1. Das alles sind eher theoretische Reflektionen, die Autoren von K o m mentaren umtreiben oder die von der systematisierenden Rechtswissen-

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schaft artikuliert werden, f ü r die der Kommentar nur eine literarische Quelle neben der Monographie und dem Lehrbuch darstellt. In der Alltagspraxis der Rechtspflege, also im anwaltlichen Rechtsberatungsgeschäft ebenso wie in der täglichen Rechtsprechung, in dieser vielfach vielleicht noch abgesehen vom Blick in die eigene Rechtsprechungskartei des Senates, ist der Kommentar regelmäßig das erste und vielfach auch das einzige literarische Hilfsmittel für die tägliche Arbeit. Dies gilt in besonderem Maße für Rechtsgebiete, die von der Rechtswissenschaft eher stiefmütterlich behandelt werden. Der Kommentar hat den Vorteil, Textausgabe und Entscheidungshilfe miteinander zu kombinieren, und es spricht manches dafür, daß auch die durch ihn eröffnete Möglichkeit, dem Rechtsanwender das Denken zumindest zu erleichtern, wenn nicht abzunehmen, seine Faszination mit ausmacht. Kommentarpositivismus ist eine nicht nur theoretische Möglichkeit, die die ungebrochene Beliebtheit dieser Literaturgattung in der Alltagsarbeit mit erklären kann. 2. Genau das macht aber - so meine ich - die Problematik des Kommentierens in unserer Zeit aus und es wirft die Frage auf, ob man eigentlich noch mit gutem Gewissen Kommentare schreiben kann. Man kann mit H. P. Westermann „von der unerträglichen Leichtigkeit des Kommentierens" sprechen, wobei der skeptische Unterton dieses Diktums nicht überhört werden darf. Man muß aber auch die „unerträgliche Verantwortlichkeit" des Kommentators bedenken, der unter dem Risiko steht, zu einem Quasigesetzgeber zu werden. Man muß auch sehen, daß der Kommentator Mitverantwortung trägt für die vielfach beklagte zunehmende Ausdifferenzierung und Kompliziertheit unserer Rechtsordnung. D e m läßt sich zwar entgegenhalten, daß die Kommentaraufgabe auch und gerade darin besteht, die unübersehbar werdende Kasuistik von Rechtsprechung und Literatur zu systematisieren und damit das Recht zu vereinfachen. Aber das geschieht u m den Preis von neuen Rechtsinstituten, Denkfiguren und Zusammenfassungen, die ihrerseits den Charakter von quasigesetzlichen N o r m e n gewinnen können und vielfach gewinnen. 3. Einem Kommentarverbot nach dem Vorbild des preußischen A L R redet heute zu Recht niemand das Wort, und der Kommentar ist noch weniger als der Richter im montesquieuschen Sinne bloß der Mund, der das Gesetz ausspricht, keineswegs nur une façon nulle. Er ist vielfach, ob er will oder nicht, der Gestalter des Gesetzes mit unmittelbarer Wirkung auf die Rechtspraxis. Ein bißchen schlechtes Gewissen gehört, wie mir scheint, zur Tätigkeit des Kommentierens stets dazu. Dabei mag offenbleiben, ob der Kommentator die zunehmende und gefährliche Überkompliziertheit unserer Rechtsordnung mit herbeiführt oder ob er sie nur dokumentiert.

Aufbauhilfe für die Justiz in den neuen Ländern, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg für Sachsen WOLFGANG SCHAFFER

A. Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 wurden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland 1 . Von diesem Zeitpunkt an galt weitgehend - nach näherer Maßgabe des Einigungsvertrages - in den neuen Ländern das Bundesrecht der Bundesrepublik Deutschland 2 und damit ein neues, rechtsstaatliches Rechtssystem. Zur praktischen Durchführung der Rechtsvereinheitlichung mußte umgehend eine rechtsstaatliche Rechtspflege in den neuen Ländern aufgebaut werden. Dazu war die Hilfe der Justiz der alten Bundesländer nötig. Die Angehörigen aller Oberlandesgerichtsbezirke in den alten Bundesländern haben sich an diesem Aufbau mit außergewöhnlichem Einsatz und in vielfältiger Weise beteiligt. Ohne ihre Hilfe wären der Beginn und die Verfestigung einer rechtsstaatlichen Rechtspflege in den neuen Bundesländern innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums nicht möglich gewesen. In der Literatur wird vornehmlich aus der Sicht der neuen Länder über die Entwicklung und den Stand des Aufbaus der Justiz 3 und nur vereinzelt aus der Sicht der alten Länder über Art und Weise der kon1 Kapitel I, Art. 1 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands Einigungsvertrag - vom 31. August 1990, BGBl II, 889. 2 Kapitel III, Art. 8 des Einigungsvertrags. 3 Bräutigam, Der Aufbau des Rechtswesens in Brandenburg, NJW 1993, 2501; Heitmann, Justizpraktische und justizpolitische Probleme der Deutschen Einheit - eine Zwischenbilanz für den Freistaat Sachsen, NJW 1992, 2177; Heitmann, Der Aufbau des Rechtswesens in Sachsen, NJW 1993, 2507; Helmrich, Der Aufbau des Rechtswesens in Mecklenburg-Vorpommern, NJW 1993, 2505; Jentsch, Der Aufbau des Rechtswesens in Thüringen, NJW, 1993, 2513; Limbach, Der Aufbau des Rechtswesens in den östlichen Bezirken Berlins, NJW 1993, 2499; Remmers, Der Aufbau des Rechtswesens in SachsenAnhalt, NJW 1993, 2511; Winterstein, Das Gerichtsvollzieherwesen in Sachsen nach zwei Jahren Aufbauhilfe, DGVZ 1993, 21.

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kreten Hilfsmaßnahmen berichtet 4 . Eine größere zusammenfassende Darstellung der Hilfsmaßnahmen fehlt. Sie wäre nicht nur von zeitgeschichtlichem Interesse, sondern auch von praktischer Bedeutung. Die Erfahrungen, die bei der Unterstützung gewonnen wurden, können nämlich auch für die Hilfen von Interesse sein, die in zunehmendem Maße den osteuropäischen Ländern beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz geleistet werden. Im folgenden soll am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg gezeigt werden, welche konkreten Hilfen Justizangehörige der Gerichte dieses Bezirks für die Justiz in Sachsen geleistet haben.

B. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung erklärten sich die Länder Baden-Württemberg und Bayern gegenüber Sachsen bereit, Aufbauhilfe für die Justiz zu leisten. 1. Partnerschaften Als erste Maßnahme der Aufbauhilfe beauftragte das Bayerische Staatsministerium der Justiz im Dezember 1990 die Präsidenten der drei bayerischen Oberlandesgerichte, Partnerschaften zwischen den Gerichten ihres Bezirks und Gerichten in Sachsen einzurichten. Der Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg sollte dabei hauptsächlich für den Bezirk Leipzig zuständig sein. Das Oberlandesgericht Nürnberg richtete daraufhin Anfang Januar 1991 folgende Partnerschaften zwischen Amtsgerichten des Bezirks und Kreisgerichten im Bezirk Leipzig ein: Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht Amtsgericht

Nürnberg Amberg Schwandorf Erlangen Schwabach Cham Regensburg Straubing Tirschenreuth Weiden i. d. Opf.

-

Kreisgericht Leipzig-Stadt Kreisgericht Delitzsch Kreisgericht Eilenburg Kreisgericht Leipzig-Land Kreisgericht Grimma Kreisgericht Döbeln Kreisgerichte Borna und Geithain Kreisgericht Torgau Kreisgericht Oschatz Kreisgericht Würzen

4 Isermann, Niedersächsische Aufbauhilfe für die Justiz in Sachsen-Anhalt, DRiZ 1992, 257; Alm-Merk, Aufbauhilfe für die Justiz in Sachsen-Anhalt, NJ 1993, 14.

Aufbauhilfe f ü r die Justiz in den neuen Ländern

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Hinzu kamen noch zwei Partnerschaften mit Kreisgerichten im Bezirk Chemnitz: Amtsgericht Fürth i. Bay. Amtsgericht Hersbruck

Kreisgericht Stollberg Kreisgericht Annaberg.

Die Partnerschaftshilfe oblag zwar vorrangig den Amtsgerichten. Es wurden aber auch die übergeordneten Landgerichte eingebunden, die bei der Bewältigung besonderer Probleme helfen sollten. Das Landgericht Nürnberg-Fürth schließlich wurde zum Partnergericht für das Bezirksgericht Leipzig bestellt. Ziel der Partnerschaftshilfe war es, Hilfestellungen für die tägliche Praxis der Rechtspflege zu geben, wobei insbesondere folgende Maßnahmen in Betracht kamen: - Hospitationen von Bediensteten der Kreisgerichte bei den Partnergerichten - Einführung von Geschäftsverteilungsplänen, - Überlassung von Gesetzestexten und Literatur, - Überlassung von Vordrucken und Mustersammlungen, - Organisation der Geschäftsstellen, - Hilfen im EDV-Bereich, - Information über das Beschaffungs- und Haushaltswesen, - Aktenführung, - Ausbildung, Schulungen der sächsischen Justizangehörigen. Mit der Umsetzung dieser Vorgaben wurde umgehend begonnen. Die Präsidenten, Direktoren und Geschäftsleiter der Land- und Amtsgerichte nahmen Kontakte mit den Partnergerichten in Sachsen auf, um deren Bedürfnisse und Wünsche festzustellen. Anschließend kam es zu einer Vielzahl von Besuchen von Gerichtspräsidenten, Direktoren, Richtern, Geschäftsleitern, gehobenen und mittleren Beamten sowie Angestellten zu ihren Partnergerichten, wo sie vor Ort über Tage, z. T. über Wochen hinweg Hilfen aller Art leisteten. Umgekehrt besuchte eine große Zahl von Beschäftigten der sächsischen Gerichte ihre Partnergerichte, bei denen sie bis zu mehreren Wochen verblieben, um sich mit dem Dienstbetrieb vertraut zu machen. Dabei zeigten sie viel Idealismus und Einsatzbereitschaft; manche sächsischen Bediensteten reisten ganz oder teilweise auf eigene Kosten, weil es Probleme mit der Anordnung von Dienstreisen gab. Vielfach nahmen Richter oder Beamte der hiesigen Gerichte die sächsischen Bediensteten privat bei sich auf. Über die Durchführung der Partnerschaften wurde regelmäßig berichtet. Dadurch und auf Dienstbesprechungen mit allen Präsidenten der Gerichte und Direktoren der Amtsgerichte konnten die Erfahrungen aller beteiligten Gerichte ausgetauscht werden.

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Bis Mitte 1995 waren insgesamt rund 750 kurz- und langfristige Betreuungsbesuche bei den Partnergerichten in Sachsen durch Justizangehörige des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg zu verzeichnen. Die Partnerschaften haben sich in der Praxis vorzüglich bewährt. Auf diese Weise konnten rasche, unkonventionelle und wirkungsvolle Hilfen vor Ort geleistet werden. Seit etwa Ende 1994 sind die partnerschaftlichen Hilfsmaßnahmen weitgehend ausgelaufen; angesichts des guten Aufbaustands der Gerichte in Sachsen werden sie kaum mehr benötigt. Selbstverständlich wird jedoch bei Bedarf im Einzelfall weiterhin partnerschaftliche Hilfe geleistet. 2. Sachliche Hilfen, EDV a) Ab Anfang 1991 erhielten die Gerichte im Bezirk Leipzig zahlreiche sachliche Hilfsmittel. Bei den sächsischen Partnergerichten gab es keine Texte mit dem neu anzuwendenden Recht, keine Entscheidungssammlungen, keine Literatur. Es fehlten Vordrucke und Entscheidungshilfen für die richterliche und nichtrichterliche Alltagsarbeit. Alle Gerichte des Oberlandesgerichtsbezirks stellten entbehrliche Texte und Literatur zur Verfügung und legten Vordrucksammlungen sowie Mustermappen für die richterliche und nichtrichterliche Arbeit an. Allein bis März 1991 wurden rund 500 Bücher, 600 Vordrucksammlungen und Mustermappen sowie Zehntausende von Vordrucken den sächsischen Gerichten zur Verfügung gestellt. Den Transport übernahmen zum Teil sächsische, zum Teil Justizangehörige von hier. Großer Bedarf bestand bei den sächsischen Gerichten an Büromöbeln, Schreibmaschinen und Büromaterial bis hin zu Bleistiften, Kohlepapier und Radiergummis. Auch diese Wünsche konnten weitgehend erfüllt werden. So wurden bis März 1991 in großer Zahl Stühle, Schreibtische, Schreibmaschinentische, Schränke, 1 komplette Sitzungssaaleinrichtung, Schreibmaschinen, Diktiergeräte sowie weiteres Büromaterial nach Sachsen geschafft. Den Transport führten Soldaten des in Nürnberg stationierten Bataillons der Bundeswehr mit insgesamt sechs Lastkraftwagen durch. Kopiergeräte gab es in der Anfangszeit bei den sächsischen Gerichten fast nirgends. Rechtsanwälte reichten ihre Schriftsätze nur einfach und ohne Abschriften für die Parteien bei den sächsischen Gerichten ein, weil sie kein Kohlepapier hatten; die Schreibkräfte der Gerichte mußten wegen der fehlenden Kopiergeräte die Schriftsätze abschreiben und so die erforderlichen Abschriften selbst fertigen. Sobald wie möglich wurde daher jedem Partnergericht ein Kopiergerät zur Verfügung gestellt.

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Nach einigen Monaten benötigten die Partnergerichte keine weitere Sachmittelhilfe mehr. Das sächsische Staatsministerium der Justiz konnte ihnen ausreichend Geld für Neuausstattungen zur Verfügung stellen. Die „alten" Möbel aus Nürnberg haben jedoch noch längere Zeit ihren Dienst getan. b) Die Gerichte im Bezirk Leipzig erhielten schon verhältnismäßig kurze Zeit nach der Wiedervereinigung die Mittel für die Einführung einer leistungsstarken elektronischen Datenverarbeitung. Bei der Auswahl und Beschaffung der Geräte und der Programme sowie bei den Installations- und Schulungsmaßnahmen wirkten Angehörige der ADV-Stelle des Oberlandesgerichts Nürnberg entscheidend mit und leisteten in großem Umfang Hilfen vor Ort. Personelle Unterstützung in diesem Bereich erhielt der Bezirk Leipzig vor allem auch durch einen Richter des Landgerichts Nürnberg-Fürth, der in der Zeit vom 1. Juni bis 31. Dezember 1992 dorthin abgeordnet und als Leiter der ADVStelle für die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung zuständig war. 3. Abordnungen Schon sehr frühzeitig zeigte sich, daß Partnerschaften und sachliche Hilfen allein nicht ausreichten, um möglichst schnell eine wirksame rechtsstaatliche Justiz in Sachsen aufzubauen. Es war darüber hinaus erforderlich, erfahrene Richter und Beamte für längere Zeit, im Regelfall für die Dauer von mehr als einem Jahr, nach Sachsen abzuordnen. Bereits mit Wirkung vom 10. Dezember 1990 entsandte das Bayer. Staatsministerium der Justiz deshalb den Direktor eines zum Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg gehörenden Amtsgerichts nach Leipzig, wo er mit den Aufgaben des Präsidenten des Bezirksgerichts Leipzig betraut und mit dem Aufbau der Justiz im Bezirk Leipzig beauftragt wurde. In der ersten Hälfte des Jahres 1991 wurden die bisherigen sächsischen Gerichtsvorstände aus ihren Amtern entlassen. Richter aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg übernahmen an ihrer Stelle die Leitung der Gerichte im Bezirk Leipzig. Die Suche nach Richtern, die mit einer Abordnung von mindestens 13 Monaten nach Sachsen einverstanden war, erwies sich erfreulicherweise unproblematisch. Eine große Zahl von Richtern erklärte sich trotz fehlender Erfahrung in Justizverwaltungsangelegenheiten spontan bereit, auf Zeit die Leitung eines Kreisgerichts - später Amtsgerichts - in Sachsen zu übernehmen. Vorwiegend bis Mitte 1991, in wenigen Fällen einige Monate später, wurden Richter aus dem hiesigen Bezirk mit den Aufgaben des Direktors folgender Kreisgerichte betraut:

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- im Bezirk Leipzig: Borna, Geithain, Delitzsch, Oschatz, Torgau;

Döbeln,

Eilenburg,

Leipzig-Land,

- im Bezirk Chemnitz: Annaberg, Marienberg, Auerbach, Klingenthal, Brand-Erbisdorf, Freiberg. Der Präsident des Bezirksgerichts Leipzig und die Direktoren der Kreisgerichte im Bezirk Leipzig benötigten für die Aufbauarbeit Geschäftsleiter, Rechtspfleger, mittlere Beamte und auch Angestellte aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg. Die Personalwünsche konnten in kurzer Zeit fast alle erfüllt werden. So waren im Jahr 1991 insgesamt längerfristig 70 Beamte des höheren und gehobenen Dienstes sowie 57 Beamte des mittleren Dienstes und Justizangestellte bei Gerichten in Sachsen tätig. Im Jahr 1992 waren es 74 Beamte des höheren und gehobenen Dienstes sowie 40 des mittleren Dienstes und Justizangestellte. Die Abordnungen waren dazu bestimmt, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten mit dem Ziel, die Unterstützung so bald wie möglich entbehrlich zu machen. Dies gelang auch verhältnismäßig rasch. Die Partnergerichte in Sachsen konnten mit der Zeit eigene Kräfte gewinnen, mit denen der Geschäftsablauf im nichtrichterlichen Bereich ohne Hilfen aus dem Bezirk Nürnberg bewältigt wurde. Zu nennen sind hier in erster Linie die in dreimonatigen Schnellkursen für einzelne Rechtspflegergebiete ausgebildeten sächsischen Bereichsrechtspfleger. Demgemäß sank die Zahl der abgeordneten Beamten aus dem höheren und gehobenen Dienst im Jahr 1993 auf 36, im Jahr 1994 auf 12 und anfangs 1995 auf Null. Im mittleren Dienst und bei den Justizangestellten sank die Zahl im Jahr 1993 auf neun, im Jahr 1994 auf vier und Anfang 1995 ebenfalls auf Null. Anders ist die Situation im richterlichen Dienst. Hier werden weiterhin erfahrene Richter als Direktoren der Amtsgerichte, als Vorsitzende der Kammern von Landgerichten und für das Oberlandesgericht Dresden benötigt, ferner für das Sächsische Staatsministerium der Justiz für Aufgaben der Justizverwaltung. Auch bei den Staatsanwaltschaften in Sachsen ist noch immer personelle Hilfe aus dem Westen erforderlich. Zum 1. August 1995 sind noch 21 Richter aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg für jeweils mindestens 13 Monate nach Sachsen abgeordnet. 45 Richter, die längerfristig, in einigen Fällen für mehrere Jahre nach Sachsen abgeordnet waren, sind inzwischen wieder zurückgekehrt. Zu den insgesamt 66 Richtern, die nach Sachsen abgeordnet waren, kommen 10 Richter, die endgültig dorthin versetzt worden sind. Die Gesamtzahl von 76 Richtern entspricht einem Anteil von knapp 16 %

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an der Zahl der 480 Richter, die im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg beschäftigt sind. Anders ausgedrückt: Etwa jeder sechste Richter des Bezirks ist oder war längerfristig in Sachsen tätig und hat seinen Anteil zum Aufbau der dortigen Rechtspflege geleistet. Hinzu kommt die große Zahl der Richter, die im Weg der Partnerschaftshilfe für kürzere Zeit in Sachsen tätig waren. 4.

Expertenprogramm

Die Gerichte im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg benötigten angesichts ihrer hohen Geschäftsbelastung Ersatz für die abgeordneten und versetzten Richter. Voraussetzung jeder Abordnung oder Versetzung war deshalb grundsätzlich, daß alsbald Ersatz zur Verfügung stand. Das Bayer. Staatsministerium der Justiz verfügte aus diesem Grund Abordnungen oder Versetzungen nur, wenn diese Frage geklärt war. Teilweise wurden Assessoren neu eingestellt, was aufgrund zusätzlich im Haushalt ausgewiesener Stellen möglich war. Da diese Stellen jedoch nicht ausreichten, mußte nach weiteren Lösungen gesucht werden. Eine solche bot das sogenannte Expertenprogramm. Dieses bedeutete, daß anstelle eines nach Sachsen abgeordneten Richters für die gleiche Zeitdauer ein sächsischer Richter vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz an ein Gericht im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg abgeordnet wurde5. Dadurch wurde zusätzlich erreicht, daß sächsische Richter in Bayern Erfahrungen für ihre weitere Tätigkeit in Sachsen sammeln und diese an ihre sächsischen Kollegen weitergeben konnten. Diese zusätzliche Auswirkung des Expertenprogramms war für die Aufbauhilfe besonders wertvoll. In der Zeit ab Oktober 1991 waren insgesamt 29 sächsische Richter an Gerichte im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg abgeordnet, wo sie regulär als Richter tätig waren und durch die bayerischen Kollegen in vielfacher Weise nachhaltig unterstützt und fortgebildet wurden. Leider läuft das Expertenprogramm derzeit aus. Neue Abordnungen sächsischer Richter läßt das Sächsische Staatsministerium der Justiz seit Anfang 1995 nicht mehr zu. Das bedeutet gleichzeitig, daß nicht mehr so viele Richter wie bisher aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg nach Sachsen abgeordnet werden können.

5 Rechtsgrundlage für die noch nicht auf Lebenszeit ernannten sächsischen Richter war § 5 des Gesetzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet vom 26. Juni 1992, BGBl 1,1147.

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5. Besondere Hilfsmaßnahmen,

Crash-Gruppen

In verschiedenen Bereichen waren besondere Hilfsmaßnahmen nötig, die über die allgemeine Aufbauhilfe hinausgingen. Dies galt vor allem für das Grundbuchwesen. Die Grundbuchämter der früheren DDR waren nicht bei den Gerichten, sondern bei den Liegenschaftsämtern angesiedelt. Die Bedeutung des Grundbuchwesens war verhältnismäßig gering. Zahlreiche notwendige Grundbucheintragungen von Eigentumsänderungen unterblieben. Zum Zeitpunkt des Beitritts der neuen Länder gaben die Grundbücher daher in weitem Umfang nicht mehr die wahren Rechtsverhältnisse wieder. Mit der Wiedervereinigung änderte sich das, und ein Ansturm ohnegleichen setzte auf die Liegenschaftsämter ein. Die Dokumentation des Grundeigentums erlangte wieder große Bedeutung. Sehr schnell wurde offenkundig, daß der Aufbau eines funktionierenden Grundbuchwesens unerläßliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung war. Schnelle und umfangreiche Hilfe war daher in diesem Bereich erforderlich. Mit dem Aufbau des Grundbuchwesens im Bezirk Leipzig wurde ein erfahrener Rechtspfleger aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg beauftragt. Er unterstützte zunächst zusammen mit anderen bayerischen Rechtspflegern und Geschäftsstellenpersonal die Liegenschaftsämter und bereitete dann die zum 1. Juli 1991 anstehende Uberführung des Grundbuchwesens auf die Gerichte vor. Anschließend plante und organisierte er mit seinem Team den Aufbau der Grundbuchämter bei den Gerichten im Bezirk Leipzig. Bei allen Grundbuchämtern waren Rechtspfleger aus dem Bezirk Nürnberg tätig, teils als ständige Mitarbeiter vor Ort, teils als von Gericht zu Gericht reisende Berater. Besonders umfangreiche Hilfe wurde für das Grundbuchamt in Leipzig geleistet, dessen Leitung inzwischen durch den aus Baden-Württemberg abgeordneten Direktor (später Präsidenten) des Amtsgerichts einem sehr fähigen Bereichsrechtspfleger aus Sachsen übertragen war. Nach Mithilfe bei der Errichtung eines Bürogebäudes in Containerbauweise und dessen Ausstattung mit modernsten Computeranlagen wurden aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg regelmäßig auf die Dauer von jeweils sechs bis acht Wochen sogenannte Crash-Gruppen, bestehend aus je zwei Rechtspflegern und einem Beamten des mittleren Dienstes als Eintragungskraft, nach Leipzig entsandt. Ständig waren mindestens zwei solcher Crash-Gruppen in Leipzig tätig. Diese Beamten arbeiteten weit über die üblichen Bürostunden hinaus, um die laufenden Grundbuchgeschäfte und die erheblichen Rückstände zu erledigen. Sie unterstützten darüber hinaus den Aufbau des Grundbuch-

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wesens im gesamten Bezirk Leipzig und halfen bei der Schulung des sächsischen Grundbuchpersonals. Erst gegen Ende des Jahres 1993 schlössen die Crash-Gruppen ihre Tätigkeit ab. Bis dahin waren insgesamt 35 Rechtspfleger und 15 Beamte des mittleren Dienstes sowie eine Justizangestellte beim Grundbuchamt Leipzig für mindestens 6 Wochen, manche auch für 12 Wochen oder länger, tätig gewesen. Weitere besondere Hilfen erbrachten Rechtspfleger im Nachlaß- und Registerwesen sowie als Bezirksrevisoren im Kostenwesen. Mit Fug und Recht kann man sagen, daß diese Aufbauphase die Stunde der Rechtspfleger war. Einen hoch einzuschätzenden Anteil an der für Sachsen geleisteten Aufbauhilfe leisteten auch die Rechtspfleger, mittleren Beamten und Angestellten, die zwar nicht selbst in Sachsen tätig waren, aber die Arbeit der nach Sachsen abgeordneten Justizangehörigen bei den Heimatgerichten miterledigen mußten. Denn im Gegensatz zu den Abordnungen von Richtern konnte für abgeordnete nichtrichterliche Justizangehörige kein Ersatz eingestellt werden. Im Hinblick auf die ausschließlich am Bedarf ausgerichtete justizinterne Ausbildung gibt es auf dem freien Arbeitsmarkt keine Rechtspfleger und keine mittleren Beamten. Die Abordnungen nach Sachsen waren deshalb nur möglich, weil die Justizangehörigen bei den Heimatgerichten bereit waren, in großem Umfang und bis zur Grenze der Belastbarkeit Mehrarbeit zu leisten. Auch dies verdient besonders hervorgehoben zu werden.

6.

Rehabilitierungskammern

Für die Bearbeitung von Rehabilitierungsangelegenheiten, will heißen: für die Uberprüfung und Aufhebung rechtsstaatswidriger Strafurteile der SBZ/DDR-Justiz vom 8. Mai 1945 bis zum 1. Juli 1990, waren vom 1. Juni 1991 bis zum 30. Juni 1995 ständig sechs Richter des oberlandesgerichts Nürnberg in Sachsen tätig. Sie bildeten zwei sogenannte „fliegende" Rehabilitierungskammern. Die Richter wäre mit je einem Drittel ihrer Arbeitskraft nach Sachsen abgeordnet, bereiteten jeweils etwa eine Woche im Monat in Sachsen die Entscheidungen durch Anhörungen, Beiziehung der Unterlagen und Beteiligung der Staatsanwaltschaft vor und erledigten anschließend die Verfahren in Nürnberg. Schreibkräfte des Oberlandesgerichts Nürnberg übernahmen die umfangreichen Schreibarbeiten; zur Vorbereitung erarbeiteten sie geeignete Computerprogramme mit Textbausteinen. Zunächst waren beide Kammern ausschließlich beim Bezirksgericht (ab 1. Januar 1993 Landgericht) Leipzig tätig. Später wurde eine Kammer beim Landgericht Chemnitz und schließlich beim Landgericht Dresden eingesetzt. In dem genannten Zeitraum konnten die beiden

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Kammern insgesamt 6450 Rehabilitierungsverfahren abschließen. Sie leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung von Unrechtsmaßnahmen des ehemaligen DDR-Staates und damit zur inneren Befriedung in den neuen Ländern. Für die Zeit vom 1. Juli 1995 bis 30. Juni 1996 ist noch ein Richter des Oberlandesgerichts Nürnberg mit der Hälfte seiner Arbeitskraft an das Landgericht Leipzig abgeordnet. Er leitet dort eine der beiden Rehabilitierungskammern, deren Beisitzer nunmehr sächsische Richter sind. 7. Fortbildung,

Ausbildung

Unmittelbar nach der Wiedervereinigung bestand bei den Richtern des Bezirks Leipzig großer Bedarf an Informationen über das neue, für sie weitgehend unbekannte Recht. Dies war Anlaß dafür, daß Richter des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg in Leipzig über nahezu alle Rechtsgebiete, die für die richterliche Tätigkeit von Bedeutung sind, Fortbildungsveranstaltungen abhielten. Die Unterrichtstätigkeit reichte vom einzelnen Vortrag bis zu mehrwöchigen Unterrichtsreihen. Die Ausbildung des juristischen Nachwuchses war unmittelbar nach der Wiedervereinigung in Sachsen noch nicht möglich. Deshalb wurden in der Zeit vom 1. November 1990 bis Juni 1993 insgesamt 28 sächsische Diplom-Juristen als Rechtspraktikanten in Nürnberg ausgebildet und zum zweiten juristischen Staatsexamen geführt. An der Ausbildung beteiligten sich vier Nürnberger Arbeitsgemeinschaftsleiter, davon einer hauptamtlich und ausschließlich. Mit einer Ausnahme konnten inzwischen alle Praktikanten die Ausbildung zum Volljuristen erfolgreich abschließen. C. Die Darstellung der seit der Wiedervereinigung geleisteten Aufbauhilfe kann nicht vollständig sein. Es würde den Umfang dieses Beitrags aber sprengen, alle geleisteten Hilfsmaßnahmen aufzuführen. Viele Einzelheiten mußten deshalb unerwähnt bleiben. Läßt man die insgesamt geleistete Hilfe gedanklich Revue passieren, stellt sich die Frage, was die Antriebskraft für die bayerischen Richter und Beamten war, so zahlreich und in großem Umfang für die Justiz in den neuen Ländern zu arbeiten, die Erschwernisse einer beruflichen Tätigkeit in Sachsen mit zum Teil ganz neuartigen Herausforderungen, das ständige Hin- und Herpendeln zwischen Heimatwohnsitz und Dienstort, die Trennung von der Familie und Freunden, das Leben in einer neuen Umgebung in zum Teil bescheidenen Unterkünften monateoder jahrelang auf sich zu nehmen.

Aufbauhilfe für die Justiz in den neuen Ländern

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Eines steht jedenfalls fest: Entgegen einem in der Öffentlichkeit zum Teil bestehenden Vorurteil waren und sind weder finanzielle Anreize noch die Aussicht auf Beförderung für die Tätigkeit in Sachsen motivierend. Niemandem wurden Versprechungen gemacht, auf niemanden wurde Druck ausgeübt. Alle abgeordneten Richter und Beamten leisteten die Aufbauhilfe freiwillig und mit großem Engagement. Beförderungen allein aufgrund der Tätigkeit in Sachsen gab es nicht. Selbstverständlich flössen aber die im Rahmen der Aufbauhilfe gezeigte Leistungs- und Einsatzbereitschaft unter schwierigen Bedingungen sowie vor allem die in der Personalführung und in der Organisation gewonnenen Erfahrungen in die dienstliche Beurteilung ein. Und selbstverständlich wurden Richter und Beamte nach ihrer Tätigkeit in Sachsen nach den allgemeinen Grundsätzen auch befördert; schließlich bestand kein Grund, sie etwa deshalb zurückzustellen, weil sonst der Anschein einer Beförderung „als Belohnung" hätte entstehen können. Eine Zahl soll das Fehlurteil korrigieren helfen: Von den insgesamt 66 Richtern, die seit der Wiedervereinigung nach Sachsen abgeordnet sind oder waren, sind bis heute, somit innerhalb von etwa viereinhalb Jahren, lediglich 11 Richter befördert worden; bei den Rechtspflegern sind die Verhältnisse ähnlich. Von einem Beförderungsautomatismus kann daher keine Rede sein. Die finanziellen Leistungen, die die abgeordnete Justizangehörigen erhalten, sind oder waren ebenfalls nicht die Antriebskraft für ihre Bereitschaft zur Tätigkeit in Sachsen. Die Übernahme der Reisekosten für die Familienheimfahrten und die Bezahlung von Trennungsgeld dienen ausschließlich der Deckung der zusätzlichen Kosten für Reisen, Unterkunft und Verpflegung; einen finziellen Anreiz stellen diese Leistungen deshalb nicht dar. Bleibt die vielgeschmähte und mit der abschätzigen Bezeichnung „Buschgeld" versehene Aufwandsentschädigung. Diese beträgt seit 1. Januar 1995 monatlich - je nach Besoldungsgruppe zwischen 750 und 1050 DM; in den Jahren zuvor war sie höher. Diese Aufwandsentschädigung soll ein Ausgleich für die erheblichen sonstigen Unkosten sein, die bei einer getrennten Haushaltsführung und bei hohen Mieten für Wohnungen in der Großstadt zwangsläufig entstehen. Einen vielleicht im Einzelfall bei sparsamer Lebensführung verbleibenden Uberschuß als Motiv für den Einsatz in Sachsen anzusehen, ist verfehlt und setzt die Leistungen der abgeordneten Justizangehörigen in der Aufbauhilfe unverdientermaßen herab. Die Antriebskraft für die Bereitschaft zum Einsatz in Sachsen war nach meiner Überzeugung ausschließlich ideeller Art. Die abgeordneten Richter und Beamten wollten beim Aufbau der Rechtspflege helfen. Viele hatten das Bestreben, sich neuen Aufgaben stellen und an der in den neuen Ländern, insbesondere in Leipzig bestehenden Aufbruch-

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Stimmung teilnehmen zu dürfen. Hinzu kam, daß die zurückkehrenden Richter und Beamten durchweg über positive Erfahrungen berichteten und dadurch viele Kollegen zu einer Tätigkeit in Sachsen motivierten. Im Ergebnis kann bei aller Zurückhaltung festgestellt werden, daß die bayerische Aufbauhilfe für die Rechtspflege in Sachsen schnell einsetzte und alsbald deutliche Erfolge zeitigte, an die die sächsische Justiz nunmehr zunehmend mit eigenen Kräften anschließen kann. Nicht vergessen werden soll dabei auch die Hilfe für den Bereich der sächsischen Staatsanwaltschaften; hervorgehoben muß ferner werden, daß das Land Baden-Württemberg sich ebenfalls in großem Umfang an der Hilfsaktion für die sächsische Justiz beteiligte. Der sächsische Staatsminister der Justiz hat die Unterstützung durch die beiden süddeutschen Länder mehrfach in der Öffentlichkeit gewürdigt und lobend hervorgehoben.

Das Bayerische Oberste Landesgericht in Geschichte und Gegenwart HORST TILCH

Auf der vorletzten Station seines reich ausgefüllten Berufslebens war Walter Odersky, dem diese Festschrift gewidmet ist, vom 1. August 1983 bis zum 31. Dezember 1987 Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Schon diese persönliche Verbindung gibt einen willkommenen Anlaß für den vorliegenden Beitrag. Aber auch unabhängig davon ist es vielleicht von Interesse, beim Blick auf den großen Bruder in Karlsruhe einige Informationen über das Bayerische Oberste Landesgericht zu erhalten, das in seinem Ursprung bis auf das Jahr 1625 zurückreicht und das mit seinem derzeitigen Aufgabenbereich einen besonderen Platz neben den 24 deutschen Oberlandesgerichten und im Bereich der zivilrechtlichen Revisionen auch neben dem Bundesgerichtshof einnimmt.1 I. Geschichtliche Entwicklung von 1625 bis 1948 1. Das entscheidende Ereignis für die gerichtliche Autonomie Bayerns fand bereits im Jahr 1620 statt.2 Kaiser Ferdinand II. verlieh Bayern aus Dankbarkeit gegenüber dem bayerischen Herzog und späteren Kurfürsten Maximilian I. das „Privilegium de non appellando illimitatum". Dieses Privileg hatte zum Inhalt, daß gegen bayerische Entscheidungen fortan keine Appellation mehr an das Reichskammergericht zulässig sein sollte. Damit besaß Bayern für sein gesamtes Territorium die ausschließliche Rechtsprechungsgewalt. 1 Dieser Beitrag stützt sich vor allem auf das Buch „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart", das mein Amtsvorgänger Dr. Gerhard Herbst im Jahr 1993 im Beck-Verlag München herausgebracht hat. Die Autoren - neben dem Herausgeber wirkten weitere 11 Mitglieder des Bayerischen Obersten Landesgerichts mit haben in diesem Werk Geschichte und Gegenwart des Gerichts unter allen nur denkbaren personellen, inhaltlichen und räumlichen Aspekten abgehandelt. Im folgenden wird dieses Werk zitiert als „Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993". Auf den Seiten 419 und 420 des Werkes finden sich zahlreiche weitere Hinweise zur Bibliographie in bezug auf das Bayerische Oberste Landesgericht. 2 Zum historischen Teil verweise ich vor allem auf Merzbacher, 350 Jahre Bayerisches Oberstes Landesgericht - Rechtshistorische Betrachtungen, und auf Kalkbrenner, Zuständigkeit, Organisation und Verfahren des Revisoriums, beide in: Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993, S. 1 ff und S. 25 ff, jeweils mit vielen weiteren Nachweisen.

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Die höchste Gerichtsinstanz, die in Bayern an die Stelle des Reichskammergerichts trat, wurde das von Maximilian I. am 18. April 1625 gegründete Revisorium. Die Errichtung eines landeseigenen obersten Revisionsgerichts traf sich um so glücklicher, als Maximilian I. kurz zuvor im Jahre 1616 mit dem großen Gesetzgebungswerk des Codex Maximilianeus eine Kodifikation des in Bayern geltenden Rechts geschaffen und damit die Wiederherstellung der Rechtseinheit Bayerns zum Abschluß gebracht hatte; diese mußte von nun an durch den neuen Gerichtshof gewahrt werden. Namen und Zuständigkeiten haben sich im Laufe der Jahrhunderte geändert, vor allem natürlich auch die Stellung der Richter nach der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Unabhängigkeit. Aber die geschichtliche Entwicklung läßt sich doch so nahtlos zurückverfolgen, daß der 18. April 1625 ohne Übertreibung als der Geburtstag des Bayerischen Obersten Landesgerichts bezeichnet werden kann. a) Die Aufgaben des Revisoriums wurden ursprünglich keinem eigenen dafür gebildeten Gericht, sondern dem Geheimen Rat zugewiesen; dieser hatte als die höchste Behörde des Landes etwa die Stellung der heutigen Staatsregierung. Das Revisorium war damit zunächst unmittelbar in der obersten Institution des Landes verankert. Freilich konnten seine Aufgaben aufgrund der starken Zunahme der Rechtsmitteleinlegungen vom Geheimen Rat auf die Dauer nicht mehr als bloßer Teilgeschäftsbereich bewältigt werden. Mit Organisationsdekret vom 23. Juli 1645 wurde deshalb innerhalb des Geheimen Rates ein besonderer Revisionsrat gebildet, dem neun Geheime Räte als Mitglieder zugeteilt wurden; diese waren von ihren sonstigen Aufgaben im Geheimen Rat freigestellt und hatten sich ausschließlich oder zumindest vorwiegend der Rechtsprechung zu widmen. Da eine behördenmäßige Trennung von Rechtsprechung und Verwaltung bis dahin unbekannt war, wurde mit dieser Regelung im Revisorium erstmals ein reines Justizkollegium an der Spitze des Landes geschaffen. Das war der Beginn der Trennung der Judikative von der Exekutive in Bayern. Der Prozeß der grundsätzlichen personellen und organisatorischen Verselbständigung des Revisoriums kann mit dem Jahr 1693 als abgeschlossen gelten, weil spätestens von diesem Jahr an feststellbar ist, daß von den Revisionsräten keiner mehr aus dem Geheimen Rat stammte und daß alle ihre Funktionen hauptberuflich versahen. Das Revisorium verfügte nunmehr in vollem Umfang über eigenes Personal, über eine eigene Leitung und über eigene Räumlichkeiten. b) Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war geprägt durch die großen Gesetzeskodifikationen des Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751, des Codex Juris Bavarici Judiciarii von 1753 und des Codex Juris Bava-

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rici Civilis von 1756.3 Diese umfassenden Neuregelungen stellten auch das Revisorium vor neue Aufgaben. Die neuen Verfahrensordnungen ermöglichten eine viel ungehindertere Rechtsmitteleinlegung, so daß die Zahl der Revisionen alsbald sprunghaft anstieg. Die Folge hiervon war eine völlige Überlastung des Gerichts mit ganz erheblichen Verlängerungen der Prozeßdauer, weil die personelle Ausstattung nicht erhöht wurde. Zu wenige Richter f ü r zu viele Fälle: Ein Problem von beklemmender und offenbar zeitloser Aktualität. 2. Sein formelles Ende fand das Revisorium am 5. November 1802. Aufgrund der umfangreichen territorialen Erwerbungen, die Bayern in den napoleonischen Kriegen gemacht hatte, erfaßte das Rechtsprechungsgebiet nun auch Schwaben und Franken. Das Revisorium wurde deshalb für eine Ubergangszeit abgelöst durch drei „Oberste Justizstellen" f ü r Altbayern, Franken und Schwaben in München, Bamberg und Ulm. Schon einige Jahre später gab es aber im Interesse der Rechtseinheit im ganzen Lande wieder eine einzige oberste Gerichtsinstanz f ü r Bayern in Form eines Oberappellationsgerichts in München. Das Organische Edikt über die Gerichtsverfassung vom 24. Juli 18084 ordnete den Instanzenzug in der Weise, daß die unterste Instanz die Stadt- und Landgerichte waren, die zweite die Appellationsgerichte und die dritte das Oberappellationsgericht. Auch die Verordnung König Maximilians I. vom 2. Februar 18175 schrieb ein Oberappellationsgericht f ü r das ganze Königreich vor. Das Gesetz vom 4. Juni 18486 enthielt Regelungen über die Aufgaben des Obersten Gerichtshofs als Kassationshof. Durch das Gesetz vom 30. März 1850 betreffend den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister 7 wurde beim Obersten Gerichtshof ein Staatsgerichtshof gebildet. 3. Auch nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 hielt Bayern daran fest, daß eine oberste Instanz seiner Landesgerichtsbarkeit bestehen bleiben müsse. Freilich mußte dafür nun durch die Reichsjustizgesetze mit ihrem für ganz Deutschland weitgehend einheitlichen Gerichtssystem ein entsprechender Gestaltungsspielraum f ü r die Länder anerkannt werden. Aufgrund der Ermächtigung in §§ 8 und 10 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz ( E G G V G ) vom 27. Ja3 Verfasser war der berühmte Kanzler und Jurist Wiguleus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr. 4 Der Text findet sich als Dokument N r . 9 bei Delius/Seitz/Hilliges, Dokumente zur Geschichte des Bayerischen Obersten Landesgerichts, in: Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993, S. 87/119 f. 5 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1817, Sp. 52. 6 Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Sp. 142. ' Dokument Nr. 12 bei Delius/Seitz/Hilliges, aaO, S. 127 ff.

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nuar 1877 (RGBl. S. 77) errichtete Bayern mit Ausführungsgesetz vom 23. Februar 1879 (GVB1. S. 273) das Oberste Landesgericht, das seither diesen Namen trägt. Der Übergang zu den Reichsjustizgesetzen in Bayern vollzog sich mit dem 1. Oktober 1879, wie Staatsminister Dr. von Fäustle am 14. Februar 1881 rückblickend vor der Kammer der Abgeordneten feststellte, „mit einer nicht genug zu rühmenden Ordnung und Promptheit, und ohne jede Geschäftsstockung".8

4. Alsbald nach der Übernahme der Reichsregierung durch die Nationalsozialisten setzten - man kann sagen: selbstverständlich - Bestrebungen ein, die im Sinne von unitarischer Zentralisation und Gleichmacherei in der Abschaffung des Bayerischen Obersten Landesgerichts gipfelten. Durch eine Verordnung des Reichsministers der Justiz über Änderungen des Gerichtswesens in Bayern vom 19. März 1935 (RGBl. S. 383) wurde das Bayerische Oberste Landesgericht mit Wirkung vom 1. April 1935 aufgehoben. Seine Zuständigkeiten gingen, soweit sie ihm aufgrund des § 8 EGGVG übertragen worden waren, auf das Reichsgericht, im übrigen auf das Oberlandesgericht München über. Reichsgericht und Oberlandesgericht München übernahmen die anhängigen Sachen in dem Stande, in dem sie sich befanden. Eine wichtige Institution der Eigenstaatlichkeit Bayerns auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit war zerschlagen. 5. Nach dem Zusammenbruch des Unrechtssystems im Jahre 1945 beschäftigte sich der Bayerische Landtag unverzüglich mit der Wiedererrichtung des Obersten Landesgerichts. Bereits im April 1947 nahm das Bayerische Staatsministerium der Justiz unter dem damaligen Justizminister Prof. Dr. Wilhelm Hoegner die Vorarbeiten dafür auf. Am 11. Mai 1948 fertigte Ministerpräsident Dr. Hans Ehard das Gesetz Nr. 124 über die Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aus; es trat am 1. Juli 1948 in Kraft. Bis zur Errichtung des Bundesgerichtshofs nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war das Bayerische Oberste Landesgericht in Bayern für ein paar Jahre wieder einmal die oberste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit. II. Aufgaben, Organisation und Besetzung des Bayerischen Obersten Landesgerichts in der Gegenwart 1. Derzeit ergeben sich die Aufgaben des Bayerischen Obersten Landesgerichts bundesrechtlich vor allem aus den §§ 8 ff EGGVG, aus den

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Zitat bei Merzbacher, aaO, S. 12.

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§§ 7 und 8 EGZPO sowie aus § 199 FGG und landesrechtlich aus Art. 11 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes und von Verfahrensgesetzen des Bundes (AGGVG; BayRS 300-1-1-J). a) Die besondere Stellung des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Gerichtssystem beruht vor allem auf seiner Zuständigkeit für Revisionen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. In bezug auf diesen Aufgabenbereich steht das Bayerische Oberste Landesgericht nicht neben, sondern als übergeordnete Rechtsmittelinstanz über den drei bayerischen Oberlandesgerichten. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist nämlich anstelle des Bundesgerichtshofs zuständig für Revisionen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, wenn für die Entscheidung im wesentlichen Rechtsvorschriften aus dem Bereich des Landesrechts in Betracht kommen. Damit die Frage der Zuständigkeit verbindlich geklärt werden kann, schreibt § 7 Abs. 2 EGZPO vor, daß die Revision in den Fällen der §§ 547, 554b und 566a ZPO ausnahmslos beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingelegt werden muß. Dieses entscheidet ohne mündliche Verhandlung endgültig über die Zuständigkeit. Seine Entscheidung darüber ist auch für den Bundesgerichtshof bindend (§ 7 Abs. 3 EGZPO). b) Auf dem Gebiete des Strafrechts ist das Bayerische Oberste Landesgericht für zahlreiche Aufgaben zuständig, die nach Bundesrecht den Oberlandesgerichten zugewiesen worden sind. In diesen Fällen tritt es im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung in ganz Bayern landesweit an die Stelle der drei bayerischen Oberlandesgerichte. Das gilt vor allem für die Entscheidung über die Revisionen in Strafsachen, für die Entscheidung über die Rechtsbeschwerden aufgrund des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und nicht zuletzt für die Verhandlung und Entscheidung in den Strafsachen nach § 120 GVG. Auf der Grundlage dieser Bestimmung ist das Bayerische Oberste Landesgericht in erster Instanz für die sogenannten Staatsschutzsachen zuständig. Die hier zu verhandelnden Strafsachen betreffen zum einen die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wie etwa Landesverrat und geheimdienstliche Agententätigkeit, zum anderen - vor allem bei den Straftaten mit terroristischem Hintergrund - die innere Sicherheit. Je nach dem Gewicht des Vorwurfs erhebt entweder die Bundesanwaltschaft oder die Staatsanwaltschaft bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht die öffentliche Klage und vertritt diese in der Hauptverhandlung. Gerade die erstinstanzlichen Verfahren aus dem terroristischen Bereich erfordern bei der Vorbereitung und bei der Durchführung nicht selten ganz beträchtlichen Aufwand, zumal sie mit nicht zu unterschätzenden Sicherheitsrisiken verbunden sind.

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c) In Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind dem Bayerischen Obersten Landesgericht die Entscheidungen über die weiteren Beschwerden zugewiesen. Auch auf diesem Gebiet dient die landesweite Konzentration einer einheitlichen Rechtsprechung auf vielen im Alltagsleben der Bürger besonders wichtigen Rechtsgebieten. Zu nennen sind aus diesem Bereich etwa das Vormundschafts- und das Betreuungsrecht, das Nachlaßrecht und das Personenstandsrecht, das Handels- und Gesellschaftsrecht, das Grundbuchrecht und das Vereinsrecht, die Anerkennung ausländischer Ehescheidungen und nicht zuletzt das Wohnungseigentumsrecht, auf dem höchstrichterliche Entscheidungen eine nicht zu unterschätzende Auswirkung auf das Zusammenleben der Menschen in vielen Wohnanlagen haben. Von Bedeutung sind ferner die Unterbringungssachen nach dem Bayerischen Unterbringungsgesetz und die Sachen nach dem Freiheitsentziehungsgesetz, hier derzeit vor allem die Fälle der Abschiebungshaft. d) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist auch zuständig für den Rechtsentscheid in Mietsachen auf der Grundlage des § 541 ZPO. Für mietrechtliche Streitigkeiten über Wohnraum sind die Amtsgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstands zuständig. Der Rechtszug endet deshalb beim Landgericht als Berufungsgericht. Das hatte in der Vergangenheit zur Folge, daß die Rechtsprechung in Wohnraummietsachen sehr uneinheitlich wurde, was sich naturgemäß nachteilig auf die Rechtssicherheit auswirkte. Diesem Mißstand versuchte der Gesetzgeber durch die Einführung des Rechtsentscheids gemäß § 541 ZPO zu begegnen. Will ein Landgericht als Berufungsgericht in einer solchen Angelegenheit von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eines Oberlandesgerichts abweichen, so hat es vorab eine Entscheidung des im Rechtszug übergeordneten Oberlandesgerichts herbeizuführen. Auf der Grundlage der Ermächtigung in § 541 Abs. 2 ZPO wurde auch insoweit im Interesse der landesweiten Rechtseinheit in Bayern die Zuständigkeit dem Bayerischen Obersten Landesgericht übertragen (§ 3 der Gerichtlichen Zuständigkeitsverordnung Justiz vom 2. Februar 1988, GVB1. S. 6 in der Fassung des § 1 Nr. 2 der Verordnung vom 16. April 1993, GVBl. S. 315). e) Es wäre reizvoll, an dieser Stelle auch inhaltlich einen Uberblick über die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts zu geben. Das würde aber im Hinblick auf den dargestellten weitgefächerten Zuständigkeitsbereich den Rahmen dieser Abhandlung überschreiten. Ein mehr oder weniger willkürliches Herausgreifen der einen oder anderen Entscheidung könnte keinen zutreffenden Gesamteindruck vermitteln. So beschränke ich mich darauf, an dieser Stelle nur auf die Rechtsprechungsübersichten von Mitgliedern des Gerichts in dem schon mehrfach

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zitierten Werk über Geschichte und Gegenwart des Bayerischen Obersten Landesgerichts zu verweisen 9 . Seit über 150 Jahren werden die Entscheidungen des Obersten Landesgerichts (vor 1879 des Oberappellationsgerichts) in einer Sammlung zusammengefaßt. Die älteste davon ist die erstmals im Jahr 1843 erschienene „Sammlung sämtlicher Plenar-Beschlüsse des Oberappellationsgerichts des Königreichs Bayern in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten". Seit der Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Jahr 1948 gibt es sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen eine Entscheidungssammlung, jeweils mit dem Zusatz: „Neue Folge". Nach einem die Entscheidungen der Jahre 1948 bis 1951 zusammenfassenden Band erscheint seit 1952 sowohl in Zivilsachen als auch in Strafsachen alljährlich ein neuer Band. 2. Das Bayerische Oberste Landesgericht entscheidet durch Senate, für deren Besetzung teils die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes für den Bundesgerichtshof, teils diejenigen für die Oberlandesgerichte gelten (vgl. § 10 Abs. 2 E G G V G ) . In der Besetzung mit fünf Richtern einschließlich des Vorsitzenden entscheidet das Gericht bei zivilrechtlichen Revisionen sowie in der Regel in der Hauptverhandlung in den erstinstanzlichen Strafsachen gemäß § 120 G V G . Im übrigen, also insbesondere bei strafrechtlichen Revisionen sowie im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit, entscheiden die Senate in der Besetzung von drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden. Wie beim Bundesgerichtshof sieht das Gesetz ( § 1 0 Abs. 1 Halbsatz 2 E G G V G ) auch für das Oberste Landesgericht vor, daß unterschiedliche Rechtsauffassungen unter den Senaten durch das Gericht selbst entschieden werden. Will ein Senat von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen, so hat er die Rechtsfrage dem Großen Senat vorzulegen. Besteht die Meinungsverschiedenheit zwischen Zivil- und Strafsenat, so entscheidet der Vereinigte Große Senat. 3. Dem Bayerischen Obersten Landesgericht gehören derzeit einschließlich des Präsidenten, des Vizepräsidenten und von fünf weiteren Senatsvorsitzenden insgesamt 40 Richter an. Voraussetzung für die Berufung an das Oberste Landesgericht ist ein erhebliches Maß an Berufsund Lebenserfahrung. Die Richterämter beim Obersten Landesgericht gehören zu den Spitzenämtern der Justiz in Bayern. Ein Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht steht besoldungsmäßig einem Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht gleich. Ein Bewerber muß sich 9 Demharter, Die Rechtsprechung der Zivilsenate, in: Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993, S. 247 ff und Brießmann/Habersack/Heusterberg, Die Rechtsprechung der Strafsenate, aaO, S. 303 ff.

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also zunächst in anderen Ämtern der Justiz herausragend bewährt haben, bevor er an das Bayerische Oberste Landesgericht berufen wird. Bei der Besetzung der Richterstellen wird sorgfältig darauf geachtet, daß Bewerber aus allen Amtern der Justiz zum Zuge kommen, damit möglichst vielseitige Berufserfahrungen in die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts eingebracht werden. Die hier tätigen Richterinnen und Richter waren vor ihrer Beförderung z. B. Richter am Oberlandesgericht, Vorsitzende Richter am Landgericht, Richter am Amtsgericht als weitere aufsichtführende Richter, Oberstaatsanwälte oder Beamte des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz. Die Möglichkeit, zum Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht befördert zu werden, hat naturgemäß in den genannten Bereichen motivierende Auswirkungen. Aufgrund des bestehenden großen Interesses gehen hier für jede freie Richterstelle regelmäßig mehr als 30 Bewerbungen ein. Bei der streng am Leistungsprinzip orientierten Auswahl ist es somit immer möglich, sehr gut qualifizierte Richterinnen und Richter zu berufen. Die meist gar nicht so wenigen Berufsjahre, die in den Ämtern der vorangegangenen Besoldungsgruppen verbracht wurden, haben freilich zur Folge, daß die Bewerber bei ihrer Berufung an das Bayerische Oberste Landesgericht in der Regel nicht mehr in ganz jungem Alter stehen; derzeit ist hier niemand jünger als 50 Jahre. Gleichwohl ist das Amt eines Richters am Bayerischen Obersten Landesgericht längst nicht immer die Endstation der beruflichen Laufbahn. Neben den Beförderungen innerhalb des Gerichts selbst gibt es von hier aus immer wieder Versetzungen in das Amt eines Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht oder auch Berufungen in das Amt eines Bundesrichters, ja sogar, wie wir gesehen haben, bis hin zum Präsidenten des Bundesgerichtshofs.

III. Das Bayerische Oberste Landesgericht als Sitz weiterer Gerichte Beim Bayerischen Obersten Landesgericht sind mehrere besondere Gerichte gebildet, die ebenfalls eine landesweite Zuständigkeit besitzen und deshalb hier ihren angemessenen Platz haben. 1. Dienstgerichtshof für Richter Gemäß Art. 56 Abs. 1 BayRiG wird bei jedem Oberlandesgericht ein Dienstgericht für die Richter des jeweiligen Bezirkes und beim Bayerischen Obersten Landesgericht der im Instanzenzug den Dienstgerichten übergeordnete Dienstgerichtshof errichtet. Seine Zuständigkeit umfaßt dienstgerichtliche Verfahren nach dem Deutschen Richtergesetz und nach dem Bayerischen Richtergesetz für Richter aller Gerichtsbarkeiten,

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für Staatsanwälte und Landesanwälte sowie kraft besonderer Verweisung für Mitglieder des Obersten Rechnungshofs. Der Dienstgerichtshof entscheidet endgültig und abschließend in Disziplinarverfahren; das Bayerische Richtergesetz hat von der in § 79 Abs. 3 DRiG vorgesehenen Möglichkeit, die Revision zum Dienstgericht des Bundes zu eröffnen, keinen Gebrauch gemacht. Die Besetzung des Dienstgerichtshofs entspricht seiner besonderen, über den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit hinausreichenden Aufgabenstellung. Er ist mit dem Vorsitzenden, der Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht sein muß, sowie mit zwei ständigen und zwei nichtständigen Mitgliedern als Beisitzern besetzt. Als ständige Mitglieder wirken jeweils ein Richter aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit und aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit; die beiden weiteren Beisitzer kommen aus dem Gerichtszweig, dem der Betroffene angehört (vgl. Art. 64 und 65 BayRiG). 2. Landesberufsgerichte Ferner sind beim Bayerischen Obersten Landesgericht das Landesberufsgericht für die Heilberufe, das Landesberufsgericht für Architekten und das Landesberufsgericht für Beratende Ingenieure errichtet. Zu den Heilberufen zählen die Arzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker, zu den Architekten auch die Innen- und Landschaftsarchitekten. In den berufsgerichtlichen Verfahren werden Verstöße gegen die in den jeweiligen Kammergesetzen und insbesondere in den Berufsordnungen festgelegten Berufspflichten verfolgt und geahndet. Die Landesberufsgerichte sind jeweils besetzt mit einem Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts als Vorsitzenden, einem oder zwei weiteren Berufsrichtern und weiteren ehrenamtlichen Richtern aus der Berufsgruppe des Betroffenen. IV. Der Präsidialrat beim Bayerischen Obersten Landesgericht Im Hinblick auf seine landesweite Zuständigkeit ist auch der Präsidialrat für die ordentliche Gerichtsbarkeit beim Bayerischen Obersten Landesgericht gebildet worden. 1. Der Präsidialrat besteht aus dem Präsidenten des Obersten Landesgerichts als Vorsitzenden und sechs von den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit gewählten Mitgliedern; drei dieser Richter müssen aus dem Oberlandesgerichtsbezirk München einschließlich des Obersten Landesgerichts kommen, zwei aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg und einer aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg. Nach Art. 35 Abs. 1 Nrn. 1 und 6 BayRiG ist der Präsidialrat insbesondere zu

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beteiligen bei jeder Übertragung eines Richteramts mit höherem Endgrundgehalt als dem eines Eingangsamts und bei einem förmlichen Disziplinarverfahren gegen einen Richter, wenn dieser die Beteiligung beantragt. 2. Das Verfahren der Beteiligung des Präsidialrats ist in den Art. 43 und 44 BayRiG im einzelnen geregelt. Der Präsidialrat nimmt gegenüber dem Staatsminister der Justiz zur persönlichen und fachlichen Eignung des von diesem für die Beförderung vorgeschlagenen Bewerbers schriftlich Stellung. Er kann sich auch zur persönlichen und fachlichen Eignung anderer Bewerber äußern und im Rahmen der Bewerbungen Gegenvorschläge unterbreiten. Trägt der Staatsminister der Justiz einem Gegenvorschlag nicht Rechnung, so kann der Präsidialrat ein Gespräch mit dem Minister verlangen. Die endgültige Entscheidung liegt beim Minister. Die Mitwirkung der Richter bei der Besetzung herausgehobener Richterämter stellt einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung einer unabhängigen, leistungsfähigen Rechtsprechung dar. Die Bedeutung des Präsidialrats ist nicht in erster Linie an der Zahl und am Ergebnis seiner Gegenvorstellungen zu messen. Entscheidend ist vielmehr, daß bereits das Gebot einer Beteiligung des Präsidialrats mit dem damit verbundenen Zwang zur überprüfbaren Begründung des Besetzungsvorschlags dazu beiträgt, sachfremden Einflüssen schon im Entscheidungsstadium vor der Beteiligung des Präsidialrats entgegenzuwirken. V. Geschichte und Gegenwart des Bayerischen Obersten Landesgerichts auf dem Gebiet der bayerischen Verfassungsgerichtsbarkeit Nicht beim Bayerischen Obersten Landesgericht angesiedelt ist der Bayerische Verfassungsgerichtshof, obwohl er nach der gemeinsamen Geschichte dieser beiden wichtigsten Institutionen bayerischer Eigenstaatlichkeit auf dem Gebiete der Rechtspflege und im Hinblick auf die landesweite Zuständigkeit der beiden Gerichte eigentlich hier seinen Platz haben sollte10. 1. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat in Bayern sehr tiefreichende Wurzeln.

a) Erste Ansätze fanden sich bereits in der am 26. Mai 1818 verkündeten Verfassung des Königreichs Bayern, und zwar bezeichnenderweise 10 Zu diesem Abschnitt verweise ich vor allem auf Gummer, Oberstes Landesgericht und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993, S. 359 ff.

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nicht in dem VIII. Titel „Von der Rechtspflege", sondern im X. Titel mit der Überschrift „Von der Gewähr der Verfassung". § 6 dieses Titels bestimmte, daß die Ständeversammlung gegen einen Minister wegen vorsätzlicher Verletzung der Staatsverfassung eine förmliche Anklage stellen konnte. Diese war zwar beim König anzubringen, der sie aber der obersten Justizstelle, also damals dem Oberappellationsgericht, zur Entscheidung zu übergeben hatte. b) Nach weiteren drei Jahrzehnten ging aus der genannten Aufgabenzuweisung ein eigener Staatsgerichtshof hervor. Diese Bezeichnung findet sich erstmals in Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes über die Ministerverantwortlichkeit vom 4. Juni 1848. Am 30. März 1850 erging das Gesetz den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister betreffend. Nach Art. 1 Satz 1 dieses Gesetzes war der Staatsgerichtshof bei dem Obersten Gerichtshof zu bilden. Das Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1877 blieb ohne Auswirkungen auf den Staatsgerichtshof, wie der Landesgesetzgeber ausdrücklich klarstellte (Art. 3 Nr. 7 des Ausführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung vom 18. August 1879, GVB1. S. 781). 2. Die nach ihrem Beratungsort benannte Bamberger Verfassung des Freistaates Bayern vom 14. August 1919 (GVB1. S. 531) begründete in § 70 die Zuständigkeit eines Staatsgerichtshofs für Ministeranklagen, Verfassungsbeschwerden und Verfassungsstreitigkeiten. Er wurde wiederum beim Bayerischen Obersten Landesgericht gebildet (§ 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof vom 11. Juni 1920, GVB1. S. 323). Der Staatsgerichtshof setzte sich zusammen aus dem Präsidenten des Obersten Landesgerichts als Vorsitzenden, aus acht Richtern, von denen drei dem Verwaltungsgerichtshof angehören mußten, und aus zehn weiteren Mitgliedern, die vom Landtag gewählt wurden. Die richterlichen Mitglieder wurden vom Präsidenten des Obersten Landesgerichts oder, soweit sie Richter des Verwaltungsgerichtshofs waren, vom Präsidenten dieses Gerichts ernannt. Die erstmalige Zulassung der Verfassungsbeschwerde in Bayern wurde übrigens Vorbild für die Weiterentwicklung dieser Institution bis hin zu ihrer Verankerung in Art. 93 GG. Die Verfassungsbeschwerde auf der Grundlage der Bamberger Verfassung war damals die einzige ihrer Art in der Weimarer Republik. Dem Staatsgerichtshof wurden außerdem auch ausdrücklich Verfassungsstreitigkeiten zugewiesen, und zwar zunächst solche zwischen Landtag und Regierung. 3. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete natürlich auch das Ende des Staatsgerichtshofs. Schon am 27. Juni 1933 bestimmte das Bayerische Gesamtministerium als Landesregierung, daß

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das Gesetz über den Staatsgerichtshof und die ihn betreffenden Vorschriften der Bayerischen Verfassung bis auf weiteres außer Anwendung blieben. Kurze Zeit später, nämlich am 19. März 1935, wurde - wie oben dargestellt - auch das Bayerische Oberste Landesgericht selbst das Opfer der nationalsozialistischen Machthaber. 4. Kaum war das Unrechtssystem zusammengebrochen, errichtete die am 1. Dezember 1946 durch Volksentscheid angenommene Bayerische Verfassung den Bayerischen Verfassungsgerichtshof als oberstes Gericht für staatsrechtliche Fragen (Art. 60 BV) nach dem Vorbild des Staatsgerichtshofs der Bamberger Verfassung. a) Es steht außer Zweifel, daß die Bayerische Verfassung auch bei der Frage des Sitzes des Verfassungsgerichtshofs an die damals bereits mehr als hundertjährige Tradition angeknüpft und den Verfassungsgerichtshof wieder beim Bayerischen Obersten Landesgericht gebildet hätte, wenn dieses Gericht im Dezember 1946 schon wieder am Leben gewesen wäre. Das war aber erst eineinhalb Jahre später der Fall, nämlich am 1. Juli 1948. So entschied sich der Verfassungsgeber auf der Suche nach einem vergleichbaren Sitz in Art. 68 Abs. 1 BV dafür, daß der Verfassungsgerichtshof beim Oberlandesgericht München gebildet wird. Auf die Frage eines Abgeordneten in der Verfassunggebenden Landesversammlung, ob in dieser Sitzbestimmung nicht eine Präjudizierung für den Fall zu sehen sei, daß wieder ein Bayerisches Oberstes Landesgericht gebildet werde, antwortete der Berichterstatter Dr. Ehard: „Ich glaube, diese Verfassungsänderung können wir riskieren; dies wäre ohne Schwierigkeit durchzusetzen"". Gleichwohl ist es zu einer Änderung des Art. 68 Abs. 1 BV bis heute nicht gekommen. Die ganz bewußt auf große Stabilität angelegte Bayerische Verfassung kann nur verhältnismäßig schwer geändert werden, nämlich nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Landtag und einem daran anschließenden zustimmenden Volksentscheid (Art. 75 Abs. 2 BV). Dieses aufwendige Verfahren wurde wegen der Frage des Sitzes des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs nicht durchgeführt, zumal das ursprüngliche Provisorium einer Anbindung an das Oberlandesgericht München in der nun auch schon wieder fast fünfzigjährigen Praxis zu keinen Schwierigkeiten geführt hat. Aus der Sicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts bleibt es freilich bedauerlich, daß die vorübergehende Auflösung durch die Nationalsozialisten eine Trennung vom Verfassungsgerichtshof nach sich gezogen hat, die bis jetzt andauert. Sollte es einmal zu einer größeren Verfassungsänderung kommen, dann könnte " Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung Band II S. 423.

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und sollte dem Bayerischen Obersten Landesgericht auch insoweit gewissermaßen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. b) Immerhin besteht auch weiterhin eine verhältnismäßig enge personelle Verbindung der beiden Gerichte. Von den dreizehn berufsrichterlichen Mitgliedern des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, die nicht Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof sind, gehören derzeit nicht weniger als sechs dem Bayerischen Obersten Landesgericht an. Der Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts wird traditionellerweise vom Bayerischen Landtag nach dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs zum zweiten Vertreter des Präsidenten oder der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs gewählt. VI. Die Amtssitze des Bayerischen Obersten Landesgerichts von 1625 bis heute Bei einem Streifzug durch die Geschichte des Bayerischen Obersten Landesgerichts soll ein Blick auf die Räumlichkeiten, in denen das Gericht im Laufe der Jahrhunderte amtiert hat, nicht fehlen 12 . Das ist zwar für die Kenner des Münchener Stadtbildes interessanter als für andere Leser, weckt aber vielleicht doch ein bißchen Sympathie und Verständnis für unsere derzeitigen Umzugswünsche. 1. Der Geheime Rat, der nach 1625 zunächst auch unmittelbar die Aufgaben des Revisoriums wahrnahm, hielt seine Sitzungen im Alten Hof ab. Dieser war im Jahr 1255 unter Ludwig dem Strengen als Herzogsitz errichtet worden. 2. Nach der Ausgliederung des Revisionsrats aus dem Geheimen Rat im Jahr 1645 wurde dem Revisorium für seine Sitzungen ein besonderer Raum im Neubau der Münchener Residenz zugewiesen. Diese war jahrhundertelang als Wohnsitz der Herrscher Bayerns politisches und kulturelles Zentrum des Landes; sie wurde im Laufe der Zeit zu einer der umfangreichsten und künstlerisch bedeutendsten Palastanlagen ausgebaut. 3. Der Oberste Gerichtshof, der ab 1. Januar 1809 unter der Bezeichnung Oberappellationsgericht amtierte, war zunächst im ehemaligen Augustinergebäude in der Augustinerstraße untergebracht. Dieses Gebäude ist in seiner ursprünglichen Gestalt nicht mehr erhalten. An der Stelle, wo es lag, wurde später das heutige Polizeipräsidium errichtet. 12 Insoweit verweise ich vor allem auf die Ausführungen, Dokumente und Bilder bei Delius/Seitz, Die Gerichtsgebäude - Vom Alten Hof in die Schleißheimer Straße - in: Das Bayerische Oberste Landesgericht, 1993, S. 211 ff.

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Das Oberappellationsgericht siedelte im Jahre 1848 in das ehemalige Jesuitenkolleg (Wilhelminisches Akademiegebäude) in der Neuhauser Straße um, blieb also weiterhin sehr repräsentativ im Stadtzentrum untergebracht. Das Wilhelminische Gebäude beherrscht zusammen mit der baulich verbundenen Michaelskirche die hier platzartig erweiterte Neuhauser Straße. Der aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammende Bau wurde nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wieder neu errichtet. Eine Gedenktafel erinnert daran, daß in dem Gebäude das Oberste Landesgericht untergebracht war. 4. Als zu Zeiten des Prinzregenten Luitpold die Justizpaläste am Karlsplatz im Zentrum von München entstanden, war es keine Frage, daß dies auch die Wirkungsstätte des Bayerischen Obersten Landesgerichts werden mußte. Vom Jahr 1905 bis zur Aufhebung des Gerichts durch die Nationalsozialisten im Jahr 1935 befanden sich die Gerichtsräume in dem von Friedrich von Thiersch erbauten sogenannten Neuen Justizgebäude an der Prielmayerstraße/Luitpoldstraße in unmittelbarer Nachbarschaft zum Justizpalast am Karlsplatz. Mehr als 300 Jahre lang hatte das Bayerische Oberste Landesgericht demnach entsprechend seiner Stellung im Staate ausgesprochen repräsentative Sitze mitten in der Stadt, bürgernah und würdig zugleich. 5. Die kriegsbedingten Zerstörungen, der wachsende Raumbedarf der Justiz und nicht zuletzt die angespannte Haushaltslage brachten es mit sich, daß die Entwicklung der räumlichen Unterbringung des Bayerischen Obersten Landesgerichts nach seiner Wiedererrichtung im Jahr 1948 deutlich bescheidener verlief. Zunächst bezog das Gericht am 1. Juli 1948 eine Art Notunterkunft in einer Villa in der Maria-Theresia-Straße im Münchener Stadtteil Bogenhausen. Im Jahre 1956 konnte das Gericht allerdings in ein neu errichtetes Justizgebäude am Lenbachlatz umziehen, wo es wieder in nahem Kontakt zu den gegenüberliegenden Justizpalästen stand. Die zunehmende Raumnot bei der Münchener Justiz hatte aber leider zur Folge, daß das Bayerische Oberste Landesgericht im Jahr 1973 in ein angemietetes, nicht als Gerichtsgebäude konzipiertes modernes Büro- und Geschäftshaus in der Schleißheimer Straße 139 umziehen mußte. Maßgebend für diese Entscheidung war die Erwägung, daß für die Verfahrensbeteiligten ein leichter räumlicher Zugang zum Revisions- und Rechtsbeschwerdegericht weniger erforderlich sei als zu den unteren Instanzgerichten; diese sollten demnach in der Innenstadt möglichst nahe beieinander bleiben. An diesem Zustand hat sich seit 1973 nichts mehr geändert. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat zwar in dem Mietobjekt an der Schleißheimer Straße durchaus angemessene Arbeitsbedingungen gefunden. Andererseits entspricht das Erscheinungsbild

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des Gebäudes, in dem noch mehrere gewerbliche Betriebe untergebracht sind, nicht den Erwartungen, die an den Sitz eines Obersten Gerichtshofs gestellt werden. Ohne das Schild am Eingang würde wohl kein Passant vermuten, daß über dem Supermarkt im Erdgeschoß das Bayerische Oberste Landesgericht und seine Staatsanwaltschaft untergebracht sind. Das Ansehen und die Bedeutung eines Gerichts hängen zwar ganz gewiß nicht von Äußerlichkeiten ab, sondern von der Rechtsprechung seiner Richterinnen und Richter. Aber unter Berücksichtigung des Platzes des Bayerischen Obersten Landesgerichts in der bayerischen Geschichte, zur Betonung seines derzeitigen Ranges im bayerischen Gerichtssystem und nicht zuletzt zur Intensivierung der Kontakte mit den anderen Münchener Gerichten bleibt es unser Ziel, in die Innenstadt zurückzukehren und am besten in den Justizpalast am Karlsplatz einzuziehen. Das kann gelingen, wenn die dort noch untergebrachten Teile des Landgerichts München I in ein geplantes Ziviljustizzentrum verlegt werden. Walter Odersky hat sich für dieses Ziel eingesetzt, seine Nachfolger taten und tun es auch, und irgendeiner wird einmal Erfolg haben13. VII. Schlußbemerkung Auch 370 Jahre nach seiner Gründung hat das Bayerische Oberste Landesgericht seinen festen Platz in der bayerischen und in der deutschen Gerichtsbarkeit. Die landesweite Zusammenfassung von Aufgaben, die sonst den Oberlandesgerichten obliegen, und vor allem die Kompetenz, anstelle des Bundesgerichtshofs über zivilrechtliche Revisionen aus dem Bereich des Landesrechts zu entscheiden, geben ihm ein unverwechselbares Gepräge. Das Bayerische Oberste Landesgericht bringt in sehr anschaulicher Weise zum Ausdruck, daß es im Bundesstaat auch auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit durchaus noch Bereiche gibt, in denen sich die Eigenstaatlichkeit eines Landes entfalten kann. " Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Dr. Otto Gritschneder den Umzug des Bayerischen Obersten Landesgerichts in die Schleißheimer Straße in einer Sendung des Bayerischen Rundfunks kommentierte: „Und dann noch etwas: In diesen Tagen mußte die Justiz in München wieder einmal ihre knappen Räume neu verteilen, und dabei kam man auf die Idee, das Bayerische Oberste Landesgericht in eine besonders unrepräsentative Gegend zu verbannen: Schleißheimer Straße 139, Ecke Herzogstraße ... Das hätte nun nicht passieren dürfen! Bisher war das Oberste immerhin im Justizviertel angesiedelt, nämlich Lenbachplatz 7, gegenüber dem Justizpalast. Man würde es doch mindestens komisch finden, wenn der Papst vom Petersplatz weg in ein neues Viertel am Stadtrand abgeschoben würde ... Da verlangt erst recht das Wesen und die Aufgabe eines Gerichts, in dem sich doch der Rechtsstaat am spürbarsten zeigen muß, nach einer adäquaten Repräsentanz" (Zitat bei Rittmayr, Das Oberste Landesgericht im Spiegel der Medien, in: Das Bayerische Oberste Landesgericht 1993, S. 367/370).

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Wer den Föderalismus für eine gute Sache hält, stellt erfreut fest, daß auch die Justiz ihren Beitrag dazu leisten kann. Der Freistaat Bayern hat im Bereich der Gesetzgebung seinen eigenen Landtag und seinen eigenen Senat, im Bereich der Exekutive seine eigene Staatsregierung und im Bereich der Gerichtsbarkeit seinen eigenen Verfassungsgerichtshof und eben - ich darf doch sagen: last not least - sein eigenes Oberstes Landesgericht.

Menschenbild und Recht"' W O L F G A N G ZÖLLNER

Z u s a m m e n h ä n g e z w i s c h e n Menschenbild u n d R e c h t sind in unserem J a h r h u n d e r t erstaunlich o f t thematisiert w o r d e n 1 . D i e Vieldeutigkeit des M e n s c h e n b i l d b e g r i f f s und die A m b i v a l e n z seiner d e n k b a r e n F u n k t i o nen auch und gerade i m Z u s a m m e n h a n g mit d e m Recht lassen indessen die R e d e w e i s e v o m Menschenbild i m Recht höchst mißverständlich u n d gefährlich erscheinen. V o m Bildbegriff geht in neuerer Zeit o f f e n b a r eine ähnliche V e r f ü h r u n g aus w i e z u v o r v o m Begriff des W e s e n s . K e i n G e r i n g e r e r als Friedrich Carl von Savigny hat in seinem S y s t e m des heutigen römischen Rechts 2 die m e h r als gewagte Behauptung aufgestellt, daß die v o n ihm versuchte Zusammenstellung der Rechtsinstitute auf ihren organischen Z u s a m m e n h a n g mit d e m W e s e n des M e n s c h e n selbst gegründet sei. F ü r unser J a h r h u n d e r t f o r m u l i e r t e Heinrich Henkel3, durchaus repräsentativ, daß das M e n s c h e n b i l d ein bedeutsames Leitbild des Rechts ( w e n n auch nicht das einzige) sei u n d sich als o f f e n u n d geheim w i r k e n d e r R e g u l a t o r allen Rechts erweise. D a s Bundesverfassungsgericht gar erhebt in seiner J u d i k a t u r 4 das Menschenbild zu einer A r t Rechtsquelle. * Die Ausführungen gehen zurück auf einen Vortrag, den ich zum Gedenken an Erich Fechner aus Anlaß der 90. Wiederkehr seines Geburtstages (23. 12. 1903) in der sog. ZinnRunde am 26. 1. 1994 in Tübingen gehalten habe. Die Vortragsfassung wurde stark verändert und ergänzt. Ich widme die Ausführungen in herzlicher Verbundenheit Walter Odersky, dem für übergreifende Fragen immer aufgeschlossenen, Wissenschaft und Richtertätigkeit gleichermaßen verbundenen Studienkollegen, der mir durch seinen frühen Eintritt in den Justizdienst das rechtzeitige Uberwechseln in den wissenschaftlichen Dienst der Universität München ermöglicht hat. ' Zum Verhältnis von Menschenbild und Recht explizit Radbruch, Der Mensch im Recht, 1927 (Wiederabdruck 1957); Sinzheimer, Das Problem des Menschen im Recht, 1933; Erich Kaufmann, Die anthropologischen Grundlagen der Staatstheorien, Festgabe Smend, 1952, S. 177; H. Huber, Das Menschenbild des Rechts, 1960; Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1962, 259; Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl., 1965, S. 26 ff; Hubmann, Das Menschenbild unserer Rechtsordnung, FS Nipperdey, 1965, Band 1, S. 37; H. Henkel, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 234 ff; ]. P. Müller, Hans Huher: Der Mensch im Recht, (2.) FS Huber, 1981, S. 1; Lampe, Das Menschenbild des Rechts - Abbild oder Vorbild? ARSP Beiheft Nr. 22, 1985, S. 10 ff; Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; Zippelius, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1989, S. 92 ff und 118 ff; Fastrich, Vom Menschenbild des Arbeitsrechts, FS Kissel, 1994, S. 193. 2 Band 1, 1840, S. 385. 3 Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 235. 4 Nachweise unten Fn. 18.

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I. Der Menschenbildbegriff als ganzheitliche Erfassung des Menschen Wo der Begriff des Menschenbildes explizit verwendet wird, will man mit ihm vorzugsweise nicht auf Einzelkomponenten des Menschen zielen, auch nicht auf deren bloße Summe, sondern will den Versuch einer Art ganzheitlicher Erfassung machen5. Ein Menschenbild in diesem Sinn ist nicht das Erkenntnisziel der einzelnen Humanwissenschaften wie Medizin, Psychologie, Soziologie usw., wohl aber der (philosophischen) Anthropologie 6 . O b derjenige auf ein ganzheitliches Menschenbild ausgeht, der mit der berühmten philosophischen Frage „was ist der Mensch?" 7 nur das wie auch immer beschaffene Wesen des Menschen zu suchen unternimmt, lasse ich dahingestellt. Martin Buber8 etwa hat Kant vorgeworfen, daß er die genannte Frage zwar in einem ganzheitlich gemeinten Sinn formuliert, sie aber in seinem Werk nirgendwo wirklich behandelt habe. Die Suche nach dem Wesen eines Gegenstandes ist dem Juristen ohnehin zutiefst verdächtig 9 . O b es um den Bildbegriff besser steht, wird sich zeigen. Gleichwohl, soviel bleibt festzuhalten, erzeugen Einzelkomponenten des Menschen, auch wenn sie besonders bedeutsame Bereiche der Persönlichkeit und ihres Verhaltens konstituieren wie beispielsweise die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, kein auch nur annähernd ganzheitliches Menschenbild. Wir wenden uns der ausschnitthaften Konfrontierung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten mit

5 Vgl. Hubmann, aaO (Fn. 1) S. 38 („einheitliches, widerspruchfreies Menschenbild"). Geradezu eschatologische Bedeutung erlangt das Menschenbild dann in der phantasievoll weitausgreifenden Abhandlung von Häberle, aaO (Fn. 1) über das Menschenbild im Verfassungsstaat. 6 Zur philosophischen Anthropologie Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928; Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, 10. Aufl., 1974; Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 2. Aufl., 1965; weiterhin lesenswert ders., Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie (Groninger Antrittsvorlesung), Philosophia II Beograd 1937, wieder abgedruckt in: Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1979, S. 133; Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen, 4. Aufl., 1960; Landmann, Philosophische Anthropologie, 4. Aufl., 1976; Rothacker, Philosophische Anthropologie, 2. Aufl., 1966. Die sog. Rechtsanthropologie verfolgt zum Teil ganz andere Ziele. Zu ihr vgl. Pospischil, Anthropologie des Rechts, 1982; Lampe, Rechtsanthropologie, eine Strukturanalyse des Menschen im Recht, 1970; Fikentscher, Modes of Thought, 1995. Nach Lampe aaO untersucht Rechtsanthropologie die Strukturen des Einzelmenschen und deren Bedeutung für das Recht. 7 Der berühmteste Fragesteller ist Kant, vgl. Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen, hgg. von Gottlieb Benjamin Jäsche, in: Kants Werke, Akademieausgabe, Band IX, S. 25. ! Buber, Das Problem des Menschen, 1948, S. 10 ff; kritisch auch schon Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929. 9 Immer noch lesens- und bedenkenswert Scheuerle, Das Wesen des Wesens, AcP 163 (1963) 431.

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dem Recht noch gesondert zu (unten IV). Bei ihr bedient man sich der Redeweise vom Menschenbild besser nicht, weil durch diese notwendig zumindest unterschwellig gesamthafte und d. h. mit höheren Dignitätserwartungen verknüpfte Vorstellungen geweckt werden. Umgekehrt gerät die Redeweise vom Menschenbild ins Weite, wo sie sich nicht auf den Menschen als Individium ausrichtet, sondern seine Rolle in der Rechtsgemeinschaft voll einbezieht und damit das Menschenbild anreichert durch Elemente eines Weltbilds oder zumindest eines Gesellschaftsbilds.10 II. Funktionen des Menschenbildbegriffs im Zusammenhang mit Recht 1. Fragen wir nach der Funktion, die dem Menschenbildbegriff im Zusammenhang mit dem Recht zugewiesen wird, so treffen wir in älteren Arbeiten von Radbruch11 und Sinzheimer12 - bezeichnenderweise sind es akademische Reden - auf die Vorstellung, daß dem Recht ein Menschenbild immanent sei. So hat Radbrucb gemeint, man könne jeder Rechtsordnung und jeder Rechtsepoche ein Menschenbild zuordnen, das dem Recht vorschwebt und auf das es seine Anordnungen einrichtet13. Das entspricht einer weit verbreiteten anthropologischen Vorstellung, daß auch anderen, wenn nicht sogar allen kulturellen Hervorbringungen ein Menschenbild inhärent sei. Michael Landmann etwa behauptet, daß dem Fortschritt in seinen einzelnen Bereichen, den Gesellschaftsordnungen, den künstlerischen Stilen jeweils ein Menschenbild zugrunde liege. „Jede Kulturschöpfung" sagt er wörtlich, „schließt eine heimliche, eine Krypto-Anthropologie ein"14. Dem ist nicht weiter nachzugehen. Die Unrichtigkeit dieser These als umfassende Aussage scheint mir evident, aber auch Radbruchs auf das Recht begrenzter Sicht kann man wenig abgewinnen. Daß jeder Rechtsordnung, jeder Rechtsepoche ein Menschenbild vorschwebt, dürfte keine sinnvolle Aussage sein. Zunächst ist ganz selbstverständlich, daß das der Rechtsordnung „vorschwebende" Menschenbild kein explizites ist und erst recht in früheren Epochen niemals war. Und implizit? Selbst in einer die Stellung des Menschen in der Welt gegenüber späteren Epochen noch relativ undifferenziert sehenden Zeit wie der des Hochmittelalters gab es bei den Rechtsschöpfern schwerlich ein einheitliches Bild vom Menschen,

Besonders weit in diese Richtung ausgreifend Häberle, aaO (Fn. 1). " AaO (Fn. 1). 12 AaO (Fn. 1). *' AaO (Fn. 1), Wiederabdruck 1957, S. 9. " AaO (Fn. 6), S. 10. 10

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und wenn es ein solches gegeben hätte, wäre es kaum möglich, die damalige Rechtsbildung und das damalige Rechtsverständnis nachvollziehbar daran festzumachen; an vielem anderen vielleicht, z. B. dem religiösen Glauben, an Machtstrukturen und Machtinteressen, aber nicht an einem Menschenbild. Ohnehin war jedenfalls im christlichen Abendland im Mittelalter noch weithin die Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes lebendig, deren Stellenwert für das Recht kaum auszumachen sein dürfte. Was sich im Blick auf eine bestehende Rechtsordnung allein unternehmen läßt, ist der spekulative Entwurf eines Menschenbilds durch eine auf dieses Ziel bezogene Interpretation von Rechtsnormen (Interpretation hier nicht verstanden als Methode der Sinnklärung des Texts der einzelnen Norm selbst). Das ist es, was Radbruch und Sinzheimer, aber auch das Bundesverfassungsgericht versucht haben. Ob ein solches Menschenbild, wenn es denn gelänge, dem Verständnis der Rechtsordnung förderlich wäre, ist ungesichert. In welche Probleme solche Interpretationen von Rechtsnormkomplexen auf das Ziel eines Menschenbildes hin führen, zeigen die Überlegungen Sinzheimers15 mit aller Deutlichkeit, der ganz unterschiedliche Menschenbilder im Recht wahrnehmen will je nach dem Regelungsbereich, um den es geht (bei ihm - partes pro toto - um das bürgerliche Recht, das Arbeitsrecht und das Wirtschaftsrecht). Unterstellt man seine Interpretationen als zutreffend oder sinnvoll, so würde daraus letztendlich folgen, daß die Rechtsbereiche nicht zueinander passen, ja sich widersprechen und demgemäß der Harmonisierung bedürfen. Aber ob die von ihm erkannten (ohnehin von einer Ganzheitlichkeit weit entfernten) Menschenbilder richtig getroffen sind, ist, freundlich gesagt, zweifelhaft. Gerade ihre Widersprüchlichkeit könnte für die Unrichtigkeit indiziell sein. Letztlich bewirkt der Vorgang der Gewinnung eines Menschenbildes aus bestehenden Normen durch Interpretation die Mystifizierung von Normzwecken, die in der Einzelnorm niemals auf das spekulative Ganze des Menschen zielen. Darin könnte freilich eine Chance für mehr interpretative Richtigkeit liegen, aber diese Chance ist an die Voraussetzung echter ganzheitlicher Erfassung gebunden. Darauf ist zurückzukommen. 2. Erheblich spannender als die retrospektiv-spekulative Unterlegung eines Menschenbildes unter Rechtsnormenkomplexe könnte die Funktion eines ganzheitlichen Menschenbildes in prospektiver Richtung für das Tätigwerden des Gesetzgebers (und mutatis mutandis anderer Rechtsschöpfer) sein. Die schon erwähnte Leitbildfunktion des Men15

A a O (Fn. 1), S. 7 f, 11 f, 16 f.

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schenbilds, wie Heinrich Henkel sie gekennzeichnet hat, setzt hier an. Es scheint ja auch unmittelbar einzuleuchten, daß eine ganzheitliche Vorstellung vom Menschen geeignet sein könnte, das ausschließlich für Menschen bestimmte Recht auf den Menschen auszurichten und damit Fehlregelungen zu vermeiden16. Indessen zeigen sich bei dieser prospektiv-gestalterischen Funktion ganz ebenso wie bei der retrospektiven Unterlegung eines ganzheitlichen Menschenbildes im Hinblick auf die Rechtsordnung spezifische Schwierigkeiten, denen im folgenden nachzugehen ist. III. Drei Grundarten eines ganzheitlichen Menschenbildbegriffs Die Problematik ist unterschiedlicher Art, je nachdem mit welchem (immer ganzheitlich verstandenen) Menschenbildbegriff man arbeitet. Es lassen sich drei17 Grundarten dieses Begriffs in Gegenüberstellung mit dem Recht konstatieren: (1) A m weitestgehenden juridifiziert und daher dem Rechtswissenschaftler besonders nahestehend ist das normative Menschenbild im Sinn dessen, wie der Mensch sein soll. (2) Ihm steht nahe ein idealtypisches Menschenbild, das zwar nicht die präskribierten Verhaltensweisen einbezieht, wohl aber einen Menschen - ohne Rücksicht auf die Realität - vorstellt, der zur Normbefolgung typischerweise fähig bzw. der willens und in der Lage ist, sich so zu verhalten, daß das aufgestellte Normensystem sinnvolle Wirkungen entfaltet. (3) Von ganz anderer Qualität ist das realtypische Menschenbild, das dem empirisch durch die Humanwissenschaften ermittelbaren Real" Dem nahe stehen Versuche, mit Hilfe eines Menschenbilds die prospektive Auslegung von Rechtsnormen zu determinieren. Dabei wird nicht auf ein dem Normenbestand schon zugrundeliegendes, etwa vom historischen Gesetzgeber vorausgesetztes Menschenbild abgestellt - ein solches gibt es in einem ganzhaften Sinn bislang nicht - sondern es wird ein hic et nunc entworfenes Menschenbild für Interpretationszwecke der Norm hypostasiert, so etwa, wenn in bestimmten arbeitsrechtlichen Problemzusammenhängen das Leitbild des verständigen Arbeitnehmers beschworen wird (BAG AP B G B §611 Nr. 15 Anwesenheitsprämie; dazu Fastrich, aaO [Fn. 1], S. 204 f). In Wahrheit geht es hier freilich nicht um ein ganzheitliches Menschenbild, sondern nur um die ausschnitthafte Frage der Fähigkeit des Menschen zu verständiger Entscheidung in ganz bestimmten Situationen. 17 In der Literatur findet sich meist nur die weniger genaue, für die Diskussion jedoch brauchbare zweiteilige Unterscheidung zwischen idealtypischem und realtypischem Menschenbild. Ausführlich dazu Henkel, aaO (Fn. 1), S. 235 f. Schon Sinzheimer hat sie seiner differenzierenden Interpretation von bürgerlichem Recht und Arbeitsrecht zugrundegelegt, vgl. aaO (Fn. 1), S. 8 und 11. Fastrich, aaO (Fn. 1), S. 202 hat sie für das Arbeitsrecht neu fruchtbar gemacht.

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befund über den Menschen und seiner Aufarbeitung durch die philosophische Anthropologie entspricht. 1. Das normative Menschenbild läßt sich dahin kennzeichnen, daß es einen idealtypischen Menschen vorstellt, dessen Verhalten dem einer sinnvoll normativ geordneten menschlichen Gemeinschaft entspricht. Der sich nach diesem Bild verhaltende Mensch handelt den gesellschaftlichen und rechtlichen Normen gemäß. Eine derartige Verwendung des Menschenbildbegriffs findet sich vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts18. Im Investitionshilfeurteil19 hat das Bundesverfassungsgericht formuliert, daß das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das eines isolierten souveränen Individuums sei. Das Grundgesetz habe vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinn der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergebe sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1,12,14,15,19 und 20 GG. Dies heiße aber, daß der einzelne sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen müsse, die der Gesetzgeber zur Pflege des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des Zumutbaren ziehe, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibe20. Der Menschenbildbegriff wird hier nicht in einem die menschliche Natur ganzheitlich verstehenden, sondern seine Stellung innerhalb der Rechtsgemeinschaft normativ-präskribierenden Sinn gebraucht. Das Bundesverfassungsgericht verwendet ihn insbesondere auch dazu, Schranken für grundrechtliche Freiheiten zu entwickeln21. Ein Menschenbild dieser Art mit auch nur annäherungsweise ganzheitlichem Charakter lag bisheriger Gesetzgebung explizit noch niemals zugrunde. Versuche, aus geltenden oder früher geltenden Normensystemen wenn schon keinen realtypisch existierenden so doch einen gesollten Menschen wenigstens interpretativ zu entwickeln, sind bislang nicht gelungen. Wenn nicht alles täuscht, könnte selbst eine Gesamtschau aller Rechtsnormen nicht einmal ein grobes Mosaik von einiger Menschenähnlichkeit produzieren.Das liegt nicht zuletzt daran, daß der gesollte Mensch unter dem Auge des Rechts in erster Linie eine Person ist, die vieles nicht tun sollte. Anders ausgedrückt: Im Recht herrscht die negative, die Verbotskomponente weithin vor. Das ganze Strafrecht etwa besteht nur aus Verboten. Im öffentlichen Recht sind von praktischer " Vgl. z. B. BVerfGE 4, 7 (15 f); 7, 305 (323); 33, 303 (334); 45,187 (227); 50,166 (175). " BVerfGE 4, (15 f). 20 Zu emphatisch positiv Häberle (Fn. 1) passim. Kritisch vor allem Denninger, Staatsrecht I, 1973, S. 25; Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 139 ff; Ridder, Das Menschenbild des Grundgesetzes, Demokratie und Recht 7 (1979), S. 123 ff. 2' Häberle, aaO, S. 45 u. 47.

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Bedeutung vor allem die Verbote mit Erlaubnisvorbehalt. U n d selbst im Hauptgebiet des Zivilrechts, dem Vertragsrecht, das von dem gebotsartigen Grundsatz ausgeht, daß Verträge zu erfüllen sind, erweisen sich die zur Konkretisierung dieses Grundsatzes entwickelten Verbote als präponderant, z. B. vor, bei und während der Erfüllung bestimmte Verhaltensweisen zu vermeiden, insbesondere die Schadenszufügung beim Vertragspartner. Aus negativen Komponenten, auch wenn sie von großer Zahl sind, entsteht kein positives Bild. Natürlich läßt das Recht auch zentral Humanes positiv erkennen: z. B. den Menschen als ein Wesen, dem Freiheitsräume zu eigenverantwortlicher Gestaltung überlassen sind, der über seine Persönlichkeit selbst zu bestimmen und der einen durch Bildung von Eigentum gesicherten Freiheits- und Unabhängigkeitsraum hat. Insbesondere die Grundrechte der Verfassung, die ja weithin inhaltlich identisch sind mit den sogenannten Menschenrechten, bilden eine breite Erkenntnisquelle für Positives, das sich nicht nur zu einer verfassungsdeterminierten Werteordnung verarbeiten läßt, sondern auch zu einer Art Grundskizze eines menschlichen Wesens, fast hätte ich gesagt, eines menschlichen Gerippes oder Skeletts. Ein ganzheitliches Menschenbild wird daraus freilich nimmermehr. Aus Skizzen kann man Bilder machen, indem man fehlende Konturen hinzufügt und das ganze mit Farbe ausfüllt. Im Falle der aus der Verfassung zu gewinnenden Menschenskizze sind als ausfüllende Maler vor allem der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht tätig. Ihre Tätigkeit macht indessen in praxi die Konturen oft undeutlicher als sie in der Skizze waren und läßt das Bild des Menschen entsprechend schwerer erkennen. So ist etwa der in Würde und Freiheit selbstverantwortlich handelnde Bürger, den die Artikel 1 und 2 G G nahelegen, in vielen Rechtsregeln nicht mehr präsent, man denke nur an das Haustürwiderrufsgesetz, für das der leichtsinnig und unbesonnen handelnde, seine Selbstverantwortung nicht wahrnehmende Mensch Pate gestanden hat. Mit dem Blick auf künftig zu schaffendes Recht läßt sich sagen, daß über die aus dem Grundrechtskatalog der Verfassung zu gewinnende Skizze hinaus kein in juristischer Absicht kreierter Entwurf eines gesollten Menschenbildes existiert, der den Menschen auch nur in seinen wesentlichen Zügen ganzheitlich erfassen würde. Diesem empirisch unbezweifelbaren Befund ist hinzuzufügen, daß dies unter gegenwärtigen Verhältnissen auch nicht anders sein kann und sein darf. Ein ganzheitliches Menschenbild normativer Art zu entwerfen, das künftiger Gesetzgebung als Leitbild dienen könnte, wäre unter den Bedingungen einer modernen pluralistischen Demokratie nicht nur politisch unmöglich, sondern gar nicht erlaubt, weil eine umfassende normative Konzeption des Menschen den durch die Verfassung abgesicherten Prinzipien der

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freiheitlichen Demokratie widerspräche. Schon die aus den Grundrechten gewinnbare Menschenskizze leidet ja daran, daß die Grundrechte durch ihren ganz im Vordergrund stehenden abwehrrechtlichen Sinn in erster Linie Freiheitsräume des Menschen gewährleisten. Dazu gehört, daß der Mensch diese Freiheitsräume auf die unterschiedlichste Weise ausfüllen darf. Dem Gesetzgeber ist es insoweit gerade verwehrt, den von den Grundrechten skizzierten Menschen zu einem vollen Bild auszumalen. Uberspitzt könnte man formulieren: Es gibt einen grundrechtlich abgesicherten Skizzenstatus des Menschen gegenüber dem Recht. N u r so kann Pluralismus der Werte erhalten und Totalitarismus in Gestalt der Unterwerfung unter politische Macht vermieden werden. Selbst unter den politischen und verfassungsmäßigen Vorgaben eines totalitären Staates ist es im übrigen nicht gelungen, ein normatives Menschenbild gesamthaft zu entwerfen, obgleich Freiräume dort nicht zu schonen waren. Deutlich hat sich das in der D D R gezeigt, in der von Anfang an schattenhaft der sozialistische Mensch als Grundelement eines funktionierenden sozialistischen Gemeinwesen apostrophiert worden ist. N o c h 1958 hat auf der sogenannten Babelsberger Konferenz Walter Ulbricht wörtlich ausgeführt: „Unsere Rechtslehre baut noch zu stark auf dem bürgerlichen Individualismus auf, sieht noch zu stark das egoistische Individuum, das die kapitalistische Gesellschaft hervorbrachte. Sie hat noch nicht die Konturen des sozialistischen Menschen und seines veränderten Verhältnisses zur Gesellschaft erarbeitet" 22 . In der Folgezeit waren intensive Bemühungen der DDR-Rechtswissenschaft zu verzeichnen, durch rechtliche Fortentwicklung die Erziehung zu diesem neuen Menschen sozialistischer Prägung zu fördern. Ich nenne ein einziges Beispiel: Ein DDR-Jurist namens Leymann hat 1959 ausgeführt, die Verhaltensregeln des sozialistischen Rechts seien dadurch gekennzeichnet, daß sie ein Handeln von den Menschen fordern, welches die Menschen vom isolierten individuellen zum kollektiven, gesellschaftlichen ... Denken führt. Damit verleihe es dem menschlichen Handeln eine innere Bewegungskraft, die es auf eine immer höhere Stufe der objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung hebe 23 . Beispiele dieser Art lassen sich in der damaligen DDR-Rechtsliteratur in durchaus größerer Zahl finden. Bereits wenige Jahre später trat aber in dieser ohnehin abstrakt gebliebenen Diskussion ein Stillstand ein, weil die ökonomisch desolaten Verhältnisse zu einem Umdenken in ökonomischer Beziehung und zur Einführung des sogenannten neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung ( N Ö S P L ) führ22 Protokoll der Babelsberger Konferenz, zitiert nach Markovits, bürgerliches Zivilrechtsdenken in der D D R , 1969, S. 163. 23 Vgl. bei Markovits, aaO S. 164.

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ten, dies schon drei Jahre nach Babelsberg. Man hat mit diesem System weniger auf die kommunistische Utopie als Zukunftsziel gesetzt und statt dessen die Lösung der ökonomischen Gegenwartsaufgaben in den Vordergrund gestellt. Demgemäß stand nicht mehr die Erziehung des Menschen zum neuen kommunistischen Zukunftsmenschen im Vordergrund, sondern man formulierte, daß die Erziehung des Menschen und die Lösung der ökonomischen Aufgaben eine Einheit seien. Die individuellen Interessen sollten nicht mehr von den kollektiven Interessen vereinnahmt werden, sondern man postulierte, daß beide Interessenbereiche zur Übereinstimmung zu bringen seien. Auch wenn selbstverständlich die Rechtsordnung der D D R durchaus totalitaristische Züge trug, hat die Entwicklung deutlich gezeigt, daß eine Totalvereinnahmung und Totalregelung im Sinn eines gesamthaften Sollensbildes auch in sozialistischen Regimen auf Schwierigkeiten stößt. Für alle gesellschaftlichen und politischen Ordnungen dürfte gelten, daß sie sich mit gesamthaften Konzepten eines Menschenbilds überfordern. 2. N o c h weniger sinnvoll als von einem normativen läßt sich von einem idealtypischen Menschenbild sprechen, das der Gesetzgeber bei der Schaffung von Normen ohne Rücksicht auf die Realität gleichsam implizite voraussetzt, damit die Normen sinnvoll funktionieren. Ein solcher Idealtypus liegt nach Meinung vieler der hochbedeutsamen schuldrechtlichen Vertragsfreiheit zugrunde 24 . Das bürgerliche Schuldrecht, so wird immer wieder gesagt, basiere auf der Gleichheit und Unabhängigkeit der Bürger als Vertragspartner, die in der Realität, so lautet das moderne Verdikt, überwiegend nicht gegeben sei. Abgesehen davon, daß dies nicht zutrifft, der Gesetzgeber vielmehr lediglich darauf vertraut, daß der Vertrag trotz Ungleichheiten und Abhängigkeiten in aller Regel zu brauchbaren und sinnvollen Regelungsergebnissen führt, spiegelt die Gewährung der Vertragsfreiheit nur einen winzigen Ausschnitt dessen wider, was einen Menschen ausmacht. Denn Vertragsfreiheit setzt nur die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen voraus zu verantwortlichem, die Selbstschädigung vermeidenden, mithin zu halbwegs verständigem Verhalten 25 . 3. Ganz anders stellt sich das Verhältnis von Recht und realtypischem Menschenbild dar. Der Realbefund über den Menschen ist, wie jeder " Vgl. zu einem angeblichen „Menschentyp" des bürgerlichen Rechts G. Boehmer, Einführung in das bürgerliche Recht, 1954, S. 78-83; auch Häberle, aaO (Fn. 1), S. 50 ff. 25 Idealtypisch aber nicht ganzheitlich ist auch das vom Bundessozialgericht herangezogene „Leitbild des gesunden Menschen", mit dem es den Krankheitsbegriff des Krankenversicherungsrechts zu bestimmen trachtet, vgl. BSG 26, 240 (242); 35, 10 (12); 39, 167 (168). Die Problematik des Menschenbild-Denkstils im Recht wird daran besonders deutlich.

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weiß, von großer Vielfalt, und zwar weniger, was die rein biologischen Eigenschaften und Fähigkeiten angeht - insoweit läßt sich der realtypische Mensch im Prinzip vielleicht nicht wesentlich schwerer erfassen als die realtypische Spitzmaus oder Boa constrictor. a) Vielgestaltig sind vielmehr vor allem Verhaltens- und Reaktionsweisen des Menschen, dem allein schon durch die Sprache Entlastung von Verhaltenszwängen zuteil geworden ist, denen das Tier unausweichlich unterliegt. Die darin zutage tretende Korrektur der reinen Biologie durch der Sphäre des Geistes zuzurechnende Einflüsse könnte dazu führen, das Menschenbild jeweils als durch diejenigen Verhaltensweisen konstituiert anzusehen, die sich gleichsam statistisch durch ihre Häufigkeit als typisch ausweisen. Auch das ergäbe schon ein Bild von großem Detailreichtum. Statt dessen könnte freilich ein „bewegliches" Bild des Menschen mit variablen Details zugrundezulegen sein, ähnlich - um im Bild des Bildes zu bleiben - den bekannten Dias für die laterna magica, die Veränderungen abgebildeter Gegenstände mittels eines Hebels erlaubten, es z. B. möglich machten, den Kopf oder Schwanz einer Kuh zu heben und zu senken. Welcher Form des Menschenbildes man zu folgen hätte, könnte von den Zwecken abhängen, denen es dienen soll. Das bewegliche Bild kann entschiedenem rechtlichen Handeln zu undeutlich, das statistisch-typisierende Bild für sinnvolle Lösungen zu „statisch" sein. Der Skeptiker mag daraus auch den - aus meiner Sicht sehr berechtigten - Verdacht schöpfen, daß schon der Bildbegriff für die Erhellung von Zusammenhängen zwischen Mensch und Recht nicht wirklich leistungsfähig ist26. Bilder können der Reduktion von Komplexität dienlich sein. Indessen verfehlen sie allein schon durch ihre Zweidimensionalität die Realität beträchtlich. Auch im (selbstverständlich allein einschlägigen) metaphorischen Sinn könnte der Bildbegriff Vereinfachungen implizieren, die dem Rechtsleben mit seinen unendlich ausdifferenzierten Facetten gar nicht gerecht werden können. Daß einer des anderen Wolf sei, ergibt zwar schon seiner Fabelartigkeit wegen ein faßliches und ansprechendes Gemälde, die Realität wird damit indessen völlig unzutreffend abgebildet. b) Ein Grundproblem des auf realtypische Erfassung ausgehenden ganzheitlichen Menschenbilds liegt darin, daß es je nach dem Ansatz, den man wählt, durch höchst unterschiedliche Merkmale bestimmt wird. Biologisch determinierte Auffassungen, mit denen versucht worden ist, den Menschen aus seinen physiologisch und genetisch bedingten Eigenschaften ganzheitlich zu erklären, waren bislang zum Scheitern 26 Mit Recht weist Haberle, aaO (Fn. 1), S. 9 Fn. 2 darauf hin, die Metapher Bild habe interdisziplinäre Konjunktur (zahlreiche Nachweise ebenda).

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verurteilt. Die vorherrschend biologisch ansetzende Anthropologie der vierziger Jahre ist mittlerweile überwunden. Arnold Gehlen, ihr Hauptvertreter, hat selbst in späteren Auflagen seines Werkes über den Menschen27 und in anderen Arbeiten28 seine Auffassung modifiziert und die kulturelle und institutionelle Bedingtheit wesentlicher Verhaltensmuster des Menschen betont. Es gibt freilich Anzeichen für eine Rückkehr zu biologistisch beherrschter Deutung des Menschen über die naturwissenschaftliche Erfassung und Erklärung neuronaler und psychischer Geschehensabläufe, doch ist derzeit offen, wie weit sie führen.29 Sind biologische Ansätze gegenwärtig für eine ganzheitliche Erfassung des Menschen (noch?) nicht geeignet, muß dennoch selbstverständlich Offenheit für je nach Erkenntnisinteresse begrenztere Ansätze bestehen. Deshalb ließe sich durchaus legitim fragen, was der Mensch von Natur aus ist und welche Verhaltensmuster sich aufgrund dieser Natur unter allen kulturellen Gegebenheiten entfalten. Die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes wäre freilich begrenzt. Denn den Menschen als rein naturhaftes, kulturell nicht überformtes Wesen gibt es schlechterdings nicht. Wer nach den biologisch bedingten Verhaltensmustern fragt, muß vielmehr ihre kulturelle Uberformung stets einbeziehen und immer mit fragen, was aus den biologisch bedingten Verhaltensmustern unter unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten wird. c) Noch weit diffuser wird der biologische oder biologistische Ansatz, wenn man die für menschliches Verhalten zentralen Gegebenheiten der Psyche in den Blick nimmt. Bekanntlich geht eine verbreitete Lehre davon aus, daß menschliches Verhalten weithin nicht genetisch vorgegeben, sondern erlernt ist. Freilich dürfte dieses Erlernen weniger echtes „Einpflanzen" von außen als vielmehr bloß Erweckung von genetisch in Wahrheit doch Vorgegebenem sein30. Gleichviel ob Einpflanzung oder nur Erweckung: in jedem Fall geht es dabei um kulturelle Verursachung oder Mitverursachung menschlichen Verhaltens; die Natur in Gestalt an sich vorhandener genetischer Anlagen vermag sich, das ist ganz sicher, jedenfalls in erheblichem Umfang nicht selbst zum Durchbruch zu verhelfen. d) Das Menschenbild als ein realtypisches aufeinander bezogenes Gefüge teils biologisch, teils kulturell vermittelter Verhaltensmuster 27 28

A a O (Fn. 1). Anthropologische Forschung, 1961; Studien zur Anthropologie und Soziologie,

1963. " Dazu z. B. Popper/Eccles, The Seif and its Brain, Corrected Printing 1981; Vogeley, Repräsentation und Identität, 1995. 30 Dazu besonders lesenswert Joh. Dichgans, Die Plastizität des Nervensystems. Konsequenzen für die Pädagogik, Z für Pädagogik 1994 Nr. 2 S. 230 mit zahlreichen Nachweisen.

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schließt vieles ein. Zum kulturell im weitesten Sinn Vermittelten gehört auch das durch Tradition, Sitte, gesellschaftliche Zwänge usw., kurz durch die Gesellschaftsordnung und letztlich auch durch Rechtsnormen gesteuerte Verhalten. Wie das normative Menschenbild die (gegenwärtige oder zukünftige) Rechtsordnung widerspiegelt, kann so das realtypische Menschenbild zum Korrelat einer empirischen Gesellschaftstheorie geraten. e) Die dargelegte Problematik hat zur Folge, daß es kein intersubjektiv überzeugendes einigermaßen ganzheitliches Menschenbild realtypischer Art gibt oder in absehbarer Zeit geben wird, das geeignet wäre, dem Gesetzgeber als Leitbild zu dienen. Heinrich Henkel31 hat allerdings ein solches Menschenbild postuliert. Er meint, daß sich dieses Bild zusammensetze aus allgemein-konstanten Grundbefindlichkeiten des Menschen schlechthin, die er als ontologische Gesetzlichkeiten des Menschen einordnet, und aus wandelbaren Merkmalen, die er unter dem Begriff der kulturanthropologischen Sphäre zusammenfaßt. Sieht man genauer zu, so handelt es sich bei der ontologischen Komponente um die durch die Gesetze der Seiensordnung (was immer das ist) dem Menschen zugewiesene Stellung (?) in der Welt und die ihm auferlegten Bedingtheiten (?) sowie seine Bestimmung (?) in der Welt. Was Henkel dann insoweit konkret nennt, ist freilich nicht viel mehr als eine (wenig kritische) Auseinandersetzung mit ontologischen und anthropologischen Schichtenlehren, die von wissenschaftlicher Absicherung weit entfernt sind. Hinsichtlich der kulturanthropologischen Sphäre erkennt Henkel zutreffend, daß die aus Sozietät und Kulturwelt resultierende Prägung des Menschen sich jeglicher allgemeinen Erfassung und Zusammenfassung entzieht. Als insoweit erkennbar und für die Rechtsbetrachtung fruchtbar hält Henkel nur die sozialen Schöpfungen, welche die typischen Entwürfe des Menschen erkennen lassen. Dafür im Auge hat er die soziale Wertordnung einerseits und soziale Institutionen andererseits. Auch wenn man derartiges zum realtypischen Menschenbild rechnen mag, ist so weder ein ganzheitliches Bild zu gewinnen noch ein Leitbild. Gesetzgeberische Praxis zeigt ohnehin, daß den rechtspolitischen Anlaß für Rechtserzeugung zumeist negative Eigenschaften und Verhaltensweisen der Menschen bilden, im Strafrecht, daß gestohlen, geraubt, gemordet, genotzüchtigt wird, im Zivilrecht, daß Verträge nicht eingehalten, daß mit fremdem Gut nicht sorgsam umgegangen wird usw. Solche negativen menschlichen Eigenschaften und Erfahrungen gehören weder zum idealtypischen noch zum realtypischen „Bild" des Men31

Rechtsphilosophie (Fn. 1), S. 236 ff.

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sehen. Der Gesetzgeber reagiert vielmehr auf Erfahrungen mit menschlichem Verhalten (das durchaus Ausnahmeverhalten sein kann) und läßt sich bei seinen präventiven wie repressiven oder kompensatorischen Maßnahmen von diesen Erfahrungen leiten. Ganz sicher aber konfiguriert der raubende, mordende usw. Mensch weder den realtypischen Menschen noch würde sich insoweit sinnvoll von einem Leitbild 32 für den Gesetzgeber sprechen lassen. 4. Damit ergibt sich als Fazit, daß es weder ein normatives noch ein idealtypisches noch ein realtypisches Menschenbild ganzheitlicher Art gibt, das sich dem Recht retrospektiv oder prospektiv gegenüber stellen läßt. IV. Ausschnitte des Menschenbilds und Recht Als möglich und sinnvoll darstellen könnte sich vielleicht die Berücksichtigung von Bildausschnitten, mit denen einzelne Komplexe menschlicher Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Verhaltensweisen in den Blick genommen werden. Die rechtsbildenden Entscheidungsträger werden dadurch nicht überfordert, die Bedürfnisgerechtigkeit der Gesetzgebung würde möglicherweise verbessert. 1. Solche ausschnitthafte Berücksichtigung von Teilbereichen menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen erfolgt selbstverständlich schon seit jeher, wenn auch je nach Regelungsbereich und historischem Standort in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Sorgfalt in der Realitätsermittlung. Als frühes Beispiel in der Literatur wird etwa auf Antiphon hingewiesen, der für die Abschaffung der Vorrechte des Adels und für die Gleichbehandlung von Hellenen und Barbaren mit der Begründung eingetreten ist, daß die Menschen von der Natur in allen Beziehungen gleich geschaffen worden seien, daß alle durch Mund und Nase atmen und alle sich der Hände zum Essen bedienen." Es ist ganz offensichtlich, daß solche vordergründig-ausschnitthafte Berufung auf Eigenschaften des Menschen nur Scheinbegründungen liefert. Die großen Naturrechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts, Grotius und Pufendorf, argumentierten schon differenzierter. 34 Für Grotius (de iure bellis ac pacis, 1625) ist grundlegend ein angeblicher Trieb des Menschen zur Gründung einer friedlichen und einsichtig geordneten Gemeinschaft, 32 Anders freilich Radbruch, aaO (Fn. 1), Neudruck S. 12, der den eigennützigen, rücksichtslos seinem Interesse folgenden Menschen als Leitbild des Gesetzgebers empfiehlt. M. E. zeigt sich hieran mit aller Deutlichkeit die geringe Förderlichkeit und Mißverständlichkeit des Menschenbildgedankens für die Klärung von Zusammenhängen mit dem Recht. 33 Diehls/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker Band 2 (1969) Nr. 87. 34 Ich folge hier Zippelius, aaO (Fn. 1), S. 92 f.

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aus der er unter Einbeziehung einer angeblich vernünftigen Natur des Menschen Folgerungen für das Recht zog. Bei dem fast 50 Jahre später geborenen Pufendorf (de iure naturae et gentium, 1672) stellt die Argumentation erheblich detaillierter auf zahlreiche Wesenszüge des Menschen ab, einerseits auf den Selbsterhaltungstrieb und die Selbstsucht, mit der sich die Fähigkeit und Neigung (!), anderen zu schaden verbinde, andererseits die Imbecillitas, die bei Pufendorf so etwas wie die Angewiesenheit auf andere bedeutet. Aus diesem Spannungsverhältnis folgt für Pufendorf die Notwendigkeit der Eingehung einer Sicherheit und Förderung gewährleistenden Gemeinschaft. 2. So verdienstlich die - teilweise durchaus überzeugende - Ableitung naturrechtlicher Fundamentalsätze aus derartigen Überlegungen auch war und so sehr sie in Epochen absolutistischer Machtausübung den Boden für Rechtsstaatlichkeit und für Gerechtigkeit bereitet hat, so wenig können wir noch daraus für eine heutige, den Menschen reflektierende Rechtsfortbildung lernen. Das intersubjektiv überzeugende historisch-naturrechtlicher, im ganzen ziemlich schlichter Ableitungen ist inzwischen längst rechtliches Gemeingut aller Kulturstaaten. Für die den modernen Rechtsstaat bewegenden rechtspolitischen Probleme läßt sich auch aus der ausschnitthaften Betrachtung des Menschen selbst in oft komplizierten Teilbereichen Förderliches nur recht begrenzt folgern. An einigen den Menschen besonders unmittelbar betreffenden Regelungsfeldern sei das kurz dargelegt. a) Der Verletzlichkeit der menschlichen Natur trägt der Gesetzgeber heute in vielen Bereichen Rechnung. Gefahrstoffregelungen, Gerätesicherheitsgesetz, Produkthaftpflichtgesetz, die Aufstellung von Grenzwerten für die Belastung von Luft und Wasser durch Umweltgifte u. a. zeigen das deutlich. Die Schwierigkeiten der Gesetzgebung auf derartigen Feldern liegen weniger in mangelnder Bereitschaft der am Gesetzgebungsakt beteiligten Personen, Eigenschaften des Menschen zu berücksichtigen, als vielmehr darin, welchen wissenschaftlichen Aussagen zu trauen ist - wir erinnern uns der bekannten linken und rechten Messungen von Radioaktivität nach Tschernobyl - und jenseits dessen, wie die Nützlichkeit und Schädlichkeit bestimmter Maßnahmen gegeneinander abzuwägen sind. Die Problematik spitzt sich aktuell besonders zu in den vielerlei Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung der Gentechnik auf den Menschen stellen.35 Positive Nahwirkungen dieser Technik sind 35 Dazu hervorragende Einführungen aus medizinischer Sicht von P. Kaiser, in: Keller/Günther/Kaiser, Embryonenschutzgesetz, 1992, A I - I X , und aus rechtspolitischer Sicht von Rolf Keller, ebenda B I - V I , beide mit zahlreichen weiteren Nachweisen.

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längst greifbar und bewiesen, ihre Fern- und Dauerwirkungen sind hingegen noch weithin unbekannt, das Sicherheitsrisiko der Technik ist schwer abschätzbar. Auch soweit ernstzunehmende wissenschaftliche Zweifel beseitigt sind, bleibt die durchaus bange Frage, inwieweit es menschengemäß ist, Krankheiten wegzumanipulieren, z. B. die zwar seltene aber schreckliche Mukoviszidose durch Gentechnik auszurotten. Deutliche Grenzen werden die meisten dort sehen, wo es um gentechnische Einwirkungen auf nichtkrankhafte physische oder psychische Eigenschaften des Menschen geht, z. B. Intelligenz, Fleiß, Triebe. Solche Gegnerschaft kann explizit oder implizit durchaus von der Sorge um die Erhaltung der menschlichen Art in ihrem gegenwärtigen Zustand getragen sein, d. h. des Menschen in seiner überkommenen (gerade genetisch bedingten) Varianz der Eigenschaften; um ein Menschenbild im Sinn eines Ideal- oder Realtypus geht es dabei gewiß nicht. b) Ein Beispiel alltäglicher gemeindlicher Rechtspolitik, das zwar in wissenschaftlich gesichertere Gefilde, aber in eine Problematik von hoher Komplexität führt: der Gemeinderat in T. hatte 1993 darüber zu entscheiden, ob eine innerörtliche Verbindungsstraße zwischen dem nördlichen und dem südlichen Stadtteil, die über den Neckar führt, halbseitig gesperrt werden oder für beiderseitigen Verkehr geöffnet bleiben sollte. Die halbseitige Sperrung zwingt den Verkehr in der gesperrten Richtung zu einem Umweg von maximal 1,3 Kilometer, die Lärmbelästigung auf der Umwegstrecke wächst für die dortigen Anlieger, für die Anlieger der halbseitig gesperrten Strecke sinkt sie ebenso wie die dort bislang häufig gemessenen weit überhöhten Abgaskonzentrationen. Wissenschaft kann solche Konzentrationen messen, desgleichen Lärmwerte und sie kann Aussagen zu gesundheitlicher Toleranz und Schädlichkeit der Werte machen. Für die zu treffende Entscheidung spielte Ökonomisches kaum eine Rolle, sondern es ging um zutiefst Menschliches: den Schutz vor Belästigungen und Gesundheitsschäden einerseits und den Wunsch nach einfacherer und bequemerer Verkehrsverbindung andererseits; gerade dieser Wunsch weckte die deutlich vernehmlicheren Emotionen, betraf er doch eine weit größere Zahl von Menschen als Abgas- und Lärmwerte. Die menschenbezogenen Argumente sind vom Gemeinderat ausgiebig diskutiert worden. Anthropologie und einzelne Humanwissenschaften hingegen konnten bei der Entscheidung nicht helfen. Letztlich hatte der gemeindliche Normsetzer zwischen der Zumutbarkeit von Belastungen für die drei Gruppen der Beteiligten zu entscheiden. Humanwissenschaften schaffen über das Ausmaß der Belastungen Daten herbei, die Entscheidungsträger werten und wägen das subjektiv daraus resultierende Ausmaß des Leidensdrucks. Weder kommt dabei ein auch nur ausschnitthaftes Bild des Menschen zustande

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noch läßt sich davon sprechen, daß ein solcher Bildausschnitt der getroffenen Entscheidung des Gemeindeparlaments als Leitbild gedient hat. Ganz generell wird man sagen können, daß die das Recht determinierende Kraft gerade auch der einzelnen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse äußerst begrenzt ist.36 V. Ergebnis und Ausblick 1. Das Ergebnis der vorangegangenen Darlegungen ist mager: Das gesamthafte Menschenbild taugt für das Recht überhaupt nicht, weder in der normativen Gestalt noch in einer der Realtypik verhafteten, weder retrospektiv-interpretierend noch prospektiv-rechtsgestaltend. Die ausschnitthafte „Berücksichtigung" menschlicher Eigenschaften findet selbstverständlich statt, in unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlicher Intensität, vermag aber die Rechtsnormsetzung nicht eindeutig zu determinieren, vielmehr geht das „Menschliche" nur ein in die Fülle der Sachüberlegungen, die der normsetzende Entscheidungsträger anzustellen hat. 2. Das damit gezeichnete Verhältnis auch von Anthropologie und Recht liegt möglicherweise anders als Vertreter der philosophischen Anthropologie das von ihnen auf vielfache Weise reflektierte Verhältnis von Anthropologie und Ethik sehen. Schon Gehlen hat in seiner Anthropologie37 in sehr eigenartiger Weise die normative Ordnung menschlichen Verhaltens mit der Natur des Menschen in Verbindung gebracht. Die normative Ordnung wird nach seiner Lehre verstehbar als Entlastung der mangelhaft ausgestatteten Natur des Menschen. Durch die normative Ordnung wird die Existenz der Menschen als Gruppe gesichert. Normen sind gleichsam die existenzsichernde Konsequenz der Menschennatur. Die darin liegende Parallelität zu den Naturrechtstheorien des 17. Jahrhunderts ist kaum zufällig; sie könnte evtl. darin liegen, daß Ethiker sich vielfach mit der Begründung einiger Grundnormen zufrieden geben, wie dies auch das Hauptanliegen älterer Naturrechtstheoretiker war. " Beispielhaft gibt die moderne Psychobiologie zu, daß ihre Forschungsergebnisse nicht zu konkreten Handlungsanweisungen an die Politik führen, wie sich das der amerikanische Wissenschaftszweig der biopolitics vielleicht erträumt; und erst recht kann Psychobiologie nicht helfen bei der Frage nach der Herstellung von Gerechtigkeit durch Politik, kurz der Rechtspolitik. Für möglich hält man nur die Vermittlung eines besseren Verständnisses menschlichen Verhaltens durch Klärung psychologischer und biologischer Grundlagen dieses Verhaltens (Immelmann/Kehrer/Vogel/Schmoock, Psychobiologie, Grundlagen des Verhaltens, 1988, S. 807). Aber selbst dazu hat das genannte einschlägige Werk kaum sonderlich Faßbares anzubieten (aaO 811). J7 A a O (Fn. 6).

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Gegenbewegungen zur Vereinnahmung der Ethik durch die Anthropologie38 haben u. a. dazu geführt, in den von der Anthropologie versuchten Verallgemeinerungen des spezifisch Menschlichen Identitätsinterpretationen zu sehen, mit deren Hilfe dem Menschen Orientierung ohne Beantwortung der Frage gut oder böse geboten werden soll. Indessen hat die philosophische Anthropologie daneben die Versuche nicht aufgegeben, Ethik anthropologisch zu fundieren, mag dies partiell auch auf für die Anthropologie ungewohnten Wegen sprachanalytischer und sprachkritischer Untersuchung verfolgt werden, wie z. B. durch Wilhelm KamlaW, der meint, daß über die Analyse alltäglicher JedermannErfahrungen ein universell verwendbares Unterscheidungssystem produziert werden könnte, mit dem sich die jeweils eigenen Erfahrungen interpretieren lassen. Kamiah leitet daraus die Begründung einer praktischen Grundnorm ab. Auch er bleibt dabei freilich so im Allgemeinen, daß seine Erkenntnisse zu den problematischen Normsetzungsaufgaben des Juristen moderner Prägung in weiter Distanz stehen. VI. Schlußbetrachtung Was bleibt? Warum ist Recht, wenn es den Menschen nur ausschnitthaft bei seinen Ordnungsentscheidungen in Rechnung stellt und auch dort sich nicht von den erkennbaren Strukturen eindeutig bestimmen läßt, warum ist Recht dennoch so leistungsfähig und, davon bin ich überzeugt, so human, so menschengerecht? Nehmen wir Zuflucht beim weisen Rechtsphilosophen. Erich Fechner spricht in seiner posthum erschienenen Schrift „Existenz und Auftrag" mehrmals die Zusammenhänge zwischen der „Gesamtordnung des Seienden" und der Struktur des Menschen an, die bald als Erkenntnisstruktur, bald als Ordnungsgefüge des menschlichen Bewußtseins apostrophiert wird. Ungeachtet dessen, daß Recht „eine Hervorbringung des Menschen"40 ist, versteht Fechner Recht als Teilstück der Allordnung, dessen Schaffung nicht Erzeugnis des Zufalls oder der Willkür ist, sondern durch die Einbettung der Rechtsordnung in die Gesamtordnung in weitem Umfang und auf vielfache Weise determiniert ist. Diese Determination ist freilich, wie Fechner sagt, zwar universal, aber nicht total. Freie Gestaltungsräume bestehen nicht nur im Faktischen, sondern auch mit Bezug auf die rechtliche Ordnung. Diese Freiheit ist allerdings gebunden durch Verantwor-

" Dazu gut orientierend O. Schwemmer, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Band 1, 1980, Stichwort Anthropologie (S. 126 ff). 39 Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik, 1973, insbesondere S. 99. 40 Fechner, Existenz und Auftrag, 1991, S. 68.

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tung, und Fechner sieht als einen zentralen Begriff dieser Bindung - das hat unmittelbaren Bezug zu unserem Thema - die Menschenwürde an, die sich vom ideal- und vernunftphilosophischen Richtpunkt in der Verfassungsgebung zum rechtlichen Zentralbegriff der Ordnung unseres politischen Gemeinwesens entwickelt habe. Fechner hat dazu den schönen Gedanken kreiert, daß Menschenwürde begründet ist in dem dem Menschen zuteil gewordenen schöpferischen Auftrag, kraft dessen der Mensch vom „Urgrund", wie Fechner den Auftraggeber nennt, dazu bestimmt worden ist, die Schöpfung fortzusetzen. In diesem Auftrag zur „Fortsetzung der Gesamtschöpfung" verwirkliche sich die Ebenbildlichkeit des Menschen. Ich referiere dies so ausführlich - ohne mich ganz damit zu identifizieren - um zu verdeutlichen, wo der Schlüssel für die erstaunliche Erfahrung liegen könnte, daß die Rechtswelt dem Menschen so „gemäß" ist: Der Mensch ist auf die ja wesentlich von ihm gestaltete Welt hin angelegt, und ohne daß dies jedesmal ins Bewußtsein gerufen werden muß, konzipieren die vielen an den dazu nötigen Entscheidungen beteiligten Menschen Normen nach menschlichem Maß. 41

41 Der Mensch braucht sich daher gar nicht zielgerichtet zum Maß aller Dinge und damit auch des Rechts zu machen - daß er dies macht, halten viele für ein Kennzeichen der Neuzeit, vgl. repräsentativ Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 6. Aufl. 1992, S. 20. Daß insofern die Grundprobleme der sog. Neuzeit allemal primär anthropologische Probleme seien, wie Jüngel aaO ausführt, ist wohl nur aus der Zugrundelegung eines sehr vagen und weiten Begriffs der Anthropologie erklärbar.

II. Verfassungsrecht; Europäisches Recht; Öffentliches Recht

Die Lösung kommunaler Aufgaben durch Stiftungen HANS ANGERER

I. Einführende Beispiele Mittelfranken-Stiftung Der Bezirk Mittelfranken 1 hat mit Stiftungsgeschäft vom 13. 10. 94 die „Mittelfranken-Stiftung Natur-Kultur-Struktur" geschaffen. Das Bayerische Staatsministerium des Innern genehmigte die Stiftung und ihre Satzung mit Schreiben vom 18. 10. 94 nach § 80 BGB, Art. 4, 5, 6 und 8 des bayerischen Stiftungsgesetzes als bezirkskommunale Stiftung des öffentlichen Rechts mit Sitz in Ansbach.2 Die Stiftung untersteht der Aufsicht des Bayerischen Staatsministeriums des Innern als Rechtsaufsichtsbehörde des Bezirks Mittelfranken. Wie von § 6 der Stiftungssatzung vorgesehen, hat der Bezirk in seiner Hauptsatzung und in seiner Geschäftsordnung geregelt, daß er mit seinen Organen (Bezirkstag, Bezirksausschuß) die Stiftung vertritt und verwaltet. Die Stiftung ist mit Aktienbesitz des Bezirks ausgestattet. Ihr Zweck ist die Förderung der Natur, Kultur und Struktur im Bezirk Mittelfranken im Rahmen seiner Aufgaben des eigenen Wirkungskreises unter Berücksichtigung des Natur- und Umweltschutzes. Z. B.: Erarbeitung und Umsetzung von 1

Das Thema wird anhand des bayerischen Rechts erörtert. Die stiftungsrechtlichen und vor allem die kommunalrechtlichen Fragen stellen sich aber in grundsätzlich gleicher Weise auch im Recht der anderen Länder. Allerdings gibt es Bezirke nur in Bayern. Dazu deshalb eine kurze Erläuterung: Die sieben bayerischen Bezirke zählen zu den Höheren Kommunalverbänden (die auch andere Länder kennen); sie sind als dritte kommunale Ebene kommunale Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltung (vgl. Art. 10 Abs. 1 der Verfassung des Freistaates Bayern). Sie haben die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, „die sich auf das Gebiet des Bezirks beschränken und über die Zuständigkeit oder das Leistungsvermögen der Landkreise und kreisfreien Gemeinden hinausgehen" (Art. 4 Abs. 1 der Bezirksordnung für den Freistaat Bayern - B e z O - ) . Hauptorgane sind der vom Volk gewählte Bezirkstag (Art. 21 ff BezO) und der vom Bezirkstag aus seiner Mitte gewählte Bezirkstagspräsident (Art. 30 ff BezO). Mit der Regierung als der staatlichen Mittelbehörde besteht ein Verwaltungsverbund (Art. 35 ff BezO). Die Hauptpflichtaufgaben der Bezirke im eigenen Wirkungskreis liegen in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung und im Sozialbereich. Freiwillige Aufgaben der Bezirke sind vor allem die Kulturarbeit und nur in gewissem Umfang auch der Umweltschutz (vgl. Art. 48 BezO). 2 Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 18. 10. 94, Allgemeines Ministerialblatt - A11MB1 - S. 929.

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Beispielen einer nachhaltigen und naturschonenden Landnutzung im Zusammenhang mit den Landwirtschaftlichen Lehranstalten in Triesdorf. Oder: Vergabe von Kulturpreisen zur Förderung der Gegenwartskultur in Mittelfranken. Oberfranken-Stiftung Diese Art Stiftungen sind natürlich nicht neu: So hat Mittelfranken sicher auf den Bezirk Oberfranken geblickt; denn eine recht bedeutsame Oberfranken-Stiftung gibt es seit 1927. Sie fördert Zwecke „auf dem Gebiet der Volkswohlfahrt unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse der Bevölkerung" im Gebiet des Bezirks Oberfranken. Die Stiftung wird selbst tätig (z. B. Betrieb eines Schullandheims, Gewährung von Preisen) und sie vergibt Fördermittel. Der „Kreistag" von Oberfranken (entspricht dem heutigen Bezirkstag) hat sie mit den im Eigentum des „Kreises" (Bezirks) befindlichen Aktien von zwei oberfränkischen Elektrizitäts-Aktiengesellschaften errichtet. Sie wird von einem Stiftungsrat verwaltet, dem u. a. der Regierungspräsident von Oberfranken als Vorsitzender (und Vertretungsorgan) angehört.3 Die Stiftung untersteht der Aufsicht der Stiftungsaufsichtsbehörde4, also der Regierung von Oberfranken. Berchtesgadener

Landesstiftung

Ein weiteres Beispiel ist die Berchtesgadener Landesstiftung: Der Freistaat Bayern hat sie im Jahr 1960 aus Anlaß der 150jährigen Zugehörigkeit des Berchtesgadener Landes zu Bayern geschaffen.5 Die Berchtesgadener Landesstiftung ist eine rechtsfähige kreiskommunale Stiftung des öffentlichen Rechts. Sie stützt sich auf ehemals den Zwecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dienendes Vermögen im Berchtesgadener Land. Der Freistaat Bayern hat die Stiftung mit dem Recht des Nießbrauchs am Kehlsteinhaus, dem ehemaligen „Teehaus" Hitlers, mit Umgriff ausgestattet. Die Stiftung, die durch einen fünfköpfigen Stiftungsrat unter dem Vorsitz des Landrats des Landkreises Berchtesgadener Land verwaltet wird, verfolgt Zwecke im Landkreis auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet. Sie soll insbesondere die Gesundheitsfürsorge, die Krankenpflege, die Erziehung,

' Satzung der Oberfranken-Stiftung in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. 1. 74 (Regierungsamtsblatt Oberfranken S. 22). * Also nicht der Rechtsaufsichtsbehörde, da die Stiftung nicht rein kommunal verwaltet ist; vgl. etwa Voll-Störle, Bayerisches Stiftungsgesetz, Rdn. 8 zu Art. 35. 5 Satzung vom 6. 8. 60, Staatsanzeiger Nr. 33; Neufassung vom 25. 2. 76 - ohne inhaltliche Änderung.

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das Schulwesen und die Pflege des Heimatgedankens fördern.6 Die Aufsicht hat die Rechtsaufsichtsbehörde des Landkreises, also die Regierung von Oberbayern. „Staatliche Stiftungen" Auch auf der Ebene des Staates gibt es vergleichbare neuere Entwicklungen: Durch Gesetz7 ist mit Wirkung vom 1. 4. 72 die Bayerische Landesstiftung als rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet worden. Die Bayerische Staatsregierung hat ihre Satzung erlassen. Sie verfolgt Zwecke auf sozialem und kulturellem Gebiet. Ein letztes Beispiel: die Bayerische Forschungsstiftung, die mit Inkrafttreten des Errichtungsgesetzes8 am 1. 8. 90 als rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts entstanden ist. Auch in diesem Fall hat die Bayerische Staatsregierung die Satzung erlassen. Hier läßt sich schließlich der Wunsch nach Gründung einer Kulturstiftung nennen. Nach den Vorstellungen der bayerischen kommunalen Spitzenverbände, kürzlich erst wieder als Forderung des Landkreistages veröffentlicht9, soll die Stiftung der Kulturarbeit in Bayern (im ländlichen Raum?) dienen; sie solle mit Kapital aus den Privatisierungserlösen des Staates ausgestattet werden. Die als Beispiele genannten Stiftungen erfüllen öffentliche (kommunale oder staatliche) Aufgaben für die Körperschaft, die sie zu diesem Ziel schuf. In diesem Befund spiegeln sich zwei neuere starke Strömungen wider, auf die nun zunächst einzugehen ist: der „Stiftungsboom" und die weitgespannten Bemühungen um Ausgliederung im Bereich der öffentlichen Verwaltung („outsourcing" in der Wirtschaft). II. Stiftungsboom Der „Stiftungsboom hält an", teilte das Bayerische Staatsministerium des Innern in seiner Pressemitteilung vom 24.1. 95 mit.10 1994 wurden in Bayern im Geschäftsbereich der inneren Verwaltung 26 Stiftungen neu gegründet; damit liegt die Zahl der Neugründungen bereits im dritten Jahr hintereinander bei über 20. Die Stiftungen haben überwiegend soziale Zweckbestimmungen. 24 oder 26 Stiftungen wurden von Privat' So der Text der Veröffentlichung im Ministerialamtsblatt. 7 V o m 27. 3. 72 (GVB1 S. 85). s Gesetz über die Errichtung der Bayerischen Forschungsstiftung vom 24. 7. 90 (GVB1 S. 241). ' Der Bayerische Bürgermeister 1995, S. 237. 10 Bulletin der Bayerischen Staatsregierung 3/95 vom 10. 2. 95, S. 10.

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personen geschaffen; bei diesen 24 Stiftungen wurden fast 21 Millionen D M Kapital eingebracht. In Bayern sind in den letzten drei Jahren insgesamt 167 Stiftungen neu errichtet worden. Das bedeutet eine Zunahme von 70 % gegenüber dem vorhergegangenen Dreijahres-Turnus. Das Verzeichnis rechtsfähiger öffentlicher Stiftungen in Bayern, das das Bayerische Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung herausgibt, umfaßt zum 31. 12. 94 eine Gesamtzahl von 1382 Stiftungen." Ebenso günstig stellt sich das Ergebnis für die ganze Bundesrepublik Deutschland dar: Seit Beginn der achtziger Jahre gibt es einen Aufschwung. In den Jahren 1990 bis 1994 sind in den alten Bundesländern 437 und in Ostdeutschland (ohne Berlin) 90 neue Stiftungen geschaffen worden. 12 Daß die Errichtung von Stiftungen seit jeher attraktiv ist, wird weiter unten behandelt. Der Aufschwung der letzten fünfzehn Jahre ist besonders bemerkenswert. Das „günstige Stiftungsrechts-Klima" 13 besteht aber schon seit den fünfziger Jahren. „Aufbruchsstimmung macht sich breit", stellte die Süddeutsche Zeitung am 15. 2. 90 anläßlich einer Stiftungstagung in Tutzing fest. „Tue Gutes und rede darüber", sei die neue Maxime. Stiftungen übernähmen gesellschaftliche Verantwortung, und der Staat sei gefordert, ein (noch) stiftungsfreundlicheres Klima zu schaffen, ähnlich wie in den U S A (also vor allem das Stiftungssteuerrecht zu verbessern). Die Veröffentlichung des Entstehens von Stiftungen im Amtsblatt der obersten Stiftungsaufsichtsbehörde (also eines Ministeriums) bringt zusätzliche Publizität und fördert damit noch stärker den Stiftungsgedanken. Das Gesetz zur Änderung des bayerischen Stiftungsgesetzes 14 hat nun in Art. 7 diese herausgehobene Form der Veröffentlichung allgemein gesetzlich festgelegt. III. Ausgliederungen im Bereich der Verwaltung Der „schlanke Staat" ist eine aktuelle Aufgabe und ein großes Ziel. Der Bayerische Ministerpräsident Stoiber betont 15 , es komme entscheidend darauf an, daß Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft in der " Süddeutsche Zeitung vom 11. 8. 95, S. 36. 12 „Der Platow-Brief" N r . 1/95 vom 4 . 1 . 9 5 , S. 2; vgl. auch „Wirtschaftswoche" N r . 4/95 v o m 19. 1.95, S. 9. " Siegmund-Schultze, Zur konfessionell beschränkten Stiftung im heutigen Recht. D Ö V 1994, S. 1017(1024). 14 V o m 23. 12. 95 (GVB1 S. 851). , 5 Vgl. zum Beispiel die Regierungserklärung vom 21. 7. 94 (Broschüre der Bayerischen Staatskanzlei, S. 3).

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Lage seien, rasch, flexibel und erfolgreich den weiteren Strukturwandel zu gestalten. Nicht besitzen, sondern gestalten sei der oberste Grundsatz. Weniger Staat sei das Ziel. Ein aktuelles Beispiel, wenn auch bei weitem nicht das wirtschaftlich bedeutsamste, ist die vom bayerischen Ministerrat am 25. 7. 95 beschlossene Formalprivatisierung der staatlichen Seenschiffahrt, unter anderem auf dem Königssee. Damit sind für den Staat - und dasselbe gilt auch für die Kommunen zwei Problembereiche verbunden: die Entbürokratisierung mit dem Ziel einer Effizienzsteigerung und die Entstaatlichung, verstanden als Abbau von Staatsaufgaben. Die beiden Bereiche können sich überschneiden und auch gegenläufig auswirken. Die für die Kommunen wie für den Staat finanziell schwierigen Zeiten haben einen Anstoß dazu gegeben, über Aufgabenabbau und Freiräume zu diskutieren. „Krise als Chance" hat Hill das überschrieben.16 Flexibilität, Mobilität, schlanke Verwaltung der Kommunen - auf allen drei Ebenen17 - sind die Stichworte. Bayern hat durch seine Gesetzesinitiativen der jüngsten Zeit den kommunalen Entscheidungsspielraum erweitert und den rechtlichen Rahmen für eine beweglichere Kommunalverwaltung geschaffen. Die in die bayerischen Kommunalgesetze eingefügte Experimentierklausel1* erlaubt die Erprobung neuer Steuerungsmodelle sowie Abweichungen vom geltenden Haushaltsrecht und Rechnungswesen. Die Experimentierklausel soll hier nur deshalb erwähnt werden, weil ihre Anwendung dazu helfen kann, Ausgliederungen vorzubereiten: Die mit Hilfe der Experimentierklausel zu erprobende dezentrale Budgetverantwortung ist eine solche Teilausgliederung, die in der Literatur dann häufig, unter anderem um den Gesamtzusammenhang in der Kommune zu wahren, mit der Forderung nach Controlling 19 in Verbindung gebracht wird. Außerdem ist es den Kommunen ermöglicht worden, die Rechtsform ihrer kommunalen Unternehmen frei zu wählen.20 Der in Bayern seit geraumer Zeit geltende Vorrang des Eigenbetriebs ist also abgeschafft. Die Kommunen können sich künftig leichter der privaten Rechtsform bedienen, z. B. eine GmbH gründen oder sich an einer solchen beteiligen. Es " Hill, Kommunikation als Herausforderung für Staat und Verwaltung. In: Schriftenreihe der Haniel-Stiftung. Band 7. Frankfurt a. Main, N e w York 1994, S. 49. 17 Vgl. Fn. 1. lg Gesetz vom 23. 7. 94 (GVB1 S. 609). " Dazu vor allem KGSt-Bericht 15/1994. 20 Gesetz vom 26. 7. 95 (GVB1 S. 376); zur Wahlfreiheit allgemein vgl. Knemeyer, Uberblick über die Rechtsformen kommunaler Unternehmen. In: Der Bayerische Bürgermeister 1993, S. 332; neuestens Schulz, Neue Entwicklungen im kommunalen Wirtschaftsrecht Bayerns. BayVBl 1996, S. 97.

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soll damit ein Wettbewerb der Organisationsformen entstehen und eine sachangepaßte Vielfalt ermöglicht werden. Auch die sehr erwünschte kommunale Kooperation mit Privaten wird nun leichter möglich sein. Vor allem sollen damit aber die Ausgliederung und der Abbau von Aufgaben gefördert werden. In den bayerischen Kommunalgesetzen gibt es seit 1. 9. 94 eine Privatisierungsklausel21: Zwar treffen die Kommunen ihre Entscheidungen über Privatisierungsmaßnahmen eigenverantwortlich im Rahmen des Selbstverwaltungsrechts; der Staat darf ihnen nicht bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben. 22 Er darf aber den Kommunen nahelegen, daß sie Aufgaben in geeigneten Fällen daraufhin untersuchen sollen, ob und in welchem Umfang sie durch nichtkommunale Stellen, insbesondere durch private Dritte oder unter Heranziehung Dritter, mindestens ebenso gut erledigt werden können. Derzeit besteht ein breiter Trend zur Privatisierung.23 Die Kommunen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland gehen vermehrt dazu über, Aufgaben auf Gesellschaften des privaten Rechts zu verlagern. Privatisierung soll Freiräume bringen und dazu helfen, daß die kommunale Finanzlage besser wird. Privatisierung soll Wettbewerb bewirken und als eine der Triebfedern unserer Gesellschaft auch für die Kommunen fruchtbar machen. Zu denken wäre sogar an einen Wettbewerb zwischen Kommunen und Privatunternehmen. 24 Privatisierung soll schließlich dazu beitragen, den öffentlichen Bereich zu reduzieren. Das ist der tiefere, auf das Subsidiaritätsprinzip zurückgehende ordnungspolitische Sinn der Sache. Bundespräsident Herzog hat kürzlich ausgeführt: 25 „Das Bekenntnis zur Subsidiarität ist nicht nur eine Verbeugung vor der Selbstverwaltung, sondern auch Aufforderung zum Nachdenken über die Aufgabenverteilung zwischen öffentlicher Hand und Privaten. ... Ich denke darüber hinaus an die Optimierung des Managements von Aufgaben, die wir bisher als öffentliche verstanden. Natürlich ist eine Gemeinde kein ,Profit-Center'. Aber sie ist es doch ihren Bürgern schuldig, über die Wirtschaftlichkeit ihres Handelns Rechenschaft abzulegen. Sie muß über die Privatisierung bisheriger öffentlicher Aufgaben nachdenken, die partnerschaftliche Kooperation zwischen öffentlicher Hand und privaten Anbietern erproben und ihre Verwaltungsstrukturen optimieren." Gesetz vom 23. 7. 94 (GVB1 S. 609). Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 23. 12. 57, VerfGHE 10, S. 113 = BayVBl 1957, S. 667. 23 Koch, Kommunale Unternehmen im Konzern. DVBl 1994, S. 667. u So - von der Bertelsmann-Stiftung beschrieben - das Beispiel von Phoenix/USA. 25 A m 31. 5. 95 vor dem Deutschen Städtetag (Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 200/95 vom 31. 5. 95, S. 8 f). 21

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Aus den genannten Gründen steht die materielle Privatisierung im Vordergrund. Zur materiellen Privatisierung zählen vor allem folgende Fälle: Die Kommune zieht sich aus einer Aufgabe völlig zurück. Die Kommune überträgt die Durchführung einer Aufgabe ganz oder teilweise auf Private (hierher gehören auch die verschiedenen Betreibermodelle). Die Kommune deckt ihren Eigenbedarf an Dienstleistungen und Sachmitteln nicht mehr selbst, sondern durch Private, beispielsweise in den Bereichen Gebäudereinigung, Kantine und Wäscherei. Auch die bloße Formalprivatisierung ist nicht untersagt („100%GmbH"), aber sie ist kein Ziel von gleichem Gewicht wie die materielle Privatisierung. Sie mag zu mehr Flexibilität und zu stärker wirtschaftlich ausgerichtetem Handeln beitragen; auf die oben genannten Motive kann sie sich aber nur berufen, wenn sie als dann willkommene Vorform echten privatwirtschaftlichen Handelns angesehen wird.26 Privatisierung ist sicher der Hauptweg für die Ausgliederung, aber nicht der einzige. Auch in Formen des öffentlichen Rechts kann ausgegliedert werden; das sei an zwei aktuellen Beispielen erläutert: Bayern hat jetzt, um die Breite der Wahl noch zu erweitern, eine neue öffentlich-rechtliche Rechtsform, das selbständige Kommunalunternehmen für wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Unternehmen der Kommune, in die Kommunalgesetze aufgenommen.27 Es soll als rechtlich selbständige Anstalt flexibler sein als bisherige Organisationsformen. Denn die Anstalt bietet auf dem Boden des Landesrechts ein Maß an Selbständigkeit, das mit der GmbH vergleichbar ist. Die neue Einrichtung orientiert sich am bewährten Vorbild der Sparkasse. Ähnliche Kommunalunternehmen gibt es bereits in Berlin28 und Hamburg. Das bayerische Kommunalunternehmen wird eine „schlanke" Einrichtung sein; denn es gibt nur zwei Organe, den Vorstand (Leitung) und den Verwaltungsrat (Aufsicht). Eine Gewährträgerversammlung ist nicht vorgesehen. Für einen Flächenstaat wie Bayern ist die einfache Unternehmensstruktur wesentlich - denn damit wird die neue Rechtsform auch für kleine kommunale Unternehmen interessant. Nach Art. 25 des Bayerischen Krankenhausgesetzes steht es den Kommunen frei, ihre Krankenhäuser und die damit verbundenen Einrichtungen als Regiebetrieb, Eigenbetrieb, selbständiges Kommunalunternehmen des öffentlichen Rechts oder in einer Rechtsform des privaten Rechts zu führen. Seit dem Inkrafttreten der neuen Vorschrift am 1. 9. 92 haben ca. 40 % der kommunalen Krankenhausträger in Bayern 26 Positiv zur Formalprivatisierung z. B. Härtung, Verselbständigung kommunaler Dienstleistungen. In: Der Städtetag 1994, S. 691. 27 Gesetz vom 26. 7. 95 (GVBl S. 376). 28 Berliner Betriebsgesetz vom 9. 7. 93 (GVBl S. 319).

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eine Entscheidung zugunsten einer neuen Rechtsform getroffen. In einer ganzen Reihe von Fällen ist die Rechtsform der G m b H gewählt worden; aber viele Krankenhäuser sind aus Regiebetrieben zu selbständigeren Eigenbetrieben umgewandelt worden. 29 Neben der GmbH erlebt also auch der altbewährte Eigenbetrieb einen neuen Aufschwung. 30 Stiftungen sind trotz oder gerade wegen ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Verankerung in einer langen Geschichte ebenfalls ein hochmodernes Instrument der Ausgliederung.31 Daß das Gesetz die Form der Stiftung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben zwar zulasse, aber im Interesse der Einheitlichkeit der Verwaltung und der kommunalen Hauswirtschaft, insbesondere aber auch zur Wahrung der Mitwirkungsrechte des kommunalen Gremiums nicht als erwünscht ansehe32, läßt sich so allgemein heute nicht mehr sagen. Durch ihre Anknüpfung sowohl an das private wie an das öffentliche Recht kommt den Stiftungen auch eine vermittelnde Bedeutung in der Privatisierungsdiskussion zu. Allerdings wirft die Ausgliederung in Stiftungen auch erhebliche Probleme auf; ihnen soll im folgenden nachgegangen werden. IV. Stiftungsrechtliche Abgrenzungen Den anfangs genannten Stiftungen ist erstens gemeinsam, daß sie nicht auf privates Engagement zurückgehen, sondern daß sie von einer Kommune (oder vom Staat) eingerichtet wurden. Es ist den Stiftungen zweitens gemeinsam, daß sie Aufgaben übernehmen, die andernfalls in die Zuständigkeit der Kommune oder des Staates fielen. Anknüpfend an diese Feststellungen werden die Stiftungen nun in die Systematik des Stiftungsrechts einzuordnen sein: Es soll hier tatsächlich nur von Stiftungen die Rede sein. Es gibt inzwischen viele Einrichtungen (z. B. manche politische „Stiftung"), die sich „Stiftung" nennen, aber ein Verein sind. Auch soll es nur um rechtsfähige Stiftungen gehen. Die fiduziarischen Stiftungen im Kommunalrecht 33 können zwar auch Probleme im Hinblick auf die damit zu verfolgenden Aufgaben aufwerfen 34 - es müssen 29

Mitteilungen des Bayerischen Landkreistages, Juli 1995, S. 13. Süddeutsche Zeitung vom 23. 8. 95 zum städtischen Krankenhaus München-Bogenhausen: „Ein kerngesundes Krankenhaus - Die Umwandlung in einen Eigenbetrieb hat sich bewährt." 31 Schulte, Staat und Stiftung. Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des Stiftungsrechts und der Stiftungsaufsicht. Heidelberg 1989, S. 70. 32 Z. B. Widtmann-Grasser, Bayerische Gemeindeordnung. Kommentar. Rdn. 8 zu Art. 75 G O . 33 Mit treuhänderischer Position der Kommune (vgl. Hölzl-Hien, Gemeindeordnung mit Landkreisordnung und Bezirksordnung. Kommentar. Anm. 1 zu Art. 84 GO). 34 Vgl. O V G Münster D Ö V 1985, S. 983 mit Anm. Neuhoff. 50

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wohl immer Aufgaben sein, die der Kommune zukommen aber das ist hier nicht zu vertiefen. Für das Vorhaben „Mittelfranken-Stiftung" zum Beispiel wäre eine unselbständige Stiftung nicht in Frage gekommen, da entgegen den kommunalrechtlichen Voraussetzungen (Art. 70 der Bezirksordnung) nicht Vermögenswerte eines Dritten, sondern Teile des eigenen Vermögens des Bezirks in die Stiftung eingebracht wurden. Es handelt sich auch nicht um alte Stiftungen, die der kommunalen Verwaltung und Aufsicht unterstellt worden sind. In solchen Fällen ist wohl nicht notwendigerweise ein Bezug zu kommunalen Aufgaben gegeben. Es ist überwiegende Meinung, daß Kommunen auch Stiftungen verwalten können, deren Zwecke nicht im Bereich ihrer öffentlichen Aufgaben liegen; es handelt sich dann um allgemeine, behördlich verwaltete Stiftungen. Nicht im Stiftungszweck, sondern in der Verwaltung liegt die kommunale Aufgabe.35 Seit Jahrhunderten gibt es Stiftungen, die den Kommunen Arbeit abnehmen. Sie werden „ kommunale Stiftungen " genannt, wenn der Stiftungszweck den öffentlichen Aufgaben der Kommune zuzurechnen ist. Ihre große Bedeutung ist oft beschrieben worden; bei der kommunalen Aufgabenerfüllung kommt ihnen eine Komplementärfunktion zu.36 Beispiel: Sieben kommunalverwaltete Altenheimstiftungen tragen die kommunale Augsburger Altenhilfe, mit der die Stadt ihren kommunalrechtlichen und sozialhilferechtlichen Auftrag erfüllt.37 Nach Art. 35 Abs. 1 des bayerischen Stiftungsgesetzes sind kommunale Stiftungen solche, deren Zwecke im Rahmen der jeweiligen kommunalen Aufgaben liegt und nicht wesentlich über den räumlichen Bereich der Gebietskörperschaft hinausreicht. Der räumlichen Eingrenzung ist also große Bedeutung beizumessen. Nun kommt man unseren Fällen näher: Es handelt sich um Stiftungen im Rahmen des kommunalen Aufgabenspektrums; der Unterschied zur „klassischen" Stiftung liegt aber darin, daß in unseren „Ausgliederungsfällen" die Kommune selbst etwas stiftet, während im Normalfall einzelne Bürger als Stifter auftreten.38 V. Einordnung unserer Stiftungen Die von einer Kommune geschaffene Stiftung kann nur öffentliche, keine privaten Zwecke verfolgen; in der Terminologie des bayerischen Rechts ist sie damit eine öffentliche Stiftung.39 Eine öffentliche Stiftung 35 Seifart-v. Campenhausen, Handbuch des Stiftungsrechts. München 1987, S. 347 (Rdn. 13); Siegmund-Schultze (Fn. 13), S. 1020. 36 Schulte (Fn. 31), S. 19 f. 37 Bericht des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen 1994, S. 57. 38 Seifart-v. Campenhausen (Fn. 35), S. 349 (Rdn. 3). 39 Art. 1 Abs. 2 des bayerischen Stiftungsgesetzes.

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kann dem öffentlichen, aber auch dem privaten Recht angehören. Eine Kommune könnte demnach auch eine privatrechtliche Stiftung schaffen. Sie erfüllt mit der Stiftung aber kommunale Aufgaben. Eine an den öffentlichen kommunalen Interessen orientierte Stiftung ist öffentlichrechtlich. Denn Stiftungen des öffentlichen Rechts sind Stiftungen, die ausschließlich öffentliche Zwecke verfolgen und mit dem Staat, einer Gemeinde oder einer sonstigen Körperschaft des öffentlichen Rechts in einem organischen Zusammenhang stehen, der die Stiftung selbst zu einer öffentlichen Einrichtung macht.40 Die Stiftung des öffentlichen Rechts kann durch Stiftungsgeschäft mit staatlicher Genehmigung oder durch Gesetz gegründet werden (Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 4 des bayerischen Stiftungsgesetzes). VI. Vergleich mit den Unternehmensstiftungen Von Unternehmensstiftungen spricht man, wenn die Stiftungen selbst Unternehmen betreiben. In den letzten Jahren hat sich die Wirtschaft sehr intensiv in das Stiftungswesen begeben. In Unternehmens(träger)stiftungen wird zum Teil - mögen sie auch durchaus gemeinnützig sein - ein Formenmißbrauch gesehen; denn letztendlich würden ganz andere Zwecke verfolgt. Trotz dieser rechtlichen Unsicherheit wird die Stiftung auch für den Unternehmensbereich zunehmend als zweckmäßige Rechtsform gesehen. Die neuen Unternehmensstiftungen werden aufmerksam verfolgt, da sie unter der Hand den Grundgedanken einer Stiftung verändern: Im Vordergrund steht nicht die Hochherzigkeit eines privaten Stifters, sondern der nüchterne Einsatz von Kapital für bestimmte Zwecke. Insoweit sind die Unternehmensstiftungen den hier behandelten kommunalen Stiftungen vergleichbar. VII. Probleme Der Stifter Auch wenn sich der Stiftungsbegriff im Lauf der Jahrhunderte geändert haben mag und immer noch Zweifel an der richtigen Definition bestehen (vgl. aber § 1 der bayerischen Verordnung zur Ausführung des Stiftungsgesetzes: „Eine rechtsfähige Stiftung ist eine durch den Willensakt des Stifters für einen bestimmten Zweck gewidmete Vermögensmasse, die durch staatlichen Hoheitsakt als juristische Person auf unbeschränkte Dauer rechtliche Selbständigkeit erlangt hat."), die konstitu-

40 Z. B. die Stiftung Maximilianeum in München, deren Kuratoriumsvorsitzender der Jubilar ist.

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tive Bedeutung des Stifterwillens stand nie in Frage. 41 Wenn eine Kommune eine öffentlich-rechtliche Stiftung gründet, die mit öffentlichen Mitteln ausgestattet wird und öffentliche Aufgaben erfüllen soll, so entspricht das dem herkömmlichen Stiftungsgedanken tatsächlich weniger. Dieser besagt, daß in der Regel eine private Person ein bestimmtes Vermögen zur Erfüllung von Zwecken widmet, um die sich die öffentliche Hand nicht ausreichend sorgen kann (Ergänzungs- oder Korrektivfunktion von Stiftungen). Daß Stiftungen, bei denen nicht Hochherzigkeit, sondern Ausgliederungsziele im Vordergrund stehen, dem traditionellen Bild der Stiftung nicht entsprechen, stört aus stiftungsrechtlicher Sicht aber nicht. Abgrenzung

zur Körperschaft und zur

Anstalt

Anders als eine Körperschaft ist eine Stiftung nicht mitgliedschaftlich strukturiert. Schulte42 hebt gegenüber der Körperschaft die „externe Trägerschaft" der Stiftung hervor. Der Anstalt steht die Stiftung näher. Aber die Anstalt ist immer Zweckinstrument ihres Trägers zur Erfüllung seiner Aufgaben, während die Stiftung sich in ihrem Zweck verselbständigt hat. Daraus zu folgern, daß Kommunen keine eigenen Stiftungen errichten dürften, geht aber zu weit.43 Immerhin ergibt sich daraus aber, daß der Einsatz von Stiftungen zur kommunalen Aufgabenerfüllung bei aller Attraktivität nicht unproblematisch ist. Dies gilt vor allem für privatrechtliche Stiftungen. Instrument

moderner

Ausgliederung

Der Bayerische Senat hat das Ziel der Bayerischen Staatsregierung unterstrichen, daß auch das Stiftungsrecht daraufhin zu überprüfen sei, welche Beiträge zur Verwaltungsvereinfachung es erbringen könne.44 Damit ist gemeint, daß auch das ehrwürdige Stiftungsrecht an den neuen Maßstäben orientiert werden soll. Aber unabhängig davon haben auch jetzt schon Stiftungen unter den Gesichtspunkten Deregulierung ünd Entstaatlichung großes Gewicht. Das Stiftungswesen läßt in vielfältiger Differenzierung Ausgliederungen zu.45 Wenn eine rechtsfähige Stiftung geschaffen wird, so ist das eine sehr prononcierte Ausgliederung. Eine Stiftung wird gemeinhin als „eine auf Dauer eingerichtete Verknüpfung der drei Wesensmerkmale Vermögen, Zwecksetzung und Eigenorgani-

41

42 43 44 45

B V e r f G E 46, S. 73 (85). Schulte (Fn. 31), S. 7. So auch Schulte (Fn. 31), S. 9 f. Senats-Drucksache 244/95 vom 6. 7. 95. Vgl. dazu Schulte (Fn. 31), S. 70.

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sation zu einem individuellen, in sich abgeschlossenen, selbsttragenden Rechtsgebilde" definiert. 46 Die Eigenständigkeit der Stiftung vermag Einwirkungen von außen weithin abzuwehren. Freiheit der

Formenwahl?

Mit dem Begriff „Aufgaben" ist zunächst nur verbunden, daß sie erfüllt werden müssen und daß die Kommune dafür geradestehen muß. Uber die Form der Erfüllung ist damit noch nichts gesagt. Die Kommune darf die Erledigung Privaten überlassen. Sie darf auch Rechtsformen für juristische Personen des öffentlichen Rechts ins Leben rufen. Grundsätzlich läßt sich also eine Freiheit der Formenwahl für die kommunale Aufgabenerfüllung annehmen. Sie wird durch die Idee der Selbstverwaltung gestützt, Einschränkungen sind aber nicht ausgeschlossen. Die bayerischen Kommunalgesetze (z. B. Art. 67 Abs. 2 B e z O ) lassen die Einbringung kommunalen Vermögens in eine Stiftung nur zu, wenn das im Rahmen der kommunalen Aufgabenerfüllung geschieht und der mit der Stiftung verfolgte Zweck nicht auf eine andere Weise erreicht werden kann. Das „bessere Image" der Stiftung reicht als Grund sicher nicht, steuerliche Vorteile können eine Rolle spielen. Kommunale

Aufgaben

Die Stiftung nimmt Aufgaben wahr, die bisher im Kommunalhaushalt unterzubringen waren. Daran knüpft sich einmal die Frage, was die jeweiligen Aufgaben sind. Diese Frage hat bei der Errichtung der Mittelfranken-Stiftung eine wesentliche Rolle gespielt. U m eine allzu allgemeine Formulierung zu vermeiden, wurde bei der Umschreibung des Aufgabenkatalogs so weit wie möglich an konkrete Einrichtungen des Bezirks angeknüpft (z. B. das Versuchsgut Triesdorf). Die Frage nach den gesetzlichen Aufgaben beantwortet sich verschieden: Bei Gemeinden ist von der „Allzuständigkeit" auszugehen; Landkreise und Bezirke haben enumerativ im Gesetz aufgeführte Aufgaben. In diesem Zusammenhang hat das Wort „Struktur" im Namen der Mittelfranken-Stiftung zunächst Probleme bereitet, weil die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und der Wettbewerbsfähigkeit generell keine Bezirksaufgabe ist. Durch die konkrete Aufgabenbeschreibung in der Satzung ist das Problem gelöst worden. Wichtig ist es zu betonen, daß die Ausgliederung in keinem Fall dazu verhelfen kann, den Aufgabenkatalog zu erweitern. 47 Das wäre ein Irrtum, oder es wäre der Versuch eines Tricks: Die Zwischenschaltung einer weiteren Rechtsform bringt keinen Zuwachs an 46

47

Vgl. die Nachweise bei Schulte (Fn. 31), S. 6. Seifart-v. Campenhausen (Fn. 35), S. 346 (Rdn. 10).

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Aufgaben! So ist zum Beispiel eine kommunale G m b H eben doch nicht eine G m b H wie jede andere, die frei am zivilrechtlichen Rechtsverkehr - vor allem mit wirtschaftlichen Zielen - teilnehmen könnte. Es kann also keine aufgabenerweiternde Organisationsform für die Kommunen geben. Der Zweck der Stiftung muß sich im Rahmen der Aufgaben halten. Ein dritter Punkt ist in diesem Zusammenhang am schwierigsten: Es bestehen Bedenken, ob neben freiwilligen Aufgaben auch Pflichtaufgaben mit Hilfe einer Stiftung erledigt werden können. Der Grund liegt darin, daß die festgefügte F o r m der Stiftung die Aufgaben der K o m mune auf Dauer entzieht und sich im übrigen die Maßstäbe (Geht es um die Kommune oder um die Stiftung?) verschieben können. So ist in der Satzung der Berchtesgadener Landesstiftung ausdrücklich vorgeschrieben: „Die Verwendung der Erträge des Stiftungsvermögens zur Erfüllung von Pflichtaufgaben des Landkreises Berchtesgadener Land ist unzulässig." Das ist gut geregelt, aber es fragt sich, ob es so sein muß. Die geschilderte Gefahr der Aufgabenentziehung besteht doch nur, wenn die K o m mune von der Aufgabe, die sich durch eine Stiftung erledigen läßt, tatsächlich frei wird. Die Verpflichtung der Kommune bleibt - im Hintergrund - aber erhalten. Sie muß gewährleisten, daß die Aufgabe erfüllt wird. Strittig ist auch, ob kommunale Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises durch eine kommunale Stiftung erledigt werden können. 48

Doppelte Aufgabenerfüllung durch die Kommune und die Stiftung? In der Satzung der Mittelfranken-Stiftung heißt es: „Fördert der Bezirk Maßnahmen im Sinn der Satzung, so scheidet eine Förderung durch die Stiftung aus." Diese Regelung wurde im Hinblick auf den Bezirk und seine finanzielle Lage getroffen. Der Aktienbesitz hat den Kommunalhaushalt bisher mitgespeist. Die Mitfinanzierung des Vermögenshaushalts entfällt, wenn der Aktienbesitz in eine Stiftung eingebracht wird. Im Rahmen der Stiftung sollen freiwillige Leistungen des Bezirks, die bisher der Haushaltsberatung und rechtsaufsichtlichen Beurteilung unterliegen, finanziert werden. Der Bezirkshaushalt soll entlastet werden. Entweder der Bezirk oder die Stiftung erledigt eine Aufgabe.

Verlust an Selbstverwaltung „Trotz ihrer wachsenden Probleme sind unsere Städte und Gemeinden noch immer Schulen der Demokratie. Nirgendwo sonst sind politische Entscheidungen direkter und erfahrbarer, nirgendwo sonst greifen

48

Ablehnend Voll-Störle (Fn. 4), Anm. 1 zu Art. 35 m. w. N.

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sie unmittelbarer in das persönliche Lebensfeld ein ... Deshalb tun wir gut daran, den Kommunen das Recht der Selbstverwaltung zu erhalten." 49 Die neuen Überlegungen zur Steuerung von Kommunen (vor allem die Budgetierung und der Versuch einer strikten Trennung von „Politik und „Verwaltung") ebenso wie die Ausgliederung von Aufgaben (und dabei natürlich vor allem die Privatisierung) berühren die kommunale Selbstverwaltung, und zwar den kompakten und umfassenden Versorgungsauftrag der Kommunen. 50 Man darf hier aber nicht vom Ergebnis her argumentieren. Die breite Palette der Möglichkeiten erweitert zunächst den Bereich der Selbstverwaltung. Daß dadurch auch rechtliche Bindungen entstehen, ist eine anzuerkennende Folge. Demokratisches

Defizit?

Daneben wird ein demokratisches Defizit beklagt; einerseits was die kommunale Entscheidungsfülle angeht, zum anderen im Hinblick auf den demokratischen Verfahrensablauf. Da eine Stiftung des öffentlichen Rechts eine juristisch selbständige Einheit ist, können keine zusätzlichen kommunalen Rechte an ihr bestehen. Trotzdem dürften die notwendigen Lenkungs- und Kontrollbefugnisse jedenfalls bei kommunal verwalteten kommunalen Stiftungen kein Problem sein. Es wird im Gegenteil befürchtet, daß die Kommune die Stiftung übervorteile! 51 In der Literatur werden darüber hinaus - jedenfalls bei Privatisierungen - weitere Defizite in der Verfahrensgestaltung festgestellt. 52 Die bewährten kommunalen Abläufe würden gestört. Hinzu kämen, was gerade für die Akzeptanz kommunalen Handelns besonders wichtig ist, Transparenz- und Publizitätsverluste. 53 Daß dieser Punkt als Problem der Ausgliederungen erkannt worden ist, zeigen die §§ 394, 395 des Aktiengesetzes (Sondervorschriften - Berichtspflichten gegenüber Gebietskörperschaften). Für kommunale Stiftungen sind die Steuerungsprobleme aber nicht von vorrangiger Bedeutung, zumal dann nicht, wenn sie kommunal verwaltet werden.

49 Bundespräsident Herzog am 31. 5. 95 vor dem Deutschen Städtetag (Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 200/95 vom 31.5. 95). 50 Laux, Die Privatisierung des Öffentlichen: Brauchen wir eine neue Kommunalverwaltung? In: Der Gemeindehaushalt 1994, S. 169; s. auch (bei Laux zitiert) Püttner, Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung. D O V 1994, S. 552 ff. 51 Seifart-v. Campenhausen (Fn. 35), S. 354 (Rdn. 2). 52 Erbguth-Stollmann, Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch private Rechtssubjekte? D Ö V 1993, S. 798 (808). 53 Erbguth-Stollmann, aaO.

Die Lösung kommunaler Aufgaben durch Stiftungen

Schreckbild: Aufteilung

von Kommunen

in viele

157

Einheiten?

Drohend vor Augen steht das Schreckbild einer in eine Vielzahl juristischer Einheiten zerfallenen Kommune.54 Daß diese Sorge wohl überzeichnet, aber nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, zeigen praktische Fälle: Einzelne Städte gründen eigens Gesellschaften, um die Vielzahl ihrer Einrichtungen in den verschiedensten (Privatrechts-)Formen zusammenzuhalten. Steuerungsmängel? Nicht nur die Verhinderung des Zerfallens, auch die Steuerung ist ein Problem. Je mehr eigenständige Flexibilität, desto weniger Möglichkeit für die Kommune, ihren Einfluß geltend zu machen.55 Schock56 spricht von „immer neuen Trabanten", die die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeit schmälern und die Einheit der Kommunalverwaltung gefährden. Der Verlust des Zusammenhangs, das isolierte Handeln Vieler, ist ein allgemeines Problem, das nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft betrifft.57 Aber auch hier gibt es eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten: Zum Beispiel ist die Oberfranken-Stiftung durch ihre Struktur ein Bindeglied zwischen dem Bezirk und der staatlichen Mittelbehörde; denn sie wird nicht von einem bezirkskommunalen Organ verwaltet, sondern bezieht den Staat dadruch in die Verwaltung ein, daß der Regierungspräsident von Oberfranken dem Stiftungsrat vorsitzt. Fazit Daß Stiftungen und Kommunen hervorragend zusammenarbeiten können, bestätigt ein Blick in ihre reiche Geschichte. Stiftungen können von den Kommunen auch als Instrumente moderner Aufgabenerfüllung eingesetzt werden. Ihre Festigkeit gegenüber Einflüssen von außen macht sie nützlich für die kontinuierliche Erfüllung kommunaler Aufgaben; sie bewahren gute Errungenschaften und sind ein Gegengewicht zum schnellen Wandel in unserer Zeit. Auf der anderen Seite sind sie ein Instrument, das die Kommune nur behutsam benützen darf, da kommunale Demokratie und Selbstverwaltung Schranken setzen.58 Vgl. Süß, Eigenbetrieb oder Gesellschaft? BayVBl 1986, S. 257 (262). Zuletzt Bäbr, Probleme des Managements öffentlicher Unternehmen. BWVP 1995, S. 172. 56 Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben. DVBl 1994, S. 962 (973). 57 Z. B. Einrichtung eines Telefons: Elektroprojektant, Gerätefirma und Telekom müssen zusammenarbeiten. 58 Herrn Regierungsrat Dr. Pfauser danke ich für seine Hilfe bei der Materialsammlung. 54

55

Kodifikatorische und rechtsgestaltende Wirkung von Grundrechten PETER BADURA

I. Die Gewährleistung der Freiheit Die Grundrechte des Grundgesetzes binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Der vielgestaltige und vielschichtige Reichtum von Rechten, Garantien und Grundsätzen, der den Grundrechtsnormen abgewonnen worden ist, hat seine Quelle in dem verfassungspolitischen Sinn der Grundrechte, Gewährleistung der Freiheit zu sein und vom Staat einzufordern. Der einzelne in seinen konkreten Rechtsbeziehungen bedarf dieser Gewährleistung und die Rechtsordnung muß so beschaffen sein, daß sie - neben anderen Regelungszielen - die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung der Freiheit zu leisten vermag. Die subjektiven Rechte des einzelnen, die im Einzelfall aus den Grundrechtsnormen abgeleitet werden können, und die Garantien und Grundsätze des objektiven Rechts, die konkludent durch die Grundrechtsnormen ausgesprochen werden, geben erst in der Zusammenschau das vollständige Bild. Die Sicherung der juristischen Wege, auf denen objektive Schutz- und Ordnungsgehalte der Grundrechte gefunden werden können und dürfen, und die Abstimmung der objektiven Rechtswirkungen mit den subjektiven Rechtszuweisungen der Grundrechte sind ein Hauptgegenstand der Verfassungsauslegung und der Verfassungsdogmatik 1 . Der Ariadnefaden, den das vom Grundgesetz mit dem letzten Wort des regulären Rechtsprozesses eingesetzte Bundesverfassungsgericht in diesem Teil des Labyrinths bereithält, lautet: „Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie (sc. die Grundrechte) in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver 1 K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, E u G R Z 1978, 427; den., Bedeutung der Grundrechte, HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 5; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und objektive Normen, Staat 29, 1990, S. 49; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Staat 29, 1990, S. 1; P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, HStR, Bd. VII, 1992, §159; B. Jeand'Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, J Z 1995, 161.

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Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft (BVerfGE 7, 198/205 - Lütb), hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung (vgl. etwa für das Eigentum BVerfGE 24, 367/389 - Hamburgisches Deichordnungsgesetz)"2. Diese Rechtsauffassung ist in zwei Punkten zu kommentieren. Das Gericht sieht die Grundrechte nicht verengt als Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt, sondern als Rechte zum Schutz der menschlichen Freiheit. Weiter behandelt - und verneint - das Gericht hier nur die Frage, ob die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien sich als Rechtsbasis eines Gefüges objektiver Normen verselbständigen und derart vom individuellen Schutzziel ablösen läßt. Es behandelt hier nicht die Frage, ob und in welchem Maß aus der Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien andere Rechtswirkungen entspringen können, wie z. B. Aufgaben des Staates oder Pflichtbindungen der individuellen Freiheit. Die Grundrechte als Freiheitsrechte geben dem einzelnen im Einzelfall subjektive Rechte in Gestalt von Abwehransprüchen (Unterlassungsansprüchen) oder Ansprüchen auf die Erfüllung von Schutzpflichten. In der rechtsstaatlichen Demokratie ist es Sache des Gesetzes, die Rechte und Pflichten des einzelnen zu bestimmen. Nur dort, wo der Gesetzgeber seiner ihm durch die Grundrechte zugemessenen Gewährleistungspflicht nicht nachkommt und es an ausreichenden Schutznormen durch Gesetz fehlt, kann ein etwa verletztes Grundrecht als verfassungsunmittelbare Schutznorm in die Lücke treten und einen Schutzanspruch, z. B. einen Abwehranspruch gegen die Zulassung einer den Dritten beeinträchtigenden Anlage oder Grundstücksnutzung begründen. Die Beschränkung des richterlichen Prüfungsrechts durch Art. 100 Abs. 1 G G kann zur Folge haben, daß das angegangene Gericht nicht selbst abschließend über den grundrechtlichen Schutzanspruch entscheiden kann. Die Grundrechte schließen objektive Wert- oder Grundsatzentscheidungen und Gewährleistungsversprechen für bestimmte Verfassungsgüter oder Rechtseinrichtungen ein. Damit normieren sie Aufgaben des Staates, die von den Verfassungsorganen, Gerichten und Behörden nach Maßgabe der bundesstaatlichen Kompetenzordnung und der aus dem Prinzip der Gewaltenteilung folgenden Aufgabenverteilung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung zu erfüllen sind. In dieser Funktion als objektive Prinzipien haben die Grundrechte auch - über die dem Gesetzgeber gestellte Regelungsaufgabe hinaus - verfassungsunmittelbare Rechtswirkungen. Die Grundrechte als „wertsetzende" Grundsatznormen3 werden durch die wertorientierte Verfas2 3

BVerfGE 50, 290/337. BVerfGE 6, 55/72; 7, 198/205.

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sungsdoktrin zu den maßgeblichen Leitlinien der Gesetzgebung, gewinnen aber auch unmittelbare Geltung für die Auslegung und Anwendung der Gesetze und für den Privatrechtsverkehr. Die Grundrechte können vielfach die von ihnen intendierte Gewährleistungswirkung erst durch das Gesetz erreichen, das das Garantieobjekt schafft und prägt4, z. B. im Fall von Ehe und Familie oder der Eigentumsfreiheit. Soweit eine dem Gesetz zukommende Vervollständigung oder Ergänzung von Verfassungsnormen im Gewährleistungsbereich von Grundrechten erfolgt, wirkt die Verfassung für den Gesetzgeber als Auftrag und Richtlinie, als Gestaltungsvollmacht, und nur in diesem Rahmen als Schranke zur Abwehr von „Eingriffen". Die der Rundfunkfreiheit verpflichtete Ordnung des dualen Rundfunksystems durch Staatsvertrag und Gesetz beispielsweise ist kein Eingriff im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, bleibt aber doch den rechtsstaatlichen Grenzen grundrechtserheblicher Eingriffe unterworfen, soweit subjektive Rechte der Rundfunkanstalten oder privater Rundfunkunternehmen im Zuge der „Ausgestaltung" der Rundfunkfreiheit berührt werden, etwa durch Befugnisse zur Verhinderung des Mißbrauchs publizistischer Macht. Die juristische Faßbarkeit der Bindung des Gesetzgebers durch die maßstabgebende und direktive Funktion der Grundrechte für die inhaltsbestimmende Regelung und Ausgestaltung der Freiheit bleibt deutlich hinter der verfassungsrechtlichen Meßbarkeit der Eingriffe durch die öffentliche Gewalt zurück, bei der die abwehrende Funktion der Freiheitsrechte zur Geltung kommt. In der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Gesetzen, die die Grundrechte in ihrer Funktion als objektive Prinzipien „verwirklichen", scheinen nicht selten juristische Argumentation und Begründung und politisches oder ideologisches Raisonnement nahezu bruchlos ineinander überzugehen. Eine vergleichbare Schwierigkeit, die äußerlich methodisch formuliert werden kann, aber in ihrem sachlichen Kern die Rechtsprechungsaufgabe der an Gesetz und Recht gebundenen Gerichte betrifft, zeigt sich im Verhältnis des Verfassungsgerichts zu den Gerichten, wenn die Reichweite der „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte auf die Rechtsordnung, insbes. auf das Privatrecht, zu bestimmen und abzugrenzen ist. Nach den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie und dem Gewaltenteilungsprinzip ist es dem Gesetzgeber vorbehalten, die objektiven und direktiven Wirkungen der Grundrechte für die Rechtsordnung, für die Wahrnehmung von Exekutivbefugnissen und für den Rechtsverkehr normativ zu bestimmen. Daß die Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht binden, weist dem Rich4 P. Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, HStR, Bd. V, 1992, § 121, Rdn. 37 ff.

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ter - unter Wahrung des verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopols (Art. 100 Abs. 1 G G ) - die Aufgabe zu, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen und den Gesetzgeber ggf. wegen fehlender oder mangelhafter Erfüllung einer grundrechtlichen Regelungspflicht zu korrigieren. Die dem Richter gesetzten Grenzen richterrechtlicher Rechtsbildung werden dadurch aber nicht verschoben 5 . Das Bundesverfassungsgericht hat die der richterlichen Rechtsprechungsaufgabe immanente Vollmacht der Rechtsbildung durch verallgemeinerungsfähige Rechtsauffassungen mehrfach ausdrücklich anerkannt, auch für die Effektivität der Grundrechte und nicht zuletzt für die Zivilgerichte, die die Geltungskraft der Grundrechte im Privatrechtsverkehr zu ermitteln und durchzusetzen haben 6 . Es hat die „judizielle Rechtsfindung" durch die Zivilgerichte als einen Weg aufgefaßt, dessen Sätze solange „richtig" sind, als „ihre Begründung und Weiterentwicklung im Bereich der zivilrechtlichen Dogmatik verbleibt". Es wird also auf außerpositive Kriterien des Juristenrechts für die „Richtigkeit" des Richterrechts verwiesen und es werden diese Kriterien überdies - wenngleich vielleicht mit einer zu lakonischen Formulierung - zugleich als solche des Verfassungsrechts aufgefaßt: „Der Richter kann die Wertvorstellungen des Grundgesetzes nicht in beliebiger Weise in seinen Entscheidungen zur Geltung bringen. Er würde die Verfassung auch verletzen, wenn er zu einem Ergebnis, das den Wertvorstellungen der Verfassung entspräche, auf einem methodischen Weg gelangte, der die dem Richter bei der Rechtsfindung gezogenen Grenzen mißachtete" 7 . In späteren Entscheidungen werden die Grenzen richterlichter Rechtsfortbildung auf den Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 G G zurückgeführt und damit in erster Linie aus dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes und allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip gewonnen 8 . Das Bundesverfassungsgericht hat die richterliche Befugnis der Rechtsbildung und Rechtsfortbildung zu Recht auch für seine eigene Rechtsprechungsaufgabe für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verfassung in Anspruch genommen. Die als tragende Gründe einer Entscheidung dienenden Rechtsauffassungen über den Inhalt von Verfassungsnormen haben eine umfassende Bindungswirkung 9 . Diese an sich ungewöhnliche Entscheidungsmacht des Bun5

A. Söllner, Zur Verfassungs- und Gesetzestreue im Arbeitsrecht, R d A 1985, 328/334 f; U. Karpen, Hrsg., Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 1995 (mit Referaten von A. Söllner und H. Eylmann). 6 B V e r f G E 34, 269; 75, 223/243 f. 7 B V e r f G E 34, 269/280, 281. Zustimmend A. Söllner aaO, S. 331, kritisch dagegen P. Lerche, Koalitionsfreiheit und Richterrecht, N J W 1987, 2465/2469. » B V e r f G E 49, 304/318 f; 57, 220/248; 65, 182/190 f. ' B V e r f G E 40, 88.

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desVerfassungsgerichts, mit der es auch den Gesetzgeber zu binden vermag, beruht technisch auf Gesetz (§31 Abs. 1 BVerfGG), aber dem rechtlichen Grund nach auf der Verfassung selbst, die das Gericht eingerichtet und mit seiner Entscheidungsvollmacht ausgestattet hat (Art. 93, 94 G G ) . Das Gericht soll eine mit der Autorität des Rechts handelnde Instanz sein, die mit letztverbindlicher Kraft den Inhalt der Verfassung und damit den rechtlichen Rahmen öffentlicher Gewalt klärt und bestimmt. Diese von der Verfassung gewollte Aufgabe, die verfassungspolitisch nicht unangefochten ist, kann es wirksam nur erfüllen, wenn seine aus der Erfahrung des Einzelfalles geschöpften Rechtsauffassungen über das, was von Verfassung wegen rechtens ist, verbindlich sind und als bindend anerkannt werden. Die tiefgreifende kodifikatorische und gestaltende Wirkung, die die Grundrechte und deren „Wertsystem" für „alle Bereiche des Rechts" 1 0 haben und fortdauernd ausüben, beruht auf dieser Stellung und Rechtsprechungsaufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Sie kann sich nur behaupten, wenn ihre Legitimität nicht allein durch das Fiat der richterlichen Entscheidung gedeckt ist, sondern auch durch eine gesicherte verfassungsrechtliche D o g matik und einsehbare und überprüfbare Methoden juristischer Argumentation und Begründung vermittelt wird. Die Lebhaftigkeit, mit der in einer jetzt länger zurückliegenden Zeit über die Methoden der Verfassungsauslegung gestritten wurde, ist der Beleg dafür, daß damals die grundlegende Frage einer berechenbaren Bindung der verfassungsgerichtlichen Praxis an Verfassung, Gesetz und Recht erfaßt und in Angriff genommen wurde. Für die Autorität verfassungsgerichtlicher Entscheidung ist ausschlaggebend, wie das Gericht selbst diese Frage beantwortet. Die Doktrin des Bundesverfassungsgerichts, wonach alle für die grundrechtliche Gewährleistung der Freiheit und für die Ausübung der Grundrechte „wesentlichen" Fragen durch die Gesetzgebung und ein sachlich hinreichend dicht diesem Regelungsauftrag nachkommendes Gesetz normiert werden müssen", will in erster Linie die rechtsstaatliche und demokratische Garantiefunktion des Gesetzes als der notwendigen Entscheidungsgrundlage der Exekutive sichern. Der dadurch erweiterte Eingriffsvorbehalt bedeutet eine dem expandierenden Interventions- und Leistungsstaat der Parteiendemokratie folgende Weiterentwicklung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung:

"> B V e r f G E 7, 198/205. " D. C. Umbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 111; P. Badura, Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, Z G 4, 1987, S. 300; K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte aaO, Rdn. 42 ff; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, 11. Aufl., 1995, Rdn. 285 ff.

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„Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen ..." u . Der Grundgedanke reicht weiter. Er gibt eine Richtschnur ab für die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten durch Gesetz und schließlich insgesamt für Art und Maß der Erfüllung von Staatsaufgaben, jedenfalls soweit das Schutz- und Ordnungsziel von Grundrechten berührt ist. Wird diese Regelungsaufgabe des Gesetzgebers überspannt, verwandelt sich die zunächst als Werkzeug der Prärogative der Gesetzgebung erscheinende Wesentlichkeitstheorie in ein Prokrustesbett für die gewählte Volksvertretung und in eine die Politik deformierende Einschnürung der demokratischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers". Die Grundrechte werden zu einer Ersatzkodifikation der Basisnormen der Rechtsordnung, zu einem ubiquitär wirksamen und immer dichter geknüpften Netz für alle Bereiche des Rechts. Nicht sosehr die Verstärkung der die öffentliche Gewalt im Einzelfall zurückdrängenden subjektiven Freiheitsrechte des einzelnen, als vielmehr die durch das Bundesverfassungsgericht authentisch und vorantreibend verlebendigte Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien hat einen Verfassungswandel im Verhältnis der Rechtsprechung zur Gesetzgebung und im Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Gerichten, auch und gerade zu den Zivilgerichten, hervorgebracht. Zwei besonders augenfällige Beispiele sind die Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Der Mangel einer Bundeskompetenz für den Rundfunk ist durch eine vom Bundesverfassungsgericht bis in die Einzelheiten entwickelte bundes(verfassungs)rechtliche Rundfunkverfassung ausgeglichen worden. Auf diese unitarische duale Rundfunkordnung und ihre staatsvertragliche Komplettierung fällt allerdings zunehmend der Schatten des europäischen Gemeinschaftsrechts. Die Koalitionsfreiheit, jene „unfertig verfaßte" Garantie des Koalitionswesens und des Tarifvertragssystems 14 , bildete für das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht eine verfassungsunmittelbare Kodifikation der Grundfragen des kollektiven Arbeitsrechts und, herausragend, des Arbeitskampfrechts. Daß

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BVerfGE 83, 130/142. F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: V. G ö t z / H . H . Klein/Chr. Starck, Hrsg., Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 9; ders., Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, HStR, Bd. III, 1988, §62, Rdn. 41 ff. 14 P. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes 1968, S. 26 ff; ders., Koalitionsfreiheit und Richterrecht, N J W 1987, 2465/2470 ff. 13

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sich hier ein exemplarisches Feld des Richterrechts eröffnete 15 , war und ist nicht einfach ein mißbilligenswertes Phänomen einer Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit des Gesetzgebers. Es ist vielmehr im Kern ein systembedingtes und verfassungsrechtlich erwünschtes Ergebnis der durch die Autonomie der Koalitionen bestimmten, kollektiven und antagonistischen Arbeitsverfassung. Die Verfassung hindert den Gesetzgeber nicht, zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses und des Schutzes der Rechte Dritter in der Arbeitsordnung zu gewährleisten und mit diesem Ziel Inhalt und Schranken der Koalitionsfreiheit zu bestimmen. Es läuft jedoch dem koalitionsrechtlichen Autonomieprinzip und der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zuwider, mit den dehnbaren Formeln der Wesentlichkeitstheorie eine Regelungspflicht des Gesetzgebers etwa für das Arbeitskampfrecht zu postulieren, sei es allgemein 16 , sei es für bestimmte Kollisionsfälle, z. B. den Beamteneinsatz beim Streik der Tarifkräfte 17 . Dem Richter ist es verwehrt, die Sache des Gesetzgebers an sich zu ziehen, nämlich die Tragweite der Koalitionsfreiheit zu bestimmen und die Befugnisse der Koalitionen auszugestalten und näher zu regeln 18 . Dieses Hindernis besteht auch für das Bundesverfassungsgericht, soweit es nicht verfassungsrechtlich gegebene Rechtsfolgen gegenüber dem Gesetzgeber oder den Zivil- und Arbeitsgerichten durchsetzt 19 . Kann die Balance von Gesetzgebung und Rechtsprechung durch die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie und das Gewaltenteilungsprinzip austariert werden, ist auf der anderen Seite ein verfassungsrechtliches Kriterium für die Abgrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit von der Rechtsprechungsaufgabe der Gerichte nur mittelbar und mit nur geringer Schärfe auszumachen. Der für die Verfassungsbeschwerde gültige Grundsatz der Subsidiarität ist eine verfassungsprozessuale Konsequenz der verfassungsrechtlich angedeuteten Verteilung der

,s R. Richardi, Richterrecht und Tarifautonomie, in: Gedächtnisschrift für Rolf Dietz, 1973, S. 269; P. Badura, Verfassungsfragen des nicht koalitionsmäßigen Streiks, D B Beilage Nr. 14/85; A. Söllner aaO; H. Seiter, Zur Gestaltung der Arbeitskampfordnung durch den Gesetzgeber, RdA 1986, 165; P. Lerche, Koalitionsfreiheit aaO. " M. Löwisch, Richterliches Arbeitskampfrecht und der Vorbehalt des Gesetzes, D B 1988, 1013 (Regelungspflicht, soweit der Gesetzesvorbehalt reicht); P. Lerche, Koalitionsfreiheit aaO, S. 2470 ff (Normierung zumindest der „grundsätzlichen Organisation des Prozesses arbeitskampfmäßiger Begegnung der Koalitionen"). 17 BVerfGE 88, 103. - Dazu Chr. Ehrich, JuS 1994, 116;/. Isensee, DZWiR 1994, 309; M. Jachmann, ZRP 1994, 1. BVerfGE 57, 220/248. " P. Lerche, Koalitionsfreiheit aaO, S. 2468 ff, mit einer Kritik des „Übertritts in das angestammte Gelände der Fachgerichtsbarkeit" durch BVerfGE 65, 196/211 ff - betriebliche Unterstützungskasse.

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Rechtsprechungsaufgaben zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Gerichten (Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG) 20 . Materiellrechtlich hat das Bundesverfassungsgericht stets den Grundsatz betont, daß es eine beanstandete Gerichtsentscheidung nicht schon dann korrigieren dürfe, wenn sie an einem Rechtsfehler leide und Grundrechte des unterlegenen Teils berühre. Der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen, nicht nur in einer angreifbaren oder zweifelhaften Rechtsanwendung oder Abwägung von Interessen. „Allgemein wird sich sagen lassen, daß die normalen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind" 21 . Ist schon diese Formel keine sehr trennscharfe Grenze für die verfassungsgerichtliche Jurisdiktion, wird die Abgrenzung vollends dort undeutlich, wo die „Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung" eine weitergehende verfassungsgerichtliche Kontrolle erfordert, wie hauptsächlich bei den Kommunikationsgrundrechten22. Die Ausstrahlung der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit etwa, die modifizierend auf den negatorischen Rechtsschutz des Zivilrechts und auf den Rechtsgüterschutz des Strafrechts einwirkt, wird allein durch die Wertungen des Bundesverfassungsgerichts gesteuert. Die umstrittenen Entscheidungen der neueren verfassungsgerichtlichen Praxis, z. B. zur passiven Gewalt durch „Sitzdemonstrationen" (§ 240 StGB) 25 , sind wegen der Auslegung der Grundrechte, noch mehr aber wegen des Einbruchs in die Rechtsprechungsaufgabe und das Entscheidungsrecht der Zivil- und Strafgerichte24 kritisch zu würdigen. II. Teilnahme der öffentlichen Hand am Privatrechtsverkehr Die Exekutive übt zunächst und in einem engeren und eigentlichen Sinn vollziehende Gewalt aus, wenn sie das Gesetz durch öffentlichB V e r f G E 49, 252; 79, 174/189 f. B V e r f G E 18, 84/92 f. - R. Herzog, Das Bundesverfassungsgericht und die Anwendung einfachen Gesetzesrechts, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 431. 22 B V e r f G 42,143/148 f; 42, 162/168 f; 54, 129/135 f; 75, 203/312; 81, 278/289. 23 B V e r f G N J W 1995, 1141 (abweichend von B V e r f G E 73, 206); dazu R. Scholz, NStZ 1995,417. 24 W.-R. Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, 1987; M. Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen. Zur Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsanwendung, 1991; F. Ossenbühl, A b wägung im Verfassungsrecht, D V B l . 1995, 904. 20

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rechtliche Entscheidungen und Handlungen ausführt, d. h. mit den ihr eigentümlichen Mitteln oder „Rechtsformen" des öffentlichen Rechts. Sie ist dabei an die Grundrechte gebunden, auch wenn sie nicht hoheitliche Gebote oder Verbote ausspricht oder sonst mit obrigkeitlicher Rechtsmacht handelt. Die Grundrechtsgebundenheit sichert die Freiheitsrechte schlechthin gegen die Ausübung öffentlicher Gewalt (siehe Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) und die damit verbundene Überlegenheit und Gefahr des übermäßigen oder willkürlichen Vorgehens des Regierungs- und Verwaltungsapparats. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) bilden die erste und wesentliche Gewährleistung dafür, daß die vollziehende Gewalt in den rechtsstaatlichen Bahnen verbleibt25. Der Gesetzesvorbehalt, auch in seiner erweiterten Gestalt, führt zu keiner umfassenden und durchgehenden Bindung der Exekutive an das Gesetz. Das der Verwaltung durch Gesetz eingeräumte Ermessen und die ihr sonst zugewiesenen Beurteilungs- und Entscheidungsbefugnisse bei der Ausführung der Gesetze eröffnen selbständige Handlungs- und Regelungsmöglichkeiten, ebenso wie die vom Gesetzesvorbehalt nicht erfaßten Spielräume fördernden und gestaltenden Verwaltungshandelns. Hier - aber in nicht einmal sehr engen Grenzen selbst beim Vollzug der Gesetze 26 - kann die Exekutive Verwaltungsaufgaben auch mit den Mitteln des Privatrechts erfüllen. Die fließenden Ubergänge zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Auftreten der Verwaltung setzen sich fort, wenn der Blick auf das unternehmerische oder sonstige wirtschaftliche Handeln der Exekutive und auf das Auftragswesen der öffentlichen Hand fällt. Wenngleich unterschiedlich je nach den Aufgabengebieten öffentlicher Verwaltung und den normativen Handlungsund Entscheidungsgrundlagen verfügt die Exekutive über eine mehr oder weniger weitreichende Wahlfreiheit hinsichtlich der Mittel und Rechtsformen der Aufgabenerledigung. Seit jeher - für einzelne Betätigungsfelder der Verwaltung, wie die Daseinsvorsorge, schon vor dem Kriege27 - wurde erkannt, daß das Recht der Verwaltung, für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben Rechtsformen des privaten Rechts zu wählen, nicht die Möglichkeit einschließen konnte, sich den rechtsstaatlichen Bedingungen und Grenzen des Verwaltungshandelns zu entziehen. Eine „Flucht in das Privatrecht" mit der Wirkung, daß durch die Verwendung privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen die Bin25

W. Rüfner, Grundrechtsadressaten, HStR, Bd. V, 1992, § 117, Rdn. 19 ff. B G H DVBl. 1985, 793 (Wahrnehmung städtebaulicher Zwecke und von Aufgaben der Bauleitplanung durch eine Gemeinde). 27 E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938. u

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dung an die Grundrechte umgangen werden könnte, ist der Exekutive verwehrt. Die Verschiedenartigkeit der Ziele und der Einwirkungsmöglichkeiten der Verwaltung bei ihrer Teilnahme am Privatrechtsverkehr haben zu einer differenzierten Lehre von der Grundrechtsbindung privatrechtlichen Handelns der Exekutive geführt. Die Exekutive handelt privatrechtlich mit Hilfe der Beteiligung an einer Handelsgesellschaft oder wenn ein Verwaltungsträger sich der rechtsgeschäftlichen Handlungsformen oder der schuld- oder sachenrechtlichen Befugnisse des Privatrechts bedient. Wenn die Exekutive sich der Organisations- oder Handlungsformen des Privatrechts bedient, entstehen in jedem Fall privatrechtliche Rechtsbeziehungen, auch dann, wenn auf diese Weise unmittelbar Zwecke der öffentlichen Verwaltung verfolgt werden. Dementsprechend bestimmen sich die Haftung der öffentlichen Hand und der Rechtsweg. Die Rechtmäßigkeit solchen Verwaltungshandelns kann nur in einem Rechtsstreit vor den ordentlichen Gerichten nachgeprüft werden. Die ordentlichen Gerichte entscheiden dabei auch über etwa bestehende öffentlich-rechtliche Bindungen des privatrechtlichen Verwaltungshandelns; sie entscheiden darüber, ob und mit welchen Rechtsfolgen eine Bindung an die Grundrechte gegeben ist28. Anders ist es nur, wenn das Gesetz besondere öffentlich-rechtliche Entscheidungsbefugnisse vorsieht, wie bei dem Anspruch auf Zulassung zu einer kommunalen öffentlichen Einrichtung oder bei einem zweistufigen Subventionsverhältnis. Wenn der Staat oder ein anderer Verwaltungsträger mit Hilfe privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen unmittelbar Verwaltungsaufgaben erfüllt, ist er nach den allgemein anerkannten Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts 29 den das Verwaltungshandeln beherrschenden Anforderungen des Rechtsstaats und der Bindung an die Grundrechte unterworfen. Er nimmt am Privatrechtsverkehr nicht auf Grund von Privatautonomie, sondern kraft der ihm zugewiesenen und bereichsspezifisch begrenzten Vollmacht vollziehender Gewalt teil. Die für die konkrete Rechtsbeziehung maßgebenden Normen des Privatrechts werden durch die rechtsstaatlichen Grundsätze des Verwaltungshandelns „ergänzt, überlagert und modifiziert". Diese Bindungen gelten auch, wenn die Exekutive dem einzelnen in Gestalt einer von ihr beherrschten Handelsgesellschaft oder sonstigen Rechtsperson des Privatrechts gegenübertritt. Diese Doktrin der rechtsstaatlichen Gebundenheit der zur Erfüllung von Verwaltungszwecken am Privatrechtsverkehr teilBVerwG JZ 1990, 446 (Schutzpflicht „Familie in Not"). " Hans }. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl., 1994, § 23, Rdn. 29 ff. 28

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nehmenden Exekutive ist maßgeblich vom Bundesgerichtshof aufgenommen und weiterentwickelt worden30. Jedenfalls die ältere Rechtsprechung hat dabei einen Unterschied des verwaltungsprivatrechtlichen Verwaltungshandelns und des „fiskalischen" Auftretens der Verwaltung im öffentlichen Auftragswesen und beim „erwerbswirtschaftlichen" Tätigwerden der öffentlichen Hand aufrechterhalten31. Diese Unterscheidung ist nicht hinfällig, aber doch was ihren Grund und ihre Folgen anbelangt überprüfungsbedürftig. Schon die ältere Lehre vom Verwaltungsprivatrecht schöpft ihre Rechtfertigung aus dem Grundgedanken, daß die in den Grundrechten verkörperte Schutzbedürftigkeit des einzelnen nicht allein von den Rechtsformen abhängt, in deren Mantel die Exekutive dem einzelnen gegenübertritt. „Vollziehende Gewalt" im Sinne des Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 G G ist nicht mit hoheitlich gebietender öffentlicher Gewalt (Art. 19 Abs. 4, Art. 94 Abs. 1 Nr. 4 a G G ) gleichzusetzen. Die Gewährleistung der Freiheit durch die Grundrechte muß so weit reichen, wie die Freiheit gegenüber den im Rechtsstaatsprinzip aufgenommenen und der Exekutive eigentümlichen Gefahren übermäßigen oder willkürlichen Rechtseingriffs durch politisches oder administratives Handeln des verfassungsrechtlichen Schutzes bedarf. Die Schutzbedürftigkeit des einzelnen gegenüber der Exekutive entfällt beispielsweise nicht schon dadurch, daß der Staat als Unternehmer auftritt und sich in unternehmerischer Funktion am Marktverkehr beteiligt. Die Frage kann nur sein, ob das Privatrecht dieser Schutzbedürftigkeit in ausreichendem Maße nachkommt 32 . Staatlich beherrschte öffentliche Unternehmen, wie z. B. die Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost, sind schon nach der Lehre vom Verwaltungsprivatrecht an die Grundrechte gebunden, wenn sie unmittelbar Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erfüllen. Es kommt auf den öffentlich gebundenen Unternehmenszweck, nicht auf die unternehmerisch gestaltete Aufgabenerfüllung an33. Die neuere, heute als überwiegend zu bezeichnende Lehre geht einen Schritt weiter und bindet die in Privatrechtsform handelnde öffentliche Verwaltung durchgehend, wenn auch mit differenzierenden Bindungswirkungen, an die Grundrechte. Die Teilnahme am Privatrechtsverkehr als solche wird dabei ebensowenig als ausschlaggebend angesehen wie die auf den verfolgten Zweck abstellende Unterscheidung der älteren Auffassung zwischen verwaltungsprivatrechtB G H Z 29, 76; 52, 325; 65, 284/287; 91, 84/96 ff. B G H Z 36, 91 (AOK-Gummistrümpfe). 32 P. Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand und die neue Sicht des Gesetzesvorbehalts, in: Festschrift für Ernst Steindorff, 1990, S. 835. 33 M. Ronellenfitsch, Wirtschaftliche Betätigung des Staates, HStR, Bd. III, 1988, § 84, Rdn. 47,48. 30 31

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lichem und fiskalischem Handeln. Das Ob der Bindung an die Grundrechte ist danach rechtsformunabhängig. Welche Rechtsfolgen daraus abzuleiten sind, hängt dann - insbes. im Hinblick auf den Gleichheitssatz - von der Eigenart des Grundrechts und der grundrechtsgebundenen Tätigkeit ab34. Als noch nicht abschließend geklärt muß allerdings gelten, ob auch ein öffentliches Unternehmen in Privatrechtsform der Grundrechtsbindung unterliegt, wenn die Beteiligung der öffentlichen Hand hinter einer Beherrschung zu 100 v. H. oder 75 v. H. (vgl. § 179 Abs. 2 AktG) zurückbleibt35. Die öffentliche Hand als Anteilseignerin ist in jedem Fall bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftsrechtlichen Befugnisse den rechtsstaatlichen Grundsätzen - und den Vorschriften des Haushaltsrechts - unterworfen. Dafür, die Bindung an die Grundrechte auch für das gemischtwirtschaftliche Unternehmen mit Mehrheitsbeteiligung der öffentlichen Hand selbst anzunehmen, spricht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß derartige öffentliche Unternehmen sich grundsätzlich36 nicht auf Grundrechte berufen können37. Die durch die Mehrheit der Anteile beherrschte Handelsgesellschaft ist eine nach Maßgabe des Gesellschaftsrechts dem Willen der öffentlichen Hand unterworfene Rechtsperson, in der sich nicht die privatautonome Assoziation unternehmenswirtschaftlicher Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr zur Geltung bringt, sondern eine am öffentlichen Interesse orientierte und organisatorisch mit dem Staat verbundene Verwaltungsaufgabe. Die Teilnahme der öffentlichen Hand mit privatrechtlichen Organisat i o n - oder Handlungsformen am Wirtschaftsverkehr bemißt sich allgemein nach den Regeln und Vorschriften des Privatrechts. Die für das Privatrecht allgemein geltende Gleichordnung der Rechtspersonen und auch die Gleichheit des Wettbewerbs gilt auch für sie. Die durch die Grundrechte gesicherte Schutzbedürftigkeit wirft jedoch die Frage auf, ob die Vorkehrungen des Privatrechts, insbes. des Wettbewerbsrechts 34 D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 212 ff; ders., Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: H.-U. Erichsen, Hrsg., Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl., 1995, § 2, Rdn. 75 ff; K. Stern, Staatsrecht, III/l, 1988, § 74 IV 5; W. Rüfner aaO, Rdn. 39 ff; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rdn. 346 ff; B. Pierotb/B. Schlink, Grundrechte aaO, Rdn. 207. 35 Bejahend D. Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht aaO, Rdn. 80, anders W. Rüfner aaO, Rdn. 49. 36 Eine Ausnahme ist anzunehmen, soweit eine Tochter- oder Beteiligungsgesellschaft der öffentlichen Hand einem grundrechtlichen Schutzbereich spezifisch zugeordnet ist, wie z. B. bei Einrichtungen der Wissenschaft oder der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG); vgl. BVerfGE 85, 360/384. 37 BVerfGE 45, 63/78 ff; 68, 193/213 f; BVerfG NJW 1990, 1783; BVerfG NJW 1995, 582. - Dagegen E. Schmidt-Aßmann, BB Beilage 34/1990; H.-G. Koppensteiner, NJW 1990,3105.

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auch dann ausreichen, wenn die öffentliche Hand durch Lenkung, Förderung oder sonstige einseitige Beeinflussung mit Hilfe ihrer privatrechtlichen Potenzen, etwa des von ihr beherrschten öffentlichen Unternehmens, die Marktposition der privaten Konkurrenten schwächt oder sonstwie Rechte Dritter beeinträchtigt. Soweit die einschlägigen Vorschriften des Privatrechts gegen die außerunternehmerischen Lenkungsund Beeinflussungsmaßnahmen der Exekutive, gegen die den Rahmen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs verlassende Instrumentalisierung der Teilnahme der öffentlichen Hand am Wirtschaftsverkehr keinen hinreichenden Schutz bieten, treten die Grundrechte auf den Plan. Sie vervollständigen und modifizieren die in dieser Hinsicht ergänzungsbedürftigen Schutznormen des Privatrechts. Die Grundrechte geben dem Privaten keine Abwehransprüche gegen die Beteiligung der öffentlichen Hand am Wirtschaftsverkehr überhaupt, wohl aber gegen wirtschaftsbeeinflussendes Auftreten des Staates, das zielgerichtet oder nachteilig wirkend die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs verändert, um einen im öffentlichen Interesse liegenden Erfolg herbeizuführen oder die Marktposition der öffentlichen Hand einseitig zu verbessern38. Wiederum erweist sich der Gesetzgeber, hier der Gesetzgeber der Privatrechtsordnung, als der zuerst zum Schutz und zur Gewährleistung der Freiheit Aufgerufene. Nur soweit das Gesetz der Schutzbedürftigkeit des Privaten gegenüber der Teilnahme der öffentlichen Hand am Privatrechtsverkehr nicht hinreichend Rechnung trägt, wird die Grundrechtsbindung der Exekutive verfassungsunmittelbar wirksam. III. Privatrechtliche Entscheidungsgrundlagen der zivilgerichtlichen Rechtsprechung Die Gewährleistung der Freiheit des einzelnen und der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Rechtsgütern in den privatrechtlichen Rechtsbeziehungen ist Sache des Privatrechts, d. h. der Gesetzgebung und - gebunden an Gesetz und Recht - der Gerichte39. Der einzelne, der am Privatrechtsverkehr teilnimmt, wird durch die Grundrechte nicht verfassungsunmittelbar gebunden oder verpflichtet, es sei denn eine derartige Rechtsfolge wäre durch Verfassungnorm angeordnet, wie in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Soweit die Grundrechte in ihrer Eigenschaft als Grundsatznormen objektive Prinzipien der Rechtsordnung festlegen, können sie Schutzpflichten hervorbringen, die eine gesetzliche Regelung gebieten, und durch ihre Ausstrahlungswirkung die Auslegung und 3!

BVerwGE 71, 183/193 f; BVerwG NJW 1988, 1277; BVerwG GewArch. 1995, 329. Meiner Assistentin Katja Mühlbauer schulde ich Dank für sachkundige Hilfe bei der Vorbereitung dieses Abschnitts. 59

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Anwendung der privatrechtlichen Rechtsvorschriften beeinflussen. „Als leitende Prinzipien der Gesamtrechtsordnung ... können die Grundrechte zwar für die Gestaltung privatrechtlicher Rechtsbeziehungen maßgeblich sein, aber keine subjektiven Rechte von Beteiligten an jenen Rechtsverhältnissen auf ein grundrechtsgemäßes Verhalten des anderen Teils begründen" 40 . Die privatrechtsgestaltende Wirkung der Grundrechte, ihre „Drittwirkung" im Privatrechtsverkehr41 mit der Folge einer Pflichtbindung der Privatautonomie, der Vertragsfreiheit, des Eigentums und des unternehmerischen Handelns des einzelnen, ist im Hauptpunkt eine Frage der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten durch Gesetz42. Soweit das Gesetz auf von ihm selbst nicht abschließend normierte Wertmaßstäbe verweist, wie etwa auf die „guten Sitten" oder „Treu und Glauben" oder „billiges Ermessen" (§§ 138 Abs. 1, 242, 315 Abs. 1 BGB), muß im Streitfall der Richter prüfen, ob die Parteien diese Wertmaßstäbe zutreffend zugrundegelegt haben; dies schließt die Beachtung grundrechtlicher Wertentscheidungen ein. Die Ausstrahlung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr ist nicht erst wirksam, wenn ein Streitfall vor den Richter gebracht wird43. Auch wenn die ordentlichen Gerichte grundrechtlich verbürgte Positionen Privater gegeneinander abzugrenzen haben und dabei - vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderer „Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht - grundrechtsbezogen argumentieren, wenden sie Privatrecht an44. Das unternehmerische Handeln und der Wirtschaftsverkehr vollziehen sich regelK. Hesse, Bedeutung aaO, Rdn. 58. W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960; L. Raiser, Grundgesetz und Privatrechtsordnung, 46. DJT, 1967, II B; Cl.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184, 1984, S. 201; ders., Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, JuS 1989, 161; W. Rüfner, Drittwirkung der Grundrechte, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 215; K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; M. Löwisch, Die Arbeitsrechtsordnung unter dem Grundgesetz, in: 40 Jahre Grundgesetz, 1989, S. 59; W. Zöllner, Der kritische Weg des Arbeitsrechts zwischen Privatkapitalismus und Sozialstaat, NJW 1990, 1; St. Oeter, „Drittwirkung" der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119,1994, S. 529. 42 P. Badura, Arbeit als Beruf (Art. 12 Abs. 1 GG), in: Festschrift für Wilhelm Herschel, 1982, S. 21; V. Götz, Die Verwirklichung der Grundrechte durch die Gerichte im Zivilrecht, in: W. Heyde/Chr. Starck, Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 35, 78 f; St. Oeter aaO, S. 547 ff; H. A. Hesse/P. Kaufmann, Die Schutzpflicht in der Privatrechtsprechung, JZ 1995, 219. 43 Anders G. Schlichting, Zivilgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht, in: D. C. Umbach/Th. Clemens, Hrsg., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, A. III. 5, S. 101, Rdn. 3. 44 BVerfGE 42,143/148. 40 41

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mäßig nach den Vorschriften und mit den Mitteln des Privatrechts. Die in den Grundrechten niedergelegten Wertentscheidungen entfalten sich „durch das Medium" der Privatrechtsnormen, hauptsächlich als Leitlinien für die Ermittlung der Vertragsgerechtigkeit und der allgemeinen Wertmaßstäbe, auf die die zivilrechtlichen Generalklauseln verweisen45. Der an die Grundrechte gebundene Gesetzgeber muß diese Bindung in allen seiner Ordnung und Gestaltung zugänglichen Bereichen beachten. Auch die Vorschriften des Privatrechts, die Rechtsregeln für den rechtsgeschäftlichen Verkehr und die sonstigen privatrechtlichen Rechtsbeziehungen enthalten, müssen den Anforderungen der Verfassung und damit den Grundrechten genügen46. Das Privatrecht ist jedoch in weitaus geringerem Maße als das öffentliche Recht Interventionsrecht, das „Eingriffe in Freiheit und Eigentum" bewirkt oder zuläßt47. Es ist nach seinem, auch in den Grundrechten vorausgesetzten und garantierten Prinzip das Gegenteil von Interventionsrecht48. Der Privatrechtsgesetzgeber ordnet und gestaltet die Bedingungen einer gemeinverträglichen Selbstbestimmung des einzelnen mit den Mitteln der Privatautonomie, der Vertragsfreiheit und durch die privatnützige Nutzung und Verfügung über Vermögenswerte Rechte. Im Rahmen dieser grundsätzlichen rechtspolitischen Zielsetzung und der Zivilrechtsdogmatik bindet der Gesetzgeber die privatautonome Disposition an Schranken, die das Allgemeininteresse und die schutzwürdigen Belange Dritter erfordern. Die „Sozialgebundenheit" der Privatautonomie und des Eigentums ist demzufolge nicht die primäre Regelungsaufgabe des Zivilrechtsgesetzgebers und die primäre Rechtfertigung seines Gesetzes. Weniger in den allgemeinen Erfordernissen der Gerechtigkeit und Billigkeit als in einzelnen Gebieten, wie dem Wettbewerbsrecht, dem Arbeitsrecht und dem Mietrecht49, treten sozial- oder wirtschaftspolitische Regelungszwecke deutlicher hervor. Die sozialstaatliche Gestaltungsaufgabe impliziert eine weitreichende politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Ungeachtet dessen aber muß die Privatautonomie als Bewegungsprinzip und Lebensgesetz der Privatrechtsordnung gewahrt bleiben. Es ist deshalb zumindest mißver45 BVerfGE 7, 198; 42, 143; 81, 242 (G. Hermes, NJW 1990, 1764; H. Wiedemars, JZ 1990, 695); BVerfG JZ 1994, 408. -P. Krause, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Privatrecht, JZ 1984, 656, 711, 828. 46 BVerfGE 14, 263; 31, 58; 31, 229; 31, 275; 49, 382; 72, 155. 47 W. Müller-Freienfels, „Vorrang des Verfassungsrechts" und „Vorrang des Privatrechts", in: Festschrift für Fritz Rittner, 1991, S. 423. 41 P. Badura, Mitbestimmung und Gesellschaftsrecht - Verfassungsrechtliches Korollarium zur Rolle des Privatrechts in der Rechtsordnung -, in: Festschrift für Fritz Rittner, 1991, S. 1. 49 BVerfGE 50, 290; 85, 219; 89, 1.

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ständlich, wenn die privatrechtlichen und die öffentlich-rechtlichen Rechtssätze, mit denen der Gesetzgeber die Rechtsstellung des Eigentümers begründet und ausformt, ohne weiteres auf eine Stufe gestellt werden 50 . Wesentliche Rechtsinstitute des Privatrechts - Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit, Vertrag, Verein und Gesellschaft, Eigentum und Erbrecht, Ehe und Familie, Tarifautonomie und Arbeitskampf - sind durch Grundrechte garantiert und in ihrer durch Gesetz erfolgenden Ausgestaltung durch die Grundrechte bestimmt. Weitere legislatorische Direktiven, zum Teil gegenläufig zu den inhaltsbestimmenden Regelungsgeboten der Einrichtungsgarantien, ergeben sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten, durch deren Erfüllung der Gesetzgeber Freiheitsrechte, z. B. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), im Hinblick auf eine Beeinträchtigung durch Dritte, z. B. eine eigentumsrechtliche Grundstücksnutzung oder eine unternehmerische Wirtschaftsbetätigung, zu gewährleisten hat. Hier ist es überall das Gesetz, daß die „Drittwirkung" von Grundrechten vermittelt. Nur bei fehlender oder mangelhafter normativer Regelung oder Vorsorge kann - in den Grenzen richterlicher Rechtsbindung und vorbehaltlich des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsrechts (Art. 100 Abs. 1 GG) - eine Grundrechtsverwirklichung durch Richterspruch im Einzelfall eine privatrechtliche Rechtsbeziehung gestalten. Die das vorrangige Entscheidungsrecht des Gesetzgebers wahrende Bestimmung der Grenzen, die eine Grundrechtsverwirklichung durch Richterspruch zu beachten hat, wird möglicherweise bei den neu in das Grundgesetz eingefügten Klauseln zugunsten der Gleichberechtigung der Frau (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) und zugunsten der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) neue Überlegungen und Meinungsverschiedenheiten hervorrufen. Der Zivilrechtsgesetzgeber hat den gebotenen Ausgleich kollidierender Interessen und Rechte weitgehend selbst getroffen, zum Teil aber durch Generalklauseln nur mit einem Verweis auf allgemeine Wertmaßstäbe vorgezeichnet. Damit ist, der Natur der Sache gemäß, der Ausstrahlungswirkung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen, vornehmlich der Grundrechte, der Zugang zum Privatrechtsverkehr eröffnet. Auch hier sind - nach der Richtschnur der Wesentlichkeitstheorie Konfliktgestaltungen vorstellbar, die nur durch Gesetz sachgerecht geordnet werden können. Die bisherige Entwicklung der Gerichtspraxis nach der Maxime des Lüth-Urteils hat jedoch gezeigt, daß für die richterliche Rechtsfindung ausreichende Kriterien bereitstehen: „Eine Bindung des Richters an die Grundrechte kommt bei der streitentscheiden-

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BVerfGE 58, 300/330.

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den Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts (hier: Auslegung von Sozialplänen) nicht unmittelbar, wohl aber insoweit in Betracht, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen"51. Erst in den letzten Jahren hat ein deutlicher hervortretender richterlicher Aktivismus in einer Reihe von Streitfällen Zweifel geweckt, ob Rechtssicherheit und Rechtsfrieden auf diesem Wege gewährleistet werden können. Ein Teil dieser Streitfälle hat zugleich die Frage aufgeworfen, wie tief die verfassungsgerichtliche Jurisdiktion in die Rechtsprechungsaufgabe der Zivilgerichte eingreifen darf. Das Problem der Drittwirkung der Grundrechte hat eine institutionelle Seite, sowohl im Hinblick auf das Verhältnis des Grundrechtes zum Richter, als auch im Hinblick auf das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum Zivilgericht. In der zweiten Hinsicht ist von Bedeutung, daß die Reichweite der Grundrechte zugleich, über die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, den Weg zum Bundesverfassungsgericht absteckt52. Der soziale und kulturelle Wandel wird in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung politisch und findet in einer zunehmend spannungsvollen Konkurrenz mit der normativen Anpassung des Rechts durch die Gesetzgebung seinen schwer berechenbaren Ausdruck in der richterlichen Rechtsfortbildung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat sich, besonders auch in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung, als ein geschmeidiges Schutzrecht angesichts neuartiger Gefahren für die persönliche Intimität, Identität und Selbstbestimmung erwiesen53. Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit, die das in Art. 5 Abs. 2 G G ausdrücklich als Schranke genannte Recht der persönlichen Ehre selbst bei recht rüden Attacken zurücktreten läßt und andere private Rechte noch resoluter beiseiteschiebt54, scheint dem immer robuster werdenden Zeitgeist aber noch vorauszueilen. Mit der Inanspruchnahme intensivierter Nachprüfung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen wird die selbständige Rechtsprechungsaufgabe

BVerfGE 73, 261. W. Rüfner, aaO, S. 226 f. 53 K. Larenz/Cl.-W. Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl., 1994, S. 489 ff. - Vgl. beispielsweise BGHZ 116, 258 (Datenschutz bei der Veräußerung einer Arztpraxis); dazu M. Körner-Dammann, NJW 1992, 1543 und H.-J. Rieger, Medizinrecht 1992, 147. 54 In neuerer Zeit siehe BVerfGE 82, 272 - „Zwangsdemokrat" - , dazu P. ]. Tettinger, JZ 1990, 1074; 85, 1 - „Kritische Bayer-Aktionäre" - ; 86, 122 - Schülerzeitung - . - P. J. Tettinger, Die Ehre - ein ungeschütztes Verfassungsgut?, 1995. 51

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der ordentlichen Gerichte gelegentlich über Gebühr beschnitten55. In einer Kritik seiner Rechtsauffassung, daß der nichteheliche Lebenspartner der verstorbenen Mieterin als „anderer Familienangehöriger" im Sinne des § 569a Abs. 2 Satz 1 BGB anzusehen sei56, mußte das Gericht sich sagen lassen, es habe sich „an die Stelle des Gesetzgebers gesetzt und politisch-progressiv entschieden"57. Gerade in diesem Beschluß hat das Gericht mit einer gewissen Ausführlichkeit den Vorrang des Gesetzgebers von der Aufgabe des Richters abzugrenzen versucht, bei „Regelungslücken" veralteter Gesetze auf Grund eines Wandels sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen zu prüfen, was unter den veränderten Umständen „Recht" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist58. Der Senat definiert seinen Standort sowohl gegenüber dem Gesetzgeber, als auch gegenüber den Gerichten. „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war (...)." Das Bundesverfassungsgericht darf die gerichtliche Wertung, die eine Lücke im Gesetzesrecht feststellt und schließt, grundsätzlich nicht durch eine eigene Wertung ersetzen und muß auch die Beantwortung der Frage, ob sich die Verhältnisse seit der Schaffung der Norm in einer deren analoge Anwendung rechtfertigenden Weise verändert haben, zunächst den Gerichten überlassen. „Auch wenn sich bei der Rechtsfortbildung in verstärktem Maße das Problem des Umfangs richterlicher Gesetzesbindung stellt, ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle analoger Rechtsanwendung darauf beschränkt, ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen und geschlossen hat und ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten widerspricht" 59 . Privatautonomie und Vertragsfreiheit geben dem Teilnehmer am Privatrechtsverkehr die rechtliche Fähigkeit, im Rahmen der Gesetze nach freier Entschließung rechtsgeschäftliche Bindungen einzugehen und sich

55 Dieser Punkt schimmert durch, wenn zu den auf dem Gebiet des Strafrechts liegenden und besonders der Kritik ausgesetzten Entscheidungen BVerfGE 81, 278 (Nationalhymne) und 81, 298 (Bundesflagge) gesagt wurde, „daß die Probleme für die Gerichtsbarkeit häufig weniger im Grundsätzlichen liegen als im Detail, in der Feinarbeit" (]. F. Henschel, Kunstfreiheit als Grundrecht, 1993, S. 32). 5 ' BVerfGE 82, 6, dem mit Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil des Landgerichts Hamburg zustimmend. - Siehe auch B G H Z 112, 259 - Widerruf einer Schenkung zwischen Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft - , dazu M. Probst, JZ 1991, 283. 57 G. Roellecke, J Z 1990, 813. 58 BVerfGE 82, 6/12. 59 BVerfGE 82, 6/13.

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gegenüber Dritten zu verpflichten. Eine allgemeine Billigkeitskontrolle des Inhalts wirksam zustandegekommener Verträge ist dadurch ausgeschlossen und wird dem Richter auch nicht durch die die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte vermittelnden Generalklauseln gestattet60. N u r ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig (§ 138 BGB). Eine durch Besonderheiten des Vertragsschlusses, die die Richtigkeitsgewähr der Vertragsfreiheit in Frage stellen, begründete Inhaltskontrolle von Verträgen, auch außerhalb der Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, wird jedoch - so bei formularmäßigen Klauseln - im Zivil- und Arbeitsrecht anerkannt 61 . Für die hier anzustellende Prüfung von Verträgen oder Vertragsklauseln und die gebotenen, die Vertragsbindung verwerfenden Wertungen sind, soweit einschlägig, die Grundrechte in ihrer Funktion als objektive Prinzipien heranzuziehen. Im Fall der eine Karenzentschädigung ausschließenden vertraglichen Wettbewerbsklauseln im Handelsvertreterrecht erwies sich die solche Klauseln zulassende gesetzliche Regelung (§ 90a Abs. 2 HGB) als verfassungswidrig, weil die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 G G verletzend 62 . Der Mangel lag im Gesetz, aber - und das berührt die Frage der richterlichen Inhaltskontrolle von Verträgen weil es außer acht gelassen hatte, daß es derartige Klauseln zuließ, obwohl es an einem „annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten" fehlte. Eine grundrechtlich gebotene Inhaltskontrolle von Verträgen wegen Verstoßes gegen die Prinzipienentscheidung für die Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) ergab sich bei einer rücksichtslos abverlangten Bürgschaft 63 . Hat - so das Gericht - einer der Vertragsteile ein so starkes Ubergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung und kann ein sachgerechter Interessenausgleich nicht Zustandekommen. Das Gericht läßt nicht jede Störung des Verhandlungsgleichgewichts genügen. „Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, 60 A. Teichmann, in: Soergel, BGB, 12. Aufl., 1990, § 242, Rdn. 15 ff, 128 ff; H. Heinrichs, in: Palandt, BGB, 54. Aufl., 1995, §242, Rdn. 2; E. Schmidt, Inhaltskontrolle von Schuldverträgen, DRiZ 1991, 81. 61 B G H Z 51, 55; 74, 204; 83, 56; 101, 350; 108, 164; B G H NJW 1982, 2303; P. Gottwald, in: Münchener Kommentar, BGB, 3. Aufl., 1994, § 315, Rdn. 35 ff; J. Schmidt, in: Staudinger, BGB, 13. Aufl., 1995, §242, Rdn. 457 ff - Inhaltskontrolle von Individualarbeitsverträgen: BAGE 22, 189; 26, 278; BAG A G N r . 6 zu § 65 HGB; W. Zöllner/ K.-G. Loritz, Arbeitsrecht, 4. Aufl., 1992, § 11 IV. 62 BVerfGE 81, 242. - Dazu: G. Hermes, NJW 1990, 1764; H. Wiedemann, JZ 1990, 695. " BVerfGE 89, 214. - Dazu: H. Wiedemann, JZ 1994, 411 • D. Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 6. Aufl., 1994, Rdn. 706 d, 706 e. Siehe auch B G H NJW 1994, 1341, der in dieser Sache nach Zurückverweisung durch das BVerfG abschließend entschied.

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und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG)" 6 4 . Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht, die sich durch die Konkretisierung und Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln wie § 138 und § 242 B G B entfaltet, folgt die Pflicht des Zivilrichters zur Inhaltskontrolle der bezeichneten auffälligen Verträge. IV. Schutz- und Ordnungsfunktion der Grundrechte Die neuere Entwicklung hat die Dimension der Grundrechte als Abwehrrechte zum Schutz der Freiheit gegen Eingriffe durch die öffentliche Gewalt verstärkt um Wirkungen ergänzt, die aus der Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien der Rechtsordnung gewonnen werden. Die seit dem Lüth-Urteil geltende „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte bindet die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze, nicht zuletzt der Rechtsvorschriften des Privatrechts. Daß die Grundrechte so eine Auslegungsrichtlinie sein können, beruht letzten Endes darauf, daß die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist und daß die Grundrechte auch für die Gesetzgebung unmittelbar geltendes Recht sind. Damit ist zugleich die Grenze bezeichnet, bis zu der hin die an Gesetz und Recht gebundene vollziehende Gewalt und Rechtsprechung den Inhalt des Gesetzes und die aus dem Gesetz ableitbaren Rechtsfolgen mit Hilfe der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte bestimmen dürfen. Weitergehende Entscheidungsrechte können Behörde und Gericht auch nicht aus konkludenten oder expliziten grundrechtlichen Schutzpflichten generieren; denn es ist zuerst Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Reichweite solcher Schutzpflichen des Staates für Freiheiten und Rechte des einzelnen zu regeln. Von Staatszielbestimmungen und sonstigen Aufgabennormen der Verfassung unterscheiden sich die grundrechtlichen Schutzpflichten hauptsächlich dadurch, daß sie unter sehr engen Voraussetzungen, nämlich wenn beim Fehlen oder der grundrechtlichen Mangelhaftigkeit des Gesetzes offensichtlich eine individualisierbare Rechtsbeeinträchtigung eintritt und wenn die grundrechtliche Schutznorm für den konkreten Streitfall die Abwägung mit hinreichender Bestimmtheit vorzeichnet. Nur in einem derartigen Ausnahmefall kann der einzelne ein Unterlassen des Gesetzgebers unter Berufung auf

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BVerfGE 89, 214/232, bezugnehmend auf BVerfGE 81, 242/255.

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das Grundrecht rügen65. Neben einem Gesetz kommen grundsätzlich keine verfassungsunmittelbaren Schutzansprüche in Betracht. „Wenn der Gesetzgeber ... in Erfüllung seiner Schutzpflicht Regelungen trifft und damit Schutzmaßstäbe setzt, konkretisieren diese den Grundrechtsschutz." 66 Veränderungen der Gegebenheiten oder der Rechtslage und nicht vorhersehbare Auswirkungen eines Gesetzes können allerdings eine „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers auslösen67. Die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates haben sich als ein fruchtbarer und ausbaufähiger Auslegungsgedanke erwiesen68. Mit dem weit älteren Gedanken, daß einzelne Grundrechte die Garantie bestimmter Einrichtungen der Privatrechtsordnung und auch verselbständigter Institutionen des öffentlich-rechtlich organisierten Soziallebens, zum Beispiel der Rundfunkanstalten, sind, hat die Ableitung grundrechtlicher Schutzpflichten gemeinsam, daß die Grundrechte hier wie dort als Elemente objektiver Ordnung gelten, die der Gewährleistung der Freiheit des einzelnen dienen, zugleich aber zum Schutz des einzelnen die Rechte und Freiheiten Dritter einschränken können. Indem der Gesetzgeber die objektive Schutz- und Ordnungsfunktion eines Grundrechts konkretisiert und dabei einen Ausgleich mit den Allgemeininteressen und den betroffenen Rechten und Rechtsgütern zu finden hat, kann er zugleich Pflichtbindungen des Grundrechtsberechtigten normieren, soweit dies erforderlich und verhältnismäßig ist69. Die Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren zeigt die innere Verbindungslinie der grundrechtlichen Schutzpflicht und der objektiven Garantiefunktion der Grundrechte besonders deutlich. Die Schutz- und Ordnungsfunktion der Grundrechte will den Geschützten und das geschützte Verfassungsgut gegen die öffentliche Gewalt und - grundsätzlich vermittelt durch Gesetz - gegen Dritte sichern, intendiert aber darüber hinaus eine normative Regelung dahingehend, daß eine der ver65 BVerfGE 56, 54/80 ff; BVerfG NJW 1983, 2931; BVerfG EuGRZ 1987, 353; BVerfGE 77, 381/405; 79,174/202; 89, 276/286. 66 BVerfGE 77,381/405. - B G H Z 100, 136/145 f; 102, 351/361 ff. 67 BVerfG NJW 1991, 555; BVerwGE 59, 195/197 i.-P. Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur „Nachbesserung" von Gesetzen, in: Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 481; K. Hesse, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten durch den Gesetzgeber, in: Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 541. 68 E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633; /. Pietzcker, Drittwirkung - Schutzpflicht - Eingriffe, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 345; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, 1992, § 111; H. H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVB1. 1994, 489. 69 Chr. Starck, Uber Auslegung und Wirkungen der Grundrechte, in: W. Heyde/Chr. Starck, Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 9/19.

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bürgten Freiheiten entsprechende Betätigung und Rechtsausübung ermöglicht wird. In dem Maße, in dem das Gesetz nicht subjektive Rechte durch Eingriff beschränkt, sondern ordnend, gestaltend, fördernd und schutzgewährend die objektiven Elemente der grundrechtlichen Garantien zur Geltung bringt und so die Freiheit des einzelnen durch allgemeine Regelung verwirklicht, weitet sich der Spielraum der Gesetzgebung, den Zeitpunkt, die Art und das Maß der Ordnung und Schutzgewährung nach dem Auftrag und der Richtlinie des Grundrechts zu bestimmen. Der weitgespannte „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich" des Gesetzgebers kann von den Gerichten - auch vom Bundesverfassungsgericht - je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter, nur in begrenztem Umfang überprüft werden 70 . Abwehranspruch und grundrechtliche Schutzpflicht sind auf den gemeinsamen Rechtsboden der verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung der Freiheit des einzelnen zurückzuführen, sind jedoch nicht gleichartig71. Die staatlichen Schutzpflichten, eine legislatorische Regelungsaufgabe und Handlungspflicht begründend, können nicht aus der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte abgeleitet werden, indem mit konstruktivistischen Mitteln das Unterlassen oder die Mangelhaftigkeit einer gesetzlichen Regelung, zum Beispiel zum Schutz gegen die Gefahren oder Risiken einer nuklearen Anlage, als „Eingriff" zu Lasten möglicher Betroffener definiert wird. Derartige Auslegungen versuchen im praktischen Ergebnis dem Prinzip der staatlichen Schutzpflicht ein größeres Feld subjektiven Rechtszuweisungsgehalts zu verschaffen und so die Angreifbarkeit und Justiziabilität von Planungs- und Genehmigungsentscheidungen mit Hilfe der Grundrechte über das Gesetz hinaus zu erweitern 72 . Diese Versuche mißachten ein zentrales Prinzip der freiheitlichen Grundrechtsordnung, nämlich die kategoriale Verschiedenheit des Eingriffs der öffentlichen Gewalt, der die Abwehrfunktion des Grundrechts aktiviert, und der Aufgabe des Staates, die Rechte und Freiheiten des einzelnen durch die Gestaltung der Rechtsordnung zu gewährleisten und zu schützen. „Eingriff in Freiheit und Eigentum", auch in der durch die Wesentlichkeitstheorie erweiterten Bedeutung, ist ein verfassungsrechtlicher Grundbegriff, dessen Inhalt nicht mit Hilfe theoretischer Ableitungen oder Einfälle verändert werden darf, ohne zu

BVerfGE 56, 54/71, 80 ff; 75, 40/66 ff; 77, 170/214 f; 77, 381/405; 90, 107/114 ff. P. Badura, Radioaktive Endlagerung und Grundrechtsschutz in der Zukunft, in: R. Lukes/A. Birkhofer, Hrsg., Achtes Deutsches Atomrechts-Symposiura, 1989, S. 227/ 237 ff; R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553/557 ff. 72 K. Stern, Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, S. 730 ff, 943 ff. 70

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schwerwiegenden Brüchen in der Architektur der rechtsstaatlichen Demokratie zu führen. Die Umdeutung des gebotenen normativen Schutzes gegen Dritte in einen verbotenen Eingriff der öffentlichen Gewalt erzeugt neuartige Rechtsfolgen, mit denen das Maß der parlamentarisch vermittelten Verantwortung, die Teilung der Gewalten im Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung und schließlich Inhalt und Schranken der grundrechtlichen Freiheit verschoben werden. Die Gefahr einer Verschiebung der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung entspringt naturgemäß schon der Deutung der Grundrechte als „Wertentscheidungen" und objektive Grundsatznormen 73 . Die Normativität der Verfassung und die Jurisdiktion des Verfassungsgerichts wird jedenfalls dem Prinzip nach in das Feld der politischen Entscheidung und selbst der über die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte erreichten Ausführung der Gesetze durch die Exekutive und Rechtsanwendung der Gerichte vorgeschoben. Doch liegt darin allein keine unzulässige Landnahme. Die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte hat unvermeidlich die Konsequenz, daß die Grundrechtsnormen über den Schutz der individuellen und in subjektiven Rechten verkörperten Freiheit hinaus auch den Charakter von Garantien und Grundsätzen annehmen. Entscheidend ist nur die Einsicht, daß die Verfassung damit nicht der politischen Entscheidung des Gesetzgebers über die Mittel und Wege vorgreift, die Schutz und Garantie „verwirklichen" sollen74. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten stärkt diese Einsicht. Denn sie unterstreicht, daß der Schutz des einzelnen gegenüber Dritten und gegenüber sozialer Macht grundsätzlich Sache der politischen Entscheidung, d. h. der Gesetzgebung ist und auf diesem normativen Rechtsboden Sache der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, nicht aber Aufgabe richterlicher Verwirklichung der Verfassung75.

73 E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, Staat 29, 1990, S. 1. 74 P. Badura, Verfassungsrechtssätze, aaO, Rdn. 33, 34. 75 K. Hesse, Verfassungsrechtliche Kontrolle, aaO, S. 553 ff; St. Oeter, aaO, S. 561 ff.

D eregulierung, Verwaltungs Vereinfachung und Verfahrensbeschleunigung Ausgangslage, Ziele und Grenzen einer grundlegenden Modernisierung der öffentlichen Verwaltung (mit besonderem Bezug zur Umweltverwaltung)

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1. Ausgangslage Der Staat, oder besser gesagt, die öffentliche Verwaltung, sind ins Gerade gekommen. „Schlankwerden" heißt die Devise, die in der Diskussion des stets akuteilen Themas einer grundlegenden Reform dominiert. Niemand wird dabei bestreiten, daß jegliche Verwaltung verbesserungsfähig ist. Der umfassende Zuschnitt der Aufgaben eines modernen Sozial- und Rechtsstaates, die von der öffentlichen Verwaltung zu erfüllen sind, bedingt allerdings eine umfangreiche Gesetzgebungstätigkeit. Jedes staatliche Handeln, das die Ausübung der Grundrechte berührt, bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Verfassungsrechtlicher Hintergrund dafür ist unser rechtsstaatliches Gebot der Gewährung von Rechtssicherheit und Gleichbehandlung. Auch die Umsetzung politischer Programme ist häufig Auslöser für ein Wirken des Gesetzgebers. So nimmt es nicht Wunder, daß die gesetzliche Normendichte steigt. Die zunehmende Komplizierung der Lebensverhältnisse verlangt zudem ein umfangreiches untergesetzliches Regelwerk. So sieht z. B. das neue Abfallrecht des Bundes eine Vielzahl von Verordnungsermächtigungen vor. Quasinormen in technischen Regelwerken kommen dazu, zum Beispiel der Anhang zu den UVP-Verwaltungsvorschriften, die Technische Anleitung Luft, die Technische Anleitung Lärm, die Technische Anleitung Siedlungsabfälle. Der schnelle Wandel der Lebensverhältnisse unserer arbeitsteiligen, hochtechnisierten, pluralistischen Gesellschaft verlangt wiederum eine stete Anpassung der Normen. Bei all dem muß verhindert werden, daß ein Normendickicht entsteht, das nur noch für hochspezialisierte Experten durchschaubar ist. So hat der Bayerische Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung am 19. 7. 95 zur Umweltpolitik vor dem Bayerischen Landtag beklagt, daß beispielsweise allein im Umweltbereich etwa 800 Gesetze und 2770 Verordnungen mit rund 4690 Verwaltungsvorschriften in Deutschland gelten. Das Umweltrecht werde immer unübersichtlicher. Mit Recht bekla-

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gen Wirtschaft und Bürger Überreglementierung und Überbürokratisierung, die sie zu stark einengen und den Raum für Eigeninitiativen nehmen. Es klagen aber auch die Vollzugsbehörden über allzu komplizierte und sich häufig ändernde Vorgaben. Der Staat sollte sich daher nach dem Leitgedanken: „So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig", darauf beschränken, den Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sich Wirtschaft, Bürger und Behörden eigenverantwortlich entfalten können. Das Subsidiaritätsprinzip muß wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden. Der bisher geltende ordnungsrechtliche Ansatz ist zugunsten einer mehr auf Kooperation und Kommunikation ausgerichteten Denkweise abzuwandeln. Allerdings setzt der Grundsatz „Konsens statt Dekret" ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein bei den Beteiligten voraus. Dieser Ansatz gilt selbstverständlich nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene. Er muß gleichermaßen auf der Ebene der Europäischen Union seine Beachtung finden. Dementsprechend hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im September 1994 eine Gruppe von unabhängigen Sachverständigen beauftragt, die Folgen der gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtssetzungstätigkeit für Beschäftigung und Wettbewerb zu prüfen. Inzwischen hat die sog. Molitor-Gruppe einen Bericht für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften vorgelegt. Die darin enthaltenen konkreten Vorschläge zur Harmonisierung des E U Rechts und zur Vereinfachung der Verwaltungsvorschriften zielen darauf ab, unnötige rechtliche oder verwaltungsmäßige Belastungen zu beseitigen und damit Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu fördern. Eine Reform und Reglementierung der Verwaltungsabläufe ist auch im Hinblick auf die Personal- und Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte unabweisbar. Die schnellen Zeittakte unserer modernen Gesellschaft, insbesondere die kurzfristige Gestaltung von Investitionsentscheidungen der im internationalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft verlangen zudem eine Beschleunigung des Verwaltungshandelns. Betrachtet man bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland die bisherigen Phasen der Modernisierung in Gesetzgebung und Verwaltung in der Vergangenheit, zeigen sich unterschiedliche Ansätze und Motive 1 . So ging es in der Nachkriegszeit vor allem darum, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Ziel der Modernisierungsphase Ende der 60er Jahre war es, demokratische Defizite aufzuarbeiten und Beteiligungsrechte zu stärken. Dies galt in besonderem Maß für das Raumordnungsund Umweltrecht, wo weitreichende Teilhabeformen eingeführt wurden. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, die zu einer wirtschaft1 Zu weiter zurückliegenden Reformen vgl. Ellwein, Das Dilemma der Verwaltung, Taschenbuchverlag, S. 59 ff.

Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung

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liehen Strukturkrise zusammenfiel, ist die interne Rationalisierung von Staat und Verwaltung in den Mittelpunkt der Reformbemühungen gerückt2. Für die Zukunft ist es zentrales Anliegen der Verwaltungsmodernisierung, der Wirtschaftlichkeit der Verwaltung selbst einen höheren Stellenwert zu verschaffen und das Verwaltungshandeln so zu gestalten, daß den Partnern der Verwaltung in Wirtschaft und Gesellschaft die erforderlichen Entfaltungsmöglichkeiten gewährleistet werden. Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und Beschleunigung sind in der Raumordnung und im Umweltschutz besonders wichtig. Uberlange öffentliche Planungs- und Abstimmungsprozesse sowie Genehmigungsverfahren würden Investitionen in neue, fortschrittliche und umweltverträglichere Anlagen behindern. Eine Verkürzung der Verfahren bedeutet deshalb auch ein Mehr an Umweltschutz. Bayern hat hierzu sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene wichtige Impulse gegeben und Änderungen in die Wege geleitet. 2. Ziele der Reformen Oberstes Ziel der Reformen muß ein „schlanker und dynamischer Staat" sein. In seiner Regierungserklärung am 8.12. 94 vor dem Bayerischen Landtag hat Ministerpräsident Dr. Stoiber einen „Dynamisierungskurs" für unseren Staat gefordert. Das bedeutet eine Rückführung des Staates auf den Kern seiner Aufgaben, eine effektivere Verwaltung mit einem leistungsfähigen öffentlichen Dienst und die Vereinfachung und Beschleunigung von Verwaltungsabläufen, vor allem von Planungsund Genehmigungsverfahren, aber auch von aufsichtlichen Maßnahmen. Nicht zuletzt mit Blick auf die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland müssen die Planungs- und Genehmigungsverfahren für Investitionsvorhaben weiter beschleunigt werden. Nach dem Gutachten der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission zur Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren3 ist die Verkürzung des Faktors Zeit entscheidend für die Verbesserung des Images und des Funktionierens des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Dies bestätigt auch ein für den Bundesminister der Wirtschaft erstelltes Gutachten4 der Infratest Industrie Gesellschaft für Unternehmensforschung 2 Vgl. dazu König, „Neue" Verwaltung oder Verwaltungsmodernisierung: Verwaltungspolitik in den 90er Jahren; D Ö V 1995 S. 349 ff, 357 ff. 3 Investitionsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren. Bericht der Unabhängigen Kommission zur Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sog. Schlichter-Kommission, November 1994. 4 Empirische Untersuchung der Genehmigungsverfahren für gewerbliche Investitionsvorhaben in Deutschland, Frankreich, England, Italien, Spanien und Belgien sowie ihre Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Bericht der Infratest Industria Gesellschaft für Unternehmensforschung und -beratung mbH, April 1994.

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und -beratung, nach dem die Verfahren in Deutschland gegenüber den vergleichbaren EU-Partnern bei Änderungsinvestitionen etwa zwei Monate und bei Neuinestitionen vier Monate länger seien und darüber hinaus eine relativ hohe Anzahl von „Extremfällen" überlanger Genehmigungsverfahren in Deutschland auffällig sei. Wesentlich für den Erfolg von umfassenden Reformen ist es, größere Spielräume für Eigeninitiativen zu schaffen. Unternehmer müssen mehr Verantwortung bei der Planung, beim Bau und beim Betrieb von Anlagen übernehmen. Die Eigenverantwortung des Einzelnen und der Vollzugsbehörden muß wieder stärker betont werden. In Bayern sind diese Anliegen bereits nachdrücklich aufgegriffen worden. So ist eine Projektgruppe eingesetzt worden, die innerhalb eines Jahres bereits weitreichende Ergebnisse erzielt hat. U. a. wurde die Bayerische Bauordnung reformiert, so daß der private Bauherr nun größere Freiheiten, aber auch größere Verantwortung hat. 3. Privatisierung Ein auf breiten Feldern handelnder, lenkender und vorsorgender Staat stößt an verfassungsrechtliche Grenzen und an die Grenzen seiner politischen, administrativen und finanziellen Leistungsfähigkeit. Heute muß als Maxime gelten, daß sich die öffentliche Hand nach dem Subsidiaritätsprinzip auf die Aufgaben konzentriert, die nur von ihr, nämlich von der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung, sachgerecht erfüllt werden können. Der bestehende, umfassende Zuschnitt der öffentlichen Aufgaben erfordert mithin eine grundlegende Aufgabenprivatisierung. Der Kreis der privatisierungsfähigen Aufgaben ist dabei recht weit zu ziehen5. Lediglich Aufgaben, die im Allgemeininteresse auf der Grundlage der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu erfüllen sind, können nicht dem Privatbereich anvertraut werden6. Dies betrifft vor allem die klassischen Hoheitsaufgaben, wie die Wahrung des Rechts und die Aufrechterhaltung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Schwierige Abgrenzungsfragen können sich für die öffentliche Ver- und Entsorgungsinfrastruktur ergeben.

5 Vgl. hierzu Lecheler, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, BayVBl 1994, S. 555 ff; kritisch zum Thema Privatisierung Heuer, Privatwirtschaftliche Wege und Modelle zu einem moderneren (anderen?) Staat - Kritische Überlegungen zu Veränderungen in den staatlichen Strukturen aus der Sicht der Finanzkontrolle DOV 1995, S. 85 ff. 6 Zu diesem Ergebnis gelangt auch die von der Bayerischen Staatsregierung einberufene Kommission „Zukunft des Öffentlichen Dienstes" in ihrem Schlußbericht, Januar 1994, S. 43.

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Die Reformen sind bereits in Gang gebracht. Die Privatisierung von Post und Bahn bildet ein richtungsgebendes Beispiel. In einem wichtigen Sektor des Umweltschutzes, der Abfallwirtschaft, wird diese Tendenz besonders deutlich. Der Erlaß der Verpackungsverordnung und der Aufbau des Dualen Systems ab 1991 waren ein erster, grundlegender Schritt zur Privatisierung von öffentlichen Aufgaben. Das im Sommer 1994 erlassene Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz führt diese Entwicklung fort. Kernstück der Reform ist die erstmalige Einführung einer Produktverantwortung, die in zentralen Bereichen von Produktion und Konsum Pflichten zur Abfallvermeidung, Abfallbehandlung und Abfallbeseitigung festlegt. Auch auf Landesebene sind bereits Erfolge bei der Privatisierung erzielt worden. Durch die erwähnte Reform der Bayerischen Bauordnung konnte nach Stichproben des Bayerischen Innenministeriums die Genehmigungsfreiheit von bis zu 30 % aller Bauvorhaben erreicht werden 7 . Durch eine Neuorganisation der Bayerischen Wasserwirtschaftsverwaltung wurden bisher traditionell von den Wasserwirtschaftsämtern für Kommunen, Verbände und Private erbrachte Sachverständigentätigkeiten und Ingenieurleistungen für wasserwirtschaftliche Vorhaben privatisiert. Geradezu selbstverständlich ist der Rückzug der öffentlichen Hand im Bereich staatlicher Beteiligung an privatrechtlichen Unternehmen.

4. Deregulierung D a der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nahezu umfassend Gebrauch gemacht hat, ist die Deregulierung auch in erster Linie Bundesaufgabe. Die Bundesregierung hat zur Beschleunigung von Verwaltungsverfahren für die Genehmigung von Investitionsvorhaben und Infrastrukturprojekten in der vergangenen Legislaturperiode bereits eine Reihe von wichtigen Rechtsänderungen auf den Weg gebracht. Zu erwähnen ist neben dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz und dem Planungsvereinfachungsgesetz vor allem das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, womit eine Verbesserung des städtebaulichen Erschließungsrechts und eine Vereinfachung und Beschleunigung der Zulassung von Anlagen des Immissionsschutz- und Abfallrechts erreicht werden konnte. Deregulierung im Sinne von Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung kann auch durch Systematisierung und Harmonisierung von Regelwerken erzielt werden. A m Beispiel des Umweltrechts wird dies 7 Artikel „Den Amtsschimmel auf Trab bringen", Journal der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, März 1995, S. 6.

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besonders deutlich. Das deutsche Umweltrecht ist sektoral unterschiedlich gewachsen und deshalb vielfach zersplittert, was die Bemühungen um eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren erheblich erschwert. Das umweltrechtliche materielle und formelle Zulassungsrecht bedarf in Abstimmung mit den Vorgaben des EG-Umweltrechts dringend einer Kodifizierung in Form eines Umweltgesetzbuches. Die Arbeiten der von der Bundesregierung dazu eingesetzten „Unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch" sollten mit Nachdruck fortgeführt werden. Auch im Bereich der Altlasten besteht erheblicher gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Dabei wird sich beispielhaft zeigen, daß die Schaffung neuer Normen der Deregulierungsforderung nicht widersprechen muß. Wegen der Kompliziertheit der Fallgestaltungen - die Durchführung einer Sanierung erfordert meist abfall-, wasser-, bau- oder immissionsschutzrechtliche Genehmigungen und eine gesonderte Sanierungsanordnung - sowie wegen der teilweise enormen wirtschaftlichen Tragweite von Sanierungsentscheidungen, erscheint im Interesse der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung die Schaffung eines in sich geschlossenen Rechtssystems in Form eines Bundes-Altlastengesetzes erforderlich. Die bundesrechtliche Regelung der Altlastenproblematik sollte dabei aber, wie vom Autor anläßlich seines Referates beim Deutschen Juristentag 1994 in Münster gefordert 8 , vom flächenhaften, vorsorgenden Bodenschutz losgelöst betrachtet werden. Da der Bodenschutz als solcher aus vielfältigen Gründen umstritten ist, bestünde die Gefahr, daß jedenfalls ein mit eingehenden Bodenschutzregelungen verknüpftes Altlastengesetz nicht in der gebotenen Zügigkeit von den Gesetzgebungsorganen verabschiedet wird. Deregulierung kann auch die Reduzierung von in Rechts- und Verwaltungsvorschriften enthaltenen materiellen Standards erfordern. Standards sind Mindestvoraussetzungen oder detaillierte Vorgaben für die Wahrnehmung einzelner Aufgaben, die den Verwaltungsvollzug erleichtern und eine einheitliche Rechtsanwendung sichern sollen. Sie können aber auch kostenerhöhend und verhindernd wirken. Der gesamte Bestand an Normen muß deshalb auf überzogene Standards hin überprüft werden. Der Einführung neuer Standards muß eine strenge Prüfung der Erforderlichkeit vorausgehen. Die Bayerische Staatsregierung hat diese Aufgabe aufgegriffen und zu einem wesentlichen Anliegen ihrer gegenwärtigen Initiative zur Verwaltungsreform gemacht. Ebenso wie die Standards sollten auch die Normen selbst einer periodischen Uberprüfung ihrer Notwendigkeit unterzogen werden. Das 8 Buchner, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages Bd. II, Sitzungsberichte, München 1994, L 35 ff.

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Instrument der sog. Sunset-Legislation 9 ist in diesem Zusammenhang inzwischen allgemein in der Diskussion. In Bayern werden übrigens alle Rechtsetzungsvorhaben nach neugefaßten Organisationsrichtlinien10 einer Prüfung auf ihre Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit durch den bei der Bayerischen Staatskanzlei eingerichteten Normprüfungsausschuß unterworfen. 5. Verwaltungsvereinfachung Zum Erfolg einer grundlegenden Verwaltungsreform gehören organisatorische Verbesserungen, Leistungssteigerungen im öffentlichen Dienst und eine verbesserte Ausstattung der Behörden. Verbesserungen von Organisationsstrukturen sind insbesondere denkbar durch eine Straffung des Behördenaufbaus, den Abbau von Hierarchien, der Delegation von Aufgaben und Kompetenzen auf untere Ebenen nach dem Prinzip der Sach- und Ortsnähe sowie die Beschränkung der Beteiligung anderer Behörden oder anderer Organisationseinheiten innerhalb einer Behörde bei internen und bei nach außen wirkenden Maßnahmen. Dazu ist zunächst eine kritische Untersuchung der Aufbau- und Ablauforganisation von Behörden erforderlich. Beispielhaft hierfür ist eine kürzlich von der Bayerischen Staatsregierung beschlossene Organisadons- und Aufgabenüberprüfung bei den Bezirksregierungen. Das Konzept sieht in einem ersten Schritt eine umfassende Aufgabenkritik vor, der als Arbeitshypothese eine Personalverminderung bei den Regierungen um 40 % zugrundeliegt. Die Aufgabenanalyse wird in Zusammenarbeit mit kommunalen Spitzenverbänden, Kammern und weiteren Trägern öffentlicher Belange sowie einem „Unabhängigen Beirat", bestehend aus erfahrenen, sich bereits im Ruhestand befindlichen Verwaltungsfachleuten, durchgeführt. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Aufgabenkritik soll als zweiter Schritt die Organisationsüberprüfung folgen. Auch die Eingliederung von Sonderbehörden in die allgemeine innere Verwaltung kann zur Bündelung von Aufgaben und Zuständigkeiten und damit zu Synergieeffekten führen und ist eine wesentliche Form der Änderung von Organisationsstrukturen. Bereits durchgeführt wurde in ' Bei der sog. Sunset-Legislation handelt es sich um ein Instrument der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre, wonach Bestimmungen nach Ablauf einer Zeitperiode vollständig außer Kraft gesetzt werden, soweit nicht nachgewiesen wird, daß einzelne Vorschriften zwingend erforderlich sind. ,0 Leitsätze für die staatliche Betätigung und für die Vorschriftengebung in den Richtlinien für die Wahrnehmung und Organisation öffentlicher Aufgaben im Freistaat Bayern - Organisationsrichtlinien (OR) - vom 26. Juni 1984.

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Bayern in diesem Sinne aufgrund der Empfehlung der Projektgruppe Verwaltungsreform eine Neuorganisation der staatlichen Gesundheitsverwaltung. Die Eingliederung der bisher als Sonderbehörden organisierten Gesundheits- und Veterinärämter in die Kreisverwaltungsbehörden nach dem Prinzip der Einheit der Verwaltung läßt wesentliche Rationalisierungseffekte erwarten. 6. Reform des Haushaltsvollzuges und der leistungsgewährenden Verwaltung Im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik steht das komplizierte Förder- und Zuschußwesen, aber auch die starre sachliche und zeitliche Bindung der veranschlagten Mittel und die damit verbundene Ausgabenmentalität der Verwaltung (sog. Dezembersyndrom). Eine Vereinfachung der Förderverfahren und eine effizientere Bewirtschaftung der Haushaltsmittel sind dringend geboten. In Bayern wird derzeit intensiv an einer Reform des Förder- und Zuschußwesens gearbeitet. Bagatellförderung soll abgebaut und der Verwaltungsaufwand bei Behörden und Zuwendungsempfängern z. B. durch Vereinfachungen bei den Verwendungsnachweisen vermindert werden. Um die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung zu steigern und Einsparungen von Haushaltsmitteln zu erreichen, wurde die Aufnahme einer sog. Experimentierklausel in das Haushaltsgesetz vorgesehen. Dadurch werden Modellvorhaben zur Erprobung einer dezentralen Budgetverwaltung und eines flexibleren Mitteleinsatzes ermöglicht. Die Befugnisse der Behörden vor Ort werden somit gestärkt und mit einer erhöhten Budgetverantwortung verknüpft. 7. Verwaltungscontrolling Im Zusammenhang mit der Kritik am negativen Einfluß des öffentlichen Haushaltsrechts auf ein wirtschaftliches Verhalten der Verwaltung wird gegenwärtig verstärkt aber kontrovers die Anwendung betriebswirtschaftlicher Instrumentarien in der öffentlichen Verwaltung diskutiert11. Im Gespräch ist insbesondere die Anwendung von Grundsätzen wie Lean Management und Controlling bei der Verwaltung. Ziel des Lean Management ist es, mit einer Integration von Aufgaben-, Per-

" Als unabdingbar wird die Einführung von Controlling für die öffentliche Verwaltung bezeichnet von Schnappauf. Von der öffentlichen Verwaltung zum öffentlichen Dienstleistungsunternehmen, BayVBl 1993, S. 580; ablehnend Zavelberg, Lean Management - ein methodischer Ansatz für mehr Effizienz und Effektivität in der öffentlichen Verwaltung, D Ö V 1994, S. 1040 ff.

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sonal- und Organisationselementen eine Steigerung der Effektivität zu erreichen12. Lean-Management-Konzepte beinhalten dabei Elemente wie Gruppenarbeit, Wettbewerb und Kundennähe13. Die in der Privatwirtschaft erfolgreiche Technik des Controlling als umfassende Führungsund Steuerungskonzeption soll durch die Bereitstellung geeigneter Informationen organisatorische Abläufe optimieren und dadurch die Effizienz einer Organisation steigern. Beim Verwaltungscontrolling geht es darum, Daten aus dem politischen Programm-, dem Organisations- und dem Budgetbereich aufeinander abzustimmen, um eine Effizienzsteigerung bzw. eine Erhöhung der Steuerungsqualität zu erreichen14. Ein zentrales Problem bei der Einführung betriebswirtschaftlicher Systeme in die Verwaltung liegt jedoch darin, daß das Ziel staatlicher Institutionen nicht mit der Gewinnerzielungsabsicht privatwirtschaftlicher Unternehmungen vergleichbar sein kann. Dazu kommt, daß die Wirksamkeit der Steuerung und Gestaltung von Verwaltungshandeln am Markt wohl kaum meßbar sein dürfte15, daß also für das Controlling notwendige Daten nur schwer zur Verfügung gestellt werden können. Auch Wettbewerbssituationen sind für die öffentliche Verwaltung kaum herstellbar. Betriebswirtschaftliche Instrumentarien können somit nur beschränkt für eine wirksame Verwaltungsreform herangezogen werden. Sie können aber Denkanstöße liefern und zumindest in modifizierter Form zu ihrem Gelingen beitragen. Wichtig ist jedenfalls, daß durch betriebswirtschaftliche Ansätze der Gedanke, daß der Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung ein größerer Stellenwert eingeräumt werden muß16, in den Mittelpunkt der Diskussion um Verwaltungsreform gerückt worden ist. 8. Vereinfachung und Beschleunigung von Verwaltungsverfahren Politik- und Verwaltungsverdrossenheit sind in nicht unerheblicher Weise auf die Dauer und Kompliziertheit von Verwaltungsverfahren zurückzuführen.

12

König (Fn. 1), S. 351. Müller, Controlling als Steuerungsinstrument der öffentlichen Verwaltung. Von der Ordnungsmäßigkeitskontrolle zur Bewertung von Controllingverfahren. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/95, S. 11 ff. 14 Rüriip, Controlling als Instrument effizienzsteigernder Verwaltung? Eine Problemskizze. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/95, S. 3 ff. 15 Zavelberg (Fn. 11), S. 1041. 16 Vgl. dazu König (Fn. 2), S. 358. 13

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a) Beteiligung anderer

Behörden

Gegenmaßnahmen müssen bereits in der Phase vor Antragstellung wirksam werden. Zu denken wäre etwa an eine Ausweitung des für Umweltverträglichkeitsprüfungen in § 5 U V P G vorgeschriebenen sog. Scoping-Verfahrens auf andere Bereiche. Auf diese Weise kann bereits in der Planungsphase der behördliche Untersuchungsrahmen abgesteckt werden. Zu beteiligende Behörden würden bereits frühzeitig einbezogen und spätere Verzögerungen vermieden werden. Eine Beratung im Vorfeld der Antragstellung, bei Bedarf unter Hinzuziehung wichtiger Behörden oder Gutachter im Rahmen einer Antragskonferenz, sehen auch die „Leitsätze für die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für Anlagen" der Bayerischen Staatsregierung vor17. Für die Antragsund die Genehmigungsphase enthalten diese Leitsätze wichtige Grundsätze zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung. Sie empfehlen z. B. die Verwendung von standardisierten Vordrucken für die Antragstellung, die Durchführung des Sternverfahrens, d. h. die gleichzeitige Beteiligung aller Behörden, Stellen und Sachverständigen, als Regelverfahren sowie die Einführung von Fristen für die Abgabe von Behördenstellungnahmen und die Entscheidung über die Erteilung der Genehmigung. Für den Bereich der für Investitionsvorhaben besonders relevanten immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren wurden diese allgemeinen Grundsätze in Bayern durch die Vollzugsbekanntmachung des Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen zum Bundes-Immissionsschutzgesetz18 umgesetzt. Klagen der Wirtschaft über die zu lange Dauer von Genehmigungsverfahren richten sich häufig gegen die ihrer Meinung nach zu weitreichende Beteiligung anderer Behörden. Die verfahrensleitende Behörde muß den Kreis der zu beteiligenden Behörden konkret für den Einzelfall ermitteln. Dabei ist von Beteiligungsroutinen abzusehen. b)

Projektmanager

Ein pragmatischer Ansatz für Verfahrensbeschleunigungen ist die Einführung von Projektmanagern in der öffentlichen Verwaltung19. Sie 17 Leitsätze für die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für Anlagen, Beilage zum Bericht des Normprüfungsausschusses vom 19. 9. 1990, Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 41 vom 12. 10. 1990. " Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen vom 16. 3. 1991 zum Vollzug des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. AllMBl 1991, S. 170. " Vgl. dazu Bockel, Projektmanagement in Verwaltungsverfahren. DOV 1995, S. 102 ff; Bullinger, Verwaltung im Rhythmus von Wirtschaft und Gesellschaft - Reflexionen und Reformen in Frankreich und Deutschland JZ 1991, S. 53 ff.

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können durch die effektive Koordinierung komplexer Planungs- und Genehmigungsverfahren, wie sie gerade im Umweltbereich häufig sind, und eine zielstrebige und schnelle Verfahrensführung wesentlich zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. Darüber hinaus können sie eine wichtige Funktion als Ansprechpartner insbesondere der regionalen und mittelständischen Wirtschaft erfüllen. In Bayern ist inzwischen ein Projektmanagement bei den Regierungen und Kreisverwaltungsbehörden vorgesehen 20 . Pilotprojekte dafür sollen dazu dienen, erste Erfahrungen zu sammeln. Die Begriffe „verhandelnde Verwaltung" und „kalkulierende Verwaltung" bedürfen in Zukunft noch der gründlichen Diskussion und Definition 21 . c) Flexibilisierung der

Genehmigungsverfahren

Eine grundlegende Reform und Verfahrensbeschleunigung könnte durch eine Flexibilisierung der herkömmlichen Genehmigungsverfahren erreicht werden. Grundsätzlich sollte das Ziel verfolgt werden, dem Antragsteller im Genehmigungsverfahren eine Wahlmöglichkeit zu geben zwischen einfach strukturierten Verfahren mit einer starken Betonung der Eigenverantwortlichkeit, die sich auch in verfahrensentlastenden Eigenbeiträgen des Investors ausdrückt, und intensiven Verfahren mit höherer Investitionssicherheit. Sinnvoll erscheint die Einführung eines genehmigungsersetzenden Anzeigeverfahrens f ü r bestimmte Verfahren mit geringem Gefährdungspotential. Für den Umweltbereich hat Bayern dementsprechend bereits 1992 zur Beschleunigung der Zulassung von immissionsschutzrechtlich relevanten Anlagen eine Initiative im Bundesrat eingebracht, für weitgehend standardisierte und für wesentliche Anlagenänderungen, die ausschließlich die bestehende Immissionssituation verbessern sollen, ein Anzeigeverfahren einzuführen. Der Vorstoß ist allerdings im Bundesrat gescheitert. Verfahrensbeschleunigend könnte auch die Einführung einer Genehmigungsfiktion bei Überschreitung gesetzlicher Fristen durch die Genehmigungsbehörden wirken. Zwar wird dagegen vielfach vorgebracht, Genehmigungsfiktionen seien mit der Ausgleichs- und Schutzfunktion von Genehmigungen unvereinbar 22 . Die Bedenken lassen sich wohl

20 Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums des Innern vom 11. 11. 1994, AUMB1 1994, S. 975. 21 Ellwein aaO § 83 ff. 22 Steinberg, Allert, Grams, Scharioth, Zur Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens für Industrieanlagen. Eine empirische und rechtspolitische Untersuchung, BadenBaden 1991, S. 123; Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben. Ein Beitrag zur zeitlichen Harmonisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 1991, S. 68 ff.

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überwinden, wenn sichergestellt wird, daß der Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit und Dritter nicht unberücksichtigt bleibt23. So hat Bayern im Bundesrat anläßlich der Beratung des gemeinsam von BadenWürttemberg, Sachsen und Bayern eingebrachten „Entwurfes eines Gesetzes zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch Beschleunigung und Vereinfachung der Anlagenzulassung" den Vorschlag gemacht, eine Genehmigungsfiktion für serienmäßig hergestellte Anlagen einzuführen. Eine Sicherung der Rechte der Allgemeinheit ist dabei durch eine angemessene Prüffrist für die Behörde und die Pflicht des Anlagenbetreibers zur Vorlage eines Gutachtens über die Genehmigungsfähigkeit der Anlage zu erreichen. Auch diese Initiative ist jedoch im Bundesrat gescheitert. Beschleunigungen und Vereinfachungen könnten auch erzielt werden, wenn Umfang und Detailliertheitsgrad der behördlichen Prüfung im Rahmen der Genehmigungsverfahren herabgesetzt werden. Diesem Ziel dient die Vorbehaltsgenehmigung, die dem Investor allerdings das Risiko nachträglicher Auflagen oder der späteren Rücknahme der Genehmigung auferlegt, und die Rahmengenehmigung, bei der z. B. nur die Gesamtauswirkungen des Vorhabens auf die Umwelt geprüft werden. Dazu müßte aber die hohe Verantwortung, die Staat und Verwaltung in Deutschland für die Genehmigung übernehmen, reduziert werden. Voraussetzung ist weiter, daß der Schutz der Umwelt und der Bürger auf andere Weise genauso wie durch das herkömmliche Zulassungsverfahren gewährleistet wird24. Es bieten sich hier insbesondere Versicherungsmodelle an25 oder die freiwillige Unterwerfung des Anlagenbetreibers unter das seit April 1995 EU-weit geltende Umweltmanagement- und Betriebsprüfungssystem des Öko-Audits. d) Straffung des Rechtsbehelfsverfahrens Eine höhere Verwaltungseffizienz bedarf auch einer Reform im Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes. Eine Verkürzung der Rechtsschutzverfahren muß das grundgesetzlich garantierte Recht auf effektiven Rechtsschutz weiterhin uneingeschränkt gewährleisten. Verfahrensbeschleunigungen sind von der Aufnahme einer materiellen Präklusion in das Verwaltungsverfahrensrecht zu erwarten. Während z. B. im immissionsschutzrechtlichen AnlagengenehmigungsverBericht der Unabhängigen Kommission, S. 167 (Fn. 3). " Bullinger, Investitionsförderung durch nachfragegerechte und kooperative Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, J Z 1994, S. 1131. 25 Bohne, Versicherungsmodelle zur Investitionsbeschleunigung und zum Abbau von Vollzugsdefiziten im Anlagenzulassungsrecht, DVB1. 1994, S. 195 ff; Bericht der Infratest Industria (Fn. 3), S. 3 - 2 0 ff; Bericht der Unabhängigen Expertenkommission (Fn. 2), S. 95. 23

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fahren Personen, die ihre Einwendungen zu spät erhoben haben, das Recht auf eine Erörterung im Verfahren und auf Geltendmachung in einem nachfolgenden Rechtsbehelfsverfahren verlieren, besteht im allgemeinen Planfeststellungsrecht lediglich eine formelle Präklusion mit der Folge, daß bei verspätet vorgebrachten Einwendungen zwar kein Recht auf Erörterung im Verfahren mehr besteht, diese aber gleichwohl in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend gemacht werden können. Da verfassungsrechtliche Gründe gegen die Einführung der materiellen Präklusion im allgemeinen Planfeststellungsrecht nicht ersichtlich sind26, sollte diese Beschleunigungsmöglichkeit auch dort genutzt werden. Zu prüfen wäre im Gegenzug die Einführung einer Behördenpräklusion, wenn die Behörde die gesetzte Frist zur Abgabe ihrer Stellungnahme überschreitet. Als neuer Ansatzpunkt für die Beschleunigung des Verwaltungsrechtsschutzes kommt eine Beschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der abwägungs-, prognose- oder beurteilungsbedürftigen Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Verwaltung in Frage. Es könnte ein genereller Beurteilungsspielraum eingeführt werden, dessen Kontrolle durch die Gerichte wie bei der Uberprüfung von Ermessensentscheidungen der Verwaltung nur eingeschränkt möglich ist. Zu der Frage, ob ein solcher Beurteilungsspielraum der Verwaltung mit dem Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) vereinbar ist27, hat die Bayerische Staatsregierung ein staats- und verfassungsrechtliches Gutachten in Auftrag gegeben. Einen Reformansatz stellt auch die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens dar. Zumindest für bestimmte Bereiche wäre damit eine Entlastung der Verwaltung, eine Verkürzung der verwaltungsinternen „Instanzenzüge" und eine schnelle und effiziente Bereinigung strittiger Verhältnisse zu erreichen. Die Bayerische Staatsregierung hat deshalb kürzlich beschlossen, eine Bundesratsinitiative zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung einzubringen. Ziel der Initiative ist es, den Ländern durch die Änderung des § 68 Abs. 1 Satz 1 (Streichung der Worte „in besonderen Fällen") größeren Regelungsspielraum für die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens zu geben. Darüber hinaus soll bis dahin im Rahmen des bereits jetzt bundesrechtlich Möglichen das Widerspruchsverfahren auf der Ebene des Landesrechts, insbesondere bei investitionsrelevanten Verfahren, also z. B. bei allen immissionsschutzrechtlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren und bei wasserrechtlichen Verfahren, abgeschafft werden. 26 27

Bericht der Unabhängigen Kommission, S. 219 (Fn. 3). Ablehnend der Bericht der Unabhängigen Kommission, S. 241 (Fn. 3).

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Werner Buchner

9. Reform des öffentlichen Dienstes Ein moderner und schlanker Staat braucht auch einen modernen, effizienten öffentlichen Dienst. Dazu gehört eine leistungsabhängige Besoldung und Beförderung. Ich nehme hier insoweit Bezug auf die bekannten Entscheidungen der Bundesregierung und der Bayerischen Staatsregierung zur grundlegenden Reform des öffentlichen Dienstrechts. Bei der Gestaltung von Arbeitsabläufen geht es vor allem um eine bessere Ausstattung und um den Aufbau eines modernen Informationsund Kommunikationssystems.

10. Ausblick Die öffentliche Verwaltung als eigenständige Einrichtung ist in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden, als man Verwaltung und Justiz trennte. Diese damals gebildete Grundstruktur der deutschen Verwaltung hat in nicht unwesentlichen Zügen bis heute Bestand. Es kam zwar zu vielen Anpassungen an politische, soziale und ökonomische Entwicklungen, aber kaum zu grundlegenden Veränderungen. Zum Ausgang des 20. Jahrhunderts muß unser aller Bestreben dahin gehen, zu einer reformierten Verwaltung zu gelangen, die wir uns auch noch leisten können. Bei grundlegenden Reformen müssen wir uns auch an Ländern wie Frankreich und den USA orientieren, denen man sicher keinen Mangel an Rechtsstaatlichkeit nachsagen wird. Sowohl in Bayern als auch im Bund stehen die Vorzeichen günstig, eine Reform im Sinne einer effizienten Verwaltung und einer Reduzierung staatlicher Aufgaben durchzuführen. Es bleibt zu hoffen, daß es genügend Grundkonsens und Kompromißfähigkeit gibt, um - in sinnvollen Stufen - eine Gesamtreform zustande zu bringen, die auf die Erfordernisse der bevorstehenden Jahrtausendwende ausgerichtet ist.

Das Subsidiaritätsprinzip Architekturprinzip oder Sprengsatz für die Europäische Union?

GÜNTER HIRSCH

Vorbemerkung „Prinzipien kann man leichter bekämpfen, als nach ihnen leben." An diese Weisheit des Psychologen und Freud-Schülers Alfred Adler fühlt man sich erinnert, wenn man den Pulverdampf sieht, der derzeit überall dort hochsteigt, wo das im Maastricht-Vertrag ausgehandelte Subsidiaritätsprinzip diskutiert wird. In Deutschland ist die Subsidiaritätsklausel besonders häufig und intensiv Gegenstand wissenschaftlicher und publizistischer Erörterungen; sie wird jedoch auch europaweit kontrovers behandelt1. Um die Bandbreite der Meinungen schlaglichtartig aufzuzeigen: Für die einen ist das Subsidiaritätsprinzip das „Architekturprinzip einer zukünftigen föderalen Ordnung in Europa"2. Es soll einer „Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten" und damit „einer Entleerung der Aufgaben und Befugnisse des Bundestages" entgegenwirken3. Der Bundesrat hätte dem Vertrag von Maastricht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zugestimmt - so daß er in Deutschland nicht hätte ratifiziert werden können - , wenn das Subsidiaritätsprinzip nicht, entsprechend einer Forderung der Ministerpräsidenten vom 7. 6. 1990, verankert worden wäre4. Seine diametral entgegengesetzte Auffassung über die politische Klugheit und reale Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips bringt dagegen Pierre Pescatore, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof, bereits im Titel seines jüngst erschienenen Beitrags zum Ausdruck: „Mit der Subsidiarität leben - Gedanken zu einer drohenden Balkanisierung der Europäischen Gemeinschaft"5. Nach ihm wird das Subsidiaritätsprinzip kein einziges sachliches Problem der Europäischen Gemeinschaft lösen und nichts anderes bewirken, als den Weg zurück in die ' Vgl. von Borries, EuR 1994, 263 ff mit Literaturhinweisen insbes. in Fn. 1 ff. Z. B. Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 20./21. 12. 1990, in: Bauer, Europa der Regionen, 2. Aufl. 1992. 3 So BVerfG.NJW 1993,3047/3057. 1 Vgl. von Borries, aaO S. 298. 5 In: Due/Lutter/Schwarze, Festschrift für Everling, Baden-Baden 1995, S. 1071 ff. 1

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nationalstaatliche Anarchie. Es führe zu einer Destabilisierung, habe einen immanenten Desintegrationseffekt und werde - so Pescatore - zur Folge haben, daß die mit äußerster Mühe über die Jahre hinweg bewerkstelligte organische Wahrnehmung des Gesamtinteresses der europäischen Bürger nun grundsätzlich und unbesehen in die Hände der Mitgliedstaaten mit ihren unkontrollierten, auseinanderstrebenden Interessen zurückgespielt werde. Die Schuld für dieses Malheur sieht Pescatore u. a. bei Jacques Delors, der mit dieser unverzeihlichen Aktion den Neo Nationalismus von Margret Thatcher habe beschwichtigen wollen; die Bundesrepublik, unter dem Kreuzfeuer ihrer Länder, habe an dieser Aktion, die im Grunde nicht nur gegen die Gemeinschaft, sondern gegen sie selbst als Zentralmacht gerichtet gewesen sei, regen Anteil genommen. Anliegen dieses Beitrages ist es nicht, die Bestimmungen der Verträge zum Subsidiaritätsprinzip, insbesondere Art. 3 b EGV, im Detail zu kommentieren; hierzu gibt es bereits eine Fülle von in- und ausländischen Veröffentlichungen. Vielmehr sollen Grundfragen zum Verständnis und zur Wirkkraft des Prinzips im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft aufgeworfen und die persönliche Meinung des Verfassers hierzu skizziert werden. I. Ausgangslage Will man - aus deutscher Sicht - die Zielsetzung und gestaltende Kraft des Subsidiaritätsprinzips analysieren, muß man den rechtspolitischen Anlaß und den Diskussionsstand zugrunde legen, der seinerzeit die Bundesregierung veranlaßt hat, auf der Konferenz zu Maastricht auf dessen Verankerung in den Verträgen hinzuwirken 6 . Anfang der neunziger Jahre geriet die europäische Normsetzung verstärkt in das kritische Visier der Medien und von Staats- und Verfassungsrechtlern in Deutschland - aber nicht nur hier. Es ging nicht mehr nur, wie bereits seit längerer Zeit, um die zu Recht viel gescholtene Normenflut. Vielmehr bekam die Kritik an der Normsetzung der EWG eine grundsätzliche staats- und verfassungsrechtliche Note. So wurde etwa auf einer Sitzung der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages im März 1992 vor der „Gefahr eines Systemwechsels durch den Gesandtenkongreß in Brüssel" gewarnt; der SPIEGEL schrieb, seit Jahrzehnten sei ein „Ermächtigungsgesetz" in Kraft, ge6 Zur Textgeschichte von Art. 3 b Abs. 2 E G V Cloos/Reinesch/Vignes/Weyland, Le Traité de Maastricht, Genèse, Analyse, Commentaires, Brüssel 1993, S. 141 ff; vgl. auch Schima, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Wien 1994, S. 51 ff.

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nannt EWG-Vertrag, das Folterwerkzeuge zur Entmachtung des Parlaments enthielte; von „Umsturz" war die Rede 7 . Insbesondere wurde die europäische Normsetzung am Demokratieprinzip gemessen und zum Teil als zu leicht befunden. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1993 zum Maastricht-Vertrag ist deutlich geprägt von der mit dem Demokratieprinzip begründeten Tendenz, der europäischen Normsetzung strikte Grenzen zu setzen8. Mit dem Subsidiaritätsprinzip glaubte mancher, ein Mittel gefunden zu haben, um die als hypertroph diagnostizierte EG-Normsetzung zu therapieren. II. Normative Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips 1. Das Subsidiaritätsprinzip ist an mehreren Stellen im Vertrag über die Europäische Union sowie im EG-Vertrag festgeschrieben. Sedes materiae ist insbesondere der durch den EU-Vertrag eingefügte Art. 3 b Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), der für die Europäische Gemeinschaft den Anwendungsbereich und den Inhalt des Subsidiaritätsprinzips festlegt. Die Anwendbarkeit dieses Prinzips setzt hiernach voraus, daß es sich um Tätigkeiten auf europäischer Ebene handelt, die nicht in die ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft fallen. Auf diesen „konkurrierenden" Kompetenzfeldern darf die Gemeinschaft nur tätig werden, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Erwähnt wird das Subsidiaritätsprinzip außerdem in der Präambel zum Unionsvertrag, in der es heißt, man sei „entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen" Nach Art. B Abs. 2 des Unionsvertrages werden die definierten Ziele der Europäischen Union „unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Art. 3 b des EG-Vertrages bestimmt ist", verwirklicht. Schließlich findet sich das Subsidiaritätsprinzip auch, ohne ausdrücklich genannt zu werden, in den Bestimmungen des Unionsvertrages über die intergouvernementale Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Nach Art. K 3 Abs. 2 b des Unionsvertrages kann der Rat in Bereichen des Art. K 1 Nrn. 7, 8 und 9 auf Initiative eines Mitgliedstaats 7 Vgl. Rabe, in: 59. Deutscher Juristentag 1992, Schlußveranstaltung, T. 8. ' N J W 1993, 3047 ff, insbes. 3051.

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gemeinsame Maßnahmen annehmen, „soweit sich die Ziele der Union aufgrund des Umfangs oder der Wirkungen der geplanten Maßnahmen durch gemeinsames Vorgehen besser verwirklichen lassen als durch Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten". Aus deutscher Sicht kann das Subsidiaritätsprinzip nicht ohne Einbeziehung des im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Unionsvertrages von Maastricht neu formulierten Art. 23 Abs. 1 G G diskutiert werden. Nach dieser Grundnorm zur Europäischen Integration, die nicht nur Staatszielbestimmung, sondern Auftrag ist9, wirkt die Bundesrepublik bei der Entwicklung einer Europäischen Union mit, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet" ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. 2. Mit der Implantation in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Art. 3 b Abs. 2 EGV) wurde das Subsidiaritätsprinzip Bestandteil des geschriebenen Rechts der Europäischen Gemeinschaft. Art. 3 b Abs. 2 EGV erlegt zum einen der Gemeinschaft die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips auf, zum anderen definiert er dieses Prinzip. a) Adressaten des Subsidiaritätsprinzips sind sämtliche Gemeinschaftsorgane im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse, insbesondere soweit sie normsetzend tätig werden. Der Europäische Gerichtshof ist zwar vom Geltungsbereich des Art. 3 b Abs. 2 EGV nicht ausdrücklich ausgenommen, da ihm jedoch die im Vertrag genannten Zuständigkeiten (insbesondere Art. 169 ff EGV) zur ausschließlichen Wahrnehmung übertragen worden sind, greift insoweit das Subsidiaritätsprinzip nicht im Sinne einer Kompetenzausübungsschranke ein. b) Gegenstand des Subsidiaritätsprinzips sind sämtliche Maßnahmen und Handlungsformen der Gemeinschaftsorgane. Schwerpunktmäßig zielt Art. 3 b Abs. 2 EGV jedoch auf den Einsatz der in Art. 189 EGV genannten Handlungsinstrumente. c) Voraussetzung für das Eingreifen des Subsidiaritätsprinzips ist als erstes, daß es sich um die Tätigkeit in einem Bereich handelt, für den die Gemeinschaft nicht ausschließlich zuständig ist. Damit wird ein Kompetenzbegriff eingeführt, den der Vertrag bisher nicht kannte und den er nicht definiert. Dies ist eine der Schwächen dieser Vorschrift. Es gibt keinen Kompetenzkatalog für die Europäische Gemeinschaft, so wie er z. B. in den Artikeln 73-75 des Grundgesetzes für die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern festgeschrieben ist. Allerdings hat der ' Vgl. Jarass, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 23 Anm. 3.

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EuGH bestimmte Zuständigkeiten der Gemeinschaft als ausschließliche anerkannt, etwa die Kompetenz für die Handelspolitik, die Festlegung des Zolltarifs und das materielle Zollrecht sowie für die Erhaltung der Fischereiressourcen10. Art. 3 b Abs. 2 EGV hat also insoweit die Rechtsprechung des EuGH aufgenommen und das Bestehen von ausschließlichen Kompetenzen der Gemeinschaft anerkannt. Was in die ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft fällt, ist durch Auslegung der einzelnen Aufgaben und Politikbereiche zu ermitteln, unter Umständen in einer nicht nur horizontalen, sondern auch vertikalen Schichtung. Einige Äußerungen der Kommission lassen vermuten, daß sie die ausschließlichen EG-Kompetenzen extensiv interpretieren will, insbesondere für alle Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes eine ausschließliche Kompetenz der EG annimmt". Dem haben einige Mitgliedstaaten bereits heftig widersprochen. Hier zeichnet sich ein Konfliktfeld von erheblicher - auch verfassungsrechtlicher - Brisanz ab. Es wird Aufgabe des EuGH sein, bei Klagen im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip als Vorfrage gegebenenfalls zu prüfen, ob es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit der EG handelt, weil sich bejahendenfalls die Subsidiaritätsfrage nicht stellt. Auf diese Weise wird sich im Laufe der Zeit richterrechtlich ein sich immer mehr füllender Kompetenzkatalog ergeben.

d ) Art. 3 b Abs. 2 EGV definiert das Subsidiaritätsprinzip z i e l o r i e n t i e r t . Entscheidend ist, ob die Ziele der konkreten Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausreichend erreicht werden können, falls nicht, ob sie wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Man könnte die Frage stellen, ob damit die Voraussetzungen der Subsidiarität abschließend festgelegt sind, oder ob mit der Formulierung, daß die Gemeinschaft unter den genannten Voraussetzungen auf ein Tätigwerden „nach dem Subsidiaritätsprinzip" beschränkt ist, auf ein zusätzliches Kriterium, auf ein bestimmtes „Vorverständnis" verwiesen wird12. Aus den Vorarbeiten zu dieser Vorschrift ergibt sich jedoch nicht, daß ihr ein Konsens über die Existenz und die Substanz eines allgemeinen gesellschafts- oder verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips zugrunde gelegen hätte, etwa im Sinne der katholischen Soziallehre EuGH, Slg. 1975, 1355; Slg. 1970, 69; Slg. 1976, 1279. " Vgl. Schwartz, EG-Kompetenzen für den Binnenmarkt: Exklusiv oder konkurrierend/subsidiär? in: Due/Lutter/Schwarze, Festschrift für Everling, aaO, S. 1331 ff; von Borries, aaO, S. 275; Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, SEK (92) 1990 endg., Bull, E G 10-1992, S. 122, 123. 12 Vgl. einerseits Schima, aaO, S. 102; andererseits Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, Köln 1992, S. 106.

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oder einer bestimmten Föderalismustheorie. Es ist deshalb davon auszugehen, daß das Subsidiaritätsprinzip ausschließlich nach und aus dem vertraglichen Kontext des Art. 3 b Abs. 2 EGV auszulegen ist13. e) Erforderlich ist eine zweistufige Prüfung. Als erstes ist zu fragen, ob die Ziele der Maßnahme nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden können. Es wird nicht gefordert, daß die Mitgliedstaaten diese Ziele ebensogut oder gar besser als die Gemeinschaft erreichen können. Es reicht allerdings nicht, wenn lediglich ein oder einige Mitgliedstaaten das Ziel der geplanten Maßnahme ausreichend erreichen können; Voraussetzung für die Sperrwirkung gegenüber der Gemeinschaft ist, daß sämtliche Mitgliedstaaten hierzu in der Lage sind. Strittig ist, ob völkerrechtliche Abkommen, z. B. Ubereinkommen des Europarates, die Wirkung haben können, die Subsidiaritätsschranke zu Lasten einer Gemeinschaftsregelung auszulösen. In der Literatur wird wohl überwiegend aus Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips abgeleitet, daß ein Tätigwerden der Gemeinschaft - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - schon dann möglich ist, wenn das gesetzte Ziel auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann, auch wenn es auf der Ebene der Gesamtheit der Mitgliedstaaten (z. B. durch völkerrechtliche Ubereinkommen) erreicht werden kann14. Dem Wortlaut nach erscheint es jedoch durchaus vertretbar, ein gemeinsames Tätigwerden der Mitgliedstaaten als „dritte Ebene" zwischen nationalem und Gemeinschaftshandeln als „ausreichend" i. S. von Art. 3 b Abs. 2 EGV anzuerkennen. Vertritt man diese Auffassung, wofür insbesondere die Entstehungsgeschichte von Art. 3 b Abs. 2 EGV sprechen könnte, so darf intergouvernementales Handeln, durch das einer Gemeinschaftsaktion der Boden entzogen wird, unter Integrationsaspekten (vgl. insbesondere Art. 5 EGV) gleichwohl nicht gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zu gemeinschaftsfreundlichem Verhalten verstoßen. Steht fest, daß die Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden können, ist auf einer zweiten Stufe zu prüfen, ob sie wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Welche Bedeutung die konditionale Verknüpfung der zweiten Voraussetzung mit der ersten („... und daher ...") hat, erscheint fraglich. Sie " So auch von Borries, aaO, S. 273. 14 Vgl. Scbwartz, aaO, S. 1353 f mit Nachweisen; das BVerfG stellt in seiner Entscheidung vom 22. März 1995 zur Fernseh-Richtlinie lapidar fest, Ubereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten seien nicht ausreichend eine EG-Regelung zu ersetzen, weil nur bei letzterer eine Uberprüfung durch den EuGH möglich sei; die Problematik wird jedoch nicht vertieft QZ 1995, 673).

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wird z. T. als überflüssig angesehen15. Nach zutreffender Ansicht wird damit die 1. Stufe (auf der die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten in den Blick genommen werden) mit der 2. Stufe (auf der die Möglichkeiten der Gemeinschaft zu prüfen sind) im Sinne einer Abfolge und einer konditionalen Verknüpfung verbunden16. Art. 3 b Abs. 2 EGV geht mit dieser Zweistufigkeit über die Subsidiaritätsklausel hinaus, die durch die Einheitliche Europäische Akte in Art. 130 r Abs. 4 des EGV für den Bereich der Umweltpolitik bereits 1987 verankert worden war. Dort war die Subsidiarität enger definiert, nämlich nur in dem Sinne, daß die Ziele der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene als auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden können. Es hat den Anschein, als ob die Kommission bei ihrem Prüfraster zur Subsidiarität die erste Stufe der Prüfung, nämlich ob die Mitgliedstaaten die Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen auf ihrer Ebene ausreichend erreichen können, überspringt, und lediglich prüft, ob diese Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erfüllt werden können („komparativer Effizienztest") 17 . Dies widerspräche dem Wortlaut und dem Sinn von Art. 3 b EGV. Man kann sicherlich darüber streiten, ob die Kumulierung der Voraussetzungen für ein Tätigwerden von Gemeinschaftsorganen in Art. 3 b Abs. 2 EGV besonders sinnvoll ist; es gibt Überlegungen, den Vertrag insoweit zu ändern und es für ein Tätigwerden der Gemeinschaft bereits ausreichen zu lassen, daß durch eine Gemeinschafts maßnahme deren Ziele besser erreicht werden können. Solange jedoch die Zweistufigkeit in Art. 3 b Abs. 2 EGV verankert ist, bindet sie die europäischen Organe. III. Das Subsidiaritätsprinzip als primäres Prinzip zur Lösung von Kompetenzkonflikten 1. Der Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip bereitet nicht zuletzt deshalb erhebliche Probleme, weil hinter der operativen Formel in Art. 3 b

Abs. 2 EGV ein gesellschafts-

und staatsethisches

Grundverständnis

steht, dessen Konturen unscharf sind. Dieses Grundverständnis mag für einen Interpreten aus einem föderal strukturierten Staatswesen, noch 15 Schima, aaO, S. 106; Kahl, Möglichkeiten und G r e n z e n des Subsidiaritätsprinzips nach A r t . 3 b E G V , A ö R 1993, 4 1 4 ff. 16 Vgl. von Borries, aaO, S. 278. 17 Vgl. Mitteilung der K o m m i s s i o n an den Rat und an das Europäische Parlament v o m 27. 10. 1992, aaO, S. 1 1 8 , 124; von Borries, aaO, S. 276, 2 7 7 mit Nachweisen; Hacb, Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen U n i o n aus der Perspektive der Bundesregierung, in: Hrbek, Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen U n i o n - Bedeutung und W i r kung f ü r ausgewählte Politikbereiche, Baden-Baden 1 9 9 5 , S. 27.

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dazu geprägt von der gliedstaatlichen Sicht, ein durchaus anderes sein als für jemanden, der den Traditionen und Stärken einer Zentralmacht verhaftet ist18. Dieses Grundverständnis kommt zum Tragen, wenn es darum geht, die konkrete juristische Tragweite der Bedingungen für gemeinschaftsrechtliches Handeln im Bereich konkurrierender Kompetenzen auszuleuchten. Dabei kann hilfreich sein, die sozialethischen Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips zu kennen, mögen sie nun im Sinne eines allgemeinen gesellschaftlichen Ordnungsprinzips bei Thomas von Aquin oder Althusius gesehen werden oder in der katholischen Soziallehre, wie sie ihren Niederschlag in der Enzyklika Quadragesimo Anno von Papst Pius X gefunden hat19. Für die europarechtliche Tragweite von Art. 3 b Abs. 2 E G V bedeutsamer ist die Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips als Staatsorganisationsprinzip etwa in bundesstaatlichen Verfassungen und in föderalen Staatstheorien20. 2. Letztendlich entscheidend für die Einschätzung des Subsidiaritätsprinzips ist jedoch der Umstand, daß es im Zusammenhang mit der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht, also aus Anlaß eines qualitativen Integrationsschrittes, wenngleich nicht neu er- oder gefunden, so doch neu formuliert und in grundsätzlicher Weise in die Architektur des Vertrages eingebaut worden ist. In der Präambel zum Vertrag über die Europäische Union ist das Subsidiaritätsprinzip als Strukturprinzip für die Entscheidungsebene in einem zukünftigen Europa („möglichst bürgernah") verankert; nach Art. B Abs. 2 des Unionsvertrages ist es bei der Verwirklichung der Ziele der Union zu beachten. Da es insoweit in erster Linie um intergouvernementale Zusammenarbeit geht, entfaltet das Subsidiaritätsprinzip hier vorrangig politische, kaum rechtliche Wirkung.

" Allerdings dürfte man inzwischen auch in Frankreich dem Satz von Chateaubriand „der Föderalismus ist die Staatsform der Barbaren" wohl nicht mehr uneingeschränkt zustimmen. " Vgl. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin 1993, S. 29 ff; Pieper, Subsidiarität. Ein Beitrag zur Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen, Köln 1994, S. 36 ff; Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, Berlin 1993, S. 77/81; Pescatore, in: Due/Lutter/ Schwarze, Festschrift für Everling, aaO, S. 1071. 20 Vgl. Borchmann/Memminger, Das Subsidiaritätsprinzip, in: Borkenhagen/Bruns/ Klöss/Memminger/Stein, Die deutschen Länder in Europa, Baden-Baden 1992, S. 17, 25; Pieper, aaO, S. 50 ff; Lecheler, aaO, S. 33 ff; Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, Berlin 1968; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR IV, S. 517/653; Kimminich, Die Subsidiarität in der Verfassungsordnung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, in: Kimminich, Subsidiarität und Demokratie, Düsseldorf 1981; Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Riklin/Batliner, Subsidiarität, Baden-Baden 1994, S. 21 ff.

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Die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung dieser Europäischen Union ist allerdings nach Art. 23 Abs. 1 G G daran gebunden, daß ein vereintes Europa u. a. dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist; insoweit ist die Übertragung substantieller Hoheitsrechte auf die Europäische Union in Deutschland mit Verfassungsrang gebunden an das Vorhandensein bestimmter Grundstrukturen in dieser Union, zu denen auch das Subsidiaritätsprinzip gehört. Durch den Vertrag von Maastricht wurde das Subsidiaritätsprinzip jedoch nicht lediglich als Architekturprinzip für die weiteren Bauabschnitte des Europäischen Hauses verankert. Vielmehr wurde es in Ergänzung der Kompetenzordnung des Vertrages in Art. 3 b Abs. 2 EGV als konstitutionelles Rechtsprinzip der Ausübung der zugewiesenen Kompetenzen zugrunde gelegt21. 3. Damit wurde die bestehende Gemeinschaft um ein föderales Strukturelement angereichert. Zwar ist weder die Europäische Gemeinschaft noch die Europäische Union ein Staat; derzeit vermag auch niemand zu sagen, ob die „Vereinigten Staaten von Europa" - in welcher Staatsform im einzelnen auch immer - definiertes Endziel des Integrationsprozesses sein sollen. Die Europäische Gemeinschaft ist jedoch mehr als ein völkerrechtlicher Staatenbund. Eine politische und historische Parallele könnte man zum Beitritt der süddeutschen Länder zum norddeutschen Bund im Jahre 1871 ziehen. Staatsrechtler vertraten damals, ebenso wie heute z. B. das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft, die Auffassung, die dadurch entstandene Gemeinschaft sei zwar noch kein Staat, aber doch mehr als nur ein Bündnis, es sei ein Gebilde „sui generis". In einem ähnlichen Prozeß befindet sich heute die Gemeinschaft der Europäischen Völker. Organisieren sich Staaten in einer übergeordneten Einheit, also von unten nach oben, und räumen sie dieser supranationalen Einheit Hoheitsbefugnisse ein, insbesondere Normsetzungskompetenzen, zur eigenverantwortlichen und unmittelbar wirkenden Ausübung, liegen dieser „Delegation" nach oben regelmäßig zwei verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Grundstrukturen zugrunde: das Prinzip der definierten Kompetenzzuweisung („begrenzte Einzelermächtigung"), das insbesondere einen Schluß von der Aufgabe auf die Befugnisse verbietet, sowie das Prinzip der Subsidiarität. Letzteres dient der Lösung von Normsetzungskonkurrenzen, die mit der Übertragung von Normsetzungskompetenzen in aller Regel einhergehen. 21 Auf die Überschneidungen des Subsidiaritätsprinzips mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (vgl. Art. 3 b Abs. 1, 3 EGV) und auf die Abgrenzungsversuche wird hier nicht näher eingegangen; vgl. hierzu etwa von Borries, aaO, S. 266 ff.

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Normsetzungskompetenzen können in drei klassischen Formen zwischen Zentralmacht und Gliedstaat aufgeteilt werden: Zuweisung an die Zentralmacht zur ausschließlichen Ausübung, Verbleib beim Gliedstaat zur ausschließlichen Wahrnehmung, Ausgestaltung als konkurrierende Kompetenz. Bei letzterer geht es um Bereiche, die zwar sinnvollerweise (bis zu einem gewissen Grade) einheitlich geregelt werden sollten, bei denen jedoch die Gleichheit oder Gleichwertigkeit der Rechtslagen je nach Sachbereich auch durch nationale Normen erreicht werden kann. Für konkurrierende Kompetenzen bleiben die Einzelstaaten deshalb in aller Regel in der Vorhand, sie überlassen in diesen Bereichen die Regelungskompetenzen nur subsidiär der Zentralmacht, nämlich nur für die Fälle, in denen sie selbst zu ausreichender gemeinschaftsdienlicher Normsetzung nicht in der Lage sind. Die Auflösung von Normsetzungskonkurrenzen durch das Subsidiaritätsprinzip ist somit das Korrelat zur Einräumung von Kompetenzen zur nicht ausschließlichen Ausübung. 4. Die Übernahme dieses Prinzips in das Gemeinschaftsrecht als Schranke für Maßnahmen im Bereich konkurrierender Kompetenzen schwächt die Gemeinschaft keineswegs, sondern reichert sie mit einem zukunftsorientierten, integrationsfördernden Element an. Europa wird nur dann Akzeptanz bei den Bürgern finden, wenn zentrale Strukturen und Befugnisse auf das Nötige beschränkt werden und nationale Identitäten sich auch noch weitgehend in nationaler Souveränität wiederfinden22. Die Leitlinie „so viel europäische Hoheitsmacht wie nötig, so viel nationale Souveränität wie möglich" ist daher nicht nur der rechtliche Stand der Dinge, sondern entspricht auch einem „Gebot der Vernunft"23. Dies auch als Willen der Partner des Gemeinschaftsvertrages festzustellen und bereits hieraus eine definitive Auslegung von Art. 3 b Abs. 2 EGV herzuleiten, dürfte allerdings schwer fallen, da keineswegs alle Unterzeichner des Vertrages von Maastricht von einer gleichartigen Vorstellung von Inhalt und Tragweite des Subsidiaritätsprinzips ausgegangen sein dürften.

22 Auch das BVerfG (NJW 1993, 3047/3057) weist darauf hin, daß mit dem Subsidiaritätsprinzip die nationale Identität der Mitgliedstaaten gewahrt werden soll; vgl. auch Art. 128 Abs. 1 EGV. 23 Auch die Kommission sieht es als „Gebot der Vernunft" an, das Subsidiaritätsprinzip ernst zu nehmen; siehe Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 118.

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IV. Die konkrete Tragweite des Subsidiaritätsprinzips 1. Das Subsidiaritätsprinzip entfaltet seine Wirkung bei konkurrierender Kompetenzlage im Hinblick auf das Ob, das Was und das Wie einer Maßnahme. Daß es als Kompetenzausübungsschranke von der bestehenden Kompetenzverteilung des Vertrages ausgeht und nicht etwa diese verändert, war zwar nicht unbestritten, dürfte aber inzwischen allgemein anerkannt sein24. Ergibt die Prüfung, daß Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausreichen, ist einerseits das Gemeinschaftsorgan gehindert, tätig zu werden, andererseits sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen25. 2. Das Subsidiaritätsprinzip greift nicht nur ein, um konkurrierende Kompetenzmaterien als solche für die Gemeinschaft zu entsperren. Es entfaltet Wirkung auch bei der Wahl des Mittels, also des Handlungsinstruments2''. Die Richtlinie als „typisch subsidiarisches Instrument" zu bezeichnen27, ist genauso richtig wie unvollständig. Die nur hinsichtlich ihres Zieles verbindliche, im übrigen aber auf Umsetzung ausgelegte Richtlinie (Art. 189 Abs. 3 EGV) ist im Verhältnis zur unmittelbar geltenden Verordnung (Art. 189 Abs. 2 EGV) ein Mittel, mit dem einerseits das betreffende Ziel erreicht werden kann, andererseits aber die Gemeinschaft nicht über das hinausgeht, was auf ihrer Ebene zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Kommen zur Erreichung des Ziels der geplanten Maßnahme eine Verordnung wie auch eine Richtlinie in Betracht 28 , wird das Subsidiaritätsprinzip in der Regel dem Erlaß einer Verordnung entgegenstehen. Das Subsidiaritätsprinzip kann jedoch nicht auf das Verhältnis der Verordnung zur Richtlinie beschränkt werden. Es gilt vielmehr für jede Handlungsform, in der die Gemeinschaft tätig wird. Deshalb zwingt m. E. das Subsidiaritätsprinzip dazu, den Maßnahmenkatalog des Arti-

24 So auch BVerfG, NJW 1993, 3047/3057; Everling, DVB1. 1993, 936/940; Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 118, 121. 25 Vgl. von Borries, aaO, S. 279; siehe auch Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Edinburgh vom 11./12. 12. 1992 zum Subsidiaritätsprinzip, Ziff. I 4., in: Hrbek, Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union - Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche, Baden-Baden 1995, Anhang 3. 2 ' Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 124. 27 Z. B. Kommission in Mitteilungen an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1991, aaO, S. 125. 28 Vgl. zu dieser Wahlmöglichkeit Grabitz, in: Grabitz/Hilf, E U V / E G V , Art. 189 Anm. 42.

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kels 189 E G V in umgekehrter Ordnung zu hierarchisieren29. Dies bedeutet: Wenn eine Richtlinie ausreicht, besteht keine Kompetenz für eine Verordnung, wenn eine Entscheidung ausreicht, besteht keine Kompetenz für eine Richtlinie, wenn eine Empfehlung ausreicht, besteht keine Kompetenz für eine Entscheidung und wenn eine Stellungnahme ausreicht, ist kein Platz für eine Empfehlung. 3. Damit sind die Wirkungen des Subsidiantätsprinzips jedoch noch nicht erschöpft. Es gilt auch für die Frage, mit welcher Regelungsdichte die Gemeinschaft von einer ihr grundsätzlich zustehenden Kompetenz Gebrauch macht. So ist z. B. bei der Formulierung einer Richtlinie zu berücksichtigen, daß einzelne Regelungen, soweit sie hinreichend bestimmt und unbedingt formuliert sind und darauf abzielen, Rechte Einzelner zu begründen, unmittelbare Wirkung im Falle ihrer Nichtumsetzung entfalten. Es gibt somit zwei Kategorien von Richtlinienvorschriften: ausfüllungsbedürftige und potentiell direkt wirkende. Unter der Kompetenzausübungsregelung des Art. 3 b Abs. 2 EGV hat dieses Gefälle zur Folge, daß eine Richtlinienvorschrift nur dann so konkret und unbedingt ausgestaltet werden darf, daß sie direkte Wirkung zeitigt, wenn die Voraussetzungen des Art. 3 b Abs. 2 EGV vorliegen30. V. Verfassungsrechtliche Dimension des Subsidiaritätsprinzips Aus deutscher Sicht ist bereits aus Gründen der nationalen Verfassungslage allen Versuchen entgegenzutreten, das Subsidiaritätsprinzip in seiner praktischen Wirkung zu schmälern, sei es durch extensive Auslegung der ausschließlichen Kompetenzen der Gemeinschaft, sei es durch restriktive Auslegung seiner Justitiabilität. Der gegenwärtige Integrationsstand verlangt seine präzise Handhabung durch die Europäischen Institutionen. Dem Subsidiaritätsprinzip kommt aus deutscher Sicht eine in ihrer Grundsätzlichkeit kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Denn nach der Logik der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde eine unzulängliche (nicht „strikte") Handhabung von Art. 3 b Abs. 2 EGV bei der Ausübung zugewiesener Kompetenzen die gleiche Wirkung haben wie die Anmaßung nicht zugewiesener Kompetenzen. Die entsprechenden Akte wären im deutschen Hoheitsgebiet, so das 25 In diese Richtung gehen auch die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Edinburgh vom 11./12. 12. 1992 zum Subsidiaritätsprinzip, aaO, Ziff. II, Abs. 3, V.; dazu kritisch Pescatore, aaO, S. 1079. 30 Dies hat auch die Kommission anerkannt; vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 119 und insbes. S. 125/126.

Das Subsidiaritätsprinzip

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Bundesverfassungsgericht, „nicht verbindlich", mit der Folge, daß jedes deutsche Staatsorgan „aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert (wäre), diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden" 31 . Zuständig zur Überprüfung, ob Rechtsakte europäischer Organe das Subsidiaritätsprinzip verletzen oder nicht, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ersichtlich das Bundesverfassungsgericht. Die Fragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, seien hier nur knapp skizziert: Ist es mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht und mit dem Gebot der Rechtseinheit vereinbar, wenn ein Hoheitsakt der Gemeinschaft beschränkt auf einen Mitgliedstaat unverbindlich ist bzw. für nichtig erklärt werden kann? Ist nicht durch Art. 164 und Art. 177 E G V sowie Art. 5 E G V die Kompetenz zur Entscheidung, ob eine Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft sich noch im Rahmen der ihr übertragenen Befugnisse hält, dem E u G H übertragen worden, und zwar ohne den Vorbehalt, daß dies nicht gelten solle, wenn es um die Prüfung geht, ob ein Organ der Gemeinschaft sich „innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele hält" (Art. 3 b Abs. 1 EGV) und ob das Subsidiaritätsprinzip (Art. 3 b Abs. 2 EGV) gewahrt ist? Stellt man die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in eine Reihe mit den europarechtlichen Erkenntnissen des Gerichts in der Vergangenheit, so gewinnt man den Eindruck, daß die Kompetenzfrage im Geiste des Solange-I-Beschlusses beantwortet wurde, mit dem sich das Bundesverfassungsgericht 1974 für zuständig erklärt hat, Akte der E W G auf ihre Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten zu prüfen32; erst mit der Solange-II-Entscheidung von 1986 vertraute das Bundesverfassungsgericht darauf, daß die Europäische Gemeinschaft, insbesondere der EuGH, die Grundrechte der Gemeinschaftsbürger ausreichend gewährleiste, und übte von da an seine Gerichtsbarkeit im Hinblick auf die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht durch deutsche Gerichte und Behörden nicht mehr aus33. Vielleicht ist in absehbarer Zeit mit einer Entscheidung zu rechnen, die für die Kompetenzfrage das übernimmt, was im Solange-II-Beschluß mit Weisheit für die Grundrechtsfrage entschieden worden ist. Dies sollte um so näher liegen, als bei der Kompetenzfrage - anders als im Grundrechtsbereich - das Gemeinschaftsrecht (Art. 3 b Abs. 1, 2 EGV) und das deutsche Verfassungsrecht deckungsgleich sind.

31 32 33

N J W 1993, 3047/3052. BVerfGE 37,271. BVerfGE 73,339.

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VI. Handlungsvorrang und Beweislast Aus dem allgemeinen Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 3 b Abs. 1 EGV) in Verbindung mit Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips folgt ein Handlungsvorrang der Mitgliedstaaten gegenüber Gemeinschaftsaktionen 34 . Die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß die Voraussetzungen für ein subsidiäres Tätigwerden des Gemeinschaftsorgans nach Art. 3 b Abs. 2 EGV vorliegen, liegt bei dem Gemeinschaftsorgan, das von einer konkurrierenden Kompetenz Gebrauch machen will35. Nach anderer Ansicht besteht sogar eine widerlegbare Zuständigkeitsvermutung im konkurrierenden Kompetenzbereich für die Ebene der Mitgliedstaaten36. Der Europäische Rat spricht in diesem Zusammenhang in den Schlußfolgerungen von Edinburgh vom \\J\2. 12.1992 von der Notwendigkeit, die Relevanz des Regelungsvorschlags unter dem Aspekt des Subsidiaritätsprinzips zu rechtfertigen. Die Kommission erkennt die Beweislastverteilung zu Lasten des EG-Organs zwar ebenfalls unzweideutig an, fordert in ihrer Mitteilung an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992 jedoch, daß „als Gegenzug" zu ihrer Pflicht, in jedem Einzelfall den Nachweis der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zu erbringen, bei der Prüfung ihrer Vorschläge keine Trennung zwischen Subsidiarität einerseits und dem Inhalt der behandelten Sache andererseits vorgenommen werden dürfe37. VII. Die Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips 1. Art. 3 b Abs. 2 EGV hat nicht nur politischen Appellcharakter, sondern ist eine Rechtsvorschrift des Vertrages. Damit unterliegt er der Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 164 EGV38.

34 Pieper, aaO, S. 273; Schima, aaO, S. 39; Ehlermann, aaO, S. 216; auch die Kommission geht davon aus, daß die einzelstaatliche Zuständigkeit die Regel und die Gemeinschaftszuständigkeit die Ausnahme ist; vgl. Mitteilung an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 121. 15 Vgl. Kommission in ihrer Mitteilung an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27. 10. 1992, aaO, S. 118/122; von Borries, aaO, S. 279; BVerfG, N J W 1993, 3047/ 3057; zur Auslegung von Art. 72 Abs. 2 G G als beweislastumkehrende Subsidiaritätsregel, Kenntner, Z R P 1995, 367. 36 Bleckmann, DVBl. 1992, 335/336; Ress, D Ö V 1992, 990. 3 ' A a O S. 127 (vgl. auch S. 118, 121/122). 3 ' Die entsprechende Klageform ist in der Regel die Nichtigkeitsklage nach Art. 173 EGV; ein Klagerecht im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip fordert inzwischen auch der Ausschuß der Regionen.

Das Subsidiaritätsprinzip

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Hiervon geht auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Unionsvertrag von Maastricht aus. Die hierbei gebrauchten Formulierungen, daß der EuGH die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips „zu überwachen hat", daß die Rechtsprechung des EuGH „an das Subsidiaritätsprinzip gebunden" ist39, lassen erkennen, daß das Bundesverfassungsgericht nicht nur die - europarechtlich zu beurteilende Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips betonen wollte, sondern die effiziente Wahrnehmung dieser Aufgabe durch den EuGH auch als einen Gesichtspunkt von verfassungsrechtlicher Relevanz ansieht. Der zweifellos zutreffenden Feststellung, daß der EuGH die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips - also der Kompetenzausübungsgrenze des Vertrages - zu überwachen hat, steht allerdings die Aussage gegenüber, daß es in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts falle, zu prüfen, ob die europäischen Organe sich im Rahmen ihrer Kompetenz halten. Es bleibt die Frage, wer verbindlich festzustellen hat, ob ein Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaft die vertraglich eingeräumten Befugnisse - sei es im Hinblick auf die Kompetenzgrenzen oder auf die Kompetenzausübungsgrenzen - überschreitet und daher nichtig ist - , das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof oder gar jedes deutsche Staatsorgan? 40 2. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Frage nach den Grenzen der gerichtlichen Überprüft>arkeit des Subsidiaritätsprinzips. a) In vollem Umfange überprüfbar ist die Vorfrage nach der Art der Kompetenz. Da nach Art. 3 b Abs. 2 EGV Regelungen, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, immun sind gegen das Subsidiaritätsprinzip, kommt der Frage nach der Art der Gemeinschaftskompetenz (ausschließlich oder konkurrierend) entscheidende

N J W 1993, 3047/3057. Vgl. dazu auch oben Ziff. V. Diese Grundsatzfrage kann hier nicht weiter vertieft werden; vgl. dazu etwa Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des BVerfG vom 12. 10. 1993, in: Festschrift für Rudolf Bernhardt, Berlin 1995, S. 1313/ 1333; Meersen, N J W 1994, 549/552. Unter Berufung auf die Maastricht-Entscheidung des BVerfG hat z. B. der B G H in einer Entscheidung zum Urheberschutz ausführlich geprüft, ob der EuGH mit seiner einschlägigen Auslegung von Art. 7 Abs. 1 E W G V seine Kompetenzen überschritten habe. Er stellte fest, daß sich unter den gegebenen Umständen „eine Auslegung, die die verwandten Schutzrechte dem Anwendungsbereich des EWG-Vertrages zurechnet, im Rahmen der dem EuGH zugewiesenen Entscheidungsbefugnis" halte (NJW 1994, 2607/2609). Daß sich Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten für zuständig halten, Entscheidungen des EuGH im Vorlageverfahren nach Art. 177 EGV daraufhin zu überprüfen, ob sie sich im Rahmen der „dem EuGH zugewiesenen Entscheidungsbefugnis halten", zeigt schlaglichtartig die Fragwürdigkeit des zugrundeliegenden Ansatzes des BVerfG; vgl. auch Zuleeg, Deutsches Verfassungsrecht als Bremsklotz der Europäischen Einigung?, Europäische Zeitung, Juni 1995, 3/4., S. 1. 39

40

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Bedeutung zu. Es zeichnet sich ab, daß schwerwiegende juristische Konflikte in nächster Zeit auf diesem Felde ausgetragen werden. b) Uberprüfbar ist auch, ob die für die Maßnahme gegebene Begründung den Anforderungen von Art. 190 EGV entspricht. Art. 190 EGV enthält eine wesentliche Formvorschrift („formelles Rechtmäßigkeitskriterium")41 und dient der Transparenz und Kontrolle von Rechtsakten der Gemeinschaft. Die Begründungspflicht gilt auch für die Umstände, aus denen das handelnde Organ bei konkurrierender Kompetenz das Vorliegen für sein subsidiäres Tätigwerden herleitet. In diesem Rahmen könnte sich dem E u G H z. B. die Frage stellen, ob das Prüf- und Begründungsraster der Kommission (Stichwort „komparativer Effizienztest") den Anforderungen der zweiphasigen Stufenfolge des Art. 3 b Abs. 2 E G V genügt. c) Das zentrale Problem ist jedoch das der materiellen Überprüfbarkeit der Frage, ob das Ziel einer geplanten Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten „nicht ausreichend" erreicht werden kann und daher „besser" auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann. Hier handelt es sich um Rechtsbegriffe von erheblicher Unbestimmtheit, auch wenn sie durch das „Gesamtkonzept des Europäischen Rates von Edinburgh zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips" vom 11./12.12.1992 bemerkenswerte Konkretisierungen erfahren haben. Die Entscheidung, ob die Tatbestandsmerkmale des Art. 3 b Abs. 2 EGV vorliegen und ob die Gemeinschaft tätig werden soll, erfordert die Bewertung komplexer, teilweise auch politischer Sachverhalte, bei der sachliche und politische Entscheidungsspielräume bestehen42. Hier erscheint ein Blick auf Art. 72 Abs. 2 G G und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts interessant. Gedacht als Sperre gegen eine zu starke Bundesgesetzgebung im Bereich der konkurrierenden Kompetenz, hat die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 G G aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diese Schutzfunktion nie entfalten können. Das Bedürfnis nach „bundesgesetzlicher" Regelung wurde in ein Bedürfnis nach „bundesrechtlicher" Regelung umfunktioniert und zur Frage pflichtgemäßen Ermessens des Bundesgesetzgebers (also der Instanz, die an sich durch diese Vorschrift beschränkt werden sollte) erklärt, „die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen sei"43. 41

Pieper, aaO, S. 273; Grabitz, in: Grabitz/Hilf, aaO, Art. 190 Anm. 3. Vgl. Pieper, aaO, S. 711; Schima, aaO, S. 154. 43 BVerfGE 2, 213/224; 13, 230/233; 33, 224/229; Hofmann, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR I, S. 309 f. 42

Das Subsidiaritätsprinzip

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Ob der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht in der Maastricht-Entscheidung den EuGH in der Pflicht sieht, die Einhaltung des mit Art. 72 Abs. 2 GG (zumindest in seiner Zielsetzung) eng verwandten Subsidiaritätsprinzips strikt zu überwachen, auch als Signal dafür gesehen werden kann, daß die eigene Haltung zu Art. 72 Abs. 2 GG kritisch gesehen wird, mag dahinstehen. Erleichtert würde eine Revision der Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG zweifellos dadurch, daß diese Vorschrift 1994 geändert wurde, um „die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen zu konzentrieren, zu verschärfen und zu präzisieren mit dem Ziel, die als unzureichend empfundene Justitiabilität der Bedürfnisklausel durch das Bundesverfassungsgericht zu verbessern"44. Ob und in welchem Umfange der EuGH die Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Gemeinschaften nach dem Subsidiaritätsprinzip inhaltlich überprüfen wird, ist noch offen. Entsprechende Verfahren sind anhängig, Spekulationen sollen hier nicht angestellt werden. Eine persönliche Bemerkung sei abschließend erlaubt: Nimmt man die Beweislast des handelnden Organes dafür, daß die faktischen und rechtlichen Voraussetzungen für ein subsidiäres Tätigwerden vorliegen, nicht ernst und findet keine das Subsidiaritätsprinzip absichernde richterliche Uberprüfung statt, so droht die Gefahr, daß eines der zentralen Architekturprinzipien der Gemeinschaft nur auf dem Papier steht und seiner großen Bedeutung für die Statik der Europäischen Gemeinschaft und, was nicht vergessen werden darf, für eine zukünftige Union der europäischen Völker nicht gerecht wird.

" Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Zur Sache, Themen parlamentarischer Beratung 5/1993, S. 66, 71.

Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung PETER LERCHE

I.

Die Vorstellung der „Einheit der Rechtsordnung" blickt auf ausgreifende Wurzeln zurück.1 Aktualisiert sieht sie sich heute in zahlreichen Einzelargumentationen. Eine von diesen hat herausragenden Rang: Nicht selten wird die vorgestellte Einheit der Rechtsordnung als Basis des Geltungsanspruchs der grundrechtlichen Verfassungsaussagen im Zivilrecht betrachtet.2 Das allerdings befriedigt nur auf den ersten Blick. Mit einer solchen Argumentation wird das Entscheidende nicht getroffen und die eigentliche Frage nur verschoben; denn mit ihrer Annahme ist nicht ausgemacht, ob und wie sich der zivilrechtliche Geltungsanspruch der Grundrechte im Konkreten äußert. Die konkrete Geltung ist identisch mit der Tragweite der jeweiligen grundrechtlichen Aussage3; diese kann aber im Verhältnis der Bürger untereinander durchaus einen etwas anderen Inhalt haben als im Verhältnis der Bürger zum Staat. Einzelne Grundrechte oder Grundrechtsfunktionen mögen für das Verhältnis der Bürger untereinander sogar überhaupt keinen Geltungsanspruch erheben. Der Geltungswille der einzelnen grundrechtlichen Aussage für das Zivilrecht kann jedenfalls unterschiedlich bemessen sein, und zwar je nach Eigenart des jeweiligen Grundrechts wie nach Eigenart der rechtlich geformten oder zu formenden Lebensverhältnisse, in die hinein das Grundrecht wirken könnte oder - anders ausgedrückt angesichts derer das Grundrecht sich bewähren muß. Die Sache ist nicht identisch, aber verwandt mit dem verschiedentlich zu Recht hervorgehobenen Umstand, daß von der Konstruktion der 1 Vgl. etwa Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 13 ff mit weiteren Hinweisen S. 16, Fn. 28; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935. Angekündigt ist Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung: Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jh., 1995. 2 Repräsentativ etwa Rüfner in HStR, V, 1992, § 117, Rdn. 60 m.w.H. 3 Vgl. Lerche AfP 1973, 496 ff, 500; siehe auch etwa Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, 402 mit Fn. 536; neuerdings die Kritik Singers ZfA 1995, 611 ff, 622 f, an Hager J Z 1994, 373 ff.

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Peter Lerche

D r i t t w i r k u n g das P r o b l e m der Grundrechts&o//z«ora i m Verhältnis der B ü r g e r u n t e r e i n a n d e r z u u n t e r s c h e i d e n sei. 4 A l l e r d i n g s k a n n d a s

Kol-

l i s i o n s p r o b l e m 5 als s o l c h e s e r s t e n t s t e h e n , w e n n K l a r h e i t d a r ü b e r e x i stiert, o b u n d w e l c h e n G e l t u n g s a n s p r u c h ein G r u n d r e c h t i m Verhältnis d e r B ü r g e r u n t e r e i n a n d e r von

Haus

aus

erhebt. Z w i s c h e n d e m

s t r u k t i o n - u n d d e m K o l l i s i o n s p r o b l e m steht daher das

Kon-

Geltungspro-

blem. D a ß die v o m B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t in reichlich p a u s c h a l e r W e i s e apostrophierte

allgemeine

„Ausstrahlungswirkung"

der

Grundrechte6

d a z u verführt, das G e w i c h t der hier jeweils a u f t a u c h e n d e n E i n z e l - u n d S o n d e r f r a g e n z u minimalisieren, liegt auf der H a n d . D a s k a n n an zahlreichen Beispielen beobachtet werden. W i r d diese formelhaft-pauschalierende B e t r a c h t u n g s w e i s e mit einer ebenfalls f o r m e l h a f t - p a u s c h a l vers t a n d e n e n V o r s t e l l u n g v o n der Einheit der R e c h t s o r d n u n g g e k o p p e l t , ja s u c h t d i e e r s t e r e in d e r l e t z t e r e n w i e h ä u f i g i h r L e g i t i m a t i o n s r e s e r v o i r , verhüllen sich die Sachfragen. W i e s o l l e t w a d i e B e h a u p t u n g , d a ß d i e F r e i h e i t d e r K u n s t als G r u n d recht nicht nur staatliches K u n s t r i c h t e r t u m u n d sonstige staatliche B e drängnisse der K u n s t verwehre, s o n d e r n ohne weiteres auch auf

das

4 Prägnant Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 480, der die Frage des „Konstruktionsproblems" der Drittwirkung vom „Kollisionsproblem" unterscheidet (unter Heranziehung von Gamillscheg AcP 164,1964, 385 ff, 420; Bethge aaO [Fn. 3], S. 400). 5 Im übrigen ist altbekannt, daß die Grundrechtskollision für das Zivilrecht typisch ist; siehe etwa die Hinweise bei Rüfner aaO (Fn. 2), § 117, Rdn. 66; zu den daraus folgenden Abwägungsnotwendigkeiten dort Rdn. 77. 6 Auch die jüngere Judikatur des Bundesverfassungsgerichts scheint von der Annahme pauschaler Ausstrahlungswirkung der Grundrechte als objektive Normen nicht abzugehen, obwohl etwas behutsamere Formulierungen verwendet werden; vgl. etwa BVerfGE 84, 192 (194 f). Reichbelegter Überblick über die Entfaltung der Ausstrahlungsthese bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, III/l, 1988, S. 923 ff. Angaben zur Entwicklung der Grundrechtswirkungen in der Privatrechtsordnung dort S. 1509 ff. Herausgehoben seien im übrigen nur etwa Alexy aaO (Fn. 4), S. 475 ff; E.-W. Böckenförde in ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159 ff; Bydlinski österr. ZföffR XII (1963), 423 ff; Badura in Molitor-FS 1988, S. 1 ff; Bethge aaO (Fn. 3), bes. S. 393 ff; Canaris AcP 184 (1984), 201 ff; ders. JuS 1989, 161 ff; Dürig in Nawiasky-FS, 1956, S. 157 ff; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 78 ff; Fikentscher, Methoden des Rechts, IV, 1977, bes. S. 618 ff; Gamillscheg aaO (Fn. 4), 385 ff; Götz in Heyde/Starck (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 35 ff; K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991; H. Huber ZSchwR 74 (1955), 173 ff; F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960; Lerche in Steindorff-FS, 1990, S. 897 ff; Nipperdey RdA 1950, 121 ff; den., Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 897 ff; Oeter AöR 119 (1994), 529 ff; Pietzker in Dürig-FS, 1990, S. 395 ff; Rüfner aaO (Fn. 2), Rdn. 54 ff; den. in Martens-Gs, 1987, S. 215 ff; Schlichting in Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, S. 101 ff; Schwabe, Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971; ders. AÖR 100 (1975), 442 ff; Steindorff, Persönlichkeitsschutz im Zivilrecht, 1983.

Grundrechtswirkungen im Privatrecht

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Verhältnis des Künstlers zum anderen Bürger „ausstrahle" 7 , mit „Einheit der Rechtsordnung" unterbaut werden? Das ist nicht einsichtig zu machen. Entweder will die wohlverstandene konkrete grundrechtliche Aussage auch dieses Verhältnis (unmodifiziert?) erfassen, dann ist in der Konsequenz dem Vorrang der so gelesenen formellen Verfassung Rechnung zu tragen; oder nicht - dann ergibt die Vorstellung der Einheit der Rechtsordnung in dieser Richtung, d. h. in der Konsequenz, nichts. Es ist dies m. a. W. eine Frage der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 G G als Bestandteil der formellen Verfassung, nicht aber eine Folgerung aus der Einheit der Rechtsordnung. Die vordergründige Funktion der Vorstellung von der Einheit der Rechtsordnung liegt in der Forderung widerspruchsfreier Auslegung. Das ist eine handgreifliche Folgerung. Wird unter „Rechtsordnung" hier aber - und davon geht man aus - die (zumindest nationale) Gesamtrechtsordnung verstanden, dann wird Widerspruchsfreiheit in dem vor Augen stehenden Fragenkreis, also bei der sogen. Drittwirkung des Grundrechts, schon vollständig dadurch realisiert, daß man sich dem Vorrang der formellen Verfassung beugt, soweit die Aussagen der formellen Verfassung reichen. Da die formelle Verfassung umfassenden Vorrang beansprucht, ja sich dadurch geradewegs definiert, kann sich insoweit ein Widerspruch nicht entfalten. Entweder enthält die formelle Verfassung keinen Befehl z. B. dahingehend, das Briefgeheimnis auch im Verhältnis der Privaten untereinander zur Geltung zu bringen 8 , oder dahingehend, das Besitzrecht des Mieters gegenüber den Befugnissen des Vermieters in bestimmter Weise auszugestalten 9 , dann gibt es insoweit keine Substanz für einen Widerspruch; oder doch, dann erzeugt der Vorrang der formellen Verfassung Widerspruchsfreiheit.

7 Man wird (nicht nur, aber besonders auch) bei der Frage der Reichweite der Kunstfreiheit im Verhältnis der Rechtsgenossen untereinander diese nicht als einheitlichen Block zu betrachten haben, sondern nach ihren einzelnen Funktionen aufspalten müssen; z. B. wäre es verkehrt, die überaus weitgespannte Kunstfreiheits-Vorstellung, wie sie für das Verhältnis des Künstlers zum eingreifenden (nicht fördernden!) Staat gelten muß, unbesehen für das Verhältnis des Künstlers zum anderen Bürger zu verwenden. Zu diesen und weiteren Problemen der Tragweite der Kunstfreiheit (die hier nur als Beispiel herausgegriffen seien) siehe aus dem jungen Schrifttum etwa Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994 (mit Beiträgen von Berka, Häberle, Heuer, Lerche)-, Isensee A f P 1993, 619 ff; Kübler in FS Mahrenholz, 1994, S. 303 ff; Mahrenholz in Hb. d. Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, S. 1289 ff; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, 1993. 8 Zur Problematik etwa Badura, BK, Art. 10, Rdn. 19 f; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl. 1995, Art. 10, Rdn. 9; Löwer in v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kom., Bd. 1,4. Aufl. 1992, Art. 10, Rdn. 8. ' Eine „bestimmte" Ausgestaltung des Mietrechts als Verfassungspflicht verneint BVerfGE 89, 1 (8 f), zieht aber Schranken.

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II. Die eigentliche Frage ist daher eine andere. Sie geht dahin, wie die Vorstellung der Einheit der Rechtsordnung für die Bestimmung dessen ergiebig sein kann, was die formelle Verfassung jeweils aussagen will. So gesehen rückt der Akzent ab von der Forderung nach widerspruchsfreier Interpretation vorgegebener Rechtsinhalte; er verlagert sich auf die inhaltliche Bestimmung jener Grundsätze, welche die gesamte nationale Rechtsordnung als eine materiale Einheit betrachten lassen und die daher auch in das formelle Verfassungsrecht einfließen. In diesen Grundsätzen spiegeln sich die typischen Züge unserer Rechtsordnung. Zusammengenommen bezeichnen sie daher dasjenige, was normalerweise mit dem Begriff der materiellen Verfassung umschrieben zu werden pflegt: die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens.10 So verstanden ist klar, daß einerseits ein (größeres, komplexes, vielfächeriges, auch „offene" Flächen enthaltendes) rechtliches Ganze ins Auge gefaßt wird, m. a. W. eine eher großzügig gesehene Einheit im Rechtssinn; daß andererseits die näheren Inhalte dieses Ganzen maßgeblich aus der Welt der «raierverfassungsgesetzlichen Rechtsstrukturen durch Filtrierung auf das Wichtige gewonnen werden müssen. Geschieht dies, erhält man die Inhalte der materiellen Verfassung. Ob derart Grundsätzliches im Einzelfall ins Blickfeld tritt oder nicht, dafür kann die formelle Verfassung nicht letztlich entscheidend sein. Das Verfassungsgesetz ist zwar indiziell bedeutsam dafür, daß eine Aussage der Rechtsordnung als essentiell zu betrachten ist (und demnach der materiellen Verfassung angehört), hat aber nur sektorale Funktionen. Ohne Zwang kann jedenfalls das Grundgesetz nicht zu einem Gesamtspiegelbild der nationalen Werteordnung aufgebauscht werden. Mithin sind primär - sozusagen umgekehrt - aus der Fülle der einfachrechtlichen Aussagen typische Sätze grundsätzlicher Bedeutung für das Verhältnis der Rechtsgenossen untereinander zu destillieren, will man den Begriff der materiellen Verfassung mit Leben erfüllen. Ist dem aber so, liegt es nahe anzunehmen, daß auch die grundrechtlichen Aussagen des Grundgesetzes auf diesem Hintergrund verstanden sein wollen. Nur dies läßt die Kontinuität der weiträumigen geschichtlichen Entwicklung hervortre-

10 Die Zitierung dieser bekannten Formulierung Hesses (Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdn. 16) darf nicht übersehen lassen, daß sie von Hesse außerhalb der sonst gebräuchlichen Gegenübersetzung von formellem und materiellem Verfassungsbegriff gedacht ist; wie sich schon daraus ergibt, daß es als Aufgabe der so gesehenen „Verfassung" verstanden wird, die politische Einheit des Staates zu konstituieren (aaO, Rdn. 6).

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ten", von noch zu berührenden spezifischen Einwirkungen des Verfassungsgesetzes abgesehen. Damit wird gewiß nicht einer ungeschichtlichen Starrheit des Grundrechtsverständnisses das W o r t geredet. Eben deshalb kann das formelle Verfassungsrecht in seinen grundrechtlichen Aussagen für das Verhältnis der Bürger untereinander nicht von der Entwicklung der materiellen Verfassung gelöst gedacht werden. 12 Andererseits kann dann, wenn und weil das unterverfassungsrechtliche Recht im zeitlichen Flusse des Geschehens in Grundfragen jeweils eine bestimmte konkretere Gestalt annimmt, daraus nicht geschlossen werden, also sei dies zugleich konkretisierter Inhalt der formellen Verfassung. Eine so starke jeweilige Einwanderung von Gehalten der materiellen Verfassung in das formelle Verfassungsrecht kann es nicht geben; die Vorstellung der Einheit der Rechtsordnung leistet dies nicht. Träfe die Vorstellung einer solchen jeweils verbindlichen „Konkretisierung" des Grundgesetzes zu, hieße dies, daß essentielle Fortentwicklungen des unterverfassungsrechtlichen Rechts zugleich als Verfassungsänderungen aufgefaßt werden müßten. Damit überforderte man entweder Art. 79 Abs. 1, 2 G G oder die Kategorie stillen Verfassungswandels. Es ist das Elend aller so verstandenen Konkretisierungstheorien, dies nicht hinreichend einzuschätzen. 13 Schon deshalb kann nicht angenommen werden, daß die Grundrechtsaussagen der formellen Verfassung f ü r das Verhältnis der Bürger untereinander mehr als nur sehr allgemeiner Art sein können. 14 Sie müssen so beschaffen sein, daß hinreichend Raum bleibt f ü r Fortbildungen, N e u akzentuierungen, zusätzliche Bewegungen, die das Zivilrecht in persön11 Zum freiheitlichen Privatrecht im noch nicht freiheitlichen Staat siehe Hesse aaO (Fn. 6), Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 10 ff im Anschluß an Grimm in Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 3. Bd., 1. Teilband, 1982, S. 17 ff, 49; vgl. auch Grimm, Verfassung und Privatrecht im 19. Jh., 1981. Hesse setzt sich denn auch betont für eine Entwicklung ein, „die den Besonderheiten der Grundrechtsverwirklichung in privaten Rechtsbeziehungen in verstärktem Maße Rechnung trägt ..." (aaO, S. 26). Zu den „Entwicklungslinien des Freiheitsschutzes im klassischen Privatrecht als Vorformung und Forderung einer erweiterten Grundrechtsgeltung" bereits Leisner aaO (Fn. 6), S. 215 ff. Leisner spricht sich in seiner grundlegenden Arbeit zugleich gegen eine Deutung der Drittwirkung der Grundrechte als „allgemeine Rechtsgrundsätze" aus (aaO, S. 306 ff). 12 Die primäre Zuständigkeit des einfachen Gesetzgebers wird häufig unterstrichen, siehe etwa E. Klein NJW 1989, 1633 ff, 1636, 1640. Für einen prinzipiell breiten Bewegungsbereich des einfachen Rechts im Ergebnis (neben vielen anderen Stimmen) Canaris, besonders aaO (Fn. 6), JuS 1989, 164; zuletzt eindringlich gegen eine „Kolonisierung" des Privatrechts Oeter aaO (Fn. 6), bes. S. 531 f, 537 ff. " Speziell zu dieser Frage vgl. meinen Beitrag für die H . Maier-FS (noch nicht erschienen). 14 Leisner aaO (Fn. 6), S. 307 sieht die Grundrechte einerseits zwar als hinreichend konkret, andererseits aber doch von „allgemeinem" Charakter.

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lichkeitsbezogenen (= grundrechtsrelevanten) Materien vornimmt. Gerade unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung, der Weiterentwicklungen ins Auge fassen muß, zeigt sich daher eine eher zurückhaltende Bemessung der Aussagekraft der formellen Verfassung für das Verhältnis der Rechtsgenossen untereinander als angebracht. Erst recht muß dies für die Behauptung eines Hineinkorrigierens der formellen Verfassung in diese Rechtsmasse gelten. Ohne triftige, speziell aufzuweisende Gründe kann nicht angenommen werden, daß Aussagen des formellen Verfassungsrechts an den gegebenen Grundzügen des unterverfassungsrechtlichen Rechts Entscheidendes verändern wollen. So muß sich die materiale Einheit der Rechtsordnung zur Wirkung bringen und nicht umgekehrt. III. Aus diesen Grundannahmen leitet sich eine Reihe näherer Folgerungen ab: 1. Als erstes ist m. E. die beliebte Interpretationsregel vom „Grundgesetz als einer Einheit" etwas zurückzuschrauben. Ist es im Prinzip auch richtig, das formelle Verfassungsgesetz für sich selbst als eine Einheit zu interpretieren15, darf dies doch nicht überbetont werden. Diese Vorstellung ist nur insoweit tragfähig, als das Grundgesetz wie jedes andere Gesetz in sich möglichst widerspruchsfrei verstanden werden muß. Indessen sollte diese Interpretationsregel nicht dazu führen, daß sich das Verständnis der Grundrechtsnormen des Grundgesetzes von den einfachgesetzlichen Bestandteilen der materiellen Verfassung abkapselt. Das Grundgesetz hebt zwar einzelne dieser Bestandteile in besonderer Weise heraus, kann aber nicht als eine Art freischwebende Einheit begriffen werden, deren Interpretationsarsenal nur auf die immer wieder erneuerte Herstellung dieser Einheit als solcher gerichtet ist und sich in einer solchen Kraftanstrengung erschöpft. Daher ist - um nur ein Beispiel zu nennen - nicht einzusehen, warum als Schranken „vorbehaltlos" gewährter Grundrechte nur grundgesetzlich garantierte Güter in Betracht kommen sollen.16 2. Das hindert nicht, die integrationsstiftende Funktion speziell der formellen Verfassung zu konzedieren. Diese Funktion wird vor allem

15 Dazu etwa Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 128 ff; Ehmke W D S t R L 20 (1963), S. 53 ff, 77 ff, 89 ff. Aus junger Judikatur etwa BVerwGE 87, 37 (45). 16 Siehe dazu kritisch (im einzelnen etwas differenzierend) Isensee in HStR, I, 1987, § 13, Rdn. 43; III, 1988, § 57, Rdn. 111, 126 (materielle Verfassung sei maßgebend); Kriele in HStR, V, 1992, § 110, Rdn. 69 ff; Lerche in Mahrenholz-FS, 1994, S. 515 ff, 525 ff.

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durch den Grundrechtsteil des Grundgesetzes getragen. Aber auch dies darf nicht isolierend gesehen werden. Das zeigte sich in der jungen Vergangenheit dort, wo es im besonderen Maße auf Integration ankam: bei der Herstellung der deutschen Einheit. Es vergröbert, ja verzerrt die Dinge, wollte man die revolutionäre Bewegung in der D D R als eine solche „hin zum Grundgesetz" kennzeichnen; und zwar schon schlicht deshalb, weil das Grundgesetz als solches der Bevölkerung der D D R weithin unbekannt war. Wohl aber orientierte sich die revolutionäre Strömung, die alsbald zum Strome anschwoll, an Grundgehalten des westdeutschen Rechtssystems, wie sie dessen materielle Verfassung mit Substanz erfüllten und erfüllen. Diese Inhalte, die sich im Grundgesetz vielfach formelhaft wiederfinden und von ihm mitgesteuert werden, bezeichnen das Ziel der Einheitsbewegung; ein Ziel, das nur folgerichtig über den Pfad des Art. 23 a. F. G G realisiert wurde. Weil der Einheitsbewegung nicht das Grundgesetz als solches, wohl aber das von ihm gespiegelte, getragene, mitbeeinflußte Rechtssystem in seinen funktionierenden Grundzügen vor Augen stand, läßt sich z. B. auch nicht argumentieren, Art. 146 G G ursprünglicher Fassung sei als Bestandteil des Grundgesetzes durch die revolutionäre Bewegung mitgewollt worden, so daß die Fortführung (Art. 146 n. F. GG) des in Art. 146 a. F. G G zum Ausdruck gebrachten Gedankens möglicher Ablöse des Grundgesetzes im Tieferen legitimiert sei. Eben dies ist nicht der Fall. Die unklar verquollene Neufassung des Art. 146 G G - unerfreuliche Frucht eines politischen Kompromisses mit materiellem Verfassungsrang 17 läßt sich so nicht rechtfertigen. Sie kann, soweit sie den Gehalt des alten Art. 146 G G mitschleppt, nicht Mit-Ziel der revolutionären Bewegung gewesen sein. Diese ergab prinzipielle Akzeptanz der gegebenen materiellen Verfassung Westdeutschlands (Adaptions- und Fortentwicklungsmöglichkeiten nicht ausnehmend), nicht aber einen Antrieb zur Beseitigung des Grundgesetzes. 18 3. Gemeinsamer Nenner dieser Überlegungen ist, daß die einheitsstiftende Kraft der Grundrechte nur verkürzt gesehen wird, bezieht man sie primär auf ihre formellverfassungsrechtlichen Gewährleistungen und schneidet sie damit ab vom Boden der materiellen Verfassung. Insbeson-

17 Zur Problematik näher etwa Isensee in HStR, VII, 1992, § 166; Lerche in HStR, VIII, 1995, § 194, Rdn. 23 ff, 65. m. w. A. 18 Erst recht bedenklich müssen Vorschläge bleiben, durch heutige Realisierung einer Verfassungsneuschöpfung gemäß der Neufassung des Art. 146 G G eine Integrationswirkung zu erreichen. Wenn es auch in der jüngeren Zeit um diese Projekte etwas stiller geworden ist, kann nicht vorhergesagt werden, bei welcher vorgeblich passenden Gelegenheit sie wieder herausgeholt werden könnten (etwa im Zusammenhang der europäischen Einigung).

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dere verwischt dies zu sehr die Bedeutung der Tatsache, daß die Tragweite der einzelnen Grundrechte für das Verhältnis der Bürger untereinander regelmäßig nicht ohne Blick auf die materielle Verfassung beurteilt werden kann. In der Formel der Smendsc\\tn Integrationslehre, wonach sich die Nation in der Anerkenntnis der Grundrechte einig weiß 19 , gehen diese praktisch wichtigen Abgrenzungen leicht unter. Die Grundrechte werden zu Leuchtpunkten des nationalen Selbstverständnisses, die auf diese Weise „ausstrahlen"; aber wieweit sie überhaupt jeweils ausstrahlen (d. h. als Normen gelten) wollen, ist eine andere Sache. Erst recht ist die Smendsch.z Formel in der weiteren Gegenwart dahingehend unergiebig, die Eigenart der deutschen „Nation" zu erfassen - wie ein Blick auf die verwandten Grundrechtskataloge der anderen in Betracht kommenden Staaten sowie auf Völker- und supranationale Grundrechtskataloge anzeigt. 4. Eine weitere Folgerung äußert sich unmittelbar beim Grundverständnis der „Drittwirkung" der Grundrechte. Zeigt es sich, wie bemerkt, im Interesse sowohl der Bewahrung wie der inhaltlichen Fortbildung der Einheit der Rechtsordnung als angebracht, die Aussagen des formellen Verfassungsrechts für das Verhältnis der Bürger untereinander nur zurückhaltend anzusetzen, dann heißt dies: Die nähere Abmessung grundrechtlicher Drittwirkung muß primär in den Händen des unterverfassungsrechtlichen Rechts ruhend gesehen werden, soweit nicht die formelle Verfassung hinreichend klar anderes aussagt. Die Vorstellung der Drittwirkung der Grundrechte entwickelt sich so gesehen gewissermaßen aus dem Schöße der einfachgesetzlichen Rechtsmassen von selbst - und es wäre höchst unnatürlich, wenn dies im Regelfall anders wäre; d. h. wenn vor allem die aus zahllosen Einzelaussagen des bürgerlichen Rechts herauszufindenden grundsätzlichen persönlichkeitsschützenden Grundstrukturen primär erst von irgendeiner anderen Seite her in das Verhältnis der Bürger untereinander hineingebracht werden müßten. „Grundrechte" wirken ganz selbstverständlich im Bereich der Bürger untereinander; aber eben auch nur mit den bis ins Feinste gehenden Begrenzungen und Relativierungen, die durch die Notwendigkeit entstehen, die hier durchwegs auftretenden Kollisionen gesetzgeberisch bzw. durch zuständige Richterhand ausgleichend aufzulösen. " Vgl. Smend aaO (Fn. 15), S. 158 ff; besonders S. 163: „ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem" als „das System gerade der Deutschen". - Nicht eingegangen werden kann hier auf Fragen der Drittwirkung europarechtlicher Grundfreiheiten; siehe dazu nur etwa Canaris in Lerche-FS, 1993, S. 873 ff; Steindorff ebendort S. 575 ff; zuletzt Roth in Everling-FS, 1995, S. 1231 ff.

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So betrachtet wird die bundesverfassungsgerichtliche Spielart der Drittwirkungslehre in besonderem Maße problematisch. Das trifft vor allem die Annahme jener angeblichen „Ausstrahlungswirkung", die die verfassungsgesetzlich akzeptierten, im Bürger-Staat-Verhältnis heimischen Grundrechte auf das Verhältnis der Bürger untereinander haben soll. Diese Annahme bleibt ohne rechte Legitimation; bestenfalls ist sie ein Umweg, ein Umweg freilich mit der Gefahr der unangebrachten Konsequenz, die Kompetenz der zumindest primär zuständigen Zivilgerichte zugunsten verfassungsgerichtlicher Kompetenz in den Hintergrund zu rücken. Die logische Lücke bleibt eine solche, auch wenn die Brücke dadurch gebildet werden soll, daß die Grundrechte als „Grundsatznormen" o. ä. apostrophiert werden; denn auf diese Weise verschwindet nicht die entscheidende Frage, warum und wieweit jene Grundsatznormen jeweils auch für das Zivilrecht unmittelbare oder mittelbare Geltungswirkung beanspruchen wollen. 5. Damit wird sogleich ein weiterer Punkt berührt. Es ist die schützende und formierende Hand des einfachen Gesetzgebers und der Zivilgerichte, die im Verhältnis der Bürger untereinander die praktisch eigentlich entscheidende Arbeit zu leisten hat, d. h. die Austarierung der jeweils kollidierenden Rechtsgüter der einzelnen nach übergreifenden, die materiale Einheit der Rechtsordnung spiegelnden Maßstäben. Das heißt normalerweise Ausdifferenzierung jeweils grundrechtsrelevanter Positionen, da nahezu alle jeweils kollidierenden Rechtspositionen der einzelnen Bürger grundrechtlich erfaßt sind und es daher fast überall gilt, ausgleichende Grenzziehungen zu finden. Das ist auch der Grund, warum die vor allem von Böckenförde20 und anderen bevorzugte kräftige Betonung oder Neubetonung des Charakters der Grundrechte als subjektive, staatsgerichtete (Abwehr-)Rechte keinen wirklichen Erfolg verspricht, so sehr ihr Ansatz der Selbstbescheidung einleuchtet. Denn mit dieser Sicht weicht man der Tatsache ununterbrochener jeweils grundrechtsrelevanter Kollisionen der Positionen der einzelnen Bürger aus. In diesen Kollisionslösungen liegt die hauptsächliche Aufgabe. Uberhaupt dürfte die Gegenüberstellung subjektivrechtlicher und objektivrechtlicher Gehalte in diesem Gesamtbereich ebensowenig fruchtbar sein wie vergleichbare Gegenüberstellungen, etwa von Freiheit und Institution, oder auch Entgegensetzungen sonstiger abstrakter Art, z. B. von Prinzip und Regel u. w. m. Das alles hat zwar sichtende und schwerpunktmäßig ordnende Funktionen, lenkt aber hier den Blick vom Wesentlichen eher ab; d. h. von der Notwendig20 E.-W. Böckenförde, besonders in: Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, Carl Friedrich von Siemens-Stiftung, 1990.

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keit, die Feinarbeit der Kollisionslösungen anhand von Maßstäben zu leisten, die in einsehbarer Weise aus der Einheit der Rechtsordnung gewonnen werden können; einer Einheit, wie sie sich in der materiellen Verfassung findet und fortbildet. 6. Rückt man die Dinge auf diese Weise etwas zurecht - also zu Lasten einer m. E. übertriebenen Heraushebung des Grundrechtsteils der geschriebenen Verfassung dann wird eines nur um so deutlicher: Erst recht verfehlt ist die Perspektive bloßen Grundrechts,,Vollzugs" durch das einfache Recht. In ihrer Sicht wird die gesamte unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung (soweit diese es überhaupt mit Persönlichkeitsrechten zu tun hat) lediglich als eine Art Ausführung, Realisierung, Exekutierung des Grundrechtsteils des Grundgesetzes beurteilt. Das wird in dieser Schroffheit zwar selten so gesagt; doch liegt es als unausgesprochenes oder angedeutetes Motiv zahlreichen modisch klingenden „Verwirklichungs"-Thesen zugrunde, nicht nur solchen mit unausgegorenem sozialstaatlichem Impetus. So gut dieser Impetus gemeint ist und im einzelnen auch gerechtfertigt sein kann, hier wird er überbetont. Mit derartigen Verwirklichungs-Vorstellungen kehren sich die Dinge um; der einfache Gesetzgeber wird zum Vollstrecker vorgegebener verfassungsgesetzlicher Inhalte.21 Die Gerichtsbarkeit - nicht nur die Verfassungsgerichtsbarkeit, aber sie in erster Linie - sähe sich damit gegenüber dem einfachen Gesetzgeber auf ein Podest geschoben, das ihr nicht zukommt und ihr nicht bekäme. 7. Mit der vorgelegten Betrachtungsweise ist demgegenüber vielleicht zwangloser als sonst zu erklären, warum das Bundesverfassungsgericht gut daran tut, die Uberprüfung der (von ihm so genannten) „fachgerichtlichen" Entscheidungen im Grundrechtsfelde weithin nur zurückhaltend vorzunehmen. 22 So sehr das Bundesverfassungsgericht zur Verteidigung der Grundrechte da ist, wo es nottut, d. h. vor allem gegenüber Anmaßungen staatlicher oder staatsähnlicher Macht, so wenig kann der Erfahrungsschatz (etwa) des Zivilgesetzgebers und der Zivilgerichte in den Hintergrund gerückt werden; d. h. jener Reichtum, den sie bei der Auflösung der (fast immer „irgendwie" grundrechtsrelevanten) Kollisionen der Bürgerpositionen untereinander eingebracht haben und rechtsfortbildend weiterentwickeln, gipfelnd in der Judikatur des Bundesgerichtshofs.

Hierzu etwa meine Kritik in aaO (Fn. 6), S. 897 ff, 901 ff. Siehe aus der jüngeren Judikatur die (als allgemein zugrundegelegte) Formel in BVerfGE 85, 248 (257 f), die allerdings nicht ganz deckungsgleich ist mit jener ebensolche Allgemeingeltung beanspruchenden Formel, wie sie etwa in BVerfGE 84, 192 (194 f) verwendet wird. 21

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Jene wohlfundierte Ablehnung einer verfassungsgerichtlichen Superkontrolle wird allerdings in nicht recht einsehbarer Weise bei gewissen Grundrechten, namentlich denen des Art. 5 G G , im praktischen Effekt teilweise aufgegeben23, während bei anderen Rechtspositionen, die nicht minder grundrechtsrelevant sind, etwa den eher eigentumsbezogenen Rechtspositionen, die verfassungsgerichtliche Kontrolle häufig und zu Recht reserviert bleibt.24 Läßt das Bundesverfassungsgericht die gebotene Zurückhaltung bei den erstgenannten Grundrechten teilweise fallen, kann dies nur dort - dort allerdings - gerechtfertigt sein, wo Eigenarten der formellen Verfassung, z. B. eine gegenüber der zivilrechtlichen Tradition neue Akzentuierung durch das Grundgesetz selbst, der Durchsetzung durch verfassungsgerichtlichen Machtspruch bedarf - auch im Verhältnis der Bürger untereinander. Zwar sind derartige Eigenarten selbstredend auch seitens der Zivilgerichte zu beachten. Indes läßt es sich an diesen Stellen eher vorstellen, daß die verfassungsgerichtliche Hand notwendig wird; weit mehr als es dort der Fall ist, wo man im sozusagen normalen, überkommenen grundrechtsrelevanten Bereich verharrt, d. h. bei der stetig funktionierenden Auflösung kollidierender Rechtspositionen unter Beachtung der Einheit der materiellen Verfassung. IV. 1. Im Gesagten liegt zugleich, daß der formellen Verfassung auch im vorliegenden Bereich (des Verhältnisses der Bürger untereinander) ein Eigenwert verbleibt. Dieser versinkt auch in unserer Betrachtungsweise - natürlich - nicht zur Bedeutungslosigkeit. Nicht nur sind hier neu23 Das zeigt sich in doppelter Weise: Einmal wird die Art der Durchsetzung einzelner Grundrechtsgehalte gegenüber kollidierenden Aspekten nicht selten - trotz des Gebrauchs verbaler Zurückhaltungsformeln - rigide gehandhabt (was z. B. zur Zeit die aus verständlichen Gründen immer grimmiger werdende Kritik an der Uberbetonung des Grundrechts der Meinungsfreiheit gegenüber Ehrenschutz u. ä. ausgelöst hat); siehe etwa die Einzeldarstellungen bei Oeter aaO (Fn. 6), 534 ff, 542 ff, 551 ff. Zum anderen werden aus sehr mageren Verfassungsformeln (wie etwa „Rundfunkfreiheit") überaus detaillierte Einzelfolgerungen abgeleitet; hier wirkt freilich besänftigend, daß die jeweiligen Grundfestsetzungen des Gesetzgebers nur selten zentral korrigiert werden. " Vgl. aus der jüngeren Judikatur etwa BVerfGE 81, 208 (215 ff), wobei das Gericht aaO, 218 allerdings inkonsequenterweise nur auf Art. 3 Abs. 1 GG blickt; ferner etwa BVerfGE 82, 6 (11 ff): Hier betont das Gericht zunächst in allgemeiner Weise die nur eingeschränkte Uberprüfbarkeit fachgerichtlicher Analogieschlüsse, fügt aber hinzu (aaO, 13), das Bundesverfassungsgericht dürfe kontrollieren, „ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten widerspricht". Es ist freilich gerade die Frage, wieweit diese Kontrollintensität konkret reicht. - Eine eher neue Linie der Kontrollintensität jetzt in den Beschlüssen des BVerfG vom 22. 6. 1995, NJW 1995, 2615,2624.

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artige Akzentuierungen erkennbar. Einzelne direkte Rechtsbefehle der formellen Verfassung entscheiden spezielle Fragen des Verhältnisses der Privaten untereinander (vgl. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Vor allem der Befehl zur Gleichbehandlung, insbesondere im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG, ist dafür ein zentrales Beispiel. Die Ausformung von „neuen" Grundrechten, die nicht schon in der geschichtlich ausgreifenden deutschen Rechtstradition angelegt sind, wie etwa der Rundfunkfreiheit oder der Informationsfreiheit, ermöglicht die Erkenntnis „neuer" ungeschriebener, überindividueller Zielgüter (wie z. B. Ermöglichung eines breitgestreuten Informationsmaterials25); d. h. solcher, die auch für das Verhältnis der Bürger untereinander relevant werden können. Da die grundsätzlichen Aussagen der formellen Verfassung zugleich zur materiellen Verfassung gehören, nehmen sie teil an der Vorstellung materieller Einheit der Rechtsordnung, auch unabhängig von dem ihnen zukommenden formellen Vorrang. Dies erspart aber, wie eingangs bemerkt, nicht die Notwendigkeit, jeweils genau zu erkunden, ob und welche tatbestandliche Reichweite der jeweiligen formellgesetzlichen Aussage - im Verhältnis der Bürger untereinander - zukommt. 2. Diese gebotene Prüfung erübrigt sich insbesondere nicht dadurch, daß ein spezifischer Entwicklungszug des deutschen Staatsrechts in das Gesamtbild einbezogen wird: jener der staatlichen Schutzpflichten grundrechtlicher Provenienz.2'' Die bisherigen Bemerkungen haben die prinzipielle Trennbarkeit der Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes im Verhältnis der Bürger untereinander von jener im Verhältnis der Bürger zum Staat zugrundegelegt. Bekanntlich wird diese Trennbarkeit seit geraumer Zeit durch die Vgl. aus der jungen Judikatur etwa BayVerfGH 47, 36 (40 f). Detaillierter Uberblick über die Entwicklung dieser Vorstellung bei Stern, Staatsrecht aaO (Fn. 6), III/l, S. 728 ff. Aus der Fülle der Literatur nur etwa Alexy aaO (Fn. 4), bes. 410 ff; Canaris aaO (Fn. 6), AcP 184 (1984), S. 225 ff; ders. aaO (Fn. 6), JuS 1989, 163 f; Clauen JöR NF 36 (1987), S. 29 ff; Degenhart, Kernenergierecht, 2. Aufl., 1982; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Dirnberger DVBl. 1992, 879 ff; Dung aaO (Fn. 6), S. 176; Herdegen in Heckmann/Meßerschmidt (Hrsg.), Gegenwartsfragen des öffentlichen Rechts, 1988, S. 161 ff; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; ders. NJW 1990, 1764 ff; Hillgruber AcP 191 (1991), 69 ff; Isensee in HStR, V, 1992, § 111; ders. Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Jarass AöR 110 (1985), 363 ff, 378 ff; E. Klein aaO (Fn. 12), 1633 ff; Kloepfer in Lerche-FS, 1993, S. 755 ff; D. Lorenz in HStR, VI, 1989, § 128; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 88 ff; ders. in Konrad (Hrsg.), Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren, 1985, 213 ff; Oeter aaO (Fn. 6), 535 ff, 537 f, 549 ff; Pietzker aaO (Fn. 6), S. 345 ff; Preu JZ 1991, 265 ff; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977; Singer aaO (Fn. 3), 623 ff; Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, 1992; Wahl/Masing JZ 1990, 553 ff. 25 26

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Entfaltung staatlicher Schutzpflichten im grundrechtlichen Bereich in Frage gestellt.27 Aber auch hier gilt es, auf Konturen zu achten und die Dinge nicht durch übertriebenes Zusammensehen ihrer Eigenarten zu berauben. Walter Odersky selbst war durch seine Beteiligung am ersten Abtreibungsprozeß vor dem Bundesverfassungsgericht (als Vertreter Bayerns) an der Durchsetzung der Vorstellung staatlicher Schutzpflichten unmittelbar beteiligt; brachte diese Entscheidung doch - durch Aufnahme der eben dahinzielenden Argumentation der angreifenden Seite28 - den Gedanken grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates zum Durchbruch. 29 Diese konkreteren Schutzpflichten heben sich von der allgemeinen Pflicht des Staates, den Bürgern „Sicherheit" zu geben, ab - wenn sie auch letztlich von dieser allgemeinen Pflicht, die den Staat selbst unmittelbar legitimiert, im Tieferen gespeist werden. Sie haben aber doch einen selbständigen Gehalt, weil und soweit sie spezielleren grundrechtlichen Aussagen ihr Leben verdanken. 3. Zu erwägen ist, ob das bisherige Ergebnis unserer Überlegungen durch die Anerkennung staatlicher Schutzpflichten wesentlich verändert wird. Dieses Zwischenergebnis kann dahin zusammengefaßt werden: D e m Verständnis der Grundrechte im Verhältnis der Bürger untereinander muß unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung in erster Linie die große Fülle der einfachgesetzlichen Normen zugrundegelegt werden. (Nicht aber kann umgekehrt, wie gebräuchlich, die Drittwirkung des formellen Verfassungsgesetzes aus der Einheit der Rechtsordnung begründet werden.) Grundrechtsrelevante Rechtserkenntnisse, wie sie im Verhältnis der Bürger untereinander primär Sache der Zivilgerichtsbarkeit sind, werden sich daher vor allem an jenen Maßstäben orientieren, die sich angesichts der Einheit der Rechtsordnung präsentieren, so wie sich diese aus der materiellen Verfassung greifen läßt. Das formelle Verfassungsgesetz samt seinen spezifischen Durchsetzungsmöglichkeiten sichert die so verstandenen Grundrechte ab, enthält zusätzliche Akzentuierungen, Direktiven und sonstige Aussagen, darf aber nicht, trotz seines formellen Ranges, als eine in der Höhe freischwebende, sozusagen im Dunkel leuchtende Rechtsschicht begriffen werden. Die Vorstellung allseitiger „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechtsnormen ist daher den Gegebenheiten nicht voll adäquat. Insbeson27 Angaben über wichtige Stimmen zum Zusammenhang zwischen staatlichen Schutzpflichten und Drittwirkung etwa bei Isensee a a O (Fn. 26), H S t R , V, § 1 1 1 , Rdn. 134 in Fn. 335; Oeter a a O (Fn. 6), 549, Fn. 90; Rüfner a a O (Fn. 2), § 117, Rdn.60, Fn. 180. 28 Vgl. referierend B V e r f G E 39, 1 (20 f); das Verfahren ist dokumentiert in Arndt/ Ehard/Funcke (Hrsg.), Der § 218 S t G B vor dem Bundesverfassungsgericht, 1979. 29 B V e r f G E 39, 1 (42 ff).

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dere erspart die Berufung auf ein Grundrecht des Grundgesetzes es nicht, jeweils konkret die Frage aufzuwerfen, ob und wieweit (bzw. in welcher modifizierten Weise) die jeweilige Grundrechtsfunktion für das Verhältnis der Bürger untereinander überhaupt Geltung beanspruchen will. Dieses Geltungsproblem bedarf jeweils besonderer Beantwortung. Es steht hinter dem grundsätzlichen Konstruktionsproblem der Drittwirkung und vor dem Kollisionsauflösungsproblem (Abwägung). Ändert die Berufung auf staatliche Schutzpflichten an diesem Gesamtbild Wesentliches? Alle Perspektiven, die hierzu näher überlegt sein wollen, deuten auf Verneinung: a) Als erstes mag gesagt werden, die Anerkennung staatlicher Schutzpflichten, die aus der formellen Verfassung zu destilieren sind, weise auf „Verwirklichung" in der Zukunft, die bestehenden Massen der einfachgesetzlichen Rechtsordnung reichten hier gerade nicht aus; sonst bedürfte es der Rechtsfigur staatlicher Schutzpflichten nicht. Ist dies eine befriedigende Sicht? Die typische Situation ist ja nicht so beschaffen, daß erst das formelle Verfassungsgesetz einen in die Zukunft gerichteten Auftrag an den Staat ausspräche, den der Staat im Laufe der Zeit zu vollziehen hätte. In aller Regel ist dem grundrechtlichen Schutzauftrag durch die Rechtsordnung schon entsprochen, und zwar speziell durch Abschirmung grundrechtsrelevanter Positionen des Bürgers gegen Drittstörungen durch die - gegebenenfalls beiderseitig ausgleichende einfachgesetzliche Rechtsordnung; nicht anders als es sich zunächst unter dem Aspekt der Drittwirkung darstellte. De Absicherung des „Lebens" gegen Drittstörungen ist eine nahezu selbstverständliche Leistung der Rechtsordnung.30 Erst dadurch, daß dem Gesetzgeber vorgeworfen wird (zu Recht oder zu Unrecht), seinerseits eine Lücke in diesen Schutz einzuschneiden (soweit es etwa um den Schutz ungeborenen Lebens geht), wird die Frage zu einer solchen auch der formellen Verfassung und zusätzlich zu einer derartigen, die zugleich für die Erhaltung der Einheit der Rechtsordnung bedeutsam ist. Aber sogar auch in dieser Dimension darf nicht zu viel von der formellen Verfassung allein erwartet werden. Wenn beispielsweise gelegentlich sogar schwerste Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit ungeschützt bleiben sollen - so bei Verweigerung des rettenden Todesschusses zum Schutz der Geisel, wenn nur nicht deren Leben bedroht ist, in einigen Polizeigesetzen - wird schwerlich aus einer isolierenden Lesart der grundgesetzlichen Schutzpflicht allein die Antwort gegeben werden können; sie wird letztlich abhängen von den die Einheit der Rechtsordnung konstituierenden Bestandteilen der materiellen Verfassung. Das „Unter)0 Siehe zur gleichzeitigen Betonung weitgehender Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aus der jungen Judikatur etwa BVerwGE 95, 188 (196).

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maß"-Verbot 31 wird nur sehr ausnahmsweise aus der formellen Verfassung allein mit hinreichend klarer Substanz gefüllt werden können.32 b) Als zweites scheint sich ein Unterschied zwischen den zunächst behandelten Problemen („Drittwirkung") und der Berufung auf staatliche Schutzpflichten in folgendem Punkt aufzutun: Immer wieder ist zu hören, die Drittwirkungskonstruktionen arbeiteten primär mit grundrechtsgesteuerter Auslegung der (regelmäßig) auslegungsfähigen Aussagen der einfachgesetzlichen Rechtsordnung; grundrechtliche Schutzpflichten richteten sich demgegenüber kraft Grundgesetzes primär an den Staat als Normgeber.33 In der Tat spielt das Bundesverfassungsgericht auf diesen beiden Klavieren. Während z. B. auch die zweite große Abtreibungsentscheidung die normative Schutzpflicht betont34, sucht das Gericht im übrigen seiner Ausstrahlungslehre dadurch Nachdruck zu verschaffen, daß die Fachgerichtsbarkeit angehalten wird, unbestimmte Gesetzesbegriffe (nicht nur Generalklauseln) grundrechtskonform zu handhaben. Das gilt auch für die heutige Judikatur.35 Wie aber, wenn entsprechend auslegungsfähige Normen nicht vorhanden sind? Dann, aber auch erst dann wandelt sich die Frage in eine solche der Schaffung von Schutznormen um. Daran kann erkannt werden, daß entgegen dem, was häufig zum Verhältnis Drittwirkung und Schutzpflichten gesagt wird, die These von der staatlichen Normierungspflicht kraft formeller Verfassung erst sekundär eigenständiges Leben gewinnt. Im Regelfall tritt diese Seite der Sache zurück; denn abgesehen von besonders gelagerten Ausnahmefällen ist das grundrechtsrelevante Verhältnis der Bürger untereinander auslegungsfähig geregelt. Daher geht es nicht primär um zukunftsgerichtete Normierungsa.ufga.ben in Erfüllung der formellen Verfassung, sondern - nach wie vor - um das Gebot, die zutreffenden Auslegungsmaßstäbe zu finden; das aber weist wiederum auf die materielle Verfassung zurück. 31 Dazu insbesondere - außer BVerfGE 88, 203 (254) - Canaris aaO (Fn. 6), AcP 184 (1984), 228 sowie aaO (Fn. 6), JuS 1989, 163; Götz aaO (Fn. 6), HStR, III, § 79, Rdn. 30 f; Isensee aaO (Fn. 26), HStR, V, § 111, Rdn. 90,165; Lerche in HStR, V, 1992, § 121, Rdn. 42; ders. aaO (Fn. 6), Steindorff-FS, S. 903, Fn. 25. Vgl. zuletzt die überzeugende Kritik von Dietlein ZG 1995,131 ff, an Hain DVB1.1993, 982 ff; Starck JZ 1993, 816 ff. 32 Der Frage, inwieweit hier grundsätzliche Verlagerungen auf Verfahrensgehalte zu konstatieren sind, kann nicht nachgegangen werden. 33 Die maßgebliche Adressierung des Gesetzgebers wird zwar etwa auch bei Canaris aaO (Fn. 6) z. B. AcP 184 (1984), 227 unterstrichen, doch macht dieser Autor zugleich zu Recht deutlich, wie breit der einfachrechtliche Gestaltungsraum ist, vgl. besonders aaO, 231 f unter Hinweis u. a. auf Dürig aaO (Fn. 6), S. 180 f. Vgl. neuerdings auch H. H. Klein in Bitburger Gespräche, Jb. 1995/1, S. 81 ff, 91 ff. 3< BVerfGE 88, 203 (251 ff). 3S Vgl. nur z. B. BVerfGE 90, 27 (Parabolantenne).

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Ein hinreichender Auslegungsraum ist auch in dieser Perspektive regelmäßig schon deshalb verfügbar, weil sich die einfachgesetzlichen konfliktlösenden Normen normalerweise als „allgemeine Gesetze" darstellen. Diese, in Art. 5 Abs. 2 G G nur beispielhaft genannte, fast überall hervortretende Kategorie ist durch eine sehr kräftige, sogar den Wortlaut der Normen korrigierbare Auslegungsmacht gekennzeichnet. Folgt man dem Bundesverfassungsgericht, soll sich die Art der Handhabung dieser „allgemeinen Gesetze" sogar ganz entscheidend am Einzelfall orientieren. Das aber heißt, der Akzent liegt denn doch auf „Auslegung", nicht auf genereller „Normierung". Auch wer die Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts als übertrieben empfindet und dem Gesetzgeber eine stärkere Eigenkraft zur typisierenden Normierung in diesen grundrechtsrelevanten Bezirken zubilligt36, wird konzedieren, daß im Endergebnis die staatliche Schutzpflicht nicht so sehr als grundgesetzvollziehendes Normierungsgebot, sondern als grundrechtsaktualisierende Auslegungsdirektive zu begreifen ist. Damit aber fällt auch von dieser Seite die vorgebliche Trennwand zwischen Drittwirkung und staatlicher Schutzpflicht dahin und reduziert sich auf ein Trennwändchen. Anders gesagt: Wer eine aus den Grundrechten folgende staatliche Normierungspflicht postuliert, kann diese Forderung regelmäßig nur unzureichend einlösen; denn der Gesetzgeber ist zu einer Einzelfallabwägung nur beschränkt in der Lage, er muß sich regelmäßig auf „allgemeine" Gesetze zurückziehen; geschieht dies, gibt er damit indes - notgedrungen - seine Normierungsaufgabe gerade dort weit aus der Hand, wo es um grundrechtliche Abwägung geht; denn diese Abwägung erfordert grundsätzlich Einzelfallabwägung, und zwar anhand der Maßstäbe, die die Einheit der Rechtsordnung liefert und die der Gesetzgeber typisierend verdeutlichen und fortbilden kann. c) Endlich läßt sich auch aus einer dritten Perspektive heraus eine grundsätzliche Scheidung zwischen Drittwirkung und staatlicher Schutzpflicht in der hier interessierenden Beziehung nicht durchhalten. Bekanntlich sucht ein Teil der Drittwirkungslehre, an ihrer Spitze Canaris, dadurch den Zugang zur Grundrechtswirkung im Privatrecht,

36 Stichwort: Aus dem Vorbehalt des „allgemeinen" Gesetzes des Art. 5 Abs. 2 GG darf kein Urteilsvorbehalt für den Einzelfall werden (vgl. etwa Lerche DVBl. 1958, 526 mit Fn. 28). Siehe der Sache nach auch etwa Canaris aaO (Fn. 6), JuS 1989, 164; zur stärkeren Beachtung (vertretbarer) gesetzgeberischer Lösungen typischer Konfliktsituationen meine Bemerkungen in Kewenig (Hrsg.), Deutsch-Amerikanisches Verfassungsrechtssymposium 1976, 1978, S. 67 ff, 85 m. w. H.; neuerdings zur „regelkonkretisierenden Fallgruppenbildung" (des Supreme Court) Oeter aaO (Fn. 6), 540 m. w. H.

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daß auf Art. 1 Abs. 3 G G verwiesen wird. 37 Nach dieser Vorschrift ist auch der Gesetzgeber an die Grundrechte gebunden. Zum Gesetzgeber rechne aber auch - so die im Ansatz völlig einleuchtende Konstruktion der Gesetzgeber des Privatrechts. Diese Betrachtungsweise genießt den Vorzug, die schon referierten Vagheiten jener Ausstrahlungs-Lehre, wie sie das Bundesverfassungsgericht nach wie vor vertritt, zu vermeiden. 38 Das ist ein erheblicher Fortschritt. Teilweise handelt sich diese Lehre indes im Grunde dieselben Probleme unter einem anderen Etikett wieder ein. Denn wenn auch unzweifelhaft der Privatgesetzgeber zu den Grundrechtsgebundenen zählt, kann doch auch in dieser Sicht die jeweilige Grundrechtsfunktion nur in der Gestalt wirken, in der sie einen Geltungsanspruch für das Bürger/Bürger-Verhältnis von Haus aus erhebt. 39 Diesen zu bestimmen, ist aber wiederum Sache des Verständnisses der einzelnen Grundrechtsfunktion selbst. Art. 1 Abs. 3 G G sagt nur etwas darüber aus, wen die Grundrechte binden, und nichts darüber, was Inhalt des einzelnen Grundrechts ist. Zum Inhalt des Grundrechts in diesem Sinn rechnet aber unlöslich seine Tragweite im Verhältnis der Rechtsgenossen untereinander. Diese Tragweite in der konkreten Fallkonstellation zu bestimmen, bleibt daher unverzichtbare Aufgabe. Wie aber soll im Zweifelsfall dieser Aufgabe genügt werden können, ohne Blick auf jene materialen Grundzüge, die die Einheit der Rechtsordnung konstituieren? Ihre immanenten, systemgerechten Entwicklungsmöglichkeiten wie auch ihre sichtbaren Konturen müssen das Material liefern, wenn die Aussage nicht ohnehin eindeutig ist.

37 Ca.na.rit aaO (Fn. 6), AcP 184 (1984), 217 ff sowie etwa aaO (Fn. 6), JuS 1989, 162 m. w. A. in Fn. 7 unter besonderer Unterstreichung von Schwabe aaO (Fn. 6). " Entgegen Canaris aaO (Fn. 6), JuS 1989, 162 f ist allerdings der Hinweis in diesem Zusammenhang wohl kein zusätzliches Argument, auch die Gerichte seien nach Art. 1 Abs. 3 GG Grundrechtsadressaten. Dieser Umstand wird außer für die Verfahrensgrundrechte nur für den von Canaris zunächst ins Auge gefaßten Sonderfall des Richters als Quasigesetzgeber relevant; im übrigen ist der Richter inhaltlich (im Rahmen der allgemeinen Maßstäbe) an das Gesetz gebunden und kann es nur, soweit möglich, verfassungskonform auslegen oder als verfassungswidrig behandeln; d. h. im Prinzip kann die Bindung des Richters an die Grundrechte nicht mehr ergeben als die Bindung des auszulegenden Gesetzes an die Grundrechte. Siehe schon Dürig aaO (Fn. 6) in Nawiasky-FS, S. 159; Lerche aaO (Fn. 3), AfP 1973, 500; weitere Stimmen etwa bei Bethge aaO (Fn. 3), S. 400 mit Fn. 531. Ähnliches ist dann immer wieder hervorgehoben worden, z . B . Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 10. Aufl. 1994, Rdn. 190 ff. 59 Wenn z. B. Canaris aaO (Fn 6), AcP 184 (1984), 213 davon ausgeht, die Gerichte hätten bei der Überprüfung einer Kündigung das Eingriffsverbot des Art. 5 Abs. 1 GG „unmittelbar" zu beachten, wird vorausgesetzt, daß der konkrete Geltungsanspruch des Grundrechts inhaltlich derartige Fälle erfassen will; das ist noch nicht die Frage des Art. 1 Abs. 3 GG.

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3. Der schlichte Blick auf die Abkürzungsformeln, die der Text des Grundgesetzes in seinem Grundrechtsteil bietet, vermag dies nicht zu leisten; auch nicht allein die Erkundung der jeweiligen entstehungsgeschichtlichen Zielrichtung des Grundrechts, wie sie regelmäßig durch das Verhältnis des Bürgers zum Staat als Bedrohungsmacht geprägt ist. Den Grundrechtsformeln kann zwar gelegentlich eigene Signalwirkung zukommen, und es kann unter besonderen Umständen die Stunde der Verfassungsgerichtsbarkeit schlagen, aber das sollte die Ausnahme bleiben. Andernfalls löst sich das Grundrechtsverständnis zu sehr von der materiellen Verfassung ab. Anstelle einer Zerfaserung in diffuse Einzelfallbezogenheit, die zur Unberechenbarkeit tendiert, muß daher auch so gesehen der falltypisch die Konfliktlösungen vorzeichnende Zivilgesetzgeber sein Recht behalten, oder genauer gesagt wieder erringen. Die meisten Grundrechtsgehalte sind der Zivilrechtsordnung nicht von außen eingepflanzt.

Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft ELMAR MAYER

I. Zu den wichtigen strafrechtspolitischen Themen der letzten Jahrzehnte gehört die Frage, ob die Staatsanwaltschaft Verwaltungsbehörde, gerichtsähnliches oder gar gerichtsgleiches Organ ist. Die Diskussion hierüber wurde teilweise leidenschaftlich geführt. So hat man etwa in der Forderung, die Staatsanwaltschaft sachlich und persönlich unabhängig wie einen Richter zu machen, die Gefahr gesehen, der Staatsanwaltschaft als Institution das Grab zu schaufeln 1 . Inzwischen ist die Diskussion um die verfassungsrechtliche Einordnung der Staatsanwaltschaft abgeklungen. Das bedeutet aber nicht, daß die damit zusammenhängenden Fragen geklärt wären - im Gegenteil. Es ist daher durchaus lohnend, die seit den 50er Jahren geführte Diskussion zusammenfassend zu überblicken und die Ergebnisse einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Zur Beschäftigung mit dem Thema ermuntert auch, daß dem durch diese Schrift zu Ehrenden, Herrn Professor Dr. Odersky, als langjährigem Leiter der Strafrechtsabteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz die Staatsanwaltschaft stets besonders am Herzen lag. Dies fand auch in seinem wissenschaftlichen Werk durch zwei Aufsätze zu Problemen der Staatsanwaltschaft Niederschlag 2 . II. 1. Das Grundgesetz erwähnt die Staatsanwaltschaft nicht. Der IX. Abschnitt „Rechtsprechung" ist nur den Richtern gewidmet: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut" (Art. 92 GG); und Art. 98 Abs. 1 und 3 G G fordert, die Rechtsstellung der Richter in Bund und Ländern durch besondere Gesetze zu regeln. Diese Bestimmung war Anlaß für die erste umfassende Auseinandersetzung mit der Frage der Stellung der Staatsanwaltschaft. Denn die Entstehung des Deutschen Richtergesetzes war von der Forderung begleitet, in dem Gesetz auch 1

Blomeyer, Die Stellung der Staatsanwaltschaft, G A 1970, 161. Odersky, Staatsanwaltschaft, Rechtspflege und Politik, Festschrift für Karl Bengl, 1984, S. 57; Aktuelle Überlegungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft, Festschrift f ü r Kurt Rebmann, 1989, S. 343. 2

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die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft umfassend zu regeln, weil Richter und Staatsanwalt im Bereich der Strafrechtspflege gemeinsam die Dritte Gewalt repräsentieren würden. Vor allem der Deutsche Richterbund strebte dieses Ziel nachdrücklich an3; unterstützt durch ein Rechtsgutachten von Eberhard Schmidt, in dem dieser bis heute gültige Aussagen über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren formulierte: „Staatsanwaltschaft und Gericht erfüllen gemeinsam die der Justiz übertragene Aufgabe der Justizgewährung. Beide sind als Justizbehörden Organe der Rechtspflege; beide verwirklichen im Bereich der Strafrechtspflege zusammen das, was die .rechtsprechende Gewalt' hier zu leisten hat" 4 . Begründet wurde die Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Dritten Gewalt aus ihrer geschichtlichen Entwicklung und aus ihrer Funktion im Gefüge des Strafverfahrens. Die zeitweise bei den Beratungen des Deutschen Richtergesetzes bestehende Chance, die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft zeit- und sachgerecht zu definieren, verwirklichte sich bekanntlich nicht. Die Staatsanwaltschaft mußte sich mit einer anhangartigen Regelung in § 122 D R i G begnügen. Mit Inkrafttreten des Deutschen Richtergesetzes 1961 wurde daher die Diskussion um die Stellung der Staatsanwaltschaft nicht beendet. Weitere N a h r u n g erhielt die Auseinandersetzung durch das aufsehenerregende Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23. 9. I960 5 zum Legalitätsprinzip und zur Frage der Bindung der Staatsanwaltschaft an die höchstrichterliche Rechtsprechung, in dem der Bundesgerichtshof die Staatsanwaltschaft der vollziehenden Gewalt zuordnete, ohne diese Auffassung zu begründen. In der Literatur hingegen wurde in Fortführung der bisherigen Uberlegungen die Staatsanwaltschaft teilweise nicht nur der Dritten Gewalt zugeordnet, sondern Staatsanwälte den Richtern im Sinn von Art. 92 G G gleichgestellt, weil auch die Tätigkeit der Staatsanwälte „Rechtsprechung" sei6. Die aus Art. 97 G G abgeleitete Konsequenz war die Forderung nach Unabhängigkeit der Staatsanwälte und die Bewertung (zumindest) des (externen) Weisungsrechts als verfassungswidrig.

5 Denkschrift des Deutschen Richterbundes zur Frage der Einbeziehung der Staatsanwälte in das Richtergesetz, DRiZ 1955, 254. 4 Eberhard Schmidt, Die Rechtsstellung der Staatsanwälte im Rahmen der rechtsprechenden Gewalt und ihre Einbeziehung in das Richtergesetz, DRiZ 1957, 273; ebenso Bader, Staatsanwalt und Rechtspflege, JZ 1956, 4; Kleinknecht-Müller, Kommentar zur StPO, 4. Aufl. 1958, Einl. S. 20. 5 N J W 1960, 2346. 6 So insbesondere in umfassenden Untersuchungen Görcke, Weisungsgebundenheit und Grundgesetz, ZStW, 73. Band, 1961, S. 561, und Kohlhaas, Die Stellung der Staatsanwaltschaft als Teil der rechtsprechenden Gewalt, 1963; ebenso Wagner, Zur Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte, N J W 1963, 8.

Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft

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So weit mochten andere Autoren zwar nicht gehen, an der Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur Dritten Gewalt, wenn auch nicht zur „Rechtsprechung", wurde jedoch nur selten gezweifelt 7 . 2. In den 70er Jahren wurde ein neuer Anlauf gemacht, das Amtsrecht der Staatsanwälte und das Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei gesetzgeberisch zu ordnen 8 . Wenn diese Versuche auch nicht erfolgreich waren 9 , so haben sie doch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Stellung der Staatsanwaltschaft erneut angeregt. Die neu entflammte Diskussion setzte sich kritisch mit der in den 60er Jahren herrschenden Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Dritte Gewalt auseinander. Dabei verschob sich das Meinungsbild zugunsten der Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur Zweiten Gewalt: die Staatsanwaltschaft als Exekutivbehörde. Doch nur eine Mindermeinung will die Staatsanwaltschaft eindeutig der Exekutive zuschlagen' 0 . Die Mehrzahl der Autoren sieht die Staatsanwaltschaft als etwas Besonderes: „Ein den Gerichten gleichgeordnetes, der rechtsprechenden Gewalt zugeordnetes, notwendiges Organ der Strafrechtspflege" 11 - so oder ähnlich wird die Staatsanwaltschaft entsprechend ihrer Aufgabenstellung im Strafverfahren charakterisiert. Damit soll sie soweit wie möglich von der Exekutive abgerückt werden. Und wenn die Formulierungen und Be-

7 Arndt, Umwelt und Recht - Umstrittene Staatsanwaltschaft, N J W 1961, 1615: Die Staatsanwaltschaft ist ein „selbständiges Organ der Rechtspflege", das „mehr denn je der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet" ist - auch dies klassisch gewordene Formulierungen. Ebenso Göbel, Anklagezwang und Gewaltentrennung, N J W 1961, 856; Eberhard Schmidt, Zur Rechtsstellung und Funktion der Staatsanwaltschaft als Justizbehörde, M D R 1964, S. 629 und 713; den., Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rdn. 95; Fuhrmann, Die Stellung der Staatsanwaltschaft im System der Gewaltenteilung, J R 1964, 418. A. A. Sarstedt, Gebundene Staatsanwaltschaft?, NJW 1964, 1752, der die Staatsanwaltschaft zwar auch als „Organ der Rechtspflege" bezeichnet, sie aber dennoch der Exekutive zuordnet. Leider hat sich der 45. Deutsche Juristentag mit der Problematik nur am Rande beschäftigt. Erkennbar aber waren erhebliche Meinungsverschiedenheiten über Rechtsstellung und Aufgaben der Staatsanwaltschaft; vgl. Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 1964, insbesondere Band II, Sitzungsbericht. 8 Vgl. hierzu Kintzi, Plädoyer für eine Neuordnung des Amtsrechts der Staatsanwälte, Festschrift für Rudolf Wassermann, 1985, S. 899; Gössel, Überlegungen über die Stellung der Staatsanwaltschaft im rechtsstaatlichen Strafverfahren und über ihr Verhältnis zur Polizei, GA 1980,325. 9 Die Justizminister beschlossen auf ihrer Konferenz 1983, die Arbeiten an dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Staatsanwaltschaft nicht wieder aufzunehmen. 10 Bucher, Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft, J Z 1975, 105; Krey/Pföhler, Zur Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, NStZ 1985, 145; Zuberbier, Staatsanwaltschaft - objektive Behörde und Anwalt des Staates, DRiZ 1988, 254. " KK-Schoreit, 3. Aufl., § 141 Rdn. 3.

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gründungen auch mehr für eine „Einordnung" in die statt einer bloßen „Zuordnung" zur Dritten Gewalt sprechen, so glaubt man diesen Schritt nicht gehen zu können12; wohl wegen der dann als unlösbar angesehenen Probleme der Unabhängigkeit und des Weisungsrechts, weil Dritte Gewalt und Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 ff G G gleichgesetzt werden. Deshalb sieht man sich doch gezwungen, die Staatsanwaltschaft in den Bereich der Exekutive einzuordnen, wenn auch mit einer Sonderstellung (oder mit Doppelcharakter - Justizbehörde innerhalb der Exekutive) oder man läßt die verfassungsrechtliche Einordnung offen13. In der Rechtsprechung findet sich keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Problematik. Die Tendenz dürfte aber - wie in der Literatur - dahin gehen, die Staatsanwaltschaft der Exekutive zuzurechnen, wenngleich ihr auch die Rechtsprechung eine Sonderstellung zubilligt14. Auch die verfassungsrechtliche Literatur äußert sich nicht grundsätzlich zu dem Thema15. 3. Die bisher zitierte Literatur zeigt, daß die Auseinandersetzung mit der Thematik nahezu ausschließlich mit Blick auf die strafrechtlichen Konsequenzen erfolgte; wenn auch verfassungsrechtliche Überlegungen teilweise breiten Raum einnehmen. Für die strafrechtlichen Schlußfolgerungen aber ist die Einordnung in die Exekutive oder Judikative nicht von entscheidender Bedeutung, so daß aus diesem Blickwinkel die endgültige Lösung zu Recht als eine Frage der Begriffsbildung dahingestellt werden konnte16. 12 So aber Katholnigg, Strafgerichtsverfassung, 2. Aufl. 1995, Rdn. 1 vor § 141: entsprechende Anwendung des IX. Abschnitts des GG auf die StA, und Schoreit, Plädoyer für ein Staatsanwaltsgesetz, DRiZ 1995, 304/306. 13 Vgl. Blomeyer, aaO (Fn. 1); Schütz, Staatsanwaltschaft und Dritte Gewalt, Festschrift für Günther Küchenhoff, 1972, 985; Gössel, aaO (Fn. 8); Odersky, aaO (Fn. 2); Kintzi, aaO (Fn. 8) und DRiZ 1987, 458; Kuriert, Wie abhängig ist der Staatsanwalt?, Festschrift für Rudolf Wassermann, 1985, S. 915; Ulrich, Nochmals: Staatsanwaltschaft - objektive Behörde und Anwalt des Staates, DRiZ 1988, 368; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, S. 152; LK-Schäfer, 24. Aufl. 1988, Einleitung, Kapitel 8, Rdn. 5, 5 a; KMR-S«, 8. Aufl. 1993, Einleitung IV, Rdn. 7, 8; Kissel, GVG, 2. Aufl. 1994, § 141 Rdn. 8, 9; Kleinkriecht/Meyer-Goßner, 42. Aufl. 1995, Rdn. 5-7 vor § 141; vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, 22. Aufl. 1991, S. 47, der die Staatsanwaltschaft weder der Exekutive noch der Dritten Gewalt zurechnet. 14 BVerfGE 9, 223/228; 31, 43/46; 32, 199/216; BGH NJW 1971, 2082/2083; BVerwG NJW 1961,1496/1497. ,5 Bei Maunz-Dürig-Herzog, GG, Art. 92, Rdn. 97 und bei Schenke, BK, Art. 19 Abs. 4, Rdn. 41, 213, 214 findet sich nur die Feststellung, daß der Staatsanwalt kein Richter i. S. v. Art. 92 GG sei. Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl. 1995, Vorbem. 1 b vor Art. 92: Der Staatsanwalt betreibt zwar keine „Rechtsprechung". Er ist aber als Organ der Strafrechtspflege, das organisatorisch aus der Verwaltung herausgelöst und organisch in die Justiz eingegliedert ist, der Dritten Gewalt zugeordnet. " Odersky, Festschrift Bengl (Fn. 2), S. 58; Gallas, Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, Band II, S. D 65.

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Verfassungsrechtlich kann die Frage jedoch nicht offen bleiben. Denn wenn man - wie die herrschende Meinung - die Staatsanwaltschaft als Exekutivbehörde sieht (wenn auch mit Sonderstellung), so ist der VIII. Abschnitt des Grundgesetzes anwendbar. Gesetzliche Regelungen, die das staatsanwaltschaftliche Verfahren betreffen, bedürften dann nach Art. 84 Abs. 1 G G der Zustimmung des Bundesrates. Dem aber widerspricht die ständige Praxis der Gesetzgebung: Gesetze, die das staatsanwaltschaftliche Verfahren regeln, ergehen stets ohne Zustimmung des Bundesrates, weil es sich nicht um Regelungen von Verwaltungsverfahren, sondern von gerichtlichem Verfahren handelt17. Dieser Widerspruch fordert eine Uberprüfung der herrschenden Meinung: ist die Staatsanwaltschaft tatsächlich Exekutivbehörde?

III. 1. Es ist heute einhellige Auffassung, daß es sich bei staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen nicht um Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 G G handelt und daß Staatsanwälte nicht Richter im Sinne dieser Bestimmung sind18. Die vereinzelt gebliebenen Versuche, dies insbesondere aus der historischen Entwicklung und der Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft zu begründen19, haben nicht nur den eindeutigen Wortlaut, sondern auch die Entstehungsgeschichte des IX. Abschnitts des Grundgesetzes gegen sich. Dieser Abschnitt trug ursprünglich die Uberschrift „Gerichtsbarkeit und Rechtspflege" 20 . Erst im Laufe der Beratungen im Parlamentarischen Rat änderte man die Uberschrift in „Die Rechtsprechung". Damit wurde die Eingrenzung dieses Abschnitts auf die Richter verdeutlicht, deren Stellung im Hinblick auf „die hinter uns liegenden bitteren Erfahrungen" gestärkt und verfassungsrechtlich verankert werden sollte21, um „früher unbekannten, in der NS-Zeit eingerissenen Mißbräuchen der richterlichen Gewalt zu steuern"22. Demgegenüber

" Niederschrift über die 548. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrates am 10. 4. 1985, S. 19. Vgl. auch Katholnigg, aaO (Fn. 12). Soweit strafverfahrensrechtliche Gesetze als zustimmungsbedürftig angesehen wurden (vgl. z. B. Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994, BGBl. I, S. 3186; Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 [StVÄG 1994], Gesetzentwurf des Bundesrates, BR-Drucks. 620/94 [Beschluß]), wurde die Zustimmungsbedürftigkeit nicht aus Bestimmungen über das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren hergeleitet. " Vgl. die Nachweise in Fn. 13 und 15. " Vgl. Fn. 6. 20 Art. 128 ff des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee. 21 Schriftlicher Bericht des Parlamentarischen Rates zum Entwurf des Grundgesetzes, S. 43 und 48/49. 22 v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 493; vgl. auch BVerfGE 22, 49/75.

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war weder im Hauptausschuß noch im Parlamentarischen Rat von der Staatsanwaltschaft die Rede23. Dies läßt nur den Schluß zu, daß die Staatsanwaltschaft nicht unter den IX. Abschnitt des Grundgesetzes fällt. Dieses Ergebnis ist unabhängig davon, welchen Inhalt man dem Begriff „Rechtsprechung" gibt24. 2. Mit der Ausgrenzung der Staatsanwaltschaft aus dem unmittelbaren Anwendungsbereich des IX. Abschnitts des Grundgesetzes ist aber deren Schicksal als Verwaltungsbehörde noch nicht besiegelt. Dies wäre nur zwingend, wenn das Grundgesetz unter der Dritten Gewalt ausschließlich die Rechtsprechung durch Richter verstünde, was aber nicht der Fall ist. Das Grundgesetz hat in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die Teilung der Staatsgewalt als tragendes Organisationsprinzip unserer staatlichen Ordnung eingeführt 25 . Dabei geht das Grundgesetz grundsätzlich von der klassischen Teilung in drei Gewalten aus; die Begriffe sind weit genug, um alle Erscheinungsformen staatlicher Tätigkeit erfassen zu können. Es besteht deshalb keine Notwendigkeit, neben Legislative, Exekutive und Judikative weitere „Gewalten" zu konstituieren 26 . Auch die Staatsanwaltschaft ist einer dieser Gewalten zuzuordnen. Ungeklärt ist in der Staatsrechtslehre jedoch der Inhalt der drei Gewalten, weil das Grundgesetz diesen Inhalt nicht normiert, sondern als selbstverständlich voraussetzt 27 . Ubereinstimmung aber besteht, daß bei Bestimmung der den einzelnen Gewalten zukommenden Aufgaben das gesamte Grundgesetz zugrundezulegen ist28. Dar-

23 Vgl. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/1949; Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte der Sitzungen vom 1.9.1948 bis 3. 5. 1949. 24 Zum Begriff „Rechtsprechung" im Sinne des GG vgl. umfassend Achterberg, BK, Art. 92 Rdn. 60 ff. Allerdings ist festzustellen, daß die Vertreter der Meinung, staatsanwaltschaftliche Tätigkeit sei - zumindest teilweise - auch Rechtsprechung, sich durch die strafprozessuale Entwicklung bestätigt fühlen könnten. Da die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO endgültig ist (§ 153 a Abs. 1 Satz 4 StPO), kann man sie materiell als Rechtsprechung begreifen. Deshalb werden gegen diese Möglichkeit auch verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen, vgl. Wolfgang Mayer, in: v. Münch, GGK, Band 3, 2. Aufl. 1983, Art. 92 Rdn. 6. 25 Vorausgegangen waren Normierungen des Prinzips in den Landesverfassungen, z. B. in Art. 5 der Bayerischen Verfassung. 26 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 537; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1987, S. 1013. 27 Vgl. dazu Stern, aaO (Fn. 26), S. 521, insbesondere Fn. 43, und S. 537; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, S. 203. 28 Schmidt-Aßmann, aaO (Fn. 26), S. 1014; Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 34; Hesse, aaO (Fn. 27), S. 197.

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über hinaus muß auch auf die vorverfassungsrechtliche Tradition zurückgegriffen werden. Denn selbst wenn man die konkrete geschichtliche Situation bei Entstehung des Grundgesetzes für den Inhalt der Gewaltenteilung besonders betont29 und deshalb heute ein geändertes Verständnis zugrundelegt 30 , kann die Gewaltenteilungslehre doch nicht aus ihrer verfassungsgeschichtlichen Tradition gelöst werden 31 . Dies gilt in besonderem Maße für die Dritte Gewalt. Denn der IX. Abschnitt des Grundgesetzes enthält nur die Regelung einzelner, vom Parlamentarischen Rat als besonders bedeutsam erachteter Einzelprobleme, so daß der Rückgriff auf „vorverfassungsrechtliche Vorverständnisse" unvermeidbar ist32. 3. Im Parlamentarischen Rat wurde das Gewaltenteilungsprinzip in dem von Montesquieu entwickelten Sinn verstanden33. Montesquieu definierte die Dritte Gewalt als die Gewalt, deren Aufgabe es ist, „Verbrechen und private Streitfälle abzuurteilen" 34 . Bei dem damals geltenden Inquisitionsverfahren gehörte somit das gesamte heutige Strafverfahren, also Ermittlungs- und gerichtliches Verfahren, zur Dritten Gewalt. Mit der Einführung der Staatsanwaltschaft in mehreren deutschen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ein Teil der der Dritten Gewalt obliegenden Aufgaben aus dem Kompetenzbereich des Inquisitionsrichters herausgelöst35. Wenn auch die Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft in den einzelnen Ländern unterschiedlich war, so ist sie doch Teil der Justiz geblieben. Bestrebungen, sie dem Innenministerium - also der Exekutive - zu unterstellen, konnten abgewehrt werden. Denn der Staatsanwalt sollte nach dem berühmten Votum Savignys aus dem Jahre 1843 „Wächter des Gesetzes" werden, er sollte darauf hinwirken, daß überall dem Gesetz, und nur diesem, Genüge geschehe. Er sollte nicht Vollstrecker des politischen Machtwillens der Regierung - also der Exekutive - sein, sondern den Rechtswillen des Staates repräsentieren. Als Repräsentant, Hüter und Bewahrer des staatlichen Rechtswillens wurde das Justizministerium angesehen, dem die Staatsanwaltschaft daher unterstellt werden mußte.

So Hesse, aaO (Fn. 27), S. 197. Vgl. z. B. Maunz-Diing-Herzog, GG, Art. 20 Rdn. 38. 31 Vgl. Hesse, aaO (Fn. 27), S. 196. 32 Wolfgang Mayer, aaO (Fn. 24), Rdn. 2; Maunz-Dürig-Herzog, GG, Art. 92 Rdn. 2. 33 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, S. 21 und 36. 34 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, zitiert nach Gössel, aaO (Fn. 8), S. 329; zur geschichtlichen Entwicklung der Gewaltenteilungslehre vgl. Stern, aaO (Fn. 26), S. 514 ff. 35 Zur Entstehungsgeschichte der Staatsanwaltschaft und zum Folgenden vgl. Eberhard Schmidt, aaO (Fn. 4), S. 275 ff. 29

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An der Qualifizierung der Staatsanwaltschaft als echtem Rechtspflegeorgan haben auch die am 1. Oktober 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze nichts geändert. Zwar gab es auch im Zusammenhang mit dem Entstehen dieser Gesetze erneut Bestrebungen, die Staatsanwaltschaft dem Innenministerium zu unterstellen36. Die Schöpfer der Reichsjustizgesetze haben das Institut der Staatsanwaltschaft jedoch so gesehen, wie es zur Zeit der Strafprozeßreform um die Jahrhundertmitte geschaffen worden war, und haben keinen Anlaß gehabt, es sachlich zu ändern37. Im Bereich der Strafverfolgung wurde somit die Dritte Gewalt durch Richter und Staatsanwalt gemeinsam repräsentiert. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthielt zur Gewaltenteilung keine Aussage. Das Prinzip lag ihr nur abgeschwächt zugrunde. Art. 5 WV enthielt nur eine Aussage über die Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern. Eine „Dritte Staatsgewalt" zu statuieren war nicht beabsichtigt38. Die Aussagen zur Rechtspflege im VII. Abschnitt des ersten Hauptteils betrafen im Schwerpunkt die richterliche Unabhängigkeit (Art. 102 WV). So hatte auch Anschütz keine Veranlassung, sich in seinem Kommentar zur Weimarer Verfassung mit Fragen der Gewaltenteilung auseinanderzusetzen 39 . Die Auseinandersetzung mit Problemen der Gewaltenteilung erfolgte aber in der Staatsrechtslehre. Dabei wurden als Angehörige der Dritten Gewalt, der „Rechtspflege", nicht nur die Richter, sondern auch die Staatsanwälte verstanden40. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß die Staatsanwaltschaft „von Anfang an echter Bestandteil der Dritten Gewalt gewesen" ist41. Es ist nicht ersichtlich, daß das Grundgesetz daran etwas ändern wollte. Dem Verfassungsgesetzgeber war der Unterschied zwischen dem Begriff der rechtsprechenden Gewalt und dem weitergehenden Begriff der Dritten Gewalt sicher bekannt. Deshalb ist davon auszugehen, daß er die rechtsprechende Gewalt im IX. Abschnitt des Grundgesetzes bewußt herausgehoben und damit innerhalb der Dritten Gewalt eine wei-

36 Döbring, Die deutsche Staatsanwaltschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung, D R i Z 1958, 2 8 2 , 2 8 5 . 37 Eberhard Schmidt, aaO (Fn. 4), S. 278. Der Reichsverfassung von 1871 ist f ü r unser Thema nichts zu entnehmen, weil sie anders konstruiert war: das Problem der Gewaltenteilung wurde verdrängt durch das Thema der bundesstaatlichen Funktionenteilung. 38 Möllinger, Gerichtsbarkeit bei Steuerdelikten, A ö R , 80. Band (41. Band n. F.), S. 276/283 f. 39 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. A u f l . 1933. Das Sachverzeichnis des Kommentars enthält den Begriff „Gewaltenteilung" nicht. 40 Vgl. Kern, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Band, 1932, S. 490. 41 Eberhard Schmidt, aaO (Fn. 4), S. 281.

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tere Gewaltenunterteilung herbeigeführt hat. Ziel der besonderen Heraushebung der Richter im I X . Abschnitt des Grundgesetzes war, ihre Stellung zu stärken (vgl. oben Ziffer 1) und dadurch die Dritte Gewalt erstmals - verfassungsrechtlich zu installieren und zu verselbständigen 42 . Beabsichtigt war also eine neue Gewichtung der Dritten Gewalt, nicht eine Änderung ihres Inhalts. 4. Der aufgrund historischer Überlegungen gewonnene Befund, daß die Staatsanwaltschaft Bestandteil der Dritten Gewalt ist, fügt sich auch in die neueren Interpretationen des dem Grundgesetz zugrundeliegenden Gewaltenteilungsprinzip ein. O b man in der Gewaltenteilung ein organisatorisches Prinzip der Konstituierung der staatlichen Gewalt, der Zuordnung von Aufgaben an besondere Organe sieht 43 oder ob man das Gewaltenteilungsprinzip funktionsbezogen versteht, mit der Aufgabe, im Interesse zweckdienlicher und rationeller Sacherledigung die jeweiligen Funktionen solchen Trägern zuzuweisen, die spezifisch dafür eingerichtet sind und dabei die Funktionentrennung, die Funktionenzuordnung, Funktionenhemmung und Funktionenkontrolle betont 44 : in jedem Fall muß man feststellen, daß es sich bei der Strafverfolgung um eine einheitliche staatliche Aufgabe/Funktion handelt, deren Bewältigung verfassungsrechtlich nicht auseinandergerissen werden kann; sie ist dem Strafrichter und dem Staatsanwalt gemeinsam übertragen. Dabei obliegt dem Staatsanwalt nicht nur eine mehr oder weniger nebensächliche Unterstützung der rechtsprechenden Tätigkeit des G e richts. Vielmehr ist wegen des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft eine Rechtsprechung in Strafsachen durch den Richter überhaupt erst möglich, wenn die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren durchgeführt und sich dann zur Erhebung der öffentlichen Klage entschlossen hat. Zum Zusammenwirken von Gericht und Staatsanwaltschaft wurde in den Reichsjustizgesetzen ein ausgewogenes, kunstreiches System erdacht, das das beiderseitige Zusammenspiel regelt und das reibungslose Funktionieren der ineinander greifenden Tätigkeit von Gericht und Staatsanwaltschaft gewährleistet. Dieses hier als bekannt vorauszusetzende Gefüge unseres Strafverfahrens 45 hat sich bewährt, blieb in den letzten hundert Jahren im Grundsatz unverändert und wird auch von Vereinfachungsbestrebungen der jüngsten Zeit nicht in Frage gestellt. v. Mangoldt, aaO (Fn. 22). So Hesse, aaO (Fn. 27), S. 198 ff. 44 So Stern, aaO (Fn. 26), S. 530 ff. Auch das Bundesverfassungsgericht betont den Gesichtspunkt der gegenseitigen Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten, vgl. BVerfGE 34, 52/59. 45 Vgl. hierzu umfassend Görcke, aaO (Fn. 6), S. 566 ff. 42 43

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Die von der Staatsanwaltschaft in diesem ihr zugewiesenen Aufgabenbereich ausgeübte Tätigkeit unterscheidet sich qualitativ von der der Verwaltung. Zwar entscheidet auch die Staatsanwaltschaft - wie die vollziehende Gewalt - Rechtsfragen und ist dabei wie auch jede Verwaltungsbehörde an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 G G ) . Aber im Gegensatz zur Verwaltung dienen die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nicht in erster Linie der Erfüllung einer ihr gestellten Sachaufgabe, sondern der Wahrung des Rechts 46 ; denn die Staatsanwaltschaft wird nur tätig, wenn Recht verletzt wurde. Auch kommt der Gesetzesgebundenheit der Staatsanwaltschaft eine andere Qualität zu als der von Verwaltungsbehörden: durch die Bindung an das Legalitätsprinzip hat sie dem Gesetz gegenüber von vornherein einen besonders eng begrenzten Spielraum 47 . Damit hat der Staatsanwalt ein Amt inne, das mit der Tätigkeit des Richters weitaus größere Ähnlichkeit aufweist als mit dem Aufgabenbereich eines Verwaltungsbeamten. Es widerspräche deshalb der Struktur unseres Strafprozesses, Staatsanwalt und Richter als Repräsentanten heterogener Verfassungsräume anzusehen, die jeweils eine im Grundsatz divergierende, eigenständige Gewalt ausüben. Der Aufgabe der Staatsanwaltschaft „entspricht ihre organische Eingliederung in die Justiz, von der sie ein wesentlicher Bestandteil gerade auch im Rechtsstaat ist" 48 . Auch aufgrund ihrer Funktion und Aufgabenstellung verbietet sich somit eine Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Exekutive; als wesentliches Organ der Strafrechtspflege ist sie vielmehr Teil der Dritten Gewalt. Daß die Staatsanwaltschaft im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt ist - insbesondere auch nicht im I X . Abschnitt - , hindert nicht ihre Einordnung in die Dritte Gewalt. Die Regelung der Gewaltenteilung im Grundgesetz ist - wie bereits erwähnt - lückenhaft, ihr Inhalt wird vorausgesetzt. Normiert sind die Funktionen, nicht aber die Inhalte oder alle Organe 49 . Auch die Aufteilung einer Gewalt/Funktion auf zwei Organe widerspricht dem System nicht, das sich nie in der Existenz von lediglich drei Organen erschöpfte, sondern stets von einer Organvielfalt gekennzeichnet war 50 .

46 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt als Charakteristikum der Rechtsprechung Hesse, aaO (Fn. 27), S. 223. 47 BVerfGE 9, 223/228. 41 BVerfGE, aaO (Fn. 47). Folgerichtig wird deshalb in der Bayerischen Verfassung die Staatsanwaltschaft im Abschnitt über die Dritte Gewalt, der Rechtspflege, behandelt, Art. 89 BV. 49 Vgl. Fn. 32 sowie Hesse, aaO (Fn. 27), S. 203 und Stern, aaO (Fn. 26), S. 534 ff. 50 Stern, aaO (Fn. 26), S. 525.

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5. A l s K r i t e r i u m f ü r die Z u g e h ö r i g k e i t z u r E x e k u t i v e w i r d häufig die W e i s u n g s g e b u n d e n h e i t der Staatsanwaltschaft herausgestellt; w o b e i insb e s o n d e r e auf das sog. externe W e i s u n g s r e c h t des J u s t i z m i n i s t e r s v e r wiesen wird. A u s d e r E i n o r d n u n g der Staatsanwaltschaft in die D r i t t e G e w a l t f o l g t j e d o c h n i c h t n o t w e n d i g deren U n a b h ä n g i g k e i t . D a s G r u n d g e s e t z v e r leiht in A r t . 9 7 n u r den R i c h t e r n die p e r s ö n l i c h e U n a b h ä n g i g k e i t . Ü b e r diese a u s d r ü c k l i c h e R e g e l u n g hinaus gibt es k e i n e n allgemeinen verfass u n g s r e c h t l i c h e n G r u n d s a t z , d a ß alle A n g e h ö r i g e n d e r D r i t t e n G e w a l t in d e m M a ß e u n a b h ä n g i g sein m ü s s e n , w i e dies das G r u n d g e s e t z f ü r die R i c h t e r statuiert. G e r a d e a u c h die A u s g e s t a l t u n g des W e i s u n g s r e c h t s spricht gegen die E i n o r d n u n g d e r Staatsanwaltschaft in die E x e k u t i v e . D a s W e i s u n g s r e c h t g e g e n ü b e r d e r Staatsanwaltschaft ist v o n anderer r e c h t l i c h e r Q u a l i t ä t als das g e g e n ü b e r V e r w a l t u n g s b e h ö r d e n . I n der u m f a n g r e i c h e n L i t e r a t u r z u m W e i s u n g s r e c h t 5 1 sind E i n z e l h e i t e n z w a r u m stritten. N i e m a n d aber vertritt ein u n b e s c h r ä n k t e s W e i s u n g s r e c h t , w e n n a u c h die G r e n z e n n i c h t m a t h e m a t i s c h genau festlegbar sind. A l s T e i l der D r i t t e n G e w a l t ist die Staatsanwaltschaft in b e s o n d e r e m M a ß e

dem

R e c h t verpflichtet. D i e s m a n i f e s t i e r t sich i m L e g a l i t ä t s p r i n z i p u n d in den S t r a f v o r s c h r i f t e n der § § 2 5 8 a, 3 3 6 , 3 4 4 , 3 4 5 S t G B , die den R a h m e n , aber a u c h die G r e n z e f ü r staatsanwaltschaftliches T ä t i g w e r d e n bilden. E s ist unstreitig, d a ß diese S c h r a n k e n a u c h f ü r die A u s ü b u n g des e x t e r nen W e i s u n g s r e c h t s gelten, d e m d a d u r c h enge G r e n z e n gesetzt sind. A n d e r e als j u s t i z m ä ß i g e , der D u r c h s e t z u n g des Legalitätsprinzips d i e n ende W e i s u n g e n sind d a h e r unzulässig. E i n so verstandenes u n d b e grenztes W e i s u n g s r e c h t läßt sich d o g m a t i s c h ü b e r z e u g e n d e r aus der Z u o r d n u n g z u r D r i t t e n G e w a l t als z u r E x e k u t i v e herleiten. D e r d a m i t e r ö f f n e t e Z u g r i f f des J u s t i z m i n i s t e r s auf ein O r g a n d e r D r i t t e n G e w a l t ist ebenfalls s y s t e m k o n f o r m u n d verfassungsrechtlich u n b e d e n k l i c h . D a s P r i n z i p der G e w a l t e n t e i l u n g ist i m

Grundgesetz

n i c h t streng d u r c h g e f ü h r t . D a s G r u n d g e s e t z enthält zahlreiche G e w a l t e n v e r s c h r ä n k u n g e n u n d - b a l a n c i e r u n g e n u n d sieht eine

gegenseitige

K o n t r o l l e u n d M ä ß i g u n g d e r G e w a l t e n vor 5 2 . D i e A u f t e i l u n g der staatlichen A u f g a b e der S t r a f v e r f o l g u n g auf z w e i v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g e O r g a n e führt zu einer Gewaltenteilung

i n n e r h a l b der D r i t t e n

walt 5 3 . D u r c h das W e i s u n g s r e c h t des J u s t i z m i n i s t e r i u m s k o m m t Gedanke der Gewaltenbalancierung und Gewaltenkontrolle

Geder

innerhalb

der Strafrechtspflege in b e s o n d e r e m M a ß e z u m A u s d r u c k . 51 Vgl. z. B. Kissel, aaO (Fn. 13), Anmerkungen zu § 146; Eberhard Schmidt, MDR 1964, S. 714 ff; Odersky, Festschrift für Bengl (Fn. 2), S. 77 ff. 52 BVerfGE 3, 225/247; 7, 183/188. " Vgl. dazu Herrmann, Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages 1964, Band II, S. D 42; Stern, aaO (Fn. 26), S. 541.

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Nur am Rande sei vermerkt, daß dem Weisungsrecht in der Praxis offensichtlich bei weitem nicht das Gewicht zukommt, das man aufgrund seiner Behandlung in der Literatur vermuten möchte. Dies hat sogar zu der Behauptung von einer „gewohnheitsrechtlichen Derogierung des Weisungsrechts" geführt54. IV. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß Gesetze, die das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren regeln, zu Recht ohne Zustimmung des Bundesrates ergehen, weil die Staatsanwaltschaft keine Verwaltungsbehörde, sondern Teil der Dritten Gewalt ist. Die Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß dieses Verständnis von der Stellung der Staatsanwaltschaft noch nicht gefestigt und daß es schwierig ist, die verschiedenen im Aufgabenbereich der Staatsanwaltschaft wirkenden Kräfte in ein stimmiges dogmatisches System zu bringen. So ist es verständlich, daß der Ruf nach einem Gesetz über die Stellung der Staatsanwaltschaft in jüngster Zeit wieder laut geworden ist55. Grund dafür ist auch, daß die Staatsanwaltschaft in Politik und Medien gelegentlich als Machtinstrument im politischen Tageskampf mißverstanden wird. Dem ist nochmals die Aussage Eberhard Schmidts56 entgegenzusetzen, daß die Justiz und damit die Staatsanwaltschaft nicht den Machtwillen, sondern den Rechtswillen des Staates verkörpert.

54 Kintzi, Staatsanwaltschaft - objektive Behörde und Anwalt des Staates, DRiZ 1987, 458/461; vgl. auch Odersky, Festschrift für Bengl (Fn. 2), S. 77 f; Sarstedt, aaO (Fn. 7), S. 1755. " Scboreit, aaO (Fn. 12). 56 Vgl. Fn. 35.

Die Europäische Menschenrechtskonvention: ein Verfassungsgesetz für das ganze Europa R O L V RYSSDAL

Alsbald nach Übernahme der Präsidentschaft des Bundesgerichtshofes hat Walter Odersky den Kontakt zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgenommen. Die gute, vertrauensvolle Verbindung, die zwischen Karlsruhe und Straßburg daraus erwachsen ist, gehört heute für mich zu den gelungenen Unternehmungen der vergangenen Jahre auf dem Wege zu einer immer engeren Verknüpfung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarates mit der Grundrechtsordnung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. So ist es mir eine große Freude, dem scheidenden Präsidenten des Bundesgerichtshofes, meinem verehrten Kollegen Walter Odersky mit diesem kleinen Beitrag noch einmal Dank sagen zu können für den immer fruchtbaren Gedankenaustausch in den zahlreichen freundschaftlichen Begegnungen, die wir miteinander gehabt haben und die mit dem Ende seiner Amtszeit sicherlich nicht abbrechen werden.

Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde im November 1950 unterzeichnet. Der Entstehungsprozeß war überraschend kurz, dank der Grundlagen, die mit der zwei Jahre früher von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelegt worden waren, und dank eines starken politischen Willens, der getragen wurde von den noch frischen Erinnerungen an das Grauen des Zweiten Weltkrieges und den Holokaust. Die Konvention sollte verhindern, daß sich Ereignisse wie diese je wiederholen könnten; sie war gedacht als Schutz vor Diktatur und Barbarei. Nach eher schwierigen Anfängen ist die Konvention heute, fünfundvierzig Jahre später, zu einem regionalen System des Menschenrechtsschutzes von beispielloser Bedeutung und Wirksamkeit geworden. Seine Tragweite, sein Einfluß und die Zahl der Staaten, die sich ihm angeschlossen haben, gehen weit über die Erwartungen ihrer Gründer hinaus. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Konvention inzwischen zu einer der wichtigsten gemeinsamen rechtlichen und politischen Handlungsgrundlagen der Staaten des europäischen Kontinents geworden ist.

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Die Europäische Menschenrechtskonvention erschloß in dreierlei Hinsicht Neuland für das internationale Recht. Erstens begründete sie das Prinzip einer kollektiven Gewährleistung der Menschenrechte. Die Mitgliedstaaten des Europarates hatten erkannt, daß es das sicherste Mittel zur Verhütung massiven staatlichen Machtmißbrauches den Bürgern gegenüber sei, wenn die Staaten einer externen Prüfung ihrer Entscheidungen und Maßnahmen im Hinblick auf deren Vereinbarkeit mit den elementaren Menschenrechten zustimmen: die Verantwortung für den Schutz der Grundrechte des Einzelnen sollte nicht mehr ausschließlich bei den Staaten liegen, sondern die Völkergemeinschaft sollte in diesem Bereich Pflichten und Rechte übernehmen. Mittels einer Staatenbeschwerde (Artikel 24 der Konvention) kann ein Vertragsstaat gegen einen anderen Vertragsstaat ein Verfahren in Gang bringen mit der Behauptung, dieser Staat verletze die Rechte der Konvention, ohne daß es dabei auf die Staatsbürgerschaft des Opfers ankäme. Die zweite Neuerung dem internationalen Recht gegenüber war die Stärkung des Einzelnen, dem die Konvention eigene Rechte zuerkennt. Ihm wurde die Stellung eines Rechtssubjekts im Bereich des völkerrechtlichen europäischen Grundrechtsschutzes eingeräumt: nach der Konvention können Einzelpersonen Verfahren mit der Rüge einer Verletzung der Konventionsnormen durch einen Vertragsstaat anstrengen. Das Recht der Individualbeschwerde (Artikel 25 der Konvention), obwohl fakultativ, ist inzwischen von allen Vertragsstaaten akzeptiert worden. Es ist das Herzstück der Konvention und hat bei ihrer Entwicklung eine grundlegende Rolle gespielt. Den dritten und nun in der Tat revolutionären Schritt, den die Väter der Konvention gemacht haben, ist der Aufbau des Kontrollmechanismus, den sie errichtet haben, um die Einhaltung der durch die Vertragsstaaten eingegangenen Verpflichtungen zu gewährleisten. Seine Struktur ist ziemlich komplex, weil einige Staaten zögerten, ein rein richterliches Organ mit obligatorischer Gerichtsbarkeit vorzusehen. So umfaßt das System in seiner heutigen Form drei Institutionen. Die Europäische Menschenrechtskommission: sie entscheidet über die Zulässigkeit der Beschwerden, ermittelt bei zulässigen Fällen den Sachverhalt, hilft den Parteien, eine gütliche Regelung zu finden, und gibt eine nicht bindende Stellungnahme in der Sache ab, wenn es zu einem Vergleich nicht gekommen ist. Dann übermittelt sie den Fall dem Ministerkomitee des Europarates, der in der Sache entscheidet, falls nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen wird. Dies setzt voraus, daß der betroffene Staat die

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Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes anerkannt hat (Artikel 46 der Konvention). In der Praxis haben dies alle Vertragsstaaten getan, wenn auch oft - und dies gilt auch für das Recht der Individualbeschwerde - für einen jeweils begrenzten Zeitraum. Anrufen können den Gerichtshof die Kommission und die Vertragsstaaten, aber auch Einzelbeschwerdeführer können ihren von der Kommission zugelassenen Fall dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen, sofern der betroffene Staat das 9. Protokoll zur Konvention ratifiziert hat, das im Oktober 1994 in Kraft getreten ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde im Jahre 1959 geschaffen. Er ist eine unabhängige gerichtliche Institution mit jeweils einem Richtersitz für jeden Mitgliedstaat des Europarates; die Richter werden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auf neun Jahre gewählt, wobei Wiederwahl zulässig ist. Der Gerichtshof ist kein ständiges Organ, sondern tagt etwa eine Woche im Monat mit Ausnahme der Monate Juli und Dezember. Die meisten Richter arbeiten in ihrem Heimatland als Richter, Rechtswissenschaftler oder Anwälte. Die Urteile des Gerichtshofes sind endgültig und bindend. Es sind Feststellungsurteile. Wenn der Gerichtshof auf Verletzung der Konvention erkennt, hat er nicht die Möglichkeit, die Entscheidungen der nationalen Behörden aufzuheben oder Folgemaßnahmen anzuordnen. Er kann jedoch eine „gerechte Entschädigung" in Form von Schadensersatz zusprechen. Die Urteile werden dem Ministerkomitee zugeleitet, das ihre Durchführung überwacht.

II. Es währte einige Zeit, bis der Gerichtshof in der Lage war, die ihm durch die Konvention überantwortete Rolle voll zu übernehmen. In mehreren Staaten kam es zur Anerkennung des Rechtes auf Individualbeschwerde und zur Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes erst sehr spät. Kommission und Regierungen zögerten außerdem zunächst, ihn mit dem Antrag auf Entscheidung in der Sache anzurufen. Dies hat sich inzwischen völlig geändert. Ein kurzer Blick auf die Statistik zeigt, daß sich zwischen 1988 und 1994 die Zahl der von der Kommission registrierten Beschwerden von 1009 auf 2944 fast verdreifacht hat. Während in den ersten fünfzehn Jahren durchschnittlich nur ein Fall im Jahr dem Gerichtshof zugewiesen wurde, belief sich die Zahl der Fälle in den letzten Jahren auf durchschnittlich 60. Von 1959 bis 1985 fällte der Gerichtshof 100 Urteile; Ende 1995 werden es insgesamt etwa 550 sein.

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Viele dieser Urteile haben zu Änderungen in der Gesetzgebung und in der Verwaltung des betroffenen Staates geführt. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Sunday Times (Nr. I) 1 , in dem es um eine vom House of Lords bestätigte Beschränkung der Presseberichterstattung zum „Thalidomid-Verfahren" ging. Der Gerichtshof entschied auf Verletzung von Artikel 10 der Konvention, worauf - bereits im Jahre 1981 - das britische Parlament das Gesetz über die Mißachtung des Gerichts (Contempt of Court Act) verabschiedete. Nach dem Airey-Urteil2, in dem der Gerichtshof unter anderem eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 der Konvention) festgestellt hatte, da die Kosten der Rechtsverfolgung die Antragstellerin gehindert hatten, eine Trennung von Tisch und Bett beim Irischen High Court zu beantragen, führten die irischen Behörden eine Regelung zur Verfahrenskostenhilfe ein. In der Bundesrepublik Deutschland kam es im Anschluß an die Urteile Liidicke, Belkacem und Kog, Oztürk und Lutz zu einer Änderung der Kostenordnung für das Straf- und für das Ordnungswidrigkeitenverfahren: sie sieht entsprechend Artikel 6 § 3 e) der Konvention3 den kostenlosen Dolmetscher für den „Angeklagten" vor, der die Sprache des Gerichts nicht versteht. Obwohl das Urteil des Gerichtshofes nur für den betroffenen Staat bindend ist, orientieren sich regelmäßig auch andere Vertragsstaaten an seinen Entscheidungen, um ihre innerstaatliche Rechtsordnung der Konvention anzupassen4, wie sie der Gerichtshof ausgelegt und angewandt hat. Gegenstand der Fälle, mit denen der Gerichtshof bislang zu tun hatte, sind nicht schwerwiegende und weitreichende Menschenrechtsverletzungen, wie es sie immer noch häufig in anderen Teilen der Welt und selbst in Europa gibt. Allerdings sind viele der ihm vorgelegten Fälle von großer Bedeutung für die jeweils betroffenen Staaten. Überwiegend handelt es sich dabei um Fragen zum Recht auf ein faires Verfahren in Straf- und Zivilsachen und zum Recht auf persönliche Freiheit in Verbindung mit Straf- und Untersuchungshaft. Inzwischen aber geht es verstärkt auch um andere Bereiche, darunter etwa: die Ge-

Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 1), 26. 4. 1979, Serie A Nr. 30. Airey ./. Irland, 9. 10. 1979, Serie A Nr. 32. 3 Urteile vom 28. 11. 1978, Serie A Nr. 29; 21. 2. 1984, Serie A Nr. 73; 25. 8. 1987, Serie A Nr. 123. - Eine vollständige Übersicht staatlicher Folgenmaßnahmen im Ausschluß an die Urteile des Gerichtshofes findet sich in der von der Kanzlei herausgegebenen Broschüre „Aperjus/Survey, 1959-1994". 4 Ein Beispiel ist das Urteil Brogan ./. Vereinigtes Königreich (29. 1. 1988, Serie A Nr. 145-B), nach dem in den Niederlanden der Zeitraum zwischen der Verhaftung eines Verdächtigen und seinem Erscheinen vor einem Richter gesetzlich begrenzt wurde. 1

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fahr im Falle von Auslieferung oder Aus Weisung/Abschiebung, Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt zu werden; Einwanderungsgesetze im Vereinigten Königreich; das verfassungsrechtliche Verbot der Scheidung und der Status von unehelichen Kindern in Irland; Streitfragen in Zusammenhang mit der Übernahme von Kindern durch die öffentliche Fürsorge in Schweden und im Vereinigten Königreich; Meinungsäußerungsfreiheit in verschiedenen Vertragsstaaten; Sicherheitsüberprüfungen für Regierungsangestellte in Schweden; Verbot der Homosexualität in Irland, im Vereinigten Königreich und in Zypern; fehlender Zugang zu den Gerichten in den Niederlanden, Schweden und Belgien, um Entscheidungen von Verwaltungsbehörden und Berufsverbänden anzufechten; Enteignungsgenehmigungen und Bauverbote in Schweden, Frankreich und Italien; Beschränkungen bei der Weiterverbreitung von Satellitenfernsehprogrammen in der Schweiz; Rundfunkund Fernsehmonopol in Osterreich; Werbeverbot für Anwälte in Spanien; Umweltbelästigung und Gesundheitsbeeinträchtigung durch eine Müllaufbereitungsanlage in Spanien. Bei einer Durchsicht der Fälle und Urteile wird deutlich, daß parallel zu ihrem zahlenmäßigen Anstieg auch eine qualitative Entwicklung stattgefunden hat. Die Konvention in ihrer Auslegung und Anwendung durch Kommission und Gerichtshof nimmt immer größeren Einfluß auf die Rechtsordnung der Vertragsstaaten. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Signatarstaaten von den zwölf, die die Konvention im Jahre 1950 unterzeichneten, auf zur Zeit achtunddreißig an; einunddreißig haben sie inzwischen ratifiziert. Von Staaten, die dem Europarat beitreten, wird erwartet, daß sie die Konvention bei ihrem Beitritt unterzeichnen und sie dann innerhalb einer angemessenen Zeit ratifizieren. So kann man davon ausgehen, daß die Konventionsgemeinschaft bald vierzig Vertragsstaaten zählen wird. Die jüngsten Mitglieder sind die Ukraine und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Auch hier zeigt sich, wie weit der Einfluß der Konvention heute reicht und welche Rolle ihr für die Bewahrung des Friedens und die Stabilität in Europa nach dem Kalten Krieg inzwischen zugewachsen ist. Dabei sehen die jungen und teilweise noch nicht fest verankerten Demokratien die Konvention nicht nur als Orientierungshilfe für den Entwurf ihrer eigenen Verfassungen, sondern auch als einen Einstieg in die Gemeinschaft der demokratischen rechtsstaatlichen Staaten unseres Kontinents. Der Einfluß der Konvention geht allerdings weit über die Grenzen Europas hinaus. Sie diente nicht nur der Amerikanischen Konvention der Menschenrechte von 1969, die neun Jahre später in Kraft trat, als Modell, sondern war auch den Verfassern der Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker eine hilfreiche Textvorlage. Die Konvention reicht und wirkt durchaus weltweit, wie immer häufiger

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zahlreiche Entscheidungen von Gerichten in Ländern wie Kanada, Australien und Indien zeigen, in denen auf die Konvention und Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Bezug genommen wird. Rechtswirkung entfaltet die Konvention unter bestimmten Voraussetzungen selbst im Verkehr zwischen einem Vertragsstaat und einem Drittstaat. Dies zeigt besonders deutlich das Soering-Urteil5 von 1989, mit dem der Gerichtshof einstimmig entschied, daß die Auslieferung eines jungen deutschen Staatsangehörigen an die Vereinigten Staaten von Amerika bei drohender Mordanklage mit der wahrscheinlichen Folge der Verurteilung zum Tod unmenschliche oder erniedrigende Behandlung entgegen Artikel 3 der Konvention bedeutete, und zwar im Hinblick auf das sogenannte „Todeszellen"-Syndrom, dem der Betroffene ausgesetzt sein würde. Ein Vertragsstaat, dessen Behörden Auslieferung verfügen, können also unter bestimmten Umständen nach der Konvention verantwortlich für vorhersehbare Mißhandlungen sein, die der ausgelieferten Person im Empfängerland möglicherweise zugefügt werden. Ziel und Zweck von Artikel 3 der Konvention ist es, offene oder verdeckte Mißhandlung durch die Behörden eines Vertragsstaates ausnahmslos zu verbieten. Dieses Verbot ist in einer demokratischen Gesellschaft so grundlegend, daß sich ihm Vertragsstaaten auch in ihrem Verhältnis zu Drittstaaten nicht entziehen können. Die Stellung des Gerichtshofes als „Embryon eines europäischen Verfassungsgerichts", wie es der vormalige italienische Staatspräsident Cossiga in Straßburg ausgedrückt hat, ist heute allgemein anerkannt. Die Bürger, die sich in unserer Zeit ihrer individuellen Rechte stärker als je zuvor bewußt sind, wenden sich immer häufiger an die Straßburger Institutionen. Dabei geht es regelmäßig um ganz gewöhnliche Situationen der Auseinandersetzung um eine Rechtsgarantie, jedenfalls nicht um die Bekämpfung von Diktatur und Barbarei, wie sie die Gründer des Konventionssystems im Auge hatten. Es geht um den Freiraum des Einzelnen in unserer Gesellschaft und damit immer wieder um die Frage, in welchem Maße der Einzelne Einschränkungen seiner Grundrechte im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft hinnehmen muß. Diese Rolle, die Kommission und Gerichtshof zugewachsen ist, bedeutet neue, besondere Verantwortung, dessen man sich in den Institutionen der Konvention deutlich bewußt ist. Es handelt sich hierbei durchaus nicht um eine überraschende Entwicklung. Im Gegenteil, es liegt in der Logik des Rechts der Individualbeschwerde, daß sich das Konventionssystem zu einem quasi-verfassungsmäßigen Schutzsystem

5

Soering ./. Vereinigtes Königreich, 7. 7. 1989, Serie A Nr. 161.

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entwickelt hat. Es war in der Tat abzusehen, daß die Rechtsschutzeinrichtungen der Konvention, wenn sie Einzelpersonen zugänglich sein würden, mit all den Streitfragen im Bereich der Grundrechte befaßt würden, wie sie tagaus tagein vor den Gerichten und insbesondere den Verfassungsgerichten der Vertragsstaaten ausgetragen werden. III. Wenn die Konvention die Bedeutung, die sie im Laufe der Jahre gewonnen hat, nicht verlieren soll, wird es ganz entscheidend darauf ankommen, daß einige in der Straßburger Rechtsprechung herausgearbeitete Grundsätze bewahrt und weiterentwickelt werden. Dazu zählt zunächst der Grundsatz der „autonomen" Natur der in der Konvention anzutreffenden Konzepte. Viele der in den Bestimmungen der Konvention verwendeten Begriffe, wie etwa die der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" oder der „strafrechtlichen Anklage" in Artikel 6 entstammen dem Recht der Vertragsstaaten. Würden diese Begriffe nur auf der Grundlage ihrer jeweiligen Bedeutung im inländischen Recht ausgelegt, wäre ihre Wirkung von Land zu Land verschieden. Trotz der Berücksichtigung des Rechts im Einzelfall des betroffenen Staates und der Rechtssysteme anderer Vertragsstaaten bei der Entscheidung, welche Bedeutung einem bestimmten Begriff zukommt, ist dieser Begriff letztlich „autonom", das heißt im Sinne der Konvention zu verstehen und zu bestimmen. Der Gerichtshof sieht dabei „hinter die Fassaden" 6 und sucht nicht zuletzt auf dem Weg der Rechtsvergleichung Inhalt und Gehalt des von der Konvention aufgenommenen Konzepts festzuhalten. Von besonderer Bedeutung ist des weiteren der Grundsatz der „evolutiven" Auslegung, zu dem sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bekennt: die Konvention, so der Gerichtshof, ist ein „lebendiges" Instrument, das im Lichte der „heutigen sozialen Verhältnisse auszulegen ist".7 So sah er in der gerichtlich angeordneten Prügelstrafe auf der Isle of Man einen Verstoß gegen das Verbot der erniedrigenden Strafe in Artikel 3 der Konvention, und dies unter Hinweis auf die Entwicklung des Strafrechts in den Mitgliedstaaten des Europarates. In einem anderen Fall befand er, daß die unterschiedliche Behandlung von „unehelichen" und „ehelichen" Kindern, die bei der Verabschiedung der Konvention als „zulässig und normal betrachtet wurde, nicht länger hinnehmbar sei".8 Derselbe Ansatz wird besonders in der Aussage des Ge6 7 8

Deweer./. Belgien, 27. 2. 1980, Serie A Nr. 35, S. 23, § 44. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, 25. 4. 1978, Serie A Nr. 26, S. 15, § 31. Marckx./. Belgien, 13. 6. 1979, Serie A Nr. 31, S. 19-20, § 41.

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richtshofes im Fall Dudgeon deutlich: „Verglichen mit der Zeit, als die Gesetzgebung in Kraft trat, herrscht heute ein besseres Verständnis und als Folge dessen eine größere Toleranz gegenüber homosexuellen Verhaltensweisen, insofern als es nicht länger für notwendig oder angemessen erachtet wird, homosexuelle Praktiken (zwischen einwilligenden Erwachsenen im privaten Rahmen) als einen Tatbestand zu behandeln, auf den strafrechtliche Sanktionen anzuwenden sind. Der Gerichtshof kann hier die einschneidenden Änderungen im inländischen Recht der Mitgliedstaaten nicht außer acht lassen".9 Während diese Technik der Vertragsauslegung die Straßburger Institutionen befähigt, die Wirksamkeit der Normen der Konvention auch den neuen Verhältnissen und Gegebenheiten der modernen Gesellschaft gegenüber zu erhalten, und eine wichtige Rolle bei der Sicherung ihrer Bedeutung spielt, kann sie natürlich nicht den Katalog der geschützten Rechte erweitern. Dies kann nur im Vertragswege geschehen, das heißt durch die Ausarbeitung von Zusatzprotokollen. So haben die Protokolle Nr. 1, 4, 6 und 7 der Liste der Rechte und Freiheiten in der Konvention neue Rechte hinzugefügt. Das 1. Protokoll schützt das Recht auf Eigentum, das Recht auf Bildung sowie das aktive und passive Wahlrecht. Protokoll N r . 4 garantiert unter anderem das Recht auf Freizügigkeit, Protokoll Nr. 6 schafft die Todesstrafe in Friedenszeiten ab, und Protokoll Nr. 7 begründet unter anderem ein Recht auf Berufung im Strafverfahren. Der das gesamte Konventionssystem tragende Grundsatz ist schließlich der Grundsatz der Subsidiarität, dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit jeher Rechnung getragen hat10. Er findet seinen klaren Ausdruck in der prozessualen Regel des Artikel 26 der Konvention, der die vorherige Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtszuges von jedem Beschwerdeführer verlangt, der sich in Straßburg melden will. Darin aber erschöpft sich seine Bedeutung nicht, wie schon das Urteil des Gerichtshofes im „Belgischen Sprachenfall" deutlich macht." Er könne nicht, so der Gerichtshof, „die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten außer acht lassen, die das Leben der Gesellschaft in einem Staate kennzeichnen, der sich als Vertragspartei für die in Streit befangenen Maßnahmen zu verantworten hat." Der Gerichtshof könne sich auch nicht, so hieß es weiter „an die Stelle der zuständigen nationalen Behörden setzen, da er anderenfalls den subsidiären Charakter der mit der Konvention errichteten internationalen Einrichtung einer Kol' Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, 22. 10. 1981, Serie A Nr. 45, S. 23-24, § 60. Siehe dazu ausführlich Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: The European System for the Protection of Human Rights, herausgegeben von R. St. J. Macdonald, F. Matscher und H. Petzold, Dordrecht 1993, S. 41-62. " Belgischer Sprachenfall, 23. Juli 1968, Serie A Nr. 6, S. 34-35, § 10. 10

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lektivgarantie übersähe. Die innerstaatlichen Behörden bleiben frei in der Wahl der Maßnahmen, die sie in den von der Konvention beherrschten Bereichen zu ergreifen für geeignet halten. Die Kontrolle des Gerichtshofes erstreckt sich nur auf die Übereinstimmung dieser Maßnahmen mit den Anforderungen der Konvention." Subsidiarität im Rahmen der Konvention bedeutet Anerkennung der jeweils eigenen Zuständigkeiten zwischen, auf der einen Seite, den Kontrollorganen der Konvention und, auf der anderen Seite, den nationalen Behörden. Der Gerichtshof ist ganz deutlich kein Berufungsgericht, kein Gericht „dritter oder vierter Instanz". Es ist nicht seine Aufgabe, angeblich falsche oder unrichtige Entscheidungen nationaler Behörden und Gerichte zu korrigieren oder die Beurteilung der Tatsachen durch die innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen.12 Der Schutz der Menschenrechte liegt wesentlich in den Händen der nationalen Behörden und insbesondere der Gerichte in den Vertragsstaaten; sie haben ihn sicherzustellen und durchzusetzen. Das Konventionssystem hat sich allerdings, wenn es vielleicht auch nicht so vorgesehen war, zu einer Ergänzung, ja zu einer Erweiterung des staatlichen Schutzes der Menschenrechte entwickelt. Subsidiarität spiegelt sich in drei grundlegenden Merkmalen des Konventionssystems wider. Erstens ist der Katalog der von der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten nicht erschöpfend und den Konventionsstaaten steht es frei, einen besseren Schutz durch Gesetz oder Vereinbarung vorzusehen (Artikel 60 der Konvention). Zweitens strebt die Konvention keine Vereinheitlichung im Sinne von Uniformität an: sie legt Verhaltensnormen fest und überläßt die Wahl der Mittel zur Umsetzung den Vertragsstaaten. Schließlich haben Gerichtshof und Kommission immer wieder darauf hingewiesen, daß die staatlichen Behörden und vor allem die Gerichte im allgemeinen in einer besseren Lage sind als die Kontrollorgane der Konvention, wenn es darum geht, zwischen den Interessen der Gemeinschaft und dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen abzuwägen. Dieser zuletzt genannte Grundsatz ist der der sogenannten „marge d'appréciation"/„margin of appréciationder sich in Deutschen nur unvollkommen etwa mit „Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum" übersetzen läßt. Ihn hat der Gerichtshof in seinem Urteil James u. a. besonders deutlich gemacht, in dem er feststellt: „Aufgrund ihrer unmittelbaren Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse sind die nationalen Behörden grundsätzlich besser als der internationale Richter in der Lage einzuschätzen, was im öffentlichen Interesse liegt. In dem von der Konvention eingerichteten Schutzsystem liegt es daher zunächst bei den 12

Urteil Edward ./. Vereinigtes Königreich, 16. 12. 1992, Serie A Nr. 247-B, S. 36, § 34.

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nationalen Behörden zu beurteilen, ob ein allgemeines öffentliches Interesse Maßnahmen der Eigentumsentziehung verlangt und welche Maßnahmen hierbei zu ergreifen sind. Hier, wie auch in anderen Bereichen, auf die sich der Schutz der Konvention erstreckt, verfügen die nationalen Behörden daher über einen bestimmten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum." Dieser kann je nach Fall und Lage sehr unterschiedlich sein. Im Zusammenhang mit dem Eigentumsrecht ist er besonders groß. Der Gerichtshof führte im Fall James weiter aus: „bei (...) Gesetzen, mit denen Eigentum entzogen wird, werden im allgemeinen politische, wirtschaftliche und soziale Fragen berücksichtigt, zu denen die Meinungen in einer demokratischen Gesellschaft weit auseinander gehen können. Da es dem Gerichtshof nur natürlich erscheint, daß der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung von Sozial- und Wirtschaftspolitik einen großen Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum haben muß, respektiert er dessen Urteil darüber, was im ,öffentlichen Interesse' liegt, es sei denn, es fehlt diesem Urteil ganz offenkundig eine vernünftige Grundlage."13 In anderen Fällen, in denen es nicht um ein solches öffentliches Interesse geht, ist der Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum, den der Gerichtshof den Behörden der Vertragsstaaten einräumt, weniger weit. Die „margin of appreciation" ist auf jeden Fall nicht unbeschränkt. Wie der Gerichtshof bezüglich der Meinungsfreiheit (Artikel 10 der Konvention) festgehalten hat, geht sie „Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle".14 Dieses Bild des Hand-in-Hand-Gehens ist hier sehr zutreffend. Der Beurteilungs und Entscheidungsspielraum, der dem Subsidiaritätsprinzip entstammt, ist eine Schlüsselkomponente in der unvermeidlich komplexen Beziehung zwischen nationalen Behörden und den Kontrollorganen der Konvention, an der Schnittstelle zwischen nationaler Souveränität und der traditionell und von Natur aus begrenzten internationalen Gerichtsbarkeit. Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Subsidiarität. Damit das Rechtsschutzsystem der Konvention wirksam arbeiten kann, ist es sicherlich besser, wenn die nationalen Gerichte in der Lage sind, die Streitfragen direkt mit Bezug auf die Konvention zu entscheiden. Es ist allgemein bekannt, daß die Konvention von den Vertragsstaaten eine Übernahme der Rechtsnormen in die staatlichen Rechtsordnungen nicht verlangt. Jedoch wird, wie der Gerichtshof im Fall Irland ./. Vereinigtes Königreich festgestellt hat, die Absicht der Verfasser, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten für jedermann innerhalb der Jurisdiktion der Vertragsstaaten sicherzustellen, besonders getreu da umgesetzt, wo die Konvention in das innerstaatliche Recht aufgenommen wurde. 13 14

James u. a../. Vereinigtes Königreich, 21. 2. 1986, Serie A Nr. 98, S. 32, § 46. Handyside ./. Vereinigtes Königreich, 7. 12. 1976, Serie A Nr. 24, S. 23, § 19.

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IV. Ist die Konvention zu schnell und zu stark gewachsen? In einer Hinsicht ist sie das sicherlich. Opfer ihres eigenen Erfolgs hat das schwerfällige im Jahre 1950 ausgearbeitete Rechtsschutzsystem nun große Schwierigkeiten, mit der immer größeren Fülle von Fällen fertig zu werden. In der Tat besteht die Gefahr, daß die Nichtachtung einer der grundlegenden Garantien aus Artikel 6 der Konvention, nämlich des Rechts auf Entscheidung einer Sache innerhalb einer angemessenen Frist, zum Regelfall für die Kontrollorgane der Konvention wird. Die steigende Zahl der Beschwerden und die Erweiterung des Kreises der Vertragsstaaten, verbunden mit einer besseren Kenntnis des Systems in vielen Ländern, haben dazu geführt, daß nun durchschnittlich fünf Jahre zwischen der Einreichung der Beschwerde bei der Kommission bis zur endgültigen Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder das Ministerkomitee des Europarates vergehen. Berücksichtigt man, daß die Beschwerdeführer für die Erschöpfung ihrer innerstaatlichen Rechtswege oft jahrelang währende Verfahren durchlaufen müssen, bevor sie sich nach Straßburg wenden können, zeigt sich, daß die Wirksamkeit und damit die Glaubwürdigkeit des gesamten Rechtsschutzsystems auf dem Spiel steht. Gleichzeitig drängen neue Mitgliedstaaten aus Ost- und Mitteleuropa in den Europarat und in die Konventionsgemeinschaft. Ungarn, Polen, Bulgarien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Litauen, Estland, Lettland, Slowenien, Rumänien, Albanien, Moldavien und jetzt auch die Ukraine sowie die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien sind inzwischen aufgenommen; Rußland steht kurz vor dem Beitritt. Es ist kein Geheimnis, daß trotz aller Bemühungen dieser Staaten ihre Rechtssysteme noch nicht immer und vollständig den von der Konvention geforderten Anforderungen entsprechen. Als die Konvention vereinbart wurde, ging man davon aus, daß die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den Verfassungen der Gründerstaaten übernommenen Grundrechte bereits in diesen Staaten voll umfänglich garantiert seien. Die Konvention gründete sich also auf bereits bestehende verfassungsmäßige Rechte. Für viele der neuen Mitgliedstaaten ist die Ausgangslage nun umgekehrt: ihre Verfassungen sind oft stark von der Konvention beeinflußt worden. So werden die Konventionsorgane nun vor einer ganz neuen Situation stehen. Wichtig ist es dabei, diese neue Sachlage nicht zum Vorwand zu nehmen, um die bestehenden Mindestnormen der Konvention herunterzufahren. Diese Warnung richtet sich nicht nur an die neuen Mitgliedstaaten, die die wesentliche Rolle der Konvention für ihre Verankerung in der Gruppe der demokratischen Staaten Europas erkennen. Die Konventionsgemeinschaft selbst muß ge-

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stärkt werden. Eine Möglichkeit dazu wäre der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Konvention. Dadurch würde nicht nur in der Gemeinschaft eine deutlich sichtbare Lücke beim Schutz der Grundrechte geschlossen, sondern dieser Beitritt wäre auch eine klare Botschaft an die Länder außerhalb der Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Verpflichtung zu Demokratie, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Achtung und Fortentwicklung der Menschenrechte. Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich in der Konventionsgemeinschaft langsam die Erkenntnis durchgesetzt, daß das Kontrollsystem der Konvention neugestaltet werden muß, wenn erhalten bleiben soll, was mit der Konvention in ihren ersten vierzig Jahren erreicht worden ist. Entscheidend war dabei, daß sich die politische Einstellung zu einem europäischen Rechtsschutzsystem im Bereich der Grundrechte seit 1950 wesentlich geändert hatte. Die Unschlüssigkeit, die zu den ursprünglichen Kompromissen gezwungen hatte, schien es nun nicht mehr zu geben. Vielmehr bestand allgemeine Ubereinstimmung, daß das Kontrollsystem zum Schutz der Menschenrechte nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nunmehr als ein rein richterliches ausgestaltet werden sollte. Die Aufgabe bestand also darin, (a) zur Verkürzung der Verfahrenslänge die Struktur zu vereinfachen und (b) den gerichtlichen Charakter des Systems zu stärken. Die Verhandlungen waren langwierig und kompliziert. Sie kamen zum Abschluß mit dem Protokoll Nr. 11, das am 20. April 1994 vom Ministerkomitee des Europarates angenommen und am 11. Mai 1994 den Mitgliedstaaten zur Unterschrift vorgelegt wurde. Das Protokoll sieht die Errichtung eines ständigen Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vor, der an die Stelle der zur Zeit tätigen Kontrollorgane treten wird. Mit Errichtung des neuen Gerichtshofes wird die zeitraubende institutionell getrennte Überprüfung von Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerden durch Kommission und Gerichtshof aufgehoben. Zusätzlich scheidet das Ministerkomitee als Kontrollorgan aus. Das Recht auf Individualbeschwerde (Artikel 34 der Konvention in seiner Neufassung) ist ebenso wie die Zuständigkeit des Gerichtshofes bei Staatenbeschwerden (Artikel 33 der Konvention in seiner Neufassung) bindend vorgeschrieben. U m den Befürwortern eines Zweiinstanzenzuges, die sich mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen konnten, entgegenzukommen, wurde den Parteien für Ausnahmefälle die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb von drei Monaten nach dem Urteil der Kammer einen Antrag auf Abgabe des Falles an die Große Kammer zu stellen. Während dieser Dreimonatsfrist ist das Urteil nicht endgültig. Ein Ausschuß von fünf Richtern nimmt das Gesuch an, wenn der Fall eine schwerwiegende Frage bezüglich der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder eine

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schwerwiegende Streitfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft (Artikel 43 der Konvention in seiner Neufassung). Der Gefahr, hierdurch die Verfahren unnötig zu komplizieren und zu verlängern, wird dadurch begegnet werden können, daß die Kammer vor Entscheidung in der Sache den Fall an die Große Kammer abgibt (Artikel 30 der Konvention in seiner Neufassung). Richtig ist, daß die Parteien einer solchen Abgabe widersprechen können, aber es erscheint unwahrscheinlich, daß dies oft geschehen wird. Hier wird es ganz entscheidend auf die Einstellung des Gerichtshofes zu diesen Ausnahmeregeln ankommen. Errichtung des zukünftigen Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bedeutet nicht lediglich Zusammenlegung der zwei bestehenden Kontrollorgane. Er ist eine eigenständige, völlig neue Institution, die ihren eigenen Weg finden muß, was ihre Organisation und besonders ihr Verfahren angeht, und dies unter Bewahrung und Weiterentwicklung der Spruchpraxis, die Kommission und Gerichtshof in vierzig Jahren erarbeitet haben. Die Reform des Rechtsschutzsystems der Konvention besteht nicht nur in einer Straffung der bestehenden Strukturen. Sie spiegelt die Erkenntnis wider, daß im Interesse des Einzelnen und der Gemeinschaft die Grundrechte auf internationaler Ebene von einem ständigen gerichtlichen Organ mit obligatorischer Gerichtsbarkeit geschützt werden müssen, einem Organ, zu dem jedermann Zugang haben muß. Die Konventionsgemeinschaft der Mitgliedstaaten des Europarates hat sich mit dieser Reform voll und ganz zu einem internationalen gerichtlichen System des Schutzes der Menschenrechte bekannt. Heute, da wir uns dem Ende eines Jahrhunderts und dem Beginn eines nächsten nähern, ist die Konventionsgemeinschaft der Europaratsstaaten mutig in eine neue Ära eingetreten. Sie hat neue Mitglieder aufgenommen, Schritte zur Reformierung des Systems unternommen und so einen modernen, und wirksamen gerichtlichen Kontrollmechanismus geschaffen. Mit Ausarbeitung von Zusatzprotokollen hat sie gezeigt, daß die Konvention sich an die Bedürfnisse und Herausforderungen einer sich verändernden Welt anpassen kann und dies besonders beim Schutz nationaler Minderheiten auch tun muß. Mit Inkrafttreten des Protokolls N r . 11 wird das Konventionssystem in der Lage sein, die Staaten Europas, ihre Behörden und insbesondere ihre Gerichte wirksam dabei zu unterstützen, den Schutz der Menschenrechte zu sichern und so zusammen mit ihnen eine wichtige Rolle bei der Bewahrung des Friedens und der Stabilität auf unserem Kontinent zu spielen.

Das Bundesverfassungsgericht und sein Umgang mit dem „einfachen Recht" *) H E R B E R T TRÖNDLE

I. Ursachen von Fehlentwicklungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Der frühere Verfassungsrichter Konrad Hesse wies jüngst in seiner umfassenden Betrachtung „Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel"1 darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht im Interesse effektiven Grundrechtsschutzes dazu neige, bei der Uberprüfung von gerichtlichen Entscheidungen „des Guten zuviel" zu tun. Dies könnte zu „Fehlentwicklungen" führen, weil der „Gewinn an verfassungsrechtlichem Rechtsschutz" zu „einem größeren Maß an Freiheitlichkeit führen", aber „unter mehreren Gesichtspunkten auch einen hohen Preis haben" kann: - Es drohe „die ,Eigenständigkeit' des einfachen Rechts, besonders des Privatrechts, aber auch des Strafrechts verloren zu gehen, wenn der konkrete, oft in langer Entwicklung gewachsene Rechtsgehalt von Gesetzen im Rückgriff auf nur unbestimmte und fragmentarische verfassungsrechtliche Regelungen überspielt wird, zum Nachteil sachgemäßer Pflege und Weiterentwicklung jedes Rechts, für die es auf die besonderen sachlichen Gegebenheiten ankommt, die sich mit grundrechtlichen Maßgaben nicht ohne weiteres erfassen lassen und welche der Richter, der speziell für diese Gebiete zuständig ist, nicht selten besser beurteilen kann als ein Verfassungsgericht." - Zum anderen drohe „Schaden für die Verfassung": sie werde „überanstrengt, wenn den oft nur weiten und unbestimmten Normtexten des Grundgesetzes detailliertere Beurteilungsmaßstäbe in all und in jeder Frage entnommen werden"; - es entstehe „die Gefahr einer Entwertung der Grundrechte, die Gefahr, daß sie in kleiner Münze umgewechselt und Einzelfälle ... nicht mehr anhand des vom grundrechtsgebundenen Gesetzgeber geschaffenen Rechts, sondern im unmittelbaren Durchgriff auf Grundrechte entschieden werden"; - unverkennbar wachse die Belastung des Verfassungsgerichts, da „die Möglichkeit, es mit Alltagsangelegenheiten zu befassen", naturgemäß dazu verlocke, „das auch zu tun".

Konziser als Hesse dies tat, kann die drohende Fehlentwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht charakterisiert werden. Der hohe Preis einer überbordenden Grundrechtsinterpretation, die „das einfache Recht dem Regime des Verfassungsrechts" (Hesse) unterwirft und hierbei nicht einmal tatrichterliche Kompetenzen respektiert, schlug sich vor allem in jüngerer Zeit in schwer verständlichen und das Ansehen des Gerichts belastenden Entscheidungen nieder.

1

Das Manuskript wurde am 30. 11. 1995 abgeschlossen. J Z 1995, 265 ff.

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Das Bundesverfassungsgericht möchte - so Hesse - dieser Fehlentwicklung - „nicht durch eine restriktive Interpretation der materiellen Grundrechte begegnen, sondern durch strengere Zulässigkeitsanforderungen". Wirksamer aber sei „die differenzierte Beschränkung des Umfangs verfassungsgerichtlicher Uberprüfung, für die es namentlich auf die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ankommt"2. Indessen werden strengere Zulassungs- oder neue Abwägungskriterien schwerlich geeignet sein, den beschriebenen Fehlentwicklungen zu steuern. Ebensowenig wird man auf eine restriktive Interpretation der Grundrechte zurückgreifen dürfen. Beides ist mit dem Sinn unserer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vereinbar. Not tut zuvörderst ein diszipliniertes Erarbeiten sachgerechter dem Verfassungstext entsprechender Grenzen, die zur Verhütung nur schwer rücknehmbarer Ausuferungen ernst genommen werden müssen. II. Beispielsfälle

Die Notwendigkeit, für die individuellen Freiheitsrechte und ihre Reichweite handhabbare Konturen aufzuzeigen, zeigt sich namentlich bei den Grundrechten der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 GG) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), insbesondere soweit diese Rechte die verfassungsrechtlich und strafrechtlich abgesicherten Schutzrechte von Mitbürgern tangieren. Für den vom Bundesverfassungsgericht abgesteckten Schutzbereich des Art. 5 GG ist zu fragen: Erlaubt es das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wirklich - um nur wenige Beispiele zu nennen - den langjährigen Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes als einen „Zwangsdemokraten" („der bundesdeutsche Verschnitt des nationalsozialistischen Führerkults")3 zu bezeichnen, - einen querschnittsgelähmten Reserveoffizier, den um seiner Rehabilitation willen erlaubt wurde, an einer Wehrübung als Ubersetzer teilzunehmen, in einer Satirezeitschrift unter voller Namensnennung als „geb. Mörder"4 zu apostrophieren, - Beamte die eine gesetzlich gebotene Vollstreckungsmaßnahme vorschriftsmäßig durchführten, um der „Gefahr einer Lähmung oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses" zu wehren, der „ Gestapo-Methoden " 5 zu zeihen? 2 So Hesse aaO unter Berufung auf die Springer-Wallraff-Entscheidung BVerfGE 66, 112, 131. 5 BVerfGE 82, 272, 282 f. 4 BVerfGE 8 6 , 1 , 9 f. s NJW 1992,2815.

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

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III. Lüth-Urteil als leading case? Das Bundesverfassungsgericht beruft sich zur Begründung dieser weithin abgelehnten Entscheidungen regelmäßig auf die im Lüth-Urteil 6 entwickelte sog. Wechselwirkungstheorie, wonach die dem Grundrecht des Art. 5 G G Schranken setzenden „allgemeinen Gesetze" ihrerseits (im Sinne des Art. 5 II G G war es hier § 826 BGB) „aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts ... ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen" 7 . Daraus folgerte das Gericht, daß die konfligierenden, durch § 826 BGB geschützten privaten Interessen gegenüber Art. 5 G G deswegen zurückzutreten haben, weil es um das Ansehen des deutschen Films und Kulturlebens ging8, es sich also „um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten" handelte 9 . Zwischen dem Fall Lüth und den drei beispielhaft angeführten Fällen, die von dieser verfassungsgerichtlichen Theorie profitierten, liegen freilich Welten. Dies wäre evident geworden, wenn in den nachfolgenden Erkenntnissen zu Art. 5 G G außer dem stereotypen Zitat „BVerfGE 7, 198; stRspr. - Lüth" auch die Nobelbegriffe dieser Entscheidung („vornehmstes Menschenrecht überhaupt", für eine „freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierend", „ständige geistige Auseinandersetzung" usw.) stets miterwähnt worden wären. Das hätte den neuralgischen Punkt der erwähnten Beispielsfälle offengelegt, aber auch ad oculos omnium demonstriert, daß Diffamierungen, wie z. B. „Zwangsdemokrat", „geb. Mörder", „Gestapo-Methoden" usw. schwerlich als die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung konstituierend und als Emanationen der erwähnten Edelworte aus dem Lüth-Urteil ausgegeben werden können, es sei denn, man begriffe die Wechselwirkung als „Wirkungswechsel". Freilich ist es grundsätzlich 10 für den Schutz nach Art. 5 G G unerheblich, ob eine Meinung „wertvoll" oder „wertlos", ob sie „richtig" oder „falsch" oder ob sie emotional oder rational begründet ist. Nur: wenn in den Fällen der Wechselwirkungstheorie eine Güterabwägung vorzunehmen ist11, muß gegenüber den konfligierenden Vorschriften im Sinne des Art. 5 II G G natürlich auch Bedeutung und Form der Meinungsäußerung gewichtet werden.

' BVerfGE 7, 198, 208. 7 BVerfGE 7, 198, 209. • BVerfGE 7,198,216. ' BVerfGE 7,198, 212. 10 BVerfGE 33,1,14 ff; 61,1, 7. 11 BVerfGE 7,198,210.

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Herbert Tröndle

1. Auslegungsprobleme

der

Wechselwirkungstheorie

Speziell im Lüth-Fall ist das Ergebnis dieser Abwägung zu billigen und es wird weithin auch dort gutgeheißen12, wo die Wechselwirkungstheorie im übrigen Kritik begegnet, insbesondere ihrer Anwendungspraxis wegen. Auch ist heftig umstritten, nach welchen Kriterien eine solche Güterabwägung vorzunehmen ist. Herzog13 trat noch im Jahre 1982 in seiner Kommentierung nachdrücklich dafür ein, daß die jeweiligen Rechtsgüter abstrakt abzuwägen seien, während das Bundesverfassungsgericht nach einer Abwägung im Einzelfall verfährt. Wo das Bundesverfassungsgericht aber die - für die oberste verfassungsgerichtliche Instanz letztlich ohnehin unerreichbare - Einzelfallgerechtigkeit erstrebt, geht dies auf Kosten der Normgerechtigkeit und der Rechtssicherheit. In der Tat; die der Wechselwirkungslehre zugrundeliegende interpretatorische Inversion, zu Recht als „Schaukeltheorie" oder nach Isenseeu als „Diffusionsformel" bezeichnet, führt - so OssenbühP5 - zu einer gefährlichen „Situationsjurisprudenz", die, weil normativ schwer faßbar, nach juristischen Regeln auch nicht mehr vorhersehbar ist, so daß selbst moderate Kritiker „Kadi-Justiz" assoziieren16. In jüngerer Zeit hat sich das Bundesverfassungsgericht in der Frage der Schranken der Rundfunkberichterstattung im Honecker-Prozeß17 (§ 176 GVG als „allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 II GG) zwar auch auf das Lüth-Urteil berufen, aber für die Güterabwägung den sachgerechteren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit der Begründung herangezogen, daß im Zusammenhang mit § 176 GVG zugleich auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeklagten nach Art. 1 I, 2 I GG in Frage stehe.

2. Wechselwirkungstheorie bei Kollision zweier verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter unanwendbar Indessen kann die Frage der Anwendung der Wechselwirkungstheorie im Blick auf die oben zu II erwähnten drei Beispielsfälle zunächst auf sich beruhen, denn diese Theorie wurde für einen Fall entwickelt, bei dem es (nur) um den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und einem auf § 826 BGB gestützten bürgerlichrechtlichen Unterlassungsanspruch, also um einen Beispielsfall eines einfachen „allgemeinen Gesetzes" im Sinne des Art. 5 II GG, ging. Nur auf einfachrechtliche Vorschriften der allgemeinen Gesetze bezog sich die Schrankenziehung im Lüth-Urteil,

12 13 14 15 16

Schmitt Glaeser JZ 1983, 99. Maunz-Dürig, GG (1982/1992), Art. 5 I, II Rdn. 260. Archiv für Presserecht (AfP 1993, 626). JZ 1995, 640. Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 49, zit. nach Sendler ZRP 1994,

346. 17

BVerfGE 91, 125 m. zust. Anm. Scholz NStZ 1995, 42.

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

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nur insoweit hielt es das Gericht für nicht folgerichtig, „die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz zu überlassen"18. Daher kann die Wechselwirkungslehre nicht ausufernd für Fälle herangezogen werden, in denen die Anwendungsschranke durch die Verfassung selbst gezogen ist. Die Theorie kann somit nicht zugleich für die Schranke bei Ehrverletzungen gelten. Denn es geht hier nicht (nur) um die in Art. 5 II G G pauschal erwähnten gesetzlichen Bestimmungen, sondern um das - ohne Gesetzesvorbehalt zugesicherte!19 - „Recht der persönlichen Ehre", gegenüber dem das Grundrecht der Meinungsfreiheit „nach der Verfassung selbst"2" „eine Schranke findet". Das „Recht der persönlichen Ehre" ist damit expressis verbis verfassungsrechtlich positiviert21 und ebenso konstitutionelles Recht wie die Meinungsfreiheit. „Die von den zuständigen Gerichten einwandfrei getroffene Feststellung eines Verstoßes gegen diese Bestimmungen (§§ 185 ff StGB) aktualisiert die verfassungsrechtliche Grenze der Meinungsfreiheit jeweils im Einzelfall"22. Diese verfassungstreue Interpretation des Art. 5 II G G aus dem Jahre 1965 - sie entsprach auch maßgebenden Stimmen im Schrifttum23 - kehrt in dieser Form in der späteren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr wieder. Ohne Begründung und ohne Rücksicht auf die einschränkende Bedeutung der Grundrechtspositionen anderer unterstellte der Erste Senat auch Verletzungen des Rechts der persönlichen Ehre wie Verstöße gegen „allgemeine Gesetze" unter Bezug auf das Lüth-Urteil24 der Wechselwirkungstheorie25, gerade so, als ob das verfassungsrechtlich positivierte Recht der persönlichen Ehre ein bloßer Unterfall der „allgemeinen Gesetze" wäre. Die hiergegen von jeher erhobenen detailliert begründeten Einwände des Schrifttums26 würdigte das Bundesverfassungsgericht bisher mit keinem Wort.

" BVerfGE 7,198, 208. " Herzog (Fn. 13) Rdn. 246. 20 BVerfGE 19, 74. 21 So übrigens wörtlich noch BVerfGE 42, 143, 152 (1978). 22 So BVerfGE 19, 74. 23 Bettermann ]"Z 1964, 609. 24 BVerfGE 7,198, 208. 25 BVerfGE 42, 163, 169 (vgl. BVerfGE 42, 143, 150, wo noch von einer „verfassungsrechtlich positivierten Schranke" die Rede ist); BVerfGE 54, 129, 136. 26 v. d. Decken NJW 1983, 1400; Schmitt Glaeser J Z 1983, 98; R. Weber, Falle-FS S. 455; v. Münch/Kunig (Wendt) G G Art. 5 Rdn. 83; R. Stark JuS 1995, 689; Kriele NJW 1994, 1898; vgl. Herzog (Fn. 13) Rdn. 287.

264

Herbert Tröndle

IV. Abgrenzung kollidierender Grundrechte nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz Die vom Bundesverfassungsgericht allenthalben herangezogene Inversionsformel der Wechselwirkung, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit überdimensioniert und die kollidierenden Ehrenschutznormen einem verfassungsrechtlichen Gebot zuwider regelmäßig hintanstellt, verdrängt weitgehend die zur Sicherung berechtigter Interessen geschaffene spezielle Kollisionsvorschrift des § 193 StGB, die - allgemein anerkannt27 - gerade als Ausprägung des Grundrechtes der freien Meinungsäußerung zu verstehen ist28. § 193 StGB rechtfertigt Ehrverletzungen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gerade auch dann, wenn mit Fakten vermengte Meinungsäußerungen wegen Unerweislichkeit der mitbehaupteten Tatsachen unter den Straftatbestand des § 1 8 6 StGB fallen. Die in Art. 5 II G G hervorgehobene Schranke des „Rechts der persönlichen Ehre" setzt voraus, daß die einfachrechtlichen Kollisionsnormen der §§ 193, 186 StGB bereits Berücksichtigung fanden, bei deren Auslegung freilich auch die grundrechtlichen Aspekte der Meinungsfreiheit und des Ehrenschutzes miteinzubringen sind, aber im Sinne einer grundsätzlichen gleichrangigen Behandlung des in der Menschenwürde (Art. 1 I GG) wurzelnden Ehrenschutzes29. Die dem Recht der persönlichen Ehre immanenten Kollisionsnormen erbringen überdies ungleich differenziertere Kriterien für eine sachgemäße Abgrenzung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz als der grobe Raster der Wechselwirkungstheorie. Sie gibt schon vom Ansatz her für die Kollision grundsätzlich gleichrangiger Rechtsgüter nichts her und vernachlässigt den Ehrenschutz. Insbesondere hebelt sie die in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gänzlich unerwähnt gebliebene Schutznorm des § 186 StGB sowie die damit verbundene Beweislastregel30 aus und verkehrt diese Regel in ihr Gegenteil31, was den in seiner Ehre Gekränkten, so er den Rechtsweg beschreitet, in die unerträgliche Situation bringen kann, den - oft unmöglichen - negativen Beweis zu führen, daß die ihn verächtlich machenden Fakten nicht zutreffen.

BVerfGE 12, 113,132. BVerfGE 42, 143, 152; BGHSt. 12, 293; Dreher/Tröndle StGB, 47. Aufl. 1995, § 193 Rdn. 14; Lackner StGB, 21. Aufl. 1995, § 193 Rdn. 1. 29 Demgegenüber können die Gründe der Senatsmehrheit des Beschl. des BVerfG v. 10. 10. 1995 (NJW 1995, 3303) nicht überzeugen. Siehe hierzu unten VII 3 a. 50 Dreher/Tröndle (Fn. 28) § 186 Rdn. 8. 31 Vgl. hierzu Kriele N J W 1994, 1899; KieselNVwZ 1 9 9 2 , \ \ M , K r e y ] K 1995, 225. 27

28

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

265

1. Freiheitsrechte verdrängen Schutzrechte nicht Stehen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz einander gegenüber, kann es allein darum gehen, die Reichweite der beiden - grundsätzlich gleichrangigen - verfassungsrechtlich geschützten Rechte abzugrenzen32. Die Einheit der Verfassung gebietet, Meinungsfreiheit und Recht der persönlichen Ehre nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz einander zuzuordnen 33 : grundgesetzliche Freiheits- und Schutzrechte, wie sie dem Verfassungssystem einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung immanent sind, widerstreiten einander nicht, richtig verstanden bedingen sie sich vielmehr. Stürner34 sprach in diesem Zusammenhang - insoweit „unjuristisch", aber sachgerecht - von notwendigen „Spielregeln", deren Fehlen zur „Verrohung des öffentlichen Meinungskampfs bis zum Freiheitsverlust" führen kann. Keine Freiheit ist grenzenlos, auch nicht das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Deren Artikulationsmöglichkeit wird weder im Kern noch in ihrem Bestand durch verfassungsrechtlich geschützte Rechte anderer wie dem der persönlichen Ehre eingegrenzt. Die Grenzen der Meinungsfreiheit ergeben sich bei Ehrverletzungen aus der Verfassung selbst35. So gesehen ist die Respektierung der verfassungsrechtlich positivierten (Art. 2 I i. Verb. m. Art. 1 I G G ) Schranke der Ehre des Mitbürgers „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung" ebenso „schlechthin konstituierend", wie die Meinungsfreiheit 36 , jedenfalls, soweit es „im Kampf der Meinungen", ihrem „Lebenselement", um die Ermöglichung der „ständigen geistigen Auseinandersetzung" geht37. Aus der Verfassung folgt somit zwingend, daß über die verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte (Kommunikationsrechte) des Art. 5 G G verfassungsrechtlich positivierte Schutz rechte, zumal sie strafrechtlich abgesichert sind, gerade nicht verdrängt oder ausgehebelt werden können. Dies entspricht übrigens auch dem common sense und der Uberzeugung der Mehrheit der Bürger, die das verfassungsrechtlich und strafrechtlich geschützte Recht der persönlichen Ehre als ein Stück Rechtskultur respektieren. Verfassungsgerichtliche Entscheidungen, die dies ignorieren, berühren einen empfindlichen Nerv, irritieren und empören.

Hierzu Geiger DRiZ 1991, 363. So richtig v. d. Decken NJW 1983, 1403. 34 J Z 1994, 874. 35 Wie Fn. 33. 34 In diesem Sinne nachdrücklich Kriele NJW 1994, 1898 Fn. 3, insbesondere gegen die Ausführungen des Verfassungsrichters Grimm ZRP 1994, 276. 37 Zitate aus dem Lüth-Urteil BVerfGE 7,198, 206. 32 53

266

Herbert Tröndle

2. Die Vermutungsformel

und ihre

Auswirkungen

Zur fast völligen Verdrängung des Ehrenschutzes im politischen Leben führt vor allem die seit dem Lüth-Urteil stete Verbindung der Wechselwirkungstheorie mit der sog. „ Vermutungsformel"™. Der dem Lüth-Urteil angefügte, die Entscheidung aber keineswegs tragende Satz „hier spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede" wird vom Bundesverfassungsgericht nunmehr ganz allgemein, insbesondere aber auf Kosten des Ehrenschutzes, ins Spiel gebracht, obgleich es im Lüth-Urteil gar nicht um den Ehrenschutz ging. Als juristischer Obersatz aufgewertet, soll die Vermutungsformel im „geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage" generell gelten, bei Auseinandersetzungen in Wahlkämpfen sogar als „Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede mit der Folge, daß gegen das Äußern einer Meinung nur in äußersten Fällen eingeschritten werden darf"39. Es kann nicht wundern, daß Ehrabschneider eine solche „Supervermutungsformel"40 als höchstrichterliche Ermunterung zum Rufmord auffassen, zumal das Bundesverfassungsgericht die immer wieder41 hervorgekehrte Sorge umzutreiben scheint, ohne extensive Auslegung des Art. 5 G G könnte „die Gefahr einer Lähmung oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses"42 drohen, als ob die staatliche Preisgabe des Ehrenschutzes unserer Demokratie besonders dienlich wäre. Auch hier fehlt es wie bei der Anwendung der sog. Wechselwirkungstheorie an jeder Begründung dafür, aus welcher Norm sich eine (sogar verstärkte) Vermutung der „Zulässigkeit der freien Rede" ergeben soll, wohlgemerkt auch im Sinne der Zulässigkeit einer Ehrverletzung. Es ist auffallend, daß die einschlägigen Grundgesetzkommentare44 die praktisch so bedeutsame Vermutungsformel trotz kritischer Stimmen im Schrifttum45 unerwähnt und unkritisiert lassen. Zu allem kommt, daß „die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede" nicht nur zur Rechtfertigung spontaner („freier") mündlicher BVerfGE 7 , 1 9 8 , 2 1 2 . BVerfGE 61, 1, 12; auch Beschl. v. 10. 10. 1995 (NJW 1995, 3303, 3305, 3307). 40 Kriele N J W 1994, 1898. BVerfGE 43, 130, 136; 54, 129, 139; 60, 234, 241. 42 BVerfGE 82, 272, 273. 43 Oben III 2. 44 Maunz-Dürig (Fn. 13) Rdn. 255 ff, 286 ff; v. Mangoldt-Klein-Starck, GG, Art. 5 I, II Rdn. 117 ff, 131 ff; v. Münch/Kunig (Fn. 26) Rdn. 75 ff, 82 ff; Jarass-Pieroth GG, 3. Aufl. 1995, Art. 5 Rdn. 45 ff. 45 Schmitt Glaeser (Fn. 12); v. d. Decken N J W 1983, 1403; Kriele N J W 1994, 1898; R. Stark JuS 1995, 690; Krey J R 1995, 225; Tettinger, Die Ehre ein geschütztes Verfassungsgut? 1995, S. 28 f; Kiesel NVwZ 1992, 1130; Forkel JZ 1994, 641. 38

39

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

267

Äußerungen, sondern auch zur Rechtfertigung wohlüberlegter schriftlicher und von vornherein zur Veröffentlichung bestimmter Meinungsäußerungen herangezogen wird 46 . Dadurch werden Injurianten im politischen Meinungskampf nachgerade eingeladen, gezielt und fast risikolos bei der „geistigen" Auseinandersetzung Ehrabschneidungen zu publizieren 47 .

V. Kritik des Schrifttums an der Rechtsprechung zu Art. 5 GG Eine Reihe seltsamer Judikate des Ersten Senats sind im juristischen Schrifttum auf Kritik und Protest gestoßen, aber auch auf Sorge, Unverständnis und Betroffenheit: Es kennzeichnet die Situation, wenn „beängstigende Konsequenzen für die Rechtskultur" (Tettinger)4* beklagt werden, weil „dem obersten Hüter der Grundrechte der Sinn für die Rangordnung der Werte abhanden gekommen" sei (WassermannJ4', wenn sich Sachkenner unter den Titeln „Liquidierung des Ehrenschutzes durch das BVerfG" (Kiesel)50, „die verlorene Ehre des Bundesbürgers" (Stürnerf \ „ein Gericht läuft aus dem Ruder (Kreyf2, um nur wenige zu nennen, in ungewöhnlicher Schärfe ihre Stimme gegen eine ausufernde, den Rufmord begünstigende Ausdeutung des Art. 5 G G erheben und sie als Rechtsprechung contra constitutionem und contra legem (Kreyf3 bezeichnen, weil sie die Wertordnung des Grundgesetzes verändert und umkehrt, statt sie zu bewahren (Rüthers)™. Stimmen, die dem Ersten Senat zu folgen bereit sind, blieben vereinzelt und wirkungslos. Das gilt von den Einwänden von Soehring, eines Anwalts der Presse 55 , der Krieles Kritik 56 abzuschwächen versucht, ebenso wie z. B. von Kühler37, wenn er den traditionellen Ehrenschutz als ein „feudalständisches Vermächtnis" begreift und aus seiner Sicht „vor allem aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" eine Entwicklung zu erkennen glaubt, die er - mit einer „Leerformel" 58 par excellence - als „eine neue Konzeption" umschreibt, „deren Grundriß 44 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

58

BVerfGE 66, 116, 150; 88, 272, 282; NJW 1992, 2816. Vgl. insoweit zum Beschl. v. 10. 10. 1995 (NJW 1995, 3303) unter VII 3 a. AaO (Fn. 45) S. 35; ähnlich Forkel]Z 1994, 642. Gestörtes Gleichgewicht, 1995, S. 147. NVwZ 1992,1129. J Z 1994, 865. J R 1994,221. J R 1994,226,273. Sprache und Recht, 1995, Typoskript S. 6. N J W 1994, 2926. N J W 1994, 1897. J Z 1984, 544, 545; ähnlich J Z 1990, 917. Wendt (Fn. 26) Rdn. 83.

268

Herbert Tröndle

durch die normativen Vorgaben der individuellen Selbstbestimmung, der kulturellen Integration und der kommunikativen Chancengleichheit bestimmt wird" (!). Gounalakis59, der - den Freiraum für Karikatur und Satire absolut setzend - die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung tendenziell billigt und abweichend von ihr auch den Henscheid-Verriß eines Böll-Romans 60 und sogar die Darstellung eines Politikers als kopulierendes Schwein61 als von der Kunstfreiheit für gedeckt ansieht62, resümiert seine Vorstellungen über das Gemeinwesen und die darin tätigen Poltiker in dem Sinne, daß sie „schon aus einem bestimmten Holz geschnitzt sein müssen, um in diesen Freiräumen leben zu können" und rät - Harry Truman zitierend - „wer die Hitze nicht verträgt, soll nicht in der Küche arbeiten" (!). Versuche, die Wogen zu glätten, unternahm Grimm". Sie waren - um das wenigste zu sagen - bisher nicht hilfreich, weil die entscheidende Frage, worauf sich ein apriorischer Vorrang des Grundrechts der Meinungsfreiheit gegenüber dem Ehrenschutz und die Vermutungsformel rechtlich schützen läßt, nicht thematisiert wird. Folglich erfuhren diese verfassungsrichterlichen Interpretationsbemühungen schneidende Repliken64. VI. Bundesverfassungsgericht als „Superrechtsmittelinstanz" Auf Grund der Wechselwirkungstheorie im Verbund mit einer extrem gedeuteten Vermutungsklausel fühlt sich das Bundesverfassungsgericht zur Betätigung als „Superrechtsmittelinstanz"65 berufen, eben weil das Gericht bei der gebotenen Güterabwägung nicht etwa - wie es Herzog66 für richtig hält - eine abstrakte Abwägung abstrakt umschriebener Rechtsgüter vornimmt, sondern eine fallbezogene Abwägung, also im Sinne einer konkreten Abwägung67 der konfligierenden Interessen. Um die „Einzelfallgerechtigkeit" in der Tendenz des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen, wird in casu im Sinne des Vorrangs der Meinungsfreiheit die Zulässigkeit der freien Rede vermutet.

59 60 61 62 63

NJW 1995, 809. NJW 1993, 1462. BVerfGE 75, 369. Gegen ihn Doehring NJW-Echo Heft 17/1995 S. XVIII. ZRP 1994,276 u. NJW 1995,1697.

" Z. B. Kriele NJW 1994, 1898, 1904 Fn. 3, 45; Tettinger aaO (Fn. 45) S. 36; Krey JR 1995, 226. 65

Krey ]K 1995,225.

" AaO (Fn. 13) Rdn. 259. 67 In diesem Sinne schon BVerfGE 7, 198, 212; hiergegen Bettermann

J Z 1964, 602.

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

269

1. Inanspruchnahme tatrichterlicher Kompetenzen in Überschreitung der Kognitionsmöglichkeiten Zwar hebt das Bundesverfassungsgericht immer wieder - auch wenn es um das Grundrecht der Meinungsfreiheit geht - hervor68, daß es keine „Revisions- oder gar Superrevisionsinstanz" sei, aber das meist nur im Sinne einer propositio facto contraria (Isenseef, denn ein Verfassungsgericht, das eine fallbezogene Interessenabwägung und dabei die „unglückselige Ideologie der Einzelfallgerechtigkeit" (so Sendler)70 ansteuert, nimmt zugleich Funktionen einer Supertatsacheninstanz wahr und riskiert permanent, das im gesamten ohnehin Unerreichbare auch - wie viele Fälle zeigen - in concreto zu verfehlen. Denn das Gericht überschreitet auf diese Weise nicht nur seine Kompetenz, sondern - fernab von den Stätten des wirklichen Geschehens - auch seine Kognitionsmöglichkeiten. 2. „Intensive" verfassungsgerichtliche Kontrolle im Rahmen des „spezifischen Verfassungsrechts" Aus der sog. Heckschen Formel, wonach das Bundesverfassungsgericht nur „spezifisches Verfassungsrecht" nachprüft, das nicht verletzt sei, „wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist, der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen"71, entwickelte das Gericht einen flexibleren Grundsatz. Danach hat die verfassungsgerichtliche Prüfung der gerichtlichen Entscheidung desto eingehender stattzufinden, je intensiver das Grundrecht im Einzelfall beeinträchtigt wurde. Das bedeutet, ohne daß hierfür überzeugende Kriterien aufzeigbar wären72, in gar nicht so seltenen Fällen eine verfassungsgerichtliche „Nachprüfung in vollem Umfang"73, wobei sich das Bundesverfassungsgericht „in den Fällen höchster Eingriffsintensität" für durchaus befugt hält, die Wertung der Fachgerichte „durch seine eigene zu ersetzen"74. So ist in der Tat die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht", wie dies der Bundesverfassungsrichter Böckenförde formuliert hat, bis heute eher „ein Arkanum des Gerichts"75 geblieben. Ossenhühl7b hält sie mit Recht für nichtssagend und meint, BVerfGE 7, 198, 207; 42, 74; 148; 54, 129, 135; 148, 151; 208,215; 60, 234, 238. " AfP (Fn. 14) S. 629. 70 DVB1.1994,1100. 71 BVerfGE 81, 85, 92; Kiesel NVwZ 1992, 1131. 72 Schlaicb, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1994, Rdn. 279 ff. 7) BVerfGE 82, 272, 281; 83, 130, 145; 85, 1, 14; 86, 1, 10; NJW 1995, 3303, 3305. 7" BVerfGE 42, 143, 149; 83, 130, 145. 75 Zit. nach Schiaich (Fn. 72) Rdn. 287 Fn. 656. 76 JZ 1995, 640. 68

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Herbert Tröndle

daß das Verfassungsgericht sie zwar immer wieder dann eingesetzt habe, wenn es darum ging, eine Kontrolle von fachgerichtlichen Entscheidungen abzulehnen, im Bereich der Meinungsfreiheit habe sich aber das Bundesverfassungsgericht umgekehrt zur „Supertatsacheninstanz emporgeschwungen" 77. Eine verfassungsgerichtliche Instanz, die sich für befugt hält, auch zu überprüfen, ob der vom Fachgericht in einer beweisunmittelbaren Verhandlung festgestellte Sachverhalt überhaupt zutrifft, und sogar die tatsächliche Würdigung des Fachgerichts durch ihre eigene zu ersetzen, ist im Grunde eine contradictio in adiecto. Denn die Kompetenz zur (verfassungsrechtlichen) Prüfung kann nicht zugleich die Befugnis miteinschließen, den Prüfungsgegenstand zu verändern. Die Aufgabe eines Verfassungsgerichts wird alteriert, wenn es zugleich Tatsachen überprüft, sie sogar uminterpretiert und - um eine entgegen Art. 5 II GG fast schrankenlose Meinungsfreiheit sicherzustellen - abweichend von den tatrichterlichen Feststellungen ohne die Erkenntnismöglichkeiten und Kautelen einer Hauptverhandlung neu deutet. Es ist kaum vorstellbar, daß der Grundgesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht derartige Aufgaben allein deswegen zugedacht hat, um Injurianten über eine verharmlosende Ausdeutung tatrichterlicher Feststellungen eine verfassungsrechtlich zu schützende „Grundrechtsausübung" auch für Invektiven zu attestieren, denen das Gericht selbst „in hohem Maße herabwürdigenden" Charakter zugeschrieben hat78.

3. „ Einzelfallentscheidungen"

und

Bindungswirkung

Was folgt aus einer solchen verfassungsgerichtlichen aberratio, zu der die „Lust am Judizieren" (Ingo von Münchy verführt zu haben scheint, für die Bindungswirkung (§31 BVerfGG)? Diese Bindungsproblematik ist zwar noch in mancher Hinsicht ungeklärt 80 . Immer wird sich aber diese Bindung für Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden nur auf Rechtssätze beziehen können, nicht auf eine konkrete Einzelfallentscheidung, der eine „Nachprüfung in vollem Umfang" 81 vorausgegangen ist und die, ähnlich wie noch in anderen Fällen zu zeigen sein wird, jenen Goetheschen Aphorismus 82 assoziiert, der beim „Auslegen" zum „Unterlegen" ermuntert. Sollen die oben II erwähnten Entscheidungen etwa gewährleisten, daß „im geistigen Meinungskampf in einer die Im einzelnen Kiesel NVwZ 1992, 1131. BVerfGE 82, 272, 282; insbesondere auch im Beschl. v. 10. 10. 1995 (NJW 1995, 3303, 3305 f.). 7' NJW 1993,2287. Schiaich (Fn. 72) Rdn. 441 ff; Ziekow Jura 1995, 522, 529. 81 Hierzu BVerfGE 82, 272, 281. 82 Zahme Xenien, Bd. 3, 1890, S. 258. 77 78

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

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Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage" 83 hinkünftig die Beschimpfungsvokabel „Zwangsdemokrat" 8 4 als verfassungsrechtlich geschützte Umfangsformen - nicht etwa nur als „Gegenschlag" 85 , sondern - allen zur Verfügung steht, denen es z. B. an Sachargumenten gegenüber einem überlegenen politischen Gegner fehlt? Soll jedem Unkundigen ein grundgesetzlicher Anspruch verbürgt werden, Beamte, die eine gesetzlich gebotene Vollstreckungshandlung vornehmen, der „GestapoMethoden" 8 6 zu zeihen? Das Gericht scheint immer wieder 87 die Sorge umzutreiben, die Nichtzulassung überspitzter und polemischer Kritik im politischen Meinungskampf - bezogen meist auf massive Invektiven - könnte „die Gefahr einer Lähmung oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses" herbeiführen oder gegenüber der „einschüchternden Wirkung staatlicher Eingriffe" die „Bereitschaft mindern, vom betroffenen Grundrecht Gebrauch zu machen". Angesichts der Wirklichkeitsferne solcher „Befürchtungen" fragt man sich, auf welcher Ebene der politische Meinungskampf eigentlich stattzufinden hat, wenn in der verfassungsrichterlichen Sprechweise „robuste" 88 Meinungsäußerungen bis zur Grenze der - viel zu eng auszulegenden - Schmähung explizit gefördert 89 , also ochlokratische Tendenzen hoffähig gemacht werden? 4. Fehlerhafte Auslegungskriterien

und die Folgen

Zudem deutet das Bundesverfassungsgericht bei seiner „Uberprüfung in vollem Umfang" das, was geäußert worden ist, wirklichkeitsfremd. Ein Fachgericht, das auf der „Deutungsebene" von inkriminierten Äußerungen nicht das vom Bundesverfassungsgericht - später - f ü r richtig Gehaltene oder Gewünschte festgestellt hat (oder wegen abweichender tatsächlicher Feststellungen davon nicht ausgegangen ist), erhält verfassungsgerichtlich bescheinigt, „Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit verkannt" zu haben 90 . So ist für das Bundesverfassungsgericht bei einer diskriminierenden Äußerung („in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage") nicht etwa maßgebend, wie sie vom - abstrakt aus der Sicht eines unbefangenen

S)

BVerfGE 7, 198, 212. BVerfGE 82, 272, 282. 85 Dreher/Tröndle (Fn. 28) § 193 Rdn. 14 a. 86 NJW 1992,2815. 87 BVerfGE 54, 129, 139; 60, 231, 241; 82, 272, 282; 83, 130, 146; 86, 1, 10; (NJW 1995, 3303, 3304 f). 88 So Grimm ZRP 1994, 276 f. 89 Auswirkungen dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung siehe Beispiele bei Kriele NJW 1994, 1899. 90 Beschl. v. 10. 10. 1995 (NJW 1995, 3303, 3305). 84

272

Herbert Tröndle

Dritten verstandenen91 - Horizont des Äußerungsempfängers entsprechend der tatrichterlichen Würdigung zu verstehen ist92, es kommt dem Gericht also auf die Sichtweise, die allein für die Frage des Vorliegens einer Ehrverletzung bedeutsam ist, letztlich nicht an. Folglich hat der Täter seine Äußerung auch nicht so zu verantworten. Kann sie nämlich zwei- oder mehrdeutig ausgelegt werden, so soll es - gleichgültig, wie die übrigen Deutungen in der Öffentlichkeit wirken - auf die - möglicherweise erst vom Bundesverfassungsgericht erdachte - harmloseste Sinnerklärung 93 , also die möglicherweise „nicht ehrenrührige Deutung"94 ankommen. Nichts anderes gilt von einem Kunstwerk das mehrere Interpretationsmöglichkeiten bietet95. Daher darf nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung eine diskriminierende Äußerung, die (objektiv) mehreren Deutungen zugänglich ist, einer Verurteilung nur dann in einem bestimmten Sinne zugrunde gelegt werden, wenn alle übrigen „objektiv möglichen" Deutungen „unter Angabe überzeugender Gründe" 96 ausgeschlossen sind. Bei dem, was unter „objektiv möglicher" Deutung zu verstehen ist, verläßt das Bundesverfassungsgericht in gewissem Sinne sogar das für den Tatrichter Zulässige, denn ihm sind durch den Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) Grenzen gesetzt. Ein Gericht, das dies nicht beachtet, geht aber - um das mindeste zu sagen - an der eigentlichen Sachfrage vorbei. Das gilt auch vom Bundesverfassungsgericht, das bei seiner „intensiven Prüfung" schriftlicher Äußerungen freilich auch schon „mit bewundernswertem Reichtum an Fantasie selbst die fernstliegenden Interpretationsmöglichkeiten" (so Sendlerf7 einbezogen hat, auch solche, die bis dahin von niemanden - auch nicht vom Injurianten - entdeckt worden sind!98 Selbstverständlich muß ein Tatrichter der (revisionsgerichtlichen) Rechtskontrolle dahin unterliegen, ob er bei der Sinnermittlung einer Äußerung alle sich nach der Hauptverhandlung aufdrängenden und naheliegenden Deutungen in Betracht gezogen hat. Auch schriftliche Äußerungen sind fall- und tatbezogen zu deuten und nicht etwa im Sinne alles dessen, was - jenseits des konkreten Sachverhalts - „objektiv

" Vgl. Dreher/Trändle (Fn. 28) § 185 Rdn. 8; OLG Düsseldorf JR 1990, 126 m. Anm. Laubentbai. 92 So auch OssenbühlJL 1995, 640 f. 95 Vgl. BVerfGE 82, 272, 280. 94 Beschl. v. 10.10.1995 (NJW 1995, 3303, 3305). 95 Vgl. BVerfGE 67, 213, 228. 96 So BVerfGE 82, 270, 280/281; im wesentlichen ebenso Beschl. v. 10. 10. 1995 (aaO). 97 ZRP 1994, 349. 91 Isensee (AfP 1993, 629) nennt sie, bezogen auf die Entscheidung BVerfGE 67, 213 („Anachronistischer Zug") „willkürlich und grotesk".

Das BVerfG und sein Umgang mit dem „einfachen Recht"

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möglich" ist oder sein könnte. Ein Tatrichter, der z. B. fernab des H o r i zonts des Außerungsempfängers Invektiven von sich aus einen verharmlosenden Sinn beilegen wollte, auf den sich ursprünglich nicht einmal der Täter selbst berufen hat", setzt sich unter Umständen einem Befangenheitsvorwurf aus. Kommt es aber zu einer fernabliegenden Sachverhaltsdeutung erst im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, so gerät der bislang obsiegende Rechtsuchende plötzlich - mit allen Konsequenzen - in die Situation des Unterlegenen, unter Umständen sogar ohne zur verfassungsgerichtlich umgedeuteten Sachverhaltsversion auch nur rechtlich gehört worden zu sein (Art. 103 I GG). Freilich wird von Grimm100 immer wieder darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht nur die Beachtung der Grundrechte sicherstelle und die Sache dann „ - bei offenem Ausgang zur Endentscheidung an die Fachgerichte zurückverweise. Aber so offen ist der Ausgang des Verfahrens dann selbstverständlich nicht mehr, wenn der Injuriant die höchstrichterliche Unterweisung aufgreift und sich den Schmäh in der vom Verfassungsgericht ersonnenen tolerablen Deutung zu eigen macht. 5. Störung der Konsistenz des Rechtsmittelsystems Die vom Umfang her nachgerade monströse Beanspruchung „intensiver Kontrolle" 101 im Bereich von Meinungsäußerungen schafft für die Konsistenz des gesamten Rechtsmittelsystems der Fachgerichtsbarkeiten schwer lösbare Probleme. Das Bundesverfassungsgericht nimmt nämlich nicht nur in concreto die Kompetenz für die (tatrichterliche und im Grunde einfachrechtliche) Einordnung als Formalbeleidigung oder als Schmähung, sondern auch für Sinnermittlung und Sinndeutung in Anspruch! 102 Es ebnet auf diese Weise dem Rechtsmittelsystem inhärente Strukturen ein, insbesondere die bedeutsame Abgrenzung zwischen tat- und revisionsrichterlicher Tätigkeit. Folge davon ist, daß die an tatrichterliche Feststellung und Beweiswürdigung gebundenen Revisionsgerichte einer verfassungsgerichtlichen Aufhebung ihrer Urteile wegen „Grundrechtsverstoß" möglicherweise auch dann nicht entgehen können, wenn sie sich materiellrechtlich und prozessual gesetzestreu verhalten. Das verfassungsgerichtliche Ubergreifen in rein tatrichterliche

99

S. Fn. 98. ZRP 1994, 278; NJW 1995, 1704. 101 BVerfGE 82,43, 51. 102 BVerfGE 82, 43, 51; im Startbahn-West-Beschluß (BVerfGE 82, 236, 259, 264) kam es hingegen in der Frage der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung zu einer 4 :4-Entscheidung, in der die Stimmen unterlagen, die für eine fast uneingeschränkte „tatrichterliche" Deutungskompetenz des Verfassungsgerichts eintraten. 100

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Kompetenzen wirkt daher innerhalb der rechtsprechenden Gewalt dysfunktional: Oder soll sich die „Rechts" kontrollc der Revisionsgerichte im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 G G insoweit auch auf den tatrichterlichen Bereich erstrecken, und zwar im Sinne der verfassungsgerichtlichen Auslegungskriterien?103 Dem stünde das positive Recht entgegen, an das sich ein ordentliches Gericht - wie das der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu § 57 a StGB 104 deutlich apostrophierte105 - zu halten hat. VII. Verfassungsgerichtliche Fehlgriffe: Für Injurianten ein „Königsweg" Durch seine Judikate belegt das Bundesverfassungsgericht, daß ihm die tatsächliche Beurteilung von Sachverhalten, was im Grunde seine Aufgabe nicht ist106 und auch gar nicht sein kann, mißlingt. Dazu nur wenige Beispiele: 1. Der querschnittsgelähmte

Reserveoffizier

So darf nach der oben II erwähnten Senatsentscheidung107 ein unfallbedingt querschnittsgelähmter Reserveoffizier in einem Satire-Magazin zwar nicht als „Krüppel", wohl aber unter voller Namensnennung (!) deswegen als „geb. Mörder" bezeichnet werden, weil er auf nachdrücklichen eigenen Wunsch als Ubersetzer an einer Wehrübung teilgenommen hatte. Der Erste Senat, der Anlaß zu haben glaubte, dem O L G Düsseldorf, das dem Schmähopfer einen Schmerzensgeldanspruch zuerkannt hatte, „eine unzureichende Interpretation der Satire"108 zu bescheinigen, ist offensichtlich selbst insoweit mit der tatrichterlichen Beurteilung nicht zurechtgekommen. Zwar hat der Senat - durchaus richtig - darauf hingewiesen, daß die Satire „ihres in Wort und Bild gewählten Gewandes entkleidet werden" müsse und „ihr Aussagekern und ihre Einkleidung ... gesondert darauf zu überprüfen" sei, „ob sie eine Kundgabe der Mißachtung" enthalte. Lassen wir hier zunächst einmal beiseite, ob auch die Rehabilitationsanstrengungen eines an den Rollstuhl gefesselten Schwerstbehinderten überhaupt - wie der Senat formulierte109 - ein 103 104 105 106 107

Oben VI 4. BVerfGE 86, 288. NStZ 1993,135. Oben VI 1,2. BVerfGE 86, 1, 9 ff; hiergegen sehr krit. Otto J R 1994, 474 („kaum nachvollzieh-

bar"). AaO. "» BVerfGE 86, 11. ,08

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„typisches Ziel der Satire", „zum Lachen zu reizen", sein können oder ob ein so grober Verstoß gegen das humanum nicht eher eine Zurechtweisung verdient hätte, und sei es auch nur konkludent durch einen Nicht-Annahme-Beschluß im Sinne des § 93 a BVerfGG. Hat sich aber das Gericht auf eine - im wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende - Sachentscheidung eingelassen, für die es die maßgebenden Satiregesichtspunkte selbst hervorhebt, so ist um so weniger begreiflich, daß der Senat die Bezeichnung „geb. Mörder" als Satire hingenommen hat, nicht aber „Krüppel", wo doch die Richtigkeit des Aussagekerns der letzteren - sehr rüden - Bezeichnung evident zutrifft, während unerfindlich bleibt, worin bei dem als „geb. Mörder" bezeichneten rehabilitierungsbemühten Invaliden ein „sachlich zutreffender" Aussagekern liegen soll. Oder soll etwa die Annahme erlaubt sein, der Senat ließe die Sottise „Soldaten sind Mörder" als Wahrheitskern gelten? Im Grunde leistet er sich bei seiner tatrichterlichen Interpretation selbst eine Realsatire, wenn er das O L G Düsseldorf darüber belehrt, „daß sich der gesamte Text (der Satire) nicht nur gegen den Kläger richtet, sondern auch das Verhalten anderer Personen aufs Korn nimmt und deren Namen ebenfalls der Zusatz ,geb.' beigefügt wird" 110 . Denn „aufs Korn genommen" wird nämlich eine Schauspielerin durch den Zusatz ihres Geburtsnamens und der frühere Bundespräsident dadurch, daß er mit dem - satirisch einfallslosen - Zusatz „geb. Bürger" apostrophiert wurde. Gerade wenn man, worauf der Senat glaubt abheben zu sollen, diesen „geb. Mörder"-Zusatz „im Gesamtzusammenhang des Artikels im übertragenen Sinne" 1 betrachtet, tritt er gegenüber den - auch satirisch - absolut belanglosen Attributen, mit denen die übrigen Personen bedacht wurden, in seiner Infamie besonders hervor. Er übertrifft das böse Wort vom „Krüppel" bei weitem, dem man, da mehrdeutig - immer entsprechend der sonstigen Argumentationsweise des Bundesverfassungsgerichts - auch einen harmloseren, „eher mitfühlenden Sinn" 112 beilegen könnte. Hingegen wurde der Kläger, wohlgemerkt unter voller Namensnennung, durch den Zusatz „geb. Mörder" ungleich schwerer, nämlich auch in seiner Menschenwürde, „persönlich getroffen". Denn „Krüppel" umschreibt das nicht änderbare Faktum, wenn auch sehr rüde, „geb. Mörder" persifliert demgegenüber auf hämische Weise das verzweifelte Mühen eines Schwerstbehinderten, durch eigene Kraftanstrengungen seinem Schicksal zu trotzen.

110 1,1 112

BVerfGE 86, 12. AaO. So BVerfGE 8 6 , 1 , 1 3 .

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2. Das Tucholsky-Zitat N o c h mehr Aufsehen erregte die Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats113, weil sie die Sachaussage jenes Tucholsky-Auto-Aufklebers „Soldaten sind Mörder" in kühner, wirklichkeitsabgewandter Ausdeutung 114 - Herdegen115 sprach von einer „forensischen Kathederblüte" - ins Harmlose uminterpretiert hatte, nicht ohne sich dabei mehrfach auf die „verständige Würdigung" eines „durchschnittlichen Lesers" zu berufen. Was es aber mit dieser gegenüber den Instanzrichtern aufdringlich belehrenden Eigenberühmung 116 in Wahrheit auf sich hatte, ist an der Empörung erkennbar, die dieser Kammerbeschluß ausgelöst hatte. Parteiübergreifend sprachen Abgeordnete von einem „Skandal" und beriefen aus Anlaß dieser Entscheidung eine Sondersitzung des Bundestages ein. Wiederum freilich ein fragwürdiger Vorgang, denn im gewaltenteilenden Staat hat die Legislative die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu respektieren. Dieser Vorgang belegt aber auf seine Weise, in welches Ansehen das Judiz des Bundesverfassungsgerichts in Fällen geraten ist, in denen es bei seiner Grundrechtsjudikatur ohne die Kautelen einer beweisunmittelbaren Verhandlung und ersichtlich ohne hinreichende Erfahrung tatrichterliche Sachkompetenzen usurpiert.

3. Entscheidung vom 10. 10. 1995 („Soldaten sind Mörder") Auch in der jüngsten 5 : 3-Entscheidung vom 10. 10. 1995 117 setzt der Erste Senat diese bedenkliche Rechtsprechung fort. Bundespräsident Roman Herzog, der frühere Präsident des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, deutet sie118 dahin, daß „konkrete Soldaten einfach deswegen, weil sie Soldaten sind" und auch „die Bundeswehr als Ganzes" nicht „als Mörder" bezeichnet werden dürfen, weil „die Soldaten der Bundeswehr keine Mörder sind", es bleibe „allerdings entscheidend, was die Strafgerichte aus den Richtlinien des Verfassungsgerichts machen". D a als „Richtlinien" weiterhin die Wechselwirkungstheorie und die Vermutungsformel gelten, bedarf es bei den Strafgerichten einiger Standfestigkeit, um Erwartungen des Bundespräsidenten nicht zu enttäuschen, die er auch in Sorge um den rechten Gang der Dinge ausgesprochen haben mag. D e r Senat hebt zwar das Bestehen von Schutznormen immer wieder hervor, macht es aber den Strafgerichten weiterhin

1M 115 116 1,7 118

NJW 1994,2943. Vgl. Grasnick JR 1995,192; Campbell NStZ 1994, 328. NJW 1994, 2934. Hierzu auch Campbell NStZ 1995, 328. NJW 1995, 3303 = NStZ 1996, 26; vollst. Abdruck: EuGRZ 1995, 443. Rede auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 15. 11. 1995.

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in

außerordentlich schwer, sie anzuwenden, was die Betroffenen auch künftig aus naheliegenden Gründen davon abhalten wird, gerichtlichen Ehrenschutz zu suchen. Denn die Unwägbarkeiten der „Richtlinien" und der „tatrichterlichen" Ubergriffe des Bundesverfassungsgerichts stehen einem vorhersehbaren und effizienten Ehrenschutz für Soldaten nach wie vor entgegen. Das ergibt sich aus folgendem: a) U m Verletzungen des „Rechts der persönlichen Ehre" weiterhin als Verstöße gegen „allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 II G G unter Bezug auf das Lüth-Urteil der Wechselwirkungstheorie unterstellen zu können, rückt die Senatsmehrheit die Bedeutung, die § 185 StGB als Fundamentalnorm für das „Recht der persönlichen Ehre" hat, mit dem Hinweis in den Hintergrund, bei § 185 StGB gehe es nicht nur um den Schutz der persönlichen Ehre, sondern auch um den Institutionenschutz (vgl. § 194 IV StGB)119; auch seien Kollektivbeleidigungen nicht geeignet, auf die persönliche Ehre durchzuschlagen 120 . Die Reflexwirkung des Institutionenschutzes mindert aber die Zentralfunktion des § 185 StGB keineswegs. Schon gar nicht tritt eine solche Bedeutungsminderung des Ehrenschutzes dadurch ein, daß Kollektivbeleidigungen anerkannt werden, denn sie beziehen immer auch ungeschmälert die persönliche Ehre der Mitglieder der Personenmehrheit mit ein. Der Senat benützt dieses Argumentationskonstrukt auch nur, um das „Recht der persönlichen Ehre" zu einem „allgemeinen Gesetz" im Sinne des Art. 5 II GG121 herunterzuinterpretieren. Auch fehlt jede rechtliche Grundlage für die den Ehrenschutz fast völlig verdrängende „Vermutungsregel" 122 , die der Senat mit einer Leerformel (sie „wurzele in der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie") zu rechtfertigen sucht. Abweichend vom Lüth-Urteil steht außerdem in den vier Fällen der Entscheidung vom 10.10.1995 eine „freie Rede"123, für deren Zulässigkeit eine Vermutung streitet, gar nicht in Frage, vielmehr ging es um ganz gezielte, wohlüberlegt formulierte Flugblätter, Leserbriefe und Transparente. b) Die von der Sache her einfachrechtlich zu beurteilende Frage, wann eine Schmähkritik vorliegt, entscheidet der Senat selbst, und zwar sachwidrig eng; er bejaht sie „bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise". In gewohnter Manier124 hält er es dabei nicht für wert, auf die ausführliche Argumenta-

120 121 122 123 ,2
° So auch Foregger/Kodek, Kurzkommentar zur StPO', Anm. II/2 zu § 152 StPO. Gegen das Erfordernis eines engen deliktstypischen Zusammenhangs inzwischen auch Schmoller, Neu geregelte Beweisverwertungsverbote im StPAG 1993, in: Platzgummer-FS (1995) 287 Fn. 16; Brandstetter, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und die Rechtsstellung von Zeugen, in Platzgummer-FS 322 f. und jüngst Schwaighofer, Der Unmittelbarkeitsgrundsatz beim Zeugenbeweis und seine Ausnahmen, OJZ 1996 (im Druck). Ablehnend zur Einschränkung des Entschlagungsrechts auf Zeugen, die in dem gegen sie selbst anhängigen Strafverfahren nicht geständig sind, inzwischen auch Höpfel, Zur Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 152 Abs. 1 Z 1 StPO, in: Platzgummer-FS 259. !1 Treffend Dahs in: Löwe/Rosenberg § 55 Rdn. 10 a.

IV. Bürgerliches Recht; Zivilprozeßrecht

Zum Vermögensausgleich nach gescheiterter Ehe FRIEDRICH BLUMENROHR

Im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung von Ehegatten nach gescheiterter Ehe sind es neben den Fragen des Ausgleichs nach den Vorschriften des Güterrechts, die hier nicht behandelt werden sollen, vor allem die Fragen des sonstigen Ausgleichs von Vermögensmehrungen eines Ehegatten durch den Ehepartner, welche die Rechtsprechung seit langem mit schwierigen Rechtsproblemen belasten und ein kaum noch zu übersehendes Schrifttum hervorgebracht haben, ohne daß die Diskussion um das O b und Wie solcher Ausgleichungen zur Ruhe gekommen wäre1. Aufgabe dieses Beitrages kann es nicht sein, sich der Fülle der insoweit diskutierten Fragen zu stellen; vielmehr muß sich der Beitrag auf eine Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum außergüterrechtlichen Vermögensausgleich in diesem Bereich und auf einige Anmerkungen zur Frage der einheitlichen Behandlung der vorkommenden Ausgleichsfälle sowie der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Ergebnisse beschränken. Dabei geht es vor allem um die Fallgruppen der (arbeitsvertraglich nicht geregelten) Mitarbeit eines Ehegatten im Unternehmen oder in der freiberuflichen Praxis des Ehepartners sowie um die der sonstigen Mehrung des Vermögens eines Ehegatten durch den anderen. 1. Bei der Bewältigung der erstgenannten Fallgruppe geht die heutige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zurück auf die Grundsatzentscheidung vom 20. Dezember 19522. Darin hat der II. Zivilsenat - noch unter der Geltung des § 1356 Abs. 2 B G B a. F., der die Ehefrau im Rahmen des nach den Verhältnissen der Ehegatten Üblichen zur Mitarbeit im Geschäftsbetrieb des Ehemannes verpflichtete - der Ansicht des Reichsgerichts widersprochen, daß (auch) die über diesen Rahmen hinausgehende Mitarbeit in der Regel nach dem Willen der Ehegatten unentgeltlich erfolge. Er hat ausgeführt, nach dem gewandelten Verständnis von der Stellung der Ehefrau und der Funktion der Ehe als Schick-

' Vgl. dazu etwa die Schrifttumsnachweise bei Brudermüller in GW FamK-Rolland zu § 1356 sowie Ludwig FuR 1992, 1 ff und 201 ff; Kollhosser NJW 1994, 2313 ff; Koch FamRZ 1995,321 ff. 2 BGHZ 8, 249 m. Anm. Fischer LM BGB § 705 Nr. 4.

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Friedrich Blumenrohr

salsgemeinschaft liege vielmehr die Annahme näher, daß die Ehefrau neben ihrem Ehemann in dem Geschäftsbetrieb nicht allein für den Ehemann, sondern mit ihm für die eheliche Gemeinschaft ihre Arbeit leiste. Falls nicht besondere Anhaltspunkte für das Gegenteil sprächen, werde man davon ausgehen können, daß die über den Rahmen des § 1356 Abs. 2 B G B (a. F.) hinaus geleistete Mitarbeit der Ehefrau im Geschäftsbetrieb des Ehemannes entgeltlich sei, aber nicht gegen eine feste Vergütung, sondern gegen eine Erfolgsvergütung oder gegen eine irgendwie geartete Beteiligung geleistet werden solle. Handle es sich um eine selbständige und gleichwertige Tätigkeit neben der Tätigkeit des Mannes, sei der stillschweigende Abschluß eines Beteiligungsverhältnisses in F o r m einer Innengesellschaft sehr naheliegend, weil ein solches Vertragsverhältnis bei den gegebenen Verhältnissen den beiderseitigen Belangen am meisten entspreche. Dem hat sich alsbald der damals für das Familienrecht zuständige IV. Zivilsenat angeschlossen und ausgeführt, für die Annahme eines derartigen Gesellschaftsverhältnisses könne es nach Lage des Falles ausreichen, daß beide Ehegatten sich zu einer ihre Arbeitszeit ausfüllenden gemeinsamen Tätigkeit in einem Betrieb verbunden hätten. Sei die beiderseitige Tätigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Treu und Glauben als eine gemeinsame Arbeit für ein einheitliches Ziel aufzufassen, so müsse der Geschäftsinhaber, der eine derartige Zusammenarbeit mit dem Ehepartner eingegangen sei, gelten lassen, daß dieser einen Anspruch auf Beteiligung an den Unternehmenserträgnissen habe 3 . In der Folge war der Bundesgerichtshof vor allem bemüht, objektive Merkmale und Umstände aufzuzeigen, nach denen entschieden werden kann, ob im zu beurteilenden Fall eine Ehegatteninnengesellschaft anzunehmen ist. So hat er, um einen für die Annahme eines gesellschaftsrechtlichen Verhältnisses notwendigen besonderen Gesellschaftszweck in derartigen Fällen feststellen zu können, grundsätzlich verlangt, daß die Ehegatten sich bei ihrer Zusammenarbeit in den Dienst einer gemeinsamen, über den typischen Rahmen der eigentlichen ehelichen Lebensgemeinschaft hinausgehenden Aufgabe stellten 4 . Dabei hat er allerdings kein Hindernis darin gesehen, daß die Ehegatten durch die beiderseitige Arbeit und Hingabe von Vermögen zum Aufbau und Betrieb des Erwerbsgeschäftes in der Hand eines von ihnen letztlich nur den Familienunterhalt sichern wollten 5 . Neben dem bereits in der Ausgangsent-

Urteil vom 25. 3. 1954 - LM § 705 BGB Nr. 5. So schon Fischer aaO; BGHZ 31, 197, 201; Urteile vom 24. 4. 1961 - FamRZ 1961, 431,432; 29. 5.1974 - WM 1974, 947, 948; 9.10. 1974 - FamRZ 1975, 35, 36 f. s BGHZ 47,157,163. 3 4

Zum Vermögensausgleich nach gescheiterter Ehe

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Scheidung herausgestellten Erfordernis, daß die von dem Ehegatten geleistete Mitarbeit selbständig und gleichgeordnet ausgestaltet sein müsse, hat der Bundesgerichtshof aus § 1356 Abs. 2 BGB a. F. als weiteres Abgrenzungskriterium die Üblichkeit der Mitarbeit nach den Verhältnissen der jeweiligen Lebensgemeinschaft abgeleitet und von der Annahme einer Ehegatteninnengesellschaft grundsätzlich abgesehen, wenn die Mitarbeit nicht über dieses Maß der Üblichkeit hinausging 6 . Nach der Aufhebung des § 1356 Abs. 2 BGB in der zuletzt geltenden früheren Fassung durch das im Jahre 1977 in Kraft getretene l . E h e rechtsreformgesetz kann dem zuletzt genannten Umstand der Üblichkeit der Mitarbeit diese Bedeutung nicht mehr beigemessen werden 7 . Vielmehr kann der Frage der Mitarbeitspflicht, die sich seit der Rechtsänderung nur noch aus der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 BGB) sowie aus der Verpflichtung zum Familienunterhalt (§ 1360 BGB) ergeben kann, nur insoweit indizielle Bedeutung für das Vorliegen einer konkludenten Innengesellschaft zukommen, als die Freiheit der ausgeübten Mitarbeit von einer familienrechtlichen Verpflichtung die Annahme der Ehegattengesellschaft zu befördern geeignet ist. Die übrigen Kriterien haben dem Bundesgerichtshof auch in neuerer Zeit weiterhin zur Abgrenzung der Ehegatteninnengesellschaft gedient8. Das gilt insbesondere auch für das grundsätzliche Erfordernis eines über die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft hinausgehenden Zweckes. Zwar hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß Zweck des Zusammenschlusses von Ehegatten zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts auch (allein) der Erwerb und das Halten eines nur für die Familie bestimmten Heimes sein kann 9 . Von einem gesellschaftsrechtlichen Zusammenschluß allein zu diesem Zweck kann nach dieser Rechtsprechung indessen nur bei einer entsprechenden ausdrücklichen Vereinbarung der Ehegatten ausgegangen werden. Fehlt es daran, so mangelt es in Fällen, in denen die Beiträge eines Ehegatten - wie bei Leistungen zum Erwerb oder Ausbau eines Familienheims - nur der Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft dienen, an hinreichenden Indizien für die Annahme einer konkludenten Ehegatteninnengesellschaft10.

6 BGHZ 8 aaO S. 252, 255; Urteile vom 24. 4. 1961 - aaO S. 432; 21. 9. 1961 - FamRZ 1961, 522; 9. 10. 1974 aaO S. 37. 7 Vgl. Gembuber FamRZ 1979, 193, 201; Brudermüller aaO Rdn. 36; MünchKomm/Ulmer BGB 2. Aufl. Rdn. 47 vor § 705 sowie auch BGHZ 127,48, 55. ! Vgl. Nonnenkamp/Zysk DRiZ 1990, 437, 441 und die dort angeführten Entscheidungen. ' BGH Beschluß vom 20. 5. 1981 - FamRZ 1982, 141, 142. 10 BGHZ 84, 361, 366 sowie Urteil vom 5.10.1988 - FamRZ 1989,147,148.

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Ausdrücklichen Vereinbarungen der Ehegatten in diesem Bereich kommt auch sonst stets der Vorrang zu. Mit ihnen darf die Annahme einer konkludenten Ehegatteninnengesellschaft nicht in Widerspruch stehen. Deshalb scheidet die Annahme einer Innengesellschaft aus, wenn zwischen den Ehegatten ein schriftlicher Anstellungsvertrag besteht, der einem Fremdvergleich standhält". Ebenso steht es der Annahme einer solchen Innengesellschaft entgegen, wenn die Ehegatten für den Fall der Scheidung etwas anderes als eine gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung vereinbart haben 12 . Ist die Mitarbeit im Rahmen einer stillschweigend begründeten Ehegatteninnengesellschaft geleistet worden, so führt das Scheitern der Ehe zur Auflösung der Gesellschaft". Dabei hat als Stichtag für die Auflösung der Zeitpunkt der Beendigung der Zusammenarbeit zu gelten 14 . Die anschließende Abwicklung erfolgt grundsätzlich nach den für Innengesellschaften maßgeblichen Grundsätzen 15 , wobei die Besonderheiten zu berücksichtigen sind, die sich aus dem Umstand ergeben, daß es sich um eine Gesellschaft unter Ehegatten handelt 16 . Der aus dem Geschäft oder Betrieb des anderen ausscheidende Ehegatte hat unmittelbar gegen jenen einen schuldrechtlichen Auseinandersetzungsanspruch auf Abrechnung und Auszahlung des Geldbetrages, der dem Wert der ihm wirtschaftlich zustehenden Beteiligung an dem „gemeinschaftlichen" Vermögen entspricht 17 . Daß es regelmäßig an ausdrücklichen Absprachen über die Verteilung von Gewinn und Verlust fehlt, führt nicht ohne weiteres zu einer hälftigen Verteilung gemäß § 722 Abs. 1 BGB 18 . Vielmehr ist zunächst zu prüfen, ob sich insoweit aus den Umständen ausreichende Anhaltspunkte für eine (abweichende) Willensübereinstimmung der Ehegatten über ihre Anteile ergeben oder ob sich im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein (abweichender) Verteilungsmaßstab feststellen läßt. Dabei ist ein wesentliches Indiz f ü r eine

" BGH Urteil vom 26. 4. 1995 - FamRZ 1995, 1062, 1063 f. 12 BGH Urteil vom 8. 4. 1987 - FamRZ 1987, 907. 13 Vgl. BGHZ 47, 157, 164; Urteile vom 9. 10. 1974 aaO S. 37; 8. 4. 1987 - aaO S. 908; 14. 3. 1990 - FamRZ 1990, 973, 974. M BGH Urteil vom 9. 10. 1974 aaO; vgl. auch Urteil vom 14. 3. 1990 aaO. 15 Vgl. dazu MünchKomm/Ulmer aaO § 730 Rdn. 10 f. 16 BGHZ 31,197, 203; 47,157,164 f - zu der hier nicht zu erörterten Frage des Verhältnisses von Ehegatteninnengesellschaft und Zugewinngemeinschaft vgl. BGHZ 47 aaO S. 166 ff; Urteil vom 29. 5. 1974 - WM 1974, 947, 948; BGHZ 65, 320, 324 f; Urteil vom 29. 1. 1986 - FamRZ 1986, 558, 559 sowie auch BGHZ 84, 361, 368 f; ferner Soergel/Gaul BGB 12. Aufl. Rdn. 25 f vor § 1 4 0 8 - J o h a n n e n WM 1978, 654, 655 f; Schwab/Borth Handbuch des Scheidungsrechts 3. Aufl. IX Rdn. 32 ff. 17 BGH Urteil vom 9. 10. 1974 aaO. 18 Zur Frage der Verlustbeteiligung vgl. MünchKomm/ Ulmer aaO Rdn. 52 a. E. vor §705.

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abweichende Regelung, daß die Beiträge der Ehegatten unterschiedlich hoch sind19. 2. Bei der zweiten Fallgruppe der Vermögensmehrung eines Ehegatten aus Mitteln des anderen geht es in erster Linie um die sogenannten ehebezogenen (ehebedingten) unbenannten Zuwendungen, welche Ehegatten einander während der Ehe machen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der den Begriff der unbenannten Zuwendung in seiner Entscheidung vom 7. Januar 197220 aufgegriffen und in der Folge weiterentwickelt hat21, sind derartige Zuwendungen nicht als Schenkungen im Sinne der §§ 516 ff BGB zu qualifizieren. Auch wenn sie in der Regel objektiv unentgeltlich sind22, werden sie gleichwohl nicht dem Recht der Schenkung unterstellt, weil es an der Einigkeit der Ehegatten über die Unentgeltlichkeit fehlt. Die Zuwendung soll nach der gemeinsamen Vorstellung der Ehegatten oder jedenfalls nach der für den Empfänger erkennbaren Vorstellung des Zuwendenden nicht zu einer einseitig begünstigenden, frei disponiblen, endgültigen Bereicherung des Empfängers führen, sondern der ehelichen Lebensgemeinschaft dienen und zu ihrer Verwirklichung oder Ausgestaltung, Erhaltung oder Sicherung beitragen. Die somit um der Ehe willen erfolgte Zuwendung stellt keine „echte Freigiebigkeit" dar; vielmehr vertraut der Zuwendende, für den Empfänger erkennbar, darauf, daß die Ehegemeinschaft Bestand hat und ihm die Zuwendung letztlich nicht verloren geht, er vielmehr trotz der dinglichen Vermögensverschiebung die Möglichkeit behält, im Rahmen der Lebensgemeinschaft das Zugewendete ungestört und dauerhaft (mit-) zu nutzen und daran zu partizipieren 23 . Der Rechtsgrund einer solchen Zuwendung liegt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in einem im Gesetz nicht geregelten familienrechtlichen ehebezogenen Rechtsgeschäft eigener Art24. Auf der Grundlage dieses Vertrages erfolgt - in der Regel zugleich - der dingliche Zuwendungsakt 25 . Da der Zuwendung die Vorstellung oder Erwartung zugrunde liegt, daß die eheliche Lebensgemeinschaft Bestand haben wird, liegt im Scheitern der Ehe regelmäßig ein Wegfall der für den Zuwendungsvertrag maßgebenden Geschäftsgrundlage. Daraus

" Vgl. B G H Urteil vom 14. 3. 1990 aaO. N J W 1972, 580. 21 Vgl. B G H Z 116, 167, 169 m. w. N. 22 Vgl. dazu B G H Z 116 aaO S. 170 ff. 23 Vgl. B G H Urteile vom 17. 1. 1990 - FamRZ 1990, 600, 603 sowie neuestens vom 12. 4. 1995 - FamRZ 1995, 1060, 1061. 2< B G H Z 116 aaO S. 170; Urteile vom 17. 2. 1993 - FamRZ 1993, 1047; 12. 4. 1995 aaO. 25 Vgl. Jaeger DNotZ 1991, 431, 445 f; Johannsen/Henricb/Jaeger Eherecht 2. Aufl. § 1372 Rdn. 5 c; Schwab/Borth aaO Rdn. 62 f, je m. w. N. 20

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kann sich nach der Rechtsprechung aufgrund der Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 242 B G B ) ein Ausgleichsanspruch des zuwendenden Ehegatten ergeben, wenn ihm die Beibehaltung der herbeigeführten Vermögensverhältnisse nach Treu und Glauben nicht zugemutet werden kann 26 . Die Frage, ob und in welchem Maße der Zuwender Ausgleich verlangen kann, hängt, wie der Bundesgerichtshof ausgeführt hat, von den besonderen Umständen des Falles ab, die einer in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichteten Betrachtung unterliegen. Dabei können insbesondere zu berücksichtigen sein Art und Umfang der erbrachten Leistungen, die H ö h e der dadurch bedingten und noch vorhandenen Vermögensmehrung, die Dauer der Ehe, die Frage, wie lang und mit welchem Erfolg die Zuwendung ihrem Zweck gedient hat, ferner auch das Alter der Ehegatten und überhaupt ihre Vermögensund Einkommensverhältnisse sowie ihre künftigen Verdienstmöglichkeiten 27 . Ist hiernach ein Anspruch zu bejahen, so kommt regelmäßig lediglich ein Ausgleich in Geld in Betracht. Die (dingliche) Rückgewähr des zugewendeten Gegenstandes kann nur unter besonderen Umständen verlangt werden 28 . 3. Die dargelegten Abgrenzungskriterien für die durch schlüssiges Verhalten zustande gekommene Ehegatteninnengesellschaft, insbesondere das Erfordernis der selbständigen und gleichgeordneten Mitarbeit sowie die (praktische) Begrenzung auf Fälle eines über die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft hinausgehenden Gesellschaftszwecks haben dazu geführt, daß die neuere Rechtsprechung in der Anwendung des Rechtsinstituts zurückhaltend geworden ist und dieses damit in seiner Bedeutung für die Rechtspraxis zurückgetreten ist29. Andererseits hat der Bundesgerichtshof in Fällen der Vermögensmehrung eines Ehegatten durch Arbeitsleistungen des Ehepartners, in denen sich eine Ehegatteninnengesellschaft aus den genannten Gründen nicht feststellen ließ, auf die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage zurückgegriffen, um dem Ehegatten für die Arbeitsleistungen einen Ausgleich zu gewähren. Er hat zwar in diesen Fällen, in denen ein Ehemann über den

26 Vgl. etwa B G H Z 84, 361, 365, 368 f; Urteile vom 4. 11. 1 9 8 7 - F a m R Z 1988, 481; 4. 4. 1990 - FamRZ 1990, 855, 856; vgl. dort sowie insbesondere B G H Z 115, 132, 135 ff auch zu der - hier nicht zu erörternden - im Schrifttum umstrittenen Frage des Vorrangs der Ausgleichsregelung der Zugewinngemeinschaft. 27 Vgl. B G H Urteil vom 5. 7. 1974 - NJW 1974, 2045, 2046; B G H Z 84 aaO S. 368 f; Urteile vom 4. 11. 1987 - FamRZ 1988, 481; 15. 2. 1989 - FamRZ 1989, 599, 600 f; 4. 4. 1990 - FamRZ 1990, 855, 856; 2. 10. 1991 - FamRZ 1992, 293, 294. 28 B G H Z 68, 299, 304 ff; 82, 227, 236 f; Urteil vom 15. 2. 1989 aaO S. 600; vgl. auch B G H Z 115 aaO S. 138 f.

29

Vgl. Nonnenkamp/Zysk aaO S. 441.

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Umfang geschuldeter Beistandsleistungen weit hinausgehende Arbeitsleistungen in die Umbauarbeiten an dem der Ehefrau gehörenden Familienwohnheim investiert hatte30 oder eine Ehefrau, gleichfalls über die eheliche Beistandspflicht hinaus, viele Jahre im Betrieb des Ehepartners in untergeordneter Funktion ohne Entlohnung mitgearbeitet hatte31, begrifflich eine ehebezogene Zuwendung verneint, weil darunter nur die Übertragung von Vermögenssubstanz falle. Er hat jedoch jeweils in dem Verhalten der Ehegatten den konkludenten Abschluß eines besonderen familienrechtlichen Vertrages gesehen, aufgrund dessen die Arbeitsleistungen erbracht worden seien. Die Geschäftsgrundlage dieses Vertrages sei durch das Scheitern der Ehe entfallen, was - wie bei den ehebezogenen Zuwendungen - nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu einem Ausgleichsanspruch führen könne, wenn die Aufrechterhaltung des Vermögensstandes für den Ehegatten, der die Leistungen ohne eigene Vermögensmehrung erbracht habe, unzumutbar sei. Der Bundesgerichtshof hat für die Bemessung des Ausgleichsanspruch darauf abgestellt, was als billiger Ausgleich für den Wegfall der vereinbarten wirtschaftlichen Beteiligung an dem Vermögenserwerb und der Mitnutzung der Früchte der Mitarbeit anzusetzen sei, und ausgeführt, daß dabei auch die durch die Arbeitsleistung ersparten Arbeitskosten berücksichtigt werden könnten. Die Höhe dieser ersparten Kosten sowie des Betrages, um den das Vermögen des Ehepartners beim Wegfall der Geschäftsgrundlage noch vermehrt gewesen sei, bilde zugleich die Obergrenze des Ausgleichs, der damit insoweit den Charakter einer Erfolgsvergütung aufweise 32 . 4. Im Schrifttum hat diese Rechtsprechung unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Soweit es die Zubilligung von Ausgleichsansprüchen an den mitarbeitenden Ehegatten betrifft, hat das Ergebnis weitgehende Zustimmung erfahren. Das gilt einmal für das Ergebnis, zu dem der Bundesgerichtshof unter Verwendung des Instituts der Ehegatteninnengesellschaft gelangt ist33. Insoweit wird die Rechtsprechung teilweise als wegweisend bezeichnet und dahin kommentiert, daß sie in vorbildlicher Weise den Gleichberechtigungsgrundsatz verwirkliche und dem Wesen der eheB G H Z 84,361. B G H Z 127, 48. 32 B G H Z 84 aaO S. 368 f; 127 aaO, S. 56 f. 33 Vgl. etwa Lieb, Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand S. 150 m. w. N . Fn. 90 sowie aus neuerer Zeit Hausmann, Nichteheliche Lebensgemeinschaft und Vermögensausgleich S. 227 m. w. N . Fn. 149. 30

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liehen Lebensgemeinschaft auch für die vermögensrechtlichen Verhältnisse Rechnung trage. Ihre Grundsätze könnten in allen zuvor in ihrer rechtlichen Beurteilung als besonders ungerecht empfundenen Fällen der Mitarbeit der Frau im Betrieb oder Geschäft des Mannes verwertet oder gar auf die Durchschnittsehe schlechthin angewendet werden und den Richter zu einer gerechten und lebensnahen Entscheidung führen 34 . Kritische und ablehnende Stimmen haben sich jedoch gegen die dogmatische Begründung gerichtet und geltend gemacht, daß die Rechtsprechung das rechtsgeschäftliche Element des Vertragsschlusses vernachlässige. Die Bejahung von Innengesellschaften in derartigen Fällen beruhe auf Billigkeitserwägungen, die die Annahme eines konkludenten Vertragsschlusses vielfach zur Fiktion werden ließen35. Auch die Vertreter dieser Auffassung haben freilich keine (anderen) Sachverhaltselemente aufgezeigt, aus denen sich ein rechtsgeschäftlicher Wille nach ihrem Verständnis „real" nachweisen ließe. Vielmehr gehen sie - unter Abkehr von jeder rechtsgeschäftlichen Konstruktion - davon aus, daß weder das Familienrecht noch das Schuldrecht eine passende unmittelbar anwendbare Ausgleichsordnung für die Vermögensinteressen mitarbeitender Ehegatten bereithalten und diese Regelungslücke durch einen auf § 1353 BGB gestützten Ausgleichsanspruch 36 oder - so überwiegend - durch entsprechende Anwendung der für die Innengesellschaft geltenden Ausgleichsordnung zu schließen sei37. Letzteres dürfte im Ergebnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gleichkommen. Auch mit den Ergebnissen der Rechtsprechung zu den sonstigen, nicht als Innengesellschaft zu qualifizierenden Fällen von nicht besonders entgoltener Arbeitsleistung, die über das familienrechtlich gebotene Maß hinausgeht, besteht an sich weitgehend Einverständnis 38 . Kritisch wird allerdings - ähnlich wie bei der gesellschaftsrechtlichen Lösung die Annahme eines durch schlüssiges Verhalten zustande gekommenen Vertrages als Grundlage der Arbeitsleistung beurteilt 39 . Vor allem aber 34 Vgl. Krüger DRiZ 1953, 82, 84 sowie N J W 1953, 1090, 1091; Scheffler DRiZ 1953, 85, 88. 35 Vgl. etwa MünchKomm/t//mer aaO Rdn. 48 vor § 705 m. w. N. Fn. 119 sowie zuletzt Hausmann aaO S. 226 ff m. w. N . 36 So insbesondere Gernhuber FamRZ 1958, 243, 246 f, in FamRZ 1979, 193, 201 ff und Familienrecht seit 3. Aufl. § 20 III 7 nicht mehr aufrechterhalten; Staudinger/Hübner BGB 12. Aufl. § 1356 Rdn. 46 m. w. N . 37 So vor allem Lieb aaO S. 185 ff; Henrich FamRZ 1975, 533, 535 f, MünchKomm/ Ulmer aaO Rdn. 51 f m. w. N.; vgl. auch Hausmann aaO S. 562 ff. 38 Vgl. die Nachweise B G H Z 127 aaO S. 51 f sowie zuletzt Derleder FuR 1994, 303 f; v. Heintschel-Heinegg JA 1995, 95; Hausmann ZEV 1995, 129, 131; a. A. Tiedtke D N o t Z 1983, 161, 168 f. w Vgl. die Nachweise B G H Z 127 aaO sowie auch Gernhuber EWiR § 1353 BGB 1/94, 978.

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wird die Rechtsprechung zum Ausgleich von Leistungen der Ehegatten nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage generell, sowohl im Falle von Arbeitsleistungen als auch im Falle von ehebezogenen gegenständlichen Zuwendungen, dahin kritisiert, daß sie eine „schlecht berechenbare Billigkeitsjustiz" eröffne, welche die Grenzen einer Anpassung nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage überschreite und zur „völligen Aufgabe der Rechtssicherheit" führe, so daß kein Rechtskundiger den Ehegatten sagen könne, ob die Gerichte dem zuwendenden Ehegatten einen Ausgleich zubilligten und worauf dieser gegebenenfalls gerichtet sei40. 5. Wie das Gesetz mit der weitgehend schematischen und starren Regelung des güterrechtlichen Ausgleichs bei gesetzlichem Güterstande deutlich macht 41 , ist der Entwicklung und Wahrung sicheren und berechenbaren Rechts für den Rechtsschutz der Rechtsuchenden gerade auch in diesem Bereich erhebliche Bedeutung beizumessen. Deshalb kommt der wiedergegebenen Kritik an der Rechtsprechung erhebliches Gewicht zu. Freilich hängt die Schwierigkeit der Prognose für einen von den Ehegatten angestrebten Vermögensausgleich nicht selten auch mit den Unsicherheiten der zu beurteilenden Sachverhalte zusammen, geht es doch häufig um die rechtliche Bewältigung von Lebensvorgängen, die nicht nur lange Zeit zurückliegen, sondern auch dadurch gekennzeichnet sind, daß die Beteiligten nur geringe Sorgfalt auf die rechtliche Ausgestaltung und Absicherung verwendet haben. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten werden jedoch nachhaltig erhöht, wenn für den Ausgleich, je nach dem Vertragsverhältnis, das der Vermögensmehrung zugrundeliegt, unterschiedliche Lösungswege in Betracht kommen und je nach dem, ob die Vermögensmehrung aus gemeinsamer Tätigkeit in Form einer konkludenten Innengesellschaft resultiert oder ob sie auf sonstiger Mitarbeit oder auf gegenständlichen Zuwendungen beruht, ein vertraglicher Auseinandersetzungsanspruch nach den Vorschriften des Gesellschaftsrechts zu bejahen ist oder ob sich nur ein Ausgleichsanspruch nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage ergeben kann, der in Grund und Höhe von der Unzumutbarkeit der Beibehaltung der herbeigeführten Vermögensverhältnisse abhängig ist. Die Zwangsläufigkeit und innere Berechtigung dieser Unterschiedlichkeit, mit der der Ausgleich in den verschiedenen Fällen einseitiger Vermögensmehrung methodisch bewältigt wird, erscheinen problematisch. 40 Vgl. insbesondere Gemhuber/Coester-Waltjen Familienrecht 4. Aufl. § 19 V 5, S. 210 f; Staudinger/B. Thiele B G B 13. Aufl. Rdn. 21 vor § 1414; Tiedtke aaO S. 165 sowie auch Hepting, Ehevereinbarungen S. 162 ff. 41 Vgl. dazu etwa B G H Urteile vom 1. 12. 1976 - FamRZ 1977, 124, 125; 29. 10. 1981 FamRZ 1982, 148.

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Vor allem stellt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, dem Rechtsbehelf des Wegfalls der Geschäftsgrundlage und der daran anknüpfenden Vertragsanpassung nach § 242 B G B einen derart weiten Anwendungsbereich zu eröffnen, wie es in der Rechtspraxis inzwischen geschieht, um in derartigen Fällen zu einem sachgerechten Ausgleich zu kommen. Dagegen spricht, daß das Instrument des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, wie Lieb ausführt, seinem Zuschnitt nach ein Hilfsmittel zur angemessenen Bewältigung außerordentlicher Einzelfallsituationen ist42. Aus diesem Grunde erachtet er es trotz der Sachähnlichkeit, die er insoweit zwischen dem Ausgleich von gegenständlichen Zuwendungen und dem Ausgleich von Arbeitsleistungen sieht43, für methodisch unzulässig, ein generelles Problem wie das des Ausgleichs von Ehegattenmitarbeit mit Hilfe der Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu lösen44. Dieses Bedenken trifft indessen in gleicher Weise zu, wenn es um die Anwendung dieses Instruments zur Bewältigung des Ausgleichs bei gegenständlichen Zuwendungen sowie bei der „Zuwendung" von Arbeitskraft in dem inzwischen praktizierten Umfang geht. Hinzu kommt, daß es sich bei dem auf solche Weise aus § 242 B G B abgeleiteten Anspruch um einen solchen sekundärer Art handelt45. Im Vordergrund muß insbesondere die Frage stehen, ob sich aus dem der jeweiligen Zuwendung zugrundeliegenden Vertrag selbst - außer der Rechtsgrundabrede - Rechtsfolgen für einen Ausgleich der Leistungen ableiten lassen. Es bedarf der Auslegung des konkreten familienrechtlichen Vertrages unter Berücksichtigung des jeweiligen mit der Zuwendung von den Ehegatten verfolgten Zwecks46 und der Prüfung, ob der Vertrag mit dem Zuwendungsakt seine vollständige Erfüllung erfahren oder ob er ein Dauerrechtsverhältnis begründet hat. Letzteres kommt nicht nur im Falle von Ehegattenmitarbeit in Betracht; vielmehr steht es auch in Fällen sonstiger Vermögensmehrung in Frage, wenn Ehegatten im Rahmen der ehelichen Lebensgemeinschaft Arbeitskraft und/oder Vermögen in der Absicht einsetzen, Vermögenswerte zu schaffen oder zu erwerben, die auch bei formal-dinglicher Zuordnung zum Alleinvermögen eines Ehegatten nach ihrer Vorstellung wirtschaftlich beiden gehören sollen. Der Bundesgerichtshof hat derartige familienrechtliche Verträge, die nach seinem Verständnis der Ehegatteninnengesellschaft nicht diesem Rechtsinstitut zuzurechnen waren, weil die Mitarbeit des AaO S. 130 f; ebenso Hausmann aaO S. 572. AaO S. 118. 44 AaO S. 131. 45 Johannsen WM 1978, 654, 656. 46 Zu den einzelnen spezifischen Zwecken derartiger Zuwendungen und den daraus abzuleitenden Fallgruppen vgl. Johannsen/Henrich/'Jaeger aaO § 1372 Rdn. 5 c; Jaeger DNotZ 1991,431,463 ff. 42

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Ehegatten nicht das Maß des „Zumutbaren" überstieg47, die Tätigkeitsgemeinschaft nicht über die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft hinausging48 oder es sich nicht um eine selbständige und gleichgeordnete Mitarbeit handelte49, zuletzt in Anlehnung an Gernhuber50 als familienrechtliche Kooperationsverträge bezeichnet51. Bei derartigen Rechtsverhältnissen, die wie andere Dauerrechtsverhältnisse aus wichtigem Grunde durch einseitige Handlung beendet und damit von den Ehegatten jedenfalls beim Scheitern der Ehe zu Ende gebracht werden können, stehen für den Ausgleich der als wirtschaftlich gemeinsames Eigentum behandelten Vermögenswerte außer den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage weitere Lösungswege zur Verfügung, die jenem Instrument vorgehen dürften. Lassen sich einem stillschweigend zustande gekommenen Kooperationsvertrag, wie zumeist, keine Abmachungen der Ehegatten über die Auseinandersetzung bei gescheiterter Ehe entnehmen, so kommt zunächst die Ermittlung entsprechender Abwicklungsregeln im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§ 157 BGB) in Betracht52. Für nichteheliche Lebensgemeinschaften hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß in vergleichbaren Fällen beabsichtigter gemeinschaftlicher Wertschöpfung ein Ausgleichsanspruch analog §§ 730 ff BGB in Frage kommt53. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Rechtspraxis einen derartigen Ausgleichsanspruch, den der Bundesgerichtshof auch bereits in einem Fall in den Blick genommen hat, in dem Verlobte im Rahmen eines Kooperationsvertrages Sach- und Arbeitsleistungen zur Errichtung eines Familienheims für die später geschlossene Ehe erbracht hatten54, auch im Falle ehebezogener Kooperationsverträge zwischen Ehegatten für anwendbar und geeignet erachtet, die zu Recht beklagte Rechtsunsicherheit und Erschwernis der Prognostizierbarkeit einzuschränken, die sich vor allem beim Ausgleich von Vermögensmehrungen mit Hilfe der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage und - wenn auch möglicherweise in geringerem Umfang - im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung55 ergeben. Im Schrifttum wird ein derartiger Ausgleich in analoger Anwendung gesellschaftsrechtlicher Grundsätze auch für ehebezogene Urteil vom 25. 9.1972 - FamRZ 1973,22, 24. " B G H Z 84,361, 366 f. 49 B G H Z 127,48. 50 Vgl. Gernhuber/CoesterWaltjen aaO § 18 III 6, § 19 V 6, § 20 III 7. 51 B G H Z 115, 261, 265; 127 aaO S. 53. 52 Gernhuber/Coester-Waltjen aaO § 19 V 6. 53 B G H Z 84, 388, 390 f; Urteile vom 4. 11. 1991 - B G H R BGB § 705 Lebensgemeinschaft 1; 1. 2. 1993 - EzFamR BGB § 705 Nr. 7. 54 B G H Z 115,261,264. 55 Vgl. jedoch Nicklisch BB 1980, 949. 47

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Kooperationsverträge nachdrücklich befürwortet und auch gegenüber einem Ausgleich im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung bevorzugt. Es wird vertreten, ein Ausgleich unter Anwendung der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage sei nur für den Fall geboten, daß der Ehegatte mit seiner Zuwendung oder sonstigen Leistung an den Ehepartner ohne die Absicht gemeinsamer Wertschöpfung bewußt dessen Vermögen vermehre56. Ob einer derartigen Einschränkung der Anwendung des Instituts in diesem Bereich zu folgen ist, bedarf noch der Prüfung.

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Hausmann aaO S. 566 ff sowie ZEV 1995, 129, 131.

Das Tierische in der höchstrichterlichen Rechtsprechung DAGMAR COESTER-WALTJEN

I. Problemfeld Nach einer Befürchtung Friedrich Nietzsches betrachten Tiere „den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren h a t , D i e s e Äußerung und damit das Bild der Menschen aus der Sicht der Tiere wären sicherlich ein interessantes Thema. Wäre dann etwa die strafrechtliche Abteilung des B G H - wie nach den Vorstellungen Grandvilles - mit einem Storch und mehreren Raben (alle aber als Wesen ohne den gesunden Tierverstand) besetzt2 oder müßte man sich den Jubilar als hofhaltenden Löwen vorstellen, der auf die Ränke des Reinecke Fuchs hereinfällt3? Nein, diese Bilder passen nicht! Nicht der B G H aus der Sicht der Tiere, sondern die Tiere aus der Sicht des B G H (und des RG) sollen Gegenstand dieser Betrachtung sein. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob die eingangs erwähnte Äußerung Nietzsches auch spiegelbildlich verwandt werden könnte, daß nämlich die Menschen das Tier als ein Wesen ihresgleichen betrachten, das in höchst gefährlicher Weise gesunden Menschenverstand verloren hat. Die erste Hälfte dieser Aussage spielt in der weit über juristische Aspekte hinausgehenden Diskussion um die Mitgeschöpflichkeit der Tiere eine Rolle4. Juristisch schlägt sich dies vor allem in Fragen des Tierschutzes nieder5, aber auch zivilrechtlich kann die Mitgeschöpflich1 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe, Hrsg. Colli/Montinari) Band 3, S. 534. 2 Grandville, Bilder aus dem Staats- und Familienleben der Thiere, Paris 1842, Kapitel: Criminaljustiz der Thiere: „... die Richter, Advocaten und die meisten Geschworenen wurden aus der Familie der Raben gewählt... Ihre schwarze Farbe giebt ihnen jenes ernste Aussehen, das so vortrefflich die Dummheit verdeckt und den Unwissenden imponirt...". 3 Goethe, Reinecke Fuchs, Cotta, Stuttgart 1846 (nach Johann Christoph Gottsched [1752]). 4 Vgl. z. B. Brandt, Schöpfungsfriede als Verheißung, Lutherische Monatshefte 1992, 445; Stellungnahme eines Gesprächskreises der V E L K D , Tier und Mensch, in Lutherische Monatshefte 1992, 447 und in Deutsches Tierärzteblatt 1992, 906. 5 Vgl. BVerfG v. 20. 6. 1994, N V w Z 1994, 894; dazu Kluge, N V w Z 1994, 869 - Es ging um die verfassungsmäßige Vereinbarkeit der Beschränkung von Tierversuchen (an Wirbeltieren) mit der Wissenschaftsfreiheit.

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keit Bedeutung erlangen. So hindert diese beispielsweise nach Ansicht des L G Stuttgart 6 die Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts nach § 273 B G B an Zuchthunden. Der Gesetzgeber hat diese Überlegungen sogar zum Anlaß genommen, die Tiere aus der das B G B bisher beherrschenden Dichotomie Personen/Sachen auszugliedern und in eine dritte Kategorie einzuordnen, auf die allerdings die Vorschriften über Sachen entsprechende Anwendung finden (§ 90 a BGB) 7 . Der B G H hat sich mit diesen Problemen auf zivilrechtlicher Ebene bisher noch nicht beschäftigen müssen und hat offensichtlich auch keine Schwierigkeiten mit der entsprechenden Anwendung der sachenrechtlichen Regelungen 8 . Wie dem auch sei, die Entwicklungen im Zivilrecht 9 führen sicherlich nicht zurück zum Anthropomorphismus der Frühantike 10 . Die - mit Unterbrechungen bis in das 19. Jahrhundert hineinreichenden - Prozesse mit Tieren als Parteien, die vor allem zu Bestrafungen, aber auch zu Belohnungen führen konnten", gehören der Vergangenheit an, und wenn auch das Verwaltungsrecht in diesem Fahrwasser der Entwicklung bleibt, ist das Bild vom Esel mit Staatspension der Fabel vorbehalten 12 . Des weiteren ist abzusehen, daß auch künftig - selbst wenn Tiere keine Sachen sind - ein wesentlicher Schwerpunkt der sich mit Tieren beschäftigenden Rechtsprechung im Sachenrecht liegen wird. Dies ist weniger darauf zurückzuführen, daß der Gesetzgeber des B G B von Vom 22. 5. 1990, NJW-RR 1991, 446. Vgl. Mühe, NJW 1990, 2238; Lorz, MDR 1990, 1057; K. Schmidt, JZ 1989, 790; zur strafrechtlichen Problematik dieser Gesetzesänderung: Küpper, JZ 1993, 435; zu der fast identischen Neuregelung des österreichischen Rechts (§ 285 a ABGB) vgl. GimpelHinteregger, ÖJZ 1989,65. 8 Zu Unrecht dieses problematisierend: J. Braun, JuS 1993, 758. ' Im Tierschutzbereich mag die Frage der Subjektstellung des Tieres die Diskussion sehr viel stärker beschäftigen, vgl. hierzu grundlegend Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2 (sämtliche Werke Band 2, Hrsg. E. Griesebach) 3. Auflage 1922, S. 236 - gegen Kant, der den Tierschutz nicht aus der Subjektfähigkeit der (vernunftlosen) Tiere, sondern aus der sittlichen Pflicht des Menschen herleiten will, vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Teil 2: Metaphysische Anfangskunde der Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 17 (Werke, Band IV, Hrsg. Weischedel, Insel 1956) S. 578. 10 Vgl. Düll, Zum Anthropomorphismus im antiken Recht, in: ZRG RA Band 64 (1944) S. 348 ff. 11 Vgl. dazu mit ausführlichen Nachweisen: Sellert, Das Tier in der abendländischen Rechtsauffassung, in: Studium Generale, Mensch und Tier, Tierärztliche Hochschule Hannover, WS 1982/83; K. v. Amira, Thierstrafen und Thierprozesse, in: Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Band 12, Heft 4, 1891; als Beispiel auch: Julian Barnes, (Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln, 1989, Kapitel: Die Religionskriege), der den Prozeß gegen Holzwürmer schildert, die ein Bein des Bischofsthrons (und das Dachgebälk über dem Altarraum) angenagt haben. 12 Plutarch berichtet von einem Maulesel, der Staatspension erhielt, weil er beim Bau des Parthenon eine führende Rolle unter den Lasttieren eingenommen hat (Moralia, Band 6, [Hrsg. C. Hubert 1954]) Kap. 13, 970, B S. 38. 6 7

Das Tierische in der höchstrichterlichen Rechtsprechung

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1900 im Sachenrecht über Tiere einige sehr dezidierte Regelungen getroffen hat13, denn diese Vorschriften schaffen - mangels großer praktischer Bedeutung - heute kaum Probleme14. Vielmehr ergibt sich dies daraus, daß die auch so sensibel gewordene menschliche Natur sich an vielem Natürlichen stört - wie beispielsweise an den Fröschen, Bienen, Tauben, Katzen oder Mäusen des Nachbarn. Daher beschäftigt insbesondere das Nachbarrecht die Gerichte stark (dazu näher unten II). Ein anderer Schwerpunkt der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Auseinandersetzung mit Tierischem wird sicherlich auch in Zukunft bei den Fragen der Tierhalterhaftung liegen. Hier spielt es eine Rolle, ob dem Tier nach dem obigen Definitionsmodell „in höchst gefährlicher Weise der gesunde Menschenverstand" fehlt. Zwar wird die philosophische Komponente vernachlässigt werden dürfen15, die Definition der spezifischen Tiergefahr muß sich jedoch als bestandsfest erweisen (dazu näher unter III). Auch außerhalb dieser beiden Schwerpunkte haben Tiere bisher den höchsten Richtern Gelegenheit gegeben, menschlichen Verstand einzusetzen und vernünftige Entscheidungen zu fällen. Auf einige dieser durch Tiere veranlaßten Marksteine der Rechtsprechung soll ebenfalls ein Blick geworfen werden (unten IV).

II. Das Tier im Nachbarrecht des BGB 1.

Unterscheidungen

Ob bei den durch Tiere des Nachbarn verursachten Störungen ein Unterlassungs- oder Schadensersatzanspruch nach § 1004 BGB bzw. nach § 823 I oder II BGB 1 6 gegeben ist, hängt davon ab, ob eine rechtswidrige Störung17 vorliegt oder ob den Anspruchsteller eine Duldungs-

" Vgl. § 9 6 0 (wilde, gefangene und gezähmte Tiere), §§ 9 6 1 - 9 6 4 (Bienenschwärme). " Siehe aber immerhin L G Bonn, N J W 1993, 940 (entflogener Falke) mit zwei Besprechungen: Avenarius, N J W 1993, 2589; Brehm/Berger, ]uS 1994, 14; ebenfalls selten haben sich die Gerichte mit Tieren als Fruchten des Muttertiers (§ 99 B G B ) und dem Eigentumserwerb an denselben (§§ 953 ff B G B ) auseinanderzusetzen gehabt. 15 Vgl. hierzu vor allem Kant, der die Tiere als vernunftlose Wesen einstuft - und sie damit als Träger von Rechten und Pflichten ausscheidet (Kant, Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt (Werke, Band IV S. 349)), während Schopenhauer (Die Welt als Wille und V o r stellung, Zur Lehre von der ausdauernden oder Verstandeserkenntnis Band 3, S. 2 5 4 ) ihnen grundsätzlich Verstand und auch Vernunft zubilligt. " Z u m Anspruch aus § 833 B G B unten III. 17 Vgl. hierzu die Diskussion bei Zustandsstörungen: Staudinger/Gursky, arbeitung, § 1004 Rdn. 159 m. w. N .

B G B , 13. Be-

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pflicht18 trifft. Für die Duldungspflicht spielen neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen und vertraglichen Vereinbarungen (die in den hier in Betracht kommenden Streitfällen in der Regel nicht gegeben sein werden) die Regelung des § 906 B G B und die von der Rechtsprechung entwickelte Pflicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis eine Rolle. Rechtsprechung und Literatur unterscheiden dabei danach, ob es sich um sog. Kleinstkörper (wie z. B. Bienen und Fliegen) oder um „normale" Tiere (praktisch vom Kaninchen an aufwärts) handelt. Erstere gelten als Immissionen im Sinne des § 906 B G B , für die sich aus § 906 I, II 1 B G B eine Duldungspflicht ergeben kann; letztere sind - soweit es um die Tiere selbst geht - sogenannte Grobimmissionen, für die keine Duldungspflicht aus § 906 B G B , evtl. aber aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis hergeleitet werden kann. Auch die „normalen" Tiere können allerdings Rechtsfragen nach § 906 B G B auslösen, wenn die Störung des Nachbarn auf Ausstrahlungen dieser Tiere - wie z. B. auf Geräuschen oder Gerüchen - beruht. 2. Immissionen im Sinne des § 906 BGB a) Die Einordnung von Kleinsttieren als Immissionen im Sinne von § 906 B G B kann jedenfalls seit B G H Z 117, 110 als gesicherte Rechtsprechung angesehen werden, der auch die Literatur zustimmt. In der genannten Entscheidung, die sich - wie bereits B G H Z 16, 366 und R G Z 141, 407 - mit dem Bienenflug beschäftigt, stützt sich der B G H vor allem auf zwei Argumente: Zum einen darauf, daß der in der Erörterung der Immissionen häufig benutzte Begriff der Imponderabilien im Gesetzestext nicht vorkomme und auch die vom Gesetz gewählten Beispiele nicht nur unwägbare Einwirkungen umfaßten. Zum anderen sollen die vom § 906 B G B erfaßten Immissionen dadurch gekennzeichnet sein, daß sie in ihrer „Ausbreitung weitgehend unkontrollierbar und unbeherrschbar sind" und „in ihrer Intensität schwanken", so daß die Beeinträchtigung anderer Grundstücke auf einer Skala von Null bis wesentlich denkbar ist19. Das Reichsgericht hielt dagegen in R G Z 141, 407 neben dem erstgenannten Grund die Nützlichkeit der Bienen für ausschlaggebend20. Die18 Zum Streit, ob nur § 906 II BGB eine Einwendung gegen den Unterlassungsanspruch ist, § 906 I BGB aber bereits das Vorliegen einer Eigentumsbeeinträchtigung ausschließt: Staudinger/Roth, BGB, 12. Auflage, § 906 Rdn. 3 m. w. N. " Im Anschluß an Jauernig, J Z 1986, 608. 20 R G Z 141, 407, 409: „denn die Bienenzucht bringt, ... notwendig ein Eindringen von Bienen in fremde Grundstücke mit sich. Wollte man den Bienenzüchter den Schutz des § 906 versagen, so wäre eine Sachgemäße Bienenzucht so gut wie ausgeschlossen, da die Anwendung des § 226 BGB zugunsten des Bienenzüchters nur selten in Frage käme. Bei der Bedeutung der Bienenzucht für die Volkswirtschaft kann aber eine solche Auffassung nicht der Absicht des Gesetzes entsprechen."

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ses Argument erwies sich allerdings insofern als problematisch, als in dem in R G Z 160, 381 zu entscheidenden Fall des Eindringens von Fliegen das Auftreten derselben nicht als nützlich, „sondern im Gegenteil (als) lästig und schädlich" empfunden wurde. Das Gericht hielt aber auch die Fliegen für Immissionen im Sinne des § 906 BGB, weil sie unvermeidbar mit der (nützlichen) Viehhaltung (Schafszucht) verbunden sei. Dabei betonte es jedoch des weiteren die tatsächliche Undurchführbar keit einer völligen Fernhaltung der Fliegen und legte damit den Grundstein für eine rationalere Argumentation. Denn während die an die tierische Natur anknüpfende Frage der Unbeherrschbarkeit relativ objektiven Kriterien unterliegt, ist das Kriterium der Nützlichkeit (für wen?) insbesondere, wenn es nicht einmal auf die störenden Tiere selbst bezogen wird - eher subjektiv geprägt und dem Wertewandel stark unterworfen. Tiere sind danach Immissionen im Sinne des § 906 B G B , wenn sie klein und unbeherrschbar, nicht wenn sie klein und nützlich sind21. In der Rechtsprechung spielen dabei immer wieder Bienen eine Rolle 22 . Außer den bereits oben erwähnten Fliegen23 ist die Immissionseigenschaft auch für die Langwanzen24 bejaht worden, während Tauben zwar eigentlich bereits wegen ihrer Größe aus dieser Kategorie ausscheiden müßten, von einigen Gerichten 25 und einem Teil der Literatur26 aber dennoch hierher gerechnet werden (teilweise allerdings, weil die Auswirkungen - Fluglärm, Exkremente - als Imponderabilien einzuordnen sind27). Anderen hingegen erscheinen die Täubchen als Grobimmissionen28. In diesem Streit bleibt dem B G H die Rolle der Friedenstaube29. 21 Das Kriterium der Nützlichkeit hätte dem OLG Köln (OLGZ 1992, 121) in der Entscheidung über die wohl eher Alpträume auslösenden Langwanzen sicherlich Schwierigkeiten bereitet; allerdings wäre bei einer Verneinung der Immissionseigenschaft eine Duldungspflicht ohne weiteres entfallen, da eine solche sicherlich nicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis folgt. 22 Vgl. neben den o. g. BGH- und RG-Entscheidungen: LG Amberg, NJW-RR 1988, 1359; LG Ellwangen, NJW 1985, 2339; LG Memmingen, NJW-RR 1987, 530; OLG Bamberg, NJW-RR 1992, 406; OLG Hamm, MDR 1989, 993. 23 RGZ 160,381. 24 OLG Köln, OLGZ 1992, 121; mit der Verneinung der Störereigenschaft des Grundstückseigentümers, von dessen Grundstück Wolläuse ausgingen, mag sich auch der BGH eine Laus in den Pelz gesetzt haben, vgl. BGH, NJW 1995, 2633. 25 OLG Düsseldorf, MDR 1968, 841; LG München, NJW-RR 1992, 446; OLG Düsseldorf, OLGZ 80,16. 26 Palandt/Bassenge, BGB, 54. Auflage, § 906 Rdn. 14; Stollwerk, ZMR 1993, 445; H. Lange, Sachenrecht, § 30 II Fn. 9. 27 OLG Düsseldorf, OLGZ 80,16. 28 Staudinger/Roth, § 906 Rdn. 111. 29 Ob Krähen und Möwen Immissionen im Sinne des § 906 BGB sind, hat der BGH offengelassen in BGH, NJW 1980, 770.

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Der Besuch von Nachbars Katze ist hingegen unstreitig keine Immission im Sinne des § 906 B G B . Dem Unterlassungsanspruch nach § 1004 I B G B kann also nicht eine Duldungspflicht nach § 906 entgegengesetzt werden. Allerdings ordnen viele Gerichte die Haltung einer Katze in einem Vorortviertel als einen aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zu duldenden Vorgang ein30, ohne allerdings immer dem Ausnahmecharakter dieser von der Rechtsprechung31 entwickelten Duldungspflicht durch eine dezidierte Interessenabwägung (insbesondere im Hinblick auf die Gelehrigkeit und mögliche Sauberkeit von Katzen) ausreichend Rechnung zu tragen32. b) Geht es nicht um den „Besuch" der Tiere selbst, sondern um Auswirkungen ihrer Haltung durch Immissionen auf Nachbargrundstücke, so stehen im Vordergrund der Nachbarstreitigkeiten Geräusche und Gerüche. Die Verursachung von Schatten durch Tiere hat - entgegen der Hervorhebung derartiger Prozesse in der Literatur33 - in der Rechtsprechung bisher keine Rolle gespielt. Dies liegt weniger daran, daß der Schatten sowohl als Gewinn34 als auch lästig empfunden werden kann35, sondern ist auf den von der herrschenden Meinung vorgenommenen Ausschluß negativer Immissionen aus dem Anwendungsbereich des § 906 zurückzuführen36. 3. Duldungspflichten und ihre Grenzen Was die Gerüche anbelangt, so hatte sich der B G H (in den veröffentlichten Entscheidungen) vor allem mit Schweinemast zu beschäftigen, deren Geruchsbelästigung (Mästerei in großem Umfang) jeweils für wesentlich und ortsunüblich gehalten wurde37. Interessanter ist die Rechtsprechung zur Belästigung durch Tiergeräusche. Vor allem Hähne38 und Hunde39 haben die Gerichte - allerdings

30 LG Oldenburg, N J W - R R 1986, 883; A G Rheinberg, N J W - R R 1992, 408; O L G Köln, N J W 1985, 2338; L G Augsburg, N J W 1985, 499 (mit zu Recht kritischer Anmerkung zur Begründung: Dieckmann, N J W 1985, 2311); nicht mehr zumutbar die Auswirkungen der Haltung von 17 Katzen: A G Dietz, N J W 1985, 2339. 31 B G H Z 2 8 , 110. 32 Vgl. z. B. A G Rheinberg, N J W - R R 1992,408. 33 Vgl. Dürrenmatt, Der Prozeß um des Esels Schatten (nach älteren Vorbildern). 34 So in dem o. g. Prozeß um des Esels Schatten nach Dürrenmatt. 35 Vgl. die Äußerung des Diogenes gegenüber Alexander dem Großen. 36 Vgl. B G H Z 88, 344 (Hochhaus schattet Funkwellen ab). 37 B G H Z 48, 31 (auch wenn herkömmliche Schweinehaltung ortsüblich war); B G H Z 67, 252 (mit Schwerpunkt auf der bedingten Untersagung der Schweinemast). " L G München, N J W - R R 1988, 205 (Hahnhaltung zwar ortsüblich, aber zu bestimmten Zeiten Lärmbelästigung durch schalldichtes Aufbewahren des Hahnes zu vermeiden); L G München, N J W - R R 1989, 1178 (Krähen eines Hahnes auch außerhalb der üblichen

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(soweit ersichtlich) unterhalb des B G H - beschäftigt 40 . Ein Tier, dessen „Gesang" auch in die höheren Sphären des B G H (wie zuvor schon des R G ) eindrang, ist der Frosch. Bei diesem Tier scheiden sich die Geister und es bestätigt sich die Volksweisheit „wat dem inen sin uhl ist dem annern sin Nachtigal". Während das Reichsgericht noch das Quaken von Fröschen problemlos als einen (möglicherweise) „das Maß des Gemeingewöhnlichen und Erträglichen" überschreitenden Gesang einordnete 41 , der durch die Trockenlegung des Teiches ohne weiteres beendet werden könnte, und den juristischen Sachverstand auf die Frage konzentrierte, ob der Eigentümer des Teichgrundstücks als Störer in Anspruch genommen werden kann 42 , zweifelte das O L G Schleswig 43 bereits die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung an, stützte sich vorwiegend aber auf die Ortsüblichkeit und die (aus Gründen des Naturschutzes) Unmöglichkeit von Abhilfemaßnahmen. Dabei betonte es v o r allem das geänderte Naturbewußtsein und die Tatsache, daß die natürliche Lebensheimat der Frösche nicht v o r den zivilisatorischen Einflüssen des aus Hausgrundstücken und Straßen bestehenden Wohngebietes ende. Der B G H , der sich mit den „Ingolstädter Fröschen" zu beschäftigen hatte, sah dies in einer Reihe von Punkten anders 44 . Diese Entscheidung, die viel Beachtung gefunden hat 45 , bezieht zu einer Reihe von Fragen des Nachbarschutzes Stellung: (1) zur Störereigenschaft, wenn die Beeinträchtigung Ruhezeiten nicht zu dulden, da Lärmschutzmaßnahmen möglich); LG Ingolstadt, NJWRR 1991, 654 (Haltung von bis zu zwei Hähnen ortsüblich, zu bestimmten Zeiten Lärmbelästigung durch schalldichte Aufbewahrung der Hähne zu vermeiden). 59 LG Darmstadt, DWW 1993, 19 (Bellstärke nicht ortsüblich und verhinderbar durch Haltung mit geringeren Bellreizen): OLG Hamm, MDR 1988, 966 (Hundegebell gehört zu den Geräuschen, die nach ihrer Art den unfreiwillig Hörenden in besonderem Maße beeinträchtigen): ebenso OLG Hamm, NJW-RR 1990, 335; OLG Stuttgart, NJW-RR 1986, 1141 (Hundezucht in Wohngebiet nicht ortsüblich; bezüglich Tenorierung abweichend von BGHZ 67, 252 - Schweinemast); OLG Nürnberg, NJW-RR 1991, 1230 (Bellen von bis zu zwölf Hunden nicht zu dulden); erst recht dürfte ein Konzert der Bremer Stadtmusikanten unerwünscht sein, vgl. OLG Hamm, MDR 1988, 966 (Hunde und Hähne nicht zu dulden, Tauben zumutbar; Esel und Katze fehlten). 40 Vgl. auch zum nächtlichen Gänsegeschnatter: RG Warn 17, 244; Schreien eines Pfaus ab drei Uhr morgens wesentliche Störung und nicht zu dulden: OLG Frankfurt, NJW-RR 1987,1166; nächtliches Geläute der Kuhglocken nicht unwesentlich und verhinderbar: AG Lindau, NJW-RR 1992,277. 41 So im Ergebnis auch: LG Lüneburg, NJW-RR 1986, 503; Staudinger/Roth, §906 Rdn. 132; offenlassend: LG Hanau, NJW 1985, 500 (Beseitigung des Froschlärms ohnehin aus Naturschutzgründen untersagt). 42 RG,JW 1910, 654. 45 NJW-RR 1986, 884. 44 BGHZ 120,239. 45 Vgl. Besprechung von Rehbinder, LM BGB § 823 Nr. 22 (5/1993); Schwabe, JR 1993, 240; Schwippert, EWiR 1993, 775; K. Schmidt, JuS 1993, 691; Winkler, JA 1993, 283; Wieweg, NJW 1993,2570; Hensen, ZIP 1993,163.

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i m Z u s a m m e n h a n g m i t N a t u r k r ä f t e n steht 4 6 , ( 2 ) z u r W e s e n t l i c h k e i t der Belästigung, die sich an der E r h e b l i c h k e i t n a c h d e m B u n d e s i m m i s s i o n s s c h u t z g e s e t z 4 7 u n d an d e n verständigen

D u r c h s c h n i t t s m e n s c h e n als B e -

u r t e i l u n g s p e r s o n orientiert 4 8 ; ( 3 ) z u r O r t s ü b l i c h k e i t , die sich n a c h ständiger R e c h t s p r e c h u n g d a n a c h richtet, o b in d e m betreffenden G e b i e t ähnliche E i n w i r k u n g e n a u c h auf andere G r u n d s t ü c k e üblich sind 4 9 ; ( 4 ) z u m Verhältnis des zivilrechtlichen A b w e h r a n s p r u c h s u n d d e r n a t u r s c h u t z r e c h t l i c h e n V e r b o t e eines Eingriffs in das B i o t o p s o w i e d e n d a z u g e h ö r i g e n B e f r e i u n g s m ö g l i c h k e i t e n 5 0 u n d schließlich ( 5 ) z u m S c h a d e n s e r s a t z - u n d z u m A u s g l e i c h s a n s p r u c h 5 1 . E i n i g e dieser P u n k t e h a b e n K r i -

46 Hier geht der BGH mit RG QW 1910, 654) und seiner bisherigen Rechtsprechung (BGHZ 90, 255 - Unkrautvernichtungsmittel im wild abfließenden Niederschlagswasser; BGHZ 106, 142 - in die Abwasserleitung eindringende Baumwurzeln - ) davon aus, daß der Grundstückseigentümer - selbst wenn die Beeinträchtigung im Zusammenhang mit Naturkräften steht - Störer ist, soweit die Beeinträchtigung wenigstens mittelbar auf seinen Willen zurückgeht. Die mittelbare Verursachung sah der B G H hier in der Anlage und Unterhaltung des Teiches. 47 Der BGH will damit eine Vereinheitlichung der zivilrechtlichen und öffentlichrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe erreichen (siehe bereits das Volksfestlärmurteil - BGHZ 111, 63), wobei den Richtwerten der VDI-Richtlinie 2058 und der LAI-Hinweise eine Indizwirkung zukommt; er bejaht auch - im Gegensatz zu O L G Schleswig, NJW-RR 1986, 884 - die Meßbarkeit der durch das Froschquaken verursachten Geräusche. 48 Diese bereits im Volksfestlärmurteil (BGHZ 111, 63) vorgenommene Orientierung an dem gemeinschaftsbezogenen (vgl. Erman/Hagen, BGB Band 2, 9. Auflage, § 906, Rdn. 3) Durchschnittsmenschen soll eine elastische, situationsgebundene Beurteilung erlauben (zustimmend Vieweg, NJW 1993, 2570, 2572); vom „normalen" Durchschnittsmenschen erwartet der BGH offensichtlich eine solche Einsichtigkeit nicht; oder wollte er damit eventuellen Ansinnen, die Wesentlichkeit durch Meinungsumfragen zu klären, entgegentreten? Auch rechtstatsächliche Erhebungen, wie sie eine Bild-Reporterin (Meine Nacht bei den Fröschen) im Fall des O L G Schleswig ungefragt vorgenommen hat, werden damit überflüssig - es sei denn, es handele sich um eine(n) verständige(n) Reporter(in). Trotz der eher unglücklichen Gegenüberstellung von „normal" und „verständig" erscheint das Anliegen aber berechtigt. 49 Vgl. dazu die oben geschilderten gegenteiligen Erwägungen des O L G Schleswig, NJW-RR 1986, 884, 886. 50 Der BGH schreibt dem Berufungsgericht die Einholung einer Behördenauskunft über die Befreiungsmöglichkeit, bei positiver Beurteilung der Befreiungsmöglichkeit eine Verurteilung unter dem Vorbehalt der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vor und legt dem Kläger nahe, die Verurteilung der Beklagten zur Stellung eines Befreiungsantrags ebenfalls zum Gegenstand der Klage zu machen. 51 Den Schadensersatz aus § 823 I BGB verneint der BGH mangels Verschuldens der Beklagten (sowohl bezüglich der bisherigen Unterlassung eines Antrags auf Ausnahmegenehmigung zur Beseitigung des Teiches als auch bezüglich der Voraussehbarkeit der Belästigung bei Anlegung des Teiches); den Ausgleichsanspruch versagt er, weil (auch bei Versagung der Ausnahmegenehmigung) eine § 906 II 2 B G B entsprechende Situation nicht gegeben sei; mangels Haltereigenschaft der Beklagten kam auch ein Anspruch aus § 833 S. 1 BGB nicht in Betracht, worauf der BGH aber nicht eingeht.

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tik hervorgerufen 52 , auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Es sei nur darauf hingewiesen, daß für den Fall der Versagung einer Ausnahmegenehmigung die vom B G H offen gelassene Frage zu beantworten wäre, ob die Beklagte dann überhaupt noch als Störerin in Betracht käme, weil sie einwenden könnte: „Die Geister, die ich rief, werd' ich nun nicht los" 53 . Verneinte man nämlich bereits die Störereigenschaft, so wären die etwas gewagten und wenig überzeugenden Ausführungen zum Nichtbestehen eines Ausgleichsanspruchs überflüssig. D a man jedoch allgemein die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Eingriff in das Biotop für wahrscheinlich hält54, wird wohl in Zukunft das Liebeslied der Frösche in deutschen Schlafzimmern nicht mehr geduldet werden müssen 55 . Insgesamt haben die Tiere die Rechtsprechung im Nachbarrecht also in ganz wesentlichen Punkten befruchtet. In der Frage, wann das Tierische auch vom lieben Nachbarn geduldet werden muß, ist zwar Entscheidungskriterium der Menschenverstand („vernünftiger Durchschnittsbürger"), die Richter zeigen aber ein hohes Maß an Kenntnis des tierischen Verhaltens. III. Die Tierhalterhaftung 1.

Problemkreise

Daß die Tierhalterhaftung nach § 833 S. 1 B G B und § 833 S. 2 B G B eine ganze Menagerie von Tieren in die Rechtsprechung gebracht hat56, entspricht der Erwartung. D a nach den Erfahrungen aus dem Nachbarrecht viele Hunde offensichtlich bellen, bellende Hunde aber bekanntlich nicht beißen, spielen dabei Hundebisse eine relativ unbedeutende

52 Die Argumente, die gegen die BGH-Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der Prävention künftiger Nachbarstreitigkeiten vorgebracht werden (Vieweg, NJW 1993, 2570, 2577; Hensen, ZIP 1993, 163), überzeugen allerdings wenig. " Goethe, Der Zauberlehrling, 1798. 54 Vieweg, NJW 1993, 2570, 2571; so auch der B G H aaO unter A I 2. " Eher sexistisch (und praktisch wohl auch kaum durchführbar) wirkt allerdings das Ansinnen des L G Lüneburg, NJW-RR 1986, 503 (zustimmend Staudinger/Roth, § 906 Rdn. 145) nur die Vertreibung der (allein Lärm verursachenden) männlichen Frösche zu verlangen. " Im Streit, ob auch Ungeziefer und Mikroorganismen zu den Tieren im Sinne des § 833 rechnen (befürwortend z. B. Deutsch, N J W 1976, 1137; ders., N J W 1990, 751; Medicus, Schuldrecht II, 6. Auflage, § 145 II 1; MünchKomm/A/erte«i, BGB, 2. Auflage, § 833 Rdn. 10; dagegen Larenz/Canaris, Schuldrecht II 2, 13. Auflage, § 84, II 1 a; Wolfgang Lorenz, Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 S. 1 BGB, Diss. Würzburg 1992, S. 172), hat der B G H bisher nicht Stellung genommen; bei der Ausbreitung von Viren prüft er jedenfalls nur §§ 823, 831 B G B (für den Träger) - B G H , NJW 1989, 2947.

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Rolle57, während die Pferde, auf deren Rücken so mancher sein Glück suchte, aber unversehens darunter58 oder bestenfalls daneben landete, Anlaß zu einer Reihe von Entscheidungen gegeben haben, die großes Allgemeininteresse hervorriefen. Die dort aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit § 833 S. 1 B G B beziehen sich vor allem auf das Problem des Haftungsausschlusses wegen Handelns auf eigene Gefahr59, vertraglicher Abbedingungen, bei Gefälligkeitsverhältnissen60, bei unentgeltlichen (vertraglichen) Überlassungen 61 , bei vorwiegend eigenem Interesse und bei Fehlen sozialen Zwangs62. Nur wenn eine über die normale Tiergefahr hinausgehende besondere Gefahr durch den Verletzten selbst übernommen wurde63 oder eine eindeutige Haftungsausschlußvereinbarung vorliegt, kann der Halter des Pferdes nicht in Anspruch genommen werden. Ansonsten aber ist die Rechtsprechung außerordentlich zurückhaltend in der Annahme eines Haftungsausschlusses oder auch nur einer Haftungsbeschränkung. Es liegt nicht ganz fern, daß die Gerichte diese strenge Haltung auch in dem Bewußtsein des Vorhandenseins einer hinter dem Halter des Pferdes stehenden, liquiden Versicherung einnehmen. Unter ökonomischen Aspekten erscheint das durchaus - jedenfalls in gewissen Grenzen - legitim64, da die Versicherungsprämie gerade bei Reittieren (im Gegensatz beispielsweise zu Hund und Katze) einen relativ unbedeutenden Teil der (ohnehin hohen) Haltungskosten ausmacht (Argument des sog. cheapest cost avoider). Aber auch wenn

57 Allerdings ist dem Deckakt eines Hundes eine für die Definition der Tiergefahr besonders wichtige Entscheidung zu verdanken (BGHZ 67, 129) vergleiche unten bei Fn. 73. 58 Zu Unrecht schließt das O L G Braunschweig (VersR 1983, 347) die Tierhalterhaftung aus, wenn die Verletzungen darauf beruhen, daß der Reiter unter ein stürzendes Pferd geraten ist, denn die Tiergefahr hat sich bereits in dem Sturz des Pferdes verwirklicht - so schon Mediais, Schuldrecht II, § 145 II 3. 59 Dazu reicht nach BGH, NJW 1974, 234 nicht bereits aus, daß der Reiter sich der Tiergefahr bewußt und freiwillig aussetzt; auch durch das eigene Interesse des Reiters am Reiten wird der Schutzzweck der Norm nicht verlassen: BGH, VersR 1992, 1145; BGH, NJW 1993, 2611 (im Ergebnis aber Mitverschulden der Reiterin bejaht und damit Haftung beschränkt auf zwei Drittel des Schadens); das KG (NJW-RR 1986, 326) sah allerdings bereits im selbständigen Ausreiten die Übernahme einer über das Normale hinausgehenden Gefahr. 60 Kein Ausschluß der deliktischen Haftung nach BGH, NJW 1992, 2474; obiter dictum zur Annahme eines Haftungsausschlusses neigend: BGH, NJW 1977, 2158. " Offengelassen in BGH, NJW 1977, 2158. 62 Haftungsausschluß abgelehnt in BGH, NJW 1977, 2158. 63 Hierher rechnet der B G H (NJW 1986, 2883) nicht den selbständigen Ausritt, aber beispielsweise (NJW 1974, 234) das Anliegen, dem Halter die eigene bessere Reitkunst zu zeigen. 64 Vgl. zur Versicherbarkeit als Zurechnungskriterium der Gefährdungshaftung, nicht jedoch als Zurechnungsgrund (insbesondere nicht bei der Verschuldenshaftung), Larenz/Canaris: § 84 I 2, § 76 III 4g.

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man der ökonomischen Analyse des Rechts skeptisch gegenübersteht, kann man wohl nicht die Augen davor verschließen, daß die Tatsache der praktisch immer vorhandenen Versicherung des Pferdehalters die Vorstellungen der Parteien über die Risikoverteilung beeinflußt. Außerdem ist die Haftung der Versicherung auf die „normale" Tiergefahr unabhängig von der Person des Verletzten eingestellt. Schließlich spielt in diesem Zusammenhang die Frage der Mitverursachung des Schadens durch den Verletzten eine große Rolle 65 . Bei § 833 S. 2 B G B steht im Mittelpunkt der Rechtsprechung die Frage, wann der Reitbetrieb der Erwerbstätigkeit dient66. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Anforderungen an den Entlastungsbeweis 67 . 2. Die Tiergefahr in § 833 S. 1 BGB A m interessantesten an der Tierhalterhaftung aber erscheint die Frage, wann von einer Schadensverursachung durch ein Tier ausgegangen werden kann. Die Standardformulierung lautet: dann, wenn sich die spezifische Tiergefahr verwirklicht hat. Darüber, wann dies der Fall ist, besteht keine Einigkeit. Die Rechtsprechung hat versucht, sich in dieser Frage in das Tierische hineinzudenken, wobei „Vermenschlichungen" und Verkennungen der biologischen Gegebenheiten nicht immer vermieden wurden. So sprach das Reichsgericht von der Tiergefahr als „einem gefährlichen Ausbruch der tierischen N a t u r " , „einer von keinem vernünftigen Wollen geleiteten Entfaltung der tierisch-organischen Kraft", „einer von der selbständigen Entwicklung einer nach Wirkung und Richtung unberechenbaren tierischen Energie" 6 8 - und verneinte für

" O b bei der Frage des Mitverschuldens die Beweislastregelung des § 834 B G B entsprechend angewandt werden kann (also vermutetes Mitverschulden des Reiters), ließ der B G H in N J W 1992, 2611 offen, während er diese Möglichkeit in N J W 1992, 2474 bejahte. 66 Vgl. dazu B G H , N J W - R R 1992, 981; in B G H , N J W 1986, 2501 (und auch bereits B G H , N J W - R R , 572) bejahte der B G H die Erwerbstätigkeit, wenn der Verein die Pferde vereinsfremden Personen gegen Entgelt überläßt (anders die Vorinstanz: O L G Düsseldorf, N J W - R R 1986, 325, die sich darauf berief, daß trotz Vermietung die Haltung von Luxustieren nicht der Allgemeinheit diene und damit nicht den privilegierten Betrieben vergleichbar sei) - mit der Folge, daß dann gegenüber dem Geschädigten die Exculpationsmöglichkeit besteht. Hierin ist ein kaum zu erklärender Gegensatz zur Haftung des K f z Halters zu sehen, der gerade bei entgeltlicher Beförderung (daß der Bezugspunkt der Entgeltlichkeit hier etwas anders gelagert ist, wird nicht übersehen) auch gegenüber den Insassen haftet (§ 8 a StVG). Der B G H geht nicht darauf ein, daß der dem § 833 S. 2 B G B zugrundeliegende Gedanke eigentlich nicht zu einem Reitverein paßt). Daß der Haftungsausschluß des § 8 a StVG gegenüber unentgeltlichen „Benutzern" auf die Tierhalterhaftung nicht entsprechend anwendbar ist, betonte der B G H in N J W 1992, 2474. 67 B G H , N J W - R R 1992, 981; vgl. beispielsweise für Einzäunungsanforderungen bei einer Rindviehweide: O L G Köln, VersR 1993, 616. " R G Z 80, 237, 239.

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das (eine Krankheitsübertragung auslösende) Beschnüffeln (von Pferden) die Verwirklichung der Tiergefahr, weil selbiges eine „ungefährliche Bewegung und Gefühlsäußerung der Tiere" sei. Auch die Ausscheidungen von Bienen (die das zum Trocknen ausgelegte Leder verdarben) wurden nicht als Verwirklichung der Tiergefahr eingeordnet, weil dieser Vorgang gerade nicht „ein von keinem vernünftigen Wollen geleitetes willkürliches Verhalten der Tiere, das sich gerade als Ausfluß der gefährlichen tierischen Natur darstelle" sei69. Das Stechen der Bienen hingegen sah das Reichsgericht als ein ihrer tierischen Natur entsprechendes, selbsttätiges und willkürliches Verhalten an70. Daß die Bienen durch die Ausdünstungen schwitzender Pferde zum Stechen angereizt worden waren, berücksichtigte es bei der Frage des Mitverschuldens71. Ist von Außen nicht nur ein Anreiz, sondern „physiologischer Zwang" gegeben (Beispiel: Fesseln eines zu kastrierenden Hengstes)72, so werden tierische Gegenbewegungen wiederum nicht als Verwirklichung der Tiergefahr eingeordnet. Der B G H übernahm diese Formulierung zunächst weitgehend73, bis er dann 1976 im Streit um einen (von den Menschen ungewollten) Deckakt bei Hunden diese Äußerungen in dem Sinne auslegte, daß sie nicht auf einen Willensakt des Tieres abstellten, sondern eigentlich die tierische Unberechenbarkeit beträfen74. Damit war auch das natürliche Verhalten der Tiere, das die Vorinstanz 75 nicht als Verwirklichung der Tiergefahr ansehen wollte, von der Haftung nach § 833 S. 1 B G B mitumfaßt76. O b nun aber die „Unberechenbarkeit" des Tierverhaltens das richtige Kriterium zur Definition der spezifischen Tiergefahr ist, wird zu Recht in der Literatur bezweifelt77, denn eine Reihe tierischer Verhaltensweisen, die zu Verletzungen führen, sind gerade nicht (abstrakt) unberechenbar (wie z. B. das Ausschlagen des Pferdes oder der Biß des

" RGZ 141,407. 70 RGZ 158, 388. 71 Vgl. auch B G H Z 67, 129 - der Anreiz, den die läufige Hündin auf den zum Deckakt schreitenden Rüden ausübte, wurde der anspruchstellenden Eigentümerin der Hündin als Mitverschulden angerechnet. 72 RGZ 69, 399. 73 Vgl. BGH, VersR 1959, 853; BGH, VersR 1966, 1073. 74 B G H Z 6 7 , 1 2 9 , 1 3 3 . 75 Wie zuvor schon eine Reihe von Obergerichten, vgl. O L G Düsseldorf, VersR 1956, 226; O L G München, O L G Z 1971,404. 76 Auch insofern und nicht nur im Hinblick auf die Aufgabe des „tierischen Willens" liegt ein Wandel der Rechtsprechung vor; hierzu deutlich: Seiler, Festschrift Zeuner, 1994, S. 286; Wolfgang Lorenz, Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 S. 1 BGB S. 107. 77 Deutsch, N J W 1978, 1999; W. Schünemann, JuS 1978, 376, 377; Medicus, Schuldrecht II, § 145 II 3; MünchKomm/A/erfe«*, § 833 Rdn. 13; Larenz/Canaris, § 84 II 1 d.

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Hundes). Insbesondere diese Verhaltensweisen waren für den Gesetzgeber der Anlaß, dem Tierhalter die Gefährdungshaftung aufzuerlegen78. In der Literatur wird daher zu Recht unter Berücksichtigung der Funktion der Tierhalterhaftung zunehmend die Ansicht vertreten, daß die spezifische Tiergefahr durch jedes Verhalten eines Tieres - sei es an sich harmlos oder nicht, „natürlich" oder gesteuert, artspezifisch oder unberechenbar - verwirklicht werde79, weil nur so der Risikozurechnung der Gefährdungshaftung Rechnung getragen werden kann. Auch der Halter des „gefräßigen Zirkusschweines", das die Böden seiner Transportfahrzeuge auffraß80, wäre damit jedenfalls grundsätzlich dem Anspruch aus § 833 S. 1 BGB ausgesetzt. Etwas anderes ist nur dann anzunehmen, wenn das Tier „ausschließlich als tote Masse"81 wirkt oder ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Dagegen sind die Verletzungen, die durch ein der Steuerung des Menschen unterliegendes Tier verursacht werden, - unbeschadet der Haftung des steuernden Menschen nach § 823 BGB - ebenfalls als Verwirklichung der Tiergefahr anzusehen82. Fehlerhafte Verhaltensweisen des Verletzten werden nicht schon beim Schutzzweck der Norm oder der Definition der Tiergefahr, sondern bei der Frage des Mitverschuldens oder sonstiger Haftungsausschlußgründe berücksichtigt. Die für den Verletzungserfolg ursächlichen Handlungen Dritter können sich bei den konkurrierenden Ansprüchen aus § 823 BGB gegen den Dritten und aus § 833 BGB gegen den Tierhalter über die Norm des § 840 III BGB im Innenverhältnis der Haftenden zugunsten einer Freistellung des Tierhalters auswirken83. Bedeutet dies nun aber, daß (entgegen der Rechtsprechung von RG und BGH) die durch die Ausscheidungen von Bienen verursachten Schäden an Leder84 oder Blumen eines Gärtners85 vom Imker zu ersetzen sind? Da der BGH seit 1976 auch im natürlichen Verhalten eine Tierge78 Zum wechselhaften Schicksal der Entwürfe des BGB vgl. Schubert, Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, Schuldrecht, Band III, 1980, S. 176-197; Mugdan, Die gesetzlichen Materialien zum BGB, Band II, 1899, S. 1123-1125; Seiler, Festschrift Zeuner, S. 279, 281. 79 MünchKomm/Aferteni, § 833 Rdn. 13 ff; Larenz/Canaris, § 24 II 1 d; wohl auch Medicus, Schuldrecht II, § 145 II 3. !0 Dazu OLG Düsseldorf, NJW 1995, 891 (beschränkt auf die Frage einer vertraglichen Inanspruchnahme eines Dritten, der nicht Vertragspartner des Frachtvertrages und auch nicht Halter des Tieres war). " MünchKomm/Afertens, § 833 Rdn. 13. 82 MünchKommAtferte«*, § 833 Rdn. 16; Deutsch, NJW 1978, 1999, 2000; etwas stärker einschränkend Wolfgang Lorenz, Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 S. 1 BGB, S. 173 ff. 85 Vgl. auch Wolfgang Lorenz, Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 S. 1 BGB, S. 174 ff, S. 229 ff. 8< RGZ 141, 407. 8S BGHZ117.110.

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fahr sieht, konnte er sich in dem letztgenannten, ihm zur Entscheidung vorliegenden Fall nicht auf die Begründung des Reichsgerichts, das dies als ein nicht willentliches Verhalten einordnete, stützen. Er ließ jedoch die Frage offen, ob das von der Vorinstanz als artspezifisch (und damit als nicht die Tierhalterhaftung auslösend) eingestufte Verhalten „unberechenbar" im Sinne seiner bisherigen Rechtsprechung zur Verwirklichung der Tiergefahr war, sondern schied eine Tierhalterhaftung wegen fehlender objektiver Rechtswidrigkeit aus. Canaris hat zurecht darauf hingewiesen, daß die Rechtswidrigkeitsprüfung (nach bisher auch herrschender Meinung) bei der Gefährdungshaftung verfehlt ist86, da sich das Rechtswidrigkeitsurteil nur auf die Handlung, nicht auf die Rechtsgutverletzung bezieht (und zwar auch nach der Lehre vom Erfolgsunrecht). Die dem B G H zustimmenden Ausführungen Seilers*7, die den Verletzungstatbestand für die Rechtswidrigkeit in den Vordergrund schieben, sind - wie die Entscheidung des B G H - mit der bisherigen Dogmatik der (im einzelnen sehr umstrittenen) Rechtwidrigkeitslehre nicht zu vereinbaren. Seiler übersieht, daß der Eingriff in die Rechtsgüter des anderen nicht durch den Tierhalter erfolgt, ein zu mißbilligendes Verhalten desselben also nicht vorliegt. Im Ergebnis ist allerdings die Verneinung einer Haftung des Imkers im oben beschriebenen Fall richtig, denn der Gärtner war - wie auch der B G H sieht - zur Duldung der Einwirkungen der Bienen nach § 906 BGB verpflichtet 88 . Diese Duldungspflicht beseitigt aber nicht - wie es der B G H will - eine (gar nicht geforderte) Rechtswidrigkeit, sondern stellt einen Haftungsausschlußgrund dar. Wenn der Geschädigte die von einem Tier ausgehenden Einwirkungen, d. h. auch die Verletzungen seines Eigentums, seines Körpers, seiner Gesundheit von Rechts wegen dulden muß89, dann ist dadurch zwar nicht die Tiergefahr beseitigt, aber die verschuldensunabhängige Haftung des Halters ausgeschlossen. Der finanzielle Ausgleich für diese Duldungspflicht findet im Zivilrecht allein nach § 906 II 2 BGB und dem von der Rechtsprechung in Ergänzung dazu entwickelten nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch statt. Das gleiche muß gelten, wenn sich die Pflicht zur Duldung der Einwirkung aus dem nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis ergibt. Die Annahme eines derartigen Haftungsausschlußgrundes ist mit dem möglichen Nebeneinander einer Haftung aus § 906 II 2 BGB und § 823 BGB vereinbar, denn die Regelung des § 906 BGB steht einer verschuldensabhängigen Haftung nach § 823 BGB (oder einem ähnlichen 86

Larenz/Canaris, § 84 II 1 d. Festschrift Zeuner, S. 292. " So schon Larenz/Canaris, § 84 II 1 d. " So schon Latenz/Canaris, § 84 II 1 d. 87

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Tatbestand) nicht im Wege. A u c h die Versagung eines allgemeinen Haftungsauschlusses bei vertraglicher Beziehung zwischen Tierhalter und Geschädigtem steht dem Haftungsausschluß bei einer Duldungspflicht nach § 906 (oder aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis) nicht entgegen. Hat der Geschädigte durch vertragliche Vereinbarung mit dem Halter ein Tier übernommen, so hat er zwar die Gegenwart des Tieres nicht nur (von Rechts wegen) zu dulden, sondern diese sogar freiwillig übernommen. Dennoch kann daraus nicht automatisch ein Haftungsausschluß gefolgert werden, denn die freiwillige Übernahme bezieht sich in der Regel nur auf das Tier als solches und die damit vorhandene Gefahrenquelle, nicht aber auf die (schädigende) Einwirkung des Tieres auf seinen Körper, Gesundheit und Eigentum. Die durch § 906 erzwungene Duldung erstreckt sich hingegen auf die Einwirkung selbst (daher ist die Erheblichkeit der Einwirkung bei der Frage der Duldungspflicht zu berücksichtigen). Die Rechtsprechung verneint daher zu Recht nur in den Fällen, in denen beispielsweise der Reiter eine besondere Tiergefahr übernimmt, eine Haftung des Tierhalters gegenüber dem verletzten Vertragspartner 9 0 . O b im Einzelfall die Abgrenzung des übernommenen Risikos richtig erfolgt, ist eine andere Frage. Mit der Definition der spezifischen Tiergefahr hat diese Frage jedoch nichts zu tun 91 . K o m m t es demnach f ü r den Ausschluß der Tierhalterhaftung auf das Bestehen einer Duldungspflicht an, so ist f ü r diesen Haftungsausschlußgrund genau zu ermitteln, gegenüber welchen Einwirkungen des Tieres 90 Dogmatisch verankert der BGH (in NJW 1986, 2883) diesen Gesichtspunkt aber nicht als einen der Einwilligung vergleichbaren Haftungsausschluß, sondern als Begrenzung des Normzwecks; zu den verschiedenen dogmatischen Verankerungsversuchen mit dem Plädoyer für den Schutzzweck der Norm: Bohlen, Haftungsausschluß durch bewußte Selbstgefährdung, Diss. München 1994, S. 66 ff, 192 ff. " Zur Berücksichtigung der Tiergefahr bei dem vom Tiereigentümer geltend gemachten Schadensersatzanspruch gegen Dritte vgl. den sog. Schweinezuchtfall (BGH, NJW 1991, 2568; von Bar EWiR § 7 StVG [1/91] S. 1015), in dem die Haftung des KfZ-Halters aus § 7 StVG für die infolge der Unfallgeräusche verletzten Schweine wegen fehlenden Zurechnungszusammenhangs (Schweinezucht als eigene Gefahrenquelle) verneint wurde; das RG (RGZ 158, 38) verneinte im Silberfuchsfall, in dem der Eigentümer der Silberfuchsfarm Ersatz für die infolge von Fluglärm gestorbenen Silberfüchse von dem Luftverkehrsunternehmen verlangte, eine Berücksichtigung der Tiergefahr unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens sowie wegen § 27 II LuftVerG, eine entsprechende Anwendung des § 840 III BGB; es prüfte vielmehr, ob eine Tiergefahr im Sinne des § 833 S. 1 BGB vorgelegen habe (allerdings unpassend, weil kein Dritter geschädigt wurde). Neben der Verschuldenshaftung eines Schädigers wird hingegen zu Recht die mitwirkende Tiergefahr in entsprechender Anwendung des § 840 III BGB für unbeachtlich gehalten: BGH, NJW-RR 1995, 215 (Tod eines Rennpferdes durch sorgfaltswidrig abgestellten Pkw); so bereits auch OLG Hamm, NJW-RR 1990, 794 (Tod von Rindern infolge unsorgfältiger Ablagerung von Gartenabfall).

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eine Duldungspflicht besteht. Der Nachbar mag zwar aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis heraus den Besuch einer Katze auf dem Grundstück dulden müssen, er muß sich aber deswegen nicht automatisch von der Katze sein Abendessen wegessen oder seine Möbel zerkratzen lassen (mag das Verhalten der Katze auch noch so „natürlich" sein), es ist vielmehr zu prüfen, ob gerade diese Einwirkungen über das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis oder § 906 B G B zu dulden sind. Während die Zerstörungen der Katze in der Regel nicht hingenommen werden müssen, mag für die zerstörerischen Wirkungen der Bienenausscheidungen mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung anderes gelten. Auf diese Weise läßt sich eine konsequente Abstufung erreichen zwischen (1) ausgleichsloser Duldungspflicht, (2) Duldungspflicht mit Ausgleichsanspruch und (3) Schadensersatz aus Gefährdungshaftung bei Nichtbestehen einer Duldungspflicht. Ein möglicher Schadensersatzanspruch aus Verschuldenshaftung bleibt in allen Fällen unberührt. Im Bereich des Tierischen ergibt sich damit eine besondere Verzahnung zwischen Nachbarrecht und deliktischer Schadensersatzhaftung. Die Definition der „besonderen Tiergefahr" hat demgegenüber keine entscheidende Bedeutung, weil praktisch jedes tierische Verhalten eine solche Gefahr darstellt. Im Ergebnis entspricht dies durchaus im wesentlichen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wenngleich in den Entscheidungsbegründungen die Beschäftigung mit dem spezifisch Tierischen häufig im Vordergrund zu stehen scheint. IV. Tiere in klassischen Entscheidungen Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die für Auslegung und Fortbildung des Rechts bedeutenden höchstrichterlichen Entscheidungen, in denen Tiere eine Rolle spielen, geworfen werden. Als erstes ist dabei an die bereits dem jungen Juristen bald vertraute Entscheidung des Reichsgerichts zum Haakjöringsköd-Fall 92 zu denken. Der Haifisch hat nicht nur die Frage der Einigung, sondern auch den Fehlerbegriff des Gewährleistungsrechts ganz wesentlich beeinflußt. Die Zahl derer, die wahrscheinlich in hypothetischer Übereinstimmung mit dem Haifisch selbst - Haifischfleisch" nicht für schlechtes Walfleisch halten, ist im Laufe der Zeit gering geworden, der subjektiv (-objektive) Fehlerbegriff hat sich durchgesetzt. Hühner und Pferde waren Opfer in Fällen, die der höchstrichterlichen Rechtsprechung Gelegenheit gaben, zur positiven Forderungsver-

92

R 6299, 147.

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letzung 93 und zur deliktischen Produzentenhaftung 94 (und zwar insbesondere unter Beweislastgesichtspunkten) Stellung zu nehmen. Opfer waren auch die Jungbullen, die zunächst gestohlen und dann zu Konserven verarbeitet wurden. In ihrem Fall konnte der B G H überzeugend darlegen, daß § 951 B G B eine Rechtsgrundverweisung auf § 812 ff B G B auslöst und gestohlenes Gut, das (außerhalb von § 935 II B G B ) nicht gutgläubig erworben werden kann, nicht durch Verarbeitung kondiktionsfest in das Eigentum des Verarbeiters übergeht 95 . V. Schlußbetrachtung Wie immer es mit dem tierischen Verstand aussehen mag, jedenfalls haben die Tiere - und nur das sollten diese Ausführungen belegen ganz wesentlich zu einer (zumindest überwiegend) vernünftigen Auslegung und Fortbildung des Rechts beigetragen. Dabei kann man von den Bienen sagen, daß sie mit den zahlreichen, sie betreffenden Entscheidungen die Richter zu „Bienenfleiß" anhielten96, während die Frösche mit ihrem Gequake viel Resonanz hervorriefen 97 . Die Pferde treten dort ins Bild, wo es um die Risikoverteilung geht98, die Schnecke schiebt sich nur langsam (allerdings von viel Aufmerksamkeit begleitet) in dieses hinein und hat die höchstrichterliche Rechtsprechung 99 noch nicht erreicht100. Gleiches gilt für die Käfer, die - allerdings bereits in präparierter Form auf dem Vormarsch sind101. Die Jungbullen haben schließlich mit ihrem ganzen Gewicht (wenngleich auch in Konservendosen) dazu beigetragen, das Grundverhältnis von §§ 951/812 B G B zu klären. Das spezifisch Tierische spielte dabei nicht immer eine Rolle, es zeigt sich aber den-

Pferdefutterfall-RGZ 66, 289. H ü h n e r p e s t f a l l - B G H Z 51,91. 95 B G H Z 55,176. * Vgl. oben II 2 a; III 2. 97 Vgl. oben bei Fn. 43 ff. 98 Vgl. oben III 1,2; IV Fn. 91. 99 Auch in England konnte sie diese nicht lebend erreichen, sondern war erst halbverwest als „snail in a ginger ale bottle" richtungsweisend für die Delikts- und Produkthaftung des englischen Rechts (vgl. Doneghue v. Stevenson, [1932] A. C . 562). 100 Vgl. aber A G Burgwedel, N J W 1986, 2647 (mit Fragen der Gewährleistung und der Rückabwicklung bei zusammen gekauften Sachen); dazu E. Wolf, N J W 1987, 821; Teichmann, J A 1987, 65; Rabe, N J W 1988, 2584; Ramrath, AcP 189 (1989) 559; Jauch, JuS 1990, 706. Die mit Perle servierte Auster hingegen wird wohl auch in Zukunft nur Lehrbuchbeispiel bleiben, vgl. Martinek, JuS 1991, 710; F. Mußgnug, JuS 1992, 88. 101 Fragen der Testamentsauslegung auslösend, vgl. Süddeutssche Zeitung vom 18.5. 1995. S. 3 „Die verlorene Ehre der Koleopterologen - Nach Jahren unerbittlichen Streits von Käferexperten muß nun der Bundesgerichtshof entscheiden, wo die drei Millionen Krabbeltiere ihre letzte Ruhestätte finden". 95 94

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noch, daß der BGH - auch wenn man ihm vorgeworfen hat, die Froschperspektive vermissen zu lassen102 - eine gute Portion „Tierverstand"103 gezeigt hat. Wenn die Tiere so dächten, wie Nietzsche es fürchtete, würden sie dem BGH also Unrecht tun.

102 103

Hensen, ZIP 1993, 163. Im Sinne des Verständnisses für Tiere.

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I. Die These Oderskys Walter Oderskys Amtszeit als Präsident des Bundesgerichtshofes war geprägt von dem historischen Ereignis der Wiedervereinigung Deutschlands. Einen tiefschürfenden Beitrag zu dieser Thematik hat er am 16. März 1992 vor der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe durch seinen Vortrag „Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts"1 geleistet. Dabei hat er „bestimmten Vorschriften, die den Schein des Rechts in Anspruch nehmen", die Wirkung eines strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes abgesprochen, weil sie gegen vorgegebenes, auch dem staatlichen Gesetzgeber nicht zur Disposition stehendes, also übergesetzliches, Recht verstießen. Eine Begründung der Unwirksamkeit unmittelbar aus dem Grundgesetz hat er dagegen abgelehnt, weil unsere Verfassung auf das Recht eines arideren Staate? nicht angewendet werden könne2. So einleuchtend diese These auch ist,' sie hat es nicht leicht, sich „in seinem Hause" auch bei den Zivilsenaten des BGH durchzusetzen. Dieser Prozeß soll hier skizzenhaft nachgezeichnet und ansatzweise gewürdigt werden. II. Problemstellung und Abgrenzung des Themas Bei der Anwendung von Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR, ist zwischen denjenigen Bestimmungen zu unterscheiden, die als Bundesoder Landesrecht rezipiert wurden3, und denjenigen, die zwar längstens bis zum Beitritt am 3. Oktober 1990 gegolten haben, aber aufgrund des intertemporalen Kollisionsrechts4 auf zurückliegende Sachverhalte („Altfälle") noch immer anzuwenden sind5. Soweit Vorschriften der ehemaligen DDR seit dem Beitritt fortgelten, sind sie durch den Einigungsvertrag fiktiv in den Willen des Bundes- oder Landesgesetzgebers aufgenommen worden. Deshalb sind sie seither am Grundgesetz zu messen Veröffentlicht in Band 204 der Schriftenreihe der juristischen Studiengesellschaft. AaO, S. 15 (unter Hinweis auf einige abweichende Instanzurteile). 3 Art. 9 EinV i. V. m. Anlage II des Einigungsvertrages. 4 Sedes materiae sind die durch den Einigungsvertrag eingefügten Art. 230-236 EGBGB. 5 Vgl. hierzu etwa Oetker, JZ 1992, 608, 609 ff; Drobnig, DtZ 1994, 86 ff. 1

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und, soweit möglich und nötig, verfassungskonform auszulegen. Bei der Frage, ob und inwieweit dies nötig ist, muß allerdings der schon in der D D R vorausgegangene Wertewandel berücksichtig werden, der im 1. Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 zur Wäbrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Gestalt gewonnen hat und durch das Verfassungsgrundsätzegesetz vom 17. Juni 1990 mit Verfassungsrang ausgestattet worden ist6. In den „Grundsätzen" des 1. Staatsvertrages 7 haben sich beide Vertragsparteien zur „freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung" bekannt und vereinbart, daß entgegenstehende Vorschriften der Verfassung der D D R über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung nicht mehr angewandt werden. Zur Konkretisierung ist im „Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze" bestimmt worden, daß u. a. die Grundsätze der sozialistischen Gesetzlichkeit und der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung sowie das sozialistische Rechtsbewußtsein, die sozialistischen Anschauungen, die sozialistische Moral oder ähnliche Begriffe nicht mehr verbindlich sind; die Rechte und Pflichten der Teilnehmer am Rechtsverkehr finden danach vielmehr ihre Schranken an den guten Sitten, dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Schutz des wirtschaftlich Schwächeren vor unangemessener Benachteiligung; fortbestehendes Recht ist „gemäß diesen Grund- und Leitsätzen auszulegen und anzuwenden" 8 . Die Frage nach der Verfassungskonformität fortgeltenden „DDR-Rechts" stellt sich also nur, soweit nicht schon durch die vorangegangene Umorientierung des DDR-Rechts an den Grundwerten des Rechts der Bundesrepublik die Ubereinstimmung mit dem Grundgesetz hergestellt worden sein sollte9; insoweit aber stellt sie sich grundsätzlich wie bei genuin bundesrepublikanischem Recht10. Die folgende Untersuchung beschränkt sich deshalb auf die „DDR-Altfälle". Sie erstreckt sich auf das Schuld vertragsrecht 11 , das Deliktsrecht 12 und das Familienrecht 13 .

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Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes (GBl. D D R I, 299). Art. 2 aaO. 8 Art. 4 Abs. 1 Halbs. 2 des 1. StaatsV. ' Anschauungsbeispiele für die Umgestaltung der DDR-Rechtsordnung durch die Bildung der Währungs- und Wirtschaftsunion bieten das Urteil des VIII. Zivilsenats vom 14. 10. 1992 - VIII ZR 91/91 = BGHZ 120,11 und das Urteil des XII. Zivilsenats vom 9. 7. 1992 - XII ZR 113/91 = DtZ 1992, 329. 10 Allerdings bleibt der Vorbehalt des Art. 143 GG zu beachten. " Art. 232 § 1 EGBGB. 12 Art. 232 § 10 EGBGB. 1J Art. 234 EGBGB, bes. § 4 Abs. 5, § 5 und § 6 aaO. 7

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III. Der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts In seinem Bodenreform-Urteil vom 23. April 199114 hat der Erste Senat ausgeführt, die Enteignungen im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands könnten nicht dem Verantwortungsbereich der dem Grundgesetz verpflichteten Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden: Die Bundesrepublik habe sich zwar seit jeher im Sinne der Präambel des Grundgesetzes für das ganze Deutschland verantwortlich gefühlt, ihre Staatsgewalt habe sich aber nicht nur tatsächlich, sondern auch staatsrechtlich auf das damalige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland15 beschränkt. Eine Verantwortlichkeit im Sinne des Einstehenmüssens für etwaige aus ihrer Sicht rechtsoder verfassungswidrige Maßnahmen der deutschen Staatsgewalt in der sowjetisch besetzten Zone habe danach ebensowenig wie etwa gegenüber Maßnahmen ausländischer Staatsgewalten bestanden. Im übrigen könnten die Enteignungsmaßnahmen schon deshalb nicht am Grundgesetz gemessen werden, weil dieses zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht in Kraft gewesen sei. Nach der Rechtslage, die in den westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik bestanden habe, sei den Betroffenen ebenfalls keine Vermögenswerte, durchsetzbare Rechtsposition verblieben, denn nach deutschem internationalem Enteignungsrecht würden die Enteignungen eines fremden Staates einschließlich entschädigungsloser „Konfiskationen" grundsätzlich als wirksam angesehen, soweit dieser Staat innerhalb der Grenzen seiner Macht geblieben sei (Territorialitätsprinzip). Die Hinnahme fremder Enteignungen werde insoweit nur durch den Vorbehalt zugunsten des ordre public16 eingeschränkt. Die Entschädigungslosigkeit der Enteignung oder ein ihr sonst nach inländischer Gerechtigkeitsvorstellung anhaftender Makel reiche danach bei der Enteignung von Objekten im Territorium des enteignenden Staates für sich allein nicht aus, um ihr die Wirksamkeit abzusprechen17. Gegen diese einfachrechtliche Lage bestünden von Verfassungs wegen keine Bedenken. Im gleichen Sinne hat die 1. Kammer des Ersten Senats entschieden, daß das Eigentumsgrundrecht durch die Annahme eines nach den §§ 98 ff D D R - Z G B geschlossenen Mietvertrages auch dann nicht verletzt werde, wenn der Wohnungseigentümer aufgrund der Wohnungszuweisung an den Mieter zum Vertragsschluß verpflichtet gewesen sei; auch soweit der Eigentümer ohne ein besonderes Kündigungsrecht an

" N J W 1991, 1597, 1599. 15 Art. 23 S. 1. GG. " Art. 30 E G B G B a. F. i. V. mit Art. 220 Abs. 1 E G B G B n. F.; Art. 6 E G B G B n. F. " Vgl. etwa B G H Z 104, 240, 245.

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dem Vertrag festgehalten werde, verletze dies nicht die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG: Da die Wohnungszuweisung im Jahre 1988 außerhalb des räumlichen und zeitlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes erfolgt sei, könnten etwaige darin enthaltene Eigentumsbeeinträchtigungen nicht der Bundesrepublik zugerechnet werden. Die Annahme des Bezirksgerichts, daß auf der Grundlage der Wohnungszuweisung ein wirksamer Vertrag zustande gekommen sei, sei daher verfassungsrechtlich hinzunehmen 18 . Die 1. Kammer des BVerfG hat ebenfalls ausgesprochen, daß die Bindung eines Grundstückseigentümers an einen zwischen einer LPG und ihren Mitgliedern geschlossenen Mietvertrag für die Zeit bis zum Beitritt der DDR nicht am Grundgesetz gemessen werden könne, weil dieses im Beitrittsgebiet erst zum 3. Oktober 1990 in Kraft getreten sei19. Diese Judikate lassen erkennen, daß das Bundesverfassungsgericht die Auswirkungen von DDR-Vorschriften in der Zeit vor dem Beitritt nicht am Grundgesetz mißt, weil dieses dort nicht gegolten hat; eine Totalrevision des Rechtslebens der DDR nach dem Maßstab des Grundgesetz lehnt es ab. Der gegenteilige Standpunkt könnte in der Tat zu einem rechtlichen Chaos führen. III. Die Judikatur des Bundesgerichtshofes 1. Als erster hat der XII. Zivilsenat den Grenzbereich dieses vereinigungsrechtlichen Neulands betreten 20 . Dabei ging es um die vermögensrechtlichen Folgen einer Ehescheidung, die das Kreisgericht durch Urteil vom 23. März 1990 ausgesprochen hatte und die von keiner Partei angefochten worden war. Umstritten war noch das rechtliche Schicksal des im gemeinschaftlichen Eigentum der Parteien stehenden Hausgrundstücks und das Nutzungsrecht an der darauf befindlichen ehelichen Wohnung. Da die Parteien vor dem Wirksamwerden des Beitritts am 3. Oktober 1990 rechtskräftig geschieden worden waren, ging der XII. Senat einerseits davon aus, daß gemäß Art. 234 § 4 Abs. 5 EGBGB i. d. F. des Einigungsvertrages (EinV) für die Auseinandersetzung ihres gemeinschaftlichen Eigentums das bisherige Recht, insbesondere § 39 FGB21, maßgebend geblieben sei. Da aber mit dem Wirksamwerden des Beitritts gemäß § 3 EinV im Beitrittsgebiet das Grundgesetz in Kraft getreten war, meinte der Senat andererseits, daß die „fortgeltenden" Vor-

Beschl. V. 14. 8.1992, DtZ 1992, 353. " Beschl. v. 28. 8. 1992, NJ 1992, 551. 20 Urt. v. 15. 1. 1992, BGHZ 117, 35; hierauf fußt das weitere Urteil vom selben Tage BGHZ 117, 61. 21 Familiengesetzbuch der DDR vom 20. 12. 1965 (GBl. 1966 I S. 1). 18

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Schriften des Familiengesetzbuchs auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen seien. Diese Prüfung führte ihn zu dem Ergebnis, daß § 39 Abs. 1 FGB auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken stoße, die sich nicht durch eine „an den Bestimmungen und Grundprinzipien des Grundgesetzes ausgerichtete Auslegung" überwinden ließen. Im Ergebnis hielt der Senat die Möglichkeit einer Zuweisung von gemeinschaftlichem Eigentum oder Vermögen an nur einen der Ehegatten nach § 39 Abs. 1 FGB für verfassungskonform, sofern triftige Gründe bestünden, die der Bedeutung der Eigentumsgarantie angemessen seien, und sofern dem begünstigten Ehegatten die Erstattung des anteiligen Wertes in Geld auferlegt werde 22 . Die Entscheidung betrifft wohl einen „Altfall", denn die Ehe war noch vor dem 3. O k t o b e r 1990 rechtskräftig geschieden worden, auch ist § 39 FGB nicht in der Anlage II zum Einigungsvertrag aufgeführt und gehört deshalb wohl nicht zu dem „fortgeltenden" DDR-Recht 2 3 . Daher ist es nicht unproblematisch, daß der XII. Senat das nur kraft intertemporalen Kollisionsrechts anwendbare DDR-Recht am Grundgesetz gemessen und verfassungskonform ausgelegt hat. Auf der gleichen Linie bewegt sich ein Urteil dieses Senats vom 5. Mai 199324 zum Ausgleichsanspruch nach § 40 FGB. Etwas zurückhaltender mißt ein Beschluß dieses Senats vom 17. Mai 199525 Verjährungsvorschriften der D D R nicht mehr ausdrücklich am Grundgesetz, sondern an „rechtsstaatlichen Grundsätzen"; doch prüft er nach wie vor die N o t wendigkeit einer „verfassungskonformen Auslegung", die er im Ergebnis freilich verneint. Anders liegt es bei Verträgen über die N u t z u n g von Erholungs- und Freizeitgrundstücken, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts auf dem Gebiet der ehemaligen D D R geschlossen worden sind und deren Beendigung sich deshalb gemäß Art. 232 § 4 Abs. 1 EGBGB 2 6 - vorbehaltlich abweichender Regelungen in einem besonderen Gesetz - nach §314 Z G B richtet. In diesem Sinne hat der XII. Senat in einem Urteil vom 31. März 199327 geprüft, ob die Weitergeltung der §§ 312 ff Z G B mit Art. 14 Abs. 1 G G vereinbar ist. Er hat diese Frage bejaht, weil die restriktive Beurteilung der vergleichbaren Kleingartenproblematik in der „alten" Bundesrepublik 28 auf die Verhältnisse in der D D R nicht ohne weiteres übertragbar sei. Da § 314 Z G B über den 2. O k t o b e r 1990 22 25 24 25 26 27 28

AaO, S. 48 f. Vgl. dazu Art. 9 Abs. 2 EinV. XII ZR 38/92 = DtZ 1993,281. XII ZA 3/95 (zur Veröffentlichung vorgesehen). Sog. Datschen-Regelung. XII ZR 265/91, WM 1993,1383. Vgl. dazu BVerfGE 52, 1.

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hinaus im Geltungsbereich des Grundgesetzes fortgilt, ist es hier nur konsequent, daß der Senat sie am Grundgesetz gemessen hat29. 2. Auch der VIII. Zivilsenat hat bereits mit einem Urteil vom 14. Oktober 199230 Zeichen gesetzt. Dort ging es um den Rechtsstreit zweier umgewandelter ehemaliger Wirtschaftseinheiten (Volkseigene Betriebe VEB) der DDR, deren eine die Zahlung der restlichen Vergütung für die Lieferung einer Druckgußmaschine verlangte, die vertragsgemäß aus Osterreich eingeführt worden war. Der Vertrag datierte vom 31. Oktober 1989, die Maschine wurde Anfang April 1990 ausgeliefert und von der Beklagten am 20. Juni 1990 abgenommen. Deren Bemühungen, die aufgrund der staatlichen Planung vorgesehenen Mittel zu erlangen, hatten nur zum Teil Erfolg. Der BGH hat den Standpunkt eingenommen, daß der Restanspruch infolge Ausbleibens der staatlichen Finanzierungsmittel nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage anzupassen sei. Nach den Ausführungen des VIII. Senats ist auf vor dem 1. Juli 1990 zwischen ehemaligen VEB geschlossene Wirtschaftsverträge („Altfälle") das Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft (VertragsG) auch nach dem Beitritt der D D R zur Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich weiterhin anzuwenden: Zwar sei es zum 1. Juli 1990 aufgehoben31 und eine Ubergangsregelung nicht getroffen worden, Schuldverhältnisse seien aber, bei Fehlen einer ausdrücklich entgegenstehenden Bestimmung, nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit der Verwirklichung ihres Entstehungstatbestandes gegolten hat. Die Rechtsanwendung habe sich indessen an der seit dem 1. Juli 1990 im späteren Beitrittsgebiet geltenden marktwirtschaftlichen Ordnung auszurichten. In casu hatte das Berufungsgericht eine Anpassung des Vertrages aufgrund der Risikoverteilung nach der Preisverordnung vom 25. Juni 199032 verneint. Die Revisionsrüge, daß diese Auslegung nicht verfassungskonform sei, hat der Senat aus Sachgründen zurückgewiesen. Auch hier stellt sich die Frage, ob es geboten war, die Rüge fehlender Verfassungskonformität der Auslegung sachlich zu bescheiden, oder ob für eine Prüfung der Verordnung nach dem Maßstab des Grundgesetzes 29 Zustimmend Rauscher, J R 1993, 95 ff, der den Begriff der „Altfälle" allerdings anders als der obige Text definiert. 30 VIII ZR 91/91 = B G H Z 120, 11 = JZ 1993, 668 m. teilw. krit. Anm. von Westen; im gleichen Sinne das Senatsurt. vom selben Tage - VIII ZR 153/91 = ZIP 1992, 1797 zur Schadensersatzpflicht eines VEB wegen Erfüllungsverweigerung kurz vor dem Beitritt; vgl. weiter BGH, Urt. v. 10. 3. 1993 - VIII ZR 2 3 8 / 9 2 = B G H Z 122, 33; ferner BGH, Urt. v. 20. 4. 1994 - V I I I ZR 45/93 = DtZ 1994, 281 (Äquivalenzstörung). 31 Nach § 4 des Gesetzes über die Änderung oder Aufhebung von Gesetzen der Deutschen Demokratischen Republik vom 28. 6 . 1 9 9 0 - GAufhÄndG - (GBl. DDR I, 483). 32 GBl. D D R I, 472 f - PreisVO.

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nicht schon deswegen kein Raum war, weil sowohl das Vertragsgesetz als auch die Preisverordnung bereits mit Wirkung vom 1. Juli 1990 aufgehoben worden war und es sich deshalb um die Anwendung von DDR-Recht handelte, das nicht über den Zeitpunkt des Beitritts hinaus fortgalt („Altfall"). 3. Der VII. Zivilsenat ist dem VIII. Senat darin gefolgt, daß das Vertragsgesetz auch nach dem Beitritt der D D R zur Bundesrepublik Deutschland auf vor dem 1. Juli 1990 zwischen VEB geschlossene Verträge grundsätzlich weiter anzuwenden ist". Er wies die Ansicht der Revision zurück, daß eine Freistellung der Beklagten von der Verpflichtung zum Anwendungsersatz nach § 79 Abs. 1 Satz 1 VertragsG aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten sei: Eine solche Verpflichtung ergebe sich weder aus Art. 14 Abs. 1 oder aus Art. 3 Abs. 1 G G noch aus dem reformierten Verfassungsrecht der DDR. Im Hinblick auf einen Beschluß des Ministerrats der DDR, der die Stillegung aller karbochemischen Anlagen bis Dezember 1991 betraf, hat der Senat dagegen einleuchtend ausgeführt, daß dieser weder am Grundgesetz noch am reformierten Verfassungsrecht der D D R zu messen sei, weil er zu einem Zeitpunkt erlassen worden sei, als diese Gesetze im Beitrittsgebiet noch nicht gegolten hätten. Dann aber müßte das gleiche Prüfungshindernis wohl auch für das Vertragsgesetz gelten, das ebenfalls schon vorher außer Kraft getreten ist. 4. Besonders brisant wird die Problematik der Anwendung „ungefilterten" DDR-Rechts im Bereich der unerlaubten Handlung, auf das die §§ 823 bis 853 BGB nur dann anzuwenden sind, wenn die Handlungen am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts oder danach begangen werden34. Dennoch vertrat der VI. Zivilsenat für die Altfälle zunächst den Standpunkt, daß das kraft intertemporalen Kollisionsrechts anwendbare Recht der ehemaligen DDR nur angewendet werden dürfe, wenn und soweit es mit dem Grundgesetz vereinbar ist35. In dem ersten Fall36 verlangte der Kläger Ausgleich für körperliche und seelische Beeinträchtigungen, die er im Jahre 1987 durch einen Verkehrsunfall in Ost-Berlin erlitten hatte. Wie die Vorinstanzen wendete der VI. Senat § 338 Abs. 3 ZGB an, der aber nur einen gewissen Ausgleich, nicht auch eine Genugtuung, zugunsten des Verletzten vorsieht

33 Urt. v. 25. 2. 1993 - VII ZR 24/92 = BGHZ 121, 378; ebenso Urt. v. 1. 4. 1993 - VII ZR 22/92 = ZIP 1993, 948. 34 Art. 232 § 10 EGBGB. 35 Der III. Zivilsenat ist ihm im Urteil vom 14. 7. 1994 - III ZR 174/72 = BGHZ 127, 57 darin beiläufig gefolgt. 36 Vom 22. 6. 1993 - VI ZR 302/92 = BGHZ 123,65.

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und deshalb geringere Ansprüche als § 847 BGB gewährt. Der Senat führte einerseits aus, daß das „fortgeltende" Recht so anzuwenden sei, wie es von den Gerichten der D D R angewendet worden wäre; andererseits müßten aber sozialistische Wertungen und Rechtsmaximen unberücksichtigt bleiben und DDR-Recht dürfe nur angewendet werden, wenn und soweit es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. In diesem Sinne hat der Senat § 338 Abs. 3 ZGB auf seine Vereinbarkeit mit Art. 1 und 2 G G geprüft und „verfassungsrechtlich relevante Defizite" verneint. Gegen eine solche Prüfung hat sich Nolting gewendet37: das nur kraft kollisionsrechtlicher Verweisung anwendbare DDR-Recht sei wie ausländisches Recht anzuwenden und dürfe deshalb im Interesse des Vertrauensschutzes grundsätzlich nicht auf seine Vereinbarkeit mit der lex fori, auch nicht mit dem Verfassungsrecht des judizierenden Staates, überprüft werden. Nur der allgemeine ordre-public-Vorbehalt gebe dem Gericht die Möglichkeit, bestimmte Vorschriften nicht anzuwenden. In casu hätte die bloße Nichtanwendung des § 338 Abs. 3 ZGB indes nicht weitergeholfen, sondern die DDR-Rechtsordnung hätte um eine dem § 847 BGB stärker angenäherte Regelung ergänzt werden müssen. Das aber hätte nach Nolting38 gegen das Gebot kollisionsrechtlicher Neutralität verstoßen. In einem Arzthaftungsfall ging es um die Frage der Verjährung 39 und deren Hemmung wegen Unmöglichkeit der Rechtsverfolgung40, ferner um die gerichtliche Zubilligung von Rechtsschutz für verjährte Forderungen aus schwerwiegenden Gründen 41 . Der VI. Senat bekannte sich wiederum dazu, daß das DDR-Recht zwar in seinem damaligen Verständnis angewendet, zusätzlich aber am Grundgesetz gemessen werden müsse. Auch nach diesem Maßstab kam er freilich zu dem Ergebnis, daß die in Betracht kommenden Schadensersatzansprüche verjährt waren und der Beklagte sich darauf auch berufen durfte. Die Problematik kulminierte im Denunziantenfall'''1. Er betraf den Ersatz des materiellen Schadens, den der Kläger dadurch erlitten hatte, daß er im Jahre 1985 von seinen Neffen denunziert und wegen des geplanten Grenzübertritts in der D D R strafrechtlich verfolgt worden war. Der VI. Senat ging von § 330 ZGB aus, wonach ein Bürger, der unter Verletzung ihm obliegender Pflichten rechtswidrig einen Schaden verursacht, zu dessen Ersatz verpflichtet ist. Er stellte klar, daß zur Begründung sol-

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EWiR 1993, 1029. EWiR § 338 ZGB 1/93. § 472 Abs. 1 ZGB. § 477 Abs. 4 ZGB. § 472 Abs. 2 ZGB. BGH, Urt. v. 11. 10. 1994 - VI ZR 234/93 = NJW 1995, 256.

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eher Pflichten nur Verhaltensanforderungen herangezogen werden können, die sich aus dem Recht der D D R ergeben. Eine solche Pflicht konnte in casu aus § 131 D D R - S t G B folgen, der es verbot, zur Freiheitsberaubung eines Menschen beizutragen. Nach § 225 Abs. 1 N r . 5 D D R S t G B war der Bekl. aber verpflichtet gewesen, den Kl. wegen seines Fluchtvorhabens anzuzeigen. Nach Ansicht des Senats können solche auf den strafrechtlichen Vorschriften des zur Tatzeit geltenden Rechts der D D R beruhenden Rechtfertigungsgründe „im Hinblick auf übergeordnete Rechtsgrundsätze keine uneingeschränkte Berücksichtigung finden". Allerdings hat der Senat hier nicht mehr unmittelbar aus dem Grundgesetz, sondern mehrgleisig argumentiert: Zum einen müsse sich die geschriebene Rechtsordnung der D D R an den Verpflichtungen zur Achtung von Menschenrechten messen lassen, die die D D R völkerrechtlich eingegangen sei; danach hätten Ausreisen nicht, wie geschehen, nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig genehmigt werden müssen. Zum anderen habe sich die D D R im 1. Staatsvertrag zur „freiheitlichen, demokratischen, föderativen und sozialen Grundordnung" bekannt und „die Freizügigkeit von Deutschen im gesamten Währungsgebiet" gewährleistet. Überdies entsprächen die im 1. Staatsvertrag genannten Grundsätze wesentlichen verfassungsrechtlichen Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip. Deshalb müßten auch bei der Beurteilung von „Altfällen" die D D R - N o r m e n „an den Grundrechtsgarantien und den grundlegenden Wertungen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes" gemessen werden. Dabei gehe es nicht um eine entsprechende Heranziehung des kollisionsrechtlichen Vorbehalts des ordre public in Art. 6 E G B G B , sondern um „Ausstrahlungswirkungen des durch den Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung herbeigeführten verfassungsrechtlichen Wertewandels auf die intertemporale Anwendung der Rechtsordnung der ehemaligen D D R " . Der Senat will allerdings nicht eine vollständige Uberprüfung der D D R - N o r m e n am Grundgesetz vornehmen, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall E r gebnisse ausschließen, die mit den Grundrechtsgarantien und den tragenden verfassungsrechtlichen Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, unvereinbar sind. Es ist nicht leicht zu erkennen, in welchem dogmatischen Verhältnis diese einzelnen Begründungselemente zueinander stehen. Wenn schon die völkerrechtlichen Verpflichtungen der D D R zur Tatzeit die Anzeigepflicht einschränkten, bedurfte es wohl nicht mehr der komplizierten weiteren Erwägungen; anderenfalls taugten sie wohl auch nicht als zusätzliche Argumente. Außerdem: wirkte schon der Wertewandel in der DDR durch den 1. Staatsvertrag als innerstaatliches Recht auf die Beurteilung des Verhaltens im Tatzeitpunkt zurück, so hätte es wohl eines Rückgriffs auf Ausstrahlungswirkungen des Grundgesetzes nicht mehr

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bedurft. Freilich spricht wenig dafür, daß der 1. Staatsvertrag rückwirkend die gesamte Rechtsordnung der D D R umgestalten sollte43. Im Hinblick auf die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wollte er eine Harmonisierung der ostdeutschen mit der westdeutschen Rechtsordnung erreichen und war daher zukunftsorientiert. Auch bestehen unter dem maßgeblichen Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gerade aus rechtsstaatlichen Gründen gravierende Bedenken gegen beide Begründungsansätze für eine rückwirkende Neubewertung des Täterverhaltens. Von seinem Standpunkt aus hat der Senat dem Gedanken der Rechtssicherheit durch weitere Differenzierungen Rechnung getragen: Zwar sei die Pflicht zur Anzeige eines geplanten ungesetzlichen Grenzübertritts (im schweren Fall) mit der Grundrechtsordnung und dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes „schlechthin unvereinbar", doch könne sich ein Anzeigenerstatter gleichwohl zu seiner Rechtfertigung darauf berufen, daß ihm sein Verhalten nach der geschriebenen Rechtsordnung der D D R zur Pflicht gemacht worden war. Aus rechtsstaatlichen Gründen der Rechtssicherheit dürfe er dies grundsätzlich dann, wenn er nur seiner Rechtspflicht habe nachkommen wollen, sich auf die Erfüllung dieser Rechtspflicht beschränkt habe und davon ausgegangen sei, daß aufgrund seiner Anzeige kein den Rahmen der damals anzuwendenden Rechtsvorschriften sprengendes Willkürverfahren durchgeführt werde. Dagegen sei die Berufung auf einen solchen Rechtfertigungsgrund zu versagen, wenn sie „offensichtlich grob gegen den Grundgedanken der Gerechtigkeit verstoßen würde". Bei dieser Ableitung hat der VI. Senat die Begründung des von ihm zitierten Mauerschützenurteils des 5. Strafsenats des BGH44 nachgezeichnet. Das Verhältnis seiner einzelnen Begründungselemente tritt in diesem Strafurteil zwar ebenfalls nicht mit letzter Klarheit hervor, doch hat der 5. Strafsenat in den entscheidenden Partien aus dem Recht der D D R heraus argumentiert. Er hat den Rechtfertigungsgrund für Schußwaffengebrauch zur Verhinderung unerlaubten Grenzübertritts 45 aus dem gesamten zur Tatzeit geltenden DDRRecht heraus menschenrechtsfreundlich ausgelegt und ihn in diesem Umfang für wirksam erachtet. Für diese restriktive Auslegung hat er den Wortlaut des Gesetzes im Kontext mit dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 196646 gewürdigt

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So freilich Oetker, JZ 1992, 608, 613; gegen ihn Brunner, VIZ 1993, 285, 290. BGHSt. 39, 1,15 f. 45 § 27 des Grenzgesetzes. 46 Die D D R ist ihm 1974 beigetreten und hat die Ratifizierungsurkunde am 8. 11. 1974 hinterlegt; sie hat es aber unterlassen, gemäß Art. 51 DDR-Verfassung das innerstaatliche Recht zu ändern. 44

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und ergänzend den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit herangezogen, wie er in eingeschränktem Umfang auch nach der DDR-Verfassung47 gegolten habe. Wertungen des Grundgesetzes sind dabei in keiner Form eingeflossen. Das Grundgesetz führt in Fällen unerlaubter Handlung schon deswegen nicht weiter, weil ihm das Rechtsstaatsprinzip und damit auch das Rückwirkungsverbot immanent ist: Aus Gründen der Rechtssicherheit muß der Handelnde, wie auch der VI. Senat mit Recht hervorhebt, im Zeitpunkt der Tat nach dem für ihn geltenden Recht beurteilen können, ob sein Verhalten rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Das aber kann nur eine Rechtsanwendung leisten, die sich strikt an das zur Tatzeit geltende Recht der D D R (mit seinen völker- und verfassungsrechtlichen Implikationen) hält oder sich auf überpositives Recht beruft. Eine entsprechende Heranziehung des kollisionsrechtrechtlichen Vorbehalts des ordre public will der VI. Senat ausdrücklich nicht vornehmen, obwohl er andererseits darauf hinweist, daß nach Art. 6 Satz 2 E G B G B eine Rechtsnorm bei Unvereinbarkeit mit den Grundrechten nicht anzuwenden ist. Vielleicht hätte sich hier noch am zwanglosesten eine Einbruchstelle für die Grundrechte und ihre Ausstrahlungen erschließen lassen, denn immerhin verweist der Einigungsvertrag für die weitere Anwendung von DDR-Recht auf das Einführungsgesetz zum BGB und damit wohl auch auf dessen Vorbehalt des bundesdeutschen ordre public. In einem Urteil vom 24. Januar 199548 ging es um Entschädigungsansprüche eines Bürgers der ehemaligen DDR, der im Zuge einer dienstlichen Maßnahme der sowjetischen Streitkräfte einen Schaden erlitten hatte. Der VI. Senat prüfte im Rahmen des Haftungsrechts der D D R u. a., ob das Stationierungs- und das Rechtshilfeabkommen nebst seiner Umsetzung in DDR-Recht gegen „rechtsstaatliche Grundsätze, insbesondere ... gegen Art. 19 Abs. 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 G G " verstieß. Er hat diese Frage zwar verneint, doch bleibt ihre Erheblichkeit im Dunklen. In einem Urteil vom 23. Mai 199549, das die Grenzen der Verkehrssicherungspflicht gegenüber kleinen Kindern nach dem Recht der D D R betraf, hat der VI. Zivilsenat nicht mehr auf das Grundgesetz Bezug genommen, sondern nur noch allgemein „rechtsstaatliche Bedenken" geprüft (und verneint). 5. Für den Bereich des Erbrechts hat der IV. Zivilsenat aufgrund des intertemporalen Kollisionsrechts die Anwendung des DDR-Rechts auf

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Art. 30 Abs. 2. VI ZR 199/93 = B G H Z 128, 320. VI ZR 384/94 (zur Veröffentlichung vorgesehen).

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einen im April 1989 eingetretenen Erbfall ebenfalls gebilligt50. In Übereinstimmung mit dem Schrifttum in der D D R hat er § 374 Z G B dahin ausgelegt, daß die Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus nicht nur den Inhaltsirrtum, sondern auch den in § 2078 Abs. 1 B G B behandelten Erklärungsirrtum und den in § 278 Abs. 2 B G B geregelten Motivirrtum umfasse. Die grundsätzliche Übernahme des alten Normenverständnisses entspricht nach Ansicht des Senats dem Vertrauensgrundsatz, aufgrund dessen Art. 235 § 1 E G B G B anordnet, daß für die erbrechtlichen Verhältnisse das bisherige Recht maßgebend bleibt, wenn der Erblasser vor dem Wirksamwerden des Beitritts gestorben ist. Beiläufig fügt der Senat dennoch hinzu, daß eine in der D D R vertretene Gesetzesauslegung nur maßgeblich sei, wenn sie sich mit dem Grundgesetz vereinbaren lasse. Dies überrascht auch deswegen, weil der Vertrauensgrundsatz und das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot, wie schon gesagt, ebenfalls zur Wertordnung des Grundgesetzes gehören. Schon deshalb wäre es nicht unbedenklich, daß eine im Zeitpunkt des Erbfalls vorgegebene Auslegung nachträglich sollte korrigiert werden können. 6. Der V. Zivilsenat hatte zunächst über die Anfechtungsklage gegen ein am 30. April 1968 verkündetes Ausschlußurteil eines DDR-Kreisgerichts zu entscheiden, das trotz richtiger Angabe der Anschrift eine öffentliche Bekanntmachung angeordnet hatte51. Er kam zu dem Ergebnis, daß nach Ablauf der 10jährigen Ausschlußfrist für die Erhebung der Anfechtungsklage52 (30. April 1978) eine sonstige Anfechtungsmöglichkeit weder aus dem Recht der D D R noch aus dem Einigungsvertrag abzuleiten sei. Daß der bundesdeutsche Gesetzgeber im Rahmen des Einigungsvertrages die vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangenen Entscheidungen von DDR-Gerichten grundsätzlich als wirksam anerkennt und ihre Überprüfung nur im Rahmen des jetzt geltenden Rechts ermöglicht53, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden: Vor die Aufgabe gestellt, zwei unterschiedliche Rechtsordnungen in sozialverträglicher Weise anzugleichen, habe er den ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Belangen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes den Vorrang einräumen dürfen54. Was das Verhalten des DDR-Gerichts anging, so vertrat er im Anschluß an das Bodenrefor-

Urt. V. 1. 12. 1993 - IV ZR 261/92 = BGHZ 124,270 = JZ 1974,469 m. Anm. Thode. Urt. v. 4. 3.1994 - V ZR 287/92 = WM 1994,1263; vgl. auch BGH, Urt. v. 25. 3.1994 - V ZR 171/92 = WM 1994,1250. 52 § 958 Abs. 2 ZPO. 53 Art. 18 Abs. 1 EinV. 54 Unter Hinweis auf BVerfG, Beschl. der 1. Kammer vom 26. 7. 1993, WM 1993, 1936, 1938. 50 51

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murteil des Bundesverfassungsgerichts55 den Standpunkt, daß dieses nunmehr nicht am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden dürfe. 7. Den gleichen Standpunkt hat der Landwirtschaftssenat in mehreren Entscheidungen eingenommen. Nach seinem Beschluß vom 1. Juli j 99456 j s t e s verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß § 51 a Abs. 2 LwAnpG die Ansprüche der vor dem 16. März 1990 aus einer LPG ausgeschiedenen Mitglieder sowie deren Erben auf eine Abfindung nach §§ Abs. 1 Nr. 1 LwAnpG beschränkt: Die Rechtslage könne nur nach dem LPG-Recht der D D R beurteilt und dieses nicht am Grundgesetz gemessen werden, weil es außerhalb von dessen räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich gelegen habe57. Im gleichen Sinne hat der Landwirtschaftssenat die mögliche Haftung (der Rechtsnachfolgerin) einer LPG aus den sog. Kreispachtverträgen beurteilt, weil der erzwungene Abschluß dieser Verträge, der staatlich verordnete Parteiwechsel 58 und die Überlassung des Grundbesitzes an die LPG außerhalb des räumlichen und zeitlichen Geltungsbereiches des Grundgesetzes stattgefunden haben: Nach Art. 4 Abs. 1 des 1. Staatsvertrags in Verbindung mit Art. 2 des Verfassungsgrundsätzegesetzes sei zwar noch zu DDR-Zeiten das Eigentum verstärkt geschützt worden, doch sei durch diesen Wertewandel die Rechtsordnung der D D R nicht mit echter Rückwirkung umgestaltet, sondern nur für gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen an die neuen Grundsätze angeglichen worden. Unter dem Gesichtspunkt des ordre public nach Art. 6 EGBGB oder analog dieser Vorschrift ergaben sich für den Landwirtschaftssenat schon deswegen keine Probleme, weil der bundesdeutsche Gesetzgeber diese Frage durch die Anordnung der Fortgeltung des - in casu einschlägigen - § 51 LwAnpG positiv entschieden habe. Der Verfasser bekennt gern, daß er dieser Konzeption nahesteht, was auch nicht verwundert, da er dem V. Zivilsenat und dem Landwirtschaftssenat angehört. Daß dieses Konzept mit der Ausgangsthese des Jubilars übereinstimmt, fügt sich in den Rahmen dieser Festschrift harmonisch ein.

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S . o . F n . 15. BLw 113/93 = W M 1994, 1767. 57 Der Landwirtschaftssenat verweist hierzu auf das Bodenreform-Urteil des BVerfG. 58 Nach § 2 der Verordnung vom 20. 1. 1955 (GBl. I, S. 97) trat anstelle der LPG der Rat des Kreises in die Pachtverträge ein. 56

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IV. Ergebnis Alles in allem ergibt die Rechtsprechung des BGH bei Beendigung dieses Manuskripts59 ein buntes Bild. Dies mag mit der Einmaligkeit der historischen Situation und dem Wunsch nach einer begrenzten rückwirkenden Korrektur anzuwendenden DDR-Rechts zusammenhängen. Zu hoffen bleibt, daß bis zum Erscheinen dieser Festschrift noch eine halbwegs einheitliche Linie gefunden sein wird.

" A m 15. September 1995.

Das Bayerische Oberste Landesgericht als Revisionsgericht in Zivilsachen GERHARD H E R B S T

I. Als nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 die Überlegungen zur Errichtung einer obersten Gerichtsinstanz des Reiches einsetzten, entstand die Frage nach den verbleibenden Zuständigkeiten und damit auch nach dem Fortbestand der obersten Gerichtshöfe der Länder. Sie war Gegenstand zahlreicher Konferenzen, auf denen sich vor allem Bayern mit aller Energie für den Fortbestand seines traditionsreichen obersten Gerichtshofs einsetzte1, der seit seiner Gründung im Jahre 1625 die oberste Justizinstanz des damals zweitgrößten deutschen Landes war2. Bayern hatte sich zunächst dafür ausgesprochen, dem Reichsgericht nur die Entscheidung über diejenigen Fragen des Reichsrechts zu übertragen, die ihm von den obersten Landesgerichten vorgelegt würden, während die eigentliche Entscheidung des Prozesses in der Zuständigkeit der Landesgerichte bleiben sollte. Diese sehr föderalistisch gedachte Lösung stieß aber auf nachhaltigen Widerstand Preußens und fand auch bei den übrigen Ländern keine hinreichende Unterstützung. Der bayerische Justizminister entwickelte deshalb einen Kompromiß Vorschlag, demzufolge das künftige Reichsgericht für diejenigen Verfahren zuständig sein sollte, „... in welchen Fragen des materiellen Reichsrechts zu lösen sind oder ausschließlich Normen der deutschen Civil- oder Strafprozeßordnung den Gegenstand des eingewendeten letzten Rechtsmittels bilden" 3 . Die langwierigen und schwierigen Verhandlungen, die sich im Hinblick auf die durch das Inkrafttreten des B G B bedingte wesentliche Erweiterung der Zuständigkeit des Reichsgerichts im Jahre 1896 in ähnlicher Form wiederholten4, führten schließ1 Vgl. den Schriftwechsel zwischen dem damaligen bayerischen Justizminister Dr. von Fäustle, König Ludwig II, und Minister von Pfretzschner aus den Jahren 1873/74 in den Akten des K. Staatsministeriums der Justiz, auszugsweise abgedruckt in Herbst (Hrsg.) „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart", München 1993, S. 136 ff. ! Vgl. Merzbacher, 350 Jahre Bayerisches Oberstes Landesgericht, in „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart" S. 1 ff. 3 Schreiben des Ministers an den König vom 6. 3. 1873 Nr. 2781. 4 Vgl. die Dokumentation in „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart" S. 144 ff.

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lieh zu dem Vorbehalt in § 8 E G G V G , der in Verbindung mit dem bayerischen Ausführungsgesetz zum G V G bis heute die Grundlage für die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bildet.

II. Seinen „allerunterthänigsten Antrag" vom 6. März 1873, der König möge das Verhandlungskonzept für die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen dem Reichsgericht und dem Obersten Landesgericht genehmigen, schloß Justizminister Dr. von Fäustle mit dem Hinweis auf das Einverständnis des Präsidenten des obersten Gerichtshofs und berichtete sodann, „... daß in der Ministerratssitzung vom 5. dieses Monats sämtliche Minister der Civilstaatsressorts Euerer Koeniglichen Majestaet ... ihre Zustimmung erklärten und nur Euerer Koeniglichen Majestaet Kriegsminister, Freiherr von Pranckb, sich der Abstimmung enthielt, weil der vorliegende Gegenstand eine seinem Geschäftskreise zu ferne liegende und daher auch seinem Verständnisse nicht vollkommen zugängliche, juristisch technische Frage betreffe." 5 Auch heute sind die landesrechtlichen Besonderheiten der Revision in Zivilsachen nicht jedermann geläufig, doch kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Leser dieser Festschrift hier mehr Wissen und Verständnis einbringt, als ein ehemaliger bayerischer Kriegsminister. Und in ganz besonderem Maße gilt dies für den Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist: Professor Dr. Odersky war vom 1. August 1983 bis zum 31. Dezember 1987 Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts und hat als Vorsitzender eines für Revisionen in Zivilsachen zuständigen Zivilsenats während dieser Zeit die Rechtsprechung des Gerichts maßgebend mitgestaltet. Der Gegenstand der folgenden Betrachtungen berührt also nicht nur die Aufgaben des Bundesgerichtshofs; er steht auch in enger Beziehung zu einer wichtigen Station im beruflichen Lebensweg des scheidenden Präsidenten.

III. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist heute in Zivilsachen aufgrund der bereits erwähnten Vorschrift des § 8 E G G V G in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 B a y A G G V G anstelle des Bundesgerichtshofs zuständig für die Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision, wenn im wesentlichen Rechtsnormen des bayerischen Landesrechts anzuwenden 5 Akten des K. Staatsministeriums der Justiz, Gerichtsverfassung Tit. I Kap. I N r . 6 Beilagenband b - Allgemeines Staatsarchiv München MJu 14045.

Das B a y O b L G als Revisionsgericht in Zivilsachen

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sind. Es ist somit in einschlägigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten das den drei bayerischen Oberlandesgerichten im Instanzenzug übergeordnete Gericht und entscheidet hier in der Besetzung mit fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden (Art. 10 Abs. 1 E G G V G i. V. m. § 139 GVG). Ebenso wie beim Bundesgerichtshof besteht auch ein Großer Senat für Zivilsachen (Art. 10 Abs. 1 E G G V G , Art. 11 Abs. 4 BayAGGVG) 6 . Die Zahl der vom Bayerischen Obersten Landesgericht zu entscheidenden Revisionen in Zivilsachen ist verhältnismäßig gering, weil das deutsche Privatrecht ganz überwiegend Bundesrecht ist und deshalb die meisten Revisionen gegen die Berufungsurteile auch der bayerischen Oberlandesgerichte in die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs fallen. Landesprivatrecht bildet allerdings immer wieder den Schwerpunkt eines Rechtsstreits, wenn es um Fragen des Nachbarrechts, des Forstrechts, des Fischereirechts, um altrechtliche Dienstbarkeiten oder um Altenteilsverträge geht. Neben diesen nicht allzu häufigen Verfahren beschäftigen das Gericht immer wieder Probleme der Staatshaftung, die sich aus der Anwendung des Straßen- und Wegerechts, des Wasserrechts, des Baurechts, des Gemeinderechts oder aus anderen landesrechtlichen Normen des öffentlichen Rechts ergeben. Hinzu kommen Verfahren über Entschädigungsansprüche wegen Enteignung oder enteignungsgleicher Eingriffe und häufig auch Fragen des Beamtenrechts. In all diesen Prozessen steht in der Regel das Landesrecht im Mittelpunkt, so daß für die Revision das Bayerische Oberste Landesgericht zuständig ist. Die in § 8 Abs. 2 E G G V G enthaltene Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesgerichtshof und Oberstem Landesgericht wird verfahrensrechtlich durch § 7 E G Z P O ergänzt: Alle Revisionen gegen Entscheidungen bayerischer Gericht sind danach - von wenigen Ausnahmen abgesehen7 - beim Bayerischen Obersten Landesgericht einzulegen - § 7 Abs. 2 Satz 1 EGZPO. Dieses Gericht entscheidet dann in einem vorge-

6

Zöller/Gummer 19. Aufl. 1995 Art. 8 E G G V G Rdn. 1; Demharter in „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart" S. 258 f. Der Große Senat für Zivilsachen wurde bisher allerdings nur in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, für die er ebenfalls zuständig ist, angerufen; vgl. B a y O b L G Z 1991, 414 und 1995, 158. 7 Baulandsachen (§230 BauGB), Entschädigungsstreitigkeiten (§§219, 220 Abs. 3 BEG), Rechtsbeschwerden nach § 17 A V A G ( B G H NJW-RR 1994, 320), Zuständigkeitsentscheidung des O L G zugunsten des B G H in Fällen der Zulassungsrevision (§ 546 Z P O i. V. m. § 7 EGZPO). In streitigen Landwirtschaftssachen (§ 48 Abs. 1 LwVerfG) ist nunmehr die Revision ebenfalls beim B a y O b L G einzulegen (vgl. § 52 LwVerfG i. d. f. des RpflVereinfG sowie Thomas/Putzo 19. Aufl. 1995 § 7 E G Z P O Rdn. 2). Hat das O L G bei der Zulassung der Revision entgegen § 7 Abs. 1 E G Z P O das zuständige Revisionsgericht

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schalteten Verfahren ohne mündliche Verhandlung endgültig über die Zuständigkeit für die Verhandlung und Entscheidung über die Revision - § 7 Abs. 2 Satz 3 E G Z P O . Bis zur Zuständigkeitsentscheidung ist das Oberste Landesgericht vorläufiges Revisionsgericht auch für die später an den Bundesgerichtshof abgegebenen Sachen und deshalb zuständig für die Entgegennahme aller weiterer Anträge und Erklärungen, wie Anträge auf Prozeßkostenhilfe, Wiedereinsetzung, Revisionsbegründung, Anschlußrevision oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Diese Prozeßhandlungen bleiben auch wirksam, wenn danach der B G H als zuständiges Revisionsgericht bestimmt wird8. Ebenso wirkt die regelmäßig beantragte und vom Senatsvorsitzenden des Obersten Landesgerichts bewilligte Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist nach Abgabe an den Bundesgerichtshof fort und kann auch dann voll ausgenützt werden, wenn sie später endet, als die nach § 7 Abs. 5 E G Z P O neu eröffnete Begründungsfrist9. Die besonderen Vorschriften über die Einlegung des Rechtsmittels und die Zuständigkeitsentscheidung gelten entsprechend, wenn das Oberlandesgericht durch Beschluß entschieden hat und deshalb anstelle der Revision die sofortige Beschwerde gegeben ist (§ 7 Abs. 6 EGZPO). Die Zuständigkeitsentscheidung ist für die Parteien und auch für den Bundesgerichtshof bindend10. Sie legt den gesetzlichen Richter für das Revisionsverfahren fest". Die Kompetenz-Kompetenz der Landesinstanz erspart dem Bundesgerichtshof eine Zuständigkeitsprüfung unter dem Gesichtspunkt des bayerischen Landesrechts und gewährleistet gerade im Hinblick auf die verhältnismäßig geringe Zahl der landesrechtlichen Revisionssachen am besten eine wirksame Wahrnehmung der in § 8 E G G V G vorbehaltenen Landeskompetenz. Das Verfahren zur Einlegung der Revision und zur Zuständigkeitsprüfung, das auf den ersten Blick kompliziert erscheinen mag, hat sich bewährt und es hat auch einer kritischen Uberprüfung im Rahmen der seit 1964 einsetzenden Überlegungen zur Reform der Zivilprozeßordnung standgehalten12. Eine nennenswerte Verzögerung oder sonstige Er-

nicht bestimmt, kann bis zur Nachholung die Revision nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz entweder beim B G H oder beim BayObLG eingelegt werden (BGH N J W 1994, 1224; Thomas/Putzo aaO Rdn. 12). 8 Zöller/Gummer § 7 E G Z P O Rdn. 9. 9 B G H MDR 1964, 486; Zöller/Gummer aaO. 10 Auch wenn sich nachträglich herausstellt, daß die Wesentlichkeit der Rechtsnormen des Landesrechts falsch beurteilt oder übersehen worden ist, Thomas/Putzo aaO Rdn. 7. 11 BVerfG N J W 1957, 337; Zöller/Gummer § 7 E G Z P O Rdn. 13. 12 Vgl. Delius/Herbst in „Das Bayerische Oberste Landesgericht - Geschichte und Gegenwart" S. 65 f; Arndt DRiZ 1967, 185; Bürgle DRiZ 1967, 186 ff; Schier BayVBl. 1975, 203.

Das B a y O b L G als Revisionsgericht in Zivilsachen

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schwerung des Verfahrens entsteht durch das vorgeschaltete Verfahren nicht. Die Zuständigkeitsentscheidung ergeht in aller Regel noch innerhalb des Laufs der einmonatigen Revisionsbegründungsfrist. Die Parteien können sich bis zur Entscheidung des Obersten Landesgerichts durch jeden bei einem deutschen Gericht zugelassenen Anwalt vertreten lassen (§ 8 Abs. 1 EGZPO). Üblicherweise wird entweder der schon im Berufungsverfahren bevollmächtigte Anwalt oder der für das Revisionsverfahren bereits ausgewählte BGH-Anwalt tätig. Für das Revisionsverfahren selbst gilt jeder bei einem bayerischen Oberlandesgericht zugelassene Anwalt zugleich als beim Obersten Landesgericht zugelassen (§ 227 BRAO); die bis 1959 vorgeschriebene besondere Zulassung durch das Staatsministerium der Justiz, die einen Beschluß des Obersten Landesgerichts hinsichtlich der Erforderlichkeit der Zulassung voraussetzte, gibt es nicht mehr. Die Zuständigkeitsentscheidung wird nicht begründet. Ihr geht aber häufig eine eingehende Beratung des Senats voraus, weil im Einzelfall nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, ob für die Entscheidung über die Revision „im wesentlichen" Rechtsnormen des Landesrechts anzuwenden sind. Dies gilt vor allem für Rechtsstreitigkeiten, in denen neben dem Landesrecht auch Bundesrecht anzuwenden ist und deshalb beurteilt werden muß, welche rechtlichen Gesichtspunkte in der jeweiligen Sache umstritten oder problematisch sind. Grundlage der Zuständigkeitsentscheidung sind der Inhalt des Berufungsurteils und - soweit schon vorhanden - die Revisionsbegründung, aber auch sonstige Äußerungen der Parteien, vor allem des Revisionsklägers, über das beabsichtige Revisionsvorbringen13. Die Gewährung rechtlichen Gehörs zu der Zuständigkeitsfrage geschieht durch die Zustellung der Revisionsschrift an den Revisionsbeklagten14. Darüberhinaus besteht die Übung, beiden Parteien nochmals ausdrücklich Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn die Zuständigkeit des Obersten Landesgerichts in Betracht gezogen wird. Maßgebend für die Zuständigkeitsentscheidung ist, welcher Rechtsstoff überwiegt. Dabei besteht notwendigerweise ein beträchtlicher Beurteilungsspielraum, weil es sich in diesem Stadium des Verfahrens letztlich nur um eine Prognose handeln kann15. Nicht entscheidend ist, ob die Normen, aus denen sich die Anspruchsgrundlage ergibt, dem Landesrecht oder dem Bundesrecht angehören16. Gerade in Staatshaftungssachen, aber auch in vielen anderen Fällen kann der Schwerpunkt im Landesrecht liegen, obwohl sich die Anspruchsgrundlage aus bun-

BayObLGZ 1994, 39; Zöller/Gummer Art. 8 EGGVG Rdn. 3. Zöller/Gummer § 7 EGZPO Rdn. 12. 15 Zöller/Gummer Art. 8 EGGVG Rdn. 3. " BayObLGZ 1994,39. ,J

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desrechtlichen Vorschriften ergibt. Ohne Bedeutung ist auch, ob für die Höhe des Anspruchs die §§ 249 ff BGB maßgebend sind, sofern der Fall in diesem Bereich keine besonderen Probleme bietet. Andererseits hat das Gericht seine Zuständigkeit für einen Regreßanspruch des Freistaates Bayern nach dem Bayerischen Beamtengesetz verneint, wenn die Verletzung der Dienstpflicht in der Nichtbeachtung bundesrechtlicher Normen bestand. Rein verfahrensrechtliche Vorschriften, insbesondere die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Zulässigkeit der Revision, bleiben bei der Zuständigkeitsabgrenzung grundsätzlich außer Betracht17. Eine etwaige Ubereinstimmung des maßgebenden Landesrechts mit gleichlautendem Bundesrecht ist ohne Bedeutung und steht der Zuständigkeit des BayObLG nicht entgegen18. Ist eine auf Bundesrecht gestützte Rüge offensichtlich unbegründet, während die Rüge der Verletzung von Landesrecht begründet sein kann, ist das Oberste Landesgericht zuständig 19 . Betrachtet man die Revisionsentscheidungen des Obersten Landesgerichts nachträglich unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit, so zeigt sich fast durchwegs, daß das Landesrecht auch nach dem Ergebnis des Revisionsverfahrens den Schwerpunkt des Rechtsstreits bildete. Man wird dem Gericht daher insgesamt eine durchaus zurückhaltende und sachgerechte Wahrnehmung seiner Kompetenz-Kompetenz bescheinigen können. Soweit das BayObLG neben dem einschlägigen Landesrecht auch Bundesrecht anzuwenden hat, ist es stets darauf bedacht, sich nicht in Widerspruch zu der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu setzen. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, daß das Nebeneinander der beiden Revisionsgerichte zu keinerlei Unzuträglichkeiten geführt hat. IV. Die Bedeutung der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts als Revisionsgericht in Zivilsachen läßt sich wohl am besten anhand der in der amtlichen Entscheidungssammlung 20 des Gerichts ver17 BayObLGZ 1959, 380/383; i960, 40/44; 1994, 39/40; Sprau, Justizgesetze in Bayern, Art. 11 BayAGGVG Rdn. 12; Zöller/Gummer ZPO 18. Aufl. § 8 EGGVG Rdn. 5. 18 BGHZ 7, 299/300; BayObLGZ 1955, 10/12; Sprau aaO Rdn. 12; Zöller/Gummer aaO Rdn. 3. " Keidel NJW 1961, 2333/2335; MünchKommZPO-WW/Art. 8 EGGVG Rdn. 8. 10 Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in Zivilsachen werden seit mehr als 150 Jahren in einer Sammlung veröffentlicht. Die nach dem Inkrafttreten des BGB im Jahre 1901 aufgelegte Sammlung erreichte bis zur Aufhebung des Gerichts während der NS-Zeit 34 Bände; seit der Wiedererrichtung des Gerichts im Jahre 1948 erscheint sie als „Neue Folge" mit einem Band pro Jahr; vgl. Demharter, 150 Jahre Entscheidungssammlungen des obersten Gerichts für Zivilsachen in Bayern, MittBayNot 1993,1 ff.

Das BayObLG als Revisionsgericht in Zivilsachen

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öffentlichten Urteile und Beschlüsse beurteilen. In den beiden ersten Jahren nach der Wiedererrichtung des Gerichts im Jahre 1948, also vor der Errichtung des Bundesgerichtshofs, sind Gegenstand der veröffentlichten Revisionsentscheidungen fast ausschließlich Urteile in Ehescheidungsverfahren (6 Entscheidungen noch im Jahre 1948,18 Entscheidungen im Jahre 1949). Hinzu kommen 3 Urteile in Ehelichkeitsanfechtungssachen. Die seit dem Rechtseinheitsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl. S. 50) geltende Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesgerichtshof und Oberstem Landesgericht schlägt sich in den veröffentlichten Entscheidungen erst ab 1952 nieder. Seither sind bis in das Jahr 1995 in der Entscheidungssammlung für Zivilsachen jedes Jahr ca. 50 bis 90 Entscheidungen veröffentlicht worden, darunter meist ca. 4 bis 10 Revisionsentscheidungen. Die Gesamtzahl der seit 1952 veröffentlichten Entscheidungen - Revisionssachen, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Zuständigkeitsbestimmungen nach der ZPO - beträgt 3011, davon 239 Revisionsentscheidungen. Ihr Anteil an den Zivilsachen insgesamt liegt also bei 7.94 %, wobei in den einzelnen Jahrgängen Schwankungen von 0 % bis 20 % zu verzeichnen sind. Umfang und Bedeutung der Revisionsentscheidungen sind im Verhältnis zu den sonstigen Entscheidungen sicher gewichtiger, als es der Anteil von knapp 8 % ausdrückt. Eine Durchsicht der Entscheidungen nach dem Gegenstand des Revisionsverfahrens zeigt, daß Landesprivatrecht nur in 41 Entscheidungen eine Rolle spielt, während sich 243 Entscheidungen mit Fragen des öffentlichen Rechts und 12 Entscheidungen mit Problemen des Zivilverfahrensrecht auseinandersetzen. Im Bereich des eigentlichen Privatrechts stehen altrechtliche Dienstbarkeiten mit 15 Entscheidungen21 an der Spitze; es folgen das Fischereirecht mit 9 Entscheidungen22 und Streitigkeiten aus Altenteilsverträgen mit 5 Entscheidungen 23 . Forstrecht (3 Entscheidungen)24 und Presserecht (2 Entscheidungen) 25 treten nur gelegentlich in Erscheinung; die restlichen 7 Entscheidungen26 betreffen sonstige Gegenstände des Landesprivatrechts. Wiederholt hatte sich das Gericht - zuweilen auch bei Fragen, die heute dem öffentlichen Recht zugerechnet werden - mit dem im Codex Maximilianeus Bavari-

21 BayObLGZ 1959, 478; 1962, 24, 70 und 341; 1964, 161; 1969, 263; 1970, 226; 1971, 247; 1982, 400; 1986, 89; 1988, 426; 1989, 203; 1991, 425; 1992, 224; 1994, 129. 22 BayObLGZ 1962, 196; 1965, 153; 1966, 129; 1972,177; 1973, 39; 1979,450; 1980,400; 1982,438; 1992,308. 21 BayObLGZ 1972, 232; 1974, 386; 1989,479; 1993, 192; 1994,12. 24 BayObLGZ 1969, 122; 1976, 58; 1991, 425. 25 BayObLGZ 1958, 189; 1970, 151. 26 BayObLGZ 1967,433; 1968,17; 1971, 80; 1985,407; 1987, 195; 1989,216; 1993,100.

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cus Civilis niedergelegten Bayerischen Landrecht vom 2 . 1 . 1756 auseinanderzusetzen27. Soweit es um öffentliches Recht ging, sind Schwerpunkte das Enteignungsrecht mit 41 veröffentlichten Entscheidungen28, Staatshaftungssachen mit 30 Entscheidungen29, Baurecht mit 29 Entscheidungen30, Beamtenrecht mit 25 Entscheidungen31, Wasserrecht mit 21 Entscheidungen32, Kommunalrecht mit 21 Entscheidungen33 sowie das Straßen- und Wegerecht (17 Entscheidungen)34. Verhältnismäßig häufig wird die Erlöschensfrist für öffentlichrechtliche Ansprüche gegen den Staat (Art. 125 BayAGBGB 1899, jetzt Art. 71 BayAGBGB) behandelt (10 Entscheidungen)35, sehender dann Kirchenbaulasten und Fragen der Widmung für kirchliche Zwecke (6 Entscheidungen)36, Brandverhütungsvorschriften (5 Entscheidungen)37, Wohnraumbewirtschaftung (5 Entscheidungen)38, Gewerberecht (3 Entscheidungen)39, Naturschutzrecht (3 Ent-

BayObLGZ 1962, 70; 1966, 129; 1985,407; 1989, 203 und 216; 1991,425. BayObLGZ 1954, 216; 1955, 142; 1956, 133 und 448; 1957, 60 und 252; 1960, 295; 1965, 66 und 273; 1966, 77 und 161; 1967, 104 und 358; 1969, 307; 1972, 7, 167 und 368; 1973, 195; 1974, 190 und 380; 1975, 72, 118 und 310; 1977, 134; 1978, 69 und 358; 1981, 381; 1982, 418; 1984, 62 und 67; 1986, 105; 1987, 454; 1988, 333; 1989, 457; 1991, 210 und 224; 1992,29; 1993,65 und 353; 1994, 362; 1995,61. 2 ' BayObLGZ 1952, 59 und 97; 1953, 74 und 127; 1954, 88; 1955, 10; 1957, 26; 1963, 166; 1964, 416; 1965, 94; 1966, 285; 1967, 319; 1968, 280; 1970, 216; 1972, 117; 1974, 405 und 449; 1976, 47, 131 und 300; 1979, 395; 1980, 114; 1988, 216 und 392; 1989, 397; 1991, 35; 1993,142,281 und 370; 1995,95. 30 BayObLGZ 1957,205; 1962,142; 1963,166; 1964,188; 1966, 285 und 399; 1967,178; 1968, 172; 1971, 63; 1972, 74; 1976, 47, 99, 131 und 300; 1977, 309; 1979, 16, 138 und 395; 1985, 420 und 424; 1988, 392; 1990, 204 und 338; 1991, 35 und 153; 1993, 142 und 281; 1994,276; 1995, 95. 31 BayObLGZ 1952, 213; 1953, 240; 1955, 42, 96, 281 und 346; 1957, 146, 193, 237, 330 und 336; 1958, 53; 1959, 102, 306, 510 und 544; 1965, 468, 1966, 218; 1968, 184 und 200; 1969, 105; 1984, 77; 1986, 388 und 436; 1994, 382. 32 BayObLGZ 1959, 241; 1962, 162, 196, 210 und 421; 1964, 416; 1966, 177; 1971, 247; 1973, 195; 1980, 58, 65, 141 und 168; 1982, 354 und 431; 1989, 57, 397, 430 und 452; 1993, 370; 1994, 129. 33 BayObLGZ 1952, 59 und 97; 1953, 74; 1954, 88; 1955, 10; 1957, 26; 1961, 355 und 373; 1962, 24 und 341; 1968, 34 und 76; 1970, 216 und 226; 1974, 405; 1982, 400; 1986, 112 und 398; 1988, 216; 1989,193; 1990, 288. 3< BayObLGZ 1956, 251; 1957, 157; 1963, 240; 1964, 49 und 188; 1966, 8; 1967, 104; 1969, 169; 1972,117; 1973, 121; 1974, 226 und 380; 1975, 408; 1976, 99; 1980, 121; 1989, 97; 1990,162. 35 BayObLGZ 1957, 246; 1961, 336; 1965, 66; 1966, 161 und 353; 1969, 148; 1970, 320; 1973,195; 1974,190; 1984, 67. 36 BayObLG 1952, 218; 1965, 202 und 407; 1966, 191; 1967, 93; 1980, 381. 37 BayObLGZ 1967, 120; 1971,49; 1975, 254 und 276; 1980, 393. 38 BayObLGZ 1953, 127; 1954, 88; 1955, 142; 1956, 133; 1957, 232. 39 BayObLGZ 1954, 303; 1956, 412; 1957, 60. 27

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Das BayObLG als Revisionsgericht in Zivilsachen

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Scheidungen)40 und Denkmalschutzrecht (2 Entscheidungen) 41 . Weitere 25 Entscheidungen 42 befassen sich mit sonstigen Fragen des öffentlichen Rechts. V. Eine eingehendere Darstellung der Rechtsprechung des BayObLG zum Landesprivatrecht wäre reizvoll, im Hinblick auf ähnliche Rechtsfragen in anderen Landesrechten auch nützlich, verbietet sich aber hier aus Raumgründen. Ich beschränke mich daher auf einige Hinweise, die diesen Aufgabenbereich des Gerichts veranschaulichen sollen. Im Bereich des Fischereirechts ging es sehr häufig um die Ausdehnung eines Fischereirechts bei Vergrößerung des Gewässers durch einen Aufstau 43 . Nach dem Bau einer großen Talsperre im oberen Isartal, die den Sylvensteinspeicher aufstaut, nahm der Freistaat Bayern einen 4/5Anteil an dem bisher bestehenden Fischereirecht in Anspruch. Er blieb damit in allen Instanzen erfolglos, weil sich das Fischereirecht an den ursprünglichen Gewässern auf den Speichersee ausgedehnt hatte44. In einem weiteren, durch den Bau des Sylvensteinspeichers ausgelösten Rechtsstreit ging es um Schadensersatz wegen eines Fischsterbens, das durch den Wasserentzug während der Bauzeit verursacht wurde 45 . Von erheblicher praktischer Bedeutung sind auch die Entscheidungen zur Rechtsnatur der Forstrechte 46 und zur Rechtsnatur der sog. Gemeindenutzungsrechte 47 . Gelegentlich wirken Rechtsinstitute, die sich vornehmlich im Bundesrecht entwickelt haben, in das Landesprivatrecht hinein. So hat das BayObLG entschieden, daß eine unter der Geltung des Bayerischen Landrechts vom 2. 1. 1756 abgeschlossene Wasserbezugsvereinbarung einen schuldrechtlichen Vertrag darstelle, auf den die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage anzuwenden sind, wenn es sich um ein auch nach dem Inkrafttreten des BGB erfülltes Dauerschuldverhältnis handelt48. Dagegen sind die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage im Hinblick auf die besonderen Vor-

40

BayObLGZ 1988, 93 und 153; 1991,210. BayObLGZ 1987,454; 1988, 333. 42 BayObLGZ 1955, 1, 25 und 91; 1956, 40 und 65; 1960, 324; 1962, 247; 1965, 66; 1967, 319; 1968, 122 und 155; 1969, 39; 1973, 282; 1974, 449; 1977, 6; 1978, 69 und 395; 1981, 367; 1982, 222; 1985, 414; 1986, 86, 398 und 476; 1989, 193; 1990, 264. 41 BayObLGZ 1972, 177; 1979, 450; 1980, 400; 1982, 438; 1992, 308. 44 BayObLGZ 1973, 39 = BayVerwBl. 1973, 326. 45 BayObLGZ 1962,196. 44 BayObLGZ 1976, 58 = BayVerwBl. 1976,570. 47 BayObLGZ 1982,400. 4 » BayObLGZ 1989,216. 41

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Schriften der Art. 18-20 BayAGBGB nicht anwendbar, wenn sich die persönlichen Beziehungen der Vertragspartner eines Altenteilsvertrages derart verschlechtern, daß ein gemeinsames Wohnen auf dem übergebenen Grundstück für einen Vertragsteil unzumutbar geworden ist49. Wie das Landesprivatrecht auch heute noch die verschiedensten Lebensbereiche beeinflußt, zeigen Entscheidungen über die Auszahlung eines Sparguthabens an einen nichtberechtigten Sparbuchinhaber50, zum presserechtlichen Gegendarstellungsanspruch51, über den bei Waldgrundstücken einzuhaltenden Grenzabstand52 und schließlich auch eine allerdings weitgehend von öffentlichem Recht beeinflußte - Entscheidung über die Eigentums- und Besitzverhältnisse an bestimmten Gegenständen des Staatsarchivs Coburg 53 . VI. Auch aus dem weitgespannten Bereich des öffentlichen Rechts kann an dieser Stelle die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts als Revisionsgericht nur anhand einiger Beispiele beleuchtet werden: In Staatshaftungssachen ging es wiederholt um das für den Bürger wie für die Verwaltung gleichermaßen wichtige Beschleunigungsgebot für baurechtliche Genehmigungsverfahren: Ein Grundstückeigentümer hatte eine Baugenehmigung für einen Lebensmittelmarkt in München beantragt. Einwendungen der Einzelhandelskommission trug er freiwillig durch eine Umplanung Rechnung, die 5 Monate in Anspruch nahm. Zwei Monate nach Eingang des geänderten Bauantrages kamen die zuständigen Stellen der Stadt in einer Besprechung zu dem Ergebnis, daß dem Gesuch nun entsprochen werden kann. Die Baugenehmigung wurde aber erst drei Monate später zugestellt. Der Bauwerber hatte mit seinem Schadensersatzanspruch wegen des durch die Verzögerung entstandenen Verdienstausfalls beim Bayerischen Obersten Landesgericht teilweise Erfolg 54 . Das Gericht hat zwar eine pflichtwidrige Verzögerung insoweit verneint, als dem Bauwerber die Bedenken der Einzelhandelskommission mitgeteilt und dieser so zu einer zeitraubenden Umplanung veranlaßt wurde. Es komme nicht darauf an, ob diese Bedenken begrün-

' BayObLGZ 1989,479. BayObLGZ 1967,433 = N J W 1968, 600. 51 BayObLGZ 1970,151 = N J W 1970, 1927 52 BayObLGZ 1993, 100: Ein Waldgrundstück verliert diese Eigenschaft erst mit der Rodung, nicht schon durch die Ausweisung als Baugrundstück. " BayObLGZ 1987, 195. 51 BayObLGZ 1991, 35. 4

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det gewesen seien, weil der Bauwerber jedenfalls auf sofortige Entscheidung über seinen ursprünglichen Antrag verzichtet und die damit verbundene Verzögerung in Kauf genommen habe, um eine möglichen Ablehnung des Antrags zu vermeiden. Einen Verstoß gegen das in der Bayerischen Bauordnung ausdrücklich verankerte Beschleunigungsgebot sah das Oberste Landesgericht aber in der weiteren Verzögerung der Baugenehmigung nach der Besprechung über den geänderten Bauantrag. Das Gericht wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß über ein Baugesuch in der Regel innerhalb von drei Monaten zu entscheiden sei und die im Verfahren anzuhörenden Träger öffentlicher Belange zur Beschleunigung des Verfahrens gleichzeitig und nicht nacheinander zu beteiligen sind. In einem anderen Fall hatte ein Grundstückseigentümer einen Antrag auf Erteilung eines Vorbescheids für den Bau eines Selbstbedienungsmarktes bei der Gemeinde eingereicht, der alsbald mit einer Stellungnahme an das Landratsamt als Baugenehmigungsbehörde weiterzuleiten war. Obwohl das Bauvorhaben den Festsetzungen des rechtsverbindlichen Bebauungsplans entsprach, zögerte die Gemeinde ihre Stellungnahme mehr als ein Jahr hinaus. Der Bauwerber verlangte Schadensersatz wegen Mietausfalls und Verteuerung der Bausumme. Das Oberste Landesgericht entschied55 - im wesentlichen in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen daß die Gemeinde ihre Amtspflichten gegenüber dem Bauherrn verletzt habe. Auch in früheren Entscheidungen hatte sich das Gericht wiederholt mit Verzögerungen bei der Erteilung einer Baugenehmigung zu befassen56. Bayerisches Bauordnungsrecht spielt aber nicht nur in Staatshaftungssachen, sondern u. U. auch in Schadensersatzprozessen gegen Private eine Rolle: Eine Metallbaufirma hatte in einem Bürogebäude für die über mehrere Stockwerke führende spiralförmige Treppe ein Geländer aus Schmiedeeisen hergestellt, das nicht die nach den Bauvorschriften vorgeschriebene Höhe von 110 cm, sondern nur etwas mehr als 90 cm erreichte. Der Kläger war beim Abwärtsgehen auf der Treppe, bei dem er die rechte Hand am Handlauf des Innengeländers hatte, ins Stolpern geraten, hatte sich um die eigene Körperachse gedreht, mit der linken Hand ins Leere gegriffen und war über das steil abschüssige Innengeländer bis zum Erdgeschoß abgestürzt. Das Bayerische Oberste Landesgericht entschied57 - in Ubereinstimmung mit den Vorinstanzen - , daß die Bestimmungen der Bauordnung und der Durchführungsverordnung hierzu über die Sicherung von Treppen durch Geländer als Schutzge55 56 57

BayObLGZ 1995, 95. BayObLGZ 1968,172; 1976, 300; 1979, 395 = VersR 1980, 268. BayObLGZ 1994, 276.

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setze im Sinne von § 823 Abs. 2 B G B zugunsten aller Treppenbenutzer zu qualifizieren seien58. Hinsichtlich der von der Beklagten bestrittenen Ursächlichkeit der unerlaubten Handlung für den Schaden entschied das Oberste Landesgericht unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des B G H , daß bei einem objektiven Verstoß gegen ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 B G B grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins für eine Ursächlichkeit des Verstoßes spreche. Dies und die folgenden Ausführungen zum Mitverschulden zeigen, daß - auch wenn der Schwerpunkt des Falles im Landesrecht liegt und damit die Zuständigkeit des BayObLG gegeben ist - immer wieder auch Fragen des Bundesrechts eine Rolle spielen. Auf weitere Entscheidungen zum Schutzcharakter baurechtlicher Vorschriften sei hier nur pauschal hingewiesen59, ebenso wie auf die zahlreichen Entscheidungen zu Vereinbarungen über die Übernahme von Straßenherstellungkosten60. Aus dem Bereich des Baurechts verdienen Beachtung schließlich auch die Entscheidungen über die Unwirksamkeit von Zusagen einer Gemeinde über die Aufstellung eines Bebauungsplans sowie die Haftung aus öffentlichrechtlicher culpa in contrahendo oder aus Amtspflichtverletzung in derartigen Fällen61, zum Abwehranspruch des Nachbarn gegen einen Grenzanbau trotz Unterschrift auf dem Eingabeplan62, über die Haftung der Baubehörde für die Standsicherheit eines genehmigten Bauwerks63 und über die Bindungswirkung eines Vorbescheids64. VII. Wiederholt war das Bayerische Oberste Landesgericht mit Staatshaftungssachen befaßt, in denen es um Amtspflichtverletzungen im Zusammenhang mit Hochwasserschäden ging. In einem dieser nicht untypischen Fälle war nach starken Regenfällen ein Bach über die Ufer getreten und hatte Häuser und Grundstücke mehrerer Anlieger verwüstet. Einige von ihnen machten Schadensersatzansprüche gegen die Gemeinde geltend, weil Jahre vorher eine früher vorhandene Flutmulde aufgefüllt und eine früher offene Holzbrücke durch einen Rohrdurchlaß AaO S. 284; ebenso BayObLGZ 1977, 309 = BayVerwBl. 1978, 328. " BayObLGZ 1966, 399; 1971, 63; 1972, 74; 1977, 309; 1979, 16. 60 BayObLGZ 1957, 205 = D Ö V 1958, 909; 1964, 188; 1967, 178 = MDR 1967, 841; 1976, 99 (jeweils zum privatrechtlichen Charakter der Vereinbarung); 1962, 142 = Z M R 1962, 304 (kein Erstattungsanspruch des früheren Bauwerbers gegen den späteren). 61 BayObLGZ 1976, 47 = BayVerwBl. 1976, 378 = D Ö V 1976, 573 (LS). 62 BayObLGZ 1990, 204. " BayObLGZ 1993, 142. 64 BayObLGZ 1993,281. 58

Das BayObLG als Revisionsgericht in Zivilsachen

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ersetzt worden war und die Gemeinde dagegen nichts unternommen hatte. Das Oberste Landesgericht kam zu dem Ergebnis65, die Gemeinde sei aufgrund der ihr nach dem bayerischen Wassergesetz obliegenden Gewässeraufsicht verpflichtet gewesen, gegen die Verengung des Durchlasses und die Auffüllung der Flutmulde einzuschreiten, wenn durch diese Maßnahmen ein schadloser Hochwasserabfluß behindert wurde. Eine dahingehende Amtspflicht hat das Gericht auch für den Fall bejaht, daß die Gemeinde an den Maßnahmen nicht selbst beteiligt war. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts, die Gemeinde treffe keine Verschulden, weil ein Hochwasser dieser Art seit Jahrzehnten nicht mehr aufgetreten sei und es sich somit um ein „hundert-jährliches" Hochwasser gehandelt habe, stellte das Oberste Landesgericht klar, daß unter einem „hundert-jährlichen" Hochwasser ein Ereignis zu verstehen sei, das im statistischen Durchschnitt nur alle hundert Jahre einmal auftrete. Ein größeres Ausmaß als bei anderen in den letzten Jahrzehnten entstandenen Hochwassern genüge dafür nicht. Im übrigen verlange das bayerische Wasserrecht, daß Maßnahmen getroffen werden, die auch den schadlosen Abfluß eines hundert-j ährlichen Hochwassers sicherstellen. Nur für noch seltenere als hundert-j ährliche Hochwasser könne eine Voraussehbarkeit und damit ein Verschulden verneint werden. In einem anderen Fall hatte die Gemeinde durch den Landkreis eine Gemeindeverbindungsstraße herstellen lassen, die einen Bach überquerte. Nach starken Regenfällen kam es zu einer Überflutung des Bachtals. Weil der Brückendurchlaß zu eng war um das anströmende Wasser abzuführen, staute es sich oberhalb der Brücke, überschwemmte das Grundstück des Klägers und richtete dort erhebliche Schäden an. Gegen den Schadensersatzanspruch wandte die Gemeinde auch hier ein, es habe sich um ein hundert-jährliches Hochwasser gehandelt, auf das der Brückendurchlaß nicht habe ausgerichtet werden müssen. Gleichwohl wurde nach dem Schadensereignis der Durchflußquerschnitt der Brücke vergrößert. Das Oberste Landesgericht hat bei dieser Fallgestaltung die Voraussetzungen eines Ersatzanspruches wegen enteignungsgleichen Eingriffs unter der Voraussetzung bejaht, daß der Brückendurchlaß zu eng bemessen war66. Auch in einem erst 1993 entschiedenen Fall, in dem es um eine Amtshaftung für Hochwasserschäden an einer ausgebauten Wildbachstrecke ging, hatte der beliebte Einwand des „ hundert-jährlichen Hochwassers" keinen Erfolg67. Weitere wichtige wasserrechtliche Entscheidungen betreffen Schadensersatzansprüche wegen Zuführung schädlicher Abwäs" BayObLGZ 1989,397. 66 BayObLGZ 1989, 452. 67 BayObLGZ 1993,370.

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ser in Fischteiche68, den Eigentumserwerb an Verlandungen in einem öffentlichen Fluß 69 , das Eigentum an überfluteten Seeufergrundstücken70, die Haftung der Gemeinden beim Betrieb einer Kanalisationsanlage71, den ungesetzlichen Wasserbezug eines Flußanliegers für ein fremdes Grundstück 72 , die Haftung bei Uberschwemmungsschäden infolge Uberstaus73, den wasserrechtlichen Nachbarschutz bei Thermalbrunnen74 und Eingriffe eines Abwasserverbandes in einen Fischzuchtbetrieb durch Verminderung des Grundwasserzustroms75.

VIII. Ein erheblicher Teil der Revisionsentscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts betrifft, wie oben in Abschnitt IV. zahlenmäßig dargestellt wurde, Enteignungsrecht, insbesondere Rechtsstreitigkeit über die Höhe der Enteignungsentschädigung. Die sachliche Bedeutung dieses Bereichs soll durch einige Beispiele verdeutlicht werden. Eine Entscheidungen aus jüngster Zeit befaßt sich mit der Abgrenzung zwischen Teilenteignung und enteignendem Eingriff bei Verlegung einer S-Bahntrasse aufgrund eines bundesbahnrechtlichen Planfeststellungsverfahrens76. Die Bundesbahn hatte in den Jahren 1985/1986 im Zusammenhang mit dem Neubau einer Eisenbahnbrücke für die neue Trassenführung aus Grundstücken des Beklagten eine Teilfläche von 290 qm in Anspruch genommen und verlegte die neue Gleisachse, die ursprünglich 32,90 m von der westlichen Ecke des Wohnhauses entfernt war, jetzt in einer Entfernung von 24,40 m. Das Landratsamt billigte dem Beklagten in dem Enteignungsbeschluß u. a. eine Entschädigung von 12 180 D M für die entzogene Teilfläche und weitere 207 000 D M für die Wertminderung des Restbesitzes infolge Beeinträchtigung seines Wohnwerts zu. Die Bundesbahn wandte sich mit ihrer Klage gegen die Festsetzung der Entschädigung in dieser Höhe; sie wollte für die Grundstückfläche lediglich den Preis für landwirtschaftlich genutztes Gelände, nämlich 4650 DM und keinen Ausgleich für die Wertminderung des Restgrundstücks bezahlen. Die Klage führte in allen Instanzen lediglich zu einer Herabsetzung des Entschädigungsbetrages auf insgeBayObLGZ " BayObLGZ 70 BayObLGZ 71 BayObLGZ 72 BayObLGZ 73 BayObLGZ 74 BayObLGZ 75 BayObLGZ 76 BayObLGZ 68

1962,162 = 1962,210. 1980,141. 1964,416 = 1966,177 = 1980,65. 1980, 168 = 1989, 57. 1994, 80.

RdL 1962,162.

VersR 1965,264. RdL 1966,190. BayVerwBl. 1980, 728.

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samt 190 000 DM. Das BayObLG führte aus, die nach den Vorschriften des Bayerischen Enteignungsgesetzes zu bemessende Entschädigung umfasse neben der Entschädigung für die enteigneten Grundstücksflächen auch eine Entschädigung für die durch die Enteignung der Teilfläche entstandene Wertminderung des Restbesitzes. Die Auflassung des Flughafens München-Riem nach der Inbetriebnahme des neuen Flughafens München führte zu einem Rechtsstreit über die Rückübertragung eines für den Flughafen München-Riem in Anspruch genommenen Grundstücks 77 . Ein Rechtsvorgänger der Kläger hatte im Jahre 1937 der Landeshauptstadt München mehrere Grundstücke zum Bau des damals geplanten Flughafens in Riem verkauft. Mit der Behauptung, diese Grundstücke seien zur Abwendung einer angedrohten Enteignung verkauft worden, verlangten die Kläger Rückübertragung eines der Grundstücke gegen Zahlung des damaligen, im Verhältnis 1 : 1 0 umgestellten Kaufpreises. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat einen im jetzt geltenden bayerischen Enteignungsgesetz ebenso wie in dem Vorgängergesetz geregelten öffentlichrechtlichen Anspruch auf Rückübereignung verneint. Durch den Verkauf seien nur privatrechtliche Beziehungen zwischen den Parteien entstanden, es komme daher nur ein vertraglicher Rückgewähranspruch infrage. Auch im Wege einer ergänzenden Auslegung des Kaufvertrages, der eine ausdrückliche Rückübertragungspflicht nicht enthielt, könne eine solche Verpflichtung nicht angenommen werden. In Ubereinstimmung mit dem Berufungsgericht kam das Oberste Landesgericht zu dem Ergebnis, daß nach dem hypothetischen Parteiwillen allenfalls eine Vereinbarung in Betracht komme, die der gesetzlichen Regelung im Fall einer Enteignung entsprochen hätte. Danach könne der Eigentümer sein Eigentum zurückverlangen, wenn das Unternehmen „rückgängig" werde. Das sei aber nur der Fall, wenn die Planung nicht ausgeführt, insbesondere die Verwirklichung des Unternehmens aufgegeben wird, nicht aber, wenn das Unternehmen nach vollständiger Durchführung später aufgegeben wird. Weil der Flughafen München-Riem planmäßig gebaut und jahrzehntelang betrieben worden sei, bestehe kein vertraglicher Rückübertragungsanspruch. Aus der großen Zahl der Entscheidungen, die sich mit enteignungsrechtlichen Fragen befassen, mag noch auf einige wenige stichwortartig hingewiesen werden. Sie betreffen u. a. die Entschädigung für die Unterbringung von Flüchtlingen in einem Hotelbetrieb 78 , die Versagung eines Entschädigungsanspruchs für den Inhaber eines Apothekenrealrechts

77 78

BayObLGZ 1989, 457. BayObLGZ 1955, 142 = NJW 1955, 1478; ähnlich auch BayObLGZ 1957, 252.

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wegen Einführung der Gewerbefreiheit 79 , die Berücksichtigung des mitwirkenden Verschuldens bei einem enteignungsgleichen Eingriff in entsprechender Anwendung des § 254 BGB80, die Entschädigung für den Verlust der Eigenschaft als Bauerwartungsland infolge der vorbereitenden Planung des Enteignungsverfahrens 81 , die Zulässigkeit eines unbezifferten Klageantrags für die Enteignungsentschädigung 82 , die Bewertung landwirtschaftlicher Grundstücke als Bauerwartungsland 83 , die Verzinsung der Entschädigung nach dem verkehrsüblichen Zinssatz 84 , die Abgrenzung von Enteignung und Sozialbindung bei Bauverbot in einer Wasserschutzzone 85 , den Verlust der Baulandqualität als Teilenteignung86, eine Zufahrtsbeschränkung als enteignender Eingriff zu Lasten der Anlieger87, die Enteignung eines staatlichen Grundstücks für ein privatwirtschaftliches Unternehmen 88 , eine Teilenteignung durch bauliche Rückentwicklung im Wasserschutzgebiet 89 , die Versagung einer Entschädigung für den sog. Resthofschaden 90 , die Bindung an eine nicht beurkundete Teileinigung hinsichtlich der Entschädigung, wenn der Ubergang des Grundstücks dem Enteignungsverfahren vorbehalten wird 91 , Denkmalschutzvorschriften als Sozialbindung, die keinen Entschädigungsanspruch auslöst92, die Entschädigung für übernommene Naturschutzgrundstücke 93 , die Verneinung eines Anfechtungsrechts hinsichtlich eines wegen der „Drohung" mit einer Enteignung geschlossenen Grundstückskaufvertrages 94 und die Vorwirkung einer Enteignung95.

79

BayObLGZ 1957, 60. BayObLGZ 1960,295 = D Ö V 1960, 913. 81 BayObLGZ 1965,273 = MDR1965,907. 82 BayObLGZ 1966, 77 = NJW 1966, 1369. " BayObLGZ 1969, 307 = NJW 1970, 864. " BayObLGZ 1972, 368; bei vorzeitiger Besitzeinweisung ab deren Wirksamkeit, BayObLGZ 1984, 62 = D Ö V 1984, 818 (LS). 85 BayObLGZ 1973,195. 86 BayObLGZ 1974, 190 = BayVerwBl. 1974, 437. 87 BayObLGZ 1974, 380 = BayVerwBl. 1975, 23. 88 BayObLGZ 1975, 72 = NJW 1975, 1128 = D Ö V 1975, 317 = MDR 1975, 667. 89 BayObLGZ 1975,310 = MDR 1976,47. 90 BayObLGZ 1977,134 = BayVerwBl. 1977, 574; ähnlich BayObLGZ 1986, 105. 91 BayObLGZ 1981,381 92 BayObLGZ 1987, 454 (Versagung einer Abbruchgenehmigung); BayObLGZ 1988, 333 (Ensembleschutz). 55 BayObLGZ 1991,210. 94 BayObLGZ 1991, 224. 95 BayObLGZ 1994, 362. 80

Das BayObLG als Revisionsgericht in Zivilsachen

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IX. Die Vielfalt der in den hier besprochenen Revisionsverfahren erörterten Rechtsfragen läßt sich im Rahmen dieses Uberblicks über die Rechtsprechung nur höchst unvollständig darstellen. Aus dem Bereich des Straßen- und Wegerechts soll aber wegen ihrer praktischen Bedeutung auf die zahlreichen Entscheidungen zur Streupflicht hingewiesen werden 96 , ebenso auf die öffentlichrechtliche Straßenverkehrssicherungspflicht, die in Bayern die privatrechtliche Verkehrssicherungspflicht verdrängt mit der Folge, daß für die Haftung die Einschränkung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB gilt97. Zwei Entscheidungen beschäftigen sich mit Verträgen über die Sicherung und Erstattung von Straßenbaukosten 98 . Zur öffentlichrechtlichen Sondernutzungserlaubnis hat das BayObLG entschieden, daß ihr Inhaber für die Nutzung (hier: für die Verlegung von Thermalwasserrohrleitungen) nicht auch noch der privatrechtlichen Zustimmung des Straßeneigentümers bedarf 99 . Eine weitere Entscheidung befaß sich mit dem Gemeingebrauch des Straßenanliegers, dem kein Recht auf einen Straßenzugang an beliebiger Stelle ohne Rücksicht auf dort vorhandene Versorgungseinrichtungen der Stadtwerke zugestanden wird100. Eine Reihe interessanter Entscheidungen findet sich auch auf dem Gebiet des Beamtenrechts: Danach hat der Beamte bei verspäteter Gehaltszahlung Anspruch auf Verzugszinsen oder Ersatz des sonstigen Verzugsschadens101, die gnadenweise Tilgung eines Strafvermerks beseitigt nicht die beamtenrechtlichen Wirkungen der Verurteilung 102 , das Verschulden eines auf Weisung handelnden Beamten kann gemindert sein103. Eine Reihe von beamtenrechtlichen Entscheidungen befaßt sich mit dem

96 B a y O b L G Z 1956, 251 (Haftung der Gemeinde bei Wahrnehmung der einer anderen Körperschaft obliegenden Streupflicht); 1957, 157 = D Ö V 1957, 594 (Streupflicht des Staates f ü r Fußgängerüberwege über Ortsdurchfahrten); 1963, 240 = N J W 1964, 302 (Umfang der Streupflicht der Anlieger bei fehlendem Bürgersteig); 1966, 8 = BB 1966, 1413 (Streupflicht der Gemeinde auf öffentlichen Fußwegen); 1973, 121 = VersR 1973, 768 (LS) (Streupflicht der Gemeinde als Anliegerin); 1975, 408 (Streupflicht der Anlieger bei Schienengrundstücken); 1990, 162 (Streupflicht der Gemeinde auf Ortsstraßen mit nur einem Gehweg). " B a y O b L G Z 1972, 117 = N J W 1972, 1325. 98 B a y O b L G Z 1964, 188 = BayVerwBl. 1964, 301 (Fortgeltung der nach früherem Recht geschlossenen Vereinbarungen); 1976, 99 = BayVerwBl. 1976, 633 (Erschließungsverträge über Ortsstraßen gehen der Herstellungspflicht der Gemeinde vor). 99 B a y O b L G Z 1980, 121 = D Ö V 1980, 728. "» B a y O b L G Z 1989,97. 101 BayObLGZ 1955, 96. 102 BayObLGZ 1959,102. 103 B a y O b L G Z 1986, 388.

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Beihilferecht104. Beamtenrecht und Notarrecht lagen auch einer Entscheidung zugrunde, nach der die Zurückweisung des Antrags eines Notars, einen pensionierten Richter zu seinem Vertreter zu bestellen, den in Aussicht genommenen Vertreter nur mittelbar berührt105. In der gleichen Entscheidung wird ein Anspruch des pensionierten Richters auf das dienstrechtliche Einverständnis zur Bestellung als Notarvertreter für den Fall verneint, daß der Richter in dem betreffenden Landgerichtsbezirk die Dienstaufsicht über die Notare geführt hat und seit dem Eintritt in den Ruhestand noch nicht drei Jahre verstrichen sind. Im Kommunalrecht ging es wiederholt um die Frage, welche Körperschaft bei Amtspflichtverletzungen von Bediensteten des Landratsamts haftet106. Auch sonst spielen Haftungsfragen immer wieder eine Rolle, vgl. etwa die Entscheidungen zu den Anforderungen an die Beschaffenheit von Trinkwasser 107 , zur Haftung der Gemeinde für Amtspflichtverletzungen von Angehörigen der Freiwilligen Feuerwehren108, zur Haftungsbeschränkung durch Satzung bei Hilfeleistungen der Freiwilligen Feuerwehr außerhalb der Pflichtaufgaben 109 , zur Ablehnung eines Amtshaftungs- oder Entschädigungsanspruchs der Gemeinde wegen der Kosten für den Bau einer später aufgelösten Schule110, zur Amtspflichtverletzung durch einen Beitragsbescheid für Wasserversorgungs- und Entwässerungsanlagen 111 . Weitere Entscheidungen zum Kommunalrecht betreffen die Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges für Streitigkeiten über die Ablösungsentschädigung für Gemeindenutzungsrechte 112 , Gemeindeservituten nach gemeinem Recht113, die Vertretungsbefugnis des Bürgermeisters114 und die Pflicht der Gemeinde zur Löschwasserversorgung115. Andere wichtige Bereiche des öffentlichen Rechts werden u. a. in den Entscheidungen zur Lärmbeslästigung bei einer juristischen Staatsprüm BayObLGZ 1955, 281 = D Ö V 1956, 62 (Rechtsanspruch auf Regelbeihilfe); 1957, 336 (Geltung der Beihilfegrundsätze von 1942 in Bayern); 1959, 510 und 544 (Beihilfefähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen). 105 BayObLGZ 1994,382. "* BayObLGZ 1952, 59 = NJW 1952, 825 (Haftung des Staates bei Wahrnehmung staatlicher Aufgaben); ebenso BayObLGZ 1952, 97; 1953, 74; 1954, 88; 1955, 10; 1957, 26. 107 BayObLGZ 1968,34 = MDR 1968, 593 = D Ö V 1968, 808. ,08 BayObLGZ 1970,216. ,M BayObLGZ 1989, 193. BayObLGZ 1974, 405 = BayVerwBl. 1975, 85. '» BayObLGZ 1988,216. 1,2 BayObLGZ 1961, 373. 113 BayObLGZ 1962, 24 und 341; 1970,226. 1H BayObLGZ 1986, 112 (bei einer Vereinbarung über die Verwendung von Architektenplänen). 1,5 BayObLGZ 1986, 398; 1990, 288 (für einen Rangierbahnhof der Bundesbahn).

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fung116, über die Unterhaltspflicht für die Veste Coburg 117 sowie über Zweck und Umfang der Stiftungsaufsicht 118 angesprochen. Zum Abschluß dieses Uberblicks über die Rechtsprechung des BayObLG in Revisionssachen sei noch auf einen Rechtsstreit hingewiesen, der vom Sachverhalt wie von den zu entscheidenden Rechtsfragen her auf Interesse stoßen mag: Ein Urlauber war bei einer Bergwanderung in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen beim Abstieg am Nachmittag in unwegsames Gelände geraten, verletzte sich bei einem Sturz und verlor seine Brille. Wegen seiner Kurzsichtigkeit konnte er den Abstieg nicht fortsetzen. Er ließ sich an einer geschützten Stelle in etwa 1400 m Höhe nieder und wartete auf Hilfe. Als der Urlauber abends nicht im Hotel eintraf, wurde gegen 20.30 Uhr die Bergwacht verständigt. Eine Gruppe von 25 Bergwachtieuten suchte in zwei Gruppen nach dem Vermißten, fand ihn gegen 2 Uhr morgens und brachte ihn zu Tal. Im Kreiskrankenhaus wurden eine Unterkühlung, Kopfplatzwunden, Schürfwunden und zwei Rippenbrüche festgestellt. Das Bayerische Rote Kreuz, zu der die Bergwacht als unselbständige Untergliederung gehört, hatte für die reinen Bergungskosten von der Krankenversicherung des Verletzten aufgrund einer Vereinbarung der entsprechenden Verbände eine Bergunfall-Pauschale von 250 D M erhalten, verlangte aber dann von dem Verletzten unter dem Gesichtspunkt des Dienstvertrages, hilfsweise der Geschäftsführung ohne Auftrag, 4800 D M für die Kosten der Suchaktion abzüglich eines vom Verletzten nach seiner Auffindung übergebenen Betrages von 100 DM. Die 25 Bergwachtmänner hatten vom BRK allerdings nur eine Einsatzentschädigung von zusammen 1340 D M erhalten. Das Landgericht gab der Klage des BRK statt. Auf die Berufung des Beklagten, mit der er sich gegen eine Zahlung von mehr als 990 D M wandte, änderte das Oberlandesgericht das Urteil dahin ab, daß lediglich weitere 400 D M zu zahlen waren, weil zwischen den Parteien kein Dienst-, Werk- oder Geschäftsbesorgungsvertrag zustande gekommen sei. Die Revision des Bayerischen Roten Kreuzes argumentierte demgegenüber, wer in Bergnot gerate und um Hilfe rufe, sei zu allem bereit, was seiner Rettung dienlich sei, insbesondere auch zum Abschluß eines Dienstvertrages mit Vergütungspflicht. Zu ersetzen seien nicht nur die an die Bergwachtieute gezahlten Beträge, sondern auch die anteiligen Vorhaltekosten des Bergrettungssystems. Die Revision hatte keinen Erfolg119. Das BayObLG billigte die Auffassung des Berufungsgerichts. Es gebe

1,7

BayObLGZ BayObLGZ BayObLGZ BayObLGZ

1974,449. 1985, 414. 1990,264. 1978, 395 = BayVerwBl. 1979, 185.

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keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der in solchen Fällen für einen Vertragwillen spreche. Unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag könne die Klägerin auch keinen Ersatz von Vorhaltekosten verlangen. Der Bergrettungsdienst sei eine öffentlichrechtliche Aufgabe, die der Klägerin als einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nach dem Bayerischen Gesetz über den Rettungsdienst übertragen worden sei. Vorhaltekosten für das Melde- und Alarmierungssystem, Kosten für Spezialfahrzeuge und -geräte, für Personalausbildung und -Übung, für den organisierten Bereitschaftsdienst und die Unterhaltung von Bergrettungswachen und -Stützpunkten seien Aufwendungen, die im Rahmen der öffentlichrechtlichen Rettungsdienstaufgabe unabhängig von der Zahl der Einsätze anfielen. In der von der Krankenkasse des Verletzten vereinbarungsgemäß bezahlten Bergunfall-Pauschale seien bereits anteilige Vorhaltekosten für die Rettung aus Bergnot enthalten. Die hier geltend gemachten anteiligen Vorhaltekosten für die Suchaktion gehörten, soweit sie überhaupt zusätzlich entstanden wären, in den Bereich der allgemeinen Unkosten für die öffentlichrechtliche Aufgabe des Rettungsdienstes. Solche allgemeine Geschäftsunkosten könnten im Rahmen des Aufwendungsersatzes bei Geschäftsführung ohne Auftrag nicht beansprucht werden. X. Aufgaben und Bedeutung des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Gerichtswesen der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich zu einem großen Teil aus seiner Zuständigkeit als zentrales Revisions- und Rechtsbeschwerdegericht in Strafsachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die Stellung des Gerichts wird aber ebensosehr geprägt durch seine Aufgabe als Revisionsgericht in bürgerlichen Rechtsstreiten, in denen es anstelle des Bundesgerichtshofs zuständig ist. Es handelt sich dabei, wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgehen sollte, keineswegs um ein historisches Relikt, sondern um die Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung des Landesrecht auf einer Vielzahl praktisch höchst bedeutsamer Rechtsgebiete. Die Wahrung der Rechtseinheit ist für ein Land von der Größe Bayerns von erheblichem Interesse. Der große Einzugsbereich des Gerichts mit ca. 12 Millionen Einwohnern führt zu einem Erfahrungswissen, das in Verbindung mit der durch die Aufgabenkonzentration ermöglichten Spezialisierung eine sachgerechte und in aller Regel überzeugende Wahrnehmung der Aufgaben gewährleistet. Die damit verbundene Entlastung des Bundesgerichthofs von den in diesem Beitrag geschilderten Revisionsverfahren 120 ist 120

Vgl. MünchKomm- Wolf Art. 8 EGGVG Rdn. 1.

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jedenfalls bei Betrachtung eines längeren Zeitraums - nicht unerheblich und deshalb sicherlich positiv zu bewerten. Wichtiger ist aber wohl, daß die Tätigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts die Möglichkeiten der Landesjustiz im föderalistischen Deutschland verdeutlicht und so das Bewußtsein dafür stärken kann, daß Kompetenzverlagerungen auf die Ebene des Bundes oder auch der Europäischen Union nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Ressourcen der kleineren Gemeinschaft für die Bewältigung einer Aufgabe nicht ausreichen.

Die Gewährleistung bei Organisationsmängeln des B auunternehmers Beispiel einer höchstrichterlichen Rechtsfortbildung

ARNO LANG

„Kaum ein Urteil des für das Baurecht zuständigen VII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes hat in den letzten Jahren soviel Aufsehen erregt wie das Urteil vom 12. März 1992 zur dreißigjährigen Haftung des Bauunternehmers für Baumängel" schrieb Kniffka, der die Genese des Urteils als damaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesgerichtshof miterlebt hatte, im November 1993 in der Zeitschrift für Deutsches und Internationales Baurecht1. Rutkowsky hatte bereits schroffe Kritik geübt, gar die Kompetenz des Gerichts zur Rechtsfortbildung bestritten2. Auf der Münchener Baurechtstagung der ARGE Baurecht im Deutschen Anwaltsverein am 26. November 1993 wurde das Thema kontrovers diskutiert und von Verunsicherung bei Anwälten und bei den Instanzgerichten gesprochen. Es sei - so wurde berichtet - bei erstinstanzlichen Gerichten inzwischen gang und gäbe, „pauschal" auf die dreißigjährige Verjährungsfrist hinzuweisen3. Inzwischen sind eine Reihe weiterer, zumindest im Ergebnis durchweg zustimmender, Stellungnahmen im Schrifttum, erschienen4 und sind mehrere OLG-Entscheidungen ergangen, zum Teil veröffentlicht5, zum Teil ohne Veröffentlichung in die Revisionsinstanz gelangt. Bei den auf München folgenden Baurechtstagungen stand das Thema keineswegs mehr im Mittelpunkt des Interesses. Das alles deutet darauf hin, daß Wissenschaft und Praxis sich auf die neue Rechtslage eingestellt haben. Es erscheint deshalb an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Was war geschehen? Der VII. Zivilsenat hatte über die Folgen eines haarsträubenden Baufehlers zu befinden: Die Dachpfetten eines ScheuZfBR 1993,255 über das Urteil BGHZ 117, 318. NJW 1993, 1748; ähnlich den., ZfBR 1994, 201. J Vgl. Wirth, BauR 1994, 33 ff. 4 Außer Kniffka und Wirth, jeweils aaO: Koeble Anmerkung LM BGB § 638 Nr. 77; Merl DNotZ 1993, 677; Ingenstau/Korbion, VOB 12. Aufl. Teil B § 13 Rdn. 270 ff entgegen früheren kritischen mündlichen Äußerungen; Derleder, JZ 1992, 1021; Jagenburg, NJW 1993, 102, 110; Staudinger/Peters, BGB 13. Bearbeitung §638 Rdn. 33 f; Löffelmann/Fleischmann, Architektenrecht 3. Aufl. Rdn. 1579; kritisch dagegen: Heiermann/ Riedl/Rusam, VOB 7. Aufl. Teil B § 13 Rdn. 83. 5 O L G Oldenburg BauR 1995, 105 und O L G Köln BauR 1995, 107. 1

2

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A r n o Lang

nendachs waren entgegen allen Regeln der Baukunst nicht verankert, so daß das Dach zwanzig Jahre nach seiner Errichtung einstürzte 6 . Die normalen Gewährleistungsfristen waren abgelaufen; eine Schadensersatzpflicht kam nur in Betracht, wenn der Senat ein arglistiges Verschweigen des Mangels nach § 638 BGB bejahte. Ein arglistiges Verschweigen liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vor, wenn ein für die andere Seite wichtiger mitzuteilender Umstand bewußt nicht offenbart wird 7 . Dazu gehört bei der Errichtung eines Bauwerkes das Ergebnis der Prüfung auf Mangelfreiheit. Der Werkunternehmer schuldet als vertragliche Nebenpflicht eine solche Prüfung, die er selbst oder ein dazu befähigter Mitarbeiter vorzunehmen hat. Wird bei dieser Prüfung ein gravierender Mangel festgestellt, muß dieser dem Besteller mitgeteilt werden. Im Rahmen dieser vertraglichen Abwicklung gilt § 278 BGB. Daß der Unternehmer für ein Versehen des von ihm zur Ablieferung des Werkes an den Besteller eingesetzten Mitarbeiters als seines Erfüllungsgehilfen bei dieser vertraglichen Nebenpflicht einzustehen hat, ist außer Streit. Problematisch wird es erst, wenn es um das Versehen eines nur mit der Herstellung des Bauwerks, aber nicht mit der Ablieferung befaßten Mitarbeiters geht oder wenn gar keine oder eine nicht ausreichende Prüfung eingeplant war, also ein Organisationsmangel des Unternehmers vorliegt. In diesem Fall müssen das - der gesetzlichen Regelung und noch mehr § 13 VOB/B zugrundeliegende - an sich anerkennenswerte Interesse des Unternehmers an einem zeitlich überschaubaren Ende seiner Gewährleistungshaftung und das gegenläufige Interesse des Bestellers, nicht in treuwidriger Weise in seinen Gewährleistungsrechten verkürzt zu werden, sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Die Problematik ist nicht neu. Es gibt dazu seit längerem unterschiedliche Lösungsansätze. Derleder* und Hoffmann9 wollen die Kenntnis einer jeden bei der Herstellung des Werkes mitwirkenden Hilfsperson dem Unternehmer zurechnen. Andere Autoren weisen darauf hin, daß der Besteller haftungsrechtlich nicht dadurch schlechtergestellt werden darf, daß der Auftragnehmer sein Unternehmen arbeitsteilig organisiert, aber nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen hat, um eine ordnungsgemäße Erfüllung seiner Prüfungspflicht sicherzustellen 10 . Nur verein-

' Der genaue Sachverhalt ist in B G H Z 117, 318 nachzulesen. 7 B G H Z 62, 63, 66 und ständig. 8 A K / D e r l e d e r , BGB § 638 Rdn. 1. 9 JR 1969, 371. 10 Staudinger/Peters, schon in der 12. Aufl. § 6 3 8 Rdn. 33; Gassner, BauR 1990, 312, 316; Kaiser, Mängelhaftungsrecht 7. Aufl. Rdn. 179 = S. 504; Hochstein, in: Schäfer/Finnern, Z. 2.415.0; Jagenburg, N J W 1971, 1425, 1427.

Die Gewährleistung bei Organisationsmängeln des Bauunternehmers

585

zeit wird ein Bedürfnis nach einer Haftung des Unternehmers bei Organisationsmängeln bestritten". Der Bundesgerichtshof hat das Problem schrittweise zu lösen versucht. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Gehilfen bei der Herstellung eines Werkes und dem Gehilfen „bei der Offenbarungspflicht" 12 . Nach § 278 BGB hat der Schuldner nur ein Verschulden der Person, deren er sich zur Erfüllung einer bestimmten Verbindlichkeit bedient, wie eigenes Verschulden zu vertreten. Wer sich zur Herstellung des versprochenen Werkes eines Gehilfen bedient, hat also für dessen Verschulden bei der Herstellung einzustehen. Das ist aber nicht identisch mit dem für die lange Verjährung des § 638 BGB vorausgesetzten Verschulden bei der Ablieferung des Werkes, das erst Arglist begründet. Der VII. Zivilsenat hat es bei wiederholter Prüfung nicht für angängig gehalten, das Verschulden bei der Herstellung dem Verschulden bei der Ablieferung schlichtweg gleichzusetzen. Das widerspräche Wortlaut und Sinn des Gesetzes. Mancher nur mit der Herstellung in untergeordneter Funktion befaßte Gehilfe verdeckt und verschweigt einen ihm unterlaufenen Fehler. Wollte man dieses Verschweigen stets über § 278 BGB dem Unternehmer im Rahmen von dessen Prüfungs- und Offenbarungspflicht zurechnen, so wäre in der Tat die ein- oder fünfjährige Verjährung des § 638 BGB nicht mehr die Regelverjährungsfrist. Eine derart weitgehende Haftung des Werkunternehmers erscheint wirtschaftlich nicht vertretbar. Freilich führt eine strenge und reine Durchführung dieser Grundsätze ebensowenig in allen Fällen zu befriedigenden Lösungen. Moderne Bauunternehmen, insbesondere größere, sind in der Regel stark arbeitsteilig organisiert. Es ist ein - fast allgemein anerkanntes - Gebot der Gerechtigkeit, daß die arbeitsteilige Organisation des Unternehmens nicht zu einer treuwidrigen Verkürzung der Gewährleistungsrechte des Auftraggebers führen darf. Der VII. Zivilsenat hatte erstmals in seinem Urteil vom 20. Dezember 197312 eine für modernes Bauen typische Arbeitsaufteilung zu beurteilen: Das ordnungsgemäße Einbringen von Stahleinlagen in Beton kann praktisch nur während des Arbeitsvorganges vor O r t eine kurz Zeit lang überprüft werden, danach nur noch mit aufwendigen Untersuchungsmethoden. Ist diese Prüfung dem Kolonnenführer übertragen, so ist sein Wissen vom Ergebnis der Prüfung dem Unternehmer zuzurechnen, auch wenn der Kolonnenführer - wie üblich - mit der Ablieferung des Werkes nichts zu tun hat; anders wäre eine ordnungsgemäße Erfüllung der Prüfungs- und Offenbarungspflicht nicht gewährleistet. " Rutkowsky, NJW 1993, 1748. 12

B G H Z 62,63, 68.

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Arno Lang

Etwas anders verhält es sich beim Subunternehmer. Ist ihm die Werkleistung zur eigenverantwortlichen Ausführung übertragen, so hat er seinerseits kraft des mit dem Hauptunternehmer geschlossenen Werkvertrages sein Werk zu prüfen und dabei erkannte Herstellungsfehler dem Hauptunternehmer zu offenbaren. Das rechtfertigt es, ihn auch im Verhältnis zwischen Auftraggeber und Hauptunternehmer als dessen Erfüllungsgehilfen bei der „Offenbarungspflicht" anzusehen mit der Folge, daß der Hauptunternehmer gegenüber dem Besteller das arglistige Verschweigen eines Mangels durch den Subunternehmer gemäß § 278 BGB wie eigenes arglistiges Verschweigen zu vertreten hat13. Daran hat der VII. Zivilsenat in ständiger Rechtsprechung festgehalten und daran hat - entgegen anderslautenden Vermutungen in der Diskussion um das Urteil vom 12. März 1992 - dieses Urteil nichts geändert. Es befaßt sich nicht mit dem Fall des Subunternehmers, hatte dazu angesichts der in ständiger Rechtsprechung geklärten Rechtslage auch keine Veranlassung. In voller Schärfe stellte sich die Frage, wie es sich mit der Arglist bei Organisationsmängeln verhält, erst bei dem BGHZ 117, 318 zugrundeliegenden Fall. Der VII. Zivilsenat hat sie bekanntlich dahin entschieden, daß der Unternehmer dann einzustehen hat, wenn er die Überwachung und Prüfung des Werkes nicht oder nicht richtig organisiert hat und der Mangel bei richtiger Organisation entdeckt worden wäre. Bei der Frage, wie das dogmatisch zu begründen ist, hat sich der Senat bewußt zurückgehalten, auch um eine wissenschaftliche Diskussion anzuregen, die ja inzwischen in Gang gekommen ist. Dogmatik soll auch an dieser Stelle nicht nachgeholt werden. Angemerkt sei nur, daß m. E. die schlichte Überlegung durchaus weiterhilft, daß sich im Zuge fortschreitender Arbeitsteilung eine Regelungslücke aufgetan hat, die durch eine entsprechende Anwendung der Rechtsfolge bei arglistigem Verschweigen eines Mangels geschlossen wurde. Daß eine solche Rechtsfortbildung legitime Aufgabe höchstrichterlicher Rechtsprechung ist, sollte keiner weiteren Begründung bedürfen. Durch die Gleichstellung von Organisationsverschulden - immer unter der Voraussetzung, der Mangel wäre bei ordnungsgemäßer Organisation entdeckt worden - mit arglistigem Verschweigen wird zunächst im Grundsatz die Darlegungs- und Beweislast nicht berührt. Grundsätzlich hat der Besteller die Voraussetzungen der dreißigjährigen Verjährung darzulegen und zu beweisen. Dazu gehört, daß der Unternehmer arglistig gehandelt hat, sei es, daß er einen erkannten Mangel arglistig verschwiegen, sei es, daß er sein Werk gar nicht auf Mängel über-

13

BGHZ 66,43.

Die Gewährleistung bei Organisationsmängeln des Bauunternehmers

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prüft hat, ihn also ein Organisationsverschulden trifft, und der Mangel bei richtiger Organisation entdeckt worden wäre. E s ist abzusehen, daß bei der großen Masse der kleineren und mittleren Baumängel, auch vieler größerer, dieser Beweis nicht zu führen sein wird, wenn seit der A b nahme längere Zeit verstrichen ist. E s wäre lebensfremd zu übersehen, daß in derartigen Fällen die Darlegungs- und Beweislast vielfach prozeßentscheidende Bedeutung haben kann. Mindestens so wichtig wie die Ausführungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen einer verlängerten Verjährungsfrist sind deshalb die Hinweise im Urteil v o m 12. M ä r z 1992 zur Darlegungs- und Beweislast. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Annahme, daß es immer wieder - dem entschiedenen Fall vergleichbare - Fälle von Mängeln gibt, bei denen der Fehler so grob und ins A u g e springend ist, daß er gewissermaßen für sich selbst spricht und es unbillig wäre, die - oft prozeßentscheidende - Darlegungs- und Beweislast voll beim Besteller zu belassen. D e m Senat erschien es angemessen, in diesen Fällen indizierten groben Fehlverhaltens Beweiserleichterungen zu schaffen. Diese Fälle sollten mit der Formulierung „gravierender Mangel an einem besonders wichtigen G e w e r k " oder „besonders augenfälliger Mangel an weniger wichtigen Bauteilen" umschrieben werden. Dreieinhalb Jahre nach der Verkündung des Urteils v o m 12. M ä r z 1992 ist es an der Zeit nachzufragen, wie die Praxis der Instanzgerichte mit den Leitlinien der Entscheidung umgeht und zurechtkommt. Meines Wissens sind zu der Thematik zwei obergerichtliche Urteile veröffentlicht worden 1 4 . D a s Urteil des O L G Oldenburg und zwei oder drei weitere nicht veröffentlichte Berufungsurteile sind mit der Revision angefochten worden. Alle Oberlandesgerichte haben die Grundsätze aus B G H Z 117, 318 ohne Wenn und Aber angewendet, in einem Fall auf ein arbeitsteilig organisiertes Architektenbüro 1 5 . In allen Fällen handelte es sich u m recht grobe Mängel, die die jeweiligen Oberlandesgerichte veranlaßten, die Vermutung für einen Organisationsmangel eingreifen zu lassen. D e r Gegenbeweis wurde in keinem der Fälle als geglückt angesehen. D e r VII. Zivilsenat hat in keinem der in die Revisionsinstanz gelangten Fälle Veranlassung gesehen, die Revision anzunehmen. Ein Fall (betreffend die Architektenhaftung) endete mit einem außergerichtlichen Vergleich. D a s O L G K ö l n hat in seiner genannten Entscheidung zugleich Grundsätze z u m Ausmaß der gebotenen stichprobenartigen Kontrolle von Estrichverlegearbeiten aufgestellt. Diese Entscheidung ist nicht z u m Bundesgerichtshof gelangt, so daß der VII. Zivilsenat bisher

14

ls

O L G Oldenburg BauR 1995, 105 und OLG Köln BauR 1995, 107. Ebenso Löf Jeimann/Fleischmann, Architektenrecht 3. Aufl. Rdn. 1578 ff.

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keine Gelegenheit hatte, sich zu den Anforderungen an die Kontrolle im einzelnen zu äußern. Die bisher dem Bundesgerichtshof bekanntgewordenen Fälle zeigen, daß die Instanzgerichte die Grundsätze des Urteils vom 12. März 1992 loyal anwenden und offenbar mit Augenmaß damit umzugehen verstehen, so daß der VII. Zivilsenat noch in keinem Fall präzisierend oder gar korrigierend eingreifen mußte. Die von einigen Kritikern befürchtete Flut von Prozessen ist anscheinend ausgeblieben und es kann gar keine Rede davon sein, daß die dreißigjährige Verjährungsfrist bei Baumängeln nun zur Regelfrist geworden wäre. Damit dürfte eine gewisse Konsolidierung eingetreten sein, die einerseits dem Unternehmer gestattet, sein Risiko hinreichend sicher einzuschätzen, und andererseits den Bauherrn in exorbitanten Fällen besser schützt.

Zur Reichweite gesetzlicher Haftungsmilderungen DIETER MEDICUS

I. Die Fragestellung Uber die Reichweite der gesetzlichen Haftungsmilderungen etwa für den Schenker oder den Verleiher (vor allem §§ 521, 599 B G B ) bestehen seit langem Zweifel: Betreffen diese Milderungen nur das Leistungsinteresse des Geschädigten? Oder erfassen sie darüber hinaus auch sein gesamtes Erhaltungsinteresse oder doch Teile davon? Beschränken sie sich auf Vertragsansprüche, oder gelten sie auch für konkurrierende Deliktsansprüche? Diese Fragen sind etwa an dem vom B G H entschiedenen Pülpe-Fall 1 deutlich geworden: Die beklagte Herstellerin von Kartoffelchips hatte dem klagenden Landwirt Pülpe überlassen, die bei der Chipsproduktion übrigblieb. Die mit dieser Pülpe gefütterten Bullen des Klägers verendeten oder erbrachten nur einen minderen Verkaufserlös. Der Kläger verlangt Schadensersatz, weil die Beklagte ihn nicht auf die Behandlung der Pülpe mit Enzymen hingewiesen habe: Erst hierdurch sei die Pülpe gefährlich geworden. Hier geht es nicht um das Leistungsinteresse des Klägers, also etwa um die Kosten für den Kauf von neuem Bullenfutter. Vielmehr macht der Kläger das Interesse an der Erhaltung seines vorhandenen Vermögens geltend, nämlich den Schaden aus dem Tod oder dem Gewichtsverlust seiner Bullen. In dem Prozeß waren gleich mehrere Rechtsfragen zu erörtern, nämlich auch die Bedeutung von § 7 Abs. 3 FuttermittelG 2 sowie, ob die Weggabe nicht mehr benötigter Produktionsabfälle eine Schenkung sei3. Hier kommt es aber allein auf die Frage nach der Geltung von § 521 B G B für das (vertraglich und deliktisch geschützte) Erhaltungsinteresse an, deren Behandlung in dem Urteil auch den breitesten Raum einnimmt 4 .

B G H Z 93,23, Urt. v. 22. 11. 1984. V. 2. 7.1975, BGBl. 1 1745, dazu B G H Z 93,23/25 f. J Dazu (m. E. mit Recht bejahend) B G H Z 93, 23/25, ebenso etwa Stoll, J Z 1985, 384/385. 1

2

590

Dieter Medicus

II. Die Haltung der Rechtsprechung Der BGH hat in dem Pülpe-Fall zu dem geltend gemachten Ersatzanspruch erwogen: Wenigstens bei § 521 BGB könne die Freigiebigkeit der einen Seite „nur zu den Vertragserwartungen des Begünstigten in Beziehung gesetzt werden". Daher rechtfertige die Großzügigkeit des Schenkers es nicht, die Haftungsmilderung auch da eingreifen zu lassen, wo es um die Verletzung von Schutzpflichten ohne Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand gehe. Doch liege hier ein solcher Zusammenhang vor, weil der Schaden durch den „nach dem Vertrag vorausgesetzten" Verbrauch der Pülpe entstanden sei5. Daher hat der BGH den eingeklagten Schadensersatzanspruch für unbegründet gehalten. Im Ergebnis hat sich also die prinzipiell bejahte Einschränkung der Tragweite von § 521 BGB nicht ausgewirkt; diese Bejahung bildet folglich bloß ein obiter dictum. Entsprechend wie der BGH hat in neuerer Zeit etwa das OLG Celle 6 für § 599 BGB entschieden. Dort war der Kläger dadurch verletzt worden, daß ein Förderband während des Transports zusammenklappte, das der Beklagte dem Bruder des Klägers geliehen hatte. Das OLG läßt Ersatzansprüche des Klägers an § 599 BGB scheitern: Auch der Transport des Förderbandes gehöre zu dessen vertragsgemäßer Benutzung. Zudem erstrecke sich das Haftungsprivileg des Verleihers deshalb auf den an dem Leihvertrag unbeteiligten Kläger, weil dieser in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen sei. Im Ergebnis ebenso, allerdings ohne Berufung auf die Pülpe-Entscheidung des BGH, hatte schon vor dem OLG Celle das OLG Köln entschieden7. Dort waren die Klägerin verletzt und ihr Ehemann getötet worden, weil an dem verliehenen Motorrad der Vorderreifen platzte. Das beruhte möglicherweise auf einer unsachgemäßen Reparatur durch den beklagten Verleiher. Das OLG hat hier zwar nicht ausdrücklich zwischen dem Leistungs- und dem Erhaltungsinteresse unterschieden. Es hat sich aber auf die Rechtsprechung des BGH 8 berufen, nach der vertragliche Haftungsmilderungen auch für einen konkurrierenden Deliktsanspruch gelten sollen. Da Deliktsansprüche das Erhaltungsinteresse schützen9, will das OLG Köln mit seiner Klageabweisung die Haftungsmilderung aus § 599 BGB offenbar uneingeschränkt auch für dieses gelten lassen. BGHZ 93,23/27 ff. BGHZ 93, 23/27 f. Auf S. 29 sowie im ersten Leitsatz der Entscheidung wird jedoch offengelassen, ob das auch für Werbegeschenke gelten soll; dazu unten VI 1. ' VersR 1995, 547, Urt. v. 12. 1. 1994. 7 VersR 1988, 381, Urt. v. 4. 6. 1986. 8 NJW 1967, 558 = VersR 1967, 233; NJW 1974, 234/235 = VersR 1974, 356 f. 4

5

Zur Reichweite gesetzlicher Haftungsmilderungen

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Wenn ich recht sehe, hat keine neuere Gerichtsentscheidung die Anwendung von Haftungsmilderungen auf das Erhaltungsinteresse abgelehnt, diese also auf des Leistungsinteresse beschränkt. III. Die Gegenargumente der Literatur Im Gegensatz zu dieser Rechtsprechung verneinen in der neueren Literatur gewichtige Stimmen die Geltung der Haftungsmilderungen für das Erhaltungsinteresse. Genannt seien Larenzw, SchlechtriemSt oll'2 14 n und Kollhosser , zudem weithin auch Schubert . Diese Autoren stützen sich im wesentlichen auf die beiden folgenden Argumente. 1. Der Wille des historischen

Gesetzgebers

Ein häufig wiederkehrendes und auch vom BGH15 behandeltes Argument wird aus dem Willen des historischen Gesetzgebers hergeleitet: Der Vorläufer von § 521 BGB, nämlich § 442 des Entwurfs, habe sich auf das Schenkungsversprechen bezogen; sein Inhalt werde in den Motiven16 als eine Haftungsbeschränkung „wegen Fahrlässigkeit in Ansehung der Erfüllung" beschrieben. Die spätere Umformulierung durch die Redaktionskommission habe hieran wohl sachlich nichts ändern wollen17. Auch sei in der zweiten Kommission zu dem späteren § 600 BGB gesagt worden, bei Ansteckung der Herde des Entleihers eines kranken Tieres werde dem praktischen Bedürfnis (nach einer Haftung des Verleihers) durch das Deliktsrecht genügt18; hier werde also dessen ungeschmälerte Anwendung vorausgesetzt. 2. Das Schutzbedürfnis

des

Leistungsempfängers

Der eben erwähnte Ansteckungsfall leitet über zu dem zweiten Argument: Jedenfalls müsse der durch das Deliktsrecht gewährte allgemeine Rechtsgüterschutz des Leistungsempfängers unberührt bleiben. Denn

' Das setzt auch MünchKomm-ATo/Z/josser, BGB (3. Aufl. 1995) § 521 Rdn. 10 voraus. Schuldrecht II 1 (13. Aufl. 1986) § 47 II a S. 202, § 50 S. 294. " Vertragsordnung und außervertragliche Haftung (1972) 332 ff, 346 ff; VersR 1973, 581/585 f; Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts II (1981) 1618 ff; BB 1985, 1356 ff; Schuldrecht Bes. Teil (3. Aufl. 1993) Rdn. 175, 268. 12 JZ 1985, 384 ff, vgl. schon Das Handeln auf eigene Gefahr (1961) 341 f. 13 MünchKomm (oben Fn. 9) § 521 Rdn. 9, § 599 Rdn. 3. 14 JR 1985, 324 ff. 15 BGHZ 93, 23/28. " Mot. II 296 = Mugdan, Die ges. Materialien zum BGB II 164. 17 Vgl. dazu Scblechtriem, Vertragsordnung (oben Fn. 11) S. 333, auch Schubert, JR 1985, 324/325 zur 3. Aufl. der Kommentierung durch Planck von 1907. 10

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Dieter Medicus

etwa ein Schenkungsvertrag könne „nur zu Vertragserwartungen des Beschenkten in Beziehung gesetzt werden, nicht zum allgemeinen Güterschutz"19. Andernfalls würde es für den Beschenkten sehr gefährlich, sich anläßlich der Schenkung in den Einflußbereich des Schenkers zu begeben: Schon das kleinste Geschenk würde diesem „für die Verletzung selbst höchster Rechtsgüter des Beschenkten einen Freibrief bis zur groben Fahrlässigkeit geben"20. Hinter diesen Formulierungen steht offenbar die Besorgnis, eine weite Anwendung beeinträchtige den Schutz des Beschenkten (Entleihers usw.) über Gebühr. IV. Bewertung der Gegenargumente Die eben genannten Argumente der Literatur erweisen sich aber bei näherem Hinsehen als wenig überzeugend. 1. Die Interessenbewertung Das gilt vor allem für die eben bei III 2 behandelte Bewertung der Interessen: Insoweit beachtet die Literatur einseitig das Schutzbedürfnis des Leistungsempfängers. Dagegen bleiben die Interessen des durch das Haftungsprivileg begünstigten Leistenden außer Betracht. Doch stehen auch hinter diesen Interessen gute Gründe: Etwa der Schenker ist zwar durch seine Schenkung zu einem Vermögensopfer bereit, aber doch nur bis zum Wert des geschenkten Gegenstandes. Gerade das Erhaltungsinteresse des Leistungsempfängers kann jedoch - anders als das Leistungsinteresse - weit über diesen Wert hinausreichen und vielleicht ganz unkalkulierbar sein. So übersteigt in dem Pülpe-Fall21 der Schaden an den Bullen des Klägers den Wert des Viehfutters um ein Vielfaches. Vollends steht in dem Fall des O L G Köln22 der Schaden durch die Tötung und die Verletzung eines Menschen außer jedem Verhältnis zum Wert der kurzzeitigen Benutzung eines Motorrads. Daß der Leistende gerade für solche exzessiven Schäden nicht schon bei leichter Fahrlässigkeit einstehen will, ist verständlich und wird wohl auch von dem Begünstigten nicht anders erwartet. Die Erstreckung von Haftungsprivilegien auf das Erhaltungsinteresse kann auch nicht durch den Hinweis auf den hohen Rang von Leben und Körper abgewehrt werden23: Dem Haftungsrecht gelingt eben stets nur eine Verlagerung und keine Aufhebung des Scha-

Prot. II 270, vgl. Schlechtriem, VersR 1973, 581/586. " So Schlechtriem, Vertragsordnung (oben Fn. 11) S. 335. 20 So MunchKomm-iCo//iosier (oben Fn. 13) § 521 Rdn. 7. 21 B G H Z 93, 23, vgl. oben im Text nach Fn. 1. 22 VersR 1988, 381, vgl. oben im Text nach Fn. 7. 18

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dens; daher bedarf die Belastung des Schädigers nicht minder dringend einer Begründung wie die Entlastung des Geschädigten. 2. Die historische

Argumentation

Nicht überzeugen kann aber auch die oben III 1 angedeutete historische Argumentation der Literatur. a) Eine Schwäche besteht zunächst schon darin, daß der Wortlaut von § 521 BGB (ebenso wie derjenige der anderen Haftungsprivilegien) ganz allgemein gefaßt ist; eine Beschränkung auf eine „Fahrlässigkeit in Ansehung der Erfüllung" 24 kommt nirgendwo vor. Daher läßt sich nicht sicher erkennen, ob die ursprünglich engere Betrachtungsweise wirklich durchgehalten worden ist und Gesetz werden sollte. b) Zusätzlich an Uberzeugungskraft verliert die historische Argumentation aber auch durch den seit 1896 eingetretenen Wandel beim Schutz des Erhaltungsinteresses. Insoweit verweist Schlechtriem25 zutreffend auf die fortschreitende Einbeziehung von Leib, Leben, Eigentum usw. in den Schutzbereich des Vertrages durch die Lehre von den positiven Vertragsverletzungen: Hierdurch seien auch für die Schenkung Konkurrenzprobleme geschaffen worden. Freilich zeigt § 618 BGB, daß diese Einbeziehung dem historischen Gesetzgeber nicht prinzipiell unbekannt war; diese ist aber seitdem erheblich fortgeschritten. Zudem ist andererseits auch der deliktische Schutz durch die Begründung immer neuer Verkehrspflichten wesentlich verstärkt worden 26 . Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bildet die Entwicklung von Pflichten des Herstellers im Rahmen der auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten Produzentenhaftung 27 . Daher läßt sich denken, daß nun auch dieser erweiterte Deliktsschutz durch Haftungsprivilegien eingeschränkt zu werden verdient, selbst wenn die Protokolle noch von einem unbeschränkten Deliktsschutz ausgegangen sind28. Zumindest mit Rücksicht hierauf darf also die Geltung von Haftungsprivilegien auch für das durch konkurrierende Deliktsansprüche geschützte Erhaltungsinteresse nicht wegen der Gesetzgebungsgeschichte

23

Wie das Kollhosser (oben Fn. 20) tut. " So Mot. II 296, vgl. oben bei und in Fn. 16. 25 Vertragsordnung (oben Fn. 11) S. 333 unter Hinweis auf Esser, Schuldrecht II (3. Aufl. 1969) § 112 V 3 S. 460, ähnlich Schubert, JR 1985, 324/325. 26 Darauf verweist mit Recht auch Schubert aaO. 27 Vgl. etwa MünchKomm-Afertews, BGB (2. Aufl. 1986) § 823 Rdn. 279 ff; PalandtThomas, BGB (54. Aufl. 1995) § 823 Rdn. 202 ff; Medicus, Bürgerliches Recht (17. Aufl. 1996) Rdn. 650 ff.

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abgelehnt werden. Daher hat der B G H 2 9 das historische Argument mit Recht als „nicht genügend" bezeichnet. V. Der Lösungsansatz bei den Pflichten des Privilegierten Angesichts der geringen Uberzeugungskraft der bisher erörterten Argumente mag es gerechtfertigt sein, den Fragenkreis hier noch einmal zu behandeln.

1. Die Vorgreiflichkeit der Frage nach den Pflichten Alle gesetzlichen Haftungsprivilegien beziehen sich ihrem Wortlaut nach auf das Verschulden: Die Haftung für leichte Fahrlässigkeit soll überhaupt oder doch im Rahmen einer eigenüblichen Sorglosigkeit ausgeschlossen sein. Vorfrage für das Verschulden ist aber ein Verstoß gegen vertragliche oder gesetzliche Pflichten. Denn ob ein Verschulden vorliegt, kann nur für einen Pflichtenverstoß gefragt werden; wo ein solcher fehlt, liegt erst recht kein Verschulden vor 30 . Zugleich entscheidet das Pflichtenprogramm darüber, ob etwa von einem Vertretenmüssen des Schuldners unabhängige Erfüllungsansprüche in Betracht kommen.

2. Der Pülpe-Fall als Beispiel Daß die Gründe für ein gesetzliches Haftungsprivileg schon für die Pflichten gelten können, zeigt etwa der Pülpe-Fall. Dort hatte der Kläger die Beeinträchtigung seiner Bullen insbesondere darauf zurückgeführt, daß er über die Enzymbehandlung der Pülpe nicht aufgeklärt worden sei31. D a ergeben sich zunächst die folgenden Fragen: Mußte die Beklagte die Enzymbehandlung angeben? Mußte sie dafür Sorge tragen, daß ein von ihr eingeschalteter Leiter eines landwirtschaftlichen Beratungsrings diese Auskunft erteilte? Mußte sie sich darum kümmern, an welche Art von Vieh der Kläger die Pülpe verfüttern wollte? Mußte sie sich über die Gefährlichkeit der Enzymatisierung informieren? Welche Quellen mußte sie für diese Information heranziehen? Oder genügte etwa der Hinweis an den Kläger, er müsse selbst herausfinden, wie viel von der Pülpe seine Bullen vertrügen? Mir scheint sicher, daß man bei der Antwort auf diese Fragen die Unentgeltlichkeit der Überlassung nicht unbeachtet lassen darf 32 : Ein Ver-

Vgl. oben bei Fn. 18. " B G H Z 93,23/24. 30 D a z u schon Medicus, Schuldrecht I (8. Aufl. 1995) Rdn. 301. 11 B G H Z 93, 23/24. 32 So auch Stoll, J Z 1985, 384/386 („Bemessung der Verkehrspflichten") unter Hinweis 28

Zur Reichweite gesetzlicher Haftungsmilderungen

595

käufer oder Vermieter ist intensiver verpflichtet als ein Schenker oder Verleiher. Dem entspricht regelmäßig auch die nach Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte zu bemessende Vertrags- oder Leistungserwartung des anderen Teils: Der Beschenkte erwartet vom Schenker weniger Aufmerksamkeit als der Käufer von einem Verkäufer. Dieser Einfluß der Unentgeltlichkeit wird besonders deutlich, wenn ein Vertrag überhaupt fehlt und daher nur deliktische Pflichten in Betracht kommen": Wer sich vom Sperrmüll ein elektrisches Gerät aneignet, kann nicht mit einer intakten Isolation rechnen: Vielleicht ist das Gerät ja gerade wegen eines Isolationsfehlers auf die Straße gestellt worden. Daher muß der neue Eigentümer das Gerät mit großer Vorsicht und auf eigenes Risiko erproben. Ein Pflichtenverstoß durch die Dereliktion gefährlicher Sachen kann nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen, etwa wenn es sich um Sprengstoff oder Gift handelt. 3. Pflichtwidrigkeit

und

Verschulden

Dem eben angedeuteten Verständnis der Haftungsprivilegien (auch) als Einschränkung von Pflichten kann man freilich entgegenhalten: Diese Privilegien seien vom Gesetz ganz mit dem Blick auf das Verschulden formuliert worden (etwa §§ 521, 599 „nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten"). Mit dieser Herausnahme der leichten Fahrlässigkeit aus dem Vertretenmüssen werde also die Pflichtwidrigkeit vorausgesetzt, ohne die es keine Fahrlässigkeit gebe. Folglich sei das genannte Verständnis der Haftungsprivilegien mit dem Gesetz unvereinbar. Demgegenüber ist aber zu bedenken: a) Pflichtwidrigkeit und Verschulden (vor allem in Form der Fahrlässigkeit) lassen sich in manchen Bereichen nur schwer voneinander trennen. Das zeigt schon die häufige Verwendung des hybriden Begriffs „Sorgfaltspflichten" 34 , in dem sich die Pflichtverletzung mit der für die Fahrlässigkeit nach § 276 Abs. 1 S. I B G B kennzeichnenden Sorgfaltsverletzung verbindet. Eine ähnliche Verbindung findet sich auch in dem Begriff der „äußeren Sorgfalt" 35 . Geradezu zum Programm erhoben wird diese Verbindung in der von Nipperdey36 begründeten Lehre von der verhaltensbezogenen Rechtswidrigkeit37. Diese Phänomene im einzelnen zu erörtern fehlt hier der Raum. Jedenfalls aber zeigen sie die

auf R G J W 1907, 388 (freilich stimmt dieses Zitat nicht). 33 Dazu Stoll aaO, S. 385. 34 Dazu etwa Latenz, Schuldrecht I (14. Aufl. 1987) § 20 IV S. 291 und allgemein MünchKomm-Hanau, B G B (3. Aufl. 1994) § 276 Rdn. 23 ff. 35 Larenz (vorige Fn.) S. 288 f; Hanau (oben Fn. 34) § 276 Rdn. 25 ff. 36 N J W 1957, 1771 ff. 37 Dazu Larenz (oben Fn. 34) S. 288 f; Hanau (oben Fn. 34) § 276 Rdn. 25 ff.

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sachliche Nähe zwischen der Pflichtwidrigkeit und bestimmten Bereichen des Verschuldens. b) Ganz besonders deutlich wird diese Nähe bei Haftungsbeschränkungen auf die Verletzung derjenigen Sorgfalt, die der Schuldner in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Zwar begrenzt § 277 B G B dieses Haftungsprivileg durch die grobe Fahrlässigkeit und damit durch eine Form des Verschuldens. Aber der Sinn des Privilegs wenigstens in den §§ 708, 1359, 1664 B G B wird mit Recht darin gesehen, angesichts der engen Beziehungen zwischen den Parteien sollten diese sich so nehmen, wie sie nun einmal seien38. Folglich bedeutet bis zur Grenze des § 277 B G B eine eigenübliche Sorglosigkeit nicht einmal eine Pflichtverletzung39. So kann im Anwendungsbereich von § 1359 B G B der eine Ehegatte vom anderen auch für die Zukunft nicht das Unterlassen von eigenüblichen Sorglosigkeiten verlangen. Denn der Ehegatte (ebenso die Eltern und der Mitgesellschafter) soll in eigenen und in fremden Angelegenheiten nicht zu unterschiedlicher Sorgfalt verpflichtet sein: Beispielsweise sollen die Eltern bis zur Grenze der groben Fahrlässigkeit das Sparbuch ihres Kindes nicht wegzuschließen brauchen, wenn sie das eigene in der offenen Schublade aufheben. So verstanden ist die Haftungsbeschränkung auf die eigenübliche Sorgfalt übrigens auch da sinnvoll, wo es an besonders engen und andauernden Beziehungen zwischen den Parteien fehlt. Das gilt für § 690 B G B und die neueren Anwendungsfälle in den §§ 3 Abs. 2 H T W G , 7 Abs. 4 VerbrKrG 40 : Unter bestimmten Voraussetzungen soll der Schuldner die herauszugebenden Sachen wie sein übriges Vermögen behandeln dürfen, also nicht zu besonderen Sicherheitsmaßnahmen verpflichtet sein. 4. Zwischenergebnis und Folgerungen a) Nach dem bisher Erörterten kann eine Haftungsmilderung schon auf die Pflichten bezogen werden. Sie braucht also nicht erst bei dem Verschulden anzusetzen, mit dem diese Pflichten verletzt worden sind. Das entspricht zwar nicht der auf das Verschulden abstellenden gesetzlichen Formulierung der Haftungsprivilegien. Aber mit solchen Formulierun-

58 Etwa RGZ 143, 212/215; BGHZ 62, 243/245; Hanau (oben Fn. 34) § 277 Rdn. 23 mit Fn. 131. 39 Vgl. Hanau (oben Fn. 34) Rdn. 23 am Ende mit Belegen: „Die Beschränkung betrifft hier also bereits die Pflichtenstellung, nicht erst die Haftungsfolge". 40 Deren Einführung zeigt zugleich, daß die rechtspolitische Kritik an dem Haftunsgmaßstab der eigenüblichen Sorgfalt (vgl. Hanau, oben Fn. 34, Rdn. 24 mit Belegen in Fn. 132) doch auf erhebliche Zweifel stößt.

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gen bindet der Gesetzgeber die Dogmatik jedenfalls dann nicht, wenn es sich nur um den besseren Weg zu dem von ihm verfolgten Ziel handelt. Eben darum geht es hier: Erst der Ansatz auf der Pflichtenebene stellt den Schuldner nicht nur von Ansprüchen auf Schadensersatz frei, sondern auch von solchen auf Erfüllung. Eine andere Frage ist es freilich, ob man das Haftungsprivileg ganz auf die Pflichtenebene beschränken kann oder seiner noch zusätzlich auch auf der Verschuldensebene bedarf. Darauf wird noch zurückzukommen sein (vgl. unten VII). b) Auf der danach zuerst maßgeblichen Pflichtenebene sehe ich für eine Beschränkung auf Leistungspflichten (und damit auf den Ersatz des Leistungsinteresses) keinen Sinn. Denn die Leistungspflichten lassen sich von den Schutzpflichten häufig nicht trennen. Das zeigt sich in dem Pülpe-Fall etwa bei dem Gewichtsverlust oder dem ausbleibenden Gewichtszuwachs der falsch gefütterten Bullen: Beides geht in gleicher Weise auf die mangelnde Information über die richtige Anwendung der Pülpe zurück. Daher betrifft insoweit die Verneinung einer Pflicht untrennbar beide Formen des Interesses in gleicher Weise. Dem Schenker ist auch kaum damit gedient, daß man zwar seine Vertragspflicht einschränkt, aber konkurrierende deliktische Pflichten unberührt läßt. Denn dann verlöre er durch das Deliktsrecht diejenige Freiheit, die ihm das Haftungsprivileg gewähren will. Daher muß das für die Sonderverbindung bestehende Privileg auch für die deliktischen Pflichten gelten. Das stimmt im Ergebnis mit einer ständigen Rechtsprechung überein, nach der sich gesetzliche Haftungsausschlüsse auch auf konkurrierende Deliktsansprüche erstrecken sollen41. VI. Gesichtspunkte für eine Quantifizierung Einigermaßen handhabbar wird die den Schädiger privilegierende Pflichtenbeschränkung aber erst, wenn man zumindest einigermaßen konkrete Gesichtspunkte zu ihrer Quantifizierung angeben kann. Das soll hier in Anlehnung an den Pülpe-Fall wenigstens für § 521 BGB versucht werden. 1. Eigennutz des Schenkers Nach Larenz42 soll der Schenker von seinen Verkehrssicherungspflichten keinesfalls entlastet sein, wenn die Schenkung „das einfachste " Etwa B G H Z 46, 140/145; 93, 23/29, viele weitere bei Hanau Rdn. 16 Fn. 116. 42 (oben Fn. 10) § 47 II a S. 202 Fn. 18 am Ende.

(oben Fn. 38) § 277

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Mittel zur Beseitigung für ihn nicht verwendbarer Abfälle" darstellt. In dieselbe Richtung deutet es, daß der B G H in dem Pülpe-Fall eine Sonderbehandlung von Werbegeschenken erwogen (aber nicht entschieden) hat, „die nicht aus Großzügigkeit gemacht werden" 43 . Ich halte eine solche Differenzierung nach dem vom Schenker44 verfolgten Ziel zumindest für wenig praktikabel: Auch jenseits von Werbegeschenken und dem Abschieben der für den Schenker unverwendbaren Sachen gibt es viele Möglichkeiten mehr oder weniger offenliegenden Eingennutzes: Der Schenker mag den Beschenkten seinerseits zu Gefälligkeiten veranlassen oder auch durch die Schenkung eine frühere Gefälligkeit erwidern wollen. Sollten solche Motive das Haftungsprivileg beeinflussen, müßten sie im Prozeß festgestellt werden. Zudem käme man, da das Gewicht dieser Motive sehr verschieden sein kann und es zu dem Geschenk in Beziehung gesetzt werden muß, zu erheblichen Bewertungsschwierigkeiten. Endlich scheint mir zweifelhaft, ob die Leistungserwartung des Beschenkten wirklich mit dem Ergebnis dieser Bewertung übereinstimmt, ob dieser also umso mehr Sicherheit erwartet, je deutlicher ein Eigennutz des Schenkers hervortritt. Daher sollte man diesen Eigennutz ohne Einfluß auf die Tragweite des Haftungsprivilegs lassen. Doch entfällt das Privileg selbstverständlich ganz, wenn der Eigennutz die Unentgeltlichkeit der Zuwendung (§516 Abs. 1 BGB) und damit die Annahme einer Schenkung überhaupt hindert.

2. Überlegene Sachkunde des Schenkers Wenn das Erhaltungsinteresse des Beschenkten verletzt wird, beruht das regelmäßig (wie auch in dem Pülpe-Fall) auf einer Gefährlichkeit der geschenkten Sache. In dieser Hinsicht kann ein Wissensgefälle zwischen dem Schenker und dem Beschenkten bestehen. Insbesondere wird die Sachkunde des Schenkers überlegen sein, wenn sich die Gefährlichkeit aus der Vorgeschichte der Sache ergibt, etwa aus einer unsachgemäß ausgeführten Reparatur durch den Schenker45. Ein solches Wissensgefälle hat deutlich andere Eigenschaften als der oben 1 erörterte Eigennutz des Schenkers. Denn erstens ist dieses Gefälle ohne Einfluß auf die Unentgeltlichkeit und damit auf das Vorliegen einer Schenkung: Selbst ein noch so großer Wissensvorsprung des Schenkers ändert nichts an der Unentgeltlichkeit. Zweitens bildet das

« BGHZ 93, 23/29 und Leitsatz 1. 44 Entsprechendes gilt für andere Verträge, in denen das Haftungsprivileg auf Unentgeltlichkeit beruht. 45 Wie in dem Fall des OLG Köln, vgl. oben im Text nach Fn. 7.

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Gefälle keine nur schwer festzustellende und zu bewertende innere Tatsache, sondern es ist viel leichter zu handhaben. Drittens endlich stellt die besondere Sachkunde ein Kriterium dar, das bei der Annahme von Sicherungspflichten auch sonst in Betracht kommt 46 . Endlich mag diese Sachkunde, soweit sie nach außen hervortritt, auch die Leistungserwartung des anderen Teils bestimmen. Danach wird man sagen dürfen: Ein Wissensgefälle insbesondere hinsichtlich der Gefährlichkeit des Vertragsgegenstandes begründet zwar regelmäßig Informationspflichten. Diese werden auch bei einer Schenkung durch § 521 B G B nicht völlig ausgeschlossen, aber doch gemildert: Freilich dürfte der Schenker verpflichtet sein, alle ihm bekannten U m stände mitzuteilen, die für den Beschenkten eine erhebliche Gefahr bedeuten können. Eingeschränkt wird aber die Pflicht des Schenkers, sich über unbekannte Gefahren zu informieren 47 . Eine solche Pflicht kommt allenfalls in Betracht, wenn der Schenker sehr konkrete Indizien für die Gefährlichkeit kennt. Meist wird der Schenker seiner Pflicht auch schon durch die Mitteilung genügen, er habe die Gefährlichkeit selbst nicht geprüft: Dann ist die Schenkung gleichsam dadurch eingeschränkt, daß diese Prüfung dem Beschenkten überlassen bleibt. In dem Pülpe-Fall hatte der Kläger behauptet, sein Gesprächspartner (der Leiter des landwirtschaftlichen Beratungsringes) habe ausdrücklich erklärt, die Pülpe sei unbehandelt 48 (also nicht enzymatisiert). Eine solche unrichtige Auskunft wäre jedenfalls pflichtwidrig, wenn sie der Beklagten zuzurechnen wäre (was nicht erörtert wird). Jedoch spricht das Urteil an anderer Stelle49 von Hinweisen auf die Gefährlichkeit der enzymatisierten Pülpe und auf die Notwendigkeit strenger Dosierung. Zu solchen Hinweisen dürfte der Schenker aber nur verpflichtet sein, wenn er die Gefährlichkeit kannte oder zumindest damit rechnete. Denn andernfalls käme man zu einer Nachforschungspflicht, die dem Schenker gerade erspart bleiben soll. Die Angaben in dem Urteil erlauben folglich keine Entscheidung darüber ob die Beklagte eine Hinweispflicht gegenüber dem Kläger verletzt hat. Dabei hätte es gewiß der Überzeugungskraft gedient, wenn die Frage nach den Pflichten der Beklagten deutlicher gestellt worden wäre.

44 Vgl. etwa MünchKomm-Mertens (oben Fn. 27) § 823 Rdn. 478 sub (3), einschränkend aber Larenz-Canaris, Schuldrecht II 2 (13. Aufl. 1994) § 76 III 3 b mit Nachweisen. 47 V o m Verkäufer/Hersteller wird insoweit sehr viel verlangt, vgl. etwa B G H Z 80, 199/204 f. 48 B G H Z 93,23/24. 49 B G H Z 93,23/27.

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3. Der Rang des gefährdeten

Rechtsguts

In dem Pülpe-Fall waren nur die Bullen gefährdet worden, also das Eigentum des Klägers. Man kann fragen, ob Informations- und Hinweispflichten auch dann in gleicher Weise einzuschränken wären, wenn es um Menschen gegangen wäre, also um Leben, Körper und Gesundheit im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB: Es möge etwa die Anleitung für den Gebrauch der geschenkten Medikamente so mangelhaft sein, daß diese dem Beschenkten schaden statt nutzen50. Oder es möge - ähnlich wie im Fall des O L G Celle51 - der Beschenkte infolge einer mangelhaften Einweisung in die Benutzung des geschenkten Geräts sich körperlich verletzen. a) Hier soll nicht die altbekannte Frage erörtert werden, wie es sich im Straßenverkehr mit der Haftungsbeschränkung auf die eigenübliche Sorgfalt verhält52. Insoweit vertritt der BGH wenigstens für die §§ 708, 1359 BGB seit 1966 die Ansicht, hinsichtlich der im einzelnen geregelten Pflichten im Straßenverkehr bleibe kein Raum für individuelle Sorglosigkeit53. Das wird bisweilen mit besonderen Argumenten begründet, etwa mit dem Versicherungsschutz für den Kraftfahrzeughalter54 sowie mit der Frage, ob § 1359 BGB auf den häuslichen Bereich zu beschränken sei55. Diese Erwägungen passen zumindest nicht ohne weiteres für andere Haftungsprivilegien (am ehesten noch für § 1664 BGB). Gegenüber dieser Rechtsprechung halte ich meinen schon anderswo56 angedeuteten Einwand aufrecht, der BGH unterscheide nicht hinreichend zwischen den verkehrsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten und der zivilrechtlichen Haftung: Während diese Pflichten selbstverständlich durch private Vereinbarung nicht geändert werden können, unterliegt die Haftung voll der Privatautonomie. Daher sind auch gesetzliche Haftungsmilderungen nicht ausgeschlossen, die weithin nur dem vermutlichen Parteiwillen entsprechen. Doch soll das hier nicht vertieft werden. b) Denn auch außerhalb des Straßenverkehrs bleiben Fälle, in denen bei Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit Haftungsmilderungen

50 Ohne daß ein Sachmangel vorliegt, dessentwegen § 524 BGB in Betracht kommen könnte; hierzu unten VIII. 51 Oben im Text nach Fn. 6. 52 Dazu B G H Z 46, 313/318; 53, 352/355 f; 61, 101/105; 63, 51/57 f; B G H N J W 1992, 1227/1228. 53 Etwa B G H Z 46, 313/318; 53, 352/356; B G H N J W 1992,1227/1228. 5< Etwa B G H Z 63, 51/59; B G H N J W 1992, 1227/1228. 55 Etwa B G H Z 53, 352/355; 63, 51/57. 54 Bürgerliches Recht (oben Fn. 27) Rdn. 930.

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in Betracht kommen. Mindestens insoweit paßt die vorher formulierte Frage, ob zur Vermeidung einer Gefahr für diese Rechtsgüter die regelmäßig gemilderten Pflichten des Privilegierten wieder zu verschärfen sind: Bestehen etwa Informationspflichten bei der Schenkung von für Menschen bestimmten Medikamenten, während der Schenker von Viehfutter solche Pflichten nicht hat? Die Antwort hierauf fällt nicht leicht. Denn einerseits besteht an dem auch durch § 847 Abs. 1 B G B bestätigten höheren Rang des Lebens, des Körpers und der Gesundheit von Menschen kein Zweifel. Andererseits drohen aber gerade insoweit auch besonders große und schwer kalkulierbare Haftungsrisiken. Daher wird man den hohen Rang der gefährdeten Rechtsgüter nur mit Vorsicht zu einer Verschärfung der Schutzpflichten des Privilegierten verwenden dürfen. VII. Die Rolle des Verschuldens Nach dem bisher Gesagten ist die Tragweite der Haftungsprivilegien vorrangig auf der Ebene der Pflichten zu bestimmen: Schon diese Pflichten sind gegenüber demjenigen Maß eingeschränkt, das ohne das Privileg gelten würde. Soweit danach bereits eine Pflicht zu verneinen ist, entfällt die Haftung des Privilegierten, ohne daß nach dem Verschulden noch gefragt werden müßte. 1. Verschulden an der

Pflichtwidrigkeit

Mit dieser Milderung der Pflichten ist das Haftungsprivileg aber noch nicht erschöpft. Vielmehr bleibt es, wenn man eine Pflichtverletzung bejaht, auch für das zusätzlich nötige Verschulden von Bedeutung: Diese Verletzung muß mindestens eine grobe Fahrlässigkeit oder - bei anderen Privilegien - einen Verstoß gegen die eigenübliche Sorgfalt bedeuten. Hierfür gelten nicht etwa dieselben Gesichtspunkte wie auf der Pflichtenebene, so daß die Verschuldensprüfung bloß mehr oder weniger die Erwägungen zur Pflichtverletzung wiederholen könnte. Vielmehr kommen beim Verschulden andere Gesichtspunkte ins Spiel. Das sei zunächst konkret wieder an dem Pülpe-Fall gezeigt: Angenommen, dort hätte die Beklagte selbst die Frage des Klägers nach einer Enzymatisierung der Pülpe unrichtig verneint. Dann bedeutete dies eine Pflichtverletzung 57 . Hierzu ist dann aber zusätzlich noch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit 58 nötig. An grober Fahrlässigkeit kann es etwa fehlen, wenn die antwortende Person selbst falsch informiert war. Ebenso

57 58

Vgl. oben VI 2 bei Fn. 48. Zu deren Abgrenzung ausführlich etwa Hanau (oben Fn. 34) § 277 Rdn. 2 ff.

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mag es nicht allemal grob fahrlässig sein, wenn der Schenker konkreten Anhaltspunkten für eine Gefährlichkeit des Geschenks nicht nachgegangen ist. Allgemein fallen bei der Verschuldensfrage individuelle Umstände ins Gewicht, die für die Entscheidung über die Pflichten keine Bedeutung haben. Diese Individualität zeigt sich bei der groben Fahrlässigkeit an dem dieser innewohnenden subjektiven Element59; bei Verstößen gegen die eigenübliche Sorgfalt kommt sie schon durch eben diese „Eigenüblichkeit" ins Spiel. 2. Geltung auch für das Erhaltungsinter esse? Zu fragen bleibt noch, ob die Verschuldensmilderung ebenso wie die Pflichtenmilderung (oben V 4 b) auch für Beeinträchtigungen des Erhaltungsinteresses und für konkurrierende Deliktsansprüche gelten soll. Eine Bejahung wird schon durch die Schwierigkeit einer Abgrenzung zwischen Pflichtverletzung und Verschulden nahegelegt: Es ist nicht einzusehen, warum das Individuelle auf der Verschuldensebene anders behandelt werden soll als das Allgemeine auf der Pflichtenebene. Zudem gelten auch für das Verschulden die für die Pflichten verwendeten weiteren Argumente: Erhaltungsinteresse und Leistungsinteresse lassen sich bisweilen kaum unterscheiden; auch drohen beim Erhaltungsinteresse besonders große und schwer kalkulierbare Belastungen. VIII. Die Bedeutung der Sonderregeln für die Mängelhaftung Die §§ 523 Abs. 1, 524 Abs. 1 und 600 B G B beschränken die Haftung des Schenkers oder Verleihers bei Sach- und Rechtsmängeln sogar auf Arglist. Daraus können sich Folgerungen für das hier zu behandelnde Problem ergeben. Solche sind in der Tat mit verschiedener Tendenz behauptet worden. 1. Der Meinungsstand Der B G H hat in der Pülpe-Entscheidung60 § 524 Abs. 1 B G B zur Bekräftigung seiner Ansicht angeführt, § 521 B G B erfasse auch konkurrierende Deliktsansprüche (und damit Fälle des Erhaltungsinteresses): Sonst drohe ein Wertungswiderspruch zu der Haftungsbeschränkung auf Arglist, nämlich wenn der Schenker einer fehlerfreien, aber „gefährlichen" Sache schon für eine leichtfahrlässige Verletzung seiner Hinweispflicht einzustehen hätte. 59 60

Dazu etwa Hanau aaO Rdn. 10 ff. BGHZ 93, 23/28.

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Eher umgekehrt argumentiert SchlechtriembU. Wenn man die Pülpe selbst für fehlerhaft halte oder wenn diese sogar mit dem Zusatz „als Bullenfutter unbeschränkt geeignet" verschenkt worden wäre, hätte der Schenker nach § 524 Abs. 1 BGB nur Arglist zu vertreten brauchen. Das müsse für das Erhaltungsinteresse wenigstens durch konkurrierende, unbeschränkte Deliktsansprüche korrigiert werden, weil sonst die Folgen untragbar seien. Im Ergebnis ähnlich will Schubert62 Mangelfolgeschäden63 überhaupt nicht dem § 524 Abs. 1 BGB unterstellen, sondern als eine nach § 276 Abs. 1 S. 1 zu vertretende positive Vertragsverletzung erfassen. Hiernach verschwände für Mangelfolgeschäden der Unterschied zwischen dem vertraglichen und dem deliktischen Haftungsmaß. 2. Kritik Die dem B G H widersprechenden Argumente der Literatur wollen die uneingeschränkte Fahrlässigkeitshaftung für das Erhaltungsinteresse retten. Das Bedürfnis nach einer solchen Haftung tritt in der Tat plastischer hervor, soweit das Haftungsprivileg nur noch eine Arglisthaftung übrigläßt. Aber diese Sonderstellung der Mängelhaftung folgt nun einmal aus dem Gesetz. Man kann sie weitgehend korrigieren, indem man mit der Rechtsprechung64 Arglist auch bei ungeprüften Behauptungen ins Blaue hinein bejaht. Das kommt etwa in Betracht, wenn in dem Pülpe-Fall die Beklagte die unbeschränkte Eignung der Pülpe als Bullenfutter ohne weiteres behauptet hätte. Damit wird der Unterschied zwischen Arglist und grober Fahrlässigkeit, also zwischen § 524 Abs. 1 und § 521 BGB, zu einem guten Teil behoben. Die Ansicht von Schubert arbeitet mit der Unterscheidung von Mangel- und Mangelfolgeschäden65. Die Abgrenzung zwischen beiden Begriffen hat sich aber, wie vor allem die Rechtsprechung zu den §§ 635, 638 B G B zeigt, als überaus problematisch erwiesen66. Zudem vermag ich " B B 1985, 1356/1358, ähnlich in Gutachten und Vorschläge (oben Fn. 11) II 1618 f. 62 J R 1985, 324/325. " Ebenso Stoll, J Z 1985, 384/386 für den Ersatz des Erhaltungsinteresses. M MünchKomm-ATramer, B G B (3. Aufl. 1993) § 123 Rdn. 5 mit vielen Belegen in Fn. 11 a. 65 Oben Fn. 62, entsprechend Stoll, oben Fn. 63. Schubert verweist zur Begründung im wesentlichen auf die Materialien in Jakobs-Schubert, Beratung des B G B , Recht der Schuldverhältnisse II (1980) 379 ff. Aber dort vermag ich keine Bestätigung für die Ansicht von Schubert zu finden; gegen sie spricht auch die allgemeine Fassung der Haftungsprivilegien, insbesondere auch in den §§ 521, 524 Abs. 1 B G B . " Vgl. etwa Larenz, Schuldrecht II 1 (13. Aufl. 1986) § 53 II b (S. 357: „... kann nur Verwirrung schaffen"); Medicus, Bürgerliches Recht (oben Fn. 27) Rdn. 356 f. Die Ansicht von MünchKomm-Soerge/, B G B (2. Aufl. 1988) § 635 Rdn. 26, die vom B G H jetzt prakti-

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nach wie vor nicht einzusehen, warum der Ersatz von Mangelschäden stärker beschränkt sein soll als derjenige von kausal weiter entfernten Mangelfolgeschäden. Insgesamt vermögen danach die Folgerungen, die in der Literatur aus den Privilegien bei der Mängelhaftung gezogen werden, nicht zu überzeugen. Vorzuziehen ist also das Argument des B G H : Der „Haftungssprung" zwischen einer Haftung nur für Arglist und einer Haftung für jede Fahrlässigkeit wäre unangemessen groß. Deshalb muß diese Fahrlässigkeitshaftung eingeschränkt werden. Der BGH 6 7 läßt sie lediglich bei der Verletzung von Schutzpflichten zu, „die nicht im Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand stehen". Das ist nur ein kleiner Bereich68. Seine Herausnahme aus der Geltung der Haftungsprivilegien beeinträchtigt diese bloß bei extrem „vertragsfernen" Schädigungen, die mit dem Zweck der Privilegien nicht mehr zusammenhängen. Dem wird man folgen können. IX. Zusammenfassung 1. Die gesetzlichen Haftungsmilderungen beschränken primär die Pflichten und erst sekundär das zu vertretende Verschulden des Privilegierten. 2. Diese Haftungsmilderungen wirken auch für Ansprüche auf Ersatz des Erhaltungsinteresses, wenn nicht ein Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand fehlt.

zierte „lokale" Abgrenzung sei praktikabel, erscheint mir zu optimistisch: Nach wie vor lassen sich die Ergebnisse weithin nicht voraussehen. 67 B G H Z 93, 23/27. 61 Ein Beispiel habe ich in Bürgerliches Recht (oben Fn. 27) Rdn. 209 a zu bilden versucht.

Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung HERBERT MESSER

I.

Die Auslegung einer individuellen rechtlichen Willenserklärung unterliegt der revisionsgerichtlichen Uberprüfung nur darauf, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind oder ob sie insofern auf Verfahrensfehlern beruht, als wesentlicher Auslegungsstoff übersehen wurde. Das ist der wiederkehrende Satz, mit dem der Bundesgerichtshof es ablehnt, eine Vertragsauslegung daraufhin zu überprüfen, ob sie im Ergebnis richtig, ob das vom Berufungsgericht gefundene Auslegungsergebnis unter mehreren möglichen das nächstliegende ist. Man begegnet diesem Satz in neuesten Urteilen des Bundesgerichtshofs 1 , findet ihn aber auch schon beim Reichsgericht 2 und beim Obersten Gerichtshof der britischen Zone 3 . Er wird vom B G H als „ständige Rechtsprechung" bezeichnet und deshalb nicht mehr näher begründet. Als kurzgefaßte Begründung kann man den häufigen Hinweis auf die „tatrichterliche Auslegung" verstehen, die auf die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfrage und die Beschränkung des Revisionsrichters auf die Nachprüfung der Rechtsfrage (§§ 549, 550 Z P O ) bei Bindung an die Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht (§ 561 Abs. 2 Z P O ) anspielt. 1. U m eine Begründung hat sich zuletzt das B A G 4 bemüht, das von der Beschränkung der Revision auf die Nichtanwendung oder nicht richtige Anwendung einer Rechtsnorm (§§ 549, 550 Z P O ) ausgeht und ausführt, der individuelle Vertrag sei selbst nicht Rechtsnorm, sondern entfalte Bindung nur deshalb, weil die Rechtsordnung den rechtsgeschäftlich geäußerten Willen mit dieser Wirkung ausgestattet habe. Eine freie Nachprüfung der Vertragsauslegung lasse sich auch nicht etwa damit begründen, daß nur der objektive Erklärungswert des Vertrags zu ermitteln sei, denn die §§ 133, 139, 157 B G B geböten die Rücksichtnahme auf den wirklichen oder den mutmaßlichen Willen der Parteien. Bei dem Vorgang der richterlichen Auslegung lasse sich daher das Tatsachengebiet der Erforschung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens vom Erklärungswert der Äußerung nicht trennen; in der richter-

1 2 5 4

B G H N J W 1992, 1446; B G H N J W 1992, 1967/1968; B G H WM 1978, 266. R G Z 169,122,124. O G B r Z Band 1, 133, 137. In einem Urteil vom 13. 7. 1956, B A G E 4, 360, 364/365.

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liehen Vertragsauslegung verbänden sich Tatsachenfeststellung und Tatsachenbeurteilung zu einem einheitlichen Denkvorgang, dessen Nachprüfung dem Revisionsrichter nicht unterliege, weil er sich dem Gebiet der Tatsachen fernzuhalten habe und die ihm gesetzlich zugewiesene allgemeine Aufgabe die Wahrung der Rechtseinheit sei.

Das Reichsgericht5 hat die Antwort auf die Frage, ob die Vertragsauslegung revisibel sei, in der Aufgabe des Revisionsrichters gesucht, die richtige Anwendung des Gesetzes nachzuprüfen. Es hat für revisibel gehalten den Reflexionsschluß des Berufungsgerichts bei der Auslegung, in dem sich zwei Momente verknüpfen, nämlich die Fixierung eines Obersatzes dahin, wie Willenserklärungen beschaffen sein müssen, damit sie ein Rechtsgeschäft oder einen Rechtsakt von bestimmter juristischer Individualität konstituieren, und die Formulierung des Subsumtionsschlusses, die festgestellte Willenserklärung enthalte alle wesentlichen Merkmale des im Obersatz normierten objektiv rechtlichen Tatbestandes.

Das Reichsgericht hat also die Bildung eines Obersatzes und die Subsumtion des festgestellten Tatbestandes unter diesen als revisiblen Akt der Vertragsauslegung verstanden. Es stellt sich die Frage, wo Raum für die Bindung des Revisionsgerichts an die tatrichterliche Vertragsauslegung sein soll - erweist sich die beschriebene Gedankenoperation doch vollständig als Rechtsanwendung. 2. Die Literatur, die unübersehbar umfangreich ist und nur in einem Überblick berücksichtigt wird, nähert sich der Frage nach der Revisibilität der Auslegung individueller Willenserklärungen aufgrund der Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage, hält diese Unterscheidung aber nicht immer für relevant. a) Scheuerle6, der die logische Unvereinbarkeit von Tat- und Rechtsfrage begründet, führt alle Auslegungsprobleme auf die zwei Gemeinsamkeiten zurück, daß sie immer die Fragen nach der objektiven Zweckeignung eines Erklärungsaktes und der subjektiven Erkenntnis dieser Eignung durch ein Subjekt aufwürfen. Beide Fragen gehörten zur Tatsachenfeststellung, die nach § 550 ZPO nicht revisibel sei, sondern allenfalls aufgrund einer Erwägung teleologischer Art für revisibel erklärt werden könne, weil etwa dieses Ergebnis wünschenswert wäre7. Die Revisionsrichter May8 und Stumpf halten bei der Auslegung einer Willenserklärung die Unterscheidung zwischen Tatsachenfeststellung - an die der Revisionsrichter im Falle verfahrensfehlerfreien ZuIm Urteil vom 12. Januar 1881, RGZ 3, 425, 426-428. AcP 157, 1 ff. 7 Scheuerle, aaO S. 55-58. ! N J W 1983, 980/981; May war Vorsitzender Richter am BSG. ' Festschrift für Nipperdey 1965, Band I, 957 ff; Stumpf war Senatspräsident beim BAG. 5 6

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standekommens gebunden ist - und Rechtsanwendung in der Form der Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter Obersätze für richtig und die vollständige Nachprüfung der Rechtsanwendung für geboten. Henke10 verficht die Trennbarkeit von Rechts- und Tatfragen nach der Qualität der Begriffe und Obersätze (aaO S. 217 ff), hält für richtig, daß mit dem Revisionsgrund der „Gesetzesverletzung" im Sinne des § 549 ZPO nur die rechtliche Annahme des Berufungsrichters der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterbreitet sein soll, meint aber, daß außerrechtliche Normen wie Regeln der Lebenserfahrung, Denkgesetze, Schlußregeln der formalen Logik, Sätze außerjuristischer Wissenschaften und Verkehrssitte im Interesse der Richtlinien-Gebung, die dem Gebot der Wahrung der Rechtseinheit durch das Revisionsgericht zu entnehmen sei, revisibel sein müssen und gelangt so zum Postulat der konkreten Revisibilität, also der Revisibilität auch der Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den Obersatz, weil das Subsumtionsbeispiel den Inhalt und die Tragweite der Obersätze klarer erkennen lasse als deren bloß abstrakte Formulierung und so gerade mit der beispielgebenden Fallbeurteilung die Judikatur am besten vereinheitlicht und das Recht fortgebildet werden können11. Auf die Nachprüfung von Willenserklärungen übertragen, führt die Auffassung Henkes zur Revisibilität dort, wo nicht allein der individuelle Maßstab die Auslegung bestimmt, sondern Auslegungsergebnisse zu gewinnen sind, die sich zur Übertragung auf andere Fälle eignen12. b) In den Kommentaren zur ZPO wird die Schwierigkeit der Trennung von Tat- und Rechtsfrage betont, der deshalb das allein maßgebende Kriterium für die Revisibilität des Berufungsurteils nicht entnommen werden könne. Vielmehr wird aus dem Zweck der Revision, die Rechtseinheit zu wahren und der Rechtsfortbildung zu dienen, die teleologisch bestimmte Auslegung der „Rechtsfrage" gefolgert, alles für revisibel zu halten, was auch für andere Fälle bedeutsam werden, wo sich also die für Rechtseinheit und Rechtssicherheit unverzichtbare Leitbildfunktion entfalten kann13. Trotz Ubereinstimmung in diesem Ausgangspunkt sind Unterschiede in dessen konkreter Anwendung auf die Nachprüfbarkeit der Auslegung individueller Willenserklärungen festzustellen, da

ZZP 1968,196 ff und 321 ff. " Henke aaO S. 220 ff, 228 ff. 12 AaO S. 242-246. 13 Stein/Jonas-Grunsky, 21. Auflage, §§549, 550 Rdn. 21 ff; AK-Ankermann, Rdn. 1; Zöller/Schneider, 18. Auflage, § 550 Rdn. 1; die theoretische Grundlage für Praktikerauffassung haben Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Auflage 48 ff und Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und stellungen in der Revisionsinstanz, 58 ff, gelegt. 10

§550 diese 1960, Fest-

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Stein/Jonas-Gr unsky™ bei nichttypischen Willenserklärungen jede Uberprüfung der Auslegung ablehnen, weil das Revisionsgericht dabei keine Leitbildfunktion ausüben könne, wogegen Ankermann15 den Beurteilungsspielraum des Revisionsrichters für größer hält und dem Revisionsgericht die Befugnis zur Aufstellung von Auslegungsrichtlinien zumißt, die für eine Vielzahl von Fällen Bedeutung erlangen können. II. 1. Fragt man sich nach der Berechtigung oder auch nur der Plausibilität der vom RG wie vom B G H geübten Zurückhaltung, so muß man vorab feststellen, daß die unterschiedliche Behandlung einerseits individueller rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen, deren Auslegung nur eingeschränkt revisibel sein soll, andererseits typischer Erklärungssachverhalte wie allgemeine Geschäftsbedingungen, Formularverträge, für die uneingeschränkte Revisibilität angenommen wird16, jedenfalls nicht mit der Trennung von Rechts- und Tatfrage erklärt werden kann. Allgemeine Geschäftsbedingungen, Formularverträge, typisierte Erklärungstatbestände schlechthin sind keine Rechtsnormen im Sinne der §§ 549, 550 Z P O . Wenn man ihre Auslegung durch den Berufungsrichter eher für revisibel hält als die Auslegung individueller (nicht-typischer) Willenserklärungen, so muß diese Differenzierung anders begründet werden als mit der Unterscheidung von Tat- und Rechtsfrage und der Bindung des Revisionsrichters an die Tatsachenfeststellung im Berufungsurteil. 2. Nähert man sich der Frage nach der Revisibilität der Auslegung ohne Rücksicht auf die in der Rechtsprechung gemachte Unterscheidung zwischen typischen und individuellen Willenserklärungen und blickt man zunächst einmal nur auf das, was jeder Auslegung vorausgehen muß, nämlich die Feststellung des Erklärungstatbestandes, so kann man nicht bezweifeln, daß diese Tatsachenfeststellung im Sinne der §§ 549, 561 Z P O ist und für den Revisionsrichter daher bindend 17 . Nicht nachprüfbar ist daher, was der Berufungsrichter (ohne Verfahrensfehler) feststellt über den Wortlaut der gesprochenen, der geschriebenen Erklärung, die äußerliche Beschaffenheit der Geste, in der eine Erklärung liegt, den Willen des Erklärenden, die von ihm verfolgte Absicht, die Begleitum-

14

§§ 549, 550 Rdn. 36-38. Alternativ-Kommentar, § 550, Rdn. 12. " RGZ 81,117; 149,96, 99; 155, 26,28; BGHZ 7, 365, 368. " Staudinger-Dilcher, 12. Auflage, §§ 133, 157 Rdn. 15; Stein/Jonas-Grunsky, 550 Rdn. 34. 15

§§ 549,

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stände der Erklärung und die Kenntnis des Erklärenden (oder auch des Erklärungsempfängers) von diesen. Ebenso, wie diese Tatsachenfeststellung für den Revisionsrichter bindend ist, ist es eine revisible Rechtsfrage, ob es für die rechtliche Wirkung der Willenserklärung auf den Willen des Erklärenden, die vom Erklärenden verfolgte Absicht, den Wortlaut der Erklärung, die Kenntnis des Erklärenden oder des Erklärungsempfängers von diesen Umständen ankommt. Die Berücksichtigung des erklärten Willens vor dem innerlich vorhandenen, aber nicht erklärten, die § 116 B G B vorschreibt, des inneren Willens vor dem erklärten, wenn der Erklärungsempfänger damit einverstanden ist, die § 117 Abs. 1 B G B anordnet und damit auch die Anwendung des Rechtssatzes „falsa demonstratio non nocet" sind Rechtsanwendung und daher revisibel. Auch ist es revisible Rechtsanwendung zu entscheiden, ob eine Willenserklärung überhaupt der Auslegung zugänglich oder etwa eindeutig ist18. Allerdings wird diese Rechtsfrage vom Revisionsgericht regelmäßig dahin beantwortet, daß es eine wegen Klarheit von Wortlaut und Sinn sowie Ubereinstimmung beider nicht auslegbare Willenserklärung nicht gebe - verbietet doch § 133 B G B die Buchstabenauslegung und gebietet er die Erforschung (und damit Berücksichtigung) des wirklichen Willens, der dem davon abweichend - wenn auch eindeutig im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs - erklärten dann vorgeht, wenn der Erklärungsempfänger dieselbe innere Vorstellung wie der Erklärende hat oder die des Erklärenden kennt und schweigt. Es ist daher für den mit dem Angriff gegen ein Berufungsurteil beauftragten Revisionsanwalt immer erfreulich, wenn er in einem Berufungsurteil lesen kann, eine Erklärung sei eindeutig im Sinne eines bestimmten Geschäftstyps zu verstehen und weiterer Auslegung nicht zugänglich. Die Revisionsrüge lautet dann, das Berufungsgericht habe die §§ 133, 157 B G B nicht angewendet. 3. Die Streitfrage und die Auffassung des B G H von der beschränkten Revisibilität setzen nach der Feststellung des Erklärungstatbestandes an. a) Die Auslegung hat den für das Recht maßgebenden Sinn oder Inhalt der Willenserklärung zu ermitteln, sich um das Verständnis des Erklärten im normativen Zusammenhang zu bemühen 19 . Auch wenn sich die Methode des Erkennens eines Gegenstandes - und daher auch einer

" B G H Z 32, 60, 63. " Enneccerus-Nipperdey, A T 14. Auflage, § 205 I; Going, die juristischen Auslegungsmethoden, 23 und Staudinger-Coing, 12. Auflage, Einleitung Rdn. 119, 120 vor § 1; Staudinger-Dilcher, §§ 133, 157 Rdn. 1.

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Willensäußerung - der rechtlichen Regelung entzieht20, kann die Unterschiedlichkeit möglicher Auslegungsresultate einen Gesetzgeber doch dazu bestimmen, Vorschriften über die Auslegung von Texten aufzustellen, mit denen er dann nicht nur Belehrungen über die Anwendbarkeit der Sätze der Logik gibt, sondern Wertentscheidungen trifft21. Das hat der Gesetzgeber mit den §§ 133, 157 BGB getan, indem er außer der Berücksichtigung des buchstäblichen Sinnes des Ausdrucks die Erforschung des wirklichen Willens des Erklärenden sowie die Rücksichtnahme auf die Verkehrssitte im Rahmen des Maßstabes von Treu und Glauben befohlen hat oder - in § 2084 BGB - weiter die Berücksichtigung des möglichen Erfolgs einer letztwilligen Verfügung dann, wenn sie mehrere Auslegungen zuläßt. b) Den Auslegungsauftrag der §§ 133, 157 BGB hat man dahin zu verstehen, daß der Gesetzgeber die Berücksichtigung von Erklärungshandlung, Willen sowie Verkehrssitte unter dem Blickpunkt von Treu und Glauben vorgeschrieben, als Objekt der Auslegung daher die Willenserklärung in einer Gesamtheit normiert, die Berücksichtigung der Ganzheit des Geschehens angeordnet hat, ohne für den Einzelfall das Gewicht der zu berücksichtigenden Elemente zu bestimmen. Das Gesamtheitsgebot ohne Gewichtung der Elemente, insbesondere ohne Abwägung zwischen dem Gewicht des Willens gegenüber dem Wortsinn der Erklärung, führt das Auslegungsgebot des § 133 BGB in eine Konkurrenz zum Verstehens- und Vertrauensgrundsatz, der die Interessen desjenigen zu berücksichtigen gebietet, der die Erklärung zur Kenntnis nehmen soll22. Für die Lösung des Konflikts haben sich typische Auslegungsgruppen herausgebildet, die vom Ubergewicht des Willens bis zum Übergewicht des Erklärungssinnes aus dem Blickpunkt des Erklärungsempfängers reichen, also nach der Bedeutung der Erklärung aus dem Empfängerhorizont fragen, wobei als Empfängerhorizont wiederum die Gesamtheit des Materials zu verstehen ist, das dem hypothetischen Ausleger zugerechnet wird, Umstandswissen wie Regelwissen, also Kenntnis der vorausgegangenen Verhandlungen, begleitenden Umstände, der Sprachregeln und der Verkehrssitte 23 . aa) Auf den subjektiven Willen des Erklärenden, nicht auf den objektiven Erklärungssinn aus der Sicht eines Erklärungsempfängers kommt es an, wenn ein Erblasserwille zu ermitteln ist. Der Ermittlung des Erblasserwillens setzt der Wortlaut des Testaments keine Grenze. Der Richter darf sich daher nicht auf eine Analyse des Wortlauts be-

20 Richtig Bickel, Die Methoden der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen, S. 161. 21 MK-Mayer-Maly, 3. Auflage. § 133 Rdn. 1. 22 Stumpf, aaO S. 962/963. 23 Heck, AcP 112, 1, 43; MK-Mayer-Maly, § 133, Rdn. 10.

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schränken, sondern muß alle ihm zugänglichen Umstände außerhalb der Testamentsurkunde bei der Erforschung des wirklichen Willens des Erblassers berücksichtigen.

So hat der BGH entschieden24, der die dem Tatrichter aufgetragene Auslegung nachprüft und verwirft, weil der Tatrichter dem, was sich aus dem Wortlaut des Testaments ermitteln ließ, das Ubergewicht zugemessen hatte. An dem Beispiel wird deutlich, wann und in welchem Umfang der BGH die Auslegung eines Testaments als individueller Willenserklärung nachprüft: wenn der Tatrichter den Auslegungsgrundsatz verkannt hat, daß es für die Auslegung der einseitigen Testamentserklärung in erster Linie auf den Willen des Erklärenden und für dessen Ermittlung nicht nur auf den Wortlaut des Testaments, sondern auch auf die außerhalb des Testaments liegenden Umstände ankommt, aus denen der - notfalls mutmaßliche - Erblasserwille zu ermitteln ist. Wo es Grundsätze für die Gewichtung von Willen, Erklärungstatbestand und Verkehrssitte unter Berücksichtigung von Treu und Glauben gibt, bildet die Verfehlung dieser den Rechtsfehler, den das Revisionsgericht korrigiert. bb) Auf den wirklichen Willen als innere Tatsache vor Wortlaut und Wortsinn der Erklärung nach allgemeinem Sprachgebrauch oder auch nach dem Verständnis eines Empfängers bei objektiver Würdigung kommt es an, wenn der tatsächliche Wille des Erklärenden bewiesen oder zugestanden ist und der Empfänger der Erklärung sie in gleichem Sinn verstanden oder den Willen des Erklärenden ebenso erkannt hat. Der Vorrang des wirklichen Willens des Erklärenden bei übereinstimmendem Verständnis aller Beteiligten vor dem Wortlaut und jeder anderen Interpretation ist wiederum ein die Konkurrenz zwischen Beachtlichkeit des Willens und Vertrauensgrundsatz lösender allgemeiner Auslegungsgrundsatz, auf dessen richtige Anwendung das Revisionsgericht die Auslegung des Tatrichters nachprüft25. Bei ermittelbarem Konsens der Vertragsparteien sind Empfängerhorizont, vernünftiger Wille, Verkehrssitte sowie Treu und Glauben belanglos; der Konsens hat Vorrang vor jeder normativen Auslegung. Das gilt auch bei formbedürftigen Willenserklärungen wie Grundstückskaufverträgen 26 . Die richtige Anwendung dieses Grundsatzes überprüft der Revisionsrichter. cc) Für einseitige empfangsbedürftige Willenserklärungen gilt das Primat des Vertrauensgrundsatzes, das den Vorrang dessen gebietet, was der Erklärungsempfänger verstehen durfte. So hat der B G H die v o m Käufer dem Abtretungsempfänger der Kaufpreisforderung gegebene Erklärung, die Forderung sei von keiner Gegenleistung abhängig, aus der

24 25 26

B G H Z 86, 41, 45/46. B G H N J W 1984, 721/722; B G H LM Nr. 6 zu § 1 1 9 BGB. B G H Z 87, 150, 1 5 2 - 1 5 5 .

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Sicht des Erklärungsempfängers ausgelegt und diese für maßgeblich erklärt; die Auslegung des Berufungsgerichts, der Käufer habe mit seiner Erklärung nur auf die Einrede aus § 320 B G B verzichtet, hat er mißbilligt, weil sie sich nicht nach dem maßgeblichen Verständnis des Erklärungsempfängers gerichtet habe. E r hat den allgemeinen Grundsatz formuliert, ein Zessionar, dem bestätigt werde, die Forderung sei von keiner Gegenleistung abhängig, müsse diese Bestätigung dahin auffassen, der Bestand der abgetretenen Forderung sei nicht dadurch gefährdet, daß die Gegenleistung möglicherweise völlig ausbleiben werde 27 .

Das Beispiel zeigt, daß der B G H die Auslegung individueller Willenserklärungen daraufhin überprüft, ob sie auf der Anwendung des Grundsatzes beruht, daß bestimmte einseitige empfangsbedürftige Willenserklärungen, bei denen es auf den Schutz des Vertrauens des Erklärungsempfängers ankommt, unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes vor dem subjektiven Willen des Erklärenden auszulegen sind. Das ist ebenso entschieden für Wechselerklärungen, für deren Auslegung der Grundsatz gilt, daß der typische Sinn der Erklärung maßgebend ist und deshalb nur solche Umstände herangezogen werden dürfen, die sich aus der Urkunde selbst ergeben oder einem am Begebungsvertrag nicht beteiligten Dritten mutmaßlich bekannt sind oder von ihm ohne Schwierigkeiten erkannt werden können 28 .

c) In den angeführten Beispielen handelte es sich bei der Anwendung der §§ 133, 157 B G B auf den vom Tatrichter festgestellten Erklärungstatbestand um die Lösung des Problems, zwischen dem Ganzheitsauftrag der §§ 133, 157 B G B und dem Verstehens- und Vertrauens-Grundsatz gerecht nach dem Gewicht abzuwägen, das ihnen je nach dem unterschiedlichen Typ der abgegebenen und auszulegenden Erklärung gebührte. Die Irrelevanz oder jedenfalls Unterlegenheit des Willens gegenüber der Erklärung wegen des Vorranges des Vertrauensgrundsatzes oder aber das Zurücktreten der Erklärung gegenüber dem Willen wegen des Vorranges des Willensprinzips auszusprechen, ist die von §§ 133, 157 BGB gebotene Abwägung, die sich damit als Anwendung einer Rechtsnorm im Sinne des § 550 ZPO und nicht als Tatsachenfeststellung erweist29. Mit dem Unterschied von Tat- und Rechtsfrage lassen sich daher die unterschiedliche Behandlung typischer Willenserklärungen einerseits und individueller Willenserklärungen andererseits und die Beschränkung der revisionsrichterlichen Nachprüfung bei der Auslegung dieser nicht begründen. Als Rechtsanwendung unterfällt auch deren Auslegung vollständig den §§ 549, 550 ZPO, die dem Revisionsgericht die Prüfung aufgeben, ob eine Rechtsnorm des Bundesrechts nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Die Konsequenz voller revisions-

B G H N J W 1970, 321. B G H Z 64, 11,14; ebenso für Ausschreibungstexte nach der V O B / A , B G H N J W - R R 1994, 1108. 29 Ebenso Stumpf, a a O S. 962-967, 969. 27

28

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richterlicher Nachprüfbarkeit der Auslegung individueller Willenserklärungen ziehen deshalb auch Stumpf und May - Senatspräsidenten an obersten Bundesgerichten, denen die Nachprüfung der Nichtanwendung oder nicht richtigen Anwendung von Bundesrecht ebenso übertragen ist wie dem BGH. 4. Welche Rechtfertigung könnte sich dann für die ganz offensichtlich auf eine Verringerung der Prüfungsarbeit des Revisionsgerichts zugeschnittene Rechtsauffassung des RG und des BGH finden lassen? a) Henke30 verficht eine Fortbildung des begrifflichen Revisionssystems nach praktisch-prozessualen Bedürfnissen. Er meint, an der begrifflichen Revisionsmethode seien Abstriche zu machen, wo das Revisionsgericht wegen seiner Sachferne zur Kontrolle und Korrektur einer rechtlichen Annahme nicht in der Lage ist. Die beschränkte Leistungsfähigkeit der 3. Instanz müsse in diesen Fällen zu einer Kompetenzbeschneidung führen. Hebe man ein Gericht aus der großen Zahl der Rechtsmittelgerichte heraus und vertraue man ihm die richtungweisenden Entscheidungen an, so müsse es von der Fällung von Urteilen entlastet sein, die ohne Wert für die Erkenntnis des Rechts in seinen größeren Zusammenhängen sind. Die Aufgabe des Revisionsgerichts, der Fortbildung des Rechts und der Rechtseinheit zu dienen, gebe den Begriffen der „Rechtsfrage" und „Tatfrage" einen speziell revisionsrechtlichen Charakter. So rechtfertigt Henke, die Nachprüfung der Auslegung von Willenserklärungen auf richtlinienmäßige Tätigkeit zu reduzieren unter Ausschluß derjenigen Korrektur des Einzelfalles, die weder zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Auslegung von Willenserklärungen taugt, noch wenigstens ein Beispiel für die Beurteilung künftig anfallender Streitfragen aufgrund des aufgedeckten Fehlers bei der Anwendung eines allgemeinen Grundsatzes liefern kann. Henke gelangt zu diesem Ergebnis, weil bei Überlastung des Revisionsgerichts dem allgemeinen Interesse an Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit der Vorrang vor dem Interesse des Revisionsklägers an der Korrektur eines fehlerhaften Urteils gebühre31. b) Man kann über die Berechtigung einer solchen teleologischen Reduktion des Nachprüfungsgebotes in §§ 549, 550 ZPO aufgrund des höherwertigen Allgemeininteresses an Wahrung der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung durch das Revisionsgericht geteilter Meinung sein. Stumpf und May lehnen diese Ansicht ab; Stein/Jonas-Grunsky und Ankermann folgen ihr - in unterschiedlich weitem Umfang. Ich meine, daß

J0 31

A a O S. 321 ff. Henke a a O S. 3 2 1 - 3 3 4 .

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die Rechtsprechung des B G H jedenfalls heute mit dem Gesetz in Einklang steht, und zwar aufgrund der neuen Gewichtung der Revisionsziele durch das Gesetz zur Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen vom 8. 7. 1975, das § 546 ZPO geändert und § 554 b ZPO eingefügt hat. Nach § 546 Abs. 1 ZPO findet die Revision nur statt, wenn das Oberlandesgericht sie zugelassen hat, was bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung geboten ist oder dann, wenn das Berufungsurteil von einer Entscheidung des B G H oder des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht. Nach § 554 b Abs. 1 Z P O kann das Revisionsgericht in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche die Annahme der Revision ablehnen, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die in den §§ 546, 554 b Abs. 1 Z P O für Divergenz- und Grundsatzfälle getroffene Regelung zeigt, daß der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Zuganges zur Revision den allgemeinen Zwecken der Wahrung der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung den Vorrang vor dem weiteren Revisionszweck der Beseitigung von Fehlurteilen im Individualinteresse eingeräumt hat. Das BVerfG hat allerdings entschieden32, es wäre verfassungswidrig, die Annahme einer im Endergebnis erfolgversprechenden Revision aus Gründen der Selbststeuerung der Arbeitslast des Revisionsgerichts abzulehnen. Eine Abstufung des Zugangs zur Revision nach der Schwere von Rechtsfehlern verstieße gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit. Wenn der Gesetzgeber einer Partei die Möglichkeit eröffnet habe, mit einem an sich statthaften und zulässigen Rechtsmittel ihr Recht vor Gericht zu suchen, müsse gleichgültig sein, ob der Rechtsfehler, auf dem das angefochtene Urteil beruht, schwerer oder minder schwerer Art ist. Das BVerfG hat jedoch nicht ausgesprochen, daß die vom Gesetzgeber in den §§ 546, 554 b Z P O geschaffene Verteilung der Gewichte der Revisionsziele mit dem Vorrang des Allgemeininteresses vor dem Individualinteresse verfassungswidrig sei. Wo daher das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit nicht verletzt und eine im Einzelfall vom Revisionsgericht vorgenommene Selbststeuerung seiner Arbeitslast vermieden werden, ist es zulässig, dem Vorrang des Allgemeininteresses vor dem Individualinteresse auch für die Auslegung der §§ 549, 550 ZPO Rechnung zu tragen. Eine solche Selbststeuerung im Einzelfall sowie ein Verstoß gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit werden aber vermieden, wenn man den § 550 ZPO in Bezug auf das Maß der Nachprüfung der Auslegung von Willenserklärungen so versteht, wie die

32

Im Beschluß seines Plenums vom 11.6. 1980, s. BVerfGE 54, 277 ff.

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Rechtsprechung schon des R G und des B G H durch die Bildung von Fallgruppen und die Aufstellung allgemeiner Grundsätze Maßstäbe gesetzt hat, die Rechtssicherheit, nämlich Prognostizierbarkeit der Entscheidung im Einzelfall, gewährleisten.

III. Wie sehen diese Maßstäbe aus? 1. Grundlegend ist der Unterschied zwischen der Revisibilität der Auslegung einerseits atypischer, andererseits typischer Willenserklärungen. Als typische Willenserklärungen gelten solche in Formularverträgen und allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Unterscheidung ist gerechtfertigt aufgrund der Richtlinien- und Vorbildfunktion, die dem Revisionsgericht bei der Auslegung typischer Willenserklärungen und bei Korrektur der Auslegung durch Berufungsrichter zukommt. Mit der Unterscheidung von Rechtsnormen, deren Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung revisibel ist, und der Tatsachenfeststellung hat das nichts zu tun. Deshalb sollte man nicht von der „Bindung des Revisionsgerichts an die dem Tatrichter vorbehaltene Auslegung" sprechen. Richtig ist vielmehr die Formel von der „Entscheidung des Einzelfalles", die (wegen des vorrangigen Revisionsziels der Wahrung der Rechtseinheit) revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht im vollen Umfange zugänglich ist. Der irreführende Anklang an die Unterscheidung der Rechts- von der Tatfrage wird dadurch gefördert, daß nach der Auffassung des B G H die Auslegung solcher allgemeiner Geschäftsbedingungen oder Formularverträge, die nicht über den Geltungsbereich eines Oberlandesgerichtsbezirks hinaus Anwendung finden, sowie die Auslegung ausländischer allgemeiner Geschäftsbedingungen nicht uneingeschränkt, sondern nur in dem Maße revisibel sein soll, wie es für die Nachprüfung der Auslegung individueller Willenserklärungen angenommen wird. Damit ist auf § 549 Abs. 1 Z P O verwiesen. Die Verweisung sollte jedoch nicht zu dem Irrtum führen, Formularverträge oder allgemeine Geschäftsbedingungen weiterreichender Bedeutung seien Rechtsnormen oder wie solche zu behandeln. Vielmehr offenbart sich darin nur der Grund, der auch zur Beschränkung der Nachprüfung auf die Verletzung von Bundesrecht oder solchem Landesrecht führt, welches über den Bezirk eines Oberlandesgerichts hinaus Anwendung findet: Es fehlen dem Revisionsgericht Fallmaterial aus dem Bezirk mehrerer Oberlandesgerichte und die Möglichkeit, die Rechtsprechung mehrerer Oberlandesgerichte durch Korrektur von Urteilen beispielgebend zu beeinflussen. Es fehlt daher der Grund für eine Revisibilität - sieht man ihn vorrangig in der Wahrung der Rechtseinheit, wie dies § 549 Abs. 1 ZPO tut.

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Es war freilich nötig, von dem Grundsatz Ausnahmen zu machen. Makler-Geschäftsbedingungen finden wegen des häufig nur engen Tätigkeitsbereichs ihrer Verwender keine Anwendung in mehr als einem Oberlandesgerichtsbezirk. Dennoch hat der B G H sie für voll revisibel gehalten - und etwa die „Alleinauftrags"-Klausel nachgeprüft, weil gleichartige Klauseln in ähnlicher Fassung von Maklern vielfach benutzt werden, und zwar auch außerhalb des Bezirks des Berufungsgerichts, dessen Entscheidung gerade überprüft wurde33. Ist in allgemeinen Geschäftsbedingungen eine wirksame Gerichtsstandsklausel enthalten, die gewährleistet, daß alle Rechtsstreitigkeiten um die Auslegung von einem und demselben Oberlandesgericht zu entscheiden sind, so gilt nur beschränkte Nachprüfbarkeit der Auslegung, auch wenn die Klausel in mehreren Oberlandesgerichtsbezirken Anwendung findet; das Urteil des BGH 3 4 sagt, daß es in einem solchen Fall nicht zu unterschiedlichen OLG-Entscheidungen kommen könne. 2. Für uneingeschränkt nachprüfbar hält die herrschende Meinung35 die Auslegung gerichtlicher Entscheidungen und sonstiger gerichtlicher Akte, ferner der Akte anderer Behörden. Eine Begründung dafür wird nicht gegeben. Sie läßt sich auch kaum finden, wenn man bedenkt, daß nach § 549 Abs. 1 ZPO nicht einmal die Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung von Landesrecht, welches nicht über den Geltungsbereich eines Oberlandesgerichtsbezirks hinaus anwendbar ist, nachgeprüft wird. Soll etwa die Auslegung der Entscheidungen solcher Behörden selbst in weiterreichendem Umfange nachprüfbar sein als die Auslegung des von ihnen angewendeten Rechtssatzes? 3. Für uneingeschränkt nachprüfbar erachtet wird die Auslegung von Grundbucheintragungen sowie darin in Bezug genommenen Eintragungsbewilligungen36. Sie wird mit einer Bezugnahme auf die uneingeschränkte Nachprüfung der Auslegung von Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten begründet - und unterliegt insoweit den dagegen zu erhebenden Bedenken; sie wird desweiteren damit gerechtfertigt, daß Grundbucheintragungen zur Kenntnisnahme für jedermann vorgenommen seien, der ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis darlegen " B G H Z 60, 377, 379/380. 34 Vom 18. 9.1963, NJW 1963, 2227. 35 Sowohl in der Rechtsprechung, R G Z 58, 423; R G Z 74, 205; R G Z 102, 3; R G Z 136, 232, 234; B G H NJW 1983, 2273, 2274; B G H NJW 1988, 1914,1915; als auch in der Literatur, Baumbach-Lauterbach-Albers, § 550 Rdn. 3; MK-Walcbshöfer, § 550 Rdn. 8; ThomasPutzo, § 550 Rdn. 5; einschränkend AK-Ankermann § 550 Rdn. 15; Stein/Jonas-Grunsky §§ 549, 550 Rdn. 46. 56 B G H Z 113, 374, 378; B G H Z 37, 147, 149; R G Z 136, 232, 234; R G Z 142, 156, 159; ständige Rechtsprechung.

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könne 3 7 , w o m i t eine die uneingeschränkte N a c h p r ü f b a r k e i t der Auslegung rechtfertigende Vorbildfunktion im Allgemeininteresse dargetan ist.

4. Uneingeschränkter N a c h p r ü f u n g soll die Auslegung der Satzungen juristischer Personen unterliegen - allerdings nur insoweit, wie darin körperschaftsrechtliche Regelungen getroffen sind 38 . D i e A u f f a s s u n g wird damit begründet, daß die Satzung Vorschriften nicht nur für einen Einzelfall gebe, sondern dazu bestimmt sei, f ü r die inneren und äußeren Rechtsbeziehungen der juristischen Person in Gegenwart und Z u k u n f t ein für allemal eine den besonderen Verhältnissen des Unternehmens angepaßte feste G r u n d l a g e zu schaffen, w o r a u s ihre über den Einzelfall weit hinausreichende Bedeutung folge 3 9 . D i e im Wortlaut mit §§ 546, 554 b Z P O übereinstimmende Verweisung auf die über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung der Satzung - und damit ihrer Auslegung und der Entscheidung darüber - läßt die B e g r ü n d u n g für uneingeschränkte N a c h p r ü f u n g sofort einleuchten. ß. D i e Auslegung von Prozeßhandlungen ist nach der A u f f a s s u n g der Rechtsprechung uneingeschränkt revisibel 40 . Diese A u f f a s s u n g wird nicht begründet. In allen Entscheidungen findet man immer nur den Satz, das Revisionsgericht sei zur N a c h p r ü f u n g der Auslegung einschränkungslos befugt, weil es sich u m die A u s l e g u n g von „Prozeßerklärungen" handele. D a b e i wird nicht einmal danach unterschieden, o b es sich u m eine Prozeßerklärung mit unmittelbarer, das Prozeßrechtsverhältnis treffender Wirkung (Klage, Rücknahme, Verzicht auf p r o z e s suale Einrede, Berufungseinlegung, Klageänderung) oder u m im Prozeß vorgebrachten Tatsachenvortrag handelt 4 1 . D i e A u f f a s s u n g der Rechtsprechung wird in der Literatur kritisiert 42 , von Stein/Jonas-Grunsky" abgelehnt, w o es sich nicht u m eine Erklärung handelt, die einen von A m t s wegen zu berücksichtigenden Punkt betrifft wie unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen oder auch prozeßerledigende Erklärungen. R G Z 136,232,234. R G Z 86, 283, 284 f; B G H Z 9, 273, 281; B G H Z 14, 25, 36 f; st. Rspr., zuletzt B G H N J W 1994; 51 f. 3 ' R G Z 8 6 , 2 8 3 , 2 8 4 f; B G H Z 14,25, 36 f. 40 R G Z 137,369,378; B G H Z 4, 328,334; B G H Z 109, 19,22; B G H Z 115,286, 290. 41 B G H W M 1990, 6, 8; B G H N J W - R R 1994, 1203 in einem Fall das Vorbringen eines Anfechtungstatbestandes im Sinne von § 3 Abs. 1 N r . 1 A n f G in der Tatsacheninstanz betreffend, im anderen Fall die Deutung einer im Tatsachenrechtszug abgegebenen Erklärung als Aufrechnungserklärung; davon abweichend allerdings B G H Z 109, 19, 22, w o zwischen der materiellrechtlichen oder der prozessualen Seite einer im Prozeß getroffenen Vereinbarung unterschieden wird. 42 Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, S. 240. 43 §§ 549, 550 Rdn. 44, 45. 37

31

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Die Rechtsprechung läßt sich nicht mit der Vorbildfunktion revisionsrichterlicher Rechtsprechung begründen, sondern nur psychologisch aus dem Selbstverständnis des Revisionsrichters verstehen, der sich die Sinndeutung solcher Erklärungen, die in den zu ihm gelangenden Prozeßakten niedergelegt sind, nicht von Richtern der unteren Instanz vorschreiben läßt. Bevor man die Rechtsprechung kritisiert, sollte man sich daran erinnern, daß schon die These von der Beschränktheit revisionsrichterlicher Nachprüfung der Auslegung von Willenserklärungen auf einer teleologischen Reduktion der §§ 549, 550 ZPO beruht. Jede Rückausnahme von der Reduktion des dem Revisionsrichter unterbreiteten Prüfungsauftrags ist willkommen.

6. Worin besteht nun die Beschränkung in der revisionsrichterlichen Nachprüfung der Auslegung individueller Willenserklärungen, wenn keiner der aufgezählten Fälle uneingeschränkter Nachprüfbarkeit gegeben ist? a) Geht es darum, einen - tatrichterlich, also bindend - festgestellten Erklärungstatbestand einem der benannten Geschäftstypen des Gesetzes zuzuordnen, so daß man die Sinndeutung als Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den im Obersatz typisierten Sachverhalt zu bezeichnen hat, so prüft der B G H die Sinndeutung voll nach, auch wenn er sie als „Auslegung" und nicht als „Subsumtion" bezeichnet. So ist für die Frage der Abgrenzung zwischen Garantieversprechen und Bürgschaft das eigene wirtschaftliche Interesse des Erklärenden maßgeblich. Der B G H hat unter diesem Blickpunkt die Erklärung eines Architekten, der bei einem durch Abtretung von Werklohnforderungen durch Bauunternehmen gefährdeten Bauvorhaben einem Unternehmer erklärt hat, wer die Arbeiten ausführt, bekommt auch sein Geld; ich stehe Ihnen mit meinem persönlichen Vermögen dafür ein, daß Ihre geleisteten Arbeiten honoriert werden,

als Garantieversprechen, nicht Bürgschaft, gewertet wegen des eigenen Interesses des Architekten, Vorwürfe abzuwehren, die sich daraus ergaben, daß er die Abtretung von Werklohnforderungen an Gläubiger genehmigt hatte44. Die Abgrenzung zwischen Vorerbeinsetzung und Vorausvermächtnis hat der B G H aufgrund einer vollständigen Nachprüfung der vom Berufungsgericht vorgenommenen Testamentsauslegung durch eigene „Auslegung" nachvollzogen und zum Gegenstand eines Leitsatzurteils gemacht45. Die gegenüber einer Bank abgegebene Erklärung

" B G H W M 1962, 576, 577. B G H N J W 1960, 959, 960/961.

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Ich bestätige hiermit, daß gegen mich aus Bauvorhaben ... eine Forderung in Höhe von 10 000 D M besteht; Rechte Dritter an der Forderung oder eigene zur Aufrechnung geeignete Gegenansprüche bestehen nicht; erforderlichenfalls stimme ich der Abtretung zu; den Betrag werde ich an die angegebene Bank zahlen,

ordnet er im Wege der „Auslegung" dem Rechtsgeschäftstyp des bestätigenden Schuldanerkenntnisses zu, wobei er die tatrichterliche „Auslegung" in vollem Umfange daraufhin prüft, ob der Zweck eines solchen Anerkenntnisses, ein Schuldverhältnis dem Streit der Parteien zu entziehen und es unter Ausschluß aller Einwendungen endgültig festzulegen, dem Willen des Schuldners entspricht, was sich nach den Umständen des Einzelfalles richte46. Die Auslegung der von dem Gesellschafter eines Teilzahlungsinstituts gegenüber einer Bank abgegebenen Erklärung, er mache sich für die Einlösung von einem Mitgesellschafter vorgelegter Schecks stark, hat der B G H vollständig anhand der Kriterien überprüft, daß eine Bürgschaft schuldabhängig sei, während ein Garant eine von der Schuld des Hauptschuldners unabhängige Verpflichtung übernehme; er hat auf die Risikobelastung der Bank, die auf ein ungedecktes Konto bezogene Schecks einlösen sollte, abgestellt und in der Befreiung der Bank von diesem Risiko durch den Erklärenden das Charakteristische der Vereinbarung gesehen, die das Berufungsgericht deshalb zutreffend als Garantieversprechen habe auslegen können". Ebenso hat er es in einem Fall gehalten, in dem zwischen Schuldbeitritt oder Bürgschaft zu entscheiden war".

Wo es um die Unterordnung der festgestellten Erklärung unter die gesetzlich normierten Geschäftstypen unter Berücksichtigung von Geschäftswillen, Vertragszweck und Interessenlage geht, das Ergebnis der Sinndeutung aber durch einen benannten Rechtsgeschäftstyp als juristischer Obersatz vorgezeichnet ist, nimmt der BGH also eine vollständige Nachprüfung der „Auslegung" vor, ohne sich über die Bedeutung seiner Tätigkeit als Subsumtion und damit Rechtsanwendung Rechenschaft zu geben. b) Geht es darum, den Sinn des Rechtsgeschäfts ohne Rückgriff auf gesetzlich normierte Geschäftstypen zu bestimmen, also um eine Auslegung individueller rechtsgeschäftlicher Erklärungen ohne typisierte Bedeutung des Obersatzes, so sieht eine beispielhafte beschränkte Nachprüfung der Auslegung, wie folgt aus: Es ging um die Auslegung der Erklärung eines Bauherrn gegenüber seinem Architekten, er erkenne dessen Honorarforderung in bestimmter Höhe an - womit die Voraussetzung für die Löschung eines dem Architekten eingetragenen Grundpfandrechts geschaffen werden sollte. Der Bundesgerichtshof, der feststellt, daß die Bauherren-Erklärung ein An«• B G H W M 1962, 742/743. 47 B G H N J W 1967, 1020/1021; die vorgenannten Beispiele sind dem Aufsatz von Henke in ZZP 1968 - dort S. 344-347 - entnommen. « BGH NJW-RR 1994,1044.

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Herbert Messer

erkenntnis gewesen sei, p r ü f t die Auslegung des Berufungsgerichts nach, es habe sich u m ein konstitutives Anerkenntnis gehandelt. Unter der Prämisse lediglich eingeschränkter Nachprüfbarkeit der individuellen atypischen Erklärung stellt er fest, das Berufungsgericht habe ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze und ohne Verkennung seines Wesens ein konstitutives Schuldanerkenntnis bejaht. Es habe aus dem Inhalt der Erklärung und der Interessenlage der Vertragschließenden auf ein konstitutives Anerkenntnis schließen dürfen, zumal daran drei Volljuristen beteiligt gewesen seien und unter dem Begriff des Anerkenntnisses in erster Linie das gesetzlich geregelte Anerkenntnis des § 781 BGB zu verstehen sei. Wäre davon abweichend ein deklaratorisches Anerkenntnis gemeint gewesen, hätte es nahegelegen, das zum Ausdruck zu bringen.

Diese N a c h p r ü f u n g endet mit der Feststellung, die Auslegung des Berufungsgerichts sei daher zumindest möglich und damit f ü r das Revisionsgericht bindend 49 . M a n fragt sich, wie eine Auslegung überhaupt vollständiger hätte nachgeprüft werden können. Ich sehe die Beschränkung darin, daß der B G H nach - tatrichterlich bindender - Feststellung des Erklärungstatbestandes sowie - tatrichterlich bindender - Feststellung sämtlicher im Rahmen des Ganzheitsgebotes der §§ 133, 157 BGB zu berücksichtigender Umstände bei der Abgabe der Willenserklärung zwar vollständig nachprüft, ob es sich u m relevante U m s t ä n d e handelt, danach aber bei der - v o m Gesetz nicht näher geregelten - Gewichtung der Umstände, die je zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen könnte, mit seiner P r ü f u n g innehält. c) Vollständig nachgeprüft wird indessen, ob sich unter den berücksichtigten U m s t ä n d e n solche befinden, die nicht berücksichtigungsfähig sind wie z. B. Ereignisse, die erst nach dem Zugang der auszulegenden Willenserklärung eingetreten sind 50 . Allerdings k o m m t in Betracht, aus solchen nachträglichen Ereignissen Rückschlüsse auf den wahren Inhalt der Vereinbarung zu ziehen, sie also als Indizien zu verwenden 51 . 7. Gelangt die P r ü f u n g zu dem Ergebnis, die Auslegung der individuellen Willenserklärung sei fehlerhaft, so begnügt der B G H sich meist nicht mit dieser Feststellung und einer A u f h e b u n g des Berufungsurteils. Vielmehr liest man in einer Vielzahl von Entscheidungen, daß der Senat die Willenserklärung selbst auslegen könne, weil der Sachverhalt hinreichend geklärt sei52. Soweit diese Auffassung damit begründet wird, durch den festgestellten Fehler des Berufungsgerichts sei die Bindung an dessen Auslegung entfallen, liegt diesem Gedanken die fehlerhafte Vor-

« BGH 50 BGH 51 BGH 52 BGH Übung.

W M 1978,266 f. BB 1988,1843. N J W - R R 1994,1081. W M 1974, 406 f; B G H W M 1991, 558, 559; B G H W M 1994, 1370 f; ständige

Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung

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Stellung von der Maßgeblichkeit der Unterscheidung zwischen Rechtsund Tatfrage zugrunde 53 , Richtig ist demgegenüber die in einem Urteil aus 199254 ausgesprochene Verweisung auf § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO, der dem Revisionsrichter die Entscheidung in der Sache selbst aufgibt, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach diesem die Sache zur Endentscheidung reif ist. Diese Pflicht zur Sachentscheidung nimmt keine Rücksicht auf Kompetenz, Leitbildfunktion des Revisionsgerichts als höchster Instanz, sondern dient allein der im Individualinteresse liegenden Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung in einem Revisionssystem, das - anders als beispielsweise das französische - nicht nach dem Prinzip der Kassation ausgebildet ist.

" Wie z. B. B G H LM N r . 2 zu § 133-A-BGB. 5 " W M 1993,114,115.

Teilurteile über unselbständige Anschlußberufungen B R U N O RIMMELSPACHER

I. In einem Beschluß vom 10. Mai 19941 hat der XI. Zivilsenat des B G H erklärt, eine Vorabentscheidung über eine Anschlußberufung verstoße auch dann gegen §§ 301 Abs. 1, 522 Abs. 1 ZPO, wenn die Anschlußberufung unheilbar unzulässig sei. Es sei „inkonsequent", eine solche Anschlußberufung anders zu behandeln als ein offensichtlich unbegründetes Anschlußrechtsmittel; über dieses aber könne unstreitig nicht abgesondert entschieden werden, solange das Schicksal der unselbständigen Anschlußberufung „zumindest theoretisch" in der Schwebe sei. Dieses Erkenntnis des B G H scheint Wasser auf die Mühlen jener Gerichte und Autoren zu leiten, die die tradierte unterschiedliche Behandlung unzulässiger und unbegründeter Prozeßhandlungen, vor allem von Klagen, grundsätzlich in Zweifel gezogen haben. Indes darf nicht übersehen werden, daß diese Zweifel keineswegs bei allen Voraussetzungen, von denen die Zulässigkeit einer Prozeßhandlung abhängt, in gleicher Weise erhoben, sondern Lösungen für die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen und für die verschiedenen Prozeßhandlungen funktional differenziert entwickelt wurden2. Erinnert sei in diesem Zusammenhang gerade an die unterschiedlichen Konsequenzen bei Unzulässigkeit eines Rechtsmittels einerseits, bei Unbegründetheit andererseits3. Daher bedarf die Gleichbehandlung unzulässiger und unbegründeter Anschlußrechtsmittel durchaus einer vertiefenden Betrachtung, zumal das Diktum des B G H sich nicht auf eine ganz einheitliche Linie in Rechtsprechung und Schrifttum stützen kann4. Vor diesem Hintergrund soll Gegenstand der folgenden Überlegungen die Frage sein, ob ein Teilurteil

N J W 1994, 2235 = LM § 301 ZPO Nr. 50 = MDR 1994, 940. Vgl. beispielhaft in jüngster Zeit MünchKomm-ZPO/Lindacher, 1992, § § 5 1 , 52 Rdn. 46; Wieczorek/Hausmann, ZPO, 3. Aufl. 1994, § 56 Rdn. 10 ff. 3 MiinchKomm-ZVO/Rimmelspacher, 1992, § 519 b Rdn. 1. 4 Vgl. die umfangreichen Nachweise im Beschluß vom 10. Mai 1994, NJW 1994, 2235, 2236. - Von den Stimmen der Literatur, die der B G H für seine Auffassung zitiert, hat sich Grunsky (Stein!Jonas! Grunsky, 21. Aufl. 1994, § 522 a Rdn. 23) inzwischen der Gegenmeinung angeschlossen. Dieser ist wohl auch Klamaris, Das Rechtsmittel der Anschlußberufung, 1975, S. 266 (bei und in Fn. 12) zuzurechnen. 1

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Bruno Rimmelspacher

über eine unselbständige Anschlußberufung schon aus rechtlichen Gründen unzulässig oder zumindest aus prozeßpraktischen Erwägungen untunlich ist.

II. 1. Eine der praktischen Konsequenzen seiner Rechtsprechung deutet der B G H selbst an. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte die Beklagte in erster Instanz Widerklage gegen die Klägerin und einen Dritten erhoben. Diese letztere Widerklage war ebenso wie die Klage abgewiesen worden, während die Widerklage gegen die Klägerin Erfolg hatte. Auf deren Berufung legte die Beklagte nach Ablauf der Berufungsfrist Anschlußberufung nicht nur gegen die Klägerin, sondern auch gegen den Dritten ein. Diese zweite Anschließung war unzulässig, weil sich das (unselbständige) Anschlußrechtsmittel nur gegen den Rechtsmittelführer selbst richten kann5. Hält man nun die alsbaldige Verwerfung der unzulässigen Anschlußberufung gegen den Dritten für ausgeschlossen, so kann der Dritte in der Berufungsinstanz nicht als Zeuge vernommen, sondern allenfalls als Partei gem. § 141 ZPO gehört werden. Auch wenn die Partei nach §§ 141 Abs. 3, 380 ZPO, vergleichbar einem Zeugen, durch die Androhung eines Ordnungsgeldes zum Erscheinen veranlaßt und ihren Erklärungen, wie der B G H bemerkt, vom Berufungsgericht im Rahmen seiner Überzeugungsbildung die ihnen zukommende Bedeutung beigemessen werden kann, so verliert das Gericht mit dem Wechsel des Dritten von der Zeugen- zur Parteistellung als Folge der Anschlußberufung doch die Befugnis, ihn auch zur Aussage zwingen zu können; denn aussagepflichtig ist nur der Zeuge, nicht die Partei6. Dieser Umstand kann insbesondere dann Bedeutung gewinnen, wenn zwischen der Klägerin und dem Dritten sachliche Differenzen bestehen, die die Beklagte sich durch die Einlegung der unselbständigen Berufung zunutze machen will. 2. Immerhin mag dies als ein Umstand angesehen werden, der „nur" die Prozeßtaktik der Parteien betrifft und deshalb noch keine allgemeine Relevanz beanspruchen kann. Dabei muß es jedoch nicht bleiben. Vielmehr kann eine Partei die Anschlußberufung gegen einen Dritten auch zur Ausweitung des Verfahrens und damit zur Prozeßverzögerung benutzen, um möglichst lange die Früchte ihres Obsiegs in erster Instanz 5 BGH N J W - R R 1989, 441; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher § 5 2 1 Rdn. 23; Stein/Jonas/Grunsky § 521 Rdn. 17. ' Zur Vernehmung von Parteien nach den Regeln des Zeugenbeweises Jens Müller, Parteien als Zeugen, 1992.

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zu genießen. Damit wächst die Gefahr, daß unnötig Verfahrensressourcen gebunden und die Kosten aufgebläht werden, ohne daß dies auch nur durch ein Gran rechtsstaatlichen Gewinns aufgewogen würde oder das Gericht dem immer durch eine (entsprechende) Anwendung des § 145 Abs. 1 ZPO begegnen könnte. Sind schon diese möglichen Konsequenzen unerfreulich, so wächst das Unbehagen noch, wenn man die weiteren Folgerungen aufdeckt, die sich aus der Logik des höchstrichterlichen Beschlusses ergeben. Sie werden sichtbar, wenn man fragt, warum das Berufungsgericht die unheilbar unzulässige Anschlußberufung nicht soll verwerfen dürfen. Die Antwort des B G H lautet: Es fehle an der Entscheidungsreife, weil nicht auszuschließen sei, daß die Anschlußberufung gem. § 522 Abs. 1 ZPO ihre Wirkung verliere. Zwar betrachtet der Senat in diesem Zusammenhang lediglich die Möglichkeit der Berufungsrücknahme näher. Aber genauso muß auch die Verwerfung der Berufung ins Kalkül gezogen werden. Nähme man dann die Argumentation des B G H ernst, so müßte eine Entscheidung über die Anschlußberufung nicht nur bis zur Entscheidung über die Berufung, sondern sogar bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung hintangestellt werden. Denn selbst wenn das O L G sachlich über die Berufung entschiede, wäre nicht ausgeschlossen, daß dieses Erkenntnis in der Revisionsinstanz aufgehoben und die Berufung für unzulässig erklärt (oder die Sache in die zweite Instanz zurückverwiesen und dort die Berufung dann verworfen oder zurückgenommen) würde7. In all diesen Fällen müßte die Anschlußberufung zunächst einmal als „Hängepartie" beim Oberlandesgericht weitergeführt werden. Und es müßte über sie in einem weiteren Schritt eigens entschieden werden, wenn nicht § 522 Abs. 1 ZPO zum Zuge kommt. All dies würde nicht nur gelten, wenn es sich um eine unzulässige Anschlußberufung handelt, sondern ganz ebenso bei unbegründetem Anschlußrechtsmittel. Nur das Landgericht als Berufungsgericht könnte zugleich über Rechtsmittel und Anschlußrechtsmittel entscheiden. 3. Derlei prozeßpraktisch äußerst mißliche Konsequenzen hat - soweit ich sehe - die Rechtsprechung noch nicht gezogen. Doch könnte man selbst dabei nicht stehenbleiben, sondern müßte Folgerungen generell für den Anwendungsbereich des § 301 ZPO ins Auge fassen. Wäre nämlich mit dem B G H die Entscheidungsreife für den Erlaß eines Teilurteils zu verneinen, wenn das zugrunde liegende Begehren im weiteren Verfahrensverlauf noch seine Wirkung verlieren könnte, so würde damit der Anwendungsbereich des § 301 Z P O praktisch auf Null reduziert. Uber7 Das übersieht R G Z 159, 293, 295; zutreffend dagegen Fenn N J W 1962, 1826 (ohne jedoch die notwendigen Konsequenzen hieraus zu ziehen).

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trüge man die Voraussetzungen der Entscheidungsreife im Sinne des B G H gar auf § 300 ZPO - und nichts spricht angesichts der einhelligen Auffassung, daß der Begriff der Entscheidungsreife in § 300 und § 301 ZPO identisch ist8, dagegen - , so gelangte man geradewegs zu einer Urteilsblockade. Die nächstliegende Probe aufs Exempel für diese Weiterungen bildet die Klage- oder Rechtsmittelrücknahme. Da sie auch noch nach Urteilserlaß bis zur Rechtskraft der Entscheidung zulässig und damit die Gefahr nicht auszuschließen ist, daß der der Entscheidung zugrundeliegende Antrag wirkungslos wird, wäre Entscheidungsreife im Sinne des vom B G H vertretenen Standpunkts auszuschließen. Gegen die Tauglichkeit dieses Beispiels wird man freilich sofort § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. ZPO ins Feld führen, um darzutun, daß die „Gefahr" der Klage- oder Rechtsmittelrücknahme nach Urteilserlaß die Entscheidungsreife nicht in Frage stellt. Aber mit diesem Einwand wird das Dilemma eher verdeutlicht als gelöst. Denn der Einwand zeigt die Brüchigkeit der höchstrichterlichen These: Entweder ist die Lösung, die sich aus § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. ZPO ergibt, mit der Regel der §§ 300, 301 Abs. 1 ZPO und insbesondere dem dortigen Begriff der Entscheidungsreife vereinbar - dann läßt sich der Standpunkt des B G H nicht aufrechterhalten; oder in § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. ZPO steckt eine Ausnahmeregelung - dann müßten deren Basis und Tragweite ermittelt werden, um feststellen zu können, ob nicht auch die hier zur Diskussion stehende Problematik der Anschlußberufung dem „Ausnahmemuster" unterfällt. Wie immer es sich verhält: man kommt nicht umhin, den Begriff der Entscheidungsreife näher unter die Lupe zu nehmen. Dieser Aufgabe entgeht man auch nicht mit der Erwägung, eine Klage- oder Rechtsmittelrücknahme bedürfe nach dem Beginn der Verhandlung des Beklagten oder Berufungsbeklagten dessen Einwilligung (§§ 269 Abs. 1, 515 Abs. 1 ZPO); und wenn ein Urteil ergehe, sei der Prozeß in der Regel so weit fortgeschritten, daß die „Gefahr" einer Klage- oder Rechtsmittelrücknahme nur noch minimal sei. Denn dieser Erwägung hat der BGH 9 schon selbst den Boden entzogen, weil er, um das Gericht nicht in die mißliche Lage des Propheten im Prozeß zu drängen, mit Grund und im Gegensatz zu einer früheren Entscheidung10

8 Baumbach/Lauterbach/Hartmann, Z P O , 54. Aufl. 1996, § 301 Rdn. 4; MünchKomm-ZPO/Musielak, 1992, § 301 Rdn. 6; Thomas/Putzo, Z P O , 19. Aufl. 1995, § 301 Rdn. 2; Zöller/Vollkommer, Z P O , 19. Aufl. 1995, § 301 Rdn. 6; vgl. auch B G H Z 72, 34, 37. ' N J W 1994, 2235, 2236; ebenso schon B G H Z 20, 311, 312. ,0 B G H N J W 1964, 108, wo geprüft wurde, ob die Wahrscheinlichkeit einer Berufungsrücknahme „praktisch" verneint werden könne; kritisch dazu Schumann, Die Berufung in Zivilsachen, 4. Aufl. 1990, Rdn. 379.

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nicht auf die mehr oder weniger starke Wahrscheinlichkeit abgestellt hat, mit der mit einer Rücknahme gerechnet werden muß. III. 1. Die §§ 300, 301 Z P O " verpflichten das Gericht zum Erlaß eines Endurteils, sobald der Rechtsstreit ganz oder teilweise zur Entscheidung reif ist. Damit hat der Gesetzgeber zum einen auch an dieser Stelle die Grundaussage bestätigt, wonach das Verfahren und die Verhandlung in einer Instanz nicht durch ein „Beweisinterlokut" in zwei Abschnitte aufgespalten, vielmehr erst durch das Endurteil abgeschlossen wird12. Vor allem aber ist damit zum Ausdruck gebracht, daß das Verfahren nicht weiter ausgedehnt werden darf als zur Entscheidung erforderlich ist: „Der zur Entscheidung berufene Richter hat den nächsten zu diesem praktischen Ergebnisse führenden Weg einzuschlagen, sich also in der Prüfung des Prozeßstoffs (der einzelnen Angriffs- und Vertheidigungsmittel) auf das Nothwendige zu beschränken."13 Dementsprechend wird Entscheidungsreife bejaht, wenn der entscheidungserhebliche Tatsachenstoff hinreichend geklärt ist14. Das beruht auf der Erwägung, daß ein (Teil-)Endurteil nicht erlassen werden darf, solange noch einzelne Angriffs- und Verteidigungsmittel, die für die Entscheidung in Betracht kommen, unaufgeklärt sind15 oder noch beigebracht werden können (arg. § 139 ZPO) 16 . Zwar hat der Gesetzgeber die Frage offen gelassen, „ob über sämmtliche Angriffs- und Vertheidigungsmittel oder nur über diejenigen, welche zur Erreichung des von den Parteien verfolgten Zwecks genügend sind, zu erkennen ist"17. Aber es ist nirgends18 die Rede davon, daß die Entscheidungsreife durch den nachträglichen Wegfall der zu bescheidenden Anträge in Zweifel gezogen sein könnte. Das hat auch seinen guten Grund; denn das Gericht hat nicht über die künftige Entwicklung des Parteibegehrens" zu spekulieren, sondern über die

11

12 13

nal).

§ 301 Abs. 1 ZPO mit der Einschränkung des Abs. 2. Hahn, Die gesammten Materialien zur Civilprozeßordnung, 2. Band, 1880, S. 133. Struckmann/Koch, C P O , 7. Aufl. 1900, § 3 0 0 Anm. 1 (Hervorhebungen im Origi-

H MünchKomm-ZPO/Mitsielak § 300 Rdn. 2 f, ähnlich § 301 Rdn. 6; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 300 Rdn. 7; Thomas/Putzo § 300 Rdn. 2; Zöller/Vollkommer § 300 Rdn. 2. 15 Stein/Jonas/Leipold § 300 Rdn. 8. " R G SeuffArchiv 48 Nr. 290; de Lousanoff, Zur Zulässigkeit des Teilurteils gem. § 301 ZPO, 1979, S. 25 (im Rahmen des § 301 ZPO). 17 Hahn, Materialien zur C P O , S. 285. Vgl. Hahn, Materialien zur C P O , S. 132 ff, 283 f, 598 ff, 1003. " Etwa über eine Klagerücknahme.

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tatsächlich gestellten Anträge20 zu entscheiden. Die Norm des § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. Z P O erweist sich damit nicht als eine besonderer Erklärung bedürftige Ausnahmeregel, sondern ist ohne weiteres mit dem zutreffenden Verständnis der Entscheidungsreife in §§ 300, 301 Z P O vereinbar. Im vorliegenden Themenzusammenhang fehlt daher die Entscheidungsreife bei jenen Anschlußberufungen, bei denen die Voraussetzungen der Zulässigkeit oder Begründetheit der Anschließung noch erfüllt werden können. Da dies bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz möglich ist21, ist bis dahin die Anschlußberufung noch nicht zur Entscheidung reif, soweit es sich um Mängel handelt, die geheilt oder durch eine erneute Einlegung der Anschlußberufung überholt werden können 22 . Leidet eine Anschlußberufung dagegen an einem unheilbaren Mangel wie etwa in der dem Beschluß des X I . Zivilsenats zugrunde liegenden Situation23, so fehlt es nicht an der Entscheidungsreife i. S. von §§ 300, 301 ZPO. Denn das rechtliche Schicksal der Anschlußberufung ist nicht von dem Ergebnis einer weiteren Verhandlung über Angriffs- und Verteidigungsmittel abhängig, die die Voraussetzungen der Anschlußberufung betreffen, sondern nur von Verfahrenshandlungen, die auf die Hauptberufung und mittelbar auf die Anschlußberufung als Entscheidungsbegehren selbst zielen. Man kann die Entscheidungsreife auch nicht mit der Erwägung in Frage stellen, daß noch nicht sicher ist, ob die Anschlußberufung ihre Wirkungen gem. § 522 Abs. 1 ZPO verliert und damit dem Berufungsgericht der Entscheidungsgegenstand entzogen wird24. Denn diese Erwägung würde nur wieder zu dem absurden Ergebnis führen, daß über die Anschlußberufung nicht vor Rechtskraft zumindest einer sachlichen Teilentscheidung über die Hauptberufung befunden werden dürfte, also nicht nur nicht durch Teilurteil, sondern (wenn der Rechtsstreit vor dem O L G schwebt) nicht einmal zusammen mit der Hauptberufung. Daher ist die Zulässigkeit eines Teilurteils über die Anschlußberufung allenfalls noch unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Unabhängigkeit

20 V. Wilmovski/Levy, CPO, 7. Aufl. 1895, § 272 (= § 300 Z P O ) Anm. 2: „über den der Entscheidung unterbreiteten Partei-Antrag", „über die gestellten Anträge". 21 MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher § 521 Rdn. 34. 22 Vgl. B A G N Z A 1995, 232; MünchKomm-ZPO /Rimmelspacher § 521 Rdn. 40 mit § 522 a Rdn. 4. 25 Ein weiterer Fall wäre der, daß der Anschlußberufungskläger versucht, einen Gegenstand zur Entscheidung des Berufungsgerichts zu stellen, der mit dem Gegenstand der Klage nicht in einem Verfahren verbunden werden kann. 24 So aber statt vieler B G H N J W 1994, 2235, 2236; Fenn N J W 1962, 1826 („... wird der unselbständigen Anschlußberufung der Boden entzogen"); jeweils m. w. Nachw. - Dagegen Stein/Jonas/Grunsky § 522 a Rdn. 23 (in bezug auf unzulässige Anschlußberufungen).

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der Teilentscheidung von der Entscheidung über die Hauptberufung in Zweifel zu ziehen25. Diese Unabhängigkeit wird dann verneint, wenn die Gefahr besteht, daß es im Teil- und im Schlußurteil zu einander inhaltlich widersprechenden Entscheidungen kommt26. Indes ist diese Gefahr in der Situation des § 522 Abs. 1 Z P O nicht gegeben. Das ist evident, wenn die Hauptberufung zurückgenommen wird, weil dann zu dieser eine Entscheidung schon gar nicht vorliegt. Aber auch bei Verwerfung der Hauptberufung bestünde kein inhaltlicher Widerspruch zwischen der Entscheidung über die Hauptberufung einerseits, über die Anschlußberufung andererseits, weil beide Erkenntnisse sich auf verschiedene Rechtsmittel und deren jeweilige Voraussetzungen beziehen. Verknüpft sind beide Entscheidungen nur insoweit miteinander, als - in noch zu klärendem Umfang - die Verwerfung der Hauptberufung die Rechtsfolge des § 522 Abs. 1 Z P O auslöst. 2. Die bisherigen Überlegungen haben also gezeigt, daß ein Teilurteil über eine Anschlußberufung, die an einem unheilbaren Mangel leidet, nicht schon mangels Entscheidungsreife unzulässig ist. Bei einer Anschlußberufung, die an einem heilbaren Mangel leidet, tritt Entscheidungsreife dagegen nicht vor Schluß der Berufungsverhandlung ein. Der Umstand, daß die Hauptberufung noch zurückgenommen oder verworfen werden kann, ist dagegen für die Frage der Entscheidungsreife bezüglich der Anschlußberufung ohne Bedeutung.

IV. 1. Damit ist freilich nicht gesagt, daß über eine unheilbar fehlerhafte Anschlußberufung ohne weiteres vorab oder auch nur (vom O L G ) zusammen mit der Hauptberufung entschieden werden darf. Eine solche Entscheidung könnte nämlich gegen § 522 Abs. 1 Z P O verstoßen. Man denke etwa an den Fall, daß bei gemeinsamer Entscheidung über Hauptund Anschlußberufung Revision nur gegen den ersten Teil eingelegt und das Urteil zur Anschlußberufung rechtskräftig wird; oder an den Fall, daß über eine Anschlußberufung vorab entschieden wird und dieses Erkenntnis Rechtskraft erlangt. Dann entsteht die Gefahr, daß die Abhängigkeit der Anschlußberufung von der Hauptberufung unterlaufen und die Rechtsfolge des § 522 Abs. 1 Z P O ausgeschaltet wird27.

" O b und inwieweit dieser Gesichtspunkt mit dem Erfordernis der Entscheidungsreife identisch ist, kann hier offen bleiben; dazu de Lousanoff, Zulässigkeit des Teilurteils, S. 37 ff, 85 ff, 116 ff; Prutting, ZZP 94 (1981), 103, 105 f. » R G Z 151,381,384; B G H Z 20, 311,312 f; Stein/Jonas/Leipold § 301 Rdn. 8. 27 So die Bedenken in R G Z 159,293,294 f.

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Immerhin könnte man versucht sein, die Verwerfung der Anschlußberufung durch das Berufungsgericht im Blick auf § 522 a Abs. 3 Z P O mit der Begründung zu rechtfertigen, der dort in Bezug genommene § 519 b Z P O sehe ja in seinem Abs. 1 ausdrücklich die Zulässigkeitsprüfung und Verwerfung bei Unzulässigkeit vor28; zumindest für diesen Fall enthalte daher § 522 a Z P O eine im Verhältnis zu § 522 Z P O speziellere und zudem jüngere Regelung, die derjenigen des § 522 Abs. 1 Z P O vorgehe. - Aber diese Auslegung ist nicht zwingend. Die Norm des § 522 a ZPO wurde durch die Novelle vom 22. Februar 192429 der ZPO eingefügt. Folgt man der halbamtlichen Begründung Volkmars™, dann sollten dadurch die Vorschriften über die Anschlußberufung mit dem neu eingeführten Berufungsbegründungszwang in Einklang gebracht werden. Davon, daß § 522 a Abs. 3 ZPO als lex specialis im Verhältnis zu § 522 Abs. 1 Z P O zu sehen sei, ist nicht die Rede. Man wird die Verweisung in § 522 a Abs. 3 ZPO auf § 519 b ZPO deshalb so zu verstehen haben, daß sie die Prüfung und Verwerfung der Anschlußberufung anordnet, wenn über diese - weil § 522 Abs. 1 ZPO nicht eingreift - zu entscheiden ist. 2. Behält damit § 522 Abs. 1 ZPO den Vorrang gegenüber §§ 522 a Abs. 3, 519 b Abs. 1 ZPO, so bleibt auch die beschriebene Gefahr virulent, daß eine Vorabentscheidung über die Anschlußberufung (oder eine gleichzeitige Entscheidung des O L G über Haupt- und Anschlußberufung) die Rechtsfolge des § 522 Abs. 1 ZPO aushebelt. Dieser Gefahr wäre nur dadurch zu begegnen, daß man den Bestand des Urteils zur Anschlußberufung an deren fortdauernde Wirksamkeit anknüpfte. Wie aber läßt sich eine solche Verknüpfung im Rahmen des § 522 Abs. 1 Z P O begründen? a) Bekannt ist der Z P O die Regel, daß der Fortbestand eines rechtskräftigen Urteils vom Inhalt einer nachfolgenden Entscheidung abhängt. Erinnert sei nur an die Schlußurteile gem. §§ 280 Abs. 2 S. 2, 302 Abs. 4, 304 Abs. 2 Halbs. 2, ZPO. Sie werden, selbst wenn sie die formelle Rechtskraft bereits erlangt haben, ohne weiteres wirkungslos, wenn das vorausgegangene Zwischenurteil aufgehoben und die Klage schon aus diesem Grund abgewiesen wird51. Aber diese Fälle sind mit den hier inDarauf verweist auch B G H Z 4, 229, 240. RGBl. I, S. 135. 30 J W 1924, 345, 353. 31 Vgl. zu § 280 ZPO MünchKomm-ZPO/Prutting § 280 Rdn. 10; Stein/Jonas/Leipold Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 280 Rdn. 28; zu § 302 Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 59 V 4 S. 320; Stein/Jonas/Leipold § 302 Rdn. 23; zu § 304 MünchKomm-ZPO/AteViW § 304 Rdn. 35; Stein/Jonas/Leipold § 304 Rdn. 55; jeweils m. w. N. - Zu § 600 Abs. 2 Z P O ist die Rechtslage umstritten, vgl. einerseits B G H N J W 1973, 467, 468, andererseits Stürner ZZP 87(1974), 87, 92 ff. 28

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teressierenden nicht vergleichbar, weil dort der Bestand des einen Urteils direkt mit dem Ergebnis des anderen Urteils verknüpft ist, während in § 522 Abs. 1 (zweiter Fall) Z P O das Urteil über die Hauptberufung nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die Anschlußberufung auf die Entscheidung über das Anschlußrechtsmittel einwirkt. Um diese Wirkung nachzuweisen, bedarf es jedoch keines Seitenblicks auf das Verhältnis von Schluß- und Zwischenurteil, weil sie sich aus § 522 Abs. 1 Z P O selbst ergibt. Die entscheidende Frage ist daher die, ob und wie eine wirkungslos werdende Verfahrenshandlung den Bestand des Urteils beeinflußt, das über sie entschieden hat. b) Eine diese Frage betreffende Regelung findet sich in § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. ZPO, der ein bereits ergangenes Urteil mit der Klagerücknahme wirkungslos werden läßt; allerdings endet diese Abhängigkeit mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils. Diese erst 194332 der Z P O inkorporierte und dann von der Novelle 195033 bestätigte Norm hat zugleich den Streit endgültig entschieden, der nach Inkrafttreten der Z P O über die Frage entbrannt war, bis zu welchem Zeitpunkt eine Klage zurückgenommen werden könne. Die engste Auffassung hatte dies nur bis zum Erlaß des Urteils zugestehen wollen mit der etatistischen Begründung, es stünde nicht in der Macht der Parteien, „ein Urtheil seiner Urtheilsnatur zu entkleiden", und mit dem prozeßökonomischen Argument, die Parteien sollten das Gericht nicht zu einer zweiten Entscheidung in derselben Sache zwingen können34. Im anderen Extrem wurde die Klagerücknahme selbst noch nach Eintritt der Rechtskraft gestattet35. Durchgesetzt hat sich die von Anfang an überwiegende Lehre36 mit der auch von der Rechtsprechung37 gebilligten und schließlich im Gesetz festgeschriebenen mittleren Lösung. Für sie hat man zum einen die Erwägung ins Feld geführt, daß die Rechtshängigkeit durch die Rechtskraft „absorbiert" 38 werde und ein bereits „vollständig beendetes" Verfahren nicht mehr durch Rücknahme beendet werden könne39. Indes erinnert diese Argumentation doch sehr an die „naturhistorische MeVierte VereinfachungsVO vom 12. 1. 1943, RGBl. I, S. 7. Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. 9. 1950, BGBl., S. 455. 34 Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis, 1888, S. 76; ähnlich Troll, Versäumnisurteil, 1887, S. 204: aus §§289, 498, 527 C P O (= §§ 318, 536, 564 ZPO) ergebe sich, daß nach Erlaß der Entscheidung eine Rücknahme des zugrundeliegenden Begehrens „nicht mehr möglich" sei. 35 So die Kommentare von Hellmann und Seuffert, zitiert nach Schultzenstein GruchB 27 (1883), 229, 234. 36 Schultzenstein GruchB 27, 235 ff m. w. N. 37 RG JW 1905, 537; 1911,51; RAG JW 1928, 27, 42; BayObLG SeuffA 50 Nr. 216. 3» Gaupp, ZPO, 3. Auflage 1897, § 243 Anm. II 1. 39 Schultzenstein GruchB 27, 236, 238. 32

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thode" einer extremen Begriffsjurisprudenz40 und überzeugt auch deshalb wenig, weil es dem Gesetzgeber der ZPO, wenn er überhaupt das Problem hätte regeln wollen41, freigestanden hätte, der „nachträglichen" Klagerücknahme ex-tunc-Wirkung beizumessen. Der andere Gesichtspunkt, mit dem die mittlere Lösung begründet wurde, setzte bei der vor dem Siegeszug der prozessualen Rechtskrafttheorien üblichen Erwägung an, daß das rechtskräftige Urteil die materielle Rechtslage neu ordne42. Deshalb verlagerte sich die Fragestellung von diesem Standpunkt aus nach dem Ende der Rechtshängigkeit auf die materiellrechtliche Ebene; es konnte sich nur noch um eine „Beseitigung des Urtheils" im Sinne einer „Disposition über die aus dem Urtheil hervorgehenden materiellen Rechte" handeln, aber nicht mehr um eine „Disposition über die Klage" selbst43. Wenngleich diese auf einem rein materiellrechtlichen Verständnis der Rechtskraft beruhende Argumentation als überholt anzusehen ist44, so kann man doch den in ihr steckenden Kern auch heute noch gelten lassen. Zu rechtfertigen ist die Regelung des § 269 Abs. 3 S. 1 2. Halbs. Z P O nämlich mit dem Gedanken, daß ein rechtskräftiges Urteil Rechtssicherheit schaffen und die einmal erreichte Rechtssicherheit nicht im nachhinein durch Parteiprozeßhandlungen wieder in Frage gestellt werden soll. So gesehen bietet die Norm aber keinen Ansatzpunkt, um den Bestand eines bereits rechtskräftigen Urteils in Frage zu stellen, wenn die der Entscheidung zugrundeliegende Parteiprozeßhandlung wirkungslos wird. c) Allerdings darf der Aspekt der Rechtssicherheit nicht überbewertet werden. Denn daß auch ein rechtskräftiges Urteil nicht sakrosankt ist, zeigt die apostrophierte Abhängigkeit der Schlußurteile von den Zwischenurteilen45. Ja selbst die Abhängigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung vom Fortbestand einer Prozeßhandlung, nämlich des Klageantrags, ist dem Verfahrensrecht nicht unbekannt. Hat die erste Instanz bei eigentlicher Eventualhäufung Haupt- und Hilfsantrag durch ein

Vgl. dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 434. Dazu Hahn, Materialien zur CPO, S. 263. 42 Statt vieler Kohler, Prozeß als Rechtsverhältnis, S. 74, 111 f; Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, 1905, S. 137 ff. 43 Schultzenstein GruchB 27, 238. 44 Vgl. etwa MünchKomm/Gottwald § 322 Rdn. 7 ff; Stein/Jonas/Leipold § 322 Rdn. 19 ff. 45 Vor dem Hintergrund der ehedem zulässigen bedingten Endurteile, durch die auf einen zugeschobenen oder richterlichen Eid erkannt wurde (§§ 460 Abs. 1, 477 Abs. 3 ZPO a. F.), hatte auch Schultzenstein GruchB 27, 236, 238 hervorgehoben, daß nur ein rechtskräftiges „unbedingtes" Endurteil den Prozeß beende und damit die Rücknahme der Klage ausschließe. 40 41

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Vollendurteil46 abgewiesen, ficht der Kläger aber nur die Abweisung des Hauptantrages an47, so ist bei begründeter Berufung dem Hauptantrag stattzugeben. Die Abweisung des Hilfsantrages entfällt dann ohne weiteres, weil dieser ja nur für den Fall der Erfolglosigkeit des Hauptantrages gestellt war. Lediglich zur Klarstellung ist daher die Entscheidung über den Hilfsantrag aufzuheben48. Ebenso verhält es sich, wenn die erste Instanz den Hauptantrag abgewiesen und dem Hilfsantrag stattgegeben, aber nur der Kläger die Abweisung angefochten hat. Hält das Berufungsgericht hier die Berufung für begründet, so ist dem Hauptantrag stattzugeben und klarstellend die Entscheidung über den Hilfsantrag aufzuheben49. Will das Berufungsgericht die Abweisung des Hauptantrages aufheben und zurückverweisen, so bleibt die Entscheidung über den Hilfsantrag zunächst unberührt; ihr Fortbestand hängt aber davon ab, ob dem Hauptantrag endgültig stattgegeben wird und damit kein Raum mehr für die Entscheidung über den Hilfsantrag bleibt. Gibt nach der Zurückverweisung die erste Instanz dem Hauptantrag statt, so hat es die frühere Entscheidung über den Hilfsantrag im Wege der Klarstellung aufzuheben50. In allen diesen Fällen wird der Bestand der Entscheidung über den Hilfsantrag im Sinne einer auflösenden Bedingung von dessen fortbestehender Wirksamkeit abhängig gemacht und diese wiederum von der Entscheidung über die Berufung zum Hauptantrag, wobei die positive Entscheidung über den Hauptantrag als auflösende Bedingung für den Hilfsantrag betrachtet wird. Die Unsicherheit, die mit dieser doppelten auflösenden Bedingung verknüpft ist, ist erträglich, weil es sich um eine sogenannte innerprozessuale Bedingung handelt. Das gilt auch im Verhältnis zwischen dem Verfahren über den Hauptantrag und dem über den Hilfsantrag, die ja über die Bedingtheit des Hilfsantrags zulässigerweise miteinander verknüpft sind. Die Rechtslage wird zwar verbreitet so dargestellt, als ergehe die Entscheidung über den Hilfsanspruch unter der auflösenden Bedingung, daß dem Hauptantrag stattgegeben werde51. Diese Formulierung ver-

O b auch ein Teilurteil zunächst nur über den Hauptantrag zulässig gewesen wäre, ist daher unerheblich. Selbst de Lousanoff, der dies bestreitet (Zulässigkeit des Teilurteils, S. 131 ff; insoweit zust. Prutting ZZP 94,105), muß S. 134 Fn. 74 einräumen, daß auch von seinem Standpunkt aus die hier besprochene Konstellation nicht auszuschließen ist. " Bisweilen wird der Kläger dann seine Berufung nachträglich noch erweitern können; aber dies trifft nicht in allen Fällen zu. w lAünchKomm/Rimmelspacher § 536 Rdn. 25. " Brox, Festschrift Heymann Verlag, 1965, S. 121, 136; Stein/Jonas/Grunsky § 537 Rdn. 9; in der Sache ebenso Merle ZZP 83 (1970), 436, 456. 50 B G H Z 106,219,221. 51 So etwa Bähr J R 1971, 332, 333; Kion, Eventualverhältnisse im Zivilprozeß, 1971, S. 167 f; Merle ZZP 83,456 nach Fn. 97 a, zutr. jedoch vor Fn. 97.

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kürzt die Verknüpfungskette jedoch zu Unrecht um das Zwischenglied des Hilfsantrags. Das wird deutlich, wenn man nach der Legitimation fragt, kraft deren das Erkenntnis über den Hilfsantrag unter die auflösende Bedingung eines positiven Urteils über den Hauptantrag gestellt wird. Die Entscheidungsbefugnis des Gerichts als solche reicht hierfür nicht aus. Vielmehr findet die Bedingtheit der Entscheidung über den Hilfsantrag seine Rechtfertigung in der Bedingtheit des Hilfsantrags selbst, also darin, daß man Anträge, die für den Fall rechtskräftiger Zuerkennung des Hauptantrags auflösend bedingt gestellt sind, überhaupt gestattet und eine Entscheidung über sie zuläßt, noch ehe über den Hauptantrag rechtskräftig geurteilt ist. Macht man den so bedingten Hilfsantrag gem. § 308 Abs. 1 Z P O zur Grundlage der gerichtlichen Entscheidung, dann ist es nur konsequent, auch den Bestand eben dieser Entscheidung vom Ausfall oder Eintritt der Bedingung beim Hilfsantrag abhängig zu machen. N u r so wird man der Bedeutung, die dem Hilfsantrag im Rahmen des § 308 Abs. 1 Z P O zunächst zuerkannt wird, auch im weiteren Verlauf des Verfahrens gerecht. Mit der Problematik bei Haupt- und Hilfsantrag ist nun aber unsere Situation bei Haupt- und Anschlußberufung weitgehend vergleichbar. Wie dort geht es auch hier um die Abhängigkeit eines Urteils über einen Antrag (Hilfsantrag/Anschlußberufung), der seinerseits vom Ausgang einer Entscheidung über einen anderen Gegenstand (Hauptantrag/ Hauptberufung) abhängig ist. Wie der Hilfsantrag kann auch die unselbständige Anschlußberufung als auflösend bedingt eingelegt betrachtet werden, wobei auflösende Bedingung die Rücknahme der Hauptberufung oder deren Verwerfung ist. Anders als bei der Eventualhäufung wird die Bedingung jedoch nicht durch eine Partei, sondern durch § 522 Abs. 1 Z P O gesetzt. Man mag daher von einer Rechtsbedingung sprechen. Hat der Berufungsbeklagte, was mit § 522 Abs. 1 Z P O als bloßer Auslegungsregel ohne weiteres zu vereinbaren ist, seine Anschließung als von der Hauptberufüng abhängig deklariert 52 , obwohl er sie innerhalb der für ihn laufenden Berufungsfrist eingelegt hat, so haben wir sogar eine vollkommene Parallele zwischen Eventualhäufung und Anschließung, weil nunmehr auch die letztere kraft Parteierklärung auflösend bedingt ist. Erst recht gilt dies, wenn der Berufungsbeklagte die Form der Eventualanschließung" wählt. Entscheidend ist allemal, in § 522 Abs. 1 Z P O eine Regelung zu erkennen, die die fortdauernde Wirksamkeit der Entscheidung über die Anschlußberufung davon ab52 Dazu Fenn, Die Anschlußbeschwerde im Zivilprozeß und im Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, 1961, S. 134 ff; MünchKomm/Rimmelspacher § 522 Rdn. 8. 53 Zu deren Zulässigkeit B G H NJW 1984, 1240, 1241; Stein/Jonas/Grunsky §521 Rdn. 14 m. w. Nachw.

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hängig macht, daß die sie auslösende Prozeßhandlung - die Einlegung der Anschlußberufung - nicht ihrerseits nachträglich wirkungslos wird. 3. Als weiteres Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, daß auch § 522 Abs. 1 Z P O weder einer Vorabentscheidung über die unselbständige Anschlußberufung noch einer gleichzeitigen Entscheidung über Hauptund Anschlußberufung entgegensteht. Dabei wird die Abhängigkeit der Anschlußberufung von der Hauptberufung dadurch gewahrt, daß die Entscheidung über die Anschlußberufung auflösend bedingt ist durch das Wirkungsloswerden der Anschlußberufung, das sich seinerseits aus (nachträglicher) Rücknahme oder Verwertung der Hauptberufung ergeben kann. V. 1. Allerdings greift diese Wirkungsverknüpfung nur im Grundsatz Platz. Ihre Tragweite im einzelnen bedarf genauerer Prüfung. Denn nicht in allen Fällen der Rücknahme oder Verwerfung der Hauptberufung wird eine bereits getroffene Entscheidung über die Anschlußberufung völlig gegenstandslos oder eine künftige Entscheidung gänzlich überflüssig. Das zeigt sich schon, wenn der Anschlußberufungskläger die Anschließung trotz Wirkungslosigkeit weiter verfolgt. Sie muß dann eigens verworfen werden 54 . Auch im Hinblick auf die Frage, wer die K o sten der Anschlußberufung zu tragen hat, ist deren nähere Prüfung nicht zu vermeiden. Nach der Rechtsprechung des B G H trägt nämlich der Berufungsbeklagte die Kosten der Anschlußberufung, wenn die Hauptberufung bereits vor der Anschließung unzulässig (geworden) war 55 oder mit der notwendigen Zustimmung des Berufungsbeklagten zurückgenommen wird 56 . Von besonderem Interesse ist, daß die Kosten der Anschließung dem Berufungsbeklagten auch dann aufgebürdet werden, wenn die Anschließung selbst von vornherein unzulässig war 57 . a) Damit sind die Grenzen der Verantwortlichkeit zwischen den Parteien zutreffend gezogen. Die grundsätzliche Belastung des Berufungsklägers mit den Kosten einer wirkungslosen Anschließung rechtfertigt sich nämlich daraus, daß er mit der Einlegung seines Rechtsmittels die

B G H Z 100, 383,390. B G H Z 4,229, 240 f. * B G H Z 4, 229, 241 ff. 57 B G H Z 4, 229, 240 (Grundsatz); B G H Z 17, 398, 399 (Anschließung nach Rücknahme des Hauptrechtsmittels); B G H Z 86, 51, 52 ff (Unzulässigkeit der unselbständigen Anschlußbeschwerde im Versorgungsausgleichsverfahren); O L G Köln VersR 1977, 62 (Unzulässigkeit der Anschließung gegen einen Dritten). 54

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unselbständige Anschlußberufung veranlaßt58, aber mit der Rücknahme seines Begehrens oder mit der Mißachtung prozeßrechtlicher Anforderungen, die zur Verwerfung der Berufung führt, zugleich eine Entscheidung über die Anschließung verhindert hat. Diese Veranlassung kann jedoch nicht als Freibrief für den Rechtsmittelbeklagten mißverstanden werden und ihn von jeglicher Verantwortung für die Einhaltung der Anschließungsvoraussetzungen (§§ 521, 522 a ZPO) entbinden. Dazu gehört insbesondere die Beachtung der Regeln über den zulässigen Anschließungsgegenstand, den richtigen Anschließungsgegner und den geeigneten Anschließungszeitraum. Soweit die Kosten der Anschließung bei Beachtung ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen vermieden worden wären, fallen sie auch bei Unzulässigkeit der Hauptberufung oder deren Rücknahme (selbst bei Einwilligung des Rechtsmittelgegners) nicht in den Verantwortungsbereich des Berufungsklägers 59 und können daher nicht ihm, sondern müssen dem Berufungsbeklagten auferlegt werden. Deshalb hat das Berufungsgericht auch und gerade im Fall der Wirkungslosigkeit der Anschlußberufung deren Zulässigkeit zu prüfen. Zwar ist dies dann „nur" eine Vorfrage der Kostenentscheidung. Aber die Zulässigkeit ist deshalb hier nicht etwa mit minderer Eindringlichkeit als sonst zu klären60. Ist die Klärung schon in einer Vorabentscheidung erfolgt, die die Anschlußberufung (unter Vorbehalt der Kostenentscheidung) als unzulässig verworfen hat, so führt die Wirkungslosigkeit der Anschließung nur zum Wegfall der Verwerfungsfolge. Die Feststellung der Unzulässigkeit der Anschlußberufung wird hiervon jedoch nicht berührt und bildet die Grundlage für die Kostenentscheidung zu Lasten des Berufungsbeklagten. Es wäre ja auch widersinnig, die bereits getroffene Feststellung zur Unzulässigkeit der Anschließung entfallen zu lassen, um sie sogleich erneut zu treffen. Insofern werden also die Auswirkungen der Rücknahme oder Verwerfung der Hauptberufung auf die Anschlußberufung beschränkt. Damit läßt sich auch die „Springprozession" vermeiden, zu der die Gegenauffassung führt, indem sie zur Aufhebung einer Entscheidung zwingt, obwohl deren sachlicher Kern als zutreffend anerkannt wird und die eben darum zumindest in diesem Kernumfang wiederholt werden muß. b) Für eine vergleichbare Restriktion besteht jedoch kein Anlaß im Hinblick auf eine Vorabentscheidung über die Begründetheit der An58 Zum Veranlassungsprinzip als Haftungsgrund des prozeßrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs Becker-Eberhard, Grundlagen der Kostenerstattung bei der Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche, 1985, S. 19 ff. 59 Das beachtet Maurer N J W 1991, 72, 76 zu wenig. 60 A. A. Maurer NJW 1991, 72 ff (auf Grund seines Vorschlags, § 91 a ZPO entsprechend anzuwenden).

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Schlußberufung. Diese Frage ist, wenn die Anschließung wirkungslos wird, unerheblich. Das Berufungsgericht hat deshalb unter prozeßpraktischen Gesichtspunkten zu erwägen, ob es einen Entscheidungsaufwand betreiben soll, der sich im Nachhinein als überflüssig erweisen kann. Prozeßrechtlich wäre aber auch insoweit gegen eine Vorabentscheidung nichts einzuwenden. 2. Danach bestehen gegen eine Verwerfung der unheilbar unzulässigen, unselbständigen Anschlußberufung durch ein Teilurteil der zweiten Instanz jedenfalls dann in keinerlei Hinsicht Bedenken, wenn diese Entscheidung die Unzulässigkeit der Anschließung endgültig klärt. Das ist bei Erkenntnissen der Landgerichte als Berufungsinstanz der Fall. Dagegen kann eine entsprechende Entscheidung des O L G immer mit Revision (§547 ZPO) oder sofortiger Beschwerde (§§519b Abs. 2 2. Halbs., 522 a Abs. 3, 547 ZPO) angefochten werden. Da in dem Zeitpunkt, in dem die Anschließung vom O L G verworfen wird, das Schicksal der Hauptberufung noch offen ist, wird der Berufungsbeklagte geneigt sein, das zur Verfügung stehende Rechtsmittel zu ergreifen, um sich die Möglichkeit einer Sachentscheidung über seine Anschließung wieder zu erstreiten. Das könnte unter prozeßwirtschaftlichen Gesichtspunkten dann von Bedeutung sein, wenn bei Verzicht auf eine Vorabentscheidung die Ausdehnung des Rechtsstreits in die dritte Instanz zu verhindern wäre. Indes trifft dies nicht zu; denn der Rechtsmittelweg zum B G H steht dem Berufungsbeklagten auch offen, wenn das O L G nicht vorab über die Zulässigkeit der Anschlußberufung befindet, sondern diese Entscheidung erst im Zusammenhang mit der Feststellung trifft, die Anschlußberufung sei in direkter oder entsprechender Anwendung des § 522 Abs. 1 ZPO wirkungslos geworden. Auch ein solches Erkenntnis ist nämlich in jedem Fall anfechtbar61. Ist danach aber ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des O L G zur Unzulässigkeit der Anschlußberufung nicht auszuschließen62, so kann die „Gefahr" der Ausdehnung des Verfahrens bei der Frage, ob Bedenken gegen eine Vorabentscheidung des O L G bestehen, nicht einmal unter prozeßpraktischen Gesichtspunkten eine Rolle spielen und die prozeßrechtlich ohnehin zulässige Vorabverwerfung der Anschlußberufung bei unheilbaren Zulässigkeitsmängeln daher auch nicht als untunlich erscheinen lassen. " Ebenso bei entsprechender Anwendung des § 522 Abs. 1 Z P O B G H NJW 1986, 852; a. A. aber bei direkter Anwendung der N o r m B G H FamRZ 1981, 657, 658; B G H Z 109, 41, 46. - Gegen diese Differenzierung MünchKomm/Rimmelspacher § 522 a Rdn. 21; Stein/Jonas/Grunsky 522 a Rdn. 25. 62 Das gilt selbst dann, wenn man der differenzierenden Lösung des B G H (vgl. vorige Fn.) folgt.

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Bruno Rimmelspacher VI.

1. Damit zeigt sich insgesamt, daß ein Teilurteil über eine Anschlußberufung, die an einem unheilbaren Mangel leidet, nicht gegen §§ 301 Abs. 1, 522 Abs. 1 Z P O verstößt. Handelt es sich dabei um einen verfahrensrechtlichen Mangel, weil der Anschlußberufung eine Zulässigkeitsvoraussetzung fehlt, so bleibt die Feststellung, die Anschlußberufung sei unzulässig, auch in den Fällen des § 522 Abs. 1 Z P O als Grundlage für die Belastung des Berufungsbeklagten mit den Kosten seiner Anschließung aufrechterhalten. Die Vorabentscheidung über die unzulässige Anschlußberufung ist daher weder unter prozeßrechtlichem noch unter prozeßpraktischem Aspekt zu kritisieren. Liegt dagegen ein Mangel vor, der zur Unbegründetheit der Anschließung führt, so ist deren Zurückweisung in einem Teilurteil zwar gleichfalls prozeßrechtlich nicht unzulässig, aber nicht zu empfehlen, wenn und weil die Gefahr besteht, daß sie mit dem Wirkungsloswerden der Hauptberufung völlig gegenstandslos wird. 2. Formal gesehen bestätigt sich damit die eingangs zitierte These des B G H , daß es inkonsequent sei, eine unheilbar unzulässige Anschlußberufung anders zu behandeln als eine offensichtlich unbegründete Anschließung. Allerdings gilt das nur für die prozeßrechtliche, nicht für die prozeßpraktische Perspektive, und es gilt überdies in einem der Entscheidung des X I . Zivilsenats genau entgegengesetzten Sinn. Konkret bedeutet das im Ausgangsfall, daß die Beschwerde gegen den Beschluß des O L G , mit dem die unselbständige Anschlußberufung der Beklagten vorab verworfen wurde, zwar zulässig, jedoch nicht begründet war. Das Bestreben des O L G , der Ausweitung des Verfahrens in zweiter Instanz entgegen zu treten, war also prozeßrechtlich durchaus korrekt und prozeßwirtschaftlich beifallswert. Selbst wenn durch eine nachträgliche Rücknahme der Berufung die Anschließung ihre Wirkung verloren hätte, wäre die Feststellung ihrer Unzulässigkeit im Hinblick auf die Kostenentscheidung bestehen geblieben.

Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Berufungsinstanz in Patentnichtigkeitsverfahren ein alter Zopf? RÜDIGER ROGGE

I. Problemstellung Der Bundesgerichtshof ist nach den Bestimmungen der §§ 133, 135 GVG vor allem für die Entscheidung über Revisionen in Straf- und Zivilsachen zuständig. Daneben gibt es aber auch noch einige aus diesem Rahmen herausfallende Sonderzuständigkeiten. Dazu ist allgemein auf die in den genannten Vorschriften bereits erfaßten Beschwerdeverfahren zu verweisen. Besonders hervorzuheben sind die Zuständigkeiten im Zusammenhang mit der Tätigkeit eines beim B G H bestellten Ermittlungsrichters in Staatsschutzsachen nach § 120 GVG, § 169 StPO, die in § 95 GWB im einzelnen aufgeführten Kartellsachen, die Zuständigkeit in Anwalts-, Patentanwalts-, Notar-, Steuerberater- und Wirtschaftsprüfersachen nach Maßgabe der einschlägigen Berufsordnungen, die Zuständigkeit nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Landwirtschaftssachen und die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 ZPO, soweit die in Betracht kommenden Gerichte in verschiedenen OLG-Bezirken liegen und (in Bayern) auch nicht dem gleichen obersten Landesgericht untergeordnet sind. Außerdem kann der B G H unter bestimmten Voraussetzungen in Patent-, Warenzeichen- und Geschmacksmustersachen mit der Rechtsbeschwerde gegen Entscheidungen des Bundespatentgerichts angerufen werden (§§ 100 ff PatG, §§ 83 ff MarkenG, § 10 a Abs. 2 GeschmMG). Völlig außerhalb des sonstigen Aufgabenkreises liegt es und ist auch weitgehend unbekannt, daß der Bundesgerichtshof nach § 110 PatG ohne jede weitere sachliche Einschränkung als Berufungsgericht gegen Urteile des Bundespatentgerichts angerufen werden kann, in denen gemäß den §§ 22, 81 ff PatG über die Nichtigerklärung eines erteilten Patents entschieden wird. Dabei geht es im wesentlichen um die Frage, ob eine bestimmte Erfindung ihrer Art nach und in Würdigung ihres Abstands zum vorbekannten Stand der Technik patentfähig ist. Reine Rechtsfragen haben dabei meist nur untergeordnete Bedeutung. Die Zahl dieser Berufungsverfahren (durchschnittlich etwas mehr als 30 im Jahr) scheint im Verhältnis zu den sonstigen Eingangszahlen des B G H fast vernachlässigenswert gering. Das Gewicht dieser Sachen ist

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jedoch sowohl nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung (mit mindestens 6-stelligen Streitwerten) als auch nach ihrer vor allem im tatsächlichen Bereich liegenden Schwierigkeitsgrad beträchtlich. Die entscheidenden Richter müssen sich jeweils intensiv in eine neuere Technologie aus unterschiedlichsten Anwendungsbereichen einarbeiten. Die Durchführung der meist ganztägigen mündlichen Verhandlung unter Hinzuziehung eines hochqualifizierten Sachverständigen ist außerordentlich strapaziös und erfordert eine derart aufwendige Vorbereitung für alle Beteiligten, daß ein ganzer Senat (bei derzeit insgesamt 5 Straf- und 12 Zivilsenaten) den größeren Teil seiner Arbeitskraft für die Erledigung dieser Verfahren einsetzen muß und unter Einbeziehung der Rechtsbeschwerden und Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundespatentgerichts (§§ 100, 122 PatG) und der Revisionen in Patentverletzungsstreitigkeiten bereits hinreichend ausgelastet wäre. Zum besseren Verständnis ist darauf hinzuweisen, daß bei den ausschließlich mit Patentnichtigkeitssachen befaßten erstinstanzlichen Nichtigkeitssenaten des Bundespatentgerichts auch nur ein durchschnittliches Jahrepensum von jeweils ca. 45 Verfahren bewältigt werden kann, daß der durchschnittliche Schwierigkeitsgrad in der 2, Instanz höher liegt, und daß der B G H - anders als das Bundespatentgericht - nicht zu einem wesentlichen Teil mit technisch vorgebildeten Richtern besetzt ist. Wenn dem zuständigen Senat beim B G H gleichwohl über den Bereich des Patentrechts hinaus noch weitere Aufgaben zugewiesen sind, so ist dies vor allem auf die allgemeine Uberlastung des gesamten B G H zurückzuführen. Die Zuständigkeit des B G H für die Entscheidung über Berufungen in Patentnichtigkeitsverfahren ist im wesentlichen historisch begründet. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, daß die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung großen Einfluß auf die Entwicklung des Patentrechts nehmen konnte. Im Hinblick auf die immer dramatischer werdende Überlastung des B G H insgesamt und verschiedene neuere Entwicklungen im Bereich des Patentrechts ist jedoch die Frage angebracht, ob es gerechtfertigt ist, die bestehende Zuständigkeitsregelung auch für die weitere Zukunft aufrechtzuerhalten. II. Die Anfänge der Patentrechtsprechung 1. Die Zuständigkeit des obersten deutschen Gerichts für Zivilsachen als Berufungsgericht im Patentnichtigkeitsverfahren geht bis in die Anfänge des deutschen Patentrechts zurück. In der zur Vorbereitung des ersten (reichseinheitlichen) deutschen Patentgesetzes eingesetzten Sachverständigen-Kommission bestand im wesentlichen Einvernehmen darüber, daß die Entscheidung über die spätere Nichtigerklärung eines den materiellen gesetzlichen Voraussetzungen nicht entsprechenden Patents

Zuständigkeit des BGH im Patentnichtigkeitsverfahren

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einem zunächst als Patenthof bezeichneten Spezialgericht übertragen werden sollte, gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel an das höchste Reichsgericht stattfinden sollte.1 Das wurde in den dann von der Reichsregierung vorgelegten Gesetzentwurf mit der Maßgabe übernommen, daß die Zuständigkeit für Nichtigkeitsverfahren in der ersten Instanz einer besonderen Abteilung des im übrigen auch für die Patenterteilung zuständigen Patenthofs und in der zweiten Instanz dem Reichsoberhandelsgericht (als Vorläufer des späteren Reichsgerichts und des jetzigen Bundesgerichtshofs) übertragen werden sollte. In der Begründung wurde hervorgehoben, daß das (erstinstanzliche) Verfahren wegen der Bedeutung der betroffenen Vermögensrechte strenger als das Patenterteilungsverfahren geregelt sei, und daß für die zweite Instanz derjenige Gerichtshof ausgewählt sei, der den Beteiligten die meiste Gewähr für eine dem Gesetz entsprechende Entscheidung biete.2 Wortwahl, Verfahrensregelung, Instanzenzug und Begründung lassen deutlich erkennen, daß man auch die erstinstanzlich zuständige Abteilung des Patenthofs (Patentamts) als ein Gericht (besonderer Art) ansah. Die zweitinstanzliche Zuweisung an das oberste Gericht bringt zum Ausdruck, daß man der Regelung des Patentwesens und der damit zu fördernden technischen Entwicklung eine besonders herausragende Bedeutung beimaß. Der Gedanke, die zweitinstanzliche Zuständigkeit einem Landgericht oder Oberlandesgericht zuzuweisen, ist offenbar nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden. Das hätte die Kontrolle einer Reichsbehörde durch ein Landesgericht bedeutet und wurde damals wohl noch für unzumutbar gehalten.3 In dieser Form wurde der Instanzenzug dann im reichseinheitlichen ersten deutschen Patentgesetz vom 25. 5. 1877 geregelt, wobei der Name „Patenthof" in „Patentamt" geändert wurde. Mehrere verfahrensrechtliche Änderungen führten in der Folgezeit u. a. dazu, daß die innerhalb des Patentamts für die Entscheidung von Beschwerde- und Nichtigkeitsverfahren gebildeten Abteilungen als Beschwerdesenate und Nichtigkeitssenate bezeichnet wurden. Damit wurden Selbständigkeit und gerichtsähnlicher Charakter dieser Spruchkörper stärker betont. Die Zuständigkeit des obersten deutschen Gerichts in Zivilsachen (Reichs-Oberhandelsgericht, Reichsgericht, Bundesgerichtshof) als Berufungsinstanz im Patentnichtigkeitsverfahren blieb auch in allen weiteren Neufassungen des Patentgesetzes unverändert bestehen.

1 Vgl. Abdruck der Ausschußprotokolle in Archiv für Theorie und Praxis des Allgemeinen Deutschen Handels- und Wechselrechts, Bd. 35 (1877), 169 ff, 171. 1 Bundesratsdrucksache 1877, Nr. 14, §§ 28, 29 und S. 34 der dem Entwurf beigefügten Motive. ' Liedel, Das deutsche Patentnichtigkeitsverfahren, 1979, S. 279.

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2. Die Zuständigkeit des obersten Gerichts als Berufungsinstanz in Patentnichtigkeitsverfahren nötigte die Mitglieder des zuständigen Senats zu einer intensiven tatrichterlichen Auseinandersetzung mit den Problemen technischer Neuentwicklungen. Das förderte sicherlich auch die Fähigkeit, für die auftauchenden Rechtsfragen sowohl im Bereich der Schutzfähigkeit einer Erfindung wie auch bei der Verfolgung von Patentverletzungen durch unbefugte Nachahmung sachgerechte Lösungen zu finden und eine der Rechtssicherheit dienende Systematik zu entwickeln. Es fanden sich besonders engagierte Richter-Persönlichkeiten, die sich eine Fortentwicklung des Patentrechts zur Lebensaufgabe machten. Dies alles hat dazu beigetragen, daß das deutsche Patentwesen auch international ein hervorragendes Ansehen gewonnen hat, das seinen Niederschlag in vielen ausländischen Entscheidungen und Veröffentlichungen und letztlich auch darin gefunden hat, daß das europäische Patentamt seinen Sitz in München bekommen hat. Der durch die Zuständigkeit in der Berufungsinstanz des Patentnichtigkeitsverfahrens verstärkte Einfluß des B G H (wie auch des früheren R G ) auf die Rechtsentwicklung in Patentsachen ändert aber nichts daran, daß es sich hier um eine für ein höchstes Gericht völlig untypische Tätigkeit handelt. III. Die Errichtung des Bundespatentgerichts Grundlegende Veränderungen der Zuständigkeiten in Patentsachen ergaben sich mit Wirkung ab 1.7. 1961 in Verbindung mit der Errichtung des Bundespatentgerichts. 4 Auslöser war ein belangloser Kostenstreit. Die spätere Klägerin hatte in einem vor dem Patentamt geführten Verfahren auf Löschung eines Gebrauchsmusters obsiegt. Mit ihrem anschließenden Antrag auf Festsetzung erstattungsfähiger Kosten hatte sie in den beiden Instanzen des Patentamts nur teilweise Erfolg. Nach ihrer Ansicht wurden 445,12 D M zu wenig festgesetzt. Damit wollte sie sich nicht zufrieden geben; ein weiteres Rechtsmittel war im Patentgesetz nicht vorgesehen. Sie erhob nunmehr Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht unter Berufung auf Art. 19 IV G G mit der Begründung, die abschlägige Entscheidung des Beschwerdesenats des Patentamts sei nicht als gerichtliche Entscheidung sondern lediglich als Verwaltungsakt anzusehen, gegen den der Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten eröffnet sein müsse. Die Zulässigkeit dieser Klage wurde von den Verwaltungsgerichten bejaht. Das Bundesverwaltungsgericht 5 folgte der Meinung der Klägerin, daß das Patentamt nach dem Schwergewicht seiner Tätigkeit als Verwaltungsbehörde anzusehen sei, ungeachtet des 4 5

6. Überleitungsgesetz v. 23. 3. 1961 (BGBl. I, S. 274). Urt. v. 13. 6. 1959 (BVerwGE 8, 350 = NJW 1959,1507 = G R U R 1959, 435).

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Umstandes, daß das Verfahren vor dem Patentamt in mancher Hinsicht justizförmig ausgestaltet und seinen Mitgliedern äußere Zeichen richterlicher Unabhängigkeit verliehen seien; wegen fehlender organisatorischer Selbständigkeit innerhalb des Amts sei es auch nicht möglich, etwa die Beschwerdesenate isoliert zu betrachten und ihre Entscheidungen als Gerichtsentscheidungen anzuerkennen. Die durch diese Entscheidung begründete Aussicht, daß sich nunmehr in allen vom Patentamt zu entscheidenden Angelegenheiten ( - die Patentnichtigkeitsverfahren wegen Zuweisung an den BGH ausgenommen - ) an ein zwei-instanzliches Amtsverfahren noch ein drei-instanzliches Verwaltungsgerichtsverfahren anschließen könnte, war erschreckend. Die offenbar gewordene Lücke im Rechtsschutzsystem mußte so schnell wie möglich geschlossen werden. Zunächst wurde mit Einführung des heutigen Art. 96 Abs. 1 GG die Voraussetzung für die Errichtung eines besonderen Bundesgerichts für den gewerblichen Rechtsschutz geschaffen. Durch Gesetz v. 23. 3. 19616 wurden dann die Beschwerde- und Nichtigkeitssenate organisatorisch aus dem Patentamt herausgelöst und als selbständiges Gericht unter der Bezeichnung Bundespatentgericht neu konstituiert. Der für die Entscheidung von Divergenzen zwischen den Beschwerdesenaten beim Patentamt eingerichtete Große Senat wurde bei dieser Gelegenheit gestrichen. Stattdessen wurde die Möglichkeit einer Rechtsbeschwerde an den Bundesgerichtshof gegen Beschlüsse der Beschwerdesenate des Patentgerichts unter den heute in § 100 PatG geregelten Voraussetzungen eingeführt. Erst hierdurch wurde es ermöglicht, daß der Bundesgerichtshof schon im Patenterteilungsverfahren und nicht erst viele Jahre später in einem etwaigen Nichtigkeitsverfahren zu strittigen grundsätzlichen Fragen der Patentfähigkeit Stellung nehmen konnte. Eine Herauslösung auch der Nichtigkeitssenate aus dem Patentamt wäre bei diesere Gelegenheit nicht unbedingt notwendig gewesen, da insoweit ohnehin mit der Berufung an den BGH ein besonderes Rechtsmittel gegeben war. Die organisatorische Umstellung bot sich jedoch an, da die Nichtigkeitssenate in gleicher Weise wie die Beschwerdesenate als zumindest gerichtsähnliche Instanzen gedacht waren und angesehen wurden. Es hätte vielleicht nahegelegen, die Entscheidung über Nichtigkeitsklagen nunmehr in erster Instanz wie bisher dem Patentamt und in zweiter Instanz (unter Entlastung des Bundesgerichtshofs) dem neuen Bundespatentgericht zu übertragen. Das ist jedoch nicht geschehen. Die dem Gesetzgeber aufgezwungene Reform des Beschwerdeverfahrens war so eilbedürftig, daß man für die Prüfung sonstiger Reformen keine Zeit hatte. ' S. o. - Fn. 4.

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IV. Europa-Patent und Harmonisierung Im Zusammenhang mit der Erteilung europäischer Patente und fortgeschrittener Harmonisierung der nationalen europäischen Patentsysteme haben Aufgabe und Stellung des BGH (und auch des Bundespatentgerichts) im Rahmen des Patent-Rechtsschutzes eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. 1. Seit nunmehr 15 Jahren gibt es neben den vom deutschen Patentamt (in München) erteilten nationalen deutschen Patenten auch europäische Patente, die nach Maßgabe des Europäischen Patentübereinkommens (EPU) 7 von dem ebenfalls in München angesiedelten Europäischen Patentamt u. a. mit Wirkung für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden können. Mit den im Rahmen des europäischen Patenterteilungs- und Einspruchsverfahrens möglichen Rechtsmitteln haben die deutschen Gerichte allerdings unmittelbar nichts zu tun; insoweit liegt die Entscheidungskompetenz ausschließlich bei den innerhalb des Europäischen Patentamts gebildeten Beschwerdekammern, welche in einem gerichtsförmigen Verfahren Kontrollfunktionen wahrnehmen, aber ähnlich wie die früheren Beschwerdesenate und Nichtigkeitssenate des Deutschen Patentamts (s. o. zu III.) nur als gerichtsähnliche Spruchkörper angesehen werden können. 8 Nach der rechtskräftigen Erteilung fallen die europäischen Patente unter die Vorschriften und Zuständigkeiten der jeweils betroffenen einzelnen Länder (Art. 2, 3 EPU). Sie können insbesondere unter den Voraussetzungen des Art. 138 EPU vor den zuständigen nationalen Instanzen nach Maßgabe des nationalen Rechts für den jeweiligen nationalen Geltungsbereich mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Nach Art. I § 6 IntPatÜG 9 gilt insoweit letztlich nichts anderes als für nationale deutsche Patente. Zuständig sind in Deutschland wiederum das Bundespatentgericht und in 2. Instanz der Bundesgerichtshof. 2. Im Zuge einer allgemein angestrebten und im Bereich des Patentrechts besonders weit gediehenen europäischen (und noch darüber hinaus gehenden) Rechtsvereinheitlichung ist es in Erfüllung des Straßbur-

BGBl. 1976 II S. 826. Obwohl die strengen Maßstäbe des deutschen Grundgesetzes hier nicht gelten können, muß doch angestrebt werden, den Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts durch weitergehende organisatorische Verselbständigung eine auch äußerlich sichtbare Unabhängigkeit und damit die unbezweifelbare Stellung eines Gerichts zu verschaffen. Entsprechende Überlegungen in dieser Richtung werden inzwischen innerhalb des EPA angestellt. ' Gesetz über internationale Patentübereinkommen v. 21. 6. 1976 - BGBl. II S. 649. 7 8

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ger Übereinkommens von 196310 sowie in Anlehnung an die Bestimmungen des E P U " und des in den meisten Staaten der Europäischen Union ratifizierten, aber noch nicht in Kraft getretenen GPU 1 2 dahin gekommen, daß die Bestimmungen der nationalen Patentgesetze und der europäischen Patentübereinkommen in ihren wesentlichen Bestimmungen weitgehend übereinstimmen. 3. Die von den gesetzgebenden Körperschaften durchgesetzte Harmonisierung der patentrechtlichen Bestimmungen bliebe Stückwerk, wenn sie nicht auch eine übereinstimmende Auslegung durch die nationalen Patentbehörden und Gerichte zur Folge hätte. Eine andere Entwicklung würde dem Sinn der Harmonisierung widersprechen. Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen des Patentrechts dürfen daher nicht mehr nur aus der jeweiligen nationalen Rechtstradition heraus ausgelegt werden. Sie sind zugleich als Teil eines internationalen Rechtssystems und gemeinsamer Nenner der Rechtsvorstellungen aller an dem europäischen Rechtssystem beteiligten Staaten zu begreifen. Es muß daher die einschlägige Rechtsprechung der Gerichte anderer Staaten berücksichtigt, ein Konsens gesucht und in Zweifelsfällen eine solche Auslegung gefunden werden, die auch für die Rechtsvorstellungen und -systeme der anderen Staaten akzeptabel ist. Das bedeutet, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die weitere Entwicklung des (nationalen und europäischen) Patentrechts zwar weiterhin eine besonders hervorgehobene Bedeutung hat, aber keineswegs allein maßgeblich ist. Sie ist nur noch eine wichtige Stimme im europäischen Konzert. Rechtliche Zweifelsfragen müssen mehr als bisher nicht nur überhaupt entschieden sondern auch in Auseinandersetzung mit etwa abweichenden Entscheidungen aus anderen Nationen überzeugend begründet werden. Das ist nicht immer leicht zu verwirklichen. Insbesondere die BGH-Entscheidungen „Formstein" 13 , „Tollwutvirus" H , „ Aluminium-Trihydroxid" 15 und „Klinische Versuche" 16 belegen das Bemühen des Bundesgerichtshofs, auch die Rechtsprechung ausländischer Gerichte und des Europäischen Patentamts zu berücksichtigen. Umgekehrt gibt es viele Entscheidungen ausländischer Gerichte und des Europäischen Patentamts, die Ubereinkommen zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente vom 27. 11. 1963 - B G B l . 1976 II S. 658. " S. Fn. 7. 12 Ubereinkommen über das Patent für den Gemeinsamen Markt v. 15.12. 1975, B G B l . 1979 II S. 833 ff mit der revidierten Fassung der Vereinbarung über Gemeinschaftspatente v. 2 1 . 1 2 . 1989 - B G B l . 1991 II S. 1354 ff. 13 B G H Z 98,12. M B G H Z 100, 67. 15 G R U R 95,333. " G R U R 96, 109.

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sich mit der deutschen Rechtsprechung auseinandersetzen. In größerem U m f a n g wirkt sich die einschlägige ausländische und übernationale Rechtsprechung auch dadurch aus, daß sie zunächst unabhängig von der Entscheidung eines konkreten Falls z u r Kenntnis genommen und kritisch verarbeitet wird, zu der ständigen allgemeinen A u s f o r m u n g des Rechtsempfindens beiträgt und damit unausgesprochen oder u n b e w u ß t doch spätere konkrete Entscheidungen beeinflußt. Daneben gibt es sicher auch Entscheidungen, in denen einschlägige ausländische Entscheidungen unberücksichtigt geblieben sind, was durch Arbeitsüberlastung und eingeschränkte Informationsmöglichkeiten entschuldigt sein mag. Die Gerichte und insbesondere auch der B G H sind darauf angewiesen, daß ihnen die einschlägige ausländische Literatur und Rechtsprechung von anderen Stellen erschlossen wird, die dazu besser ausgerüstet sind. Das sind insbesondere das Max-Planck-Institut f ü r ausländisches und internationales Patent-, Urheber- u n d Wettbewerbsrecht in M ü n c h e n u n d die von diesem herausgegebene Zeitschrift „ G R U R International". Eine hervorgehobene Bedeutung k o m m t insoweit auch der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts und vornehmlich seiner G r o ß e n Beschwerdekammer zu. Das E P A ist auf G r u n d seiner Größe, seiner finanziellen Mittel und Informationsmöglichkeiten und seiner qualifizierten internationalen Besetzung in besonderem Maße dazu befähigt und berufen, unterschiedliche nationale Rechtsvorstellungen u n d Entscheidungen aufzunehmen, kritisch zu verarbeiten und in eine f ü r alle annehmbare Rechtspraxis umzusetzen. 4. Die Beurteilung der vom Europäischen Patentamt erteilten Patente in einem späteren nationalen Nichtigkeitsverfahren, in Deutschland also durch Bundespatentgericht und Bundesgerichtshof ist besonders delikat. Es geht in diesen Verfahren nicht n u r darum, gegen die Patentwürdigkeit sprechende neue Umstände zu prüfen, die im Erteilungsverfahren nicht bekannt waren und nicht berücksichtigt wurden. Gegebenenfalls ist auch die der Patenterteilung zugrundeliegende Rechtsansicht des Patentamts und der im Erteilungs- oder Einspruchsverfahren tätig gewordenen Beschwerdesenate und deren Würdigung des Standes der Technik zu überprüfen. Das ist f ü r nationale Patente unbestritten u n d ständige Praxis. F ü r europäische Patente kann grundsätzlich nichts anderes gelten, da das E P U insoweit auf das nationale Recht verweist. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß sich hierdurch besondere Gefahren f ü r die Rechtssicherheit u n d Rechtseinheit im europäischen Patentrecht eröffnen. Darauf hat der niederländische Richter Brinkhof in einem neueren Aufsatz 17 eindringlich hingewiesen u n d die Meinung vertreten, die na17

GRUR 1993, S. 177, 183.

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tionalen Gerichte sollten die Nichtigkeit eines europäischen Patents nur bei einem „offensichtlichen" Irrtum auf Grund des gleichen Materials aussprechen dürfen und auch sonst nur bei einem „deutlichen" Fehler von dem Erteilungsbeschluß abweichen. Demgegenüber hat das deutsche Bundespatentgericht in zwei Entscheidungen18 ausgesprochen, daß die Uberprüfung nicht dadurch eingeschränkt wird, daß bereits ein Einspruchs- und Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt stattgefunden hat, und daß der dortigen Entscheidung bereits der gleiche Stand der Technik zugrundegelegen hat. Das ist vom B G H in einer neueren Entscheidung im Grundsatz ausdrücklich bestätigt worden.19 Das ist zu erläutern und zu differenzieren. Was die Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen für eine Nichtigerklärung betrifft, so ist zunächst an die allgemein anerkannte Bestandsvermutung für das einmal erteilte Patent zu erinnern. Wer eine Nichtigerklärung erreichen will, muß die Voraussetzungen beweisen.20 Zu den tatsächlichen Voraussetzungen gehört auch die Frage, welche Kenntnisse und Fähigkeiten von einem Fachmann zur Zeit der Anmeldung des Patents erwartet werden konnten, und welche weiterführenden Gedanken für ihn nahelagen. Für die Klärung solcher Fragen ist zu berücksichtigen, daß die für das Patenterteilungsverfahren zuständigen technisch vorgebildeten Mitglieder der Patentämter in aller Regel über die erforderliche Sachkompetenz zur Beurteilung des technischen Sachverhalts verfügen und zudem die Verhältnisse zur Zeit der Anmeldung des Patents mit größerer Zeitnähe beurteilen konnten. Die meist erst viele Jahre später im Nichtigkeitsverfahren tätig werdenden Richter können sich demgegenüber auch mit sachverständiger Hilfe oft nur sehr mühsam und Unvollkommen in die weit zurückliegenden Verhältnisse eines früheren Entwicklungsstandes der Technik hineinversetzen. All dies spricht im Zweifelsfall für den Bestand des Patents. Das gilt für europäische Patente nicht minder, aber auch nicht mehr als für nationale deutsche Patente. Diffizilere Probleme können sich bei der Überprüfung der Patentfähigkeit europäischer Patente in der Auslegung der Vorschriften des materiellen Rechts und der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe ergeben. Dazu gehören die zentralen Begriffe der Erfindung, ihrer Offenbarung, der Erweiterung und der erfinderischen Tätigkeit (Art. 52, 55, 56, 138 EPU). Hier ist der bereits oben (zu IV 2) erörterte Zusammenhang der harmonisierten europäischen Patentsysteme zu beachten. 18 3 Ni 50/91 v. 8 . 1 0 . 1 9 9 2 und 3 Ni 41/92 v. 24. 11. 1993. " GRUR Int 96, 56 - Zahnkranzfräser. 20 Vgl. Benkard, Patentgesetz Gebrauchsmustergesetz, 9. Auflage, Rdn. 53 zu § 22 PatG.

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Zwar müssen die im Nichtigkeitsverfahren zuständigen nationalen Gerichte ungeachtet aller Schwierigkeiten die ihnen übertragene Prüfungskompetenz grundsätzlich im Verhältnis zum Europäischen Patentamt in gleicher Weise wahrnehmen wie im Verhältnis zu einem nationalen Patentamt21; das schließt die Möglichkeit ein, gegebenenfalls eine bestimmte Ansicht oder Rechtspraxis des Europäischen Patentamts zu korrigieren. Andererseits darf jedoch nicht übersehen werden, daß - wie bereits ausgeführt - gerade das Europäische Patentamt auf Grund seiner internationalen Besetzung und seiner Erfahrungen und Informationsmöglichkeiten über besondere Sachkompetenz für eine Auslegung des E P U im europäischen Geist verfügt, wobei erwartet werden muß, daß das Europäische Patentamt auch seinerseits die einschlägige Rechtsprechung europäischer Gerichte zum harmonisierten Patentrecht gewissenhaft zur Kenntnis nimmt und verarbeitet. Unter dieser Voraussetzung hat die Rechtsansicht des EPA auch bei der Überprüfung im Nichtigkeitsverfahren besonderes Gewicht. Vor einer Abweichung bedarf es einer eingehenden Auseinandersetzung und überzeugenden Begründung jedenfalls dann, wenn das EPA nicht seinerseits ohne Begründung von älterer einschlägiger nationaler Rechtsprechung zum harmonisierten Recht abgewichen ist. Im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit müssen die nationalen Gerichte - also auch der B G H - bei der Überprüfung eines europäischen Patents im Nichtigkeitsverfahren weiter im Auge behalten, daß das gleiche Patent auch noch in einem anderen Land für dessen Geltungsbereich vor einem anderen Gericht zur Überprüfung stehen könnte, und daß die gleiche Rechtsfrage auch noch von anderen nationalen Gerichten zu entscheiden ist. Es sollten dann auch gleiche Ergebnisse erzielt werden; das kann wiederum nur dann erwartet werden, wenn die Entscheidungen so sorgfältig und überzeugend begründet werden, daß sich dem die Gerichte anderer Länder anschließen können. Und die Entscheidungen sollten so getroffen werden, daß sie entsprechend begründet werden können. Nur unter diesen Voraussetzungen kann auch erwartet werden, daß sich das Europäische Patentamt in künftigen Fällen der Meinung des B G H oder eines anderen nationalen Gerichts anschließt; das EPA muß ja schließlich den Konsens nicht nur mit einem einzigen nationalen Gericht sondern mit einer Vielzahl nationaler Gerichtsbarkeiten suchen.

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B G H G R U R Int 96, 56 - Zahnkranzfräser.

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V. Auf dem Weg zum Gemeinschaftspatent Die weitere Entwicklung des europäischen Patentsystems ist bereits vorgezeichnet. 1. Eine einheitliche Auslegung und Anwendung des harmonisierten nationalen und übernationalen europäischen Patentrechts durch alle betroffenen nationalen und europäischen Gerichte und Patentämter ist ohne ein übergeordnetes europäisches Gericht nicht zuverlässig zu erreichen. Wir brauchen ein solches Gericht, und wir sollten es auch bekommen. Zunächst ist im Rahmen des GPU 22 ein europäisches Gericht mit alleiniger letztinstanzlicher Zuständigkeit für den Bestand zukünftiger europäischer Gemeinschaftspatente und deren Wirkungen vorgesehen. In einem nächsten Schritt könnte diesem Gericht auch die Zuständigkeit für den Bestand sonstiger europäischer Patente übertragen werden, die nicht Gemeinschaftspatente sind. Jedenfalls würde einem solchen europäischen Gericht fast zwangsläufig die Meinungsführerschaft für alle Fragen des harmonisierten Patentrechts zufallen. In einer weiteren Entwicklungsphase wird möglicherweise auf Betreiben der Europäischen Kommission eine institutionelle Sicherung dafür geschaffen werden, daß es zu einer einheitlichen Handhabung aller patentrechtlichen Normen zumindest im Bereich der Europäischen Union kommt. Ich bin zuversichtlich, daß zumindest die Einführung von Gemeinschaftspatenten, d. h. von einheitlichen Patenten für den gesamten Raum der Europäischen Union (Europäischen Gemeinschaft) und die Einrichtung von Gemeinschaftspatentgerichten mit einem zweitinstanzlichen einheitlichen europäischen Berufungsgericht in näherer Zukunft bevorsteht. Es macht daher Sinn, schon jetzt auch die sich erst daraus ergebenden Auswirkungen auf unser nationales Rechtsschutzsystem in Patentsachen zu bedenken. 2. Nach der leider noch immer in der Schwebe befindlichen Vereinbarung über Gemeinschaftspatente23 soll die Nichtigkeitsklage gegen ein Gemeinschaftspatent alternativ entweder vor einer im Europäischen Patentamt einzurichtenden Nichtigkeitsabteilung oder im Wege der Widerklage vor dem erstinstanzlichen Verletzungsgericht, in Deutschland also vor dem zuständigen Landgericht erhoben werden können.24 Hinsichtlich der Nichtigkeitsabteilungen des Europäischen Patentamts ist dabei vorgesehen, daß sie auf der Ebene der Prüfungs- und Einspruchsabteilungen, also unterhalb der dem Bundespatentgericht und den Oberlandesgerichten entsprechenden Ebene der Beschwerdeabteilungen S. o. Fn. 12. S. o. Fn. 22. » Art. 8 GPÜ; Art. 1, 15, 19, 20 Streitregelungsprotokoll (StRP) - BGBl. 1991 II S. 1354 ff, 1378 ff. 22

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angesiedelt sein sollen.25 In der zweiten Instanz soll in jedem Fall ein noch einzurichtendes europäisches Gemeinsames Berufungsgericht entscheiden. Bei einer im Verletzungsprozeß erhobenen Nichtigkeitsklage soll das in der Weise geschehen, daß das nationale Berufungsgericht (in Deutschland das O L G ) in einem Zwischenverfahren die Sache zunächst dem Europäischen Gemeinsamen Berufungsgericht zur verbindlichen Entscheidung über die Nichtigkeitsklage vorlegt.26 Der B G H könnte nicht mit der Nichtigerklärung von Gemeinschaftspatenten befaßt werden. Europäische Patente mit Wirkung für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, die nicht zugleich Gemeinschaftspatente wären, würde es in Zukunft nicht mehr oder zumindest nicht mehr in größerem Umfang geben. Und die Anzahl nationaler deutscher Patente würde in Fortsetzung der bisherigen Entwicklung voraussehbar weiterhin deutlich gegenüber der Zahl europäischer Patente mit Geltung für Deutschland zurückbleiben. Die Rechtsprechungstätigkeit des B G H in Patentnichtigkeitssachen würde daher in Zukunft voraussichtlich selbst dann auf einen Bruchteil der bisherigen zurückgehen, wenn man an den nationalen Zuständigkeitsbestimmungen nichts ändern würde. VI. Änderungen und Konsequenzen 1. Betrachtet man die in den vorstehenden Abschnitten dargestellte Entwicklung in Vergangenheit und absehbarer Zukunft einerseits und die ständig zunehmende dramatische Überlastung des B G H andererseits27, so erscheint es sachlich geboten, den B G H von der Zuständigkeit für Berufungsverfahren in Patentnichtigkeitssachen zu entlasten. 1. Die nationalen Zuständigkeiten für Patentnichtigkeitsverfahren könnten zukünftig derart verteilt werden, daß erstinstanzlich eine beim Deutschen Patentamt einzurichtende Nichtigkeitsabteilung (alternativ im Wege der Widerklage gegebenenfalls auch eine Patentstreitkammer beim Landgericht, zweitinstanzlich das Bundespatentgericht und unter Umständen noch der B G H als Revisions- oder Rechtsbeschwerdeinstanz zuständig ist. Letzteres könnte wie bisher im Erteilungs- und Einspruchsverfahren entsprechend § 100 PatG auf Grundsatzfälle kraft Zulassung und besonders grobe Verfahrensfehler beschränkt werden. Im übrigen würde ein solches Rechtsmittelsystem dem entsprechen, was für Gemeinschaftspatente nach dem GPÜ vorgesehen ist (s. o. zu V. 2). 25 Vgl. Regel 2 der AusfO zum GPÜ i. Verb. m. Art. 18-21 GPÜ - BGBl. 1991 II S. 1361 ff. 26 An. 2, 2 2 , 2 4 , 2 7 StRP. 27 Allein die Zahl der Revisionen in Zivilsachen ist von jährlich 1256 im Jahre 1951 über 2528 (1984) auf 3490 im Jahre 1994 gestiegen.

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Eine solcher Instanzenzug würde dann auch der Zuständigkeitsverteilung im nationalen Patenterteilungs- und Einspruchsverfahren (§§ 65, 73 100 PatG) sowie im Gebrauchsmuster-Löschungsverfahren (§§ 16, 18 GebrMG) entsprechen. Für ein unterschiedlich ausgestaltetes Rechtsmittelsystem ist kein triftiger Grund ersichtlich. Dem Umstand, daß das Patentamt bei erstinstanzlicher Zuständigkeit im Nichtigkeitsverfahren auch seine eigene Entscheidung im früheren Erteilungsverfahren überprüfen und ggf. revidieren müßte und demgegenüber eine gewisse Befangenheit verspüren könnte, kann dadurch Rechnung getragen werden, daß innerhalb des Amtes eine andere Abteilung zuständig wird. Im übrigen ist es auch sonst nicht ungewöhnlich, daß ein Amt oder ein Gericht sich nach früherer Entscheidung erneut mit der gleichen Sache befassen muß. So wird etwa von einem Zivilgericht auch dann eine objektive und sachgerechte Entscheidung erwartet, wenn es sich zuvor - nach vielleicht etwas kursorischer Prüfung - bereits durch Erlaß einer einstweiligen Verfügung, eines Beweisbeschlusses oder eines Versäumnisurteils für eine bestimmte Ansicht entschieden hatte, die jedoch im weiteren Verfahren voll zur Disposition steht. Historische Gründe für das derzeitige Zuständigkeitssystem sind überholt. Dem Umstand, daß wegen gewisser Wechselwirkungen zwischen Fragen der Patentfähigkeit einerseits und der Patentverletzung andererseits in letzter Instanz das gleiche Gericht für beide Fragenkomplexe zuständig sein sollte, ist dadurch ausreichend Rechnung getragen, daß der Bundesgerichtshof seit 1961 (s. o. zu III.) im Rechtsbeschwerdeverfahren auch zu Fragen der Schutzfähigkeit Stellung nehmen kann. Dabei ist eine frühzeitige Einschaltung des B G H zur Klärung von Grundsatzfragen im Erteilungsverfahren sehr viel wichtiger als eine mögliche Anrufung in späteren Nichtigkeitsverfahren, in denen Grundsatzfragen erfahrungsgemäß eher untergeordnete Bedeutung haben. Im Unterschied zu den Anfangszeiten des deutschen Patentrechts steht jetzt auch mit dem Bundespatentgericht ein geeignetes unabhängiges Rechtsmittelgericht zur Verfügung, welches weitgehend die Aufgaben des B G H in Patentsachen übernehmen kann. 2. Mit einer Verlagerung der zweitinstanzlichen Nichtigkeitsverfahren auf das Bundespatentgericht würden Kapazitäten des Bundesgerichtshofs frei, die dieser dringend für seine eigentliche Aufgabe der Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit (vgl. § 546 ZPO) benötigt. Auch würde er von einem Aufgabenbereich entlastet, dessen Zuweisung an ein Revisionsgericht systemfremd ist.28 28 Liedel, Das deutsche Patentnichtigkeitsverfahren, 1979, S. 278; vgl. auch Fischer GRUR 1958, S. 115, 118 und amtl. Begründung z. 6. ÜG Ziff. II 1 abb, abgedruckt in B1PMZ61, 140, 141.

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a) Soweit die Belastungsfähigkeit des BGH oder einzelner seiner Senate bereits weitgehend durch tatrichterliche Tätigkeit in Einzelfällen ohne rechtsgrundsätzliche Relevanz erschöpft ist, werden die Möglichkeiten zur umfassenden Erfassung und Verarbeitung der in einem Rechtsgebiet auftauchenden Probleme und zur Entwicklung zuverlässiger Leitlinien sehr eng. Es besteht die Gefahr, daß auch die höchstrichterliche Rechtsprechung kurzatmig wird und nur noch den Einzelfall ohne ausreichende weitere Perspektiven entscheidet. Auch für die einzelne Sache ist es schlecht, wenn die erforderliche tatrichterliche Aufklärung zu einem wesentlichen Teil ohne die Möglichkeit nachträglicher, mit Abstand und Unbefangenheit durchzuführender Prüfung darüber erfolgt, ob nicht doch weitergehende Aufklärungsarbeit hätte geleistet werden müssen. Auch in dieser Hinsicht wird im Patentnichtigkeitsverfahren das sinnvolle Prinzip der Aufgabenverteilung zwischen Revisions- und Tatsacheninstanz durchbrochen. Und schließlich stellt sich die Frage, ob es sachgerecht ist, wenn nur in der ersten, nicht aber in der zweiten Tatsacheninstanz technisch vorgebildete Richter mitwirken. b) Für die Entscheidung von Patentnichtigkeitsverfahren in der Berufungsinstanz bedarf es eines erheblichen technischen Sachverstands, der beim BGH, der anders als das Bundespatentgericht (vgl. § 67 Abs. 2 PatG) nur mit rechtskundigen Mitgliedern besetzt ist, zunächst nicht ohne weiteres erwartet werden kann. Es bedarf daher praktisch immer der Hinzuziehung eines gerichtlichen Sachverständigen. Das macht das Verfahren schwerfällig, langwierig und teuer. Wenn der Sachverständige nicht praktisch zum alleinentscheidenden Richter werden soll, bedarf es eines sehr mühsamen Einarbeitens der Richter in die technischen Einzelheiten des Sachverhalts. Das verlangt Verständnis für technische Zusammenhänge und erfordert viel Zeit und Ruhe, die in einem allseits überlasteten BGH nur noch begrenzt zur Verfügung stehen. c) Gelegentlich ergibt sich auch in zweiter Instanz noch die Notwendigkeit, die Umstände einer behaupteten offenkundigen Vorbenutzung 29 durch Zeugenvernehmung aufzuklären. Soweit es nur darum geht, den einen oder anderen Zeugen zu einem bereits in erster Instanz vorgeklärten Komplex ergänzend oder erneut zu vernehmen, kann dies auch beim BGH ohne besondere Probleme geschehen. Bei dem erstmaligen Versuch der Aufklärung eines komplexen Sachverhalts ohne Vorklärung in der Vorinstanz oder in einer besonderen 29 Das ist eine der geschützten Lehre des Patents ganz oder weitgehend entsprechende Praxis, die schon vor Anmeldung des Patents ausgeübt oder beschrieben wurde, oft nur in einem Einzelfall und ohne druckschriftlichen Beleg, aber so, daß auch (betriebs-) fremde Personen davon ohne Geheimhaltungspflicht Kenntnis nehmen konnten.

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Voruntersuchung ergeben sich jedoch naturgemäß erhebliche Fehlerquellen. Das gilt für die Aufklärung offenkundiger Vorbenutzungen in verstärktem Maße. Es geht um meist viele Jahre zurückliegende Vorgänge und die Klärung sehr diffiziler technischer Feinheiten und Unterschiede. Die aufgebotenen Zeugen sind selten völlig unbeteiligt, meist Angestellte der Parteien oder interessierter Wettbewerber. Und wir wissen aus Erfahrung, daß gerade in diesem Bereich viel Unwahres bezeugt wird, teils unbewußt, teils auch bewußt. Die Vernehmung der Zeugen fordert daher hier in besonderem Maße viel Zeit und Kraft; sie stellt höchste Anforderungen an die Spannkraft der beteiligten Richter und Anwälte, verlangt Einfühlungsvermögen in die technischen Einzelheiten und sonstigen äußeren Umstände und Hintergrundwissen, um mögliche Mißverständnisse erahnen und vermeiden zu können. Die Vernehmung bedarf daher auch gründlicher Vorbereitung und Nacharbeit. Richter, Parteien und Anwälte, aber auch die Zeugen können am Ende einer langen Vernehmung in ihrer Spannkraft erschöpft sein. Wesentliche Punkte können übersehen werden. Für die Parteien ist auch nicht immer erkennbar, wie das Gericht die Zeugenaussagen werten wird, und ob es nicht in Unkenntnis technischer oder sonstiger Zusammenhänge einem schwerwiegenden Mißverständnis zum Opfer fallen könnte. Es erscheint daher sachgerecht, wenn grundsätzlich die Möglichkeit besteht, etwaige Unzulänglichkeiten einer Beweisaufnahme noch einmal kritisch überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu können. Je nach dem Sachgebiet sollten schließlich noch besondere Kenntnisse und Fähigkeiten bei dem vernehmenden Richter vorhanden sein. Eine differenzierte Zeugenvernehmung über ein hochentwickeltes schwieriges technischen Spezialgebiet wie Hochfrequenztechnik oder Gentechnik kann sinnvoll nur durch einen solchen Richter erfolgen, der sich in diesem Bereich hinreichend kundig machen konnte; das ist dem nur juristisch ausgebildeten Richter nicht immer möglich. Bei der Vernehmung eines ausländischen Zeugen sind außerdem gewisse Kenntnisse der englischen oder französischen Sprache von großem Nutzen. Insgesamt werden häufig spezielle Fähigkeiten gefordert, die auf der Richterbank des Bundespatentgerichts, nicht aber auf derjenigen des BGH erwartet werden können. Die Schwierigkeit der Sachaufklärung und das für wichtig gehaltene Bedürfnis, den Parteien für die Aufklärung des wesentlichen Sachverhalts zwei Tatsacheninstanzen zur Verfügung zu stellen, hat den BGH wiederholt dazu veranlaßt, die Sache zur weiteren Aufklärung an das Bundespatentgericht zurückzuverweisen, statt selber die angebotenen Beweise zu erheben.30 Eine gesetzliche Grundlage gibt es dafür eigent50

Benkard (Fn. 20), Rdn. 20 zu § 110 PatG m. w. N.

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lieh nicht. Die für das Nichtigkeitsverfahren ergänzend heranzuziehende Z P O läßt eine Zurückverweisung zum Zwecke weiterer Sachaufklärung nach § 539 Z P O lediglich bei einem grundlegenden Verfahrensmangel zu. Diese Voraussetzung ist aber nur selten gegeben. Wenn der Bundesgerichtshof gleichwohl über den gesetzlich vorgesehenen Rahmen hinaus in jahrzehntelanger Rechtsprechung aus Zweckmäßigkeitsgründen Nichtigkeitsverfahren zur weiteren Aufklärung an das Bundespatentgericht zurückverweist, so hat er sich letztlich sein eigenes Verfahrensrecht geschaffen. Das kann gerechtfertigt werden durch die gewichtigen sachlichen Bedürfnisse und den Umstand, daß das Patentgesetz keine abgeschlossene Verfahrensregelung enthält und ergänzend auf die Z P O verweist, die wiederum den besonderen Gegebenheiten des Patentnichtigkeitsverfahrens nicht immer in angemessener Weise Rechnung trägt und dies auch nicht kann. Die in der Z P O nicht berücksichtigten Besonderheiten der Nichtigkeitsverfahrens liegen darin, daß die Schwierigkeiten der Sachaufklärung im Patentrecht im besonderen Maße nach der Möglichkeit einer Prüfung in zwei Tatsacheninstanzen schreien, und daß außerdem bei der Beweisaufnahme in zweiter Instanz unterlaufene Fehler im Patentnichtigkeitsverfahren derzeit nicht einmal durch eine übergeordnete Revisionsinstanz korrigiert werden könnten. Der Umstand, daß der Bundesgerichtshof sich von den Bestimmungen für das Berufungsverfahren teilweise befreit hat, ohne dafür großen Protest zu ernten, ist ein deutliches Indiz dafür, daß die Zuweisung des Nichtigkeits-Berufungsverfahrens an den B G H an sich system- und sachwidrig ist. 3. Wenn die tatrichterliche Prüfung im Nichtigkeitsverfahren über nationale deutsche Patente in Zukunft erstinstanzlich vor dem Patentamt und zweitinstanzlich vor dem Bundespatentgericht durchgeführt würde, so hätte das m. E. voraussichtlich keine schlechteren Ergebnisse zur Folge. Das Patentamt könnte mit gleicher Zuverlässigkeit wie im Erteilungs- und Einspruchsverfahren eine erste Uberprüfung neuer Argumente und neuer Entgegenhaltungen vornehmen und hätte allenfalls in seltenen Ausnahmefällen Veranlassung zur Hinzuziehung eines Sachverständigen. Es könnte daher auch relativ schnell entscheiden, jedenfalls nicht langsamer als bisher die Nichtigkeitssenate des Bundespatentgerichts. Ebenso, wie das auch derzeit der Fall ist, würde nur ein Teil der Sachen in die Berufungsinstanz - das wäre dann das Bundespatentgericht - gelangen. Im zweiten Durchlauf vor dem Bundespatentgericht wäre dann - wie das jetzt in etwa vor dem B G H geschieht - die Spreu vom Weizen getrennt; die Probleme des Falles wären nach der erstinstanzlichen Entscheidung und weiteren Stellungnahmen der Parteien

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deutlicher herausgearbeitet und das Bundespatentgericht könnte nun leichter und frühzeitig erkennen, ob seine eigenen Fähigkeiten ausreichen oder ob die Hinzuziehung eines externen Sachverständigen angezeigt ist. Ich erwarte daher für eine abgeänderte Ausgestaltung der Rechtszüge, daß das Bundespatentgericht dann zwar etwas langsamer, zugleich aber gründlicher und sachgerechter als bisher und sicher schneller als derzeit der B G H entscheiden kann. Wenn diese Rechnung aufgeht - und ich bin da ziemlich zuversichtlich - wird eine zweite Tatsacheninstanz in Zukunft schneller, preiswerter und mit nicht geringerer Zuverlässigkeit abgeschlossen sein. Ein Bedarf zur revisonsrechtlichen Überprüfung wird dann auch nur noch für Ausnahmefälle bestehen. Es könnte daher genügen, sie nur noch bei ausdrücklicher Zulassung durch das Bundespatentgericht zu gewähren. Es wird dann im Patentnichtigkeitsverfahren nur noch wenige Fälle vor dem B G H geben, die für den Durchschnitt der Verfahrensdauer und -kosten kein wesentliches Gewicht haben. Entscheidende Gegenargumente ergeben sich m. E. nicht aus der derzeit noch relativ hohen Abänderungsquote der erstinstanzlichen Nichtigkeitsurteile. Diese ist zum weit überwiegenden Teil nicht auf ein Kompetenzgefälle zwischen B G H und Bundespatentgericht zurückzuführen. N u r der geringere Teil der Nichtigkeitsverfahren gelangt überhaupt bis zu einem abschließenden zweitinstanzlichen Urteil. Dabei handelt es sich selten um völlig eindeutig zu entscheidende Fälle. Vielfach beruht die Abänderung der Entscheidung in der zweiten Instanz auf neuem Material, zumindest auf neuen Argumenten der Parteien. U n d schließlich gilt der allgemeine Erfahrungssatz, daß eine weitere Prüfung immer geeignet ist, Fehler des ersten Durchgangs aufzudecken und die Fehlerquote insgesamt zu senken. Das würde auch für einen Rechtszug Patentamt-Patentgericht gelten.

Die elektronische Form Neue Formvorschriften für den elektronischen Rechtsverkehr

H E L M U T SCHIPPEL

I. In der Diskussion um die Kodifikation des Zivilrechts ist immer wieder bezweifelt worden, ob es sachgerecht sei, den klassischen Büchern des Privatrechts einen stark abstrahierenden allgemeinen Teil voranzustellen, wie das der Gesetzgeber des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs vor einem Jahrhundert getan hat1. Wenn es eines weiteren Beweises für die Richtigkeit dieser Entscheidung - wenigstens im Bereich der Rechtsgeschäftslehre - bedürfte, wäre er in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bewältigung der Aufgaben erbracht worden, die der elektronische Rechtsverkehr Rechtsprechung und Rechtslehre gestellt hat. Es ist allein der starken Abstraktion der Rechtsgeschäftslehre im Allgemeinen Teil des B G B zu danken, daß mit Hilfe der Normen, die im Zeitpunkt ihrer Formulierung allein auf die vom Menschen unmittelbar wahrnehmbaren Medien der Sprache und der Schrift zugeschnitten sein konnten, die ersten Fragen, die der vollkommen neue und vorbildlose elektronische Rechtsverkehr aufwarf, im wesentlichen befriedigend gelöst werden konnten 2 . Diese durchaus positiven Ansatzpunkte und gründliche rechtswissenschaftliche Untersuchungen in Verbindung mit der fortschreitenden Entwicklung der einschlägigen Technik lassen mancherorts den Eindruck entstehen, die vorhandenen Normen und Aussagen der Rechtsgeschäftslehre bedürften keiner Ergänzung, legislatorischer Handlungsbedarf bestünde nicht. Mit Hilfe der von der Datentechnik angebotenen Instrumente der digitalen Signatur könnte die Identität von Erklärendem und Erklärungsempfänger sichergestellt, mit Hilfe von Verschlüsselungen und Kennungen auch der Inhalt einer elektronisch gespeicherten oder übermittelten Erklärung gegen Manipulation und Verfälschung gesichert werden. Es könnten also die beiden Hauptprobleme des elektronischen Rechtsverkehrs, die Wahrung der 1 Zweifelnd Schneider, Gesetzgebung, 1982, Rdn. 337; zur Abstraktion im Allgemeinen Teil Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 1982, Rdn. 19; ders. zu den Vorteilen der Abstraktion bei den Vorschriften über Rechtsgeschäfte in Rdn. 31 trotz insgesamt kritischer Würdigung in Rdn. 29, 35 ff. 2 Vgl. die Angaben bei Fritscbe/Malzer, DNotZ 1995, 3, 8 ff; Erber-Faller, MittBayNot 1995,182, 183 ff und die dort zitierten Entscheidungen des BGH und der OLG.

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Authentizität der beteiligten Personen und des Erklärungsinhalts, gelöst werden. Es handele sich schließlich nur darum, die angebotene Hardund Software richtig einzusetzen. Selbst wenn die gegenwärtige und sicher noch weiter zu verbessernde Technik ausreichen würde, wäre aber die Frage nach dem legislativen Handlungsbedarf noch nicht entschieden. Denn es bliebe der Entscheidung der am Rechtsverkehr Beteiligten überlassen, ob sie sich der angebotenen Sicherungstechniken bedienten. O b und in welchem Maße der elektronische Rechtsverkehr sicher wäre, würde von den Investitionsentscheidungen der beteiligten Kreise, bestenfalls vom Spiel der Kräfte des Markts abhängen. Das könnte im Bereich formfreier Rechtsgeschäfte vielleicht hingenommen werden. Der Einsatz elektronischer Medien würde dann aber für die Bereiche der formgebundenen Erklärungen ausgeschlossen, ein Ergebnis, das in keiner Weise befriedigen würde. Der unaufhaltsame Fortschritt der Technik auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung zwingt nach meiner Uberzeugung schon kurzfristig dazu, dafür Sorge zu tragen, daß mit den Mitteln der Elektronik niedergelegte und übermittelte Erklärungen mit rechtlicher Relevanz auch die Schriftform und vielleicht eines Tages auch die Form der öffentlichen Beglaubigung ersetzen können. Das hat zur Voraussetzung, daß solche Erklärungen die verschiedenen Funktionen dieser beiden althergebrachten Rechtsformen ebenso wie diese erfüllen. Lassen wir hier die Besonderheiten der öffentlichen Beglaubigung, die im Bereich des Beweisrechts liegen, beiseite und betrachten wir die Schriftform. Ihre Voraussetzungen sind erfüllt, wenn die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet ist (§ 126 Abs. I) 3 . Die Unterschrift gibt Auskunft über die Person des Unterzeichners (Identifikationsfunktion). Sie schließt den Text räumlich ab und läßt damit erkennen, daß der Text als inhaltlich richtig und vollständig vom Willen des Unterzeichners erfaßt ist (Abschlußfunktion). Die unterzeichnete Schrift weist den Unterzeichner auf die rechtliche Erheblichkeit seines Tuns hin (Warnfunktion). Die schriftliche Urkunde hat besondere beweisrechtliche Bedeutung (Beweisfunktion). Sie ermöglicht die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle bestimmter Rechtsgeschäfte (Kontrollfunktion). In Einzelfällen, namentlich bei Wertpapieren, deren Übereignung Tatbestandsmerkmal der Übertragung des verbrieften Rechts ist, tritt die Transportfunktion hinzu. Von zentraler Bedeutung sind Identifikationsfunktion und Abschlußfunktion, also die Sicherstellung eines durch die Unterschrift einer bestimmten Person räumlich abgeschlossenen Textes. Alle anderen Funktionen, die die Schriftform

' Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind bis zum Teil III Ziff. 4 solche des BGB.

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gewährleisten will, setzen diesen eigenhändig unterschriebenen Text voraus. Gefahr droht der herkömmlichen schriftlichen Urkunde durch die Fälschung oder Verfälschung der Unterschrift und des Textes. Die körperliche Verbindung von Unterschrift und Text mit dem Textträger ermöglicht es in den meisten Fällen, solche Manipulationen festzustellen. Hier unterscheiden sich die schriftliche und die elektronische Erklärung wesentlich. Bei der elektronischen Erklärung fehlt, auch wenn sie auf Papier ausgedruckt wird, die Verkörperung der vom Erklärenden persönlich und bleibend sichtbar vollzogenen Verbindung zwischen Text und Unterschrift, mit der der Erklärende manifestiert, daß diese Erklärung, so wie sie über der Unterschrift steht, von ihm selbst abgegeben ist4. Auch die Signatur der elektronisch erfaßten Erklärung geschieht ohne solche Verkörperung. Wird die signierte Erklärung später auf dem Bildschirm oder auf einem Ausdruck sichtbar gemacht, sieht man immer nur eine Wiedergabe, eine Kopie des Gespeicherten. Die Möglichkeit der Manipulation elektronischer Erklärungen ist viel größer als die der schriftlichen Urkunde. Diese Gefahren müssen ausgeräumt oder doch erheblich minimiert werden, wenn die elektronische Erklärung der schriftlichen im Sinn des § 126 gleichgestellt werden soll. IL Die ständige Beschäftigung mit schriftlichen Urkunden jedweder Form und die zentrale Berufsaufgabe, Rechtssicherheit im zivilen Rechtsverkehr zu wahren, hat die Notare schon sehr bald mit den Problemen des elektronischen Rechtsverkehrs konfrontiert. In beinahe jeder Notariatskanzlei wird unterdessen mit Computeranlangen und mit Telefax gearbeitet. Die EDV-Systeme unterstützen die Herstellung der Texte auf vielfältige Art und Weise. Mit ihrer Hilfe werden die Urkundenrolle, die Namenskarteien, Masse- und Verwahrungsbuch für hinterlegte Gelder, Wertpapiere und Kostbarkeiten geführt, die Buchhaltung abgewickelt. In zunehmendem Maße werden die Notariate on-line mit elektronisch geführten Registern der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, vornehmlich mit dem Grundbuch und dem Handelsregister verbunden 5 . Der Notar kennt also aus eigener Erfahrung im bürointernen Bereich und bei der Übertragung von Erklärungen auf elektronischem Wege die mit dem Einsatz der modernen Techniken verbundenen Gefahren. Seine

* Für die Übermittlung der Erklärung durch Telefax B G H D N o t Z 1994, 440. 5 Dazu das Registerverfahrenbeschleunigungsgesetz v. 20. 12. 1993, BGBl. I, 2182 ff; Erber-Faller, aaO, 185; zum Pilotprojekt Elektronisches Grundbuch: Einsatz in Sachsen Göttlinger, D N o t Z 1995, 370.

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stets der Zukunft zugewandte, planerische Tätigkeit, die ihm auferlegte Pflicht, bei dieser Arbeit immer um größtmögliche Rechtsicherheit bemüht zu sein, machen ihn besonders empfindlich für vorhersehbare Entwicklungen in Recht und Technik, die seine Berufstätigkeit berühren können. Deshalb hat die Bundesnotarkammer, die Spitzenorganisation des deutschen Notariats, Technik und Recht der elektronischen Datenverarbeitung, Datenspeicherung und Datenübermittlung sehr frühzeitig zu beobachten begonnen. Sie hat einen offenen Arbeitskreis geschaffen, in dem Juristen unterschiedlicher Fachrichtungen und Techniker miteinander über die Fragen des elektronischen Rechtsverkehrs diskutieren. Denn es war schnell erkannt worden, daß hier weder die Juristen noch die Techniker allein sinnvolle Lösungsmodelle erarbeiten können. Diese Projektgruppe ist im November 1993 mit einem Forum „Elektronischer Rechtsverkehr" erstmals an die interessierte Öffentlichkeit getreten. Die Bundesnotarkammer hat die Referate dieser Veranstaltung und die Diskussion in der Schrift „Elektronischer Rechtsverkehr - Digitale Signaturverfahren und Rahmenbedingungen" 1995 veröffentlicht6. Die Arbeiten der Bundesnotarkammer sind unterdessen bis zum Vorschlag eines Entwurfs für ein Gesetz über den elektronischen Rechtsverkehr gediehen. Er ist am 3. Juni 1995 auf dem XXI. Internationalen Kongreß des Lateinischen Notariats in Berlin im Rahmen des Forums „Elektronischer Rechtsverkehr" der interessierten Fachöffentlichkeit vorgestellt7 und den zuständigen Bundesministerien zugeleitet worden.

III. Als ehemaliger Präsident der Bundesnotarkammer, der diese Arbeiten noch auf den Weg bringen und ihren Verlauf seither begleiten durfte, möchte ich die Festschrift zu Ehren des scheidenden Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Prof. Dr. Walter Odersky, dem ich seit Beginn unseres juristischen Studiums in Freundschaft verbunden bin, benutzen, die Grundzüge dieses bisher noch nicht allgemein zugänglich veröffentlichten Entwurfs vorzustellen. 1. Im Mittelpunkt dieses Entwurfs steht der Vorschlag, die Vorschriften des B G B über die Form von Willenserklärungen durch Einführung der „elektronischen Form" zu ergänzen. Dabei schließt der Entwurf an die Systematik der §§ 126 ff an, geht davon aus, daß im Gesetz für bestimmte Willenserklärungen die elektronische Form alternativ zu bisher

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Verlag Dr. O t t o Schmidt, Köln. K u r z e Mitteilung in D N o t Z 1995 H e f t 5 S. IV.

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vorgeschriebenen Rechtsformen - vorzüglich wohl der Schriftform oder der öffentlichen Beglaubigung - vorgeschrieben wird, und regelt deshalb zunächst in einem neuen § 126 a die durch Gesetz vorgeschriebene elektronische Form, anschließend in einer Ergänzung des geltenden § 127 die gewillkürte elektronische Form. In der „Rangfolge" der Rechtsformen wird die elektronische Form hinter die Schriftform eingeordnet. Die elektronische Form wird durch die Schriftform und durch die notarielle Beurkundung ersetzt8. Der Vorschlag für den neuen § 126 a lautet: . $ 126 a (1) Ist durch Gesetz die elektronische Form vorgeschrieben, so muß der Aussteller der Erklärung dem Text seinen Namen hinzusetzen und beides elektronisch unterzeichnen (elektronische Unterschrift). Die elektronische Unterschrift muß in einem als sicher anerkannten Verfahren erklärungsabhängig und unterzeichnerabhängig hergestellt werden. Erklärung und Unterschrift müssen dauerhaft und lesbar wiedergegeben werden können. Die elektronische Unterschrift muß auf eine notarielle Urkunde verweisen, in der der Aussteller die Zuordnung des verwendeten Unterschriftsschlüssels zu seiner Person erklärt hat, die Erklärung wiedergeben und die Stelle nennen, bei der der Unterschriftsschlüssel überprüft werden kann. (2) Die Anerkennung von Verfahren nach Absatz 1 Satz 2 erfolgt durch das Bundesministerium des Innern. Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Anforderungen an diese Verfahren zu regeln. Die Zulassung von Stellen, die für die Ausgabe, Verwaltung und Uberprüfung von Unterschriftsschlüsseln zuständig sind, erfolgt durch das Bundesministerium ... Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. (3) Bei einem Vertrag gilt § 126 Absatz 2 entsprechend. (4) Die elektronische Form wird durch die schriftliche Form sowie die notarielle Beurkundung ersetzt."

§ 126 a ist in Anlehnung an § 126 formuliert. An die Stelle der Urkunde und ihrer Unterzeichnung durch eigenhändige Namensunterschrift treten der elektronisch festgehaltene Text, der auch den Namen des Ausstellers enthalten muß, und die „elektronische Unterschrift". Beide müssen „dauerhaft und lesbar" wiedergegeben werden können. Bei der schriftlichen Erklärung sind Dauerhaftigkeit und Lesbarkeit der Urkunde im Urkundenbegriff selbst enthalten. Im elektronischen Medium sind die beiden im Interesse der Rechtssicherheit unverzichtbaren Elemente nicht selbstverständlich garantiert. Es gibt etwa die Übermittlung von Daten in einen Rechner ohne Wiedergabemöglichkeit auf dem Bildschirm oder die Wiedergabe auf dem Bildschirm ohne Speichermöglichkeit. Solche technischen Möglichkeiten müssen ausgeschlossen werden, wenn die elektronische Form die oben dargestellten Funktionen der Schriftform erfüllen soll.

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§ 126 a Abs. 4; vgl. § 126 Abs. 3 und § 129 Abs. 2.

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Besondere Schwierigkeiten bereitet der Ersatz der eigenhändigen Unterschrift auf elektronischem Wege. Die elektronische Unterschrift muß zwei Voraussetzungen erfüllen: Die Identifikationsfunktion der Form verlangt, daß die elektronische Unterschrift zweifelsfrei einer bestimmten Person zugeordnet werden kann. Die Abschlußfunktion verlangt die unlösbare Verknüpfung zwischen dem Text der Erklärung und dem Unterschriftszeichen des Ausstellers. Die Beweisfunktion kann ohne diese beiden Voraussetzungen nicht erfüllt werden. § 126 a Abs. 1 Satz 2 fordert deshalb, daß die elektronische Unterschrift erklärungsabhängig und unterzeichnerabhängig hergestellt wird, also mit dem Text der Erklärung verknüpft und hinsichtlich der Person des Erklärenden identifizierbar sein muß. Dabei sind Verfahren zu verwenden, die als sicher anerkannt sind. Die heutige Datentechnik bietet solche Verfahren an. Es erscheint aber notwendig, daß der Sicherheitsstandard von einer fachkundigen und marktunabhängigen Stelle geprüft und festgestellt wird, zumal erfahrungsgemäß damit gerechnet werden muß, daß sich der Stand der Technik gerade auf dem Gebiet der EDV rasch weiterentwickeln wird. Der Notar denkt hierbei unwillkürlich an die Vorschriften seiner Dienstordnung über die Form und Gestaltung der notariellen Urkunden (§ 26 DONot). Wenn dort zur Sicherung der Beständigkeit notarieller Urkunden und im Interesse einer besonders hohen Sicherheit vor Verfälschungen sogar die Verwendung bestimmter Schreibmittel und die Kontrolle bestimmter Geräte vorgeschrieben sind', erscheint die Kontrolle der im elektronischen Rechtsverkehr verwendeten technischen Verfahren - auch außerhalb der notariellen Form - unverzichtbar. Der Gesetzesentwurf weist die Anerkennung der Verfahren dem Bundesministerium des Inneren zu (§ 126 a Abs. 2 Satz 2), in dessen Bereich einschlägige und hierfür geeignete Ämter arbeiten bzw. eingerichtet werden können. Wie schon erwähnt, müssen an die elektronische Unterschrift besonders hohe Sicherheitserfordernisse gestellt werden. Für die Namensunterschrift i. S. des § 126 verlangt die Rechtsprechung einen Schriftzug, der individuell und einmalig ist, entsprechende charakteristische Merkmale aufweist und die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnet10. Entsprechende Sicherheiten muß auch die elektronische Unterschrift bieten. Die hier eingesetzten Verschlüsselungsverfahren ge-

' Die Verwendung blauer Kugelschreiberpasten ist erst seit dem 1. 1. 1985 zugelassen worden; elektrofotografische Ablichtungen dürfen nur verwendet werden, wenn die benutzte Ablichtungsanlage nach einem Prüfungszeugnis der Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin zur Herstellung der Urschriften von Urkunden geeignet ist. 10 B G H N J W 1959, 734; 1982, 1467; zur Abgrenzung gegenüber der als Unterschrift nicht ausreichenden „Paraphe" B G H N J W 1987, 1334.

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währleisten das nur, wenn die Zuordnung des Zeichens zu der Person des Ausstellers ebenso einmalig ist und ebenso eindeutig und zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Das setzt voraus, daß die Zeichen registriert werden. Es müssen Stellen geschaffen werden, die für die Ausgabe, Verwaltung und Uberprüfung der Zeichen zuständig sind (Trusted-Third-Partys). In der elektronischen Unterschrift muß der Unterzeichner die Stelle nennen, die sein Zeichen registriert hat, damit dessen Gültigkeit dort von jedermann nachgeprüft werden kann. Die Nachprüfbarkeit muß ebenso gewährleistet sein wie die Nachprüfbarkeit der beim Handelsregister hinterlegten Unterschriften der Vertretungsberechtigten von Handelsgesellschaften. Diese Stellen bedürfen, wenn sie nicht selbst in den Staatsapparat eingegliedert sind, der staatlichen Zulassung und Überwachung, was im einzelnen im Hinblick auf Art. 12 GG nur durch Gesetz geregelt werden kann. Dieses Gesetz wird an die Registrierstellen hohe Anforderungen stellen müssen. Die Registrierstellen müssen nicht nur absolut sicher und zuverlässig arbeiten, sondern auch andauernd gewährleisten, daß die verteilten Schlüssel dem neuesten Stand der Technik entsprechen, daß also alle technischen Möglichkeiten eingesetzt werden, um die Verwechselbarkeit solcher Zeichen weitestgehend auszuschließen und die Möglichkeit der Verfälschung zu minimieren. Die eigenhändige Unterschrift einer Person wird in ihren Grundlinien in der Regel ein Leben lang so unverwechselbar erhalten bleiben, daß sie auch nach vielen Jahren noch der richtigen Person zuverlässig zugeordnet werden kann. Das mag auch für die elektronische Unterschrift gelten. Die elektronische Unterschrift ist aber von technischen Gegebenheiten abhängig, die sich im Laufe der Jahre ändern können und im Hinblick auf die rasche Entwicklung der EDV-Technik mit großer Wahrscheinlichkeit auch ändern werden. Es muß deshalb wohl überlegt werden, ob die Gültigkeit der Zeichen zeitlich beschränkt und die Verwender gezwungen werden, ihre Zeichen in regelmäßigen Abständen dem neuesten Stand der Technik anzupassen. Dem Notar erscheinen aber selbst diese qualifizierten Registrierungsverfahren noch nicht ausreichend zu sein. Der elektronische Rechtsverkehr ist zumindestens in der Phase, in der er sich heute befindet, mit erheblichen Risiken belastet. Sind die Risiken des herkömmlichen Rechtsverkehrs den Beteiligten weithin bekannt, trifft das für die am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmenden Bürger nicht, zumindestens noch nicht zu. Eine eigenhändige Unterschrift kann nur eigenhändig nachgeahmt werden. Wer Zugang zu einer fremden elektronischen Unterschrift hat, kann diese aber ohne besondere Fingerfertigkeit beliebig benutzen. Die Situation entspricht etwa der Verwendung eines in bestimmten Bereichen des formfreien Rechtsverkehrs zugelassenen Unterschriftsstempels. Im Unterschied dazu können aber mit der elektronischen Unter-

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schrift formbedürftige Erklärungen mit in der Regel weittragender rechtlicher und wirtschaftlicher Bedeutung abgegeben werden. Deshalb halten es die Notare für notwendig, daß ein Amtsträger, der unabhängig, unparteiisch und rechtskundig ist, den Teilnehmer am formgebundenen elektronischen Rechtsverkehr über die rechtliche Tragweite dieser Teilnahme belehrt, ähnlich wie diese Belehrung dem Notar bei der Errichtung notarieller Urkunden vorgeschrieben ist (§17 BeurkG). Es liegt nicht ferne daran zu denken, diese Aufgabe den Notaren selbst zuzuweisen. Hierüber soll eine Urkunde errichtet werden, auf deren Daten die elektronische Unterschrift ebenso wie auf die Stelle verweisen muß, bei der die Unterschrift registriert ist. Die Bundesnotarkammer hat in diesem Zusammenhang überlegt, ob die Verwendung der elektronischen Unterschrift ähnlich wie eine einem Dritten erteilte Vollmacht eingeschränkt werden kann, z. B. auf bestimmte Rechtsgeschäfte, auf Höchstbeträge und dergleichen. Der Teilnehmer am elektronischen Rechtsverkehr hätte dann die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, in welchem Umfang er sich daran beteiligen will. Die Daten solcher Selbstbeschränkung würden dem Empfänger mit der elektronisch unterschriebenen Erklärung übermittelt und damit nach außen erkennbar und wirksam werden. Würde man diesen Vorstellungen folgen, müßte der Teilnehmer am formgebundenen elektronischen Rechtsverkehr zunächst im Einvernehmen mit der zuständigen Registrierungsstelle seinen Schlüssel wählen, sich dann in einer notariellen Urkunde zu diesem Schlüssel oder Zeichen bekennen und dabei die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr unter diesem Zeichen gegebenenfalls einschränken. Danach würde die zuständige Stelle das Zeichen einschließlich der angeordneten Beschränkung registrieren und für die Verwendung im Rechtsverkehr freigeben. Das mag im Hinblick auf die schier unbeschränkten Möglichkeiten der elektronischen Datenerfassung, Datenverarbeitung und Datenübermittlung auf den ersten Blick sehr umständlich erscheinen. Die unterdessen bekannten Risiken dieser Technik dürfen jedoch im Rechtsverkehr nicht außer Acht gelassen werden. Elektronische Unterschriften können verloren und von Dritten „gefunden" werden. Sie sind ohne besondere Schwierigkeiten kopierbar, wenn man sie nur kennt. Sie zu mißbrauchen ist wesentlich einfacher als der Mißbrauch einer eigenhändigen Unterschrift. Es mag am Herkommen liegen, daß die Warnfunktion der überlieferten Schriftform wenigstens heute noch erheblich ausgeprägter erscheint. Unter dem Eindruck der von den Medien übermittelten Werbung verleitet der Computer im eigenen Kämmerlein wohl eher zu unkontrollierter Abgabe von Willenserklärungen als der Griff zum Federhalter oder zum Kugelschreiber. Solche Gefahren können heute nicht ausgeschlossen, es muß ihnen aber im Interesse der Rechtssicherheit und im Interesse des Verbraucher-

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schutzes wenigstens vorgebeugt werden. Diesen beiden Interessen wollen die Vorschläge der Bundesnotarkammer Rechnung tragen. 2. Die elektronische Form könnte alternativ überall dort gesetzlich vorgeschrieben werden, wo das Gesetz heute die Schriftform vorsieht. Das wäre jedenfalls immer gerechtfertigt, wenn die Schriftform vor allem dem Beweis dienen soll. Zweifel können auftreten, wenn sie vorwiegend Warnfunktion besitzt11. Aber auch hier könnte man die alternative Zulassung befürworten, wenn die beschriebene, mit der Belehrung durch den Notar verbundene Identifikationsurkunde mit den dargestellten Einschränkungsmöglichkeiten Gesetz werden würde. Ist die Schriftform im Hinblick auf die Transportfunktion angeordnet, z. B. bei der Ubertragung von Wertpapieren, müßte der lesbare Ausdruck der elektronischen Erklärung vorgeschrieben werden, solange die Wertpapiere selbst in Papierform niedergelegt werden müssen. Aber auch hier kann sich in Zukunft vieles ändern. Die Europäische Kommission untersucht bereits die Frage, inwieweit eine elektronische Darstellung von Wertpapieren möglich ist12. 3. Wie die gewillkürte Schriftform in § 127 neben die gesetzlich vorgeschriebene Schriftform tritt, müßte neben der gesetzlich vorgeschriebenen elektronischen Form auch die gewillkürte elektronische Form zugelassen werden. In Anlehnung und Ergänzung des § 127 wäre zu bestimmen, daß die Vorschriften des § 126 a im Zweifel auch für die durch Rechtsgeschäft bestimmte elektronische Form gelten und daß Satz 2 des §127 geltender Fassung auch hierfür entsprechend anzuwenden wäre. 4. Der elektronische Rechtsverkehr an sich macht weitere, begleitende Änderungen des B G B notwendig. 4.1. Die Möglichkeiten visueller elektronischer Kommunikation „von Person zu Person" über Bildschirm ähnlich wie das Ferngespräch legt es nahe, § 147 Abs. 1 Satz 1 dahin zu ergänzen, daß dem Ferngespräch vergleichbare technische Einrichtungen in diese Bestimmung einbezogen werden. Unverzichtbar ist es dabei, daß die Verbindung von Person zu Person stattfindet. Unerheblich ist es, ob sich die miteinander Kommunizierenden ihres Mundes und ihrer Ohren oder ihrer Augen bedienen. 4.2. Unter Abwesenden abgegebene Willenserklärungen werden gemäß §120 auf Gefahr des Erklärenden versandt. Wird eine Erklärung durch die zur Übermittlung verwendete Person oder Anstalt unrichtig über-

11 Bürgschaftserklärung § 766 B G B , Kreditvertrag § 4 Abs. 1 VerbrKrG, Kreditvermittlungsvertrag § 15 VerbrKrG; ebenso Fritzsche/Malzer, aaO, 17. 12 S. Erber-Faller, aaO, 191.

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mittelt, kann sie unter den gleichen Voraussetzungen wie eine nach § 119 irrtümlich abgegebene Willenserklärung angefochten werden. Die mit Hilfe elektronischer Medien übermittelte Erklärung ist auf ihrem Weg vom Erklärenden zum Empfänger mindestens denselben Gefahren ausgesetzt, wie die mit Hilfe bisheriger Technik überbrachte. § 120 muß deshalb auf elektronisch übermittelte Erklärungen ausgedehnt werden. 5. Die Einführung der elektronischen F o r m bedingt auch Änderungen und Ergänzungen der Zivilprozeßordnung 13 , die im Entwurf der Bundesnotarkammer enthalten sind, hier aber nicht im einzelnen erörtert werden sollen. Die Gleichstellung der elektronischen Form mit der Schriftform im Verfahren (etwa in § 129, § 130 Ziff. 6, § 253 Abs. 5) setzt natürlich voraus, daß das Gericht die Einrichtungen besitzt, mit denen elektronisch übermittelte Erklärungen empfangen werden können. Das wird, vom Telefaxgerät abgesehen, bei der heutigen Haushaltslage noch etliche Zeit in Anspruch nehmen. Aktueller ist die Einbeziehung elektronischer Dokumente in das Beweisrecht. So wird in § 416 die in elektronischer F o r m errichtete Privaturkunde der schriftlichen Urkunde im Beweiswert gleichzustellen sein. Die Vorlage der in elektronischer F o r m errichteten Urkunde im Prozeß erfordert allerdings schon wegen der Notwendigkeit der Aktenführung den lesbaren Ausdruck und darüber hinaus die Uberprüfbarkeit der technischen Komponenten, mit deren Hilfe die elektronische Urkunde hergestellt und übertragen worden ist (Ergänzung des § 420) 14 . Es kann im Gegensatz zur Vorlage einer schriftlichen Urkunde nicht genügen, daß lediglich der Ausdruck des elektronischen Dokuments vorgelegt wird. Die Beweiskraft dieses Ausdrucks kann nur dann anerkannt werden, wenn die Technik der Herstellung und Übertragung der Urkunde bekannt ist. § 439 Abs. 2 und § 440 Abs. 2 sind um die Echtheit der elektronischen Unterschrift zu ergänzen, wenn und soweit die elektronische Unterschrift der eigenhändigen Unterschrift i. S. der §§ 126, 127 B G B gleichgestellt wird.

IV. Die Regelungsvorschläge zum elektronischen Rechtsverkehr sind unterdessen schon nicht mehr auf die Rechtsordnung eines einzelnen Staats in Europa beschränkt. Die Europäische Union hat jüngst ein Projekt zu

13 Die im folgenden ohne Gesetzesangabe zitierten Paragraphen sind solche der Zivilprozeßordnung. 14 Entsprechende Ergänzungen sind in §§ 443, 593 Abs. 2 erforderlich.

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digitalen Signatur- und Verschlüsselungsverfahren mit dem Ziel ausgeschrieben, die eigene, grenzüberschreitende Kommunikation unter Einsatz von Verschlüsselungsverfahren elektronisch durchführen zu können. Der Einsatz soll zunächst auf Ausschreibungen der europäischen Behörden beschränkt, später aber auf weitere grenzüberschreitende Kommunikationsvorgänge im Bereich und außerhalb des Bereichs der europäischen Behörden erstreckt werden. Im Vordergrund steht auch hier die Datensicherung. Interessant ist es, daß auch die Europäische Kommission die Notare einschalten will. Sie findet sie als Träger öffentlicher Amter in vergleichbaren Organisationen und unter ähnlichen Voraussetzungen arbeitend in der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten vor 15 . Nach dem Projektvorschlag soll der Notar selbst ein Schlüsselpaar herstellen. E r beurkundet dann die Verknüpfung zwischen Schlüssel und Verwender, die Aushändigung des Datenträgers mit den Schlüsseln an den Verwender und eine Hinterlegungsanweisung des Verwenders an den Notar. Diese U r kunde verwahrt der Notar wie üblich. Die Schlüsseldaten verwahrt er elektronisch. E r ist zur Verwaltung dieser Daten verpflichtet und hat sie gegebenenfalls dem Verwender und anderen Berechtigten zugänglich zu machen. Der Vorteil dieser Regelung gegenüber den Vorstellungen der Bundesnotarkammer wäre, daß die Einschaltung von besonderen Registrierungsstellen entbehrlich würde. Der TeleTrusT Deutschland e. V., der an der Erarbeitung dieses Programms mitgewirkt hat, schlägt vor, die Herstellung der Schlüssel neben den Notaren auch gewerblichen Herstellern zu übertragen. Die Europäische Kommission hat aber bereits zu erkennen gegeben, daß sie dem nicht folgen, sondern dem Notar die zentrale Verantwortung für alle Vorgänge, also auch für die Generierung der Schlüssel übertragen will. Es wird in einem etwaigen Gesetzgebungsverfahren in Deutschland überprüft werden müssen, ob und inwieweit sich die Vorstellungen des nationalen Gesetzgebers und der Europäischen Kommission von Anfang an harmonisieren lassen. Die Vorstellungen der Kommission zeigen jedenfalls, daß der Gedanke, den Notar als zentrale Vertrauensperson in die erforderlichen Sicherungsverfahren des elektronischen Rechtsverkehrs einzuschalten, nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden kann.

15 Ein „europäisches Notariat" besteht im Bereich der Europäischen Union nicht. Es muß zwischen dem anglosächsischen und dem lateinischen Rechtskreis unterschieden werden. Notariate im hier angesprochenen Sinn sind nur im lateinischen Rechtskreis, also innerhalb der Europäischen Union in Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Osterreich, Portugal und Spanien eingerichtet; vgl. Scbippel, FS Lerche, 1993, 499, 500 f und ders., DNotZ 1995, 334 ff.

Auf dem Wege zu neuen Dimensionen des Einstweiligen Rechtsschutzes PETER F . SCHLOSSER

Einleitung Wie in vielen Bereichen, so war die ZPO zur Zeit ihres Erlasses auch auf dem Gebiet des Einstweiligen Rechtsschutzes fortschrittlich. Außerhalb der Möglichkeit, Seeschiffe beschlagnahmen zu lassen, gab es in England bis in die 70er Jahre hinein kein Mittel, den Gläubiger einer Geldforderung zu schützen, bevor er ein im normalen Erkenntnisverfahren erstrittenes vollstreckbares Urteil in Händen hatte. Erst durch die richterliche Erfindung der sog. „Mareva injunction" 1 hat sich die Lage dort geändert. Inzwischen ist das deutsche Recht aber im Lichte der Entwicklung in anderen Staaten veraltet. Das gilt vor allem wiederum in bezug auf England, wo die Mareva injunction und die ihr verwandte Anton-Pillerorder zu für uns kaum vorstellbar effizienten Mitteln geworden sind, rechtzeitig einzugreifen, um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern. Im Lichte dieser Entwicklung soll hier die tradierte deutsche Praxis zum Einstweiligen Rechtsschutz Kritik erfahren. Zunächst soll dargelegt werden, daß die These, Arrest und Einstweilige Verfügung schlössen sich gegenseitig aus, nicht der Gesetzeslage entspricht (I). Daraus ergeben sich sehr weitreichende Konsequenzen (II-V). I. Arrest oder Einstweilige Verfügung - sich wirklich gegenseitig ausschließende Rechtsbehelfe? Die ZPO des Jahres 1877 hat das Recht der Einstweiligen Verfügung etwas stiefmütterlich behandelt. Noch stärker als heute stand der An1 Genannt nach dem ersten veröffentlichten Fall, in welchem eine solche Anordnung getroffen worden ist; s. Mareva Compania Naviera SA. WS. International Bulk Carriers SA [1975) 2 Lloyd's Reports 509. Jetzt mittels einer gesetzlichen Generalklausel geregelt, s. section 37 (3) Supreme Court Act 1981. Nähere Erl. etwa bei Carl, IPRax 83, 141; Barbara Dohmann, Q . C . , in Schlosser (Hrsg.), Materielles Recht und Prozeßrecht, Bd. 6 der Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Vereinigung für Intern. Verfahrensrecht (1992) 160; Harald Koch, ebenda 171, 193 f; besonders eindrucksvoll Lawrence Collins, Provisional and Protective Measures in International Litigation, Rec.Cours 234 (1992 III) 13, 112 ff.

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sprach auf Geldzahlungen ganz im Vordergrund der Rechtsschutzüberlegungen, die der Gesetzgeber seinerzeit anstellte. Zwar ist es im internationalen Vergleich ein großer Fortschritt gewesen, daß man jeden fälligen Anspruch auch einklagen konnte und nicht auf die Liquidation von Schadenersatz angewiesen war, wie es in den vom code civil geprägten Staaten 2 noch lange Zeit rechtens geblieben ist. Doch blieb es unausgesprochene Erwartung des Gesetzgebers, daß es im allgemeinen zu einem Schadensersatzprozeß kommen werde, wenn ein nicht auf eine Geldleistung gerichteter Anspruch unerfüllt blieb. Daher hat er als Prototyp des Einstweiligen Rechtsschutzes den Arrest ausgebildet, der nicht nur zum Schutz einer Geldforderung gedacht war und ist, sondern auch - wie es auffälligerweise heißt - „wegen eines Anspruchs, der in eine Geldforderung übergehen kann". Der Gesetzgeber hatte durchaus nicht nur die Sicherung des künftig entstehenden Schadensersatzanspruchs im Auge. Sonst hätte er die Wahrscheinlichkeit des Entstehens eines solchen Anspruchs zur Voraussetzung für den Erlaß eines Arrestes machen müssen. Es ist daher durchaus rechtsinstitutskonform, wenn Arreste auch als Druckmittel zur Erfüllung von Ansprüchen eingesetzt werden, die nicht auf eine Geldforderung gerichtet sind und deren Ubergang in eine Geldforderung der Anspruchsinhaber tunlichst vermeiden möchte; Voraussetzung ist nur, daß die Erfüllung des nicht auf eine Geldleistung gerichteten Anspruchs gefährdet ist, was aber sehr viel leichter der Fall ist als die Gefährdung der Erfüllbarkeit eines Zahlungsanspruchs. Schon daraus ergibt sich eine bemerkenswerte Folgerung: Arrest und Einstweilige Verfügung schließen sich nicht in der Weise aus, wie man häufig liest. Zugunsten von Forderungen, die in eine Geldforderung übergehen können, stehen sowohl ein Arrest wie eine Einstweilige Verfügung zur Auswahl. Für die Zulässigkeit eines Arrestes ist nicht Voraussetzung, daß die Erfüllung der künftigen Schadenersatzforderung gefährdet ist 3 . Es wäre auch ganz widersprüchlich, wenn eine künftige Forderung im allgemeinen nur dann eine taugliche Arrestforderung sein soll, wenn sie schon einklagbar ist4, eine künftig entstehende Schadenersatzforderung, in die eine Nicht-Geldleistungs-Forderung übergehen kann, aber ohne irgendwelche Einschränkung. Dient der Arrest der Sicherung einer Forderung, die in eine Geldforderung übergehen kann, dann ist für die Höhe der Forderung, wegen der Arrestbefehl ergehen

S.Art. 1142 code civil. A. M. OLG Köln JMBl NRW 84, 9; weitgehend auch die gesamte Erläuterungsliteratur. 4 OLG Düsseldorf NJW RR 94, 450, 452; 453; unbestr., s. etwa Thomas/Putio ZPO" § 917 Rdnr. 5. 2 3

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darf, der Geldwert der Nicht-Geldleistungs-Forderung entscheidend und nicht ein möglicherweise viel höherer Schadenersatzanspruch, der aus der Nicht- oder Schlechterfüllung dieser Forderung entstehen mag. Will man einen Arrest wegen des vermuteten höheren Schadenersatzanspruchs ausbringen lassen, so müssen dafür die besonderen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Arrests zugunsten einer künftigen, aber jetzt schon einklagbaren, oder einer bedingten Forderung vorliegen. Immerhin steht der Arrest als Druckmittel zur Erfüllung solcher Ansprüche nicht zur Verfügung, die nicht in einen Geldzahlungsanspruch übergehen können. Das mag zwar in modernen Zeiten, in denen fast alles kommerzialisierbar geworden ist, immer seltener vorkommen. Jedoch setzt der eindeutige Wortlaut von § 916 Z P O insoweit eine prinzipielle Grenze. Daß Einstweilige Verfügungen nur zugunsten von Ansprüchen statthaft seien, die nicht auf eine Geldleistung gerichtet sind, steht demgegenüber im Gesetz nirgendwo. In der einschlägigen Vorschrift des § 935 heißt es vielmehr nur: „In Bezug auf den Streitgegenstand" seien Einstweilige Verfügungen zulässig. Obwohl die große Ausnahme der sog. Leistungsverfügung für viele der Fälle heute überall anerkannt ist, entspricht es freilich heute5 unbestrittener Lehre und Rechtsprechung, daß eine Einstweilige Verfügung zur Sicherung eines Geldleistungsanspruches unstatthaft sei. Der historische Gesetzgeber hat es wohl im Prinzip auch so gesehen6. Jedoch ist dies kein Grund, sich nicht auf den gegenteiligen Wortlaut der Vorschrift zu besinnen. Die Begrenzung auf Ansprüche, die nicht auf eine Geldleistung gerichtet sind, hat in diesem Wortlaut auch nicht andeutungsweise Niederschlag gefunden. Auch daß das „streitige Rechtsverhältnis" im Sinne von § 940 ZPO neben anderen Ansprüchen nicht Zahlungsverpflichtungen beinhalten könne, und nicht auch deretwegen ein „einstweiliger Zustand geregelt" werden könne, ist keine ausgemachte Sache. Das Verhältnis der Tatbestandsmerkmale „Geldleistungsanspruch" (in § 916) und „streitiges Rechtsverhältnis" (in § 940) ist in den Gesetzesberatungen allem Anschein nach sowenig diskutiert worden wie in der nachfolgenden Rechtslehre. Die Geldleistungsverfügung, insbesondere eine auf Unterhaltszahlungen gerichtete, wird dementsprechend auch meist auf § 940 gestützt. Allerdings sollte man einer jahrzehntelang durchgehaltenen Interpretation von Rechtsvorschriften nicht verlassen, wenn es dafür keine 5 Als letzter hat sich Hellwig dagegen gewandt, ohne daß sich ein Autor mit ihm auseinandergesetzt hätte, s. System des deutschen Zivilprozeßrechts II (1912), 454 f. ' Motive, abgedruckt bei Hahn Gesammelte Materialien zu den Reichsjustizgesetzen II 1 1880).

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triftigen Gründe gibt. Solche existieren aber in der hier angeschnittenen Frage durchaus. Das Recht des Arrests ist viel zu schwerfällig, um den heutigen Bedürfnissen nach Einstweiligem Rechtsschutz noch gerecht werden zu können. Das hat im wesentlichen vier Gründe. 1. Die Möglichkeiten, hohe Geldforderungen verstreut bei Geldinstituten zu halten und trotzdem rasch über die Grenzen diffundieren zu lassen, haben sich enorm gesteigert. Angesichts der hohen Bestimmtheitsanforderungen, die wegen der deutschen Eigentümlichkeit des Arrestpfandrechts auch an die arrestbedingte Pfändung von Forderungen, insbesondere von Bankguthaben, gestellt werden 7 , kommt es häufig dazu, daß auch jener Gläubiger, der rechtzeitig einen Arrestbefehl erlangt, das Nachsehen hat. Insbesondere hält man, wenn auch nicht recht verständlicher Weise, sog. „Suchpfändungen" allgemein für unzulässig8. 2. Zudem sind die Möglichkeiten, die dem Arrestgläubiger zur Verfügung stehen, auch viel zu plump, um den subtilen Interessenausgleich leisten zu können, der bei Maßnahmen des Einstweiligen Rechtsschutzes geboten ist und den bezüglich der Einstweiligen Verfügung § 9 3 8 Z P O garantiert, der den Inhalt der Maßnahme weitgehend in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellt. Wird „das" Girokonto eines mittelständischen Betriebs gepfändet, das sich in Liquiditätsschwierigkeiten befindet (ohne deshalb schon im konkursrechtlichen Sinne zahlungsunfähig zu sein), so kann dies ohne Rücksicht darauf zum Zusammenbruch des ganzen Unternehmens führen, ob diese Konsequenz im Verhältnis zu Art und Höhe der Gläubigerforderung angemessen ist. Bei Betrieben gibt es, anders als bei Einzelpersonen, auch keinerlei sozialen Pfändungsschutz, so daß unter Umständen auch kleinere laufende Ausgaben nicht mehr geleistet werden können, von denen die Betriebsführung abhängt. Aus der englischen Praxis der Mareva injunction ist bekannt, daß fast routinemäßig soviel Finanzmittel freigegeben werden, wie der Schuldner benötigt, um sich anwaltlichen Rat zu verschaffen und gerichtliche Schritte einzuleiten. Auch dafür ist im Rahmen eines Arrestvollzugs kein Raum. 3. Weiter bedarf es eines flexiblen Einstweiligen Rechtsschutzes häufig auch zur ordnungsgemäßen Zwischenverwaltung komplexer Rechtsverhältnisse. Die Entscheidung des House of Lords in der Ärmelkanal-

S. statt aller Stein/Jonas/Brehm" (1995) § 829 Rdnr. 44. » LG Hannover DGVZ 85, 43; Stöber, Forderungspfändung' (1990) Rdnr. 485d; Münzberg ZZP 102 (1989) 132. 7

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tunnelsache9 hat offenbart, daß die Fortführung eines großen Vorhabens ohne Einstweiligen Rechtsschutz gefährdet sein kann, und sich enorme Schäden durch einen solchen vermeiden lassen, wenn der Konflikt darin besteht, daß sich die Beteiligten über die geldwerte Gegenleistung nicht einigen können, die im zugrundeliegenden Vertrag nur vage festgelegt ist. Würde man der herkömmlichen Dogmatik folgen, so müßte der Auftraggeber eine Einstweilige Verfügung auf Fortführung der Arbeiten und der Auftragnehmer einen Arrest wegen seines Zahlungsanspruchs erwirken. Für letzteren würde aber häufig der „Arrestgrund" fehlen. 4. Der vierte und letzte Grund für die häufig auftretende Ineffizienz des Arrestes ist das Fehlen eines raschen Zugangs des Gläubigers zu den nötigen Informationen. Ist das deutsche Prozeßrecht bezüglich des Zugangs der Prozeßparteien zu den Informationsquellen ohnehin schon rückständig10, so läßt es den Arrestgläubiger fast vollständig im Stich. Münzberg11 etwa nennt dafür, daß eine „Suchpfändung" rechtsmißbräuchlich sein soll, folgenden Grund: Der Gläubiger wolle mit einer solchen Maßnahme zahlreichen Banken jene Auskunftspflicht aufbürden, die nach § 807 den Schuldner trifft. Ganz sicher würde man daher auch einen Versuch des Gläubigers nicht zulassen, der Zentralverwaltung einer Großbank als Drittschuldnerin einen Pfändungsbeschluß zustellen zu lassen, mit dem gepfändet werden sollen: „Ansprüche auf Zahlungen und Leistungen jeglicher Art aus der gesamten Geschäftsverbindung mit der Drittschuldnerinu, insbesondere gegenwärtige und künftig entstehende Guthaben13 bei der Filiale X sowie bei einer anderen Filiale der Drittschuldnerin bzw. Ansprüche auf Auszahlung der künftig zugunsten der Antragsgegnerin entstehenden Salden, die ihr aus der laufenden Rechnung- und Geschäftsverbindung gebühren, insbesondere auf Auszahlung der sich zwischen den Rechnungsabschlüssen ergebenden Tagesguthaben." In bezug auf den Arrest greift § 807 aber nicht. Gerade wenn die Arrestvoraussetzungen vorliegen (und sonst hätte ja kein Arrest erlassen werden dürfen), vergeht viel zu viel Zeit bis zur Abgabe der in dieser 9 Channeltunnel Groups Ltd. v. Baidur Constructions Ltd. [1993] A.C. 334. Der Erlaß einer Einstweiligen Verfügung auf weitere Vertragsdurchführung gegen Zahlung eines Sockelbetrags mit der Möglichkeit, im ordentlichen Verfahren über die Spitze zu streiten, wurde prinzipiell für möglich gehalten und nur mit Rücksicht auf eine Schiedsklausel in Ausübung eines dem Gericht zustehenden Ermessens abgelehnt. 10 Dazu Schlosser ]7. 91, 599 ff. " AaO (Fn. 8). 12 Das L G Bochum 86, 3149 hält den Begriff „aus laufender Geschäftsverbindung" nicht für hinreichend bestimmt. 13 Den Begriff „Guthaben" betrachtet man als hinreichend bestimmt, Stöber, Forderungspfändung' (1990) Rdnr. 154, 163 ff.

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N o r m vorgesehenen eidesstattlichen Versicherung. Auch sonst läßt das Gesetz den Arrestgläubiger bezüglich der benötigten Auskünfte im Stich. Einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Auskunft über die Belegenheit von Vermögenswerten des Schuldners (der sich eventuell mit der Einstweiligen Verfügung rasch durchsetzen ließe), hat der Gläubiger nicht. Die Drittschuldnererklärung nach § 840 Z P O ist für ihn dann wertlos, wenn rein abstrakt das Bestehen von Einwendungen gegen die Forderung behauptet wird - und mehr verlangt das Gesetz dem Drittschuldner nicht ab14. Aktiv durchsetzen läßt sich die vollstreckungsrechtliche Auskunftsobliegenheit des Drittschuldners ohnehin nicht. Auf eigenes Risiko auf Zahlung zu klagen und damit den Drittschuldner zur Substantiierung seiner Einwendungen zu zwingen, ist ebenfalls nicht möglich, wenn der Gläubiger nur einen Arrest als Vollstreckungstitel hat und sich aus diesem Grunde die Forderung noch gar nicht hat zur Einziehung überweisen lassen können. Wie sieht demgegenüber die Lage aus, wenn man zur Sicherung von Geldforderungen auch Einstweilige Verfügungen zuläßt? II. Der Effizienzvorteil der Vermögensbeschlagnahme durch Einstweilige V e r f ü g u n g 1. Eine englische Mareva injunction, die dem Antragsgegner verbietet, in bestimmter Weise mit seinen Vermögensgegenständen umzugehen oder nicht umzugehen, insbesondere über Bankguthaben nicht zu disponieren, hat, wie man zu sagen pflegt, keine „in-rem" Wirkung; sie ist eine an den Schuldner und eine unbestimmte Vielzahl anderer Personen gerichtete Anordnung, die mit contempt-of-court Sanktionen bewehrt ist15. Demgegenüber hat eine entsprechende Einstweilige Verfügung des deutschen Rechts auch eine „dingliche" Wirkung. Dies folgt aus der Anwendung der §§ 136, 135 B G B . Allerdings wird eine Einstweilige Verfügung des Inhalts, über Bankguthaben nicht zu verfügen, anders als eine Arrestpfändung, nicht an den „Drittschuldner", also die kontoführende Bank, zugestellt. Aus diesem Grunde können die Fälle, in denen die Bank in ihrem guten Glauben geschützt werden muß, wenn sie Kontoverfügungen ausführt, die der Kunde in Mißachtung des gerichtlichen Verfügungsverbotes vornimmt, auch häufiger sein als Gutglaubensfälle nach Pfändung. Dennoch ist die aus §§ 136, 135 B G B folgende Beschlagnahmewirkung in vielerlei Hinsicht ein Vorteil gegenüber der von § 829 Z P O ausgehenden Beschlagnahme. Im Verfahren der 14

Stein/Jonas/Brehm21 § 840 Rdnr. 9 m. w. N. Dazu Dohmann aaO (Fn. 1) 160 ff; besonders betont in Bahanaft v. Bassante [1990] C H 13,42 = W.L.R. 232 ff [1989], 15

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Einstweiligen Verfügung braucht kein „Drittschuldner" angegeben, also vorher auch keiner ausfindig gemacht zu werden. E s genügt zudem, wenn der aus der Einstweiligen Verfügung Berechtigte einer Bank den Umstand, daß die gerichtliche Anordnung ergangen ist, formlos mitteilt. Damit wird die Bank, wenn sie Dispositionen ihres Kunden über seine Konten zuläßt, bösgläubig und verliert ihren Schutz. D e r Gläubiger hat zwar keine Möglichkeit, eine Drittschuldnererklärung der Bank zu verlangen. Aber dieser Nachteil wird dadurch mehr als ausgeglichen, daß er die Mitteilung v o m Erlaß einer Einstweiligen Verfügung an die Zentrale der in Frage kommenden Bank schicken kann. Angesichts der heutigen Computertechnik ist es für eine Bankzentrale ein geringer A u f w a n d , ausfindig zu machen, ob eine bestimmte Person ein K o n t o bei einer ihrer Filialen unterhält. In Frankreich ist es aus diesem Grunde durchaus erlaubt und üblich, Pfändungen eines eventuellen K o n t o s eines Schuldners bei einem bestimmten Bankunternehmen dadurch zu bewirken, daß die dort dem Gerichtsvollzieher (huissier) anvertraute Pfändungsanordnung der Zentrale der Bank zugestellt wird. Eine Kontenpfändung hat sogar automatisch die Wirkung, daß sämtliche beim fraglichen Kreditinstitut unterhaltene Konten gepfändet sind 16 . Diese ist sehr gut beraten, in Windeseile die nötigen Nachforschungen zu betreiben und die entsprechende Filiale zu informieren. Denn einen Schutz des guten Glaubens eines Bankangestellten in einer solchen Filiale gibt es nicht. D a s Letztere ist allerdings unvertretbar und würde im Anwendungsbereich der §§ 136, 135 B G B auch nicht auftreten. Jedenfalls aber zeigt das französische Beispiel, daß von einer solchen Maßnahme keine unzumutbaren Belastungen für die Banken ausgehen würden. 2. O b w o h l eine Einstweilige Verfügung, die dem Schuldner Dispositionen über Vermögensgegenstände untersagt, über §§ 136, 135 B G B „dingliche" Wirkung haben, kann sie zusätzlich mit Ordnungsstrafen nach § 890 Z P O bewehrt werden. D a s Verhältnis von §§ 136, 135 B G B zu den in letzterer N o r m vorgesehenen Ordnungsstrafen ist zwar; soweit ersichtlich, bisher weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur angesprochen worden. E s ist aber kein G r u n d ersichtlich, weshalb eine solche doppelte Sanktionierung unzulässig sein sollte; mag man vielleicht auch im Einzelfall auf Androhung und Verhängung von Ordungsmaßnahmen deshalb verzichten können, weil wegen der Existenz der §§ 136, 135 B G B sichergestellt ist, daß eine Zuwiderhandlung des Schuldners gegen das Verbot den Gläubiger nicht mehr trifft.

16 Art. 74 Gesetz vom 9. Juli 1991 n° 91-650. Dazu Miguet, civile Fascicule 2280, insbesondere Rdnr. 62 ff.

Jurisclasseur Procedure

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Die Bewehrung einer Dispositionsuntersagung mit Ordnungsstrafen hat zudem den Vorteil, daß man damit auch Zuwiderhandlungen des Schuldners erreichen kann, die dieser im Ausland, etwa bei ausländischen Banken, vornimmt. Es gibt nämlich keinen Grund, weshalb ein deutsches Gericht nicht Handlungen auf ausländischem Territorium verbieten und Verstöße sanktionieren können sollte17. Aus diesem Grunde erlassen englische Gerichte auch sog. Worldwide Mareva Injunctions18. Die sog. „Babanaft provisio" stellt nur sicher, daß Dritte im Ausland, also Personen, die nicht Antragsgegner sind, nicht gebunden werden, solange die injunction nicht im Ausland gegen sie für vollstreckbar erklärt worden ist. Wenn es also im Ausland Vorschriften nicht gibt, die unseren §§ 136, 135 BGB entsprechen, oder dort anderen als inländischen Gerichtsentscheidungen solche Wirkungen, wie in den genannten Vorschriften vorgesehen, nicht zuerkannt werden19, dann bleiben gerichtliche Verfügungen, die Vermögensdispositionen untersagen, immer noch mit Ordnungsstrafen sanktionierbar. 3. Der Einwand liegt nahe, eine Einstweilige Verfügung, die dem Schuldner verbietet, über Guthaben auf irgendwelchen Bankkonten zu verfügen oder in einer bestimmten Weise zu verfügen (etwa Barabhebungen oder Uberweisungen auf ausländische Konten zu unterlassen), sei zu unbestimmt. Aber gerade dies ist nicht der Fall. Solche gerichtlichen Anordnungen sind gewiß weitgehend und sollten nur dann erlassen werden, wenn Verdacht auf großangelegte Betrugs-, Veruntreuungs- oder auf strategisch unternommene Gläubigerbenachteiligungsfälle besteht. Zu unbestimmt sind solche Anordnungen aber nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man sich der für die Pfändung von Kontokorrent- und Girokonten in Deutschland üblichen umständlichen Terminologie, umgemünzt auf Einstweilige Verfügungen, bedient. Im übrigen erkennt auch das deutsche geschriebene Recht der Einstweiligen Verfügung eine umfängliche Vermögensbeschlagnahme, nämlich die Sequestration. Sie unterscheidet sich von einem umfänglichen Verbot, über Vermögensgegenstände zu disponieren, nur dadurch, daß eine andere Person bestellt wird, auf die das Verwaltungs- und Verfügungsrecht übergeht.

17 Dazu Schlosser, FS Lorenz (1991) 497 ff; Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht2 (1993) Rdnr. 396 - beide mit zahlreichen RsprNw. 18 Dazu Dohmann aaO (Fn. 1). " Zur Tauglichkeit auch ausländischer Gerichtsentscheidungen, die Wirkungen der §§ 136, 135 B G B im deutschen Inland auszulösen, Basedow in Schlosser (Hrsg.) aaO (Fn. 1), 131, 149. Koch (ebenda S. 258) hält eine vorherige Pfändung aufgrund der für vollstreckbar erklärten Mareva Injunction für zulässig und geboten.

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Diese Beobachtung leitet über zum 2. Punkt, in dem die Einstweilige Verfügung als Maßnahme des Einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten von Geldforderungen erhebliche Vorteile gegenüber dem Arrest hat. III. Die große Flexibilität des Instruments der Einstweiligen Verfügung Das Recht der Einstweiligen Verfügung bietet zwei Ansatzpunkte, um die Starrheiten des Rechtes des Arrestes zu überwinden. 1. Der eine ist die soeben erwähnte Sequestration. Bei ihr ist besonders uneinsichtig, wieso sie nur dann zur Verfügung stehen soll, wenn sich die Parteien über die Rechtszuständigkeit an Vermögenswerten streiten, und nicht auch zur Sicherung von Geldzahlungsansprüchen. Sie kann sich außer auf Einzelsachen oder Forderungen auch auf ein gewerbliches Unternehmen beziehen20. Dann sind ähnlich wie bei der Anordnung von Zwangsverwaltung oder der konkursrechtlichen Sequestration alle Konten eines Unternehmens beschlagnahmt, ohne daß sie individuell bezeichnet worden sein müßten. Daher muß es auch zulässig sein, eine Sequestration bezüglich sämtlicher Konten einer Person anzuordnen. Eine solche Maßnahme ist mindestens genauso bestimmt, wie die Sequestration einer Gesamtheit von zur Sicherheit übertragener Waren21. Da es keinen Typenzwang für die in §§ 938 ZPO erwähnte Sequestration gibt, ist das Gericht auch frei, deren Einzelheiten festzulegen22. Das Aufgabengebiet des Sequesters kann so festgelegt werden, daß die Sequestration für den Schuldner möglichst schonend ausfällt. So können dem Sequester bestimmte Rechtsgeschäfte im Interesse des Schuldners gestattet werden, wie etwa Zahlungen von Rechnungen für Rechts- und Steuerberaterdienste oder für sonstige vernünftigerweise in Anspruch genommene Dienstleistungen. Schließlich hat die Anordnung einer Sequestration einen besonderen Vorteil, wenn es darum geht, auch Vermögenswerte in Beschlag zu nehmen, die auslandsbelegen sind. Heute hat es sich nahezu weltweit durchgesetzt, daß die Konkurseröffnung auch das auslandsbelegene

20 O L G Hamm M D R 51, 742; LG Göttingen M D R 58, 246; O L G München M D R 84, 62 - obiter; Zöller/Vollkommer19 § 938 Rdnr. 7; Stein/Jonas/Grunskf § 938 Rdnr. 23. A. M. allerdings Baumbach/Lauterbach/Hartmann55 § 938 Rdnr. 21 ff mit der Begründung, „das" Unternehmen „unterliege" nicht der Zwangsvollstreckung. Es ist aber keine Regel des geltenden Rechts, daß der Inhalt einer Einstweiligen Verfügung sich nur auf einen Gegenstand beziehen kann, der der Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderung unterliegt. 21 Für diesen Fall Sequestration zulassend O L G München aaO (Fn. 20). 22 Zöller/Vollkommer aaO Rdnr. 9; Stein/Jonas/Grunsky aaO Rdnr. 22; unstr.

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Vermögen des Gemeinschuldners erfaßt und daß dies im jeweiligen Ausland anerkannt wird 23 . Es kann dann nicht mehr schockieren, wenn auch für andere Formen einer gerichtlich angeordneten Zwangsverwaltung die Auslandsanerkennung geltend gemacht wird. Insbesondere in den Ländern des common law ist die Figur eines durch Gerichtsbeschluß im Wege der Mareva injunction eingesetzten „receivers" wohl bekannt. Ihm entspricht der deutsche Sequester nicht nur funktional, sondern auch in der rechtlichen Ausgestaltung weitgehend. Die englischen Gerichte, welche selbst beanspruchen, daß die von ihnen eingesetzten „receiver" auch das im Ausland belegene Vermögen des Antragsgegners kontrollieren 24 , werden sicherlich so konsequent sein, die Einsetzung eines Sequesters durch ein deutsches Gericht auch dann und insoweit für wirksam zu halten, als in England belegenes Vermögen betroffen ist. Die irische Rechtsprechung hat entsprechendes bereits getan25. 2. Der zweite Weg ist eine Flexibilisierung des Verbots, über Vermögensgegenstände, insbesondere über Bankkonten, zu verfügen. Das Gericht kann dem Verfügungsgegner einen Freibetrag lassen, den dieser in zeitlichen Abständen abheben kann und eventuell auf einem von der Beschlagnahmewirkung der §§ 136, 135 BGB freigestellten Bankkonto verwalten darf. Unterhält der Schuldner einen laufenden Betrieb, oder eine größere Vermögensverwaltung, so könnte sich empfehlen, zusätzlich zur Gewährung eines Freibetrags zu verfügen, daß der Schuldner Dispositionen nur mit Zustimmung des Gerichts vornehmen darf, so wie es in England häufig bei Mareva Injunctions geschieht. Allerdings wäre dies für Deutschland ohne Präzedenzfall. Die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens ist denn auch nicht unproblematisch. Wir kennen nur die Aufhebung einer Maßnahme des Einstweiligen Rechtsschutzes wegen veränderter Umstände, - §§ 936, 927 ZPO. Bei der Einstweiligen Verfügung läßt man allerdings auch deren Abänderungen zu, und zwar auch solche auf Antrag des Gläubigers26. Das Gesetz hat jedoch nur Maßnahmen prinzipiell für die Dauer des Hauptsacheverfahrens endgültigen Zuschnitts im Auge, wenngleich natürlich eine geänderte Einstweilige Verfügung theoretisch und später abermals geändert werden kann. Deshalb ist für eine Änderung von Arrest oder Einstweiliger Verfügung

23

Für Deutschland B G H Z 95, 256. Für die Schweiz, Art. 166 1PR-G. Derby v. Weiden Nrn. 3 und 4 [1987] L R C (Comm) 835, 843. 25 Larkins v. National Union of Mine Workers (1985) Irish Reports 671; ganz generell in diesem Sinne McLachlan, Singapore Conferences on International Business Law, Conference VII, National University of Singapore page 16 f, dem ich die neueren Rechtsprechungsbeispiele verdanke. 26 Stein/Jonas/Grunsky aaO § 936 Rdnr. 6; MünchKommZPO-//ez>zze § 936 Rdnr. 22. 24

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auch ein sehr schwerfälliges Verfahren vorgesehen. Es muß Endurteil ergehen, § 927 Abs. 2 ZPO, was mündliche Verhandlung voraussetzt27. Es fragt sich aber, ob die inhaltliche Ausgestaltungsfreiheit, die § 938 ZPO dem Gericht gewährt, nicht doch auch so weit reicht, daß generell ein sehr breites Verbot ausgesprochen wird, das Gericht sich aber Einzelausnahmen vorbehält, die außerhalb des in § 927 Z P O angelegten Verfahrens bewilligt werden können. Hinzukommen müßte aus praktischen Gründen, daß bei einem Kollegialgericht von vornherein die Zuständigkeit eines Richters für solche Ausnahmen festgelegt wird. In diesem Zusammenhang sollte man sich darauf besinnen, daß das Gericht nach einer im Wege einer Einstweiligen Verfügung angeordneten Sequestration weitere Einzelheiten in einem Beschluß festlegen kann28. So wie solche Einzelheiten dem Vollstreckungsgericht überantwortet werden können29, so müßten sie bei einem Kollegialgericht auch dem Einzelrichter übertragen werden dürfen. Lehnt man dies ab, so hat das Gericht aber auf jeden Fall die Möglichkeit, eine beliebige Person zu ermächtigen, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Eine solche Maßnahme wäre ein Weniger als die Anordnung einer Sequestration und muß deshalb zulässig sein. Auch die Sequestration ist eine Totalbeschlagnahme mit der Maßgabe, daß der Sequester einzelne Vermögenswerte (bei Sequestration einzelner Sachen bestimmte Verwaltungseinnahmen; bei der Sequestration eines Unternehmens einzelner Vermögenswerte aus dem Unternehmen) freigeben kann. Dann fällt es nicht aus dem Rahmen, wenn eine Person nicht zur generellen Verwaltung, sondern nur zur Einzelfreigabe von Vermögenswerten ernannt wird. IV. Die Eignung der Einstweiligen Verfügung zur Regelung komplexer Rechtsverhältnisse, aus denen sich Zahlungsansprüche ergeben 1. Daß bei einem Großbauprojekt bauausführende Firmen in Schlüsselpositionen damit drohen, die Baustelle zu verlassen, wenn nicht bestimmte Zahlungen geleistet werden, kommt vor allem im internationalen Anlagengeschäft nicht ganz selten vor. Meist steht dahinter, wie im Eurotunnelfall, Uneinigkeit über einen besonderen Vergütungsanspruch, den der Auftragnehmer aus einer Mehrung des Auftragsvolumens ableitet und den der Auftraggeber dem Grunde oder der Höhe nach leugnet. 27 Dies wird in der Kommentarliteratur als selbstverständlich unterstellt, wenn immer wieder von der „Verhandlung" die Rede i s t ; s. MünchKommZPO-/i«nze § 927 Nr. 16; Stein/Jonas/Grunsky aaO § 927 Rdnr. 14. 28 Etwa O L G München aaO (Fn. 20). 29 O L G München aaO (Fn. 20).

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Stürneri0 berichtet von einem Fall, in dem die Interessenlage umgekehrt war. Der Auftraggeber wollte den an der Fortsetzung der Arbeiten dringend interessierten Auftragnehmer loswerden. Eine Automobilherstellerin hatte mit einem ausländischen Unternehmen einen auf längere Zeit angelegten Kooperationsvertrag geschlossen, wonach die Montage eines Wagentyps im entsprechenden Ausland vonstatten gehen sollte. Der ausländische Vertragspartner hatte zur Übernahme des Auftrags riesige Investitionen vorgenommen, an deren Finanzierung bei ungünstiger Produktionsentwicklung die Auftraggeberin Beteiligung zugesagt hatte. Als die Konjunktur zurückging, war der fragliche Wagentyp besonders betroffen. Der Hersteller erklärte, bis auf weiteres die Montage wieder in eigene Regie übernehmen zu wollen. Das Landgericht gewährte die begehrte Einstweilige Verfügung, durch die die Herstellerin angewiesen wurde, die Montage im fraglichen Ausland in dem Umfange fortführen zu lassen, wie die zurückgegangene Nachfrage es zuließ, und zu diesem Zweck die Ausgangsteile zu liefern. Völlig zu Recht hat das LG Darmstadt das Problem bei § 940 ZPO angesiedelt. Natürlich mußte als Voraussetzung für den Erlaß der Einstweiligen Verfügung der Fortbestand der Vertragsbeziehungen wahrscheinlich sein. Stürner31 weist in diesem Zusammenhang auf § 649 BGB hin. Im Fall des LG Darmstadt ging es in der Tat auch darum, ob diese Vorschrift konkludent abbedungen war. Dies ist aber eine materiell-rechtliche Frage, mit der sich der vorliegende Beitrag nicht befaßt. In Anwendung von § 940 ZPO 32 lag es also im Ermessen des Gerichtes, zu entscheiden, daß bis zur Klärung im Hauptsacheprozeß die Fortführung des Vertrages nur auf einer reduzierten Basis angeordnet wird, um wenigstens die Funktionstüchtigkeit der Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Mit einer solchen Maßnahme wird allerdings in erheblichem Umfange die Hauptsache vorweggenommen. Jedoch ist dies bei Einstweiligen Verfügungen viel häufiger der Fall, als man sich mit der Formel eingesteht, nur ausnahmsweise dürfe die Hauptsache vorweggenommen werJ0 FS Zeuner (1994) 513 ff. Die durch Vergleich in der Berufungsinstanz obsolet gewordene Entscheidung des LG Darmstadt (12 O 922/92) hat dem Verfasser vorgelegen. Das O L G Frankfurt hat einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt, bevor der Vergleich zustande kam: 24 U 99/93. 31 AaO 518. 32 Walker, Der Einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), Rdnr. 125 ff, hat mit vollem Recht geltend gemacht, daß als Rechtsgrundlage für die Anordnung des Erhalts eines bestimmten körperlichen Zustands einer Sache und der Anordnung bloßer Unterlassungsgebote § 940 neben § 935 überflüssig wäre.

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den. Bei Unterlassungsverfügungen wird die Hauptsache zwangsläufig vorweggenommen, wenn es an einem bereits entstandenen parallel laufenden Wiederherstellungsanspruch fehlt. D i e vielfältigen Einstweiligen Verfügungen, die im Verhältnis von Vermieter und Mieter ergehen und Duldungsgebote der einen oder anderen Seite aussprechen 3 3 , sind bei Licht besehen auch nichts anderes als die Vorwegnahme des H a u p t streits u m den U m f a n g des Mietgebrauchs 3 4 . 2. N o c h nicht angesprochen ist in Rechtsprechung und Literatur bisher die Frage, wie dem U m s t a n d Rechnung zu tragen ist, daß in solchen Fällen beide Parteien Ansprüche gegeneinander haben, die zwar nicht in einem unmittelbaren Zug-um-Zug-Verhältnis stehen, die aber gerechterweise doch beide in die Interimsregelung einbezogen werden müssen. Die Einstweilige Verfügung kann in einer solchen Situation so gefaßt werden, daß die Weiterarbeit nur für den Fall angeordnet wird, daß termingenau festgelegte Abschlagszahlungen geleistet werden. O b darüber hinaus im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes ein „Widerantrag" gestellt werden kann, ist in Rechtsprechung und Lehre bisher nicht erörtert worden. Wenn aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden wird, spricht aber nichts gegen die Zulässigkeit eines solchen Antrags, der dann meist die F o r m eines hilfsweise gestellten „Widerantrags" annehmen wird. D e r Auftragnehmer, dem das „Verlassen" der Baustelle verboten werden soll, kann also im Gegenzug hilfsweise die Anordnung von Abschlagszahlungen beantragen. So erhält auch er einen Titel. Die praktischste L ö s u n g wäre es, wenn das Gericht sowohl die Weiterführung der Arbeiten wie die Leistung von Abschlagszahlungen anordnen könnte, ohne daß spezifische Anträge gestellt werden müßten. J e d o c h wäre solches v o m geltenden Recht des § 938 Z P O nicht mehr gedeckt. D i e Ermessensfreiheit des Richters bei der Ausgestaltung einer Einstweiligen Verfügung kann nicht soweit gehen, daß auch eine Anordnung zugunsten eines Verfahrensbeteiligten ergeht, der gar keinen Antrag auf Erlaß einer Einstweiligen Verfügung gestellt hat. Jedoch handelt es sich u m eine Art des Einstweiligen Rechtsschutzes, in der eine mündliche Verhandlung ohnehin unausweichlich ist, so daß die nötigen Anträge rechtzeitig gestellt werden können.

S. die Beispiele bei Baumbach/Lauterbach/Hartmann" § 940 Rdnr. 36. Zu Recht krit. gegenüber dem Postulat „Keine Vorwegnahme der Hauptsache" Walker aaO Rdnr. 66 ff, 85 ff; Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht" 1 (1987) § 76 II 2. 33 34

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V. Einstweilige Verfügungen im Interesse der Informationsbeschaffung Am schwierigsten ist es, nach dem Vorbild der „disclosure" - Bestandteile englischer Mareva-Injunctions die Einstweilige Verfügung als Instrument der Informationsbeschaffung dienstbar zu machen. Das hat seinen Grund in folgendem: Eigenartigerweise hat in Deutschland, und fast nur in Deutschland 35 , das Recht auf Information materiell-rechtliche Gestalt angenommen. Es gibt primär nur materiell-rechtliche Auskunftsansprüche, die im allgemeinen umständlich im Wege einer Stufenklage geltend gemacht werden und nur in unvollständiger Form, nämlich als prozessuale Lasten („Aufklärungsobliegenheiten"), im Prozeßrecht wieder erscheinen. Auch wiederum unter dem Eindruck der tradierten Vorstellung, daß der Einstweilige Rechtsschutz die Entscheidung über die Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, ist man nur ganz zögerlich bereit, Informationsansprüche im Wege des Einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzen zu lassen36. Da jedoch der Auskunftsanspruch seinen Zweck nur erfüllt, wenn er rasch befriedigt wird, ist eine neuerdings aufkommende Gegentendenz sehr zu begrüßen 37 . Sie kann an eine Bemerkung von Fritz Baur>% anknüpfen. Dann, wenn die Sicherung oder Erfüllung des Hauptanspruchs durch Einstweilige Verfügung nur nach vorheriger Auskunft (etwa über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners) möglich sei, solle auch durch Einstweilige Verfügung die Erfüllung eines Auskunftsanspruchs angeordnet werden können. Man muß sich indes fragen: Warum nur unter diesen engen Voraussetzungen? Hinter der genannten Bemerkung steht die Prämisse: Wenn Einstweiliger Rechtsschutz in effizienter Weise nicht gewährt werden kann, ohne daß eine Auskunftsanordnung in ihn integriert ist, dann kann auch im Wege der Einstweiligen Verfügung Auskunftserteilung angeordnet werden. Es muß daher auch eine Einstweilige Verfügung möglich sein, nach der die Belegenheit für Vermögensgegenstände offenbart werden muß, wenn nur so der Arrest effizient vollzogen werden kann. Allerdings muß auch dann ein materiell-rechtlicher Verfügungsanspruch glaubhaft gemacht werden,

S. etwa den Kontrast zur Schweiz bei Isaak Meier in Schlosser (Hrsg.) aaO 67 ff. KG G R U R 88, 404; O L G Hamm NJW RR 92, 640; im Prinzip auch O L G Karlsruhe NJW 84, 1906; Baumbach/Lauterbach/Hartmann» § 940 Rdnr. 17; Zöller/Vollkommen § 940 Rdnr. 9; Thomas/Putzo" § 940 Rdnr. 4 f; Baur, Studien zum Einstweiligen Rechtsschutz (1965) 59. 37 Rosenberg/Gaul/Schilken aaO § 76 II 2 e, cc. In der der Entscheidung B G H Z 93, 191 zugrundeliegenden Sache war immerhin durch Einstweilige Verfügung der Besichtigungsanspruch nach § 809 BGB durchgesetzt worden. 38 AaO (Fn. 36); zust. Stein/Jonas/Grunsky aaO vor § 935 Rdnr. 53. 35 36

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der auf Auskunft gerichtet ist. Den Zustand des „Informiertseins" als einen einstweiligen Zustand im Sinne von § 940 Z P O zu betrachten, der „geregelt", d. h. geschaffen werden könnte, ist nicht möglich. Ein Auskunftsanspruch kann aber durchaus Teil eines Naturalrestitionsanspruchs sein, wenn die zum Schadenersatz verpflichtende Handlung gerade darin besteht, daß der Verletzte das Wissen darum verloren hat, wie die ihm zustehenden Werte diffundiert sind. Auf diesem Gedanken beruhen die §§ 101a U r h G , 14a Abs. 3 G s c h m G und 19 MarkG, die daher durchaus der analogen Anwendung fähig sind. Auch das Prinzip, daß Auskunftsansprüche dann, wenn die Rechtsverletzung offenkundig ist, im Wege der Einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden können, läßt sich den genannten Normen entnehmen. VI. Ausblick Reißt man die starre Barriere ein, die nach tradiertem Verständnis unseres Einstweiligen Rechtsschutzes zwischen Arrest und Einstweiliger Verfügung besteht, so wird sich noch manches weitere Problem stellen. So wird die Frage auftauchen, ob nicht Arrest und Einstweilige Verfügung kombiniert werden können. Manchmal mag dem entgegenstehen, daß nicht für beide ein Anordnungsgrund besteht und der Gläubiger sich entscheiden muß. Meist wird er aber in der Tat auf beides ein Anrecht haben: Wegen der bekannten Vermögenswerte auf den Arrest, um durch Arrestpfändungen gegenüber dem Drittschuldner ganz klare Verhältnisse zu schaffen und sich das Arrestpfandrecht zu sichern, wenn man letzteres nicht als willkürliche Privilegierung des erstpfändenden Gläubigers für verfassungswidrig hält 39 ; wegen unbekannter Bankguthaben auf die Einstweilige Verfügung, um sich nötigenfalls deren zusätzliche Vorteile zu sichern. Auch die Frage nach dem „Einstweiligen" Rechtsschutz nach Erlangung eines vollstreckbaren Titels in der Hauptsache wird sich neu stellen. Das O L G Düsseldorf 40 hat jüngst einen Arrest zugunsten eines Unterhaltsgläubigers erlassen, der in Gestalt einer Einstweiligen Anordnung schon einen Vollstreckungstitel hatte. Nur so ließ sich in der Tat der Unterhaltsanspruch gegen den zur Wohnsitzverlegung ins Ausland entschlossenen Unterhaltsschuldner sichern. Es ist durchaus nicht frivol, auch eine Sicherung von Zwangsvollstreckung aus einem vorhandenen Titel durch Einstweilige Verfügung ins Auge zu fassen. In beängstigende Kalamitäten wird die Aufgabe der tradierten Sicht unsere Rechtskultur sicherlich nicht bringen. 59 So Schlosser ZZP 97 (1984) 130 ff. Krit. dazu Walker, Der Einstweilige Rechtsschutz ... (1993) Rdnr. 411 f m. w. N. « AaO (Fn. 4) 452.

Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden Grenzen des § 389 BGB

KARSTEN S C H M I D T

I. Zum Thema 1. Ein Glossatorenstreit für die Gegenwart? Zu unseren Studienzeiten geisterte noch ein altehrwürdiger Glossatorenstreit durch die Hörsäle1: Bringt die Aufrechnungslage die gegenseitigen und gleichartigen Forderungen automatisch zum Erlöschen (so Martinus), oder bedarf es hierfür einer Erklärung des aufrechnenden Gläubigers (so Azo)l Ausgangspunkt der Meinungsstreitigkeiten waren Formulierungen in den Quellen, die „ipso iure compensatur" und ähnlich lauten2. Wir Heutigen haben mit den §§ 387, 389 BGB so selbstverständlich zu arbeiten gelernt, daß uns die hinter dem Aufrechnungskonzept des Gesetzes verborgenen Wertungsprobleme kaum noch bewußt, die Quellenstreitigkeiten unter den Glossatoren wohl nur noch als Bestandteil der juristischen Ideengeschichte von Belang sind. Allerdings haben Kritiker des BGB schon vor einhundert Jahren behauptet, daß diese Probleme durch die §§ 387, 389 BGB nur verdrängt und nicht wirklich bewältigt seien3. Hätten diese Autoren gewußt, daß durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs neue Zweifel in das Konzept des Gesetzes getragen worden wären - sie hätten vermutlich frohlockt. 2. Der klassische Ausgangsfall: BGHZ

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a) Der Bundesgerichtshof hatte im Jahr 1958 über folgenden Fall zu entscheiden5: Eingeklagt waren 8249,38 DM zuzüglich Zinsen als Aufwendungsersatz wegen Instandsetzungsarbeiten an einem vom Kläger verwalteten Grundstück des Beklagten (bzw. eines Rechtsvorgängers). Der Beklagte hatte die Höhe der Klagforderung bestritten und die Auf4

' Dazu Deichmann, Gruchot 42 (1898), 257, 263. Zusammenstellung bei Eisele, AcP 55 (1872), 167, 201 f. 3 Vgl. nur Lippmann, JherJb 43 (1901), 435 ff. 4 B G H Z 27, 123 = J Z 1958, 504 m. Anm. Lehmann = NJW 1958, 1040 = WM 1958, 725. 5 Der Sachverhalt ist ausführlich abgedruckt nur in WM 1958, 725. 2

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rechnung mit Schadensersatzforderungen wegen der unberechtigten Veräußerung von Wertpapieren im Nominalwert von 5000,- D M erklärt. Er hatte außerdem Widerklage auf Schadensersatz erhoben. Das Berufungsgericht hatte die Klagforderung auf Verwendungsersatz auf 7369,52 D M zuzüglich Zinsen bemessen, die Gegenforderung des Beklagten auf 22 025,36 DM. Es hatte deshalb das klagabweisende Urteil des Landgerichts bestätigt und auf die Widerklage den Kläger nach Abzug der Klagforderung und eines bereits ausgeklagten Teilbetrages zur Zahlung von 16 175,12 D M verurteilt. Die Höhe der mit der Widerklage geltend gemachten Schadensersatzforderung beruhte darauf, daß die unrechtmäßig veräußerten Aktien nachträglich im Kurs gestiegen waren. Mit der Revision machte der Kläger u. a. geltend, die Gegenforderung sei mit der Aufrechnung rückwirkend bis auf den bereits ausgeklagten Teil erloschen. Der II. Zivilsenat folgte dieser Rechtsansicht nicht. Der Leitsatz der Entscheidung lautet: „Rechnet der Gläubiger einer Schadensersatzforderung, die sich im Laufe der Zeit erhöht hat, mit dieser Schadensersatzforderung gegen eine niedrigere Forderung seines Schuldners auf, dann hat die Aufrechnung jedenfalls dann, wenn lediglich der Gläubiger aufrechnen konnte, nur zur Folge, daß die Forderungen in dem Umfange erloschen sind, in dem sie sich zur Zeit der Aufrechnungserklärung gedeckt haben." Und in den Entscheidungsgründen lautet die Konsequenz: „Die von dem Beklagten erklärte Aufrechnung hat daher entgegen der Meinung der Revision lediglich bewirkt, daß die Schadensersatzforderung in dem Umfange erloschen ist, in dem sie sich im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung mit der Forderung des Klägers deckte." b) Das Urteil des B G H hat im Ergebnis wohl allseitig Zustimmung gefunden 6 . Es hat aber der alten Diskussion über Aufrechnungslage, Aufrechnungserklärung und Aufrechnungsfolgen einen bis dahin ungeahnten Aufschwung gegeben und die Frage entstehen lassen, ob sich die zivilrechtliche Praxis und Dogmatik bereits hinreichende Sicherheit über die Prinzipien der §§ 387, 389 BGB verschafft hat.

6 Vgl. Latenz, Schuldrecht, Bd. II, 14. Aufl. 1987, § 18 VI a 2 Fn. 53, § 18 VI d Fn. 74; Gernbuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl. 1994, § 12 VIII 4; Karsten Schmidt, Geldrecht (= Sonderausgabe aus Staudinger, 12. Aufl.), 1983, vor § 244 Rdn. C 56; Erman/ H.P. Westermann, BGB, 9. Aufl. 1993, §389 Rdn. 4; Jauernig/Stürner, BGB, 7. Aufl. 1994, § 389 Anra. 1; v. Feldmann, in : MünchKomm. BGB, 3. Aufl. 1994, § 389 Rdn. 7; Palandt/Heinrichs, BGB, 55. Aufl. 1996, § 389 Rdn. 2; Soergel/Zeiss, BGB, 12. Aufl. 1990, § 389 Rdn. 1; Staudinger/Kaduk, BGB, 12. Aufl. 1994, § 389 Rdn. 31; nach Manuskriptabschluß Staudinger/Gursky, BGB, 13. Aufl. 1995, § 389 Rdn. 40.

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3. Das Aufrechnungskonzept

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des BGB

Die Prinzipien, von denen soeben die Rede war, sind an sich bekannt und stehen außerhalb jeder Diskussion: Die Aufrechnungslage bringt gegenseitige Forderungen nicht ipso iure zum Erlöschen7. Im gemeinen Recht wie in den wesentlichen Partikularrechten war bereits vor dem Erlaß des BGB anerkannt, daß es für den Eintritt der Kompensationswirkung einer Aufrechnungserklärung bedürfe8. Die Aufrechnungserklärung ist Gestaltungsgeschäff. Ihre Maßgeblichkeit für die Aufrechnungsfolgen folgt aus dem Gebot der Rechtssicherheit ebenso wie aus der Notwendigkeit, den wechselseitigen Gläubigern Entscheidungsspielraum zu geben. Die Konsequenz wird in den Motiven folgendermaßen geschildert10: „Die Kompensationslage erzeugt also keine Einrede im materiellen Sinne, die vollzogene Kompensation erzeugt, wie die Zahlung, die materielle Einwendung, daß der Gläubiger befriedigt sei. Vor erfolgter Aufrechnung stehen sich die beiderseitigen Forderungen von der Kompensationslage völlig unberührt gegenüber." Ist aber die Aufrechnung erklärt, so wirkt sie nach § 389 BGB in dem Sinne zurück, „daß die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind." Diese Regelung bestimmt das Thema der hier anzustellenden Überlegungen. Die Motive11 stellen heraus, daß ohne die in § 389 BGB angeordnete Rückwirkung „klares und einfaches Recht geschaffen würde" und daß eine bloße ex-nunc-Wirkung „auch mit der dem Entwurf zu Grunde liegenden Auffassung, wonach sich beide Forderungen bis zur Aufrechnungserklärung des einen oder anderen Theiles unabhängig und unbeeinflußt von einander gegenüberstehen, besser in Einklang stände. Denn nicht ohne Grund kann gesagt werden, daß mit der Aufstellung der 7 Vgl. demgegenüber Art. 1290 Code civil: „La compensation s'opère de plein droit par la seule force de la loi, même à l'insu des débiteurs; les deux dettes s'éteignent réciproquement, à l'instant où elles se trouvent exister à la fois, jusqu'à concurrence de leurs quotités respectives."; § 1438 ABGB: „Wenn Forderungen gegenseitig zusammentreffen, die richtig, gleichartig, und so beschaffen sind, daß eine Sache, die dem einen als Gläubiger gebührt, von diesem auch als Schuldner dem andern entrichtet werden kann; so entsteht, insoweit die Forderungen sich gegeneinander ausgleichen, eine gegenseitige Aufhebung der Verbindlichkeiten (Kompensation), welche schon für sich die gegenseitige Zahlung bewirkt." 8 Vgl. für das gemeine Recht Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. II, 9. Aufl. 1906 (Nachdruck 1963), S. 463 ff. ' A 11g. M.; vgl. nur Larenz (Fn. 6), § 18 VI c; a. M. noch Lippmann, JherJb 43 (1901), 435, 492 ff. 10 Mot., in: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, 1899 (Neudruck 1979), S. 59. " Mugdan (Fn. 10), S. 60.

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rückwirkenden Kraft im Wesentlichen doch anerkannt werde, daß schon von dem Zeitpunkte an, wo die Forderungen sich kompensationsfähig gegenübertreten, die eine von der anderen beeinflußt sei, und daß die Verlegung der Tilgung in die Vergangenheit bei Festhalten der erwähnten Auffassung nur im Wege positiver Satzung durch eine juristische Fiktion möglich sei." Schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten des B G B hat Lippmann - ein rechtswissenschaftlich engagierter Richter - auf den aus den Materialien sprechenden „Antagonismus beider Prinzipien" aufmerksam gemacht12: des Prinzips, wonach die Forderungen einander während der Aufrechnungslage „völlig unberührt" gegenüberstehen sollen, und des Prinzips der Rückwirkung. Lippmann selbst ein Gegner der Rückwirkungstechnik - meinte, diese Technik führe am Ende „nicht bloß zur Annahme einer Rückwirkung, sondern in letzter Konsequenz zu der alten ipso iure Theorie. Die Thatsache der Befriedigung liegt vollendet vor. Sie wird durch die Aufrechnungserklärung nur konstatirt." II. Ex-nunc-Wirkung durch Manipulation am Aufrechnungstatbestand? Aufrechnungserklärung: 1. Gleichartigkeit durch die Fremdwährungsaufrechnung als Modell? Wer das Rückwirkungsproblem verdrängen will, ohne evident mit dem Konzept der §§ 387, 389 B G B zu brechen, kann dies am besten erreichen, indem er Aufrechnungslage und Aufrechnungserklärung zeitlich koordiniert: Werden die einander gegenüberstehenden Forderungen erst durch die Aufrechnungserklärung gleichartig, so versteht sich von selbst, daß die Aufrechnungswirkung auch nach § 389 B G B nur für die Zukunft eintritt. Klassisches Beispiel ist die Aufrechnung des DMSchuldners gegen eine im Inland zu begleichende einfache Fremdwährungsschuld. Ist eine in ausländischer Währung ausgedrückte Geldschuld im Inland zu zahlen, so kann die Zahlung nach § 244 Abs. 1 B G B in Inlandswährung erfolgen, sofern nicht die Zahlung in ausländischer Währung, wie es das Gesetz ausdrückt, „ausdrücklich bedungen" ist13. Die herrschende, auch vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung geht dahin, daß Geldforderungen unterschiedlicher Währungen ungleichartig sind14. Nach herkömmlichem Verständnis des Geldes und der Lippmann, JherJb 43 (1901), 435 ff, 438. Vgl. zur Bedeutung dieser Formel Karsten Schmidt (Fn. 6), § 244 Rdn. 6 ff, 37 ff. 14 B G H Z 8, 339, 343; 22, 395, 400; B G H LM § 395 BGB Nr. 2; KG N J W 1989, 501, 503; v, Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 387 Rdn. 16; Karsten Schmidt (Fn. 6), § 244 Rdn. 47; v. Hoffmann, IPRax 1981, 155, 156; a. M. O L G Düsseldorf, Recht 1924 Nr. 524; Birk, A W D 1969, 12, 15. 12 13

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Geldschuld im Zivilrecht - insbesondere nach dem Verständnis der Geldschuld als einer der Gattungsschuld ähnelnden Sachschuld15 - mag dies nahezu selbstverständlich scheinen'6. Versteht man demgegenüber Geldschulden richtig als Wertverschaffungsschulden' 7 , so scheint dies weniger selbstverständlich, vielmehr schiene der Standpunkt vertretbar, daß die Währung nur noch ein Denominierungsfaktor und jede Geldschuld der anderen gleichartig ist18. Darauf wird unter IV. 2. zurückzukommen sein. Vorerst ist nur der Standpunkt der herrschenden Meinung zu konstatieren, wonach der mit einer Heimwährungsforderung aufrechnende Fremdwährungsschuldner erst durch die Aufrechnungserklärung die Gleichwertigkeit herstellt, folglich mit Wirkung ex nunc aufrechnet". Für die Verrechnung der gegenseitigen Forderungen ist dann der Umrechnungsmaßstab im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung maßgebend. Diese Technik könnte maßstabbildend sein: Kann nicht aus ihr die allgemeine Regel abgeleitet werden, daß die Rückwirkungsregel des § 389 BGB da zurückzutreten hat, wo es um die Bewertung der aufzurechnenden Forderungen geht? Und ist nicht die Rückwirkungsfrage bei der Aufrechnung mit Schadensersatzforderungen ein reines Bewertungsproblem? 2. Die vermeintliche Zauberformel: Ungleich artigkeit von Geldsummenschuld und Geldwertschuld? a) Den Weg zu der soeben angedeuteten Verallgemeinerung der exnunc-Regel über den Aufrechnungstatbestand des § 387 B G B hat man über die Rechtsfiguren der Geldsummenschuld und der Geldwertschuld gesucht. Als Geldsummenschulden bezeichnet man diejenigen Geldschulden, deren Höhe durch einen Nominalbetrag, d. h. durch ein bestimmtes Vielfaches einer Währungseinheit, bestimmt ist; Geldwertschulden sind dagegen diejenigen Geldschulden, deren Umfang nicht nominell in Währungseinheiten bestimmt, sondern aus dem Wert anderer Güter - z. B. aus dem Geldwert eines zu ersetzenden Gegenstands oder eines entgangenen Gewinns - zu errechnen ist20. Schon ein Blick auf § 3 Währungsgesetz zeigt Ähnlichkeiten mit Fremdwährungsschulden, die bezogen auf die Inlandswährung gleichfalls als Geldwertschul-

So namentlich noch Fülbier, N J W 1990, 2797 ff. Charakteristisch R G Z 106, 99; O L G Frankfurt O L G Z 1967, 13, 17 = NJW 1967, 501, 503 m. Anm. Haug.; K G NJW 1988, 2181. 17 Grundlegend Savigny, Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1,1851, S. 440 ff. 18 Vgl. Gernhuber (Fn. 6), § 12 III 5. " R G Z 167, 60, 63; weitere Nachweise bei Karsten Schmidt (Fn. 6), § 244 Rdn. 49. 20 Vgl. nur O L G Köln NJW 1960, 388; Karsten Schmidt (Fn. 6), vor § 244 Rdn. D 44. 15

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den bezeichnet werden könnten, und hier mag der Grund dafür liegen, daß das BGH-Urteil von 1958 verschiedentlich als ein Entdeckungsereignis betrachtet wurde: als Entdeckung der Ungleichartigkeit von Geldwertschulden und Geldsummenschulden, die erst durch die Aufrechnungserklärung gleichartig würden. b) Die angebliche Ungleichartigkeit von Geldwertforderung und Geldsummenforderung ist von den Begründern dieser Auffassung unverkennbar zur vermeintlich besseren Begründung und Verallgemeinerung der BGH-Entscheidung entwickelt worden. Heinrich Lehmann21 argumentierte noch nah an den Entscheidungsgründen des BGH. Er sah die Rückwirkung der Aufrechnung „nur in Höhe einer gleichartigen Forderung" begründet und meinte, der Schuldner einer „höhere(n) Gegenforderung oder eine(r) Schadensersatzforderung von wachsender Höhe" müsse sich „von vornherein klar sein, daß er wegen des überschießenden Betrags keine Aufrechnungsbefugnis hat ... Dem Gläubiger der Gegenforderung kann nicht verwehrt werden, diese überschießende Forderung auch nach einer Aufrechnungserklärung noch im Klagewege geltend zu machen". c) Erst G. und D. Reinicke haben aus diesem Ansatz ein den Anspruch höherer Dogmatik erhebendes Prinzip gemacht. Sie gehen von der Frage aus, ob die Geldbetrags- und die Schadensersatzforderung gleichartig i. S. von § 387 BGB seien. Sie seien einander gleich insofern, als beide auf einen Geldbetrag gleicher Währung lauteten, ungleich dagegen insofern, als das Geld bei der einen Forderung „Zahlungsmittel und Wertmasse", bei der anderen - der Schadensersatzforderung - dagegen nur Wertmasse sei22. § 387 BGB lasse die Frage offen, denn wenn hier auf Gleichartigkeit der Forderungen „ihrem Gegenstande nach" abgestellt werde, sei doch nur gemeint, daß sie nicht auch dem Rechtsgrunde nach gleichartig sein müßten. Im übrigen spreche der Sinn und Zweck des Gleichartigkeitsmerkmals nicht für dessen Verneinung. Gleichartigkeit werde deshalb verlangt, weil dem Aufrechnungsgegner nicht eine andere Leistung aufgedrängt werden dürfe als die, die er verlangen könne; außerdem könne nur bei gleichartigen Forderungen der Umfang der beiderseitigen Tilgung präzisiert werden 23 . An diese Überlegungen, die auch nach G. und D. Reinicke noch nicht gegen eine Gleichartigkeit der Forderungen sprechen, schließt sich eine Rechtsfolgenanalyse an, die in der These kulminiert 24 : „Entweder sind Geldsummen- und Geldwertforde21 22 23 24

JZ 1958, 504, 505. NJW 1959, 361 f. NJW 1959, 361, 362. NJW 1959, 361, 364.

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rungen einander nicht gleichartig. Dann ist das Deckungsverhältnis im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung maßgebend. Die Aufrechnung wirkt nicht zurück; Aufrechnungserklärung und Eintritt der Aufrechnungslage fallen zusammen. - Oder die Geldsummen- und Geldwertforderungen sind einander gleichartig. Dann ist das Deckungsverhältnis im Zeitpunkt des Eintritts der Aufrechnungslage entscheidend." Auf dieser Basis gelangen G. und D. Reinicke zu der Feststellung, daß die Rückwirkung der Aufrechnung, wenn man die Gleichartigkeit bejahe, risikolose Spekulationsmöglichkeiten vor allem dann eröffne, wenn nur ein Beteiligter aufrechnen könne, und zu der Folgerung 25 : „Wir neigen daher zu der Auffassung, die Gleichartigkeit von Geldsummen- und Geldwertforderungen zu verneinen. Dadurch werden die oben dargestellten Mißstände vermieden. Der (allein) aufrechnungsberechtigte Gläubiger kann zwar auch dann abwarten, ob er aufrechnen will, und von der Aufrechnung absehen, wenn seine Forderung steigt. Er trägt dann aber auch das Risiko, wenn die Forderung sinkt." 3. Stellungnahmen

der Literatur

a) Nicht wenige Stimmen in der Literatur - darunter auch der Verfasser - haben der These von G. und D. Reinicke zumindest zunächst und zumindest im Grundsatz zugestimmt 26 . Da § 387 BGB von „ihrem Gegenstande nach" gleichartigen Forderungen spricht, mag dieser Erfolg dieser Lehre zunächst verwundern. Seine Erklärung findet er wohl einzig in dem ergebnisorientierten Bestreben, die vom II. Zivilsenat seinerzeit gefundene Lösung auf eine verallgemeinerungsfähige Basis zu stellen. Entschiedener Widerstand erhebt sich bisher nur vereinzelt 27 . Gernhuber kleidet seine Kritik in Worte von verblüffender Einfachheit 28 : „Geld bleibt Geld, mag es nun in fixer, mag es auch in variabler Höhe geschuldet sein. Wenn gleichwohl zuweilen Gleichartigkeit erst im Zeitpunkt der Aufrechnung (mit Fixierung des Geldwertanspruchs) behauptet wird, so allein, weil sich hier ein einfacher Weg zu bieten scheint, risikolosen Spekulationen des einseitig zur Aufrechnung befugten Geldwertgläubigers (praktisch vornehmlich in den Fällen des § 393) entgegenzutreten (Zahlungsverlangen, wenn sich die Schuld erhöht; Aufrechnung mit Rückwirkung, wenn sie sich mindert). Allzu bedrängend hat

» NJW 1959, 361, 365 f. 26 Larenz (Fn. 6), § 18 VI a 2; Palandt/Heinrichs (Fn. 6), § 387 Rdn. 9; Karsten Schmidt (Fn. 6), vor § 244 Rdn. C 56; Soergel/Zeiss (Fn. 6), § 387 Rdn. 6. 27 Vgl. immerhin Gemhuber (Fn. 6), § 12 III 4; v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 387 Rdn. 16; nach Manuskriptabschluß Staudinger/Gursky (Fn. 6), § 387 Rdn. 70. 2 » Fn. 27.

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freilich noch niemand die Gefahr risikoloser Spekulationen darstellen können, da doch der Geldsummengläubiger seine Schuld jedenfalls durch Zahlung tilgen kann. Problemlos sind gar Geldwertschulden, deren Höhe von einem spezifizierenden Gläubigerakt abhängt, weil Schulden dieser Art vor dem Gläubigerakt nicht fällig und damit auch nicht aufrechenbar sind." b) Die Ungleichartigkeitsthese und ihr Erfolg sind zunächst erstaunlich. Warum soll, wenn es für die Gleichartigkeit auf den Leistungsgegenstand ankommt, eine Geldwertforderung, nur weil ihre Höhe schwankt, mit einer Geldsummenforderung ungleichartig sein? Die Intuition spricht auch deshalb gegen die Ungleichartigkeitsthese, weil diese allein auf die Konstellation unseres Ausgangsfalls zugeschnitten ist und versagen muß, sobald der Geldwertschuld eine weitere Geldwertschuld gegenübersteht29. Diese Forderungen können sich ja noch extremer auseinanderentwickeln, wenn etwa die eine steigt und die andere sinkt30. Uber diesen Einwand wird die Ungleichheitsthese wohl nur hinwegkommen, wenn sie die Geldwertforderung als konstitutionell ungleichartig erklärt, solange die Aufrechnung nicht erklärt ist, mag die Gegenforderung eine Geldsummenforderung oder ihrerseits eine Geldwertforderung sein. Das würde bedeuten: Mit Geldwertforderungen und gegen Geldwertforderungen wird nur ex nunc aufgerechnet. 4.

Stellungnahme

Gernhuhers Kritik gipfelt in der Feststellung, daß die von G. und D. Reinicke begründete Lehre ein die Aufrechnungsfolgen (§ 389 B G B ) betreffendes Problem ziemlich unbekümmert zu einer Frage der Gleichartigkeit, also zu einem den Aufrechnungstatbestand (§ 387 B G B ) betreffenden Problem erklärt. Es fällt schwer, ihm hierin zu widersprechen. Zu den - nicht selten vergessenen - Grundregeln der Methodenehrlichkeit sollte diejenige gehören, daß Rechtsprobleme da anzusiedeln und auch da zu lösen sind, wo sich ihre Wurzel befindet31. Das muß auch hier gelten. Wenn die Rückwirkung der Aufrechnung nach § 389 B G B oder eine mit dieser Rückwirkung vermeintlich verbundene Rechtsfolge nicht zu überzeugen vermag, dann sollte über Grenzen der Rückwirkung nachgedacht, nicht dagegen am Zeitpunkt der Aufrechnungslage manipuliert werden.

' Gemhttber (Fn. 6), § 12 III 4; vgl. schon Grunsky, JuS 1963, 102, 104. Grunsky, JuS 1963, 102, 104. 51 Karsten Schmidt, Z H R 155 (1991), 417, 435 und öfter.

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III. Grenzen der Rückwirkung nach § 389 BGB 1. Kasuistik und

Doktrinenbildung

Der Bundesgerichtshof argumentiert in unserer Ausgangsentscheidung32 ganz aus dem Normzweck des § 389 BGB. Daran tut er nach den hier angestellten Überlegungen Recht. Sehen wir also, wie die Argumentation verläuft. Ausweislich der Entscheidungsgründe hatte die Revision des Klägers geltend gemacht, „daß auch in Fällen dieser Art für die Wirkung der Aufrechnung nach § 389 BGB stets das Deckungsverhältnis maßgebend sein müsse, das in dem Zeitpunkt bestanden habe, zu dem sich die Forderungen gegenübergetreten sind. Sei damals die zur Aufrechnung gestellte Schadensersatzforderung beispielsweise nicht höher gewesen als die Gegenforderung, so gelte sie ungeachtet des Umstandes, daß die Gegenforderung im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung - möglicherweise um ein Vielfaches - überstiegen habe, gemäß § 389 BGB in jedem Falle als in vollem Umfang erloschen." Dieser Auffassung, so der II. Senat, „könnte jedoch höchstens dann zugestimmt werden, wenn auch der Schuldner der Schadensersatzforderung aufrechnen kann." Denn: „Für diesen Fall li^ße sich möglicherweise die Auffassung vertreten, der Schuldner der Schadensersatzforderung (sei.: der Kläger) hätte sich von dem Zeitpunkt an, in dem seine Forderung der Schadensersatzforderung des Gläubigers (sei.: des Beklagten) gegenübergetreten sei, nicht mehr als Schuldner zu betrachten brauchen, da er seinerseits durch Aufrechnung die Tilgung der Schadensersatzforderung hätte herbeiführen und damit ein weiteres Anwachsen dieser Forderung hätte verhindern können." Aus diesen Ausführungen spricht revisionsrichterliche Weisheit33: Der anstehende Fall wurde interessengerecht gelöst, das Prinzip des § 389 BGB dagegen nicht ohne Not ausdiskutiert, und wenn dies die Professoren zur Ausformulierung allgemeingültig gedachter Regeln bewog, so spricht dies nur für eine wünschenswerte Arbeitsteilung mit den Gerichten34. Der II. Senat hätte nicht gut daran getan, sich weiter, als nach Lage des Falls geboten, in das ungesicherte Terrain vorzuwagen. Der nach dem Ausgangsurteil einsetzende Professorenstreit ist ein nur zu guter Beleg dafür, daß es für eine Festlegung der Rechtsprechung offenbar noch zu früh war. 2. Wahlrecht des aufrechnungsbefugten

Geldwertgläubigers?

a) Nicht nur die Reinicke'sehe Nichtgleichartigkeitsthese ist hierfür ein Beleg. Dasselbe gilt auch für die auf Grunsky zurückgehende These, 32 33 34

Fn. 4. Vgl. zu dieser exemplarisch Robert Fischer, ZGR 1979, 102 ff. Dazu Karsten Schmidt, JZ 1992, 856, 866.

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nach der sich der aufrechnungsberechtigte Geldwertgläubiger den Verrechnungszeitpunkt aussuchen kann. Grunsky lenkt den Blick nach treffender Kritik der Ungleichartigkeitsthese auf § 389 B G B und hebt hervor, daß die gegen eine rückwirkende Aufrechnung bestehenden Bedenken allein auf der Besonderheit beruhen, daß im BGH-Fall nur einer der Beteiligten, nämlich der Beklagte, aufrechnen konnte 35 . Nach Grunsky muß dem B G H „darin zugestimmt werden, daß ... § 3 8 9 B G B dann nicht anwendbar ist, wenn die Aufrechnungsbefugnis nicht beiden Parteien zusteht" 36 . Im BGH-Fall habe der Kläger von vornherein nicht darauf vertrauen dürfen, die Forderung des Beklagten durch Aufrechnung zum Erlöschen bringen zu können. Er habe darauf gefaßt sein müssen, daß der Beklagte auf Erfüllung in bar nach Maßgabe der steigenden Aktienkurse bestehe. Umgekehrt habe der Beklagte keinen Grund gehabt, sich mit der Aufrechnungserklärung zu beeilen. Die Konsequenz besteht nun aber nach Grunsky nicht etwa in einer allgemeinen ex-nunc-Wirkung der Aufrechnung, sondern in weiteren Differenzierungen: Da im Ausgangsfall nur der Beklagte habe aufrechnen dürfen, könne man „§ 389 nur bezüglich der Forderung des Beklagten beiseite schieben ..., während die Forderung des Klägers rückwirkend auf den Zeitpunkt des Eintretens der Aufrechnungslage erloschen ist"; hierauf könne es ankommen, „wenn inzwischen auch die Forderung des Klägers gestiegen ist, sei es, daß Zinsen aufgelaufen sind, sei es, daß auch hier eine etwa gegebene Geldwertforderung sich inzwischen erhöht hat" 37 . Demgemäß müsse man den Leitsatz des B G H dahin einschränken, daß nur die Forderung des Beklagten ex nunc bis zur Aufrechnungserklärung fortbestehe, während die des Klägers nach § 389 B G B rückwirkend entfalle. Aber hiermit beginnt die von Grunsky vorgeschlagene Differenzierung erst, denn ihm geht es nicht nur um die Konstellation des Ausgangsfalls (Anwachsen der Aufrechnungsforderung), sondern auch um andere Fallvarianten: Sei die Forderung des Beklagten nicht gestiegen, sondern gesunken, so müsse es auch für diese Forderung bei der Rückwirkung bleiben. Der Beklagte habe auf eine ihm in dieser Höhe zustehende Forderung vertraut, und dieses Vertrauen müsse auch hier „durch § 389 B G B geschützt werden" 38 . Wenn schließlich beide Forderungen sich gegensätzlich entwickelt haben sollten - die Forderung des Beklagten wäre gestiegen, die des Klägers gesunken oder umgekehrt - , so könne sich der allein aufrechnungsbefugte Beklagte den Zeitpunkt nach seinem Belieben aussuchen39. Dies sei keine unbillige BevorGrunsky, JuS 1963, 102, 104. JuS 1963, 102, 105. 37 JuS 1963,102, 105. 38 JuS 1963, 102, 105. " JuS 1963,102, 105 f. 35 36

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zugung, sondern folge „zwingend daraus, daß nur der Beklagte aufrechnungsbefugt ist". Wolle der Kläger verhindern, daß der Beklagte auf seine Kosten spekuliere, so stehe es ihm frei, die Forderung des Beklagten durch Zahlung zu begleichen. b) Die Auffassung Grunskys hat nur wenig Zustimmung gefunden 40 . Am nächsten steht ihr wohl Peter Dietrich, der in seiner Arbeit über die Aufrechnungslage dem einseitig aufrechnungsberechtigten Schuldner gleichfalls ein Wahlrecht zuerkennt 41 . Nach Dietrich darf er sich indes nicht aus der Dauer der Aufrechnungslage den günstigsten Zeitpunkt heraussuchen: Er habe sich pro oder contra Rückwirkung zu entscheiden, und schon gar nicht könne er die beiden Forderungen unterschiedlich behandeln 42 : „Der allein zur Aufrechnung Berechtigte kann zwar frei wählen, ob der Zeitpunkt der Aufrechnungslage oder derjenige der Aufrechnungserklärung maßgebend sein soll; er kann es aber nur für beide Forderungen gemeinsam." c) Es fällt schwer, andere Argumente als die des unkontrollierten Rechtsgefühls für die Lehre vom Wahlrecht zu finden. Schon die Frage, wie dieses Wahlrecht denn ausgeübt wird, wirft Fragen über Fragen auf: Soll eine wirksame Aufrechnung neben der Aufrechnungserklärung auch noch eine Fixierung des Aufrechnungszeitpunkts voraussetzen, kann der Aufrechnende noch nachträglich den Zeitpunkt seiner Wahl fixieren, oder entscheidet einfach der Richter, wenn Kalkulationsgrundlagen für diesen oder jenen Zeitpunkt vorgetragen werden? Soll, wenn die Zeitpunktsbestimmung nicht vorgenommen wird, eine Zweifelsregelung gelten43, und soll eine Korrektur möglich sein, wenn sich der gewählte Zeitpunkt als ungünstig erweist44? Mit dem gesetzlichen Konzept hat diese Lösung erkennbar nichts mehr zu tun. Dieses besteht nicht von ungefähr darin, daß das O b der Aufrechnung durch Gestaltungserklärung, die Folge der Aufrechnung dagegen durch objektives Recht entschieden wird. Die Lehre vom Wahlrecht entfernt sich damit noch weiter vom Gesetz als die Ungleichartigkeitsthese. Suchte diese die Lösung bei einer hierfür ungeeigneten Vorschrift, nämlich bei dem eindeutig erfüllten Aufrechnungstatbestand (§ 387 BGB), so verändert die Lehre vom Wahlrecht die als sedes materiae richtige Bestimmung (§ 389 BGB) bis zur Unkenntlichkeit.

40 Krit. z. B. Gemhuber (Fn. 6), § 12 VIII 4 b; v. Feldmann, in: M ü n c h K o m m . BGB (Fn. 6), § 389 Rdn. 7; nach Manuskriptabschluß Staudinger/Gursky (Fn. 6), § 389 Rdn. 38. " Dietrich, A c P 170 (1970), 534, 551 f. « Dietrich, A c P 170 (1970), 534, 552. 43 Das müßte die Rückwirkung sein. 44 Eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 B G B läge wohl außerhalb der Diskussion.

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3. Grundmißverständnisse

um § 389 BGB

a) Worauf beruhen die hier erkennbaren Schwierigkeiten? Sie beruhen darauf, daß über die Grenzen des § 389 BGB von Anfang an unklare Vorstellungen bestanden haben. Diese beginnen schon mit dem kleinmütigen Geständnis der Motive45, „daß mit der Aufstellung der rückwirkenden Kraft im Wesentlichen doch anerkannt werde, daß schon von dem Zeitpunkte an, wo die Forderungen sich kompensationsfähig gegenübertreten, die eine von der anderen beeinflußt sei". Daß die Rechtslage, ist einmal die Aufrechnung erklärt, dem Konzept der ipso-iureAufrechnung entspreche, scheint auch aus den Protokollen zu sprechen, in denen es heißt46, „jeder Theil habe während der Zwischenzeit zwischen der Entstehung und der Ausübung des Aufrechnungsrechts dasjenige gehabt, was er zu fordern hatte, und er habe es infolge der Rechtslage gehabt, auf welcher die Aufrechnung beruhe". Es versteht sich, daß nach solcher Betrachtung § 389 BGB bei der Aufrechnung mit einer Geldwertforderung den Aufrechnenden zu stellen scheint, als wäre bei Beginn der Aufrechnungslage Schadensersatz zu leisten, und es verwundert nicht, daß scharfsinnige Kritiker des BGB schon vor einem Jahrhundert hier einen wesentlichen Schwachpunkt sahen. Der nun schon mehrfach berufene Lippmann meinte47: „Die Annahme einer Rückwirkung der Kompensationserklärung ist und bleibt aber m. E. ein Residuum jener alten, abgethanen Theorie, daß kompensable Forderungen schon durch die Thatsache ihres Gegenübertretens sich von selbst vernichten, und die Motive zum Entwürfe scheinen mir darin beizustimmen, indem sie erklären, es könne nicht ohne Grund gesagt werden, daß mit der Aufstellung der rückwirkenden Kraft im Wesentlichen doch anerkannt werde, daß schon von dem Zeitpunkte an, wo die Forderungen sich kompensationsfähig gegenübertreten, die eine von der anderen beeinflußt sei." b) Damit ist ein Vorwurf formuliert, mit dem die Interpretation des § 389 BGB seit einem Jahrhundert zu kämpfen hat, bis hin zu dem krassen Gesetzesungehorsam Franz Leonhards, der dem angeblichen ipsoiure-Konzept des § 389 BGB seine „Rechtsgeschäftstheorie" entgegensetzte, nach der die Aufrechnungswirkung ausschließlich auf einseitigem Rechtsgeschäft und nicht auf der Aufrechnungslage beruht48. Daß diese Auffassung nicht dem Gesetzgeberwillen entspricht, ist indes bekannt und vollends offenbar, seit Jakobs und Schubert die unveröffentlichten 45 46 47 48

Mugdan (Fn. 10), S. 60. Mugdan (Fn. 10), S. 562. Lippmann, JherJb 32 (1893), 157, 170. Leonhard, Allgeraeines Schuldrecht, 1929, §§ 322 ff (S. 625 ff).

Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden

697

BGB-Materialien zugänglich gemacht haben. Denn eine Streichung der Rückwirkungsformel wurde, wie nunmehr bekannt ist, diskutiert und abgelehnt49. Philipp Heck hat zwar gemahnt, daß die konstruktive Deutung der Aufrechnung nichts als ein Formulierungsproblem ist, das durch eine Interessenbewertung aufzuhellen ist50, und so liest es sich auch in unserem Ausgangsurteil. Wenn trotzdem immer wieder über die Frage diskutiert wird, ob § 389 BGB in diesem Fall anzuwenden oder zu vernachlässigen war, so verbirgt sich dahinter unausgesprochen die Vorstellung, die in dieser Bestimmung angeordneten Rechtsfolgen seien dieselben, als wäre die Aufrechnung schon am Stichtag der Aufrechnungslage erklärt oder die Geldwertforderung an diesem Tage ipso iure durch Kompensation getilgt worden. Wie nun gezeigt werden soll, kann davon indes keine Rede sein. 4. Korrekturen im Rechtsbild des § 389 BGB Die Aufrechnung bewirkt, daß die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind (§ 389 BGB). Der Gesetzgeber hat die Rückwirkung als eine Fiktion bezeichnet51: Die Rückwirkung könne „nur im Wege positiver Satzung durch eine juristische Fiktion" angeordnet werden. Nun ist die Fiktion - zumal die im Gesetz angelegte Fiktion - nicht eine den tatsächlichen Verhältnissen vereinfachend zuwiderlaufende Erfindung, sondern sie ist nichts als eine zusammenfassende Normformulierung52, und der Gesetzesinterpret muß sich allemal die Frage vorlegen, was da an Rechtsfolgen zusammengefaßt werden soll. Hauptanliegen der Rückwirkungsregelung war, die Beteiligten hinsichtlich der Verzinslichkeit, des Verzuges und des Verfalls einer etwaigen Vertragsstrafe rückwirkend so zu stellen, als wäre die Forderung schon mit Entstehen der Aufrechnungslage beglichen; vor allem aber glaubte man, das Aufrechnungsprivileg im Konkurs (§ 53 KO, § 94 InsO) ohne eine solche Rückwirkung nicht rechtfertigen zu können53. Insofern werden die Beteiligten nicht schlechter gestellt, als hätten sie bereits bei Eintritt der Aufrechnungslage die Aufrechnung erklärt. Dagegen kann überhaupt nicht die Rede davon sein, daß auch für den Umfang der Aufrechnungsforderungen der Eintritt der Auf-

w Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, §§ 241-432, 1978, S. 699 f. 50 Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 61 a (8) (S. 187 f). 51 Mot., in: Mugdan (Fn. 10), S. 60. 52 Grundlegend Somlö, Juristische Grundlehre, 2. (unv.) Aufl. 1927, S. 528. 53 Mot., in: Mugdan (Fn. 10), S. 60.

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Karsten Schmidt

rechnungslage maßgeblich ist. Das Gesetz bringt dies durchaus zum Ausdruck: Nicht soweit sich die Forderungen bei Entstehen der Aufrechnungslage „gedeckt haben", gelten die Forderungen rückwirkend als erloschen, sondern nur, soweit sie sich im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung „decken". Die in § 389 B G B angeordnete Rückwirkungsfolge ändert an diesem Grundsatz nichts. Wo das Gesetz auch den Aufrechnungstat^estawJ zurückbezieht, gibt es dies zu erkennen. Nach § 390 S. 2 B G B schließt die Verjährung eine Aufrechnung nicht aus, wenn die verjährte Forderung bei Bestehen der Aufrechnungslage noch nicht verjährt war. Die Pfändung schließt eine Aufrechnung nach § 392 B G B nur aus, wenn der Schuldner seine Forderung nach der Beschlagnahme erworben hat oder wenn seine Forderung erst nach der Beschlagnahme und später als die in Beschlag genommene Forderung fällig geworden ist. Ein für den Fall der Nichterfüllung vereinbarter Rücktritt ist unwirksam, wenn der andere Teil sich durch Aufrechnung von der Verbindlichkeit befreien konnte und unverzüglich nach dem Rücktritt die Aufrechnung erklärt (§ 357 BGB). Schließlich kann im Fall der Abtretung der Schuldner eine ihm gegen den bisherigen Gläubiger zustehende Forderung auch gegen den neuen Gläubiger aufrechnen, es sei denn, daß er bei dem Erwerbe der Forderung von der Abtretung Kenntnis hatte oder daß die Forderung erst nach Erlangung der Kenntnis und später als die abgetretene Forderung fällig geworden ist (§ 406 BGB). Von solchen Sonderfällen abgesehen, ist der Aufrechnungstatbestand auf den Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung zu beziehen. Das gilt auch in unserem Ausgangsurteil. Die durch dieses ausgelösten Professorendebatten lassen aber erkennen, daß die auf § 389 B G B lastende Hypothek auch nach einem Jahrhundert nicht vollständig abgetragen ist. Als cantus firmus dieser Debatte läßt sich nämlich die Frage vernehmen, ob § 389 B G B und damit die unterstellte Rückwirkungsfolge denn nun anwendbar ist oder nicht54. Das ist nach den Ausführungen unter III. 3. Folge und Grund einer Fehldeutung dieser Vorschrift.

IV. Konsequenzen 1. Aufrechnung mit und gegen

Geldwertschulden

Folgt man dieser Gedankenführung, so erweist sich der Ausgangsfall und mit ihm die um ihn herum aufgebaute Gesamtproblematik als einfach lösbar: Geldwertschulden und Geldsummenschulden, ebenso aber auch Geldwertschulden untereinander sind, wie es § 387 B G B aus-

54

Vgl. besonders deutlich Grunsky, JuS 1963, 102, 105.

Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden

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drückt, ihrem Gegenstand nach gleichartig 55 . Wer, wie im BGH-Fall, eine bestimmte Summe Geldes schuldet, kann mit einer ihm gegen den Gläubiger zustehenden Schadensersatzforderung aufrechnen, und vorbehaltlich besonderer Aufrechnungsverbote - insbesondere vorbehaltlich § 393 BGB - steht die Aufrechnungsbefugnis auch dem Gegner zu. Wird aufgerechnet, so greift die Regel des § 389 BGB ein, und zwar unabhängig davon, ob beide Seiten aufrechnen konnten 56 . Soweit nicht ein ungetilgter Rest bleibt, endet der Zinslauf, werden Schuldnerverzug und Vertragsstraftatbestände rückwirkend beseitigt, sind die Forderungen für sonstige Aufrechnungen verbraucht etc., aber die sich aus § 389 BGB ergebende Rückwirkung bedeutet nicht, daß auch der Umfang der einander gegenüberstehenden und durch Aufrechnung erlöschenden Forderungen nach dem Stichtag der Aufrechnungslage bemessen wird. Nicht der Aufrechnungstatbestand, sondern nur die Tilgungswirkung wird zurückbezogen 57 . Sinkt die Forderung des Geldwertgläubigers während der Aufrechnungslage, so sinkt sie zu seinem Nachteil, steigt sie, so steigt sie zu seinem Vorteil, ohne daß es darauf ankäme, wer die Aufrechnung erklärt 58 . Insofern kann keine Seite folgenlos zuwarten. Die Befürchtung, es könne der eine oder der andere zu seinem Vorteil spekulieren, erweist sich bei näherem Nachdenken weitgehend als eine Erfindung der die Sache ex post oder anhand bloßer Kathederfälle betrachtenden Theorie, und wenn wirklich einmal ex ante spekuliert werden sollte, kann jeder der hinhaltenden Spekulation des anderen dadurch begegnen, daß er zahlt oder, soweit zulässig, seinerseits aufrechnet 59 . 2. Aufrechnung mit und gegen

Fremdwährungsschulden

Bereits unter II. 1. wurde angedeutet, daß es Gründe geben kann, auch Forderungen verschiedener Währung i. S. des § 387 BGB als gleichartig zu betrachten, wenn nämlich die Schuldwährung nicht mehr als geschuldeter Gegenstand, sondern nur noch als Wertmaßstab für die Geldschuld als Wertverschaffungsschuld begriffen wird 60 . Vorausset-

55 Gernbuber ( Fn. 6 ), § 12 III 4; v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 387 Rdn.16; Staudinger/Gursky (Fn. 6), § 387 Rdn. 70; Grunsky, JuS 1963, 102, 104; zur Gegenauffassung vgl. Fn. 6. " Vgl. v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 389 Rdn. 8; insofern a. M. selbst Gernbuber (Fn. 6), § 12 VIII 4. 57 Überzeugend Gernbuber (Fn. 6), § 12 VIII 4 b. 58 Uberzeugend v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 389 Rdn. 7. 59 Ähnlich Gernbuber (Fn. 6), § 12 III 4. 60 In dieser Richtung mit Unterschieden im Detail Gernbuber (Fn. 6), § 12 III 5; Karsten Schmidt (Fn. 6), § 244 Rdn. 49; Birk, A W D 1969, 12, 15 f; v. Hoffmann, IPRrax 1981, 155, 156; Maier-Reimer, NJW 1985, 2049, 2051.

700

Karsten Schmidt

zung ist selbstverständlich, daß nicht eine „effektive", notwendig in fremder Währung zu begleichende Forderung vorliegt61. Während bisher nur unter den in § 244 B G B beschriebenen Voraussetzungen die Aufrechnung des Fremdwährungsschuldners mit einer DM-Forderung62, nicht aber die Aufrechnung eines DM-Schuldners mit einer Fremdwährungsforderung und noch viel weniger die Aufrechnung zwischen Geldforderungen unterschiedlicher Fremdwährungen zugelassen wird63, kann dann in weitestem Maße zwischen frei konvertierbaren Forderungen aufgerechnet werden. Daß in diesem Bereich der Umrechnungsstichtag häufig zum Streitpunkt wird, liegt in der Natur der Sache. Wiederum kann es aber nicht darum gehen, ob § 389 B G B anwendbar ist oder nicht - die Bestimmung ist unweigerlich anwendbar, sofern wirksam aufgerechnet wird - , sondern nur um die Frage, ob auch der Anrechnungsumfang rückwirkend festgestellt wird. Aus dem Konzept des § 244 Abs. 2 B G B wird mit Recht gefolgert, daß dies nicht der Fall ist. Denn nicht die Aufrechnungslage, sondern die Aufrechnungserklärung entspricht der Zahlung. Die t/mrechnung erfolgt also ex nunc, die Aufrechnung aber ex tunc64. Beide Fragen haben, wie schon das Reichsgericht erkannt hat, nichts miteinander zu tun65: Die Forderungen werden nach dem Stichtag der Aufrechnungserklärung bewertet und gegeneinander aufgerechnet, ohne daß dies an der rückwirkenden Befreiung nach § 389 B G B und ihren Folgen für Verzug, Verzinsung etc. etwas ändern müßte. Auch hier erweist sich also die Uberwindung von Fehleinschätzungen als erforderlich: § 389 B G B bewirkt nicht die Kompensation nach dem ipso-iure-Vorbild und stellt die Parteien nicht so, als wäre die Aufrechnung schon am Stichtag der Aufrechnung erklärt worden. V. Zusammenfassung 1. Ein Lob für § 389 BGB Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, daß eine Gesetzesregelung klüger sein kann als ihre Verfasser, wäre für die Beweisführung § 389 B G B zu nennen. Die Vorschrift führt nicht, wie die BGB-Kommissio-

Zu diesem Begriff vgl. Fn. 13. RGZ 106, 99, 100; 167, 60, 62 f; v. Maydell, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 244 Rdn. 49; v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 387 Rdn. 16. 63 Vgl. nur v. Feldmann, in: MünchKomm. BGB (Fn. 6), § 387 Rdn. 16; Staudinger/ Gursky (Fn. 6), § 387 Rdn. 68; Gruber, MDR 1992, 121, 122. M A. M. mit Nachweisen zur bisher h. M. Maier-Reimer, N J W 1985, 2049, 2051; Gruber, M D R 1992, 121,122. 65 Vgl. R G Z 167, 6 0 , 6 3 f. 61

62

Gleichartigkeit und Rückwirkung bei der Aufrechnung von Geldschulden

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nen glaubten, zu einer fiktiven ipso-iure-Kompensation gegenseitiger Forderungen mit dem Entstehen einer Aufrechnungslage, sondern sie bewirkt, daß die Forderungen, soweit sie sich im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung decken, mit rückwirkender Kraft erlöschen. Der von BGB-Kritikern ausgesprochene Verdacht, damit sei die ipso-iureKompensation stillschweigend doch wieder eingeführt worden, hat aber nicht nur zu rechtspolitischen Fehleinschätzungen geführt, sondern auch unnötige Schwierigkeiten bei der Handhabung des geltenden Rechts bereitet. Der Glossatorenstreit um den Eintritt der Aufrechnungswirkungen kann unter dem BGB nicht fortgesetzt werden. 2. Thesen a) Geldsummenforderungen und Geldwertforderungen sind gleichartig und werden es nicht erst mit der Aufrechnungserklärung. b) Geld Wertforderungen werden bei der Aufrechnung nach ihrem Stand im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung bemessen, nicht nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Aufrechnungslage. c) Das gilt unabhängig von der Frage, ob die Geldforderung während der Aufrechnungslage angewachsen ist oder sich verringert hat, und auch unabhängig von der Frage, ob beide Seiten aufrechnen dürfen. d) Sinngemäß Gleiches gilt für die Aufrechnung mit und gegen Fremdwährungsforderungen. Ihre Umrechnung erfolgt für den Stichtag der Aufrechnungserklärung, nicht der Aufrechnungslage.

Treu und Glauben ein supranationaler Grundsatz ? Deutsch-französische Schwierigkeiten der Annäherung"'

HANS JÜRGEN SONNENBERGER

Als Präsident des Bundesgerichtshofs hat sich Walter Odersky gemeinsam mit dem Premier Président der Cour de Cassation Pierre Drai wiederholt für den deutsch-französischen Rechtsdialog eingesetzt. Dieser Dialog ist nicht nur im beiderseitigen Interesse nützlich, sondern Kernelement im Prozeß der europäischen Rechtsentwicklung. Eine Walter Odersky gewidmete Festschrift ist deshalb willkommener Anlaß, ein grundlegendes Thema deutsch-französischer Zivilrechtsvergleichung aufzugreifen: Die Rolle von Treu und Glauben nach § 242 BGB und bonne foi nach Art. 1134 Abs. 3 CC, deren Vergleich in der Vergangenheit oft zu Fragen Anlaß gegeben hat. Man gerät sehr schnell in ein Dickicht und stellt fest, daß selbst bei einem Thema, das beide Rechtsordnungen auf die gleiche Quelle zurückführen, eine Annäherung schwierig sein kann. Angesichts der verbreiteten Euphorie europäischer Rechtsangleichung stimmt das nachdenklich. Dennoch sollen die folgen* Abgekürzt sind zitiert: Capitant-Terré-Lequette, Les grands arrêts de la jurisprudence civile, 10. Aufl. 1994 (Capitant-Terré-Lequette); Carbonnier, Droit Civil, Introduction, Les obligations, 16. Aufl. Paris 1992 (Carbonnier Introduction, IV); Coing, Europäisches Privatrecht, 1989 (Coing EP); Dalloz, Répertoire de droit civil (Dalloz, Rép Dr Civ - Stichwort); Demogue, Traité des obligations en général, Paris seit 1923 (Demogue); Fabre-Magnan, De l'obligation d'information dans les contrats,Paris 1992 (Fabre-Magnan); Ferid, Das französische Zivilrecht, l.Aufl. 1971 (Ferid FrZR), 2. Aufl. seit 1985 (Ferid-Sonnenberger FrZR); Ghestin, Traité de droit civil, Paris 1.-3. Aufl. seit 1982 (Ghestin- + Autor + Band); Latenz, Lehrbuch des Schuldrechts; Allgemeiner Teil, München 14. Aufl. 1987 (Larenz SchR I); Malaurie-Aynès, Cours de droit civil, Les obligations, 4. Aufl. Paris 1994 (Malaurie-Aynès); Mazeaud-Chabas, Leçons de droit civil, Introduction, Obligation: théorie général, Paris 1991 (Mazeaud-Chabas 1.1, II.l); Mayer, Die obligations accessoires im französischen Schuldrecht und ihr deutsches Pendant, Diss Tübingen 1988 (Mayer); Medicus, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, München 3. Aufl. 1993 (Medicus SchR I); Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. seit 1992 (MünchKomm-Autor); Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, München, 54. Aufl. 1994 (Palandt-Autor); Picod, Le devoir de loyauté dans l'exécution du contrat, Paris 1989 (Picod); Starck-Roland-Boyer, Droit Civil, Obligations, contrat, 3. Aufl. Paris 1993 (Starck-Roland-Boyer II.l); Talon, Le concept de bonne foi en droit français du contrat, Paris 1992 (Talon); Terré-Simler-Lequette, Droit Civil, Les Obligations, 5. Aufl. 1993 (Terré-Simler-Lequette III); Travaux de l'Association Henri Capitant, La Bonne foi, Bd XLIII, Paris 1992 (Trav Ass Cap).

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den Beobachtungen nicht entmutigen. Sie sollen eher dazu beitragen, Romantik durch Realismus zu ersetzen und ein Hinweis sein, daß es mit fortschreitender Europäisierung des Rechts, die längst das Privatrecht ergriffen hat, immer dringlicher wird, in diesem Prozeß der Rechtsvergleichung nicht nur verbal, sondern tatsächlich den ihr dabei zukommenden Platz zu geben. I. Einführung Im Urteil des 8. Zivilsenats des B G H vom 14. 10. 19921 heißt es lapidar, daß der Grundsatz von Treu und Glauben „als übergesetzlicher Rechtssatz allen Rechtsordnungen immanent" sei. Das war offensichtlich nicht nur im allgemeinen gedacht, denn der B G H leitet daraus wie selbstverständlich ab, daß das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage an der allgemeinen Geltung von Treu und Glauben teilnimmt. Man kann das nur so verstehen, daß die Inhalte und Funktionen von Treu und Glauben i. S. von § 242 B G B allen zivilisierten Rechtsordnungen immanent sind. Es geht hier nicht darum, das Ergebnis des Urteils des B G H zu einer sehr schwierigen Frage in der Folge der deutschen Einigung in Zweifel zu stellen. Es interessiert ausschließlich der gedankliche Ansatz, der das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sozusagen als Bestandteil eines natürlichen, von Treu und Glauben geprägten Rechtsempfindfens ansieht, das sich auch in den Bereichen des § 242 B G B spiegelt. Eine solche Sichtweise ist nicht ungefährlich, denn sie kann dahin führen, daß Konzepte des deutschen Rechts unangemessen verallgemeinert werden. Der vom B G H behandelte Fortfall der Geschäftsgrundlage ist dafür ein guter Beweis, denn im französischen Zivilrecht gilt bis heute das Gegenteil. Nach wie vor ist das Urteil der Cour de Cassation vom 6. 3. 18 762 im Fall des Canal de Craponne maßgeblich: pacta sunt servanda, mögen sich die Verhältnisse seit Vertragsabschluß auch grundlegend verändert haben.3 Anscheinend ist Treu und Glauben in seinen deutschen Ausprägungen entgegen der Meinung des B G H doch kein N J W 1993.259 ff, 263. Abgedruckt in Capitant-Terré-Lequette Nr. 94 mit ausführlicher Anm. 3 Die imprevisión im französischen Recht ist hier nicht weiter zu behandeln, vgl. näher Ferid-Sonnenberger FrZR 1 F 754 ff m. w. N. Prof. Agostini verdanke ich den Hinweis auf die höchst aufschlußreiche Entscheidung Cass Civ v. 20. 2. 1974, Bull Civ 1974 III Nr. 85: 1908 Abschluß einer promesse de vente über ein Wohnhaus mit der Verpflichtung dieses am Tag des Nutzungsendes für 2450 F F zu verkaufen. 1965 Nutzungsende. Die Erben der Schuldner lehnen mit Rücksicht auf den außerordentlichen Wertverlust des franc die Erfüllung ab. Die Cour de Cassation hebt die diesem Argument folgende Entscheidung der Vorinstanz auf. Fortfall der Geschäftsgrundlage wird nicht einmal erwähnt. 1

2

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allen zivilisierten Rechtsordnungen immanenter Grundsatz. Aber wie verhält es sich dann? Gerade der deutsch-französische Vergleich ist von Bedeutung, da diese beiden Privatrechtssysteme die nachhaltigsten Wirkungen auf die anderen europäischen Privatrechtsordnungen hatten. In beiden Rechten ist man sich des gemeinsamen Ursprungs von Treu und Glauben i. S. des § 242 BGB und bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C in der bona fides des römischen Rechts bewußt, ferner, daß das Prinzip ursprünglich nur der Begründung und dann auch der Präzisierung von Verträgen bzw aus diesen sich ergebenden Klagerechten diente, die nicht von Rechts wegen festgelegt waren 4 . Gemeinsames Gedankengut war es auch, daß die bona fides in der weiteren Entwicklung als Instrument der Moralisierung schuldrechtlicher Beziehungen auf alle Verträge bzw sogar alle Arten von Schuldverhältnissen angewendet wurde 5 . Art. 1134 Abs. 3 C C und § 242 BGB sind deshalb hinsichtlich der Funktion von bonne foi und Treu und Glauben nahezu identisch formuliert: Ist ein Schuldverhältnis begründet, so ist es bona fide auszuführen. Das schließt in beiden Rechtsordnungen ein, daß die Einzelheiten der Verpflichtungen ebenfalls von der bona fides beherrscht werden 6 . Beide Rechtsordnungen beschränken sich auf diese Funktionsbeschreibung. Sie verzichten auf Angaben, was bonne foi und Treu und Glauben meinen. Außerordentlich interessant ist, was sich im französischen und deutschen Recht aus der im Grund gleichen Ausgangslage entwickelt hat, und das gilt sowohl für die Funktion als auch für die Definition der bona fides. Im französischen Recht stand die Funktion der bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C völlig im Schatten von Abs. I 7 , der den Grundsatz pacta sunt servanda formuliert. Daraus ergab sich, daß die klaren und eindeutigen Vereinbarungen der Parteien und die daran vom Gesetz geknüpften Folgen nicht nach Art. 1134 Abs. 3 C C durch bonne foi relativiert, erweitert oder verändert werden können. Art. 1134 Abs. 3 C C wurde auf eine Auslegungsfunktion reduziert 8 und damit zum concept mort 9 , denn die interprétation ist in Art. 1156 ff C C näher geregelt. Zu4 Vgl. im deutschen Schrifttum z. B. Médiats SchR I S. 69; im französischen MazeaudChabas II.l Nr. 730-2; Carbonnier II N r . 220. s Zum kanonistischen und später auch zum gemeinrechtlichen Verständnis vgl. Coing EP I S. 404. Art. 1134 Abs. 3 C C wurde als Bekräftigung dieser Auffassung verstanden, vgl. Mazeaud-Chabas aaO. ' Zur insgesamt relativ beschränkten Rolle, die sich daraus f ü r Treu und Glauben ergibt, vgl. Medicus SchR I S. 69. 7 Vgl. Bénabent Trav Ass Cap XLIII 1992.291. ! Vgl. Bénabent aaO S. 292; Starck-Roland-Boyer II 2 Nr. 1196. ' Vgl. Ferid FrZR 2 B 6 m. w. N Fn. 17.

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gleich ergab sich, daß Art. 1134 Abs. 3 C C außerhalb des Vertragsrechts keine Funktion hatte. Demgegenüber entfaltete im deutschen Recht die Rechtsprechung die Funktion von Treu und Glauben nach § 242 BGB über den Gesetzestext hinaus immer weiter als Regulativ für alle Arten rechtlicher Sonderbeziehungen sogar außerhalb des Privatrechts. Im Privatrecht wurden Treu und Glauben folglich zur Kontrolle10 und nachträglichen" Korrektur der Vereinbarungen der Vertragspartner herangezogen. Sie bildeten die Grundlage für Nebenpflichten 12 , die weder vertraglich noch gesetzlich festgelegt sind, ermöglichten die Ausgestaltung der Beziehungen der Partner in der Phase der Vertragsverhandlungen 13 und nach Vertragsende14 und begrenzten jegliche Rechtsausübung 15 . Schließlich wurde Treu und Glauben eine die Normen des objektiven Rechts ergänzende und korrigierende Funktion zuerkannt mit der Konsequenz, daß sie als allgemeines Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit oberster Grundsatz des objektiven Rechts geworden sind16. Auf diese Weise konnten Treu und Glauben zugleich Einfallstor verfassungsrechtlicher Wertungen in das bürgerliche Recht werden 17 . Es ist demnach nicht übertrieben, wenn man von einer geradezu gegenläufigen Entwicklung der Funktionen des Art. 1134 Abs. 3 C C und § 242 BGB ausgeht. Dies trifft jedenfalls bis etwa Ende der sechziger Jahre zu. In dieser Zeit begannen Lehre und Rechtsprechung in Frankreich Art. 1134 Abs. 3 C C stärker in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Mit einer gleichzeitigen Neuorientierung des Verständnisses des Vertrages, das den Grundsatz des Art. 1134 Abs. 1 C C mit der Pflicht der Partner zu loyaler Zusammenarbeit verknüpfte 18 , stellte sich heraus, daß Abs. 3 nicht ein concept mort war, sondern über lange Zeit einen sommeil du juste geschlafen hatte19, wie es kürzlich ein Autor bildhaft formulierte. Die bonne foi erhielt damit eine Funktion die sich Treu und Glauben nach § 242 BGB annähert. Das gilt freilich, wie noch darzustellen ist, nur ab dem Beginn der Zusammenarbeit der Partner und endet 10 Die Kontrolle von Vertragsklauseln, soweit sie nicht inzwischen dem A G B G zu entnehmen ist, spielt auch heute noch eine gewisse Rolle, vgl. etwa Heinrichs N J W 1995.156. " Vgl. Palandt-Heinrichs, § 242 Rdn. 110 ff. 12 Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 23 ff. 13 Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 26. H Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 26. 15 Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 38 ff. " Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967 S. 527; Larenz SchR I S. 129 m. w. N Fn. 13; Medicus SchR I S. 69 m. w. N. 17 Vgl. Medicus SchR I S. 70; MünchKomm-Äoi/; § 242 Rdn. 38 ff. 18 Mestre, Rev trim dr civ 1986.101; Picod S. 83. " Vgl. Benabent aaO; Starck-Roland-Boyer II 2 Nr. 1198: longtemps tenue en sommeil par la jurisprudence.

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mit dieser. Es gilt auch nicht im gleichen Umfang, wie das bei Treu und Glauben im deutschen Recht geschieht, denn das würde erstens voraussetzen, daß Art. 1134 Abs. 3 C C nicht nur als Pflichten begründende Schuldvertragsnorm verstanden wird, und zweitens, daß beide Maßstäbe inhaltlich gleichartig sind. Schon hier darf festgestellt werden, daß fortdauernde Unterschiede zwischen § 242 BGB und Art. 1134 Abs. 3 C C kaum überraschen können. Wer aus deutscher Sicht an das ganze Thema herangeht, muß sich stets vor Augen halten, daß die Treu und Glauben nach § 242 BGB zugewiesenen Aufgaben so weit über die ursprüngliche gemeinsame Funktion der bona fides hinausreichen, daß die Bemerkung nicht übertrieben ist, der Wortlaut der Vorschrift sei „schlicht unmaßgeblich" geworden 20 . Ein Vergleich der Funktionen von bonne foi und Treu und Glauben i. S. der Art. 1134 Abs. 3 C C und § 242 BGB setzt voraus, daß es sich um den gleichen Maßstab handelt. Während sich die deutsche Dogmatik seit längerem um eine Bestimmung des Wertegehalts von Treu und Glauben bemüht, der im folgenden nur zusammengefaßt werden kann, sind die französischen Stellungnahmen zur bonne foi bis in neuere Zeit sehr zurückhaltend. Es kann hier außer acht bleiben, daß der Begriff traditionell doppeldeutig ist21. Er meint sowohl Gutgläubigkeit als auch Gutwilligkeit. Da der gute Glaube Gegenstand der Rechtsscheinlehre und ihrer speziellen Ausformungen des gutgläubigen Erwerbs eines Rechts oder einer Rechtsposition ist22, geht es bei der bonne foi des Art. 1134 Abs. 3 C C nur um die Bedeutung i. S. der Gutwilligkeit. Daher ist es heute üblich, bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C als loyaute zu bezeichnen. Dieser Begriff blieb solange notion vide de tout contenu und notion sterile23 wie die Vorschrift als bloße Auslegungsregel und Wiederholung alles dessen galt, was der Interpret nach den Empfehlungen des Gesetzgebers beachten sollte. Sich mit dem Begriff der bonne foi näher zu befassen und ihn von benachbarten Begriffen abzugrenzen, wurde überhaupt erst mit der Entdeckung einer eigenständigen Funktion des Art. 1134 Abs. 3 C C interessant. Wenn bis heute manche Fragen offen sind, so muß berücksichtigt werden, daß die ganze Entwicklung jüngeren Datums ist, ferner, daß auch der Begriff Treu und Glauben des § 242 BGB trotz jahrzehntelanger Bemühungen kaum als ausdiskutiert bezeichnet werden kann.

20

Vgl MünchKomm-Äoi/; § 242 Rdn. 9. Vgl. Guinchard-Montagnier, lexique de termes juridiques, 8. Aufl., Stichwort bonne foi; Dalloz, Rép Dr Civ, Bonne foi Nr. 3. 22 Vgl. Ferid-Sonnenberaer FrZR 1 C 124. Zum Eigentumserwerb 3 B 19 ff; zur Anscheinsvollmacht 1 F 1073. 2) Fend FrZR 2 B 6 m. w. N Fn. 17. 21

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II. Die Begriffe Treu und Glauben und bonne foi Sprachlich treten Treu und Glauben als ein gravitätischer altdeutschtümelnder Begriff auf, dessen Pathos der modernen Sprache fremd ist, mag er dem Juristen auch leicht über die Zunge gehen. Die Wortkombination verdeckt eher, was gemeint ist, und das ist wohl einer der Gründe, weshalb bis heute immer wieder Stimmen laut werden, die überhaupt eine Definierbarkeit bezweifeln. Hinter dem Begriffspathos werden dennoch Strukturen sichtbar. Der Begriff meint erstens das Gebot der Redlichkeit, daß man zu seinem Wort steht und in dieses gesetztes Vertrauen nicht enttäuscht oder mißbraucht, sondern sich so verhält, wie es den von sozialen und verhaltensethischen Geboten der betreffenden Verkehrskreise geprägten berechtigten Erwartungen des Partners entspricht24. Zweitens beinhaltet er nach heute wohl allgemeiner Meinung das Gebot billiger Rücksichtnahme auf die Interessen des Partners entsprechend den Wertungen der von Rechtsgleichheit ausgehenden westlich-abendländischen Rechtskultur 25 . Treu und Glauben binden folglich die rechtlichen Beziehungen zwischen Rechtssubjekten einerseits an die Verhaltensgebote, die notwendig sind, daß sich die Partner mit gegenseitigem Vertrauen gegenübertreten können, und andererseits an die Gebote, die dem Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit Wirkung verleihen26. Darüber hinaus wurden Treu und Glauben unter dem Etikett unzulässiger Rechtsausübung über das Schikaneverbot des § 226 B G B hinausgehend zur Grundlage für Begrenzungen privatrechtlicher Rechtspositionen, die sich nicht auf einen einheitlichen Nenner zurückführen lassen. Demgegenüber stellt der Begriff der bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C die gegenseitige loyauté der Partner einer schuldrechtlichen Beziehung in den Vordergrund. Ethymologisch ist damit wie bei Treu und Glauben Redlichkeit gemeint, wobei allerdings zu beachten ist, daß sich zu dem Begriffskern weitere Bedeutungen gesellen. Soweit es um Redlichkeit geht, kann ebenso wie bei Treu und Glauben davon ausgegangen werden, daß bonne foi das Verhalten von Vertragspartnern den Anforderungen gegenseitigen Vertrauens unterwirft. Dieser Aspekt ist seit der Entdeckung der Kooperationsfunktion der Verträge noch verstärkt worden, denn nunmehr erscheint bonne foi als Inbegriff der Verhaltensgebote, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Vertrags-

Larenz SchR I S. 125 f. MünchKomm-AoiÄ § 242 Rdn. 5. 26 Beide Blickrichtungen finden sich in unterschiedlichen Abstufungen vielfach im deutschen Schrifttum und in der Rspr. Auch insoweit genügt hier der Hinweis auf Larenz Sehr I insbes S. 126; MünchKomm-Äoi/? aaO; Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 3. 24 25

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partner erfordert 27 . Etwas altertümlich aber einprägsam wird das mit der Formel tous les soins d'un bon père de famille umschrieben. Damit wird das Verhalten der Vertragspartner an einen gesellschaftlichen Standard von Geboten gebunden 28 , was aber nicht in einem formalistischen Sinn geschehen, sondern auf den konkreten Vertrag und den Zweck bezogen werden soll, den die Partner kooperativ verfolgen 29 : Die Vertragspartner führen einen Vertrag de bonne foi aus, wenn sie gegenseitig ihr Verhalten an den Geboten orientieren, die ein bon père de famille in der konkreten Situation befolgen würde. Die insoweit gegebene Parallelität von Treu und Glauben und bonne foi läßt vergleichbare Ergebnisse im deutschen und französischen Recht erwarten. Im Verständnis der bonne foi als Redlichkeit ist die zweite Komponente von Treu und Glauben, das Gebot billiger Achtung der Interessen des Vertragspartners, die den deutschen Begriff zum rahmenartigen Maßstab einer auf den konkreten Vertrag bezogenen ausgleichenden Gerechtigkeit macht, nicht unmittelbar enthalten. Sie ist allerdings auch nicht apriori auszuschließen, denn neben dem Begriffskern der Redlichkeit bedeutet loyauté auch Rechtschaffenheit, Anständigkeit und Gewissenhaftigkeit 30 . Damit lassen sich durchaus materielle Wertvorstellungen ausgleichender Gerechtigkeit verbinden: Ein gewissenhafter Schuldner leistet so, wie es billigerweise, also nach équité, von ihm erwartet werden darf; ein anständiger Gläubiger verlangt nicht, was der équité widerspricht. Dennoch muß man hier vorsichtig sein. Der Gesetzgeber hat auf équité gesondert in Art. 1135 C C verwiesen, sie also wohl nicht als Element der bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C angesehen. Zwar werden beide Vorschriften häufig ohne weiteres nebeneinander genannt. Das geschieht aber keineswegs immer im Sinn einer Ausweitung des Begriffes bonne foi, sondern häufig wegen Abgrenzungsschwierigkeiten. Deshalb bleibt das Verhältnis der bonne foi zur équité oft eher in der Schwebe31. Soweit dem Begriff équité näher nachgegan27

S. Mestre und Picod (oben Fn. 18); Bénabent Trav Ass Cap XLIII S. 297 ff m. w. N. Vgl. Mayer S. 112. 29 Vgl. die einprägsame Formulierung von Terré-Simler-Lequette III Nr. 415. 30 Vgl. Petit Robert 1, Stichwort loyauté; Weis-Mattutat, Globalwörterbuch französisch-deutsch (Pons), Stichwort loyauté. 31 Für Starck-Roland-Boyer II.2 Nr. 1197 f zielt bonne foi auf das Verhalten der Parteien und das équilibre ihrer Beziehungen, schließt also équité offenbar ein. Ghestin-Viney IV Nr. 513, 516 zitieren bonne foi und équité einfach nebeneinander, ebenso MalaurieAynès I Nr. 632-634 (bezüglich der Sicherheitspflicht), sowie offenbar Talon S. 15 (austauschbar) und Carbonnier IV Nr. 27, 112 (équité und loyauté sollen gleichermaßen den esprit gegenüber dem Wortlaut des Vertrages gewährleisten). Die Rechtsprechung verfährt wenig systematisch und nennt entweder équité und bonne foi einfach nebeneinander, oder beruft sich einmal auf équité, ein andermal auf bonne foi, vgl. JCl Civ Art. 1134—1135 Nr. 58 f. 28

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gen wird, erlangt er als ein von der bonne foi durchaus zu unterscheidender Maßstab für ausgleichende Gerechtigkeit Gestalt32 und zwar nicht als Rahmen für objektive Regeln, sondern als Ausdruck dafür, was nach Gerechtigkeitsgefühl und Rechtsgewissen in der konkreten Situation angemessen und gerecht ist33. Dabei geht es nicht um das Rechtsgefühl der Parteien oder einer irgendwie zu definierenden Öffentlichkeit, sondern des Richters, der in einem Streitfall zu entscheiden hat34. Das alles erklärt, daß der équité auch in der modernen Dogmatik mit Skepsis begegnet wird. Ist sie überhaupt mehr als ein Leitmotiv für richterliche Urteilsfindung 35 ? Jedenfalls ist sie anders als die bonne foi nach Art. 1134 Abs. 3 nach Art. 1135 C C nur als letzte Stütze berufen36. Was das Verhältnis der équité zur bonne foi betrifft, ist beim derzeitigen Entwicklungsstand nicht eindeutig, daß dieser Begriff die Doppelbedeutung erhält, die Treu und Glauben im deutschen Recht haben. Zwar könnte eine neuere Entscheidung der Cour de Cassation vom 3. 11.1992 37 in diese Richtung deuten. Das Urteil betrifft jedoch einen sehr speziellen Sachverhalt und ist deshalb als Leitentscheidung wenig geeignet. Dennoch hat es im Schrifttum großes Echo gefunden und ist allein schon deshalb berichtenswert. Zwischen dem Kläger und der Beklagten bestand ein Tankstellenvertrag in Gestalt eines contrat de distribution agréée. Da sich die Verhältnisse so entwickelt hatten, daß der Inhaber der Tankstelle auf der Grundlage des Vertrages keinen konkurrenzfähigen Verkaufspreis des Kraftstoffes mehr kalkulieren konnte, hielt die Cour de Cassation die Liefergesellschaft nach bonne foi für verpflichtet, den Lieferpreis neu zu verhandeln. Das Urteil sagt nicht, daß die Liefergesellschaft zur billigen Rücksichtnahme auf die Interessen des Partners verpflichtet ist. Aber mit dem Redlichkeitsgebot als Gebot zu loyaler Zusammenarbeit allein läßt sich die Pflicht zu neuerlicher Preisverhandlung nicht erklären. Ob sich an das Urteil eine weitere Entwicklung anschließt, bleibt abzuwarten. Von namhafter Seite wird bezweifelt, ob bonne foi geeignet ist, Aquivalenzstörungen zu beseitigen38. Das 32 Vgl. Terré-Simler-Lequette III Nr. 417: bonne foi = Loyalität des Verhaltens, équité = Gerechtigkeit. 33 Vgl. ausführlich Picod S. 83, 86 ff, 93 f: Bonne foi begründet die Pflicht, den Vertrag im gegenseitigen Vertrauen zu verhandeln und auszuführen. Equité stellt den zustandegekommenen Vertrag auf die Grundlage der justice commutative. 34 Vgl. Malaurie-Aynès, Introduction Nr. 39; Starck-Roland-Boyer, Introduction Nr. 14 (sub c 2); Mazeaud-Chabas 1.1 Nr. 8 (conscience du juge). 35 Vgl. Picod S. 94: elle est au juge ce que la muse est au poète. 36 Vgl. Picod aaO; Terré-Simler-Leauette III Nr. 417. 37 Rev trim dr civ 1993. 124 ff Anm. Mestre. 38 Zweifelnd - nach rechtsvergleichenden Hinweisen u. a auf das deutsche Recht Loussouarn, Trav Ass Cap XLIII 1992, S. 10 ff, 17. Zur Vorsicht mahnt auch Talon S. 11 f. Vgl. auch unten Fn. 65.

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wäre aber wohl ebenso wie bei Treu und Glauben eine unausweichliche Konsequenz, wenn man ihr die équité zuschlägt. Es fällt auf, daß die im deutschen Recht als unzulässige Rechtsausübung Treu und Glauben zugeordneten Verbote der Ausübung privatrechtlicher Positionen im französischen Recht nicht aus dem Standard der bonne foi hergeleitet werden. Sie sind vielmehr Gegenstand der Lehre vom abus de droit, die ihre Grundlagen in den Verboten dolosiver bzw schuldhafter Verletzung berechtigter Interessen eines anderen oder einem Verbot des détournement de la finalité sociale subjektiver Rechte hat39. Die Rechtsprechung hat sich bisher nicht festgelegt, obgleich eine gewisse Tendenz zur deliktsrechtlichen Verankerung des Mißbrauchsverbots im faute-Prinzip beobachtet werden kann40. Dabei ist die Abgrenzung zur bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C nicht klar zu ziehen: Kann nicht die Ausübung einer sich aus einem Vertrag ergebenden Berechtigung gerade deshalb abus de droit sein, weil der betreffende Partner damit gegen seine Pflicht zu loyaler Kooperation verstößt? 41 III. Die Funktion von bonne foi im Vergleich zu Treu und Glauben 1.

Allgemeines

Das nicht eindeutige Verständnis der bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C hat wichtige Konsequenzen, die sowohl die Funktion der bonne foi als auch der équité nach Art. 1135 C C berühren. Wenn man so weit geht, équité in den Begriff der bonne foi einzubeziehen, so verliert die Verweisung auf erstere in Art. 1135 C C ihre Bedeutung. Die Präzisierung der Pflichten als auch Nebenpflichten kann sowohl unter dem Aspekt der Redlichkeit als auch der ausgleichenden Gerechtigkeit aus Art. 1134 Abs. 3 C C hergeleitet werden, so daß diese Vorschrift sich sehr stark der vertragsergänzenden Funktion des § 242 B G B nähern würde. Beschränkt man dagegen bonne foi auf Redlichkeit, so kann sich der Maßstab ausgleichender Gerechtigkeit nur nach Art. 1135 C C auf die Ausgestaltung eines Vertrages auswirken. Equité soll aber nach dieser Vorschrift lediglich einen rôle residuel42 haben und remède exceptionnel43

Vgl. Ferid-Sonnenberger 1 C 156 ff. Ebendort 1 C 159. 41 Vgl. z. B. App Rouen v. 15. 2. 1992, Rev trim dr civ 1993. 355 Anm. Mestre: Honorarklausel eines Rechtsanwalts abusive, sein darauf gestütztes Leistungsverlangen nicht de bonne foi. Vgl. ferner Ghestin-Billiau III Nr. 244: das Recht zu einseitiger Vertragsauflösung muß de bonne foi ausgeübt werden, sonst liegt abus de droit vor; Picod Nr. 81. « Picod Nr. 80 (S. 94). 43 Vgl. Terré-Simler-Lequette III Nr. 417. 39 40

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bleiben. Will man mehr, so müßte Art. 1135 C C selbst anders verstanden werden. Manches Gerichtsurteil weckt einen solchen Eindruck. Der Kassationshof hat wiederholt Vertragsparteien ohne Zögern zusätzliche Pflichten auferlegt, wenn er das kraft équité für erforderlich hielt. Bisweilen scheint équité Grund und Inhalt zusätzlicher Pflichten gleichzeitig zu bestimmen und zwar derart, daß diese als Konsequenz einer Art règle générale erscheinen44. Hier bleiben grundsätzliche Fragen offen: Wo liegen die Grenzen für solche Pflichten, wenn équité nicht nur über ihre Ausgestaltung, sondern auch darüber entscheidet, ob sie ohne Vereinbarung einem Partner aufzuerlegen sind?45 Muß sich wegen des relativen und subjektiven Charakters 46 der équité ihr Einsatz nicht auf Ergänzungen der vereinbarten Pflichten im Einzelfall beschränken, so daß jede Art von Regelbildung ausscheidet? 47 Versteht man bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C ausschließlich als Redlichkeit, also unter Ausschaltung des équité-Gedankens, so wird verständlich, daß die Vorschrift anders als § 242 BGB nicht unter Berufung auf justice commutative von der Rechtsprechung herangezogen werden konnte, um Klauseln und insbesondere AGB-Klauseln einer Angemessenheitskontrolle zu unterwerfen. Die Kontrolle anstößiger Klauseln mußte außerhalb der bonne foi angesiedelt und zwar durch den Gesetzgeber, der den Begriff der clauses abusives schuf 48 . Nicht Redlichkeit, sondern die Mißbrauchslehre war richtungsweisend. Ferner liegt hier eine entscheidende Ursache, daß Art. 1134 Abs. 3 C C dem Richter keinerlei Handhabe bietet, Verträge unter Berufung auf bonne foi veränderten Verhältnissen anzupassen. Erst recht bietet ein an die Parteien sich richtendes Redlichkeitsgebot keinerlei Grundlage für richterliche Rechtsfortbildung. Als weitere Konsequenz ergibt sich, daß nicht bereits ein Verstoß gegen bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C ausreicht, um unzulässige Rechtsausübung zu begründen. Ferner decken sich auch die Wirkungen festgestellter unzulässiger Rechtsausübung nicht mit denjenigen des 44 Vgl. z. B. Cass Civ v. 13. 10. 1987, Bull Civ 1987 I Nr. 262 S. 190: Ein Hotel, das einen Salon vermietet und einen Nebenraum als Garderobe einrichtet, hat die Pflicht, diesen zu überwachen. Oder Cass Civ v. 15. 11. 1988, Bull Civ 1988 I Nr. 318 S.216: Der Banksafevertrag verpflichtet den Bankier, den Inhaber des Schlüssels auf seine Berechtigung zu überprüfen. 45 Das Problem erweist sich besonders bei der noch zu behandelnden obligation de sécurité als dornenreich. 46 Vgl. Agostini D 1974 Chr 8 (Nr. 3); Malaurie-Aynès Introduction Nr. 38; Terré-Simler-Lequette III Nr. 428 a. E.; Starck-Roland-Boyer Nr. 43; Dalloz, Rép Dr Civ, Equité Nr. 1, 7. 47 Malaurie-Aynès, Introduction Nr. 39, sehen darin wegen der fallbezogenen Ausgleichsfunktion der équité eine pente fatale. Vgl. auch Carbonnier, Introduction Nr. 14. 4S Ausführlich Ferid-Sotinenberger 1 F 819 ff m. w. N.

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Art. 1134 Abs. 3 C C . Während es in dieser Vorschrift um die Bestimmung der Pflichten der Vertragspartner geht, handelt es sich bei der Lehre vom abus de droit darum, die Auswirkungen eines abus durch Schadensersatz zu kompensieren oder sonst wie zu beheben, sei es daß die Rechtsausübung die bezweckte Wirkung nicht herbeiführt oder diese auf andere Weise verhindert wird. Dieses Thema wird hier, obgleich es aus deutscher Sicht zu § 242 B G B gehört, nicht weiter verfolgt.49 2. Zeitlicher Wirkungsraum der bonne foi Art. 1134 Abs. 3 C C wurde als streng vertragsrechtliche Norm verstanden: Außerhalb eines Vertrages schulden sich die Rechtsgenossen keine Loyalität. Nur muß ein jeder vermeiden, daß er einem anderen durch seine faute oder durch Sachen, die in seiner garde sind, Schaden zufügt. Tut er das nicht, so ist er nach responsabilité extracontractuelle haftbar. Dies galt auch bei Bestehen faktischer Sonderbeziehungen zwischen Schädiger und Geschädigtem. Ein vertragsähnliches Schuldverhältnis durch Aufnahme von Vertragsverhandlungen mit einem spezifischen Pflichtenkanon der Verhandelnden gab es nicht. Heute ist diese Auffassung überholt. Zwar ist Haftungsgrundlage immer noch Art. 1382 C C , was damit zusammenhängt, daß es im Unterschied zu § 831 B G B keine Exkulpationsmöglichkeiten für den Geschäftsherrn gibt. Dagegen ist für die Präzisierung der situationsbedingten faute des Schädigers die vorvertragliche Sonderbeziehung der Verhandlungspartner zu beachten. Da sich in dieser Phase bereits die Kooperation zwischen ihnen entfaltet, ist anerkannt, daß bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C eine wichtige Antriebskraft bildet50. Sieht man von den inzwischen erlassenen zahlreichen Sondervorschriften insbesondere des Verbraucherschutzes ab, so liegt hier der Grund für die von der Rechtsprechung entwickelten vorvertraglichen Aufklärungs- und Informationspflichten 51 . Diese für die unterschiedlichen Verhandlungslagen mit Blick auf den beabsichtigten Vertrag zu konkretisierenden Pflichten werden inzwischen unter dem Dach der bonne foi zusammengefaßt, die infolge ihres rahmenartigen

n Vgl. Ferid-Sonnenberger 1 C 144. Auf die noch ausstehende nähere Untersuchung der Lehre vom abus de droit im Schuldvertragsrecht (vgl. 1 C 163 Fn. 212) ist hinzuweisen. so Dieses Thema ist ausführlich in Ferid-Sonnenberger 1 F 267 ff m. w. N abgehandelt und muß nicht vertieft werden. Zur Anwendung des Art. 1134 Abs. 3 C C auf das Verhalten von Verhandlungspartnern vgl. aber noch die interessante thèse von Fabre-Magnan Nr. 439 ff. 51 Dagegen war die Entwicklung einer vorvertraglichen Personen- und Sachsicherungspflicht nicht erforderlich, so daß es hier bei der Anwendung des allgemeinen Deliktsrechts bleiben konnte, vgl. Ferid-Sonnenberger 1 F 276.

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Charakters weitere Entwicklungen ermöglicht. Art. 1134 Abs. 3 C C und der bonne foi kommt damit eine wichtige Funktion für die Ausbildung eines Schuldverhältnisses in contrahendo zu, so daß man von einer bedeutenden Neuorientierung dieser Vorschrift sprechen kann. Dagegen endet der Anwendungsbereich des Art. 1134 Abs. 3 C C grundsätzlich mit Beendigung der schuldvertraglichen Beziehung. Nachvertragliche Pflichten werden aus bonne foi nicht hergeleitet. Entweder werden sie unmittelbar im Vertrag selbst verankert, also gar nicht als postcontractuelles angesehen, so daß ihre Verletzung noch als Verletzung einer Vertragspflicht erscheint. Andernfalls kommt bei Schädigung des Partners der inzwischen beendeten Beziehungen nur eine Deliktshaftung nach allgemeinen faute-Kriterien in Betracht52. 3. Bonne foi und die Bestimmung der Leistungspflichten der Vertragspartner Sieht man von der Funktion der bonne foi für die vorvertragliche Phase ab, so steht außer Zweifel, daß Art. 1134 Abs. 3 C C insbesondere für die gesamte Phase der Vertragsausführung weit über seinen Wortlaut hinausgewachsen ist. Bonne foi hat hier eine Treu und Glauben nach § 242 BGB vergleichbare Funktion erlangt. Seit Anfang der siebziger Jahre ist die Vorschrift Grundlage zahlreicher Nebenpflichten geworden, die weder im Parteiwillen noch im Gesetz verankert werden können53, sich aber erklären lassen, wenn man Art. 1134 Abs. 3 C C im Sinne einer Vertragskonzeption versteht, die Verträge nicht lediglich als Kompromiß gegenläufiger Interessen, sondern - wie es Mestre ans Licht gebracht hat54 - als Kooperationsinstrumente versteht. Schon DemogueK hatte 1932 ähnliches geäußert, konnte sich mit seinen Überlegungen gegen die damals übermächtige Dominanz des Willensdogmas aber nicht durchsetzen. Ohne daß die zentrale Bedeutung des Willens in Frage gestellt wird, erscheint dieser von nun ab eingebettet in einen als Loyalitäts- und Kooperationsgebot, devoir de loyauté et de coopération, 52

Vgl. etwa zur nachvertraglichen Verpflichtung eines Arbeitnehmers, Konkurrenztätigkeit zu unterlassen, Ferid-Sonnenberger 2 K 62; desgleichen des Veräußerers eines Unternehmens, Pédamon, Droit Commercial, 1994, N r . 276. Für die nachvertragliche Pflicht zum Schutz des Vertragspartners und seiner Sachen, solange diese sich noch in dem vom anderen kontrollierten Gefahrenbereich befinden, vgl MünchKomm-Roi/) § 242 BGB Rdn. 197, dürfte im französischen Recht die deliktsrechtliche faute - oder Sachhalterhaftung ausreichen, da es wie oben erwähnt keine Exkulpation bei Handeln eines Verrichtungsgehilfen gibt. Es gilt folglich das Gleiche, wie für die vorvertragliche Phase, vgl vorige Fn. 53 Vgl. Mayer S. 110 f. 54 Vgl. oben Fn. 18. 55 Demogue VI Nr. 12.

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umschriebenen Pflichtenrahmen, aus dem sich verschiedene Verpflichtungen, obligations, der Partner unabhängig von ihrem Willen ergeben 56 . Diese Pflichten betreffen wie im deutschen Recht zunächst die A r t und Weise der Hauptleistung. Im Grunde ist das, wie eingangs festgestellt, nicht neu. Deutsches und französisches Verständnis waren sich in diesem Punkt seit langem nahe. Das neue Vertragsverständnis im französischen Recht hat aber zu einer Häufung und auch zu Änderungen der Zielrichtung der Pflichten geführt. Dies gilt z. B. f ü r die Pflicht eines Partners, auf die Belange des anderen Partners Rücksicht zu nehmen 57 , was allerdings nicht so weit geht, daß allgemein die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen ist58. Besonders nachhaltig wurde die Ausübung eines Rechts zur Vertragsauflösung von dieser Pflicht berührt 59 , desgleichen die Geltendmachung eines Anspruchs, obgleich der Gläubiger den Eindruck erweckt hatte, er werde nicht auf ihn zurückkommen 6 0 . Das Loyalitätsgebot vermag die Pflicht zu begründen, daß sich ein Gläubiger in die Lage versetzt, die auf Abruf vereinbarte Leistung auch abrufen zu können 6 1 , oder daß er dafür Sorge trägt, daß dem Schuldner Sicherheiten nicht verloren gehen 62 . Erfordert die A r t der Hauptleistung Zusammenarbeit, so sind die Partner zu dieser verpflichtet und zwar auch, wenn das zusätzliche Tätigkeiten erfordert 6 3 . Die

56 Vgl. schon Demogue VI Nr. 14 und im neueren Schrifttum statt vieler JC1 Civ Art. 1134 et 1135 Nr. 90, 99; Terré-Simler-Lequette III Nr. 414; Starck-Roland-Boyer II.2 Nr. 1198, 1202. Die Terminologie ist aber nicht immer einheitlich. So verwendet Picod in seiner Monographie zwar devoir de loyauté, fährt dann aber mit obligation de coopération fort. Nicht ganz glücklich Mayer, der S. 112 ff, 123 ff devoir allgemein durch obligation de coopération ersetzt. Kritisch zu der Vermengung Fabre-Magnan Nr. 4 ff. Es empfiehlt sich, obligation nur dann zu verwenden, wenn von bestimmten Verpflichtungen die Rede ist, die sich aus dem devoir de loyauté et de coopération ergeben, mit diesem also nur den Pflichtenrahmen zu bezeichnen. 57 Vgl. z. B. App Colmar v. 15.2. 1963, JC1 Civ Art. 1134 et 1135 Nr. 93 (5. Fall); Cass Com v. 19. 12. 1989, Rev trim dr civ 1990. 649 Anm. Mestre; zustimmend Terré-SimlerLequette III Nr. 416. 58 Das kann den Spezialregelungen der Art. 1244-1 CC und Art. L 331-5 CConsom entnommen werden, die einen Rückgriff auf Art. 1134 Abs. 3 CC ausschließen, vgl. Mestre Rev trim dr civ 1994. 100 f. 59 Am Anfang steht Cass Civ v. 14. 3. 1956, D 1956 J 449. Vgl. zur weiteren Entwicklung etwa JC1 Civ Art. 1134-1135 Nr. 98. Interessant Cass Soc v. 25. 2. 1992, Rev trim dr civ 1992. 760 f Anm. Mestre. 60 Vgl Cass Com v. 7. 1. 1963, Bull Civ 1963 III Nr. 16; Cass Civ v. 8. 4. 1987, Bull Civ 1987 III Nr. 88. Die Fälle sind der Verwirkung im deutschen Recht vergleichbar. " Cass Com v. 1. 10. 1991 zit. nach Bénabent, Ass Trav Cap XLIII 1992. 295. " Cass Com v. 16. 4. 1991 Bull Civ 1991 IV Nr. 142. " App Paris v. 18. 6. 1984, Rev trim dr civ 1986. 100 Anm. Mestre (Pflicht des Lieferanten von elektronischer Hard- und Software, die Anforderungen des Kunden in klare Sprache umzusetzen); v. 26. 6. 1985, ebendort (Dialogbereitschaft des Kunden bei Inbetriebnahme des Systems).

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jüngste Tendenz, sogar eine Pflicht zur Neuverhandlung der Vertragselemente aus dem devoir de coopération abzuleiten, wurde bereits erwähnt64. Sollte sich dies verfestigen, wäre künftig - wenn auch in anderer Gestalt - ein französisches Äquivalent der deutschen Behandlung der Veränderung der Geschäftsgrundlage gegeben65, so daß richterliche Vertragskorrekturen sich erübrigen66. Insgesamt erweist sich das Loyalitätsund Kooperationsgebot des Art. 1134 Abs. 3 C C als wahrer Motor der Entdeckung neuer Partnerpflichten. 4. Typisierte Nebenpflichten Abgesehen davon, daß die Funktion der bonne foi nach Art. 1134 Abs. 3 C C von der bloßen Präzisierung der Hauptleistung unmerklich in Richtung zusätzlicher, vom jeweiligen Vertrag abhängender Pflichten ausgedehnt worden ist, haben sich zwei Pflichten zu Typen entwickelt, die aber soviel Spielraum lassen, daß sie im konkreten Vertrag der Interessenlage angepaßt werden können, also nicht monotypisch wirken: Die obligation d'information et de renseignement und die obligation de sécurité. Beide können selbstverständlich zu Hauptpflichten gemacht werden, so daß der Vertrag zum Auskunfts-, Beratungs- oder Sicherheitsvertrag wird. Desgleichen können sie zu Hauptpflichten in einem anderen Vertrag gemacht werden. Beides setzt entsprechende Vereinbarungen der Partner voraus und interessiert hier folglich nicht67. Die obligation d'information et de renseignement hat sich in einem noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbarem Maße entwickelt, so daß sie inzwischen den ersten Platz unter den vertraglichen Nebenpflichten einnimmt68. Sie wird von obligations de conseil und de discrétion flankiert. Zweite typisierte Nebenpflicht ist die Sicherungspflicht, obligation de sécurité, die dem Schuldner im Interesse der Unversehrtheit vor Oben Fn. 37. Vgl. dazu Picod Nr. 176; Malaurie-Aynes VI Nr. 622 mit Hinweis auf Desgorges, La bonne foi dans le droit des contrats, rôle actuel et perspectives, thèse Paris II, 1992. Es ist aber gegenwärtig für eine Aussage noch zu früh. Laut Mestre Rev trim dr civ 1993. 124 ff kann die Fn. 37 zitierte Entscheidung der Cass Com noch nicht als arrêt de principe angesehen werden. 66 Scheitert die Neufestlegung des Vertrages an einer Verletzung der obligation de rénégocier, so können die Folgen durch Begründung einer Schadensersatzpflicht, evtl auch durch richterliche Vertragsauflösung, also nach allgemeinem Leistungsstörungsrecht, behoben werden. 67 Vgl. Picod Nr. 95; Fabre-Magnan Nr. 412, 423 statt vieler. " Ferid FrZR 2 B 20 weist auf diese Pflicht entsprechend der damaligen Rechtslage nur beiläufig hin. Ghestin nennt in der préface zur großen thèse von Fabre-Magnan, De l'obligation d'information dans les contrats, Paris 1992, die Entwicklung particulièrement spectaculaire. Bibliographische Nachweise bei Fabre-Magnan S. 3 Fn. 10; Picod Nr. 94 Fn. 3; Starck-Roland-Boyer II.2 Nr. 285 Fn. 205. M

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allem der Person des Gläubigers 6 ' obliegt. Die lange vor der Informationspflicht entwickelte obligation de sécurité ist bis heute dogmatisch nicht abschließend geklärt, was sich wesentlich auf ihren Bestand und ihre Ausgestaltung auswirkt. Beide Pflichtengruppen sind vor allem Pflichten des Schuldners. Sie können aber nach dem Verständnis des Vertrages als Kooperationsinstrument durchaus auch dem Gläubiger obliegen 70 . Die überwiegend aus bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 CC 7 1 abgeleitete Informationspflicht ist erstmals offenbar 1945 von Juglart72 genauer untersucht worden, hat sich aber nur langsam durchsetzen können. Angesichts der heute erreichten Breite ihres Wirkungsfeldes in der Rechtsprechung .hat die Lehre mit unterschiedliche Ansätzen Strukturierungen versucht, die aber wohl nur topischen Charakter haben können. Häufig wird von Vertragslagen ausgegangen: (1) Verträge, deren Hauptleistung von einem Spezialisten zu erbringen ist und für den Gläubiger ein besonderes Risiko beinhalten; (2) Verträge, die die Besorgung von Angelegenheiten des Gläubigers zum Gegenstand haben und durch eine besondere Vertrauensbeziehung desselben zum Schuldner gekennzeichnet sind; (3) auf Dauerbeziehung gerichtete Verträge, die während der Ausführung immer neue, von ausreichender Information abhängige Entscheidungen erfordern 73 . Für alle drei Gruppen gibt es zahlreiche Beispiele in der Rechtsprechung. Dennoch geäußerte Kritik richtet sich vor allem darauf, daß diese Gruppierungen keine Antwort geben, wie weit die Informationspflicht geht. Das trifft sicher zu und erklärt zugleich, daß ihre Begrenzung auf Umstände, deren Kenntnis für den Gläubiger mit Blick auf die Hauptpflichten nützlich und erlaubt sind74, breite Zustimmung gefunden hat75 Dennoch besteht kein Grund, die vertragstypologische Strukturierung aufzugeben. Vielmehr läßt sich beides sehr gut miteinander zu einer aufeinanderfolgenden Grob- und Feinabstimmung verbinden. So wird man die Informationspflicht einer " Auf diese beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen. Nebenpflichten zur Vermögenssicherung treten dagegen völlig zurück. Sie werden z. T. unter anderer Bezeichnung erörtert, vgl. z. B. zur Pflicht eines Hoteliers bei Vermietung eines Salons die Garderobe zu überwachen Cass Civ v. 13. 10. 1987, Bull Civ 1987 I Nr. 262; einer Bank bei Banksafe-Vermietung zur Kontrolle der Zugangsberechtigung Cass Civ v. 15. 11. 1988, Bull Civ 1988 1 Nr. 318. 70 Vgl. Picod S. 114 f. S. z. B. Cass C o m v. 7. 2. 1992, J C P 1993 II 22009. 71 Die auch anzutreffende Bezugnahme auf Art. 1135 C C hängt eng mit den oben geschilderten Unklarheiten zusammen. 72 Rev trim dr civ 1945. 1 ff. Dazu Fabre-Magnan Nr. 1 Fn. 7. 73 Picod Nr. 94 ff; teilweise entsprechend Mayer S. 132 ff. Kritisch zu diesen Typisierungen Fabre-Magnan Nr. 274. 74 Fabre-Magnan Nr. 170. 75 Vgl. statt aller Ghestin in der préface zur thèse von Fabre-Magnan.

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Bank über kursbestimmende Entwicklungen eines Anleihen emittierenden Unternehmens unterschiedlich weit ziehen müssen, je nachdem ein Depot- oder Verwaltungsvertrag vorliegt 76 . Hier führt die Grob- und Feinabstimmung zu einem befriedigenden Ergebnis. Die Typenbildung nach der Vertragsgestaltung erleichtert auch die Feststellung, ob bonne foi die Informationspflicht zu einer Beratungspflicht erweitert 77 . Es beruht nicht auf einem bloßen Zufall, daß bei Verträgen über den Erwerb von Hard- und Software komplizierter Datenverarbeitungssysteme weitgehend gleiche Informations- und Beratungspflichten aus bonne foi hergeleitet wurden 78 . Desgleichen läßt sich die Ergänzung der Informationspflicht durch eine Diskretionspflicht bei Verträgen beobachten, wo der Schuldner typischerweise vertrauliche Kenntnis von bestimmten Umständen aus der Sphäre des Gläubigers erlangt. Die Diskretionspflicht der Banken ist ein bekanntes Beispiel 79 . Man darf nur nicht bei der Vertragstypologie stehenbleiben, da bonne foi konkrete Redlichkeitsprüfung verlangt. Dabei kann auch nicht die Stellung des Gläubigers außer acht bleiben. So wird man die Informationspflicht des Schuldners weniger weit ziehen müssen, wenn der Gläubiger selbst Fachmann ist80. Die Pflicht des Schuldners, für die Sicherheit der Person des Gläubigers zu sorgen, ist verschiedentlich gesetzlich geregelt. Hier ist vor allem das Kfz-Haftungsgesetz vom 5. 7.1985 zu nennen. Das Thema wird außerdem von der Ausgestaltung der Sachhalterhaftung nach Art. 1384 C C und der' Erstreckung der Sachmängelgewähr auf Mangelfolgeschäden erheblich beeinflußt. All dies muß berücksichtigt werden, wenn über die nebenvertragliche obligation de sécurité gesprochen wird. Sie ist im Grunde nur von Interesse, wenn nicht eine speziellere Regelung zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Im Laufe der Entwicklung dieser Nebenpflicht ist das etwas in Vergessenheit geraten, wird jedoch neuerdings wieder in Erinnerung gerufen 81 .

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Vgl. das Beispiel Cass Com v. 18. 3. 1993, DS 1993 IR 165. Weitere Nachweise bei

Malaurie-Aynès

Nr. 634 Fn. 51.

Vgl. die Übersicht der Rspr. bei Starck-Roland-Boyer Fn. 51-58; Fabre-Magnan Nr. 475. 77

78

II.2 Nr. 1204; Picod

Nr. 102

Vgl. z. B. Cass Com v. 2 8 . 1 0 . 1 9 8 6 , Bull Civ 1986IV Nr. 195; App Paris v. 4 . 1 . 1980,

DS 1985 IR 42; v. 18. 6. 1984 Rev trim dr civ 1986. 102 Anm. Mestre;

v. 15. 1. 1987, DS

1987 IR 37. 79 Vgl. Lamy, Droit du financement, 1994, Nr. 2778. Vgl ferner Picod Nr. 111 ff; RivesLange/Contamin-Raynaud, Droit bancaire, 5. Aufl. 1990, Nr. 172 ff. Auf das wohl nicht zutreffende Verständnis der deutschen Rechtslage bei Picod Nr. 111 kann hier nicht eingegangen werden. 80

Umfassend Fabre-Magnan

Terré-Simler-Lequette S1 Vgl. Ghestin-Viney

Nr. 241 ff; Starck-Roland-Boyer

II.2 Nr. 296. Vgl. ferner

III Nr. 430; Cass Com v. 15. 11. 1978, Bull Civ 1978 IV Nr. 263. IV Nr. 501. S. auch nachfolgend Fn. 83.

Treu und Glauben - ein supranationaler Grundsatz?

719

Die Pflicht, für die Sicherheit des Gläubigers zu sorgen, wurde vom Kassationshof in der berühmten Entscheidung vom 21. 11.1911 82 für den Personenbeförderungsvertrag begründet und zwar als Neudefinition der Hauptpflicht des Beförderers, de conduire le voyageur sain et sauf à destination83. Erst Jahrzehnte später erscheint die Pflicht zur Sorge für die Sicherheit des Gläubigers als Nebenpflicht bei anderen Verträgen, die ein besonderes Risiko für diesen bergen84, sogar bei Kaufverträgen85. Während sie bei Beförderungsverträgen durch die Entwicklung der Kfz-Haftung und der außervertraglichen Risikohaftung mittlerweile weitgehend gegenstandslos geworden ist, schlagen sich Lehre und Rechtsprechung bis heute mit ihrer dogmatischen Verankerung bei den anderen Verträgen und den damit zusammenhängenden Präzisierungen herum. Die dogmatische Begründung wird ganz überwiegend in der équité gesucht86, so daß die Personensicherheitspflicht mit der Anwendung des Art. 1135 C C gerechtfertigt wird. Möglicherweise hängen damit jedenfalls teilweise die ungeklärten Einzelprobleme zusammen. Die Sichtweise wäre eine andere, wenn man auch hier das Loyalitätsgebot im Licht des Vertrages als Kooperationsinstrument sehen würde. Eine Pflicht, für die Sicherheit der Person des Partners zu sorgen, wäre danach zu bejahen, wenn die Art der Hauptleistung so beschaffen ist, daß sie für den Gläubiger nur bei gleichzeitiger Garantie seiner Unversehrtheit zu einem sinnhaften Ergebnis führt. Umgekehrt würde sich eine entsprechende Sicherheitspflicht des Gläubigers ergeben. Dabei ist nicht zu verkennen, daß die Ableitung der obligation de sécurité aus Art. 1134 Abs. 3 C C wohl leichter fiele, wenn der bonne foi zugleich ein Gebot der justice commutative immanent wäre87. Die dogmatische Verankerung auch der obligation de sécurité bei Art. 1134 Abs. 3 hätte zur Folge, daß man die Struktur des betreffenden Vertrages analysieren müßte. Nur so läßt sich ermitteln, ob der vertragsbezogene devoir de coopération eine Sicherheitspflicht erfordert. Dies entspricht der Auffassung, die das Bestehen einer obligation de sécurité

Abgedr. bei Capitant-Terré-Lequette Nr. 188. Vgl. die treffende Bemerkung von Jestaz, Dalloz, Rép Dr Civ, Equité Nr. 26. " Ubersichten bei Capitant-Terré-Lequette Nr. 188 observations I; Mazeaud-Cbabas II. 1 Nr. 402; Ghestin-Viney IV Nr. 500; Mayer S. 65 ff. 85 Cass Civ v. 11. 6. 1991, Bull Civ 1991 I Nr. 201. 86 Vgl. etwa J C I Civ A n . 1134 et 1135 Nr. 61; Terré-Simler-Lequette III Nr. 429; Mazeaud-Cbabas II.2 Nr. 351; rechtsvergleichend Mayer S. 60 ff. 87 Auf diesen Aspekt der Anwendung des Art. 1135 weist z . B . Gbestin-Billiau III Nr. 48 hin. Vgl. ferner die treffende Beobachtung von Meiler, Obligation de sécurité, Diss. Berlin 1974 S. 38. 82 !J

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Hans Jürgen Sonnenberger

nach Vertragslagen unterscheiden will 88 . Zu eng ist es allerdings, wenn eine obligation de sécurité nur bei Verträgen bejaht wird, wo sich der eine Partner wegen der Art der Hauptleistung der Obhut des anderen anvertrauen muß89. Daran ist zu Recht kritisiert worden, daß es zahlreiche Verträge gibt, wo dies nicht zutrifft, gleichwohl aber die Ausführung mit besonderen Gefahren für den Partner verbunden ist90. Hinzuzufügen ist, daß auch der die Hauptleistung Ausführende besonderen Gefahren ausgesetzt sein kann, die aus dem Verantwortungsbereich des Gläubigers herrühren. Wenn man die obligation de sécurité bei der bonne foi i. S. des Art. 1134 Abs. 3 C C verankert, sollte es möglich sein, auch diese Fälle zu erfassen. Die Orientierung der obligation de sécurité an der Vertragsstruktur und bonne foi würde es erleichtern, die derzeitigen Schwierigkeiten zu überwinden, ob es sich um eine besondere Sorfaltspflicht oder eine rein erfolgsbezogene Sicherheitspflicht handelt. Diese Streitfrage, die beim Beförderungsvertrag ungeklärt ist91, könnte sich von vornherein nicht stellen, weil die Anwendung des Art. 1134 Abs. 3 vertragsspezifisch und nicht durch Übernahme ähnlicher Regelungen aus anderen Vertragsarten namentlich des Beförderungsvertrags zu erfolgen hat. Geht man davon aus, daß obligations de sécurité als vertragliche Nebenpflichten nur in Betracht kommen, soweit das nach der Vertragsstruktur für loyale Ausführung im Geist der Kooperation erforderlich ist, so läßt sich ihre postulierte92 und in neuerer Zeit von der Rechtsprechung93 verwirklichte Zurückdrängung erklären. Soweit sich bereits aus objektivem Recht ein ausreichender Schutz des verletzten Gläubigers und des Schuldners! - ergibt, bedarf es nicht einer vertraglichen Nebenpflicht: eine obligation accessoire, die zum Schutz berechtigter Interessen eines Vertragspartners nicht erforderlich ist, kann ihm weder aufgrund des Loyalitäts- noch des Kooperationsgebots auferlegt werden.

" Vgl. dazu näher Ghestin-Viney IV Nr. 501. " S. vor allem Dury, Rev trim dr civ 1977. 323. 90 Ghestin-Viney IV Nr. 501. Der Risikogedanke findet sich z. B. bei Starck-RolandBoyer II.2 Nr. 1071; Malaurie-Aynès VI Nr. 633. Vgl. ferner Carbonnier IV Nr. 296, der diesen Aspekt einschränkend präzisiert. S. aber auch den Hinweis von Ghestin-Viney IV Nr. 501: dieser Aspekt stellt die obligation de sécurité in unmittelbare Nähe zur Sachhalterhaftung nach Art. 1384 CC. " Dazu demnächst Ferid-Sonnenberger 2 B § 2 (in Vorbereitung). 92 Dezidiert Ghestin-Viney IV Nr. 501 a. E. » Vgl. etwa Cass Civ v. 7. 3. 1989, Bull Civ 1989 I Nr. 118; Cass Civ v. 10. 1. 1990, Rev trim dr civ 1990. 481; v. 4. 7. 1990, Bull Civ 1990 II Nr. 165. Diese Rechtsprechung hat jedoch bisher nicht zu einer allgemeine Schlußfolgerungen zulassenden Begrenzung geführt, wie z. B. die oben zitierte Behandlung des Kaufvertrages zeigt.

Treu und Glauben - ein supranationaler Grundsatz?

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IV. Schlußbemerkungen Ein altes französisches Sprichwort sagt, bonne foi va tout droit, und meint damit, daß integres und ehrenhaftes Verhalten keine Schleichwege benutzt. Der Sinn einer solchen Maxime wird durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse geprägt und hängt von den Vorstellungen ab, die in einem gegebenen historischen Moment in einer Gemeinschaft als Maßstäbe für den Umgang ihrer Mitglieder entwickelt werden. So ist es unausweichlich, daß bonne foi und Treu und Glauben in den Prozeß der Positivierung der Regeln einer bestimmten Gemeinschaft eingebunden sind und daraus ihre Stärke gewinnen, aber zugleich auch relativiert werden. Daran ändert der Umstand nichts, daß beide ihre Wurzeln in einem gemeinsamen Grund, der bona fides des römischen Rechts haben. Der gemeinsame Grund beinhaltet keine vorgegebene Ordnung, die es nur wieder aufzudecken gilt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Es ist aber nützlich, sie sich immer wieder zu vergegenwärtigen, vor allem in einer Zeit, in der juristische Theorie und Praxis und auch der Gesetzgeber immer öfter über die Grenzen des eigenen Rechts hinausgehen müssen.

Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes E R I C H STEFFEN

I. Das Schmerzensgeld ist für jeden Haftungsrichter eine besondere Herausforderung. Das hat mit der einzigartigen Spannung zu tun zwischen der Weitö des BGB-Konzepts, was das Schadensfeld betrifft, und der Enge seiner Schmerzensgeldberechtigung. Was das Schmerzensgeld kompensieren soll, haben die BGB-Väter nur negativ umschreiben können. Diese Konturlosigkeit beflügelt nicht nur die Kreativität des Richters bei der Umsetzung seines Rechtsgefühls für das Entschädigungsbedürftige in justiziable, kontrollierbare Schadensmuster. Sondern sie kann ihn auch dazu veranlassen, das Schmerzensgeld für einen anderswo nicht zureichend zu befriedigenden Ausgleichs-, Sühne- oder Präventionsbedarf einzusetzen. Zugleich fordert die Enge des Enumerationsprinzips für die Schmerzensgeldberechtigung dazu heraus, Wertungswidersprüche und Schutzlücken des Gesetzeskonzepts, die im Wandel der sozialen Verhältnisse aufscheinen, mit den Mitteln des Richterrechts auszuräumen. Auch so wachsen dem Schmerzensgeld Aufgaben zu, die der Gesetzgeber ihm nicht zugedacht hat. Unter Umständen tauchen sie trotz ihrer eigentlich nur ergänzenden, aushelfenden Funktion das Schmerzensgeld in ein eigenes, zur Nachsuche verführendes Licht, das beispielhaft allerdings auch die Grenzen für eine Modernisierung des BGB durch die Rechtsprechung beleuchtet: diese kann die längst fällige Gesetzesreform ganz und gar nicht ersetzen. Das Geburtstagskind hat sich alsbald nach seiner Berufung an den Bundesgerichtshof an der Reformdiskussion zum Schmerzensgeld beteiligt1. Wir haben uns dabei kennengelernt. Ich will meinen Beitrag der Erinnerung an diese Begegnung widmen.

II. Die Aufgabe des Schmerzensgelds scheint durch seine Einbettung in den deliktischen Schadensersatz und dessen Prinzip des Totalersatzes sowie durch die Einbindung in die Rangordnung der §§ 249 ff B G B klar 1

Odersky,

Schmerzensgeld bei Tötung naher Angehöriger, 1989.

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Erich Steffen

definiert: Schmerzensgeld als Kompensation in Geld zur Abnahme der dem Opfer einer unerlaubten Handlung zugefügten Lasten im Nichtvermögensbereich dort, wo Herstellung durch Naturalrestitution ausscheidet. Das Schmerzensgeld ist also von Hause aus ein nur subsidiärer Schadensersatz2; seine Hausnummer ist der § 251 B G B . Allerdings ist die Subsidiarität von besonderer Qualität. Meistens ist Naturalrestitution, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt möglich; außerdem hängt die faktische Unmöglichkeit der Naturalrestitution viel stärker als beim Vermögensschaden von der Entscheidung des Verletzten ab. Das entspricht seinem höchstpersönlichen Recht, darüber zu befinden, ob Schmerzen ertragen oder durch Arzt und Apotheker gelindert werden sollen. Verweigert der Verletzte die Zustimmung zur Operation der Unfallverletzung wegen des Operationsrisikos, so stehen Obliegenheiten aus § 254 Abs. 2 B G B nur ausnahmsweises einer Schmerzensgeldforderung entgegen3. Das Schmerzensgeld ist deshalb für Nichtvermögensnachteile die haftungsrechtliche Ersatzform, die im Dienst einer Totalentschädigung den Schadensersatz für die objektiv meßbaren Nachteile des Vermögensschadens um den Ersatz für alle Nachteile außerhalb dieses meßbaren Bereichs zu komplettieren sucht. Indes war diese Komplettierungsaufgabe von Anfang an mit Vorbehalten belastet: mit der gemeinrechtlichen Abneigung gegen ein Ummünzen insbesondere der verlorenen Ehre in Geld4, mit dem Mißtrauen gegenüber einer „dem deutschen Recht fremden Souveränität" des Richters bei der Festlegung eines Geldäquivalents für die inkommensurablen immateriellen Nachteile 5 . Und erst eigentlich die Beruhigung, daß der Zivilrichter dem Strafrichter insoweit gleichgestellt werden konnte, als dieser bei Körperverletzungen eine Buße verhängen durfte, in der auch immaterielle Nachteile des Opfers berücksichtigt werden konnten, hat den Ausschlag für das Schmerzensgeld gegeben6: begrenzt auf das Schutzgut des § 2 3 1 StGB, die kanonische Deflorationsklage und die Sachsenbuße für widerrechtliche Freiheitsentziehung sowie ge-

2 E. Lorenz, Immaterieller Schaden und „billige Entschädigung in Geld", 1981, 79 f; H. Stoll, Vhdlg. des 45. DJT, 1964, Bd. I, 142, 163. Schon von daher übrigens bestehen Bedenken gegen die Heranziehung naturalrestitutiver Zielsetzungen für eine Bemessung des Schmerzensgeldes als Tauschmittel für den Erwerb von Vermögenswerten: das Auto für den Gehbehinderten (RG JW 1938, 590); das Eigenheim für den Querschnittsgelähmten (OLG Köln NJW 1967, 1968); wie hier E. Lorenz aaO 169 f; a. A. Köndgen, Haftpflichtfunktion und Immaterialschaden, 1976, 81. 5 BGH NJW 1989,2330; 1989,2232; VersR 1987,408. 4 Prot. Mugdan II 517, 1297. 5 Mot. Mugdan II 12; trotz des seit 1877 generell eröffneten richterlichen Schätzungsermessens i. S. v. § 287 ZPO. ' Mot. Mugdan II 12.

Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes

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sichert in § 253 B G B durch eine Rechtsfortbildungssperre für den Richter 7 . In der gesetzlichen Konzeption sind Nichtvermögensschaden und Schmerzensgeld mit dem Vermögensschaden und seinem Ersatz nicht auf dieselbe Stufe gestellt. In ihr erscheint der Wert der Person gespalten in einen wirtschaftlich relevanten Teil und in „innere Werte", die nur fragmentarisch und nur als Anhängsel einzelner Personengüter Beachtung finden8. Dieses Konzept entspricht längst nicht mehr unserer Auffassung von der Bedeutung der Integrität der Person für ihre Entfaltung in Selbstverantwortung und Freiheit und von der Aufgabe des Rechts, auch des Zivilrechts, zu ihrem Schutz. Nicht nur ist heute der Einzelne mit seiner Persönlichkeit, auch der der Seele, einem Schadenspotential ausgesetzt, das die Väter des B G B sich so nicht vorstellen konnten. Nicht nur hat die Wissenschaft uns Erkenntnisse über Funktionszusammenhänge im Bereich von Seele, Sinnen und Gefühlen verschafft und damit die Justiziabilität von Schadensabläufen in diesem Bereich. Sondern wir haben uns angewöhnt, solche Beeinträchtigungen des Lebensraums durch die gesellschaftlichen Entwicklungen und den technischen Fortschritt nicht länger als schicksalhaftes Risiko des eigenen Lebens hinzunehmen, vielmehr auch und umfassender als früher unser Recht auf einen Individualbereich gegenüber solchen Bedrohungen in einer Schadensüberwälzung auf den Verantwortlichen behauptet und anerkannt zu sehen. Nach unserem Verständnis hat das Schadensrecht so, wie es das Vermögen schützt, um so nachdrücklicher die immaterielle Person zu schützen.

III. Das Recht ist aufgerufen, diesem Wandel Rechnung zu tragen. Wo die Gesetzgebung sich verweigert, ist die Rechtsprechung gefordert. Sie hat sich bei der Rechtsfortbildung Selbstbeschränkungen auferlegt, teilweise bis hin zum Köpfeschütteln der Praxis. Beispielhaft ist ihre Verteidigung des Gesetzes gegenüber dem Erfindungsreichtum der Praxis in ihren Versuchen, die gesetzlichen Schranken für die Verkehrsfähigkeit des Schmerzensgelds zu durchbrechen und den durch sie provozierten Wettlauf mit dem Tod des Schmerzensgeldberechtigten zu stoppen'. Nach 90jährigem Zögern hat hier der Gesetzgeber schließlich um eine Reform nicht mehr herumgekonnt10. Zur Entstehungsgeschichte Nehlsen-v. Stryk JZ 1987, 120 ff; H. Stoll (Fn. 2) 52 ff. Vgl. auch § 842 HGB, der die Erwerbsfähigkeit unter eigenartiger Spaltung der Person als ihr Vermögensgut deklariert; anders allerdings H. Stoll (Fn. 2) 12 ff, 130 ff. ' B G H N J W 1961, 1575; 1976, 1890; 1977,1149; 1984, 2348; 1986, 1039; 1990, 441. 10 Gesetz v. 14. 3. 1990 - BGBl. I 478; in Kraft seit dem 1. 7. 1990. 7 8

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Aber auch bei einer sich zurückhaltenden Rechtsprechung mußte die zunehmend als untragbar empfundene Enge des Enumerationsprinzips Auflehnung provozieren. So ist das Schmerzensgeld wo nicht zum Motor so jedenfalls zum Katalysator einer Weiterbildung des Rechts geworden, durch die ihm unversehens Aushilfeaufgaben zugewachsen sind. Prominentestes Beispiel ist die Erstreckung der Schmerzensgeldberechtigung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch den I. Zivilsenat in der Herrenreiterentscheidung vom 14. Februar 1958". Ich kann natürlich über das Klima der Beratung damals nur spekulieren. Immerhin atmen die Entscheidungsgründe auch heute noch das leidenschaftliche Engagement der Richter für das von demselben Senat 4 Jahre zuvor in der Leserbriefentscheidung als Schutzgut des § 823 Abs. 1 B G B aus der Taufe gehobene allgemeine Persönlichkeitsrecht und ihre Energie, ihm auch im Prokrustesbett des § 847 B G B einen Platz zu verschaffen. Deshalb wird der bequeme und später wieder gerne begangene Weg der Paul-Dahlke-Entscheidung 12 über einen Vermögensschaden mit bereicherungsrechtlichen Anleihen verworfen und die direkte Konfrontation mit § 847 B G B gesucht; deshalb schließt der Senat den § 847 BGB unmittelbar mit dem Schlüssel der Art. 1 und 2 G G auf, ohne diesen auf Drittwirkungs- und Transformationsüberlegungen umzufeilen; deshalb öffnet er § 847 B G B dem Persönlichkeitsrecht umfassend ohne Beschränkung auf den zu entscheidenden Fall; wohl deshalb auch bestraft er die Sperre des § 253 BGB, die er 2 Jahre vorher in der Paul-Dahlke-Entscheidung noch bekräftigt hatte, mit Nichterwähnung. Es sollte nicht zur Gewohnheit werden; aber von Zeit zu Zeit braucht das Recht solche temperamentvollen Anstöße, um sich wieder richtig einpendeln zu können.

IV. Allerdings sind mit Eruption auch bei einer Fortbildung des Rechts regelmäßig Risse und Verwerfungen verbunden, die ihrerseits oft ganz unbeabsichtigt der Rechtslandschaft ein eigenes, nicht unbedingt immer erwünschtes Gepräge geben. Mit dem Anspruch auf Geldentschädigung für die Verletzung des Persönlichkeitsrechts sind zugleich die Aufgaben des Schmerzensgelds signifikant erweitert worden. Ihm geht es hier nicht um die GewährleiB G H Z 26, 349. B G H Z 20, 345; vgl. auch B G H N J W 1981, 2203 - Fußballkalender; 1981, 2205 Fußballtor; 1981, 2402 - Rennsportgemeinschaft. 11

12

Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes

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stung des Totalersatzes, sondern um Verstärkung des sich als unzureichend erweisenden Rechtsschutzes für die Persönlichkeit durch einen zusätzlichen Rechtsbehelf, d. h. um Sanktion und Prävention13. Nur deshalb überhaupt konnte die Weiterbildung den so zögerlich erteilten Segen des Bundesverfassungsgerichts erhalten14. So ist der Anspruch zu einem Rechtssinstitut neben dem Schmerzensgeld geworden mit eigenständigen Voraussetzungen und eigenständigen Bemessungskategorien. Und wenn der H G H hier ausnahmsweise einmal von Schmerzensgeld spricht, dann empfindet er das selbst als lapsus linguae. Obwohl diese Ausleihe des Schmerzensgelds jedenfalls in der Folgezeit von der Rechtsprechung als eine solche empfunden und auf einen Behelf-Behelf in ultima-ratio-„Notlagen" zurückgeführt worden ist15, ist sie von nachhaltigem generellen Einfluß auf das Schmerzensgeld gewesen. Denn weil es auf so rechtsgrundsätzliche Weise und unter Zufügen einer verfassungsrechtlichen Bekräftigung hier als Sanktion eingesetzt worden ist, wenn auch beschränkt auf den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wurde das Verständnis von den Aufgaben des Schmerzensgeldes, mit denen sich der Große Zivilsenat kurz zuvor beschäftigt hatte16, vor allem von der von ihm herausgearbeiteten Genugtuungsfunktion und deren Verhältnis zur Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes in eine neue Richtung gelenkt. Es wurde von nun an auch für die Rechtsprechung des B G H zur Selbstverständlichkeit, Ausgleich und Genugtuung als voneinander gänzlich zu scheidende, nebeneinander stehende je selbständige Aufgaben des Schmerzensgelds zu verstehen. In dieser Zweispurigkeit wurde die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgelds von ihrer Bedeutung für die objektive Bestätigung des Schutzguts abgezogen und sehr nachdrücklich der subjektiven Empfindung des Verletzten zugeordnet. Solches Verständnis war in dem Beschluß des Großen Zivilsenats vielleicht angelegt, jedenfalls aber so nicht schon festgeschrieben worden. Immerhin ist der Große Zivilsenat seinerzeit gerade tätig geworden, um die allzusehr an einer Ummünzung von Leid in Freud orientierten Schmerzensgeldrechtsprechung des III. Zivilsenats des B G H auf die umfassendere Sicht des Reichsgerichts zurückzuführen; d. h. auf die Entschädigung für ein Schadensbild mit breitem Spektrum, in dem das durch Annehmlichkeiten ausgleichbare Leid und die zu besänftigende

13 B G H NJW 1979, 1041 - Exdirektor; 1985, 1645 - Nacktfoto; Großfeld, Die Privatstrafe, 1961, 96 f; Kündgen (Fn. 2) 67 ff, 120; Kötz, Festschrift für Ernst v. Caemmerer, 1978, 393; Pecher AcP 171 (1971), 80 f; H. Stoll (Fn. 2) 163. 14 BVerfGE 34, 269 = NJW 1985, 787 - Soraya. 15 Sek B G H Z 35, 363 - Ginseng mit Anm. Hauß LM BGB § 847 Nr. 18 stdg. Rspr. " B G H Z (GZS) 18,149.

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Empörung des Verletzten zwar als bedeutende, aber nicht als die ausschließlichen, vielmehr als nur unselbständige Facetten einer subjektive und objektive Elemente umfassenden Schadenseinheit erscheinen. Diese Ansätze zu einem umfassenderen Ausgleichsverständnis gerieten über die Verselbständigung der Genugtuung zur Sanktion als dem nachhaltigen Ergebnis der neuen Rechtsprechung zum Persönlichkeitsschutz und ihrer Auswirkung für ein begrenzteres, auf den Gefühlsschaden abhebendes Ausgleichsverständnis fortan in den Hintergrund. Deshalb mußte der VI. Zivilsenat des BGH den Schmerzensgeldanspruch des Kindes, das infolge eines Verkehrsunfalls alle geistigen Fähigkeiten und die wesentlichen Sinnesempfindungen verloren hatte und daher das Schmerzensgeld weder als Ausgleich noch als Genugtuung empfinden konnte, in die unmittelbare Nachbarschaft eines Anspruchs auf Strafe rücken, im Sinne freilich eines „nicht notwendig pönalen, verfeinerten Sühnegedankens" 17 . Erst in jüngerer Gegenwart hat der Senat diese Linie verlassen und zu einem umfassenderen Verständnis der Ausgleichsaufgabe des Schmerzensgelds zurückgefunden. Er hat sich dazu bekannt, daß die Entscheidung des Großen Zivilsenats nicht daran hindert, die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgelds über die Kompensation von Leid durch Freud hinaus in einem weiteren Sinn zu verstehen und sie primär an den im verletzten Schutzgut objektivierten Wert anzuknüpfen. Daß in den Fällen der völligen Zerstörung der Persönlichkeit die personale Qualität nicht mehr gefühlt werden kann, macht gerade die besondere Schwere des Eingriffs in den „inneren", den immateriellen Wert der Persönlichkeit aus und ist aufgrund einer eigenständigen Bewertung durch das Schmerzensgeld zu kompensieren, auszugleichen 18 . Dieses revidierte Verständnis von den Aufgaben des Schmerzensgelds so, wie sie der Große Zivilsenat beschrieben hat, hat es dem VI. Zivilsenat dann auch erlaubt, einer Auffassung entgegenzutreten, die das Schmerzensgeld in Abhängigkeiten zu einer strafrechtlichen Verurteilung des Schädigers sieht19. Ist das Genugtuungsbedürfnis, das das Schmerzensgeld befriedigen soll, nicht als etwas zum Schaden Hinzutretendes zu begreifen, sondern lediglich als ein Aspekt aus dem Einbruch des Verletzers in den Integritätsanspruch des Verletzten, der das Schadensbild mitprägt, den Nichtvermögensschaden mit ausmacht und der als Schadensfaktor mit auszugleichen ist, dann ist es von dem Interesse der Allgemeinheit, das zur Bestrafung dieses Einbruchs legitimiert, zu unterscheiden. Dann wird es auch nicht davon berührt, daß der GeschäBGH NJW 1976,1147. BGHZ 120 1, 7 f. »' BGH NJW 1995, 781. 17 18

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digte über eine Bestrafung des Schädigers Genugtuung empfindet. Die Genugtuung über die Erfüllung des Strafanspruchs ist etwas anderes als die Kompensation durch ein Schmerzensgeld, das sich an der durch die Schädigung veranlaßten besonderen Einstellung des Verletzten zur Person des Schädigers mitorientiert. Für die Geldentschädigung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann anderes gelten. V.

Der Einsatz des Schmerzensgelds durch die Rechtsprechung für das personale Selbstbestimmungsrecht im Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat Einfluß auch auf das Verständnis von den Schutzaufgaben des § 823 Abs. 1 BGB in bezug auf die Integrität von Körper und Gesundheit gehabt. In seiner Herrenreiterentscheidung hatte der I. Zivilsenat des BGH die Schranken des § 253 BGB ohne Modifizierung kraftvoll beiseitegeschoben. In der Folgezeit wurde dieser Pendelschwung vorsichtig etwas zurückgenommen. Entsprechend dem Anliegen, Lücken im Rechtsschutz für die Persönlichkeit dort zu schließen, wo die Person anders schutzlos wäre, wird die Geldentschädigung heute nur bei schwerer Persönlichkeitsverletzung und nur bei Unabweisbarkeit des Bedürfnisses nach einer Entschädigung als ultima ratio gewährt 20 Nicht zuletzt diese Hürden für die Geltendmachung einer Entschädigung, wo das „offene" Schutzgut der Person tangiert ist, haben die Aufmerksamkeit der Rechtsprechung auf den Schutz des Selbstbestimmungsrechts in den „geschlossenen", absoluten Schutzgütern Körper und Gesundheit gelenkt, für deren Verletzung das Schmerzensgeld diese Hürden nicht überwinden muß. Als Verletzung der körperlichen Integrität gelten wegen ihrer spezifischen Verkürzung des Selbstbestimmungsrechts heute beispielsweise die Herbeiführung einer Schwangerschaft gegen den Willen der Frau durch den Arzt als Folge einer mißlungenen Sterilisation21; die Belastung der Mutter gegen ihren Willen mit einer „natürlichen" (vaginalen) Entbindung, obwohl ein Kaiserschnitt die Methode der Wahl oder wenigstens eine echte Alternative gewesen wäre22; das Opfer einer Organspende, das der Mutter von dem Arzt, der ihrem Kind versehentlich die einzige Niere entfernt hat, aufgezwungen worden ist23; die Vernichtung von dem Körper vorübergehend entnom-

20 BGH NJW 1979, 1041 - Exdirektor; 1985, 1645 - Nacktfoto; 1995, 861 - Caroline v. Monaco I. 21 BGH J W 1980, 1452, insoweit nicht in BGHZ 76, 295 abgedruckt; N J W 1981, 2002. 22 BGHZ 106, 153. 23 BGHZ 101,215.

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menen Bestandteilen, die zur Bewahrung der Körperfunktion oder zu deren Verwirklichung später wieder mit dem Körper vereinigt werden sollten24. Diese Sicht hat es dem VI. Zivilsenat auch erleichtert, für die versehentliche Vernichtung von eingefrorenem Sperma, mit dem der Spender seine befürchtete Unfruchtbarkeit überwinden wollte, eine Geldentschädigung ohne besondere Güter- und Interessenabwägung oder Feststellung eines schweren Eingriffs zuzusprechen mit der Begründung, daß die darin liegende Persönlichkeitsverletzung vielleicht keine Körperverletzung, aber nach Art und Gewicht mit einer schmerzensgeldwürdigen Körperverletzung zu vergleichen sei25. Auf demselben Weg entgeht die Rechtsprechung auch den Schwierigkeiten mit dem Schmerzensgeld wegen einer vom Arzt versäumten Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten in den Fällen, in denen die Ablehnung der Behandlung für den Patienten vergleichbare Beschwerden bedeutet hätte. Die Körperverletzung, die in der Verkürzung des Selbstbestimmungsrechts liegt, legitimiert zum Schmerzensgeld, auch wenn die besonderen Voraussetzungen für eine Geldentschädigung bei Persönlichkeitsverletzungen nicht vorliegen 26 . VI. Andererseits hat sich die Rechtsprechung darum bemüht, mit dem Rechtsschutz des Schmerzensgeldes für den Schutz der Persönlichkeit und ihres Selbstbestimmungsrechts im übrigen möglichst im deliktsrechtlichen Konzept des BGB zu bleiben. Das gilt insbesondere für die Begrenzungen des Haftungssystems, das den Schädiger gegenüber dem nur „mittelbar" Geschädigten nur ausnahmsweise, nämlich nur nach §§ 844, 845 BGB haften läßt. Übergriffe der Medien lösen Schadensersatz nicht nur für den Vermögensschaden, sondern generell nur dann aus, wenn sie den Geschädigten „unmittelbar", „betriebsbezogen" tangieren. So kann wegen der unzulässig den Namen nennenden Presseberichterstattung über einen Selbstmörder der Bruder des Toten als nur mittelbar Betroffener keine Geldentschädigung für seine immateriellen Einbußen verlangen27. Ebenso hat der BGH der Versuchung widerstanden, mit Hilfe des Persönlichkeitsrechts ein Hinterbliebenen-Schmerzensgeld für die BeBGHZ 124, 52. BGHZ 124, 52. 26 BGH NJW 1987, 1481; Deutsch AcP 192 (1992), 162,178. 27 BGH NJW 1980, 1790 - Familientragödie; vgl. auch BGH GRUR 1965, 256 Gretna Green; 1966, 157 - Wo ist mein Kind? 24

25

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einträchtigung der Angehörigen in ihrer Lebensführung durch den Tod des Unfallopfers zu schaffen, wie es zahlreiche Rechtsordnungen unserer europäischen Nachbarn gewähren. Sicherlich könnte ein Schmerzensgeld hier nicht nur schwere immaterielle Verluste mildern, sondern auch die Härten einer hier als besonders empörend empfundenen rein ökonomisch ausgerichteten Schadensbetrachtung. Aber ein Haftungssystem, das streng darauf sieht, Reflexe eines haftungsbegründenden Ereignisses auf Dritte auszugrenzen, würde unterlaufen, wenn auf diesem Wege die Schutzrichtung der Gefährdungs- und Verhaltenssnormen auf die Angehörigen des in erster Linie Geschützten ausgedehnt würde. Weil jede Tötung oder schwere Verletzung Nahestehende durchweg seelisch erheblich belastet und weil solche Belastungen nach heutiger medizinischer Erkenntnis als Störung der Befindlichkeit eine Gesundheitsverletzung wären, fordert die Rechtsprechung hier für eine Haftung mehr als die medizinische Qualifizierung des Schocks, damit der Ersatz nicht das Haftungssystem sprengt. Die seelische Erschütterung muß zu nachhaltigen traumatischen Schädigungen führen, zu psychopathologischen Zuständen, die in der Medizin als Neurosen oder Psychosen eingeordnet werden, oder zu anderen massiven Folgen wie z. B. zur Verschlimmerung eines Herzleidens oder zu einem Schlaganfall28. Eine gesetzliche Regelung freilich, wie sie auch Walter Odersky befürwortet hat29, würde die Rechtsprechung aus solcher Sorge um den Dammbruch entlassen. Sie muß nicht zu einem unangenehmen Herumstochern im Persönlichkeitsbereich zur Feststellung der Nähe des Getöteten zum Kläger führen, wenn sie sich mit engen Verwandtschaftsgraden und mit dem Kriterium der häuslichen Gemeinschaft begnügte. Ernster zu nehmen erscheint mir die Gefahr, daß die Regulierung nach dem Vorbild sog. „Gliedertaxen" zu Sterbegeldpauschalen entartet, in denen das Individuelle der Gefühlsbindungen und ihrer Beeinträchtigung rechtlich inadäquat verarbeitet wird. VII. Entgegen mancher Kritik hat das enge Enumerationsprinzip des B G B die Rechtsprechung m. E. nicht dazu verleitet, dem Schmerzensgeld im Gewand eines Schadensersatzes für Vermögensschäden Aufgaben zum Ausgleich immaterieller Nachteile aus der Zerstörung oder Verletzung von Schutzgütern ohne Schmerzensgeldberechtigung zu übertragen. Lediglich hat die Rechtsprechung sich dazu veranlaßt gesehen, den vermögensrelevanten Auswirkungen einer Sachbeschädigung genauer nach28 2

BGHZ 56,163,167.

' Vgl. Fn. 1 zuletzt dazu Scheffen NZV 1995, 218 f m. w. N.

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zugehen und die Aussagen der zu ihrer Erfassung eingesetzten Differenzrechnung mit normativen Überlegungen zu kontrollieren und Notfalls zu korrigieren30. So ist der merkantile Minderwert, den der Markt dem reparierten Unfallwagen wegen des Risikos nur möglicher verborgener Mängel zumißt, ein auch in der Differenzrechnung ausgewiesener Vermögensschaden, ungeachtet daß sich hierin Irrationales widerspiegelt, von dessen Einflüssen ja auch der Markt durchaus nicht frei ist. Allerdings ist der merkantile Minderwert transitorisch, weil mit fortschreitender Benutzung des Unfallwagens die Furcht vor solchen versteckten Mängeln schwindet, sie zudem hinter der Alterung des Fahrzeugs als wertmindender Faktor zurücktritt. Daß der Schädiger ihn gleichwohl auch dann zu ersetzen hat, wenn der Geschädigte das Fahrzeug weiterbenutzt, den Minderwert also nicht „kapitalisiert", bedeutet kein Schmerzensgeld für die Mängelfurcht des Geschädigten. Vielmehr soll die sein Vermögen betreffende Entscheidung des Geschädigten, den materiellen Minderwert auf sich zu nehmen, den Schädiger nicht entlasten31. Die Rechtsprechung zum Ersatz des Nutzungsausfalls des privat genutzten Unfallwagens, wenn der Geschädigte den Ausfall nicht durch einen Mietwagen überbrückt, beruht auf der Erkenntnis, daß der Ausfall eines Wirtschaftsguts von derart zentraler Bedeutung für die Lebenshaltung nicht nur bei einen Ausfall für den erwerbswirtschaftlichen Einsatz, sondern auch im Rahmen der eigenwirtschaftlichen Lebenshaltung in typischer Weise Vermögenseinbußen verursacht, die allerdings mangels entsprechender Buchhaltung in der Differenzrechnung nicht ausgewiesen werden. Ergänzt wird das durch die normative Überlegung, daß der Verzicht des Geschädigten auf einen Mietwagen nicht den Schädiger begünstigen soll32. Auch das macht den Ersatz nicht zum „Schmerzensgeld des kleinen Mannes". Ebensowenig ist die Rechtsprechung der Versuchung erlegen, Schmerzensgeld für eine Sachbeschädigung durch Ausweitung der Naturalrestitution zu gewähren. Für die Zerstörung des Hirschgeweihs kann der Geschädigte nicht die Lizenzgebühren für den Abschuß eines anderen Hirsches und die Reisekosten in das Jagdrevier beanspruchen33. Andererseits ist der B G H stets der Tendenz entgegengetreten, Lebensgestaltungspotentialen schon deshalb Vermögenswert zuzuerkennen, weil sie erkauft werden können, solange sie sich selbst nicht 30 Vgl. meine Ausführungen zum normativen Verkehrsunfallschaden N J W 1995, 2057 m. N. 31 B G H Z 35, 396; B G H NJW 1980,281; VersR 1967,183. 32 B G H Z (GZS) 98, 212, 221 ff. 33 O L G Köln O L G Z 1973, 7.

Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes

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auch in der wirtschaftlichen Basis des Geschädigten materialisiert haben. Die Vereitelung des Urlaubsgenusses infolge der Unfallverletzung ist im Schmerzensgeld und nicht in den frustrierten Aufwendungen für die Urlaubsreise oder gar mit Anleihen an den Erwerbsschaden zutreffend entschädigt34.

VIII. Mit dem Enumerationsprinzip, das die Entschädigung von Nichtvermögensschäden einengen sollte, gehen die Konturlosigkeit des Schadensfeldes einher, für das der Gesetzgeber nur eine negative Abgrenzung zum Vermögensschaden gefunden hat, und die Weite des Maßstabs für die Billigkeit eines Geldausgleichs für die in Geld nicht ausdrückbaren Interessenverkürzungen. Gerade die Befürchtung vor einem allzu großen Freiraum für die „Souveränität" des Richters, den er auf andere Weise nicht einengen zu können glaubte, hat den Gesetzgeber ja dazu bewogen, beim Enumerationsprinzip Zuflucht zu suchen35. Diese Furcht muß allerdings eher von dem Bedürfnis nach Perfektion als von der schlechten Erfahrung mit richterlicher Willkür diktiert gewesen sein. Deutsche Richter waren damals eher wegen ihrer „Ängstlichkeit, Kleinlichkeit und Engherzigkeit in Entschädigungsprozessen" bekannt und verspottet36. Gewiß hat sich das Richterbild mit dem Selbstverständnis des Richters von seiner Aufgabe und Verantwortung bei der Verwirklichung und Fortbildung des Rechts gewandelt37. Aber man wird nicht feststellen können, daß der Richter in der Umsetzung dessen, was als Nichtvermögensschaden schmerzensgeldwürdig ist und wie das Schmerzensgeld bemessen werden soll, in Extrempositionen verfallen ist. Im Gegenteil hat es lange, bis in die 80er Jahre hinein, gedauert, bis das wachsende Bewußsein von dem Anspruch auf Lebensqualität und ihrem Wert angemessenen Ausdruck in der Höhe der Schmerzensgelder gefunden hat; Tendenzen zur Versagung von Schmerzensgeld für Bagatellverletzungen dauern fort38; und der B G H hat sich immer darum bemüht, den richterlichen Freiraum bei der Schmerzensgeldbemessung revisibel zu halten39. 34 BGHZ 86, 212; BGH NJW 1956, 1234 - Seereise war ein Ausreißer, sofern nicht ein Eingriff in eine Sonderbeziehung vorlag; vgl. dazu meine Anmerkung RGRK-BGB 12. Aufl. §823 Rdn. 451. 35 Mot. Mugdan II 12. 36 Seng ArchBR 5 (1891), 336, 374. 37 Vgl. meine Ausführungen zum Richterrecht in DRiZ 1992, 176 ff. 38 BGH NJW 1992, 1043; VersR 1992, 504; vgl. Müller VersR 1993, 909, 911; dslb., Homburger Tage 1994, 23. 39 BGH VersR 1976, 967; 1986, 59; 1991, 350.

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Die Konturlosigkeit des Nichtvermögensschadens und die Weite des Ermessens für seine Umsetzung in Geld ermöglichen es allerdings, dem Schmerzensgeld Entlastungsaufgaben zuzuweisen als Ventil für Problemstaus oder zur Befreiung von Zwängen an anderen Orten. So hat das Schmerzensgeld vor allem in der Bedeutung, die es mit der von dem Großen Zivilsenat herausgestellten Genugtuungsfunktion und die daran anknüpfende Herausbildung als Sanktion für Persönlichkeitsverletzungen genommen hat, zu einer Entlastung des für alle Beteiligten regelmäßig so frustrierenden Privatklageverfahrens geführt und es Strafverfolgern und Richtern erleichtert, ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung eher zu verneinen. Auch die Möglichkeiten für den Strafrichter, das Schmerzensgeld selbst festzusetzen, können so auf die seltenen Fälle beschränkt werden, für die sich solches Verfahren ausnahmsweise eignet. Auf ähnliche Weise kann die Beruhigung, daß bei der Schmerzensgeldbemessung eine besonders schwere Schuld des Schädigers und ein Genugtuungsbedürfnis des Verletzten sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt werden können, es erleichtern, für den Ersatz des Vermögensschadens das nicht nach Verschuldensgraden oder nach dem Vermögen des Schädigers fragende Alles-oder-Nichts-Prinzip in Kauf zu nehmen und diesen Schadensersatz von Straf- und Sühnegedanken frei zu halten. Die Geldentschädigung für schwere Verletzungen des Persönlichkeitsrechts, aber auch das Schmerzensgeld für ärztliche Eigenmacht, für die als Körperverletzung Entschädigung gewährt wird, befriedigt das Bedürfnis nach einer angemessenen Stigmatisierung oder besser: Signalisierung der Rechtsverletzung auch dort, wo bedeutendere Vermögensnachteile mit ihnen nicht verbunden sind. Vor allem kann wiederum durch die Geldentschädigung für schwere Ubergriffe der Medien in die Persönlichkeitssphäre ein hier besonders großes Bedürfnis nach Prävention befriedigt werden, das auch nicht durch eine insoweit nicht mögliche Verlagerung auf eine Haftpflichtversicherung unterlaufen werde kann. Zwar hat der B G H stets betont, daß auch die Entschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ebensowenig wie das Schmerzensgeld ein Instrument zur zivilrechtlichen Bestrafung des Schädigers ist40. Aber sie erfüllt ihre Aufgabe als ultima-ratio-Rechtsbehelf für den Persönlichkeitsschutz u. a. dadurch, daß sie eine Hemmschwelle bildet, die auch von einem krassen Gewinnstreben zur Kenntnis gemommen wird und die es den Medienverantwortlichen erschwert, sich in der Vermarktung der Person allzu rücksichtlos über den Betroffenen hinwegzusetzen mit der Beruhigung,

40

BGHZ 118, 312, 338; BGH NJW 1977, 626, 628 - konkret.

Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes

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daß die negatorischen Klagen regelmäßig die Veröffentlichung nicht mehr verhindern können. So hat der B G H im Fall einer vorsätzlichen Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch eine Illustrierte es für zulässig angesehen, mit der Geldentschädigung zwar nicht den dadurch erzielten Gewinn abzuschöpfen, aber dem rücksichtslosen Gewinnstreben bei der Bemessung der Entschädigung Rechnung zu tragen41.

IX. Verleiten kann die Konturlosigkeit des Nichtvermögenschadens dazu, Schwierigkeiten bei der Bezifferung eines Vermögensschadens mit dem richterlichen Feststellungsermessen für die Billigkeitsentschädigung zu überbrücken. In der Tat haben die Motive eine praktische Bedeutung des Schmerzensgelds auch für das Auffangen von Vermögensschäden gesehen, deren Auswirkungen noch nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit hervorgetreten sind; als Reaktion offensichtlich auf die damals verbreitete Übung der Gerichte, nur den beziffferbaren Vermögensschaden als solchen zu qualifizieren42. Der B G H ist solchen Tendenzen entgegengetreten, weil so die Grenzziehung für den Streitgegenstand und die Rechtskraft verwischt wird43. Es kann leicht zu einer Doppelentschädigung führen, wenn der Richter bei der Bemessung des Schmerzensgelds für die Vereitelung einer Berufsausbildung für die Störung der Examensvorbereitungen, für den Verlust des Berufs sich nicht ganz klar darüber ist, daß alle Auswirkungen auf der wirtschaftlichen Seite, bezifferbare oder nicht bezifferbare, ganz herauszubleiben haben; daß in dem Schmerzensgeld für den Querschnittsgelähmten vermehrte Bedürfnisse nach einer besonders gestalteten Wohnung nichts zu suchen haben usw. Für das Bedürfnis des Geschädigten nach Erleichterungen der Schadensfeststellung reichen § 252 B G B und § 287 Z P O vollständig aus; insbesondere in der opferfreundlichen Auslegung durch die Rechtsprechung des BGH 4 4 . Leichter würde im übrigen dem Richter auch die Bewertung solcher Nachteile im Rahmen von § 847 B G B nicht fallen dürfen. Allerdings kann das Schmerzensgeld den Ausgleich des Vermögensschadens insoweit unterstützen, als die Beruhigung, daß die immateriellen Nachteile einer Berufs- oder Erwerbsbeschränkung von § 847 B G B aufgefangen werden, es leichter akzeptieren läßt, als Vermögensschaden

B G H N J W 1995, 861 - Caroline v. Monaco I. Mot. Mugdan II 447; Prot. Mugdan II 1117; H. Stall (Fn. 2) 12 ff. 45 v. Bar N J W 1980, 1728; Laufs Z H R 141 (1977), 273 f; 281 f; E. Lorenz (Fn. 2) 61 f; Stoll (Fn. 2) 131; a. A. Schwerdtner, Persönlichkeitsrecht 264,284, 307. 44 B G H Z 84,244; B G H N J W 1995, 1023; NZV 1995,189. 41

42

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nicht schon die Arbeitsunfähigkeit als solche auszugleichen, sondern nur die konkrete Auswirkung in der Vermögensrechnung. Schmerzensgeld hilft so mit, den Ersatz für den materiellen Schaden am konkreten Vermögensschaden auszurichten. X. Genugtuung - Sanktion mit und ohne pönalem Sühnegedanken Prävention - Gewinnabschöpfung - Katalysator für die Entwicklung neuer und die Neuordnung alter Schutzgüter rund um die Person - Helfer aus Beweisnöten - Entlastungsventil für ein unbefriedigtes Rechtsgefühl: das Schmerzensgeld zeigt sich in schillerndem Gewand. Eine schöpferische Rechtsprechung kann es darin stimulieren, provozieren, versuchen; und es hat das auch getan. Zugleich hat es aber auch das Selbstverständnis des Haftungsrichters von seiner Verantwortung für das Recht auf die Probe gestellt und für die der richterlichen Rechtsfortbildung gezogenen Schranken: Schranken aus der Verfassung, aus dem BGB, aber auch aus der Mitverantwortung des Richters für Sinn und Grenzen eines haftungsrechtlichen Zugriffs auf Lebensführung und Lebensgestaltung. Ich denke, er hat die Probe bestanden; bestehen können dadurch, daß er dem Schmerzensgeld bei den Ausflügen in die Helferfunktionen die ihm angestammte eigentliche Aufgabe, Schaden auszugleichen, als Orientierung und Korrektiv bewußt gehalten hat.

V. Handels- und Gesellschaftsrecht; Unternehmensrecht

Das Trennungsprinzip des § 13 Abs. 2 G m b H G und seine Grenzen in der neueren Judikatur des Bundesgerichtshofes KARLHEINZ BOUJONG

I. Der Grundsatz der Haftungstrennung 1. Haftungstrennung

und

Garantiekapital

a) Der in § 13 Abs. 2 GmbHG normierte Grundsatz der Haftungstrennung zwischen Gesellschafts- u. Gesellschaftervermögen gehört zu den fundamentalen Prinzipien des GmbH-Rechts. Die alleinige Haftung des Gesellschaftsvermögens für die Verbindlichkeiten der GmbH bildet nicht schon ein begriffsnotwendiges Merkmal der GmbH als juristischer Person, sondern stellt sich als Folge einer konstitutiven gesetzlichen Regelung dar1. Diese Haftungsbeschränkung entspricht einem legitimen Bedürfnis der Gesellschafter von Handelsgesellschaften, ihren Kapitaleinsatz zu begrenzen und ihr Privatvermögen vor dem Zugriff der Gläubiger zu bewahren2. b) Allerdings steht jede Rechtsordnung, die das Trennungsprinzip kennt, vor dem Problem, diesen Grundsatz in ein ausgewogenes Verhältnis zu den Belangen des Gläubigerschutzes zu bringen. Das deutsche GmbH-Recht verwirklicht dieses Anliegen durch das sog. „Haftungsstockprinzip" 3 . Den Gläubigern der Gesellschaft steht grundsätzlich nur der Zugriff auf ein vom Vermögen der Gesellschafter separiertes Gesellschaftsvermögen offen. Die Aufbringung und Erhaltung eines bestimmten, aus dem Handelsregister ersichtlichen Stammkapitals wird durch besondere Vorschriften (vgl. etwa § 5 Abs. 4, §§ 7 ff, §§ 30 ff, § 55 Abs. 4, §§ 56 ff GmbH) gesichert; diese werden durch die Konkursantragspflicht des § 64 Abs. 1 GmbHG ergänzt. Dem Gläubiger, der weiß, daß er mit einer GmbH kontrahiert, sind die (für ihn) mit der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen verbundenen Risiken zumutbar, weil er darauf vertrauen darf, daß der vorgeschrie-

1

Scholz/Emmerich, G m b H G , 8. Aufl. § 13 Rdn. 55. Kühler, Festschrift für Heinsius, 1991, S. 397; Priester, D N o t Z - Sonderheft zum 24. Deutschen Notartag, 1993, S. 121, 136; Blaurock, Festschrift für Stimpel, 1985, S. 553; Th. Raiser, Z G R 1995, 156, 165. 3 Blaurock, aaO (Fn. 2). 2

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bene Haftungsfonds gesetzeskonform aufgebracht und erhalten worden ist4. Die Gesellschafter der GmbH müssen sich das Privileg der Haftungsbeschränkung also durch die Schaffung und Erhaltung des Haftungsfonds „verdienen"5. Die Gläubiger sind davor zu schützen, daß diese Haftungsmasse durch unzulässige Eingriffe der Gesellschafter geschmälert wird. 2. Einschränkungen des Trennungsprinzips Angesichts dessen sieht sich die Rechtsprechung vor die dauernde Aufgabe gestellt, die Grenzen der Haftungstrennung im Einzelfall zu bestimmen und das Gewicht dieses Grundsatzes und des Gläubigerschutzes sorgfältig auszutarieren. Die einschlägige Judikatur wird, zumal da es sich - insbes. für die mittelständische Wirtschaft - um weitreichende Haftungsfragen geht, von dem lebhaften Interesse der Gesellschaftsrechtswissenschaft begleitet. Dabei ist in letzter Zeit wiederholt gegenüber dem Bundesgerichtshof (BGH) der Vorwurf erhoben worden, er mißachte den Grundsatz der Haftungstrennung6 und leiste „der Wiedergeburt der O H G aus dem GmbH-Gesetz" 7 Vorschub. Das gibt Anlaß, die neuere Rechtsprechung des B G H zu diesem Fragenkreis näher zu betrachten und den ihr zugrunde liegenden Wertungen nachzugehen. Der angemessene Ort hierfür ist aus doppeltem Grund eine dem Jubilar gewidmete Untersuchung: Er hat in dem Zeitraum, in dem die hier behandelte Judikatur des B G H größtenteils ergangen ist, an der Spitze des Gerichtshofs gestanden und diese Rechtsprechung interessiert verfolgt. Zudem hat er sich schon in seiner von Alfred Hueck betreuten Münchener Dissertation aus dem Jahre 19548 mit Fragen der Haftungstrennung und des Durchgriffs im Gesellschaftsrecht befaßt. II. Haftungsdurchgriff 1. Einschränkungen des Trennungsprinzips des § 13 Abs. 2 GmbHG werden herkömmlich unter dem Sammelbegriff des Haftungsdurch-

4 Wiedemann, in: Die Haftung des Gesellschafters in der GmbH, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Band 36, 1968, S. 6; zur Risikoabschätzung durch die Gläubiger mit allerdings problematischen Unterscheidungen vgl. Kübler, aaO (Fn. 2), S. 407 ff. 5 Priester, aaO (Fn. 2), S. 137. 6 Vgl. etwa Altmeppen, DB 1991, 2225, 2230. 7 Mertens, AG 1991,434. 8 Odersky, Die Einmanngesellschaft als atypische Gesellschaftsform - Ein Lösungsbeitrag zum Problem der „Gleichstellung" von Gesellschafter und Gesellschaft (Maschinenschrift).

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 G m b H G

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griffs9 diskutiert. Es handelt sich dabei nicht um ein festumrissenes Rechtsinstitut mit präzisen Tatbestandsmerkmalen10, sondern es werden unter diesem Begriff verschiedene Fallkonstellationen zusammengefaßt. In diesem Beitrag wird unter Durchgriffshaftung die persönliche Haftung des GmbH-Gesellschafters für Gesellschaftsverbindlichkeiten ohne besonderen Verpflichtungsgrund (wie z. B. Bürgschaft, Schuldbeitritt usw.) verstanden". In den Fällen der Durchgriffshaftung wird die Trennung zwischen Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen nicht gänzlich beseitigt. Vielmehr wird nur der „Schutzschild der Haftungsbeschränkung zur Seite geschoben" 12 , so daß die Gesellschaftsgläubiger zusätzlich auf das Privatvermögen des Gesellschafters zugreifen können. 2. Die unterschiedlichen dogmatischen Erklärungen der Durchgriffslehren, die schlagwortartig mit „Mißbrauchslehren", „Normzwecklehren" und „vermittelnde Theorien" bezeichnet werden, sind so häufig dargestellt worden13, daß hier darauf verzichtet werden kann, den Stand der Lehre erneut wiederzugeben. Der B G H hat sich bisher nicht ausdrücklich zu einer der erwähnten Theorien bekannt14. Er hat wiederholt betont, daß über die rechtliche Verschiedenheit von juristischer Person und Mitglied/Gesellschafter nicht leichtfertig und schrankenlos hinweggegangen werden dürfe15. Eine Konkretisierung dieser allgemeinen Formel kann nur erreicht werden, wenn man das einschlägige Rechtsprechungsmaterial in Fallgruppen einteilt und prüft, welche Tatbestandsvoraussetzungen der B G H im einzelnen aufstellt. Die vorliegende Dar' Das Schrifttum zum Durchgriff ist fast unüberschaubar, vgl. die wohl neueste Zusammenstellung bei Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), § 13 vor Rdn. 55; ferner Drax, Durchgriffs- und Konzernhaftung der GmbH-Gesellschafter- Ein Vergleich, 1992; Kühler, Haftungstrennung und Gläubigerschutz im Recht der Kapitalgesellschaften, aaO (Fn. 2); Priester, Die GmbH auf dem Wege zur O H G ? , aaO (Fn. 2); Karsten Schmidt, Zur Durchgriffsfestigkeit der GmbH, ZIP 1994, 837. 10 Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), § 13 Rdn. 57; Hachenburg/Mertens, GmbHG, 8. Aufl., Anhang § 13 Rdn. 1; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. § 9 I 2, § 9 IV 1; Drax, aaO (Fn. 9), S. 2 ff. 11 B G H Z 31, 258, 271; K. Schmidt, aaO (Fn. 10), § 9 IV lb; Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1) § 13 Rdn. 57, 59, 75; Hachenburg/Mertens aaO (Fn. 10), Anhang § 13 Rdn. 2. 12 Wiedemann, WM 1975, Sonderbeilage 4, S. 18. 13 Neuere Darstellungen z . B . bei Hachenburg/Mertens, aaO (Fn. 10), Anhang § 1 3 Rdn. 28 ff; Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), § 13 Rdn. 79 ff; Drax, aaO (Fn. 9), S. 72 ff; K. Schmidt, aaO (Fn. 10), § 9 II; zum methodischen Ansatz Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 18 ff; für die AG: Braudel, in: Großkommentar AktG, 4. Aufl., § 1 Rdn. 92 ff; Hüffer, AktG, 2. Aufl. § 1 Rdn. 17 f. 14 Stimpel, Festschrift für Goerdeler, 1987, S. 601, 604, stellt eine Übereinstimmung einzelner Urteile (BGHZ 95, 330, 333 f „Autokran" und B G H ZIP 1985, 29 = W M 1985, 54) mit den Ergebnissen der von Müller-Freienfels, AcP 156, 522 ff, begründeten Normzwecklehre fest. 15 B G H Z 54, 222, 224; 78, 318, 333; 102, 95, 103.

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Stellung folgt der üblichen Unterscheidung zwischen den Fallgruppen der Vermögensvermischung (III), der Unterkapitalisierung (IV) und der Konzernherrschaft (V). III. Vermögensvermischung 1. Tatbestand und Rechtsfolgen a) Für die Vermögensvermischung 16 ist kennzeichnend, daß Vermögensgegenstände der G m b H mit dem Privatvermögen der Gesellschafter oder des alleinigen Gesellschafters derart vermischt werden, daß eine dingliche Zuordnung zu dem einen oder anderen Rechtsträger nicht mehr zuverlässig vorgenommen werden kann17. Wegen dieser Aufhebung der Trennung zwischen Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen entfällt die Legitimation der Haftungstrennung. Hierfür ist nach der Rechtsprechung des B G H in der Regel erforderlich, daß die Abgrenzung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen durch eine undurchsichtige Buchführung oder auf eine andere Weise verschleiert worden ist18. Ein Vermögensentzug durch einen Gesellschafter, der nur Ansprüche der G m b H nach den §§30, 31 G m b H G auslösen kann, oder Vermögensbewegungen, die nicht verdeckt, sondern ordnungsgemäß verbucht werden, reichen für den Tatbestand der Vermögensvermischung nicht aus19. b) Der B G H macht somit den Haftungsdurchgriff von strengen Voraussetzungen abhängig. Solange sich Gegenstände und Kontenbewegungen - wenn auch erst nachträglich und mit Hilfe von Beweismitteln 20 dem Vermögen der G m b H als Haftungsfonds oder dem Privatvermögen der Gesellschafter zuordnen lassen, ist der Gläubigerschutz hinreichend gewährleistet und es besteht keine Legitimation dafür, das Privileg der Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 G m b H G zu durchbrechen. Erst wenn die buchmäßig zu belegende Trennung von Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen nicht mehr gegeben ist und insbes. der Abfluß

" D i e Terminologie ist nicht einheitlich. D i e Fallgruppe wird mitunter der sog. Sphärenvermischung zugeordnet; K. Schmidt, a a O (Fn. 10), § 9 IV 2a verwendet für die Vermögensvermischung den Begriff der „gegenständlichen Sphärenvermischung". Herkömmlich wird unter Sphärenvermischung nur der - hier nicht zu behandelnde - Fall verstanden, daß die rechtliche Trennung von G m b H und Gesellschaftern im Auftreten gegenüber Dritten (z. B. durch Führung ähnlicher Firmen) nicht hinreichend deutlich wird (Lutter/Hommelhoff, G m b H G , 14. Aufl., § 13 Rdn. 16). 17 Drax, a a O (Fn. 9), S. 80. B G H Z 95, 330, 333 f; B G H Z 125,366, 368; B G H Z I P 1985,29, 30. " B G H Z I P 1985, 29, 31; vgl. auch Stimpel, a a O (Fn. 14), S. 606. 20 Stimpel, a a O (Fn. 14), S. 606.

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 G m b H G

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von Werten aus dem Gesellschaftsvermögen unkontrollierbar wird 21 , fehlen die unverzichtbaren Voraussetzungen des Haftungsprivilegs; dann funktionieren die dem Gläubigerschutz dienenden Kapitalsicherungsvorschriften, die ein vom Eigenvermögen des Gesellschafters abgrenzbares Gesellschaftsvermögen voraussetzen, nicht mehr22. c) Wenn der Ausnahmetatbestand der Vermögensvermischung gegeben ist, tritt eine persönliche Haftung der Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern entsprechend §§ 105, 128 H G B ein23. Das gilt nur, soweit die Gläubiger sich nicht mehr aus dem Gesellschaftsvermögen befriedigen können 24 . Ein Verschulden gehört nicht zum Haftungstatbestand 25 . 2. Verantwortlichkeit

des beherrschenden

Gesellschafters

a) In einem neueren Urteil vom 13. April 199426 hatte sich der B G H erstmals näher mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Gesellschafter einer G m b H einem Haftungsdurchgriff wegen Vermögensvermischung unterliegen. Auch insoweit stellt der B G H strenge Anforderungen an die persönliche Haftung der GmbH-Gesellschafter. Er läßt nur diejenigen Gesellschafter haften, die aufgrund des ihnen in dieser Stellung gegebenen Einflusses in der Gesellschaft für den Haftungstatbestand der Vermögensvermischung verantwortlich sind27'28. Derartige Einflußmöglichkeiten nimmt er für den Regelfall nur bei solchen Gesellschaftern an, die auf die Gesellschaft einen beherrschenden Einfluß ausüben können. Das ist bei Minderheitsgesellschaftern nur der Fall, wenn sie wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Umstände die Geschicke des Unternehmens bestimmen können 29 . 21

Stimpel, aaO (Fn. 14); Braudel, aaO (Fn. 13), § 1 Rdn. 103. B G H ZIP 1985,29, 30; vgl. auch B G H Z 95, 330, 334 und B G H Z 125, 366,368. 23 B G H Z 95, 330, 332; vgl. auch B G H Z 125, 366, 368; K. Schmidt, aaO (Fn. 10), § 9 IV 2a; Drax, aaO (Fn. 9), S. 84; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), § 13 Rdn. 13, 15; a. A. Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 613 f; S. 615: grundsätzlich Innenhaftung gegenüber der GmbH, gerichtet auf Wiederherstellung des Stamrakapitels. " Dazu eingehend Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 615; s. ferner Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), § 13 Rdn. 88 b. 25 Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 612; G. H. Roth, Anm. LM § 13 G m b H G Nr. 24 unter 2. Von der Normzwecklehre her versteht sich das von selbst. 26 B G H Z 125, 366. 27 Der B G H bezieht sich für seine Meinung auf Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S. 411; Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 612 und Hachenburg/Ulmer, GmbHG, 8. Aufl., Anhang §30 Rdn. 60; vgl. ferner Hachenburg/Mertens, aaO (Fn. 10), Anhang § 13 Rdn. 49; s. auch Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), § 13 Rdn. 15. 28 Verantwortlichkeit ist hier im Sinne objektiver Zurechenbarkeit gemeint (vgl. auch G. H. Roth, aaO Fn. 25). » B G H Z 125, 366, 368 ff. 22

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Das hat der B G H in casu verneint. Die Beklagte war formal Alleingeschäftsführerin und mit einer Beteiligung von 20 % Gesellschafterin einer (inzwischen in Konkurs gefallenen) GmbH. In Wirklichkeit wurden die Geschäfte ausschließlich von ihrem zu 80 % beteiligten Ehemann, dem Einzelprokura erteilt war, geführt. Die GmbH befaßte sich mit der Verwaltung ihr anvertrauter Anlagegelder. Der Ehemann hatte in größerem Umfange Vermischungen von Gesellschafts- und Privatvermögen vorgenommen. Dagegen war nicht festgestellt, daß die Beklagte unmittelbare Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen erhalten oder sich an den Vermögensvermischungen beteiligt hatte. b) Der BGH 3 0 lehnt es ab, bei einem Minderheitsgesellschafter allein deshalb eine beherrschende Stellung anzunehmen, weil er zugleich Geschäftsführer der GmbH ist; denn er ist in der letzteren Eigenschaft von den Weisungen der Gesellschaftermehrheit abhängig. Im Streitfall war die Beklagte zudem nur formal zur Geschäftsführerin bestellt, tatsächlich hatte sie aber in der GmbH „nichts zu sagen". c) Die angeführte Entscheidung hat wegen ihrer restriktiven Haltung in der Durchgriffsfrage Kritik gefunden. Diese richtet sich einmal dagegen, daß der B G H den Haftungsdurchgriff wegen Vermögensvermischung von der Verantwortlichkeit des betreffenden Gesellschafters abhängig macht. So versteht G. H. Rotbi] diese Haftung als eine reine Strukturhaftung wegen Wegfalls einer unabdingbaren Voraussetzung des Haftungsprivilegs des § 13 Abs. 2 GmbHG; sie treffe - von Extremfällen abgesehen - jeden Gesellschafter ohne Rücksicht auf sein Einflußpotential in der GmbH. Dem kann nicht zugestimmt werden32. Andernfalls würde das Haftungsrisiko des (einflußlosen) Minderheitsgesellschafters, das prinzipiell auf den Betrag der geleisteten Einlage beschränkt ist, unverhältnismäßig erhöht. Eine analoge Anwendung des Rechtsgedankens der Solidarhaftung nach § 24 oder § 31 Abs. 3 GmbHG kommt wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschriften nicht in Betracht. Auch vom Standpunkt der Normzwecklehre ist die Begrenzung des Kreises der mithaftenden Gesellschafter auf die für die Vermögensvermischung Verantwortlichen unter dem Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit gerechtfertigt33.

B G H aaO (Fn. 29). AaO (Fn. 25); vgl. auch K. Schmidt, ZIP 1994, 837, 840; Kühler, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 23 II 3a. 32 Vgl. auch die in Fn. 27 genannten Autoren. " Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), für die Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung. 30 31

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG

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d) Die Kritik an der zitierten Entscheidung richtet sich ferner dagegen, daß der B G H bei der Beurteilung, ob es sich bei der Beklagten um eine beherrschende Gesellschafterin gehandelt hat, ihre zusätzliche Funktion als (nominelle) Alleingeschäftsführerin außer Betracht gelassen hat34. Mit Recht unterscheidet der BGH 3 5 jedoch strikt zwischen der Gesellschafterhaftung wegen Durchgriffs und der ausnahmsweisen Geschäftsführerhaftung Dritten gegenüber (z. B. aus § 64 Abs. 1 GmbHG i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB), die von verschiedenen Voraussetzungen abhängig sind. Zutreffend weist der B G H in der hier erörterten Entscheidung darauf hin, daß allein die Doppelrolle eines Gesellschafter-Geschäftsführers, den in keiner seiner Einzelfunktionen eine Außenhaftung trifft, im Rahmen des Durchgriffs nicht haftungsbegründet wirkt. K. Schmidt36 ist darin zuzustimmen, daß der Haftungsdurchgriff nur die ultima ratio ist und im übrigen die Innenhaftung des Geschäftsführers nach § 43 Abs. 2 GmbHG bleibt, der nicht durch die Berufung auf die faktische Einflußlosigkeit in der GmbH begegnet werden kann. IV. Unterkapitalisierung 1.

Tatbestandsprobleme

Für den Durchgriff wegen Unterkapitalisierung gilt nach wie vor die Feststellung Stimpels37 aus dem Jahre 1987, die Gerichte hätten zu diesem Tatbestand kaum einen Beitrag geleistet. Zwar hat das Bundessozialgericht38 den Gesellschafter der Komplementär-GmbH u. Co. K G aus dem Gesichtspunkt des Durchgriffs wegen materieller Unterkapitalisierung persönlich auf Rückzahlung einer Eingliederungshilfe nach § 54 A F G haften lassen. Auch der BGH 3 9 hat in einem Einzelfall die Mitglieder eines von Anfang an vermögenslosen (rechtsfähigen) Vereins einer Durchgriffshaftung für Vereinsverbindlichkeiten unterworfen. Für die GmbH hat dagegen der B G H - soweit ersichtlich - einen Haftungsdurchgriff wegen materieller Unterkapitalisierung noch nicht angenommen40. Er hat 34 K. Schmidt, aaO (Fn. 31); G. H. Roth, aaO (Fn. 25); vgl. auch von Gerkan, EWiR § 13 GmbHG 1/94, 681. 35 AaO (Fn. 29). 36 AaO (Fn. 31), S. 840, 843; s. auch G. H. Roth, aaO (Fn. 25) unter 3. 37 AaO (Fn. 14), S. 697. 3! BSGE 56, 76 = NJW 1984, 2117; kritisch dazu K. Schmidt, aaO (Fn. 10), § 9 IV 4b. 39 BGHZ 54, 222; Kritik an der gewählten Durchgriffslösung bei K. Schmidt, aaO (Fn. 10), § 9 III 1 und § 24 VI 2b. ,0 Ablehnend vor allem BGHZ 68, 312; vgl. ferner die Rechtsprechungsanalyse bei Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 30 Rdn. 45 f. Entgegen der Ansicht von Th. Raiser (ZGR 1995, 156, 162) kann der Entscheidung BGH NJW 1994, 446 eine Neuorientierung unter Hinwendung zur Haftung aus Unterkapitalisierung nicht entnommen werden.

746

Karlheinz Boujong

vielmehr in Fällen der Gläubigerschädigung infolge eindeutiger Unterkapitalisierung eine Gesellschafterhaftung nur unter den Voraussetzungen des § 826 B G B bejaht41. Demgegenüber wird in der Literatur überwiegend eine persönliche Haftung des Gesellschafters wegen qualifizierter Unterkapitalisierung, wenn die Kapitalausstattung der GmbH eindeutig oder völlig unzureichend ist, bejaht42. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, daß der B G H seine restriktive Haltung in dieser Frage in absehbarer Zeit aufgeben wird. Seine Zurückhaltung gegenüber einem verschuldensunabhängigen Haftungsgrund dürfte ihren rechtfertigenden Grund schon darin finden, daß es erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, für die Praxis handhabbare Maßstäbe für das Kriterium der völlig unzureichenden Kapitalausstattung zu entwickeln43. Das gilt vor allem für die Fälle nachträglicher Unterkapitalisierung, die von der vorherrschenden Meinung in der Literatur in den Haftungsdurchgriff einbezogen werden44. Ein unabweisbares Bedürfnis für einen solchen Durchgriff wegen qualifizierter Unterkapitalisierung wird man um so weniger anerkennen können 45 , als der B G H an die subjektiven Voraussetzungen des § 826 B G B - bedingter Vorsatz genügt - keine für die Rechtspraxis zu hohen Anforderungen stellt46. 2. Abgrenzung zur nominellen

Unterkapitalisierung

a) Von der behandelten Problematik ist die sog. nominelle Unterkapitalisierung zu unterscheiden. Sie liegt vor, wenn die Gesellschafter zwar für eine ausreichende Kapitalausstattung der GmbH sorgen, aber nicht mit haftendem Eigenkapital, sondern als Fremdkapital, insbes. Gesellschafterdarlehen47. Die nominelle Unterkapitalisierung löst keine 41

B G H N J W 1979, 2104; B G H DB 1988, 1848; vgl. auch B G H GmbHR 1991, 409,

412. 42 Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 30 Rdn. 50 ff, 55 ff m. w. Nachw.; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), § 13 Rdn. 12 ff m. w. Nachw.; Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 607 ff; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I 1980, § 4 III lb, S. 224 ff; Tb. Kaiser, aaO (Fn. 40), S. 162 ff; ablehnend Weitbrecht, Haftung der Gesellschafter bei materieller Unterkapitalisierung, 1990; Vonnemann, GmbHR 1992, 77 ff. 43 Vonnemann, GmbHR 1992, 77, 79 ff; Boujong, GmbHR 1992, 207, 208, jew. m. w. Nachw.; auch der Gesetzgeber hat deshalb bei der GmbH-Novelle 1980 bewußt davon abgesehen, eine Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung einzuführen (BTDrucks 8/1347, S. 38). 44 Dazu näher Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 609. 45 Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), § 13 Rdn. 89. 46 B G H N J W 1979, 2104, 2105: Schluß auf den Schädigungsvorsatz aus Mißverhältnis zwischen Kapitalausstattung und Geschäftsvolumen sowie aus Vorgehensweise; kritisch Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), § 13 Rdn. 14. 47 Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 30 Rdn. 21.

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG

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Durchgriffshaftung aus48. Es geht hier nicht um eine persönliche (Ausfall-)Haftung des Gesellschafters wie beim Haftungsdurchgriff, sondern um die Umqualifizierung von bereits vorgenommenen Finanzierungsleistungen des Gesellschafters in haftendes Eigenkapital49. Hierzu hat der B G H bekanntlich in einer Vielzahl von Entscheidungen ein System umfassender Regeln des Eigenkapitalersatzes entwickelt50. b) Auch die auf § 32 Abs. 3 G m b H G gestützte Rechtsprechung des B G H zur eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung 51 , insbes. bei der Betriebsaufspaltung, betrifft die nominelle, nicht die materielle Unterkapitalisierung 52 . Der B G H betont in einer seiner neuesten Entscheidungen53 zu diesem Komplex, daß auch hier nicht die Rechtsfolge einer unterlassenen, sondern die Umqualifizierung einer tatsächlich durchgeführten Finanzierung der Gesellschaft (durch Überlassung von Nutzungsrechten) zu beurteilen ist. Die Regeln des Eigenkapitalersatzes enthalten aber, wie der B G H weiter ausführt, lediglich ein Abzugsverbot für die gewährte Finanzierungsleistung, jedoch kein Zuführungsgebot in bezug auf weitere Leistungen des Gesellschafters. Diese Judikatur bleibt auch der Sache nach ganz im Rahmen des Konzepts des Eigenkapitalersatzes. Das ist auch insoweit der Fall, als die Gebrauchsüberlassung von Anfang an eigenkapitalersetzenden Charakter hat, wie das bei bestimmten Modellen der Betriebsaufspaltung fast systemkonform ist54. Auch hier geht es, wie das für die Fälle des Eigenkapitalersatzes typisch ist, um die Folgen der Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters für die Nutzungsüberlassung von Gebäuden oder Maschinen an die nicht „überlassungswürdige" Betriebsgesellschaft als einer der Darlehensgewährung in der Krise wirtschaftlich vergleichbaren Leistung. Der mangelnden Kapitalausstattung der BetriebsGmbH ist immerhin in Form der Gebrauchsüberlassung von Betriebsgegenständen begegnet worden. Soweit die Regeln der eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung eingreifen, findet kein Haftungsdurchgriff wegen Unterkapitalisierung (sofern man ihn überhaupt anerkennen will) statt55.

BGHZ 81, 311, 317. ' BGHZ 105, 168,175 f. 50 Neuere Darstellung z. B. bei Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), §§ 32 a/b, Rdn. 1 ff. 51 BGHZ 109, 55; 121, 31; 127, 1; 127, 17. 32 A. A. K. Schmidt, ZIP 1990, 69, 70; den., ZIP 1993, 161, 164; Häuselmann, DZWiR 1993, 165 f; dagegen zutreffend Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 16), §§ 32 a/b, Rdn. 113 a. E. » BGHZ 127,17, 23. 54 BGHZ 121, 31, 37 ff. 55 Vgl. Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 30 Rdn. 57; von Gerkan/Hommelhoff, Kapitalersatz im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 3. Aufl., Rdn. 1.15. 41 4

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V. Haftung im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern 1. Haftungsgrundsätze

und -konzept

a) Probleme der Haftung des herrschenden Unternehmens im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern, die eine Flut von Veröffentlichungen56 hervorgebracht haben, werden hier entsprechend dem Thema des Beitrags nur insoweit behandelt, als sie die Frage der Vereinbarkeit der einschlägigen Rechtsprechung des B G H mit dem Trennungsgebot des § 13 Abs. 2 GmbHG und den dieser Vorschrift zugrundeliegenden Wertungen betreffen. Für diese Erörterung kann dahingestellt bleiben, ob man diese Fallgruppe überhaupt der Durchgriffshaftung zuordnet57 oder sie als spezifisch konzernrechtliches Haftungsinstitut ansieht58. In jedem Fall stellt sich - ungeachtet der dogmatischen Qualifizierung - die Frage nach den Grenzen der Haftungsbeschränkung in der GmbH. Das gilt auch ohne Rücksicht darauf, ob man die Haftung des herrschenden Unternehmens im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern als Verhaltens- oder Strukturhaftung oder eine Mischform von beiden einstuft59. Der B G H hat sich bekanntlich keine dieser Theorien ausdrücklich zu eigen gemacht. b) Nach dem heutigen Stand der Rechtsprechung des B G H seit der Grundsatzentscheidung vom 29. März 1993 („TBB") 6 0 haftet der eine GmbH beherrschende Unternehmensgesellschafter entsprechend §§ 302, 303 AktG, wenn sich die Ausübung der Leitungsmacht als objektiv mißbräuchlich darstellt, d. h. die angemessene Rücksicht auf die eigenen Belange der abhängigen GmbH vermissen läßt. Voraussetzung ist dabei, daß sich die der GmbH insgesamt zugefügten Nachteile nicht durch Einzelausgleichsmaßnahmen (z. B. Schadensersatz wegen Treupflichtverletzung, Kapitalerhaltungsrecht, Deliktsansprüche) kompensieren lassen61. Die den Kern des verschuldensunabhängigen Haftungstatbestandes umschreibende Formel von der mißbräuchlichen Verfolgung der

56 Vgl. etwa die Nachweise bei Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 77 vor Rdn. 97; s. ferner die beiden Sammelbände von Hirte (Hrsg.), Der qualifizierte faktische Konzern, RWS-Dokumentation 12 (1992) und 13 (1993). 57 So Stimpel, aaO (Fn. 14), S. 609 unter Hinweis auf den Gesichtspunkt der Außerkraftsetzung der Kapitalsicherungsvorschriften; vgl. zu diesem Aspekt B G H Z 107, 7, 18. 5! Priester, aaO (Fn. 2), S. 127; Drax, aaO (Fn. 9), S. 174 ff; Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 1), Anhang § 13 Rdn. 84 a; vgl. auch Emmerich/Sonnenschein, Konzernrecht, 5. Aufl., § 16 V 1. 59 Vgl. dazu Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 77 Rdn. 112 f; Hüffer, AktG, 2. Aufl., § 302 Rdn. 8, jew. mit Nachweisen zum Streitstand. 60 B G H Z 122, 123 („TBB") in Modifizierung der in B G H Z 115, 187 („Video") entwickelten Grundsätze. " B G H Z 122,123.

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 G m b H G

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eigenen (übergeordneten) unternehmerischen Interessen durch den beherrschenden Unternehmensgesellschafter ist vom B G H in weiteren Urteilen 62 fallbezogen konkretisiert worden. Der B G H hat in den angeführten Entscheidungen das zentrale Kriterium der nachhaltigen Beeinträchtigung der Eigenbelange der abhängigen G m b H jeweils eingehend geprüft; seine Erwägungen zeigen, daß er es nur unter engen Voraussetzungen bejaht, also auch hier die Eigenständigkeit der G m b H als juristischer Person und die für sie charakteristische Haftungsbeschränkung achtet. c) Es ist - auch im Blick auf § 13 Abs. 2 G m b H G - von Interesse, welche Leitgedanken dieser kurz skizzierten Rechtsprechung des B G H zur Konzernhaftung zugrundeliegen. Der B G H 6 3 geht von der Grundannahme aus, daß mit bestimmten (faktischen) Beherrschungsverhältnissen für die abhängige Gesellschaft, d. h. für ihre etwaigen Minderheitsgesellschafter und ihre Gläubiger, Gefahren verbunden sein können. Diese resultieren daraus, daß der bei der selbständigen Gesellschaft regelmäßig vorhandene Gleichlauf der Interessen von Gesellschaft und ihren Gesellschaftern nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, wenn einer von ihnen noch außerhalb der Gesellschaft unternehmerische Interessen verfolgt. Für diesen beherrschenden Gesellschafter kann es nämlich wirtschaftlich vorteilhaft sein, jenen anderweiten Interessen zu Lasten der Belange der abhängigen Gesellschaft den Vorrang einzuräumen und diese damit zu benachteiligen. Diese konzerntypische Gefährdungslage hat dem B G H schon im sog. Autokran-Urteil 64 Anlaß gegeben, für den qualifizierten faktischen G m b H - K o n z e r n in Anknüpfung an die aktienrechtlichen Vorschriften zum Vertragskonzern besondere Haftungsregeln zu entwickeln. Die Erforderlichkeit gerade eines spezifischen Konzernhaftungsrechts für die abhängige G m b H leitet der B G H 6 5 daraus ab, daß in bestimmten Konzernlagen die Leitungsmacht des herrschenden Unternehmens so dicht und intensiv ausgeübt wird, daß sich infolge der unübersichtlich gewordenen Verhältnisse einzelne schädigende Eingriffe nicht mehr isolieren und nach den allgemeinen Haftungsvorschriften ausgleichen lassen.

" B G H NJW 1994, 446 mit Besprechung von Th. Kaiser, Z G R 1995, 156: keine Konzernhaftung allein wegen Zuweisung einer begrenzten Einzelfunktion an eine konzerngebundene G m b H ; B G H ZIP 1995, 733: kein Mißbrauch, wenn bestimmte Forderungen der abhängigen G m b H an ein anderes Konzernunternehmen zur Sicherung von Ansprüchen abgetreten werden, die diesem seinerseits gegen die abhängige G m b H zustehen. 61 B G H Z 122,123,126 f; B G H ZIP 1994,1690. M B G H Z 95, 330, 334 f. 65 B G H Z 122, 123,127.

750

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2. Zugriff auf das

Privatvermögen

a) Nach der Rechtsprechung des BGH zur Haftung im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern kann herrschendes Unternehmen auch sein: ein Einmanngesellschafter66, eine (auch anderweit unternehmerisch tätige) Einzelperson67 mit einzelkaufmännischem Unternehmen68 oder mit multiplem Beteiligungsbesitz an anderen Gesellschaften69 und auch - wie jüngst noch einmal bestätigt - eine natürliche Person, deren anderweitige unternehmerische Betätigung sich nur in einer Einflußnahme auf andere Gesellschaften, an denen sie maßgeblich beteiligt ist, erschöpft70. Dabei kann die anderweitige unternehmerische Betätigung, die die Unternehmenseigenschaft im konzernrechtichen Sinne begründet, auch in einer Tätigkeit als Freiberufler (z. B. als Architekt) bestehen71. Wie der BGH mit Recht ausführt, ist es für die konzerntypische Gefährdungslage im obigen Sinne und das Schutzbedürfnis der außenstehenden Gesellschafter und der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft unerheblich, welche Rechtsform die haftende Konzernspitze hat72. Ebenso spielt es für den konzernbedingten Interessenkonflikt keine Rolle, ob das herrschende Unternehmen seine anderweitigen wirtschaftlichen Interessen mittels gewerblicher oder freiberuflicher Tätigkeit verfolgt73. b) Diese Judikatur hat zur Folge, daß natürliche Personen als Konzernspitze nicht nur mit ihrem unternehmerisch gebundenen Vermögen, sondern auch mit ihrem gesamten Privatvermögen der Konzernhaftung unterliegen74. Der BGH hat sich gegenteiligen Auffassungen, die natürliche Personen nicht als Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne qualifizieren75 oder die Haftung auf das Unternehmensvermögen beschränken76

B G H Z 95, 330, 346 für die Ausfallhaftung entspr. § 303 AktG; B G H Z 115, 187, 197 f. B G H Z 69, 334, 337 f („VEBA/Gelsenberg"); B G H Z 95, 330, 337; B G H Z 115, 187, 189 ff. '« B G H Z 115,187,191 f; B G H Z 122,123,128. " B G H Z 95, 330, 337; B G H NJW 1994, 446 m. Anm. von K. Schmidt. 70 B G H NJW 1994,446. 71 B G H ZIP 1994,1690; B G H ZIP 1995, 733. 72 B G H Z 122,123,127; B G H N J W 1994,446. 73 B G H ZIP 1994,1690. 74 B G H Z 115,187,191; B G H Z 122,123,128; B G H NJW 1994, 446. 75 K. Schmidt, Z H R 1991, 417, 432 ff; ders., A G 1994, 189, 191 ff; Ehlke, D B 1986, 523, 524 ff; Wiedemann, ZGR 1986, 656, 670 f. 76 K. Schmidt, Z H R 1991, 417, 439 ff: qualifizierte Gleichordnung unter den als Verlustgemeinschaft zu behandelnden Schwestergesellschaften und damit letztlich Haftungsverbund zwischen den beherrschten Gesellschaften; ähnlich Ehlke, DB 1986, 523, 524 ff; s. ferner Wiedemann, DB 1993, 141, 153: Privileg der Haftungsverschonung bezügl. des Privatvermögens. 66 67

Grenzen der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG

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wollen, nicht angeschlossen. Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit der im Schrifttum herrschenden Meinung 77 . 3. Legitime Einschränkung

des $ 13 Abs. 2

GmbHG

a) Diese Rechtsprechung verstößt nicht gegen den Grundsatz der Haftungstrennung des § 13 Abs. 2 G m b H G oder die dieser Vorschrift zugrundeliegenden Wertungen. Wenn man, was hier nicht problematisiert werden soll, von dem weiten Unternehmensbegriff des B G H 7 8 ausgeht, so ergibt sich daraus, falls sich nicht besondere rechtliche Gründe für den Ausnahmefall einer Haftungsabschottung finden lassen, auch die Haftung der natürlichen Person als Konzernspitze mit ihrem Privatvermögen. Solche, eine Haftungsverschonung des Privatvermögens legitimierenden Gründe sind indessen nicht zu erkennen. Wenn die Leitungsmacht ausübende natürliche Person (auch) ein einzelkaufmännisches Unternehmen betreibt, würde es, wie der B G H 7 9 ausgesprochen hat, grundlegenden Prinzipien des geltenden Rechts widersprechen, ihre Haftung auf den Teil ihres (nicht in den abhängigen Gesellschaften gebundenen) Vermögens des Einzelunternehmens zu beschränken. Eine exakte Trennung von Beteiligungs- und „Privat"vermögen wird sich längerfristig kaum so verwirklichen lassen, daß eine Schädigung von Gläubigern auszuschließen ist80. b) Auch bei dem Mehrheitsgesellschafter mit multiplem Beteiligungsbesitz hat es der BGH 8 1 abgelehnt, die Konzernhaftung auf das in den einzelnen Beteiligungen bestehende Vermögen zu begrenzen. Dieses Beteiligungsvermögen läßt sich vollstreckungsrechtlich nicht befriedigend von dem sonstigen Vermögen des Gesellschafters separieren. Eine Freistellung des Privatvermögens von der Haftung würde zudem die Privatgläubiger gegenüber der abhängigen G m b H und deren Gläubigern in ungerechtfertigter Weise bevorzugen. Der Judikatur liegt also kein Widerspruch zu den Wertungen des § 1 3 Abs. 2 G m b H G zugrunde. Diese Beurteilung gilt - wie schon angedeutet - unabhängig davon, ob man das Haftungsmodell des B G H als Fall einer Verhaltensoder Strukturhaftung oder einer Vermischung beider Haftungstypen

77 Vgl. die Nachweise bei Hachenburg/Ulmer, - ebenfalls Vertreter der h. M. aaO (Fn. 27), Anhang § 77 Rdn. 115 Fn. 186. 78 Vgl. die Nachweise in Fn. 67. " B G H Z 122, 123,128. Assmann, Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 657, 715; s. auch Kowalski, GmbHR 1993, 253, 255. »' B G H N J W 1994, 446; dem Urteil zustimmend Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 27), Anhang § 77 Rdn. 115 in Ubereinstimmung mit der h. M.

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einordnet82. Nach der neueren BGH-Judikatur seit dem TBB-Urteil ist, wie oben dargelegt, wesentliche Haftungsvoraussetzung die objektiv mißbräuchliche Ausübung der Leitungsmacht unter Vernachlässigung der eigenen Belange der abhängigen GmbH. Wie in der Rechtsprechung des BGH 83 anerkannt ist, rechtfertigt der Mißbrauch der Rechtsform der juristischen Person den Haftungsdurchgriff und damit die Relativierung des § 13 Abs. 2 GmbHG. Dieser Gedanke läßt sich auch auf die Haftung im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern übertragen; das gilt auch dann, wenn man diese Fälle nicht als Untergruppe des Haftungsdurchgriffs ansieht. c) Zudem hängt, wie dargelegt, die Haftung im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern davon ab, daß einzelne schädigende Eingriffe wegen der Dichte und Unübersichtlichkeit der Leitungsmaßnahmen einem Einzelausgleich nicht mehr zugänglich sind. Das setzt eine hohe Intensität der Leitung und eine nachhaltige Beeinträchtigung der eigenen Belange der abhängigen GmbH voraus. Es kommt hinzu, daß der BGH im TBB-Urteil 84 die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des das herrschende Unternehmen aus Konzernhaftung in Anspruch nehmenden Klägers deutlich verschärft hat und die früher zugunsten des Klägers angewendeten Vermutungen 85 nicht mehr eingreifen läßt. Nach dem heute erreichten Stand der BGH-Judikatur zur Konzernhaftung wird demnach § 13 Abs. 2 GmbHG nur in engen Grenzen eingeschränkt, wie das TBB-Urteil und die seither ergangenen einschlägigen Urteile 86 anschaulich zeigen. Diese Einschränkung wird durch die intensive mißbräuchliche Ausübung der Konzernleitungsmacht gerechtfertigt und stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Prinzip der Haftungstrennung und den Erfordernissen einer wirksamen Konzernhaftung her87. Vgl. die Nachweise Fn. 59. BGH LM § 3 GeschmMG Nr. 1; vgl. auch Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 31. 84 BGHZ 1 2 2 , 1 2 3 , 1 3 2 f. ss Dazu ZIP 1992, 1517 ff; s. ferner in: Hommelhoff/Stimpel/Ulmer (Hrsg.), Der qualifizierte faktische GmbH-Konzern, 1992, S. 65 ff; ebenda, S. 89 ff. " Vgl. Fn. 62. 87 Auch das Video-Urteil (BGHZ 115, 187) war (trotz seines mißverständlichen Leitsatzes a) auf einen solchen Ausgleich angelegt. Es lehnt (S. 195) ausdrücklich den Vorwurf eines Verstoßes gegen § 13 Abs. 2 GmbHG ab. Allerdings war das seinerzeit vom BGH praktizierte Haftungskonzept mit Vermutungen und Gegenbeweismöglichkeiten, das mangels Fallmaterial nicht abschließend ausgeformt worden ist, präzisierungsbedürftig (vgl. dazu aaO (Fn. 85). - Die neuerdings von (NJW 1995, 1202, 1203) vertretene Meinung, die „Video-Rechtsprechung" kehre in Form der verschärften Geschäftsführerhaftung wegen Konkursverschleppung (BGHZ 126,181) zurück, ist unzutreffend. 82

Wiedemann,

83

Stodolkowitz,

Ulmer,

Becking,

Stodolkowitz,

Hirte

Hoffmann-

Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 HGB auf dem Prüfstand der Verfassung C L A U S - W I L H E L M CANARIS

Durch das Nachhaftungsbegrenzungsgesetz vom 18. 3.1994, dessen Kern die in § 160 n. F. HGB statuierte zeitliche Begrenzung der Haftung ausgeschiedener oHG-Gesellschafter für die bis zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens begründeten Altschulden bildet, hat der Gesetzgeber in den §§ 26, 28 III n. F. HGB auch eine zeitliche Begrenzung der Nachhaftung des Veräußerers eines Unternehmens eingeführt. Diese Regelung knüpft an die Vorschriften der §§ 25, 28 I HGB an und setzt demgemäß voraus, daß der Erwerber des Unternehmens bzw. die Gesellschaft, in welche dieses eingebracht worden ist, für die Altschulden einzustehen hat. Für diese haftet der Veräußerer dann gemäß §§ 26, 28 III HGB „nur, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren fällig und daraus Ansprüche gegen ihn gerichtlich geltend gemacht sind", wie es in nahezu wörtlicher Übernahme von § 160 HGB heißt. Der Veräußerer wird folglich von allen Schulden, die zur Zeit der Unternehmensveräußerung zwar bestanden, aber erst nach dem Ende der Fünfjahresfrist (welche gemäß §§ 26 I 2, 28 III 1 HGB mit der Eintragung des neuen Firmeninhabers in das Handelsregister zu laufen beginnt) fällig werden, von Gesetzes wegen befreit. Diese Neuregelung - die im Regierungsentwurf zum NachhBG noch nicht enthalten war und erst vom Rechtsausschuß des Bundestages in dieses aufgenommen wurde1 - führt zu so exorbitanten praktischen Ergebnissen und bricht mit so elementaren Rechtsgrundsätzen, daß es zweifelhaft erscheint, ob sie rechtens, d. h. mit der Verfassung vereinbar ist. I. Exorbitante praktische Ergebnisse der §§ 26,28 III HGB 1. Exemplarische

Fallgestaltungen

a) Die Ergebnisse, zu denen die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III HGB führt, machen schon auf den ersten Blick stutzig. Hatte der Veräußerer des Unternehmens z. B. ein langfristiges Darlehen für unternehmerische Zwecke aufgenommen und wird dieses erst später als fünf Jahre nach der Eintragung des neuen Firmeninhabers in das Handels1

Vgl. BTDrucks 12/6569 S. 4 f.

754

Claus-Wilhelm Canaris

register zur Rückzahlung fällig, so kann sich der Darlehensgläubiger nur noch an den Erwerber halten. Er verliert also ohne jegliches Zutun, ja ohne irgendeine Möglichkeit des Widerspruchs seinen bisherigen Schuldner - und das, obwohl er die Forderung gegen diesen mangels Fälligkeit niemals durchsetzen konnte! Darüber hinaus verliert er grundsätzlich 2 auch noch etwaige Sicherheiten, weil sein Anspruch gegen den Veräußerer untergeht und das geltende Recht die Weiterhaftung von Sicherheiten für die Verbindlichkeit des neuen Schuldners - aus guten Gründen! - nicht kennt (vgl. dazu näher unten III 1 b). Diese dramatischen Rechtsfolgen treten selbst dann ein, wenn der Erwerber des Unternehmens alsbald nach dessen Übernahme insolvent wird oder gar von Anfang an überschuldet war; das mag praktisch selten sein, ist aber durchaus denkbar wie etwa dann, wenn der Unternehmenskäufer sich übernommen hat (wobei er den Kaufpreis z. B. mit Hilfe seines übrigen Vermögens auf Kredit finanziert haben mag). Der Veräußerer kann sich in solchen Fällen wahrhaftig die Hände reiben: er hat den Kaufpreis für das Unternehmen erhalten und ist von seiner Darlehensschuld befreit. Würde man ähnliches für andere objektbezogene Kredite postulieren, so würde jeder Jurist wohl fassungslos den Kopf schütteln bzw. - je nach Temperament - schlicht und einfach auf die Unvereinbarkeit einer solchen Rechtsfolge mit den §§ 415 f BGB und mit ihrem - alsbald zu präzisierenden - elementaren Gerechtigkeitsgehalt verweisen. In der Tat kann nicht ernstlich erwogen werden, z. B. den Veräußerer eines auf Kredit gekauften Hauses nach fünf Jahren aus der persönlichen Haftung zu entlassen, nur weil der Erwerber die Kreditschuld im Wege eines Vertrages zugunsten des Gläubigers gemäß § 328 BGB übernommen hat - eine Konstellation, die mit derjenigen der §§ 25 f, 28 HGB im praktischen Ergebnis durchaus vergleichbar ist3, zumal im Falle der von § 26 HGB ausdrücklich einbezogenen Einstandspflicht des Unternehmenserwerbers kraft Kundmachung gemäß § 25 III HGB. Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III HGB stellt somit eine absonderliche Privilegierung für den Veräußerer eines Unternehmens dar, die einer besonderen Legitimation bedarf, soll sie nicht dem Verdikt krasser Ungerechtigkeit verfallen.

2 Zum Ausnahmefall der Sicherheitenbestellung gerade für den Fall der Enthaftung vgl. unten V 3 d mit Fn. 38. 3 Im Schrifttum wird z. T. sogar versucht, die Haftung des Übernehmers auch dogmatisch in ähnlicher Weise zu erklären, vgl. z. B. Heckelmann, Festschrift für Bartholomeyczik, 1973, S. 137 ff; Gerlach, Die Haftungsordnung der §§ 25, 28, 130 HGB, 1979, S. 36 ff, 40 f; kritisch dazu Canaris, Handelsrecht, 22. Aufl. 1995, § 7 I 2 b m. w. Nachw.

Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 H G B

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b) Die Beispiele lassen sich leicht vermehren. Man denke etwa an langfristige Miet- oder Pachtverträge, an Sale-and-lease-back-Vertrage und dgl. Auch hier kann der Gläubiger ein vitales Interesse an der Beibehaltung seines bisherigen Schuldners haben, weil er zwar mit der Benutzung des Vertragsobjekts durch den neuen Unternehmensinhaber durchaus einverstanden ist, aber dessen Bonität nicht traut; ihn auf die Möglichkeit einer Kündigung zu verweisen, kann gänzlich unzumutbar sein - z. B. dann, wenn die Räume auf die Bedürfnisse gerade dieses Unternehmens zugeschnitten sind und daher nicht genauso gut an ein anderes überlassen werden können, oder dann, wenn der Miet- bzw. Pachtzins langfristig festgeschrieben worden ist und sich das wegen eines - im gewerblichen Sektor gar nicht seltenen - Markteinbruchs als vorteilhaft für den Vermieter bzw. Verpächter erweist. c) Uberaus dramatisch kann sich die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B schließlich auch auf die Einstandspflicht für Betriebsrenten auswirken, die sehr häufig erst später als fünf Jahre nach dem Firmenwechsel fällig werden. Auch für diese gilt das NachhBG, wie sich sowohl aus den Gesetzesmaterialien" als auch aus der Tatsache ergibt, daß der Streit um die gesellschaftsrechtliche Nachhaftung gerade auch um deren Behandlung ging und also durch das NachhBG vom Gesetzgeber entschieden werden sollte. Ist es aber wirklich gerecht, daß der Veräußerer eines Unternehmens nach fünf Jahren von seinen Verpflichtungen aus seinen Betriebsrentenversprechen frei wird, nur weil hinsichtlich des ausgeschiedenen persönlich haftenden Gesellschafters einer oHG in der Tat triftige Gründe für eine solche Lösung sprechen? Oder wird hier nicht vielmehr ein probates Mittel zur Verfügung gestellt, um sich durch Veräußerung des Unternehmens den Rentenversprechen zu entziehen? Die Befürchtungen, die sich hier aufdrängen, sind um so gravierender, als die §§ 26, 28 III H G B selbstverständlich nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen gelten. 2. Die §§ 26, 28 III HGB als Instrument für

Enthaftungsstrategien

a) Damit ist zugleich ein Stichwort gefallen, durch das der Blick noch auf weitere überaus bedenkliche Fallgestaltungen gelenkt wird. Die Anwendbarkeit der j j 26, 28 III HGB auf Gesellschaften eröffnet der Kautelarjurisprudenz nämlich neue Möglichkeiten zu einer - völlig legalen - „Entschuldung" und „Sanierung" zu Lasten der Altgläubiger. Man denke etwa daran, daß eine Gesellschaft das von ihr betriebene verlustbringende Unternehmen - z. B. eine Brauerei - samt Firma veräußert oder in eine neue Gesellschaft einbringt und das nicht betriebsnotwen4

Vgl. die Regierungsbegründung BTDrucks 12/1868 S. 7.

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dige Vermögen - etwa wertvollen Grundbesitz oder Beteiligungen an anderen Gesellschaften - zurückbehält. A n der Anwendbarkeit der §§ 25 1 1, 28 1 1 H G B kann in solchen Fällen kein Zweifel bestehen. Das gilt schon deshalb, weil das zurückbehaltene Vermögen mangels Betriebsnotwendigkeit und -Zugehörigkeit gar nicht Teil des „Handelsgeschäfts" i. S. dieser Vorschriften war; folgt man dem nicht, so ergibt sich die Einschlägigkeit der §§ 25 I 1, 28 11 H G B doch zumindest daraus, daß dafür anerkanntermaßen die Übernahme des Unternehmens&erws genügt 5 , zu dem nicht betriebsnotwendiges und -zugehöriges Vermögen keinesfalls zu rechnen ist. Wenn aber die §§ 25 1 1, 28 1 1 H G B zu Lasten des Erwerbers eingreifen, dann muß folgerichtig grundsätzlich auch die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B zugunsten des Veräußerers anwendbar sein. Denn f ü r eine teleologische Reduktion dieser Vorschriften besteht methodologisch keine Grundlage, weil man durch eine solche in die „Haftungsfondstheorie" zurückfallen würde, obwohl diese nach ganz überwiegender und richtiger Ansicht den §§ 25 ff H G B gerade nicht zugrunde liegt.6 b) Die gleiche Problematik stellt sich außerdem auch bei der Betriebsaufspaltung., w o die Konsequenz einer Enthaftung der Besitzgesellschaft von ihren Verbindlichkeiten aus langfristigen Darlehen, Ruhegehaltsversprechen usw. das Rechtsgefühl in besonderem Maße irritiert, ja empört. Paradigmatisch ist der Fall, daß eine Gesellschaft verlustgefährdete U n ternehmensbereiche ausgliedert und auf eine neue Gesellschaft überträgt, dieser aber das wesentliche Unternehmensvermögen lediglich verpachtet. N u n hat freilich Lieb vorgeschlagen, in derartigen Fällen zwar die H a f t u n g der neuen Gesellschaft - der sogenannten Betriebsgesellschaft aus §§ 25 I 1, 28 11 H G B zu bejahen, gleichwohl aber eine Enthaftung der Besitzgesellschaft zu verneinen. 7 Eine solche gespaltene Konzeption begegnet indessen schwerwiegenden methodologischen Bedenken. Lieb, der seinen Vorschlag noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten des NachhBG gemacht hat, hat diese mit dem Argument zu entkräften versucht, man bewege sich bei der Entwicklung einer Enthaftungslösung im Gebiet der lückenfüllenden Rechtsfortbildung, „weil der Gesetzgeber bzw. das Gesetz die spezielle Problematik der Dauerschuldverhältnisse nicht hinreichend bedacht haben", und habe daher die Freiheit, insoweit an 5 Vgl. z. B. Heymann/Emmerich, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 1995, § 25 Rdn. 16; Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 29. Aufl. 1995, § 25 Rdn. 6. 6 Vgl. Conans aaO § 7 I 2 d; Karsten Schmidt, Handelsrecht, 4. Aufl. 1994, § 8 I 2 a cc m. w. Nachw. 7 Vgl. Lieh, Haftung für Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen bei Unternehmensübergang, 1992, S. 38 ff.

Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 HGB

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die Tatbestandsmerkmale der ergänzten Normen - d. h. der §§ 25 11, 28 11 H G B - nur für Teilbereiche - d. h. nur für die Fälle der Übertragung des wesentlichen Unternehmensvermögens - anzuknüpfen. Diese Begründung ist heute jedenfalls hinfällig, weil nunmehr der Gesetzgeber gesprochen hat, ohne eine Ausnahme für den - insbesondere aus der Rechtsprechung des BAG 8 sattsam bekannten - Fall der Betriebsaufspaltung zu statuieren, obwohl Lieb das ausdrücklich propagiert hatte.9 Eine solche im Wege der teleologischen Reduktion dennoch anzunehmen, dürfte sich schwerlich überzeugend begründen lassen. Dafür müßte nämlich eine spezifische Besonderheit gerade der Betriebsaufspaltung gegenüber den übrigen Fällen der Unternehmensveräußerung gegeben sein - und worin sollte man diese sehen, ohne letztlich doch wieder in die Gedankenbahnen der unzutreffenden Haftungsfondstheorie zurückzufallen?! c) Wie dem auch sei - selbst wenn sich die mißlichen Konsequenzen für den Fall der Betriebsaufspaltung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung sollten vermeiden lassen, bleiben doch zumindest die Fälle der Zurückbehaltung nicht betriebsnotwendigen und -zugehörigen Vermögens. Diese veranschaulichen plastisch, welche außerordentliche Härte für die Altgläubiger darin liegen kann, ihren Schuldner und mit ihm zugleich den Zugriff auf dessen Vermögen zu verlieren. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein eigenständiges Problemfeld gegenüber den oben 1 behandelten Fallkonstellationen, wohl aber immerhin um eine besonders lehrreiche Variante derselben, die insbesondere vor dem Mißverständnis bewahrt, es ginge hier nur um „normale" Unternehmensveräußerungen und nicht auch um die Gefahr gezielter Strategien zur Herbeiführung einer Enthaftung. Daß in besonders krassen Fällen der Einwand des Rechtsmißbrauchs gemäß § 242 BGB gegenüber der „Berufung" auf die §§ 26, 28 III H G B in Betracht kommen mag, ist keine befriedigende Abhilfe, da das Problem genereller Natur ist und folglich nicht zureichend mit Hilfe des einzelfallbezogenen und -abhängigen § 242 BGB gelöst werden kann. II. Die Durchbrechung elementarer Rechtsgrundsätze 1. Die rechtliche Unmöglichkeit rechtzeitiger des verfristeten Anspruchs

Geltendmachung

a) Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B erhält ihre besondere Härte dadurch, daß sie auch für solche Forderungen gilt, die vor 8

Vgl. BAG AP Nr. 1 zu § 26 HGB. ' Vgl. Lieb, GmbHRdsch. 1992, 567 und 569.

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Ablauf der FünfJahresfrist noch gar nicht fällig waren. Dadurch wird mit dem Grundsatz gebrochen, daß die Verfristung eines Anspruchs die rechtliche Möglichkeit zu seiner vorherigen Geltendmachung voraussetzt. Für die Verjährung ist das mit Selbstverständlichkeit anerkannt10 und auch für den Lauf von Ausschlußfristen gilt nichts anderes. In der Tat kommt es geradezu einem Selbstwiderspruch der Rechtsordnung nahe, einerseits dem Gläubiger einen Anspruch zuzuerkennen und ihm diesen andererseits durch bloßen Zeitablauf wieder zu nehmen, obwohl er ihn aus rechtlichen - nicht etwa nur aus rein tatsächlichen - Gründen niemals durchsetzen konnte. Diese Regelung des NachhBG stellt somit sowohl einen Bruch innerhalb des geltenden Rechtssystems als auch eine schwere materielle Härte gegenüber dem Gläubiger dar und bedarf aus diesem Grund unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten einer besonderen Legitimation. Nach dieser wird folglich alsbald nachdrücklich zu fragen sein (vgl. unten III 1 c). b) Schon an dieser Stelle sei immerhin das Argument zurückgewiesen, die Enthaftung lasse sich „angesichts der relativ langen Ubergangsfrist von fünf Jahren ... im Regelfall rechtfertigen"11. Das geht an der Problematik vorbei, weil Stein des Anstoßes ja gerade der Verlust derjenigen Forderungen ist, die nicht innerhalb der „Ubergangsfrist" fällig werden und bezüglich derer diese dem Gläubiger somit nicht das geringste nützt. Daß dieser diejenigen Ansprüche auf die Rückzahlung von Darlehensraten verliert, die z. B. nach drei oder vier Jahren fällig, von ihm aber nicht mehr vor Ablauf der Fünfjahresfrist gerichtlich geltend gemacht werden, ist doch nicht das Problem, sondern vielmehr, daß gleiches auch für diejenigen Raten gilt, die erst später fällig werden und zu deren Geltendmachung er somit überhaupt keine rechtliche Möglichkeit hatte! 2. Der Schuldnerwechsel ohne Mitwirkung

des Gläubigers

a) Hier ist nun freilich der Einwand zu erwarten, der Gläubiger erhalte in der Person des Ubernehmers einen neuen Schuldner. Damit rückt indessen zugleich ein zweiter Systembruch ins Blickfeld: Dem Gläubiger wird ohne seine Mitwirkung ein neuer Schuldner aufgezwungen. Das ist um so gravierender, als es durch seinen bisherigen Schuldner geschieht, der sich durch einen Vertrag mit einem Dritten - dem Ubernehmer des Unternehmens - im praktischen Ergebnis seiner langfristigen Schulden gegenüber seinen Unternehmensgläubigern entledigen, ja auf diesem Weg sogar eine gezielte Entschuldungsstrategie betreiben kann (vgl. oben 12). 10 11

Vgl. nur M ü n c h K o m m - f o « Feldmann, 3. Aufl. 1993, § 198 Rdn. 1. So Lieb a a O (Fn. 7) S. 28; ähnlich Ulmer/Timmann Z I P 1992, 7.

Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 Abs. 3 H G B

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Welch elementare Gerechtigkeitsanforderungen hier auf dem Spiel stehen, wird u. a. daran deutlich, daß sogar der Wechsel des Gläubigers ohne Mitwirkung des Schuldners, d. h. die Abtretung, historisch gesehen eine späte Rechtsfigur darstellt, die nur durch die Entwicklung eines ausgefeilten Instrumentariums zum Schutze des Schuldners - nach Art der heutigen §§ 404 ff B G B - ermöglicht worden ist. Die Person des Schuldners ist aber für den Gläubiger eher noch wichtiger als umgekehrt dessen Person für jenen, da von der Bonität des Schuldners entscheidend die Werthaltigkeit der Forderung abhängt. b) Läßt man einen Wechsel des Schuldners ohne Zustimmung des Gläubigers überhaupt zu, so muß diese Rechtsfolge daher letzterem entweder wenigstens auf andere Weise irgendwie zurechenbar sein - etwa durch das Unterlassen eines möglichen Widerspruchs wie im Falle des §416 B G B - oder es muß von Gesetzes wegen ein ausreichender Gläubigerschutz gewährleistet sein. Keine dieser beiden Voraussetzungen ist im Rahmen der §§ 26, 28 III H G B auch nur ansatzweise erfüllt. Es ist nicht einmal Gewähr dafür gegeben, daß der Ubernehmer wenigstens im Zeitpunkt des Unternehmenserwerbs über eine ausreichende Bonität verfügt (vgl. oben I 1 a). Demgemäß ist es in diesem Zusammenhang kein relevantes Argument, daß die Bonität des Ubernehmers im Einzelfall auch einmal besser als die des Veräußerers sein kann; denn das ist eben in keiner Weise gesichert und bildet kein Äquivalent für diejenigen Fälle, in denen es an der erforderlichen Bonität des Ubernehmers fehlt. III. Die tiefgreifenden Unterschiede gegenüber den übrigen Tatbeständen des N a c h h B G und der Wertungsirrtum der Gesetzesverfasser Nach dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages „rechtfertigt sich die Ausdehnung des Enthaftungskonzepts auf die Fälle der Nachhaftung des Einzelkaufmanns bei Veräußerung eines Handelsgeschäfts (§ 26 H G B ) und bei der .Umwandlung' eines Handelsgeschäfts in eine Kommanditgesellschaft mit dem bisherigen Geschäftsinhaber als Kommanditisten (§ 28 Abs. 3 H G B - neu) aus der ähnlich gelagerten Sach- und Interessenlage." 12 Diese Begründung beruht auf einem Irrtum, da in Wahrheit tiefgreifende Unterschiede gegenüber den übrigen im NachhBG geregelten Tatbeständen bestehen.

n

Vgl. BTDrucks 12/6569 S. 11.

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1. Der Vergleich mit der Problematik

des § 160 HGB

a) Gegenüber der Fallgestaltung des § 160 H G B liegt ein wesentlicher Unterschied schon darin, daß dem Gläubiger beim Ausscheiden eines Gesellschafters aus einer o H G immerhin sein primärer Schuldner nämlich die Gesellschaft selbst - völlig unverändert erhalten bleibt und nur ein zusätzlicher Schuldner - nämlich der ausgeschiedene Gesellschafter - genommen wird. Das soeben erörterte dramatische Problem eines vollständigen Schuldnerwechsels ohne Mitwirkung des Gläubigers und der damit verbundene Eingriff in laufende Verträge13 stellt sich hier somit von vornherein gar nicht. Statt dessen geht es lediglich um eine andere gesetzliche Ausgestaltung der akzessorischen Gesellschafterhaftung aus § 128 HGB. Dieser ist aufgrund von § 160 H G B die Schranke immanent, daß sie bei langfristigen Verbindlichkeiten fünf Jahre nach dem Ausscheiden des Gesellschafters entfällt. Mit der vollständigen Auswechselung des Schuldners in den Fällen der §§ 26, 28 III H G B ist das weder dogmatisch noch wertungsmäßig auf eine Stufe zu stellen. Was im Schrifttum gegen die Relevanz dieses Unterschieds gesagt worden ist, vermag durchweg nicht zu überzeugen.14 b) Vielmehr hat dieses Argument durch die Neuregelung noch an Schärfe gewonnen. Das zeigt sich bei der Problematik des Schicksals von Sicherheiten. Da diese bei der oHG in aller Regel für deren Schuld und nicht lediglich für die Mitschuld des - nachmals ausgeschiedenen Gesellschafters bestellt werden, bleiben sie durch dessen Enthaftung grundsätzlich unberührt. Ganz anders liegt es, wie oben I I a schon angedeutet, in den Fällen der §§ 26, 28 III HGB. Hat sich hier ein Dritter für die Schuld des Unternehmensveräußerers verbürgt oder für diese eine dingliche Sicherheit bestellt, so kommt auch ihm die Enthaftung zugute; denn die gesicherte Schuld besteht nun nicht mehr, und eine gesetzliche Auswechselung der Hauptschuld bzw. der Person des Hauptschuldners kennt das geltende Recht, wie § 418 B G B ausdrücklich klarstellt, grundsätzlich nicht, weil es insoweit den Grundsatz respektiert, daß der Partei eines Schuldverhältnisses nicht ein anderer Partner aufgezwungen werden darf. Etwas anderes läßt sich auch nicht etwa aus den Regeln über die Gesamtrechtsnachfolge herleiten, weil eine solche hier nicht vorliegt. 13 Gemeint ist nicht der Eingriff in solche Verbindlichkeiten, die bei Erlaß des NachhBG bereits bestanden; für diese hat der Gesetzgeber in einer Übergangsregelung Sorge getragen. Die §§ 26, 28 III H G B greifen vielmehr in neu abgeschlossene Verträge ein, indem sie den Schuldner unter bestimmten Voraussetzungen von seinen vertraglich übernommenen Pflichten befreien. 14 Zur Vermeidung von Wiederholungen sei insoweit verwiesen auf Canaris, Festschrift für Frotz, 1993, S. 34 f, 38 ff.

Die Enthaftungsregelung der §§ 26,28 Abs. 3 HGB

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Allerdings wäre immerhin wenigstens eine Teilkorrektur zu erreichen, wenn man § 223 BGB, wonach die Verjährung den Rückgriff auf dingliche Sicherheiten nicht hindert, im Rahmen der §§ 26, 28 III H G B analog anwenden würde, doch dürfte das schwerlich möglich sein. Denn zum einen verweist § 26 I 3 H G B auf eine Reihe verjährungsrechtlicher Vorschriften, aber gerade nicht auf § 223 BGB, so daß sich insoweit ein Umkehrschluß aufdrängt, und zum anderen würde auf diesem Umweg das Enthaftungsprivileg wegen des Rückgriffsanspruchs des Sicherungsnehmers gegen den Unternehmensveräußerer aus § 670 BGB im praktischen Ergebnis insoweit wieder rückgängig gemacht. Für die Bürgschaft gilt § 223 BGB ohnehin nicht15. Es zeigt sich somit, daß es auch in den praktischen Konsequenzen etwas durchaus anderes ist, ob der Gläubiger lediglich einen zusätzlichen Schuldner wie einen oHG-Gesellschafter oder seinen einzigen bisherigen Schuldner verliert. c) Entscheidend kommt hinzu, daß es für die Enthaftung eines ausgeschiedenen oHG-Gesellschafters einen massiven Legitimationsgrund gibt, der sich auf die Enthaftung eines Unternehmensveräußerers nicht übertragen läßt. Beim Ausscheiden eines persönlich haftenden Gesellschafters besteht nämlich insofern ein dringendes Bedürfnis für dessen Enthaftung, als die Gefahr einer Fortdauer seiner Haftung - die bei Dauerschuldverhältnissen geradezu zu einer „Endloshaftung" werden kann - diesen de facto in der Möglichkeit zu einem Ausscheiden, d. h. vor allem in der Ausübung seines Kündigungsrechts stark behindert; denn er müßte für die Schulden der Gesellschaft weiterhin einstehen, ohne noch auf ihre Geschicke Einfluß nehmen zu können, und bliebe hinsichtlich der Altschulden gänzlich von ihrer Solvenz abhängig, obwohl es sich um deren (!) und nicht um seine persönlichen Verbindlichkeiten handelt. Die Möglichkeit zum Ausscheiden aus der Stellung des persönlich haftenden Gesellschafters aber wurzelt ihrerseits unmittelbar in den Fundamenten des Privatrechts, ist sie doch die Konsequenz des die Privatautonomie sowohl erhaltenden als auch begrenzenden - Prinzips, daß niemand sich dauerhaft mit seinem gesamten Vermögen an das Verhalten eines anderen und an die Entwicklung von dessen Vermögen binden kann. Das gilt auch, ja erst recht, sofern das Ausscheiden nicht

15 Auch mit einer Analogie zu § 156 S. 2 UmwG, der § 418 BGB für unanwendbar erklärt, dürfte nicht weiterzukommen sein, da sich die Vorschrift nach ihrer systematischen Stellung und nach ihrer Entstehungsgeschichte - es gab sie gleichlautend schon lange vor dem NachhBG! - nicht auf die Fälle der Enthaftung bezieht. Außerdem würde sich das Problem sonst nur verschieben und zu fragen sein, warum sich ein Sicherungsgeber die Aufdrängung eines neuen Hauptschuldners soll gefallen lassen müssen.

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auf dem Entschluß des Ausgeschiedenen selbst, sondern auf einer Maßnahme der übrigen Gesellschafter wie z. B. einer Hinauskündigung beruht; auch dabei wäre eine langfristige oder gar dauerhafte vermögensmäßige Fremdbestimmung eine übermäßige Einschränkung der wirtschaftlichen Selbständigkeit des Ausgeschiedenen. Es handelt sich hier somit letztlich um die Kollision zwischen dem Prinzip der akzessorischen Haftung nach § 128 H G B und einem mindestens ebenso fundamentalen gegenläufigen Rechtsgedanken, die der Gesetzgeber durch die Regelung des § 160 H G B in akzeptabler (wenn auch vielleicht nicht optimaler) Weise aufgelöst hat. Dazu gibt es bei der Veräußerung eines Unternehmens keine überzeugende Parallele, und demgemäß besteht hier kein auch nur annähernd gleichgewichtiges Enthaftungsinteresse. Denn Gesellschafter müssen sich grundsätzlich von einander trennen können, weil sie miteinander arbeiten und/oder einander ihr Vermögen anvertrauen, so daß sie insoweit der Mitbestimmung des jeweils anderen unterliegen. Der Inhaber eines Unternehmens ist dagegen ganz und gar sein eigener Herr und insbesondere frei in der Entscheidung darüber, ob er sein Unternehmen veräußern will oder nicht. Das bloße Bedürfnis eines Einzelkaufmanns, sich irgendwann einmal zur Ruhe zu setzen oder aus sonstigen Gründen von seinem Unternehmen zu lösen, steht keinesfalls auf einer Stufe mit dem Interesse, nicht dauerhaft in einer Gesellschaft als persönlich haftender Gesellschafter der Fremdbestimmung durch die anderen Gesellschafter zu unterliegen16, und kann unmöglich als zureichende Legitimation dafür anerkannt werden, daß jemand nun plötzlich seine langfristigen Darlehensschulden nicht mehr erfüllen muß oder von seinen Betriebsrentenversprechen frei wird; bei Gesellschaften - denen die §§ 26, 28 III H G B ebenfalls zugute kommen (vgl. oben I 2) - gibt es nicht einmal ein solches „Ruhestandsbedürfnis".

16

Das verkennt Karollus ÖJZ 1995, 246, wenn er einwendet, vom hier vertretenen Standpunkt aus müsse man „sich die Frage stellen lassen, ob es nicht ein ebensolches Interesse des Unternehmensveräußerers gibt, nach Beendigung der Unternehmerstellung vor einer Endloshaftung geschützt zu sein". Das Interesse des Gesellschafters ist gerade kein „ebensolches", sondern ein ganz andersartiges und weitaus gewichtigeres als das des Unternehmensveräußerers, weil es entweder auf seinem - schlechthin fundamentalen! - Interesse an Kündigungsfreiheit oder auf seinem unfreiwilligen Ausscheiden aus der Gesellschaft durch Hinauskündigung und dgl. beruht, wozu es beim Alleinunternehmer nun einmal keine Parallele gibt. Außerdem droht diesem auch keine „Endloshaftung", weil er wiederum in scharfem Gegensatz zum ausgeschiedenen Gesellschafter - Partei der betreffenden Verträge ist und also grundsätzlich selbst und allein über deren Kündigung entscheiden kann (vgl. dazu im übrigen auch unten V 3 c bei Fn. 36).

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2. Der Vergleich mit der Umwandlung eines einzelkaufmännischen Unternehmens in eine Gesellschaft Durch das NachhBG ist auch eine Enthaftung von Einzelkaufleuten bei Umwandlung ihres Unternehmens in eine Kapitalgesellschaft eingeführt worden. Da sich die oben zitierte Begründung des Rechtsausschusses somit auch auf diese Konstellation beziehen kann, ist sie ebenfalls mit derjenigen der §§ 26, 28 III H G B zu vergleichen. Dabei ist folgerichtig von der Rechtslage auszugehen, die sich aus der damals geltenden Fassung des UmwG ergibt (und anschließend nur ergänzend auf die durch das neue UmwG eingeführten Änderungen einzugehen); denn es geht hier ja zur Vorbereitung der verfassungsrechtlichen Prüfung um die Ermittlung der gesetzgeberischen Zweckvorstellungen, für die in erster Linie das rechtliche Umfeld bei Erlaß des NachhBG maßgeblich ist und spätere Änderungen desselben allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen mitberücksichtigt werden können. a) Bei Schaffung des NachhBG konnte ein einzelkaufmännisches Unternehmen gemäß §§ 50 ff, 56a ff UmwG nur in eine AG, eine KGaA oder eine GmbH, nicht aber in eine Personengesellschaft umgewandelt werden. Die Gläubiger langfristiger, von der Enthaftung gemäß §§ 56, 56f II UmwG bedrohter Forderungen kamen daher immerhin in den Genuß des Schutzes der Vorschriften über die Kapitalaufbringung und -erhaltung.17 Dadurch war u. a. wenigstens ausgeschlossen, daß die neue Gesellschaft von vornherein unter Berücksichtigung der langfristigen, von der Enthaftung betroffenen Verbindlichkeiten überschuldet war. Das galt gemäß § 56b II UmwG i. V. mit §§ 5 IV, 9c G m b H G auch für die GmbH, da das eingebrachte Unternehmen eine Sacheinlage darstellt und bei deren Uberbewertung eine Eintragung der neuen Gesellschaft durch das Registergericht gemäß § 9c S. 2 G m b H G abzulehnen ist. Zusätzliche Sicherungsvorschriften enthielten die §§ 56c III 2, 56d und 56e UmwG. Hinzukommen die ungeschriebenen Regeln über den Gläubigerschutz wie eine etwaige persönliche Haftung der Gesellschafter nach der Lehre vom Durchgriff, von der qualifizierten Unterkapitalisierung und vom faktischen GmbH-Konzern. Insgesamt boten somit die Enthaftungsvorschriften der §§ 56, 56f II UmwG zwar eine - höchst bedenkliche - Möglichkeit, dem Gläubiger seinen Schuldner und damit zugleich den Zugriff auf dessen nicht zum Unternehmen gehörendes Vermögen zu entziehen, doch war anders als in den Fällen der §§ 26, 28 III H G B immerhin eine gewisse rechtliche Vorsorge für die Bonität des neuen Schuldners gegeben. Auch in dieser

17

Vgl. auch Ulmer/Timmann

ZIP 1992, 7.

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Hinsicht trifft somit die Annahme der Gesetzesverfasser nicht zu, daß „die Sach- und Interessenlage ähnlich gelagert" ist. Es wäre daher keineswegs ein untragbarer Wertungswiderspruch gegenüber den §§ 56, 56f II UmwG entstanden, wenn der Gesetzgeber die §§ 26, 28 III H G B nicht geschaffen hätte. b) Die Rechtslage hat sich allerdings durch das neue UmwG insoweit grundlegend geändert. § 152 UmwG läßt nämlich nunmehr auch die Aufnahme eines ausgegliederten einzelkaufmännischen Unternehmens durch Personenhandelsgesellschaften und schon bestehende Kapitalgesellschaften zu, und § 157 UmwG erstreckt die Enthaftungsregelung ohne jede Differenzierung auch auf diese Fälle. Das entspricht in der Tat im wesentlichen der Konstellation der §§ 25 f, 28 HGB. Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der §§ 26, 28 III H G B vermag diese Neuerung im Umwandlungsrecht indessen nichts beizutragen. Denn zum einen ändert sie nichts daran, daß der Gesetzgeber seinerzeit bei der Schaffung der §§ 26, 28 III HGB einem Bewertungsirrtum unterlegen ist, und zum anderen gehört § 157 U m w G (zumindest) insoweit, als es um diese neue Enthaftungsmöglichkeit geht, seinerseits ebenfalls auf den Prüfstand der Verfassung. Hier bestehen sogar ganz besonders skandalöse Möglichkeiten, dem Gläubiger zugleich mit seinem Schuldner essentielle Teile von dessen Vermögen zu entziehen. Nach § 152 UmwG können nämlich sogar bloße Teile eines Unternehmens auf eine Gesellschaft übertragen werden, so daß den Altgläubigern bei einer Enthaftung des Altschuldners nicht einmal das gesamte Unternehmensvermögen zur Verfügung steht, und außerdem liegt die Auswahl der in den Ausgliederungs- und Ubernahmevertrag aufzunehmenden Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten, für die nach § 157 U m w G eine Enthaftung eintreten kann, nach § 126 I Nr. 9 U m w G auch für den umwandelnden Einzelkaufmann in dessen freiem Belieben.18 Diese Problematik ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags und kann daher hier nicht vertieft werden (vgl. aber immerhin unten V 3 e a. E. = S. 776). IV. Zwischenergebnis und verfassungsrechtliche Grundlegung 1. Die materielle Ungerechtigkeit und die der §$26, 28 III HGB

Systemwidrigkeit

Zieht man eine Zwischenbilanz, so fällt das Urteil über die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B äußerst negativ aus. Für den Gläu18

Das wird in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich hervorgehoben, vgl. BTDrucks 12/6699 S. 129 vor § 153 UmwG.

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biger stellt diese zweifellos eine schwere Härte dar (vgl. eingehend oben I). Denn er verliert seinen Schuldner allein auf Grund des Vertrags zwischen diesem und dem Erwerber des Unternehmens, also ohne daß er - der Gläubiger - daran beteiligt ist oder diese Rechtsfolge ihm aus sonstigen Gründen irgendwie zugerechnet werden kann, und er verliert außerdem grundsätzlich auch noch etwaige Sicherheiten (vgl. dazu oben III 1 b). Hinzu kommt, daß er i. d. R. aus rechtlichen - nicht etwa lediglich aus tatsächlichen - Gründen niemals die Möglichkeit zur Durchsetzung seiner Forderung hatte, da diese in den einschlägigen Fällen typischerweise erst nach Ablauf der in den §§ 26, 28 III H G B vorgesehenen Fünfjahresfrist fällig wird. Zwar erhält er den Erwerber des Unternehmens als neuen Schuldner, doch ist keinerlei rechtliche Vorkehrung zur Gewährleistung von dessen Bonität gegeben. Damit werden zwei elementare privatrechtliche Prinzipien durchbrochen: daß eine Auswechselung des Schuldners grundsätzlich der Zustimmung des Gläubigers bedarf und daß der Verlust eines Anspruchs durch Verfristung nicht ohne die rechtliche Möglichkeit zu seiner vorherigen Geltendmachung eintritt (vgl. oben II). Entgegen der Ansicht der Gesetzesverfasser läßt sich die Regelung der §§ 26, 28 III H G B nicht unter Hinweis auf die Ähnlichkeit der Interessenlage mit den übrigen Enthaftungsfällen legitimieren, da insoweit in Wahrheit wesentliche Unterschiede bestehen. Die Schutzbedürftigkeit und -Würdigkeit eines persönlich haftenden Gesellschafters, der aus der Gesellschaft ausscheiden will oder muß, ist nämlich ungleich größer als die des Veräußerers eines Unternehmens; denn jener unterliegt der Fremdbestimmung durch die übrigen Gesellschafter, wodurch eine auflösungsbedürftige Kollision mit dem elementaren Rechtsprinzip entsteht, daß niemand sich dauerhaft mit seinem gesamten Vermögen an das Verhalten eines anderen und an die Entwicklung von dessen Vermögen binden kann (vgl. oben III 1 c). Demgegenüber ist der Veräußerer eines Unternehmens dessen alleiniger Herr und kann frei über dessen Veräußerung entscheiden. In den Umwandlungsfällen besteht ein wesentlicher Unterschied gegenüber der Konstellation der §§ 26, 28 III H G B darin, daß - jedenfalls nach der Rechtslage bei Erlaß des NachhBG - der Gläubiger immerhin insofern einen gewissen Bonitätsschutz erhält, als die neue Gesellschaft, also sein neuer Schuldner den Vorschriften über die Kapitalaufbringung und -erhaltung unterliegt (vgl. oben III 1 a). Die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B ist folglich - vorbehaltlich gewisser noch zu prüfender Gegenargumente (vgl. dazu unten V 3 d) - als materiell ungerecht anzusehen, weil sie dem Altgläubiger schwere Nachteile zufügt, ohne daß das durch überwiegende oder wenigstens gleichgewichtige Interessen des Veräußerers legitimiert wird.

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Sie ist außerdem systemwidrig, weil sie zwei elementare Grundprinzipien des Privatrechts durchbricht, ohne daß es dafür wie im Falle von § 160 H G B einen triftigen Sachgrund oder wenigstens wie im Falle von §§ 56, 56f II UmwG a. F. eine gewisse Kompensation durch Gläubigerschutzvorschriften gibt. Materielle Ungerechtigkeit und Systemwidrigkeit aber sind bekanntlich Indizien für Verfassungswidrigkeit.

2. Die Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte i. V. mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Es ist hier nicht der Ort, um die Diskussion über das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht breit aufzurollen. Daher seien nur einige wenige Aspekte hervorgehoben, die für die verfassungsrechtliche Prüfung der §§ 26, 28 III H G B unerläßlich sind. a) Daß der Gesetzgeber (auch) auf dem Gebiet des Privatrechts an die Grundrechte gebunden ist, entspricht der heute im Schrifttum ganz vorherrschenden Ansicht. 19 Auch das Bundesverfassungsgericht steht klar auf diesem Standpunkt; als repräsentativ sei hier lediglich die - im folgenden noch wiederholt heranzuziehende - Entscheidung genannt, wonach § 90a II 2 H G B wegen Verstoßes gegen Art. 12 G G verfassungswidrig ist.20 Diese Bindung folgt, wie schon oft genug betont worden ist, bereits aus Art. 1 III G G , wonach „die nachfolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden"; unter den Begriff der „Gesetzgebung" fällt sowohl nach dem allgemeinen als auch nach dem juristischen Sprachgebrauch auch diejenige auf dem Gebiet des Privatrechts.21 Teleologisch " Vgl. z. B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/l, 1988, § 76 IV 2 a und 3; ]. Hager JZ 1994, 375 m. umf. Nachw.; ebenso schon Canaris AcP 184 (1984) 212 ff in Anlehnung an Schwabe AöR 100 (1975) 442 ff. 20 Vgl. BVerfGE 81, 242 mit ausführlicher zustimmender Anm. von Canaris AP Nr. 65 zu Art. 12 GG. 21 Anders Diederichsen, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 48 f. Zwar ist sein Hinweis, daß der Hauptakzent von Art. 1 III GG auf der Rechtsfolge (unmittelbare Bindung und nicht bloßer Programmsatz) liegt, gewiß zutreffend, doch ändert das nichts daran, daß im Tatbestand nun einmal einschränkungslos von „Gesetzgeber" die Rede ist; warum es eine „Begriffsvertauschung" sein soll, wenn man darunter auch den Privatrechtsgesetzgeber versteht, ist nicht einzusehen, da auch dieser „staatliche Gewalt" ausübt und die Argumentationslast dafür, daß er dennoch nicht „Gesetzgeber" i. S. von Art. 1 III GG ist, folglich bei demjenigen liegt, der das behauptet. Im übrigen ist die Sorge Diederichsens vor einer verfassungsrechtlichen Verformung oder Überfremdung des Privatrechts grundsätzlich unbegründet, weil das Grundgesetz im wesentlichen dieselben Rechte und Werte schützt wie jenes und die Verfassungskonformität privatrechtlicher Normen somit letztlich nicht von den Grundrechten selbst, sondern von der Handhabung des Ubermaß- bzw. Untermaßverbots abhängt, also vor allem von der damit verbundenen

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gesehen legitimiert sich die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers, wie ebenfalls bereits vielfach dargelegt worden ist, vor allem daraus, daß die Normen des Privatrechts die Grundrechte ähnlich stark beeinträchtigen können wie solche öffentlich-rechtlicher Natur; so kann z. B. der Immissionsschutz aus § 1004 B G B das Eigentum des Nachbarn stärker einschränken als eine verwaltungsrechtliche Vorschrift, das Verbot der Verbreitung eines Buches nach §§ 823 1,1004 B G B i. V. mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht wesentlich einschneidender in die Grundrechte aus Art. 5 I und III G G eingreifen als eine Geldstrafe. Zweifelhaft kann heutzutage demgemäß allenfalls noch sein, ob die Grundrechte gegenüber einschränkenden Privatrechtsnormen in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte gelten22 oder lediglich in ihrer Funktion als „objektive Grundsatznormen" 23 . Auch das braucht hier indessen nicht vertieft zu werden. Denn zum einen dürften beide Konzeptionen ohnehin weitgehend auf dasselbe hinauslaufen24, und zum anderen ist jedenfalls bezüglich der in der vorliegenden Abhandlung erörterten Problematik nicht ersichtlich, inwiefern sich die Unterschiedlichkeit dieses dogmatischen Ansatzes auf das Ergebnis auswirken könnte. b) Das gilt vor allem deshalb, weil vom Boden beider Konzeptionen aus das verfassungsrechtliche Übermaßverbot gilt und also insbesondere eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als solchem der Rang von materiellem Verfassungsrecht zukommt oder ob es lediglich ein Mittel zur Auslegung der Verfassung darstellt.25 Auch die letztere Ansicht führt nämlich nicht dazu, daß das Ubermaßverbot für Privatrechtsnormen, die in Grundrechte eingreifen, außer Anwendung zu bleiben hätte und etwa durch eine bloße Willkürprüfung zu ersetzen wäre; denn ohne das Übermaßverbot wäre die Kontrollwirkung der Grundrechte gegenüber dem einfachen Recht ohne Effizienz. So hat denn auch das Bundesverfassungsgericht in der schon erwähnten Entscheidung zu § 90a II 2 H G B die Vorschrift mit Selbstverständlichkeit an den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit gemessen.26 Verhältnismäßigkeitsprüfung; für diese aber sind i. d. R. nicht primär verfassungsrechtliche, sondern genuin privatrechtliche Wertungen ausschlaggebend. 22 So z. B. Canaris AcP 184 (1984) 212 f; Stern aaO § 76 IV 3 a; J. Hager JZ 1994, 375; H. Dreier Jura 1994, 509; Looschelden/Roth JZ 1995, 1037 f. " Das erwägt Medicus AcP 192 (1992) 45 f im Anschluß an eine - freilich nicht unmittelbar auf die vorliegende Problematik bezogene - Bemerkung Böckenfördes, läßt die Frage aber letztlich offen. 24 Das räumt auch Zöllner RDV 1985, 8 f ein. 25 In diesem Sinne Medicus AcP 192 (1992) 53 f. 26 Vgl. BVerfGE 81, 242, 263.

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c) Hervorgehoben sei schließlich noch, daß die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers jedenfalls insoweit, als es um die Anwendbarkeit des verfassungsrechtlichen Ubermaßverbots geht, auch für dispositive Normen gilt.27 Das ist deshalb von Bedeutung, weil die §§ 26, 28 III H G B grundsätzlich durch Vereinbarung zwischen dem Gläubiger und dem Unternehmensinhaber (d. h. dem nachmaligen Veräußerer) abbedungen werden können. Wieder ist dabei auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 90a II 2 H G B hinzuweisen, da auch diese Vorschrift zugunsten des Handelsvertreters abdingbar ist. V. Die Unvereinbarkeit der §§ 26,28 III HGB mit Art. 14 GG 1. Die Einschlägigkeit

von Art. 14 GG

a) In den Schutzbereich der Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 GG fallen anerkanntermaßen auch privatrechtliche Forderungen.28 Verfassungsrechtlich gesehen stellen die §§ 26, 28 III H G B demgemäß eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i. S. von Art. 14 I 2 G G dar. Auch in deren Rahmen ist der Gesetzgeber an das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, also an die Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (i. e. S.) gebunden.29 Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß die §§ 26, 28 III H G B nicht in bei Erlaß des NachhBG bereits bestehende Forderungen eingreifen - für diese hat der Gesetzgeber besondere Ubergangsvorschriften geschaffen - , sondern nur für seither entstandene und zukünftig entstehende Forderungen gelten. Denn auch bei der generellen und abstrakten, d. h. institutionellen Ausgestaltung des Eigentums - hier in der besonderen Erscheinungsform der privatrechtlichen Forderung - hat der Gesetzgeber folgerichtig die Schranken des Übermaßverbots einzuhalten, da dessen Inhalt anderenfalls nahezu völlig seinem Belieben überlassen wäre. b) Lehrreich ist in diesem Zusammenhang wiederum der Vergleich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 90a II 2 HGB. Nach dieser Vorschrift verliert ein Handelsvertreter den ihm im Falle eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots zustehenden Karenzentschädigungsanspruch aus § 90a I 3 HGB, wenn der Unternehmer den 27 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 214 f; Medicus AcP 192 (1992) 47; Looscheiders/Roth J Z 1995, 1039; a. A. Pieroth/Scblink Grundrechte Staatsrecht II, 11. Aufl. 1995, Rdn. 191. 28 Vgl. z . B . BVerfGE 45, 142, 179; 83, 201, 208; B G H Z 92, 94, 104; Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 1994, § 10 Rdn. 36. 29 Vgl. z. B. BVerfGE 50, 290, 341 und 351; 52, 1, 29; 58, 137, 148; 70, 191, 200; 79, 174, 198; Maunz/Dürig/Papier, Grundgesetz, 1994, Art. 14 Rdn. 307; Leisner, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1989, § 149 Rdn. 146.

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Vertrag aus wichtigem Grund wegen eines schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters kündigt. Das Bundesverfassungsgericht hat § 90a II 2 H G B wegen Verstoßes gegen Art. 12 G G für verfassungswidrig erklärt, weil eine so weitreichende Rechtsfolge wie der Verlust des Entschädigungsanspruchs zum Schutz der berechtigten Interessen des kündigenden Unternehmers nicht erforderlich und „dem Handelsvertreter wegen ihrer einschneidenden Folgen vielfach unzumutbar" sei, so daß sie „unverhältnismäßig wirkt". 30 Es ging also nicht darum, daß ein bestimmter, bei Erlaß des Gesetzes schon bestehender Anspruch zunichte gemacht wurde, sondern vielmehr darum, daß der Gesetzgeber diesen institutionell falsch, weil unter Verletzung des Übermaßverbots ausgestaltet hatte. Dabei ist im übrigen bemerkenswert, daß der Entschädigungsanspruch aus § 90a I 3 HGB ipso iure entsteht, also vom Gesetz selbst gewährt wird. Sogar dabei ist der Gesetzgeber somit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Einzelausgestaltung an das Ubermaßverbot gebunden. Dieses muß folgerichtig erst recht anwendbar sein, wenn der Gesetzgeber wie im Falle der §§ 26, 28 III HGB das Erlöschen primärer Vertragiansprüche wie z. B. solcher auf Rückzahlung eines langfristigen Darlehens, auf Miet- und Pachtzinsen oder auf Erfüllung eines Ruhegehaltsversprechens anordnet. 2. Die verfassungsrechtliche Bewertung bei Zugrundelegung der Motive für die Schaffung der §§ 26, 28 III HGB a) Mißt man die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III HGB an den aus den Materialien ersichtlichen Vorstellungen der Gesetzesverfasser, so verstößt sie schon deshalb gegen das Übermaßverbot, weil sie der Prüfung am Maßstab der Prinzipien der Eignung und Erforderlichkeit nicht standhält. Die Annahme, daß sich die Ausdehnung des Enthaftungskonzepts auf die Fälle der §§ 25, 28 H G B aus der Ähnlichkeit der Sach- und Interessenlage mit den übrigen Tatbeständen des NachhBG rechtfertigt, hat sich nämlich als Irrtum erwiesen, wie oben III ausführlich herausgearbeitet worden ist. So besteht ein erster tiefgreifender Unterschied gegenüber den Fällen des § 160 H G B schon darin, daß dort die für die Forderung bestehenden Sicherheiten i. d. R. unberührt bleiben, weil (und sofern) sie für die Schuld der Gesellschaft als solcher bestellt sind und also durch die Enthaftung eines früheren Mitglieds nicht betroffen werden, wohingegen die Enthaftung des Unternehmensveräußerers nach §§ 26, 28 III H G B voll auf die Sicherheiten durchschlägt, weil diese nur für dessen Schuld, nicht aber auch für diejenige des Unternehmenserwerbers haften (vgl. 30

Vgl. BVerfGE 81, 242, 263.

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oben III 1 b). Entscheidend kommt hinzu, daß die Enthaftung im Fall von § 160 H G B auf einer ungleich stärkeren Legitimationsgrundlage beruht als hier. Denn der persönlich haftende Gesellschafter, der aus der Gesellschaft ausscheiden will oder muß, darf nach dem elementaren Grundsatz, daß niemand sich auf Dauer mit seinem gesamten Vermögen an das Verhalten eines anderen und an die Entwicklung von dessen Vermögen binden kann und demgemäß insbesondere in seiner Kündigungsfreiheit nicht übermäßig behindert werden darf, nicht auf lange, ja u. U. unabsehbare Zeit an seiner akzessorischen Einstandspflicht nach § 128 H G B festgehalten werden, während der Inhaber eines Unternehmens alleiniger und freier H e r r seiner Entscheidungen über dieses ist (vgl. eingehend oben III 1 c). Im Vergleich zu den Fällen der Enthaftung nach dem U m w G besteht der wesentliche Unterschied darin, daß eine solche nach der - verfassungsrechtlich insoweit maßgeblichen - damaligen Rechtslage nur bei Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft in Betracht kam, bei der durch die Vorschriften und Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung immerhin eine gewisse Vorsorge für die Bonität des neuen Schuldners gegeben ist (vgl. näher oben III 2 a). b) Der Gesetzgeber hat demgemäß Unterschiede, die f ü r die Bewertung essentiell sind, verkannt. Zur Erreichung seines Zieles, für eine „ähnlich gelagerte Sach- und Interessenlage" eine gleichartige Regelung zu schaffen, war somit die Einführung der §§ 26, 28 III H G B nicht erforderlich, ja nicht einmal geeignet, da es die von den Gesetzesverfassern vorausgesetzte Ähnlichkeit in Wahrheit gar nicht gibt und also das angestrebte Regelungsziel von vornherein verfehlt war. Folglich liegt ein Verstoß gegen das Ubermaß verbot wegen unzutreffender Abwägung vor. Das gilt jedenfalls dann, wenn man das Gebot gerechter Abwägung als Anforderung nicht nur an den Inhalt der getroffenen Abwägungsentscheidung, sondern auch an den Vorgang des Abwägens ansieht. 31 Denn dieser war, wie dargelegt, jedenfalls fehlerhaft, weil Bewertungsgesichtspunkte von zentraler Bedeutung und hohem Gewicht gar nicht gesehen worden sind. Diese waren dem Gesetzgeber auch nicht etwa aus dem Schrifttum bekannt, so daß sie vielleicht lediglich unausgesprochen geblieben wären. Vielmehr ist z. B. die Auswirkung der Enthaftung auf die Sicherheiten, soweit ersichtlich, erstmals in dieser Abhandlung herausgestellt worden. Auch der hier genannte Legitimationsgrund für die Enthaftung von Gesellschaftern und der sich daraus ergebende fundamentale Unterschied gegenüber der Interessenlage in den Fällen der §§ 25, 28 H G B hat in der seinerzeitigen Diskussion keine Rolle ge-

31 So Papier aaO Art. 14 Rdn. 306 m. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG; sehr skeptisch demgegenüber insoweit Leisner aaO § 149 Rdn. 145 a. E.

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spielt.32 Statt dessen hat man sich ganz auf die - unbezweifelbare - Ähnlichkeit der Verjährungsvorschrift des § 26 a. F. H G B mit der des § 159 a. F. H G B konzentriert und bei dieser vordergründigen Betrachtungsweise die tiefgreifenden Unterschiede der Interessenlage aus dem Auge verloren; abgesehen davon war die Anknüpfung der Enthaftungslösung an die fünfjährige Verjährungsfrist des § 159 H G B ohnehin von Anfang an nur ein Notbehelf, weil Verjährungsfristen niemals vor Fälligkeit der betreffenden Forderung zu laufen beginnen, während die besondere Härte der Enthaftungslösung gerade darin besteht, daß der Gläubiger meist mangels Fälligkeit (!) überhaupt keine rechtliche Möglichkeit zur Durchsetzung seiner Forderung hatte (vgl. oben II 1). 3. Der Verstoß gegen das Ubermaßverbot auch bei einer von dem Irrtum der Gesetzesverfasser unabhängigen Bewertung a) Welches Gewicht einem Irrtum der Gesetzesverfasser über das Bedürfnis nach einer bestimmten Regelung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ubermaßprüfung zukommt, stellt eine schwierige Frage dar, die wohl noch nicht abschließend geklärt ist. Daher sei eine solche Prüfung im folgenden ohne Rücksicht auf diesen Irrtum vorgenommen. Auszugehen ist dabei von dem Postulat, daß der Gesetzgeber bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 1412 G G „die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis bringen muß" 33 und daß die betreffende Norm „vom geregelten Sachbereich her geboten sein muß". 34 Wichtig ist für die vorliegende Problematik ferner, daß der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Rahmen von Art. 1 4 1 2 G G zwar relativ weit ist, wenn es um einen sozialen Bezug oder eine soziale Funktion des Eigentums geht, sich aber verengt, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen.35 Da die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B jeglicher sozialer Dimension entbehrt, ist hier von einem ziemlich engen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auszugehen. b) Als ein objektiv-teleologisches Ziel, dessen Verwirklichung die §§ 26, 28 III H G B auch unabhängig von entsprechenden expliziten Äußerungen der Gesetzesverfasser dienen sollen, kann man wohl nur die Erleichterung und verkehrsgerechte Ausgestaltung der Veräußerung und Verpachtung von Unternehmen ansehen (nachdem sich das Ziel einer Ver32 Dieser Gedankengang findet sich erstmals klar formuliert bei Canaris, Festschrift für Frotz, 1993, S. 36 f und hat den Meinungsstand vor Erlaß des NachhBG nicht mehr beeinflussen können. 33 Vgl. z. B. BVerfGE 52, 1, 29; 79, 174, 198; 87, 114, 138. 34 Vgl. z. B. BVerfGE 25, 112, 117f; 50, 290, 341. 35 Vgl. z. B. BVerfGE 42, 263, 294; 50, 290, 341.

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meidung von Wertungswidersprüchen gegenüber den übrigen Enthaftungsfällen aufgrund der Ausführungen oben III und soeben 2 a als nicht tragfähig erwiesen hat). Von einem „gerechten Ausgleich der schutzwürdigen Interessen der Beteiligten" kann dabei indessen keine Rede sein. Die Interessen des von der Enthaftungsregelung betroffenen Gläubigers werden nämlich überhaupt nicht geschützt. Vielmehr wird ihm ohne seine Mitwirkung unter Durchbrechung fundamentaler Grundsätze des Privatrechts sein Schuldner genommen, obwohl er seine Forderung mangels Fälligkeit aus rechtlichen - nicht lediglich aus rein tatsächlichen - Gründen niemals gegen diesen durchsetzen konnte (vgl. oben II). Irgendeine Vorkehrung dafür, daß sein neuer Schuldner - der Erwerber des Unternehmens - die erforderliche Bonität für die Bezahlung der Forderung aufweist, ist nicht getroffen, was man nachgerade als empörend bezeichnen muß. Daß dessen Bonität auch besser sein kann als die des Altschuldners, trifft zwar zu, hängt aber vom Zufall ab und stellt kein Äquivalent für den Verlust des letzteren dar, zumal dieser überdies typischerweise zugleich der Vertragspartner des Gläubigers ist und also unter Bonitätsgesichtspunkten erhöhtes Vertrauen genießen kann (vgl. auch oben II 2). Die in den §§ 26, 28 III H G B vorgesehene Fünfjahresfrist stellt für den Gläubiger kein effizientes Schutzinstrument dar, da die Enthaftungsregelung ihre Hauptwirkung ja gerade in denjenigen Fällen entfaltet, in denen die Frist schon vor Fälligkeit der Forderung abgelaufen ist und dem Gläubiger also gar nichts nützt (vgl. oben II 1 b). c) Mustert man die wichtigsten Fallgruppen durch, so kommt man ebenfalls zu dem Ergebnis, daß es sich um eine völlig unausgewogene Regelung handelt. Warum soll denn der Schuldner eines langfristigen Darlehens nur deshalb von der Pflicht zu dessen Rückzahlung frei werden, weil er inzwischen sein Unternehmen verkauft hat?! Daß er die Erträge für die Rückzahlung aus diesem erwirtschaften will, mag zwar i. d. R. zutreffen, gilt aber z. B. auch für den Eigentümer eines auf Kredit erworbenen Mietshauses, ohne daß dieser sich bei dessen Veräußerung von seiner (persönlichen) Kreditschuld befreien könnte, indem er mit dem Käufer eine Schuldübernahme zugunsten des Gläubigers gemäß § 328 BGB vereinbart (vgl. oben I 1 a). Außerdem kann und mag der Veräußerer oder Verpächter des Unternehmens sich selbst schützen, indem er den Erlös aus dem Geschäft für die Rückzahlung des Darlehens verwendet bzw. zurücklegt; reicht dieser dafür nicht aus, ist das nun wirklich allein sein Problem. Demgegenüber hat ein ausgeschiedener oHG-Gesellschafter zu einem derartigen Verhalten keinen ähnlich triftigen Anlaß, weil er nicht selbst Darlehensnehmer ist, sondern ledig-

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lieh akzessorisch nach § 128 H G B für die Darlehensschuld der Gesellschaft haftet - ganz abgesehen davon, daß bezüglich eines Darlehens auch seine Enthaftung nicht unbedenklich ist. Privatautonomer Selbstschutz ist auch der angemessene Ausweg in den Fällen des Ruhegehaltsversprechens. Der Arbeitgeber kann dieses nämlich grundsätzlich unter die Einschränkung stellen, daß er nach Ablauf einer bestimmten Zeit frei wird, sofern er das Unternehmen einem anderen Inhaber überläßt und dieser für die Erfüllung des Ruhegehaltsversprechens einzustehen hat. Für den Fall, daß die Rechtsprechung eine solche Bedingung als unwirksam ansieht, wäre es das im Vergleich zu den §§ 26, 28 III H G B mildere und folglich verfassungsrechtlich gebotene Mittel, die Zulässigkeit einer solchen Klausel von Gesetzes wegen klarzustellen - wobei zugleich ihre Voraussetzungen und Grenzen präzisiert werden könnten. Im übrigen ist in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung, daß Ruhegehaltsversprechen meist nicht von Einzelkaufleuten, sondern von Gesellschaften erteilt werden. Warum diese ein schutzwürdiges Interesse daran haben sollen, bei Veräußerung ihres Unternehmens von ihren Ruhegehaltsversprechen nach fünf Jahren frei zu werden, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist gerade im Hinblick auf diese die oben I 2 eingehend dargelegte Gefahr besonders groß, daß die §§ 26, 28 III H G B als Instrument für Enthaftungsstrategien eingesetzt werden. Diese Vorschriften können hier somit geradezu zu unsozialen Folgen führen und dadurch in Gegensatz zur Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 II G G geraten. Auch bei Miet- und Pachtverträgen kann der Unternehmensveräußerer sich grundsätzlich durch privatautonomes Handeln selbst schützen, indem er diese kündigt - eine Möglichkeit, die wiederum ein ausgeschiedener Gesellschafter (mangels Parteistellung) nicht hat. Freilich mag es sein, daß dadurch wirtschaftliche Werte zerstört werden. Einen veräußerungswilligen Unternehmer davor zu bewahren, bedeutet aber nichts anderes als ihm zu erlauben, einen rechtlich durch nichts gerechtfertigten Gewinn zu Lasten des Vermieters oder Verpächters zu erzielen, indem er insoweit das Bonitätsrisiko bezüglich des Unternehmenserwerbers auf jenen - also einen völlig Unbeteiligten! - abwälzt. Besonders kraß tritt diese Asymmetrie der Interessenbewertung in dem Argument zutage, der Weg über eine Kündigung sei „jedenfalls dann sehr unpraktisch, wenn gerade ein günstiger Bezugsvertrag den wesentlichen Wert des Unternehmens ausmacht", und die Alternative zwischen Weiterhaftung des Vertragsschuldners und Verzicht auf die Unternehmensveräußerung sei „wirtschaftlich gewiß nicht sinnvoll". 36 Das heißt im

36

So Karollus ÖJZ 1995,243 Fn. 10.

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Klartext, daß der Gläubiger den Bezugsvertrag zu Geld machen darf, ohne seinerseits die mit diesem übernommenen Risiken voll tragen zu müssen. Möge er doch auch hier ebenso wie im Darlehensfall eine Rücklage aus dem Veräußerungserlös bilden und so für die Bezahlung seiner Schulden Vorsorge zu treffen! Sieht man es als schutzwürdiges Interesse an, daß die Rechte aus Miet-, Pacht- und Bezugsverträgen auf den Erwerber übergehen (und legt man nicht ohnehin § 25 I 2 H G B in diesem Sinne aus37), so ist es das weitaus mildere Mittel, lediglich diese Rechtsfolge, nicht aber darüber hinaus auch noch eine Enthaftung des Vertragsschuldners anzuordnen. d) Hat somit der veräußerungswillige Unternehmensinhaber weitreichende Möglichkeiten zu privatautonomem Selbstschutz gegenüber der Gefahr einer langfristigen Fortdauer seiner Haftung für die Altschulden, so sind diese andererseits für den von der Enthaftungsregelung bedrohten Gläubiger überaus gering. Zwar stellen die §§ 26, 28 III H G B dispositives Recht dar, doch ist höchst zweifelhaft, ob ihre generelle Abbedingung von der Rechtsprechung akzeptiert oder nicht vielmehr nach § 9 II Nr. 1 A G B G verworfen werden würde. Außerdem trägt eine Regelung, bei der man die Betroffenen generell auf die Möglichkeit der Abbedingung verweisen müßte, geradezu den Stempel der Widersinnigkeit und Ungerechtigkeit auf der Stirn! Im übrigen entfällt dieser Ausweg in manchen Fällen wie z. B. beim Ruhegehaltsversprechen schon aus tatsächlichen Gründen und wird allenfalls von juristisch professionell beratenen Gläubigern wie etwa den Banken genutzt werden; auch deshalb vermag er die harten Rechtsfolgen der §§ 26, 28 III H G B unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu legitimieren. Aus denselben Gründen kann auch die Möglichkeit, sich von dem Schuldner eine Bürgschaft für den Fall der Unternehmensveräußerung geben zu lassen38, nicht als adäquater Ausweg angesehen werden. Außerdem ist dessen Gangbarkeit wiederum schon aus Rechtsgründen höchst zweifelhaft. Der B G H hat nämlich im Hinblick auf das bürgschaftrechtliche Bestimmtheitserfordernis die Bürgschaft eines Vollkaufmanns (!) für unwirksam erklärt, weil bei deren Abschluß die Person des künftigen Bürgschaftsgläubigers noch nicht feststand.39 Wenn wie bei der vor37 Die Frage ist sehr umstritten, vgl. dazu Canaris, Handelsrecht, 22. Aufl. 1995, § 7 II 3 b m. Nachw. 38 Vgl. den Vorschlag von Ulmer/Timmann Z I P 1992, 7 f , daß die Gläubiger „sich künftig von ihrem Schuldner im Hinblick auf die Risiken aus einer etwaigen Firmenveräußerung zusätzliche Sicherheiten einräumen lassen" könnten; dafür dürfte praktisch nur eine Bürgschaft des Schuldners selbst in Betracht kommen, da sonst in wirtschaftlich unvertretbarer Weise anderweitig einsetzbares Sicherungspotential gebunden wäre. 39 Vgl. B G H W M 1978, 1065, 1066; kritisch dazu Larenz/Canaris, 13. Aufl. 1994, § 6 0 II 2 b.

Schuldrecht II/2,

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liegenden Problematik die Person des Hauptschuldners - hier des Unternehmenserwerbers - noch unbekannt ist, müßte man folgerichtig grundsätzlich ebenso entscheiden, zumal diese für den Bürgen viel wichtiger ist als die des Gläubigers. O b der B G H hier ausnahmsweise anders entscheiden wird - etwa im Hinblick darauf, daß der Bürge den zukünftigen Hauptschuldner selbst auswählt, weil dieser ja mit dem Unternehmenserwerber identisch ist - , weiß niemand. Was schließlich die Möglichkeit zu einer Kündigung des Gläubigers gegenüber dem Altschuldner betrifft, so liegt auch darin keine zureichende Lösung. Im Fall des Ruhegeldversprechens wäre eine Kündigung ohnehin sinnlos. Bei langfristigen Miet-, Pacht- und Bezugsverträgen ist sie für den Gläubiger u. U. deshalb unzumutbar, weil sie ihn um den - rechtlich schon gesicherten! - Gewinn aus dem Geschäft bringen würde (vgl. oben I 1 b). Beim Darlehen nützt eine Kündigung nichts mehr, wenn die Bonitätsschwäche des Neuschuldners erst nach Ablauf der Fünfjahresfrist eintritt oder dem Gläubiger bekannt wird. Vorher könnte dieser zwar u. U. aus wichtigem Grund wegen Gefährdung seines RückZahlungsanspruchs kündigen, doch müßte er dafür grundsätzlich die Bonitätsschwäche des Neuschuldners dartun und erforderlichenfalls beweisen; ihm diese Last und die damit verbundenen Risiken aufzuerlegen, läßt sich nicht legitimieren, weil er mit der Veräußerung des Unternehmens nichts zu tun hat. e) Das Gesamtergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist somit negativ. Denn die Interessen des Altgläubigers werden bezüglich der im Zentrum der Problematik stehenden nicht-fälligen Forderungen vollständig hinter den Interessen des früheren Unternehmensinhabers zurückgestellt, ohne daß irgendeine Vorsorge hinsichtlich der Bonität des Neuschuldners getroffen ist (vgl. oben b). Außerdem hat der Unternehmensinhaber nahezu ausnahmslos zumutbare Möglichkeiten zu privatautonomem Selbstschutz (vgl. oben c), während solche dem Altgläubiger zumindest aus faktischen, möglicherweise sogar aus rechtlichen Gründen fast gänzlich fehlen (vgl. soeben d). Ergänzend sei im übrigen auf die Möglichkeit hingewiesen, die Enthaftungsproblematik durch die Umwandlung eines einzelkaufmännischen Unternehmens in eine neu zu gründende Kapitalgesellschaft zu bewältigen. Diese bietet einerseits dem Unternehmer die Möglichkeit, sich von seinem Unternehmen zu lösen und nach § 157 UmwG zugleich von seinen langfristigen unternehmensbezogenen Schulden zu befreien, und gewährleistet andererseits im Hinblick auf die Vorschriften und Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung wenigstens ein Minimum an Bonitätsschutz für die Altgläubiger (vgl. oben III 2 a). Darin könnte folglich ein Weg liegen, gemäß den Anforderungen des Bundesverfas-

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sungsgerichts „die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen" (vgl. oben 3 a), und ein milderes Mittel bestehen, mit dessen Hilfe sich praktische Konkordanz erreichen läßt. Die inzwischen durch § 157 i. V. mit § 152 UmwG eröffnete Möglichkeit, das gleiche Ergebnis auch im Wege der Aufnahme des Unternehmens durch eine - schon bestehende - Personenhandels- oder Kapitalgesellschaft zu erreichen, muß dagegen vom hier vertretenen Standpunkt aus mangels jeglichen Bonitätsschutzes für die Altgläubiger wohl ebenfalls dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit verfallen, so daß § 157 UmwG insoweit unanwendbar ist. VI. Weitere Verfassungsverstöße Außer der Verletzung von Art. 14 G G kommen noch weitere Verfassungsverstöße in Betracht, die allerdings aus Raumgründen nur kurz skizziert werden können, zumal es mehr um eine andere verfassungsdogmatische Zuordnung als um zusätzliche Sachgründe geht. Eingriffs 1. Der Verstoß gegen Art. 2 I GG wegen eines übermäßigen in die Vertragsfreiheit und wegen Verletzung des Verbots von Verträgen zu Lasten Dritter a) Die §§ 26, 28 III H G B nehmen dem Gläubiger seinen Vertragspartner als Schuldner. Die Wahl der Person des Vertragspartners gehört zu den Essentialia der Vertragsfreiheit. Diese wird anerkanntermaßen durch Art. 2 I G G gewährleistet40 und demgemäß gegen Eingriffe des Gesetzgebers durch das verfassungsrechtliche Ubermaßverbot geschützt.41 Da die §§ 26, 28 III H G B einer Prüfung an dessen Maßstäben aus den oben V 2 und 3 genannten Gründen nicht standhalten, läßt sich deren Verfasungswidrigkeit auch mit Hilfe von Art. 2 I G G begründen - wobei hier auf das Verhältnis zwischen dieser Vorschrift und Art. 14 GG nicht eingegangen werden soll, weil es für das Ergebnis unerheblich ist. b) Die Enthaftung nach §§ 26, 28 III H G B hat dieselbe Folge wie eine Vereinbarung zwischen dem Veräußerer des Unternehmens und dessen Erwerber mit dem Inhalt, daß letzterer dem Gläubiger für die betreffende Schuld nach § 328 B G B haften und ersterer von dieser nach Ablauf von fünf Jahren frei werden solle. Darin läge eine privative Schuldübernahme zu Lasten des Gläubigers ohne dessen Mitwirkung. Ein sol40 Vgl. z. B. BVerfGE 70, 115, 123; 72, 155, 170; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 1 ff m. umf. Nachw. 41 Vgl. dazu z. B. BVerfGE 60, 329, 339; 65, 196, 215 f; 70, 1, 25 ff; Canaris J Z 1987, 995.

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eher Vertrag zu Lasten Dritter ist grundsätzlich verfassungswidrig.42 Bei der vorliegenden Problematik beruht die den Dritten belastende Rechtsfolge nun zwar nicht unmittelbar auf dem Willen der Parteien des Vertrages (über das Unternehmen), sondern auf Normen des objektiven Rechts, doch darf dem Gesetzgeber folgerichtig grundsätzlich nicht gestattet sein, ohne legitimierenden Grund selbst anzuordnen, was er den Vertragsparteien von Verfassungs wegen nicht erlauben könnte. Da ein solcher Grund hier fehlt, wie sich aus den Ausführungen oben V 2 und 3 ergibt, kann man die Verfassungswidrigkeit der §§ 26, 28 III H G B durch den Hinweis auf das Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter untermauern. 2. Verstöße gegen Art. 3 I GG Die §§ 26, 28 III HGB sind auch unter dem Aspekt von Art. 3 I GG zu beanstanden. Das gilt zumindest vom Boden der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, nach der auch im Rahmen von Art. 3 I G G Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit eine wesentliche Rolle spielen43, darüber hinaus aber wohl auch bei Zugrundelegung der älteren am Willkürverbot orientierten Rechtsprechung, nach der es darauf ankommt, ob sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die betreffende Regelung finden läßt.44 a) Art. 3 I G G verbietet nicht nur, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln, sondern auch wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln.45 Gegen dieses Verbot ist verstoßen, da der Gesetzgeber die Unternehmensveräußerung dem Ausscheiden eines Gesellschafters und der Umwandlung eines einzelkaufmännischen Unternehmens in eine Kapitalgesellschaft unter Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, ja geradezu ohne sachlich einleuchtenden Grund gleichgestellt hat (vgl. oben III und V 2 und 3). b) Zusätzlich ist ein Verstoß gegen den positiven Gleichheitssatz gegeben. Dieser liegt in der Beschränkung der Enthaftungsmöglichkeit auf Vollkaufleute, wie sie sich aus der Anknüpfung an die §§ 25, 28 I H G B ergibt. Auch minder- und nichtkaufmännischen Unternehmern müßte nämlich folgerichtig die Möglichkeit einer Enthaftung eröffnet werden, wenn der Erwerber eine langfristige Schuld des Veräußerers mit Wir42

Vgl. z. B. BVerfGE 73, 261, 270; Maunz/Dürig, Grandgesetz, 1994, Art. 2 I Rdn. 55. Grundlegend BVerfGE 55, 72, 88. 44 Grundlegend BVerfGE 1, 14, 52. 45 Vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rdn. 438. 43

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kung zugunsten des Gläubigers gemäß § 328 B G B übernimmt und das diesem mitteilt. Denn dann liegt es nicht anders als im Fall der Haftungsübernahme durch Kundmachung gemäß § 25 III H G B , der ausdrücklich in die Enthaftungsregelung des § 26 H G B einbezogen ist. Ergänzend läßt sich anführen, daß die gesellschaftsrechtliche Enthaftungsregelung des § 160 H G B gemäß § 736 II B G B auch Minder- und Nichtkaufleuten zugute kommt. Darüber hinaus dürfte nicht einmal die Beschränkung auf Unternehmer sachlich einleuchtend sein; das zeigt sich u. a. am Beispiel der Veräußerung eines Mietshauses unter Übernahme der für seinen Erwerb gemachten Schulden durch den Käufer mit Wirkung zugunsten des Gläubigers gemäß § 328 B G B , da auch hier das Objekt, aus dem i. d. R. die Mittel für die Rückzahlung des Kredits erwirtschaftet werden sollen, in andere Hände übergeht. Freilich mag es vertretbar sein, Fälle wie den letztgenannten verfassungsrechtlich als peripher zu vernachlässigen und im übrigen den Verstoß gegen Art. 3 I G G zu beheben, indem man die §§ 26, 28 III H G B im Wege einer - allerdings sehr kühnen - verfassungskonformen Analogie auf alle Unternehmer erstreckt. Dann kann die Enthaftungsregelung der §§ 26, 28 III H G B nicht schon deshalb als verfassungswidrig verworfen werden, weil sie auf Vollkaufleute beschränkt ist.

Deutscher Konzernabschluß: International Accounting Standards und das Grundgesetz PETER HOMMELHOFF

I. E i n f ü h r u n g Die Daimler-Benz A G hat im Jahre 1993 die Zulassung an der New Yorker Börse erhalten. Nunmehr tragen sich zunehmend weitere deutsche Unternehmen mit dem Gedanken, den internationalen Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen. In den Vereinigten Staaten, Japan oder Singapur wird von ihnen jedoch die Vorlage von Jahresbeschlüssen verlangt, die nicht nach dem deutschen H G B , sondern nach dortigem Bilanzrecht erstellt worden sind. Derzeit bemüht man sich um die weltweite Anerkennung von sog. „International Accounting Standards" (IAS). Nicht wenige Unternehmen erachten es überdies für notwendig, ihren ausländischen Investoren, die ihre Aktien an einer deutschen Börse erworben haben, einen Jahresabschluß nach international anerkannten Standards zu bieten, um sie über die Unternehmenslage zuverlässig zu informieren 1 . Das H G B verpflichtet Unternehmen zu einem Jahresabschluß nach den in ihm enthaltenen Vorschriften. So bleibt den Unternehmen, die auf den internationalen Kapitalmarkt streben, nichts anderes übrig, als sowohl nach H G B als auch nach IAS abzuschließen. Beide Regelungen unterscheiden sich z. T. erheblichem Maße mit der Folge, daß die Aufstellung eines doppelten Jahresabschlusses hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verursacht. Aus diesem Grund beabsichtigt der deutsche Gesetzgeber offenbar, den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegenzukommen: Deutsche Konzernleitungen sollen den Abschluß, den sie im Ausland für die Zulassung zum dortigen Kapitalmarkt aufzustellen und zu veröffentlichen haben, auch in Deutschland mit befreiender Wirkung offenlegen können. Sie müßten mithin nicht noch einen zusätzlichen Konzernabschluß nach deutschem Recht (§ 290 H G B ) aufstellen - vorausgesetzt natürlich, der Abschluß erfüllt die internationalen Standards. Rechtstechnisch müßten hierzu § 292 H G B und die Konzernabschlußbefreiungsverordnung geändert werden 2 . 1 2

Vgl. Goebel/Fuchs, B B 1995, 2363. Vgl. Leutbeusser-Schnarrenberger, W M 1995, 1870, 1871.

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Peter H o m m e l h o f f

Die IAS werden vom International Accounting Standards Committee (IASC) aufgestellt, einer privaten Institution, die im Jahre 1973 von Berufsvertretungen der Accountants (Wirtschaftsprüfer) aus neun Ländern gegründet wurde und gegenwärtig einen Mitgliederbestand von 116 Berufsvertretungen aus 84 Ländern hat3. Würde § 292 H G B in der geplanten Weise geändert, so würde die Beurteilung der Frage, ob das betreffende Unternehmen seine Bilanzen nach deutschem Recht ordnungsgemäß aufgestellt hat, von der Subsumtion unter ein Regelwerk abhängig gemacht, das der deutsche Gesetzgeber nicht selbst aufgestellt hat. Jede zeitlich nachfolgende Änderung der IAS wäre, ohne daß der deutsche Gesetzgeber dies noch einmal besonders in seinen Willen aufnehmen müßte, ipso iure Bestandteil des geltenden Bilanzrechts. Der Bundestag würde, so scheint es, fortan nicht mehr allein bestimmen, wie ein ordnungsgemäßer Konzernabschluß nach deutschem Recht auszusehen hätte. Mithin mündet mein Beitrag in diese Frage ein4: Setzt das deutsche Staatsorganisationsrecht der Rezeption ausländischer Bilanzierungsstandards Grenzen und falls ja, welche? - Walter Odersky ist wegen seiner immensen Erfahrung in Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzesvorbereitung immer wieder um Rat gebeten worden. Das ermuntert mich, ihm eine rechtsdogmatische Skizze zur Rechtspolitik mit Dank für anregende Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts zu widmen. II. Die gesetzliche Rezeption außenstehender Sollenssätze im Wege der Verweisung Das soeben beschriebene Phänomen fällt in die allgemeinere Kategorie der sog. Verweisungstechnik; Das staatliche Gesetz formuliert den Inhalt des für den Bürger geltenden Rechts ganz oder zum Teil nicht selbst, sondern nimmt ergänzend Bezug auf außenstehende Regelungen. 1. Das Wahlrecht zwischen zwei Regelungsmodellen als Fall der Verweisung Eine solche Verweisung läge auch in der geplanten Änderung des § 292 HGB: Die Anforderungen an die Konzernbilanzierung würden sich danach alternativ nach H G B oder nach den in keinem deutschen Gesetz auftauchenden IAS richten. Zwar würde den Unternehmen auf 3 Vgl. Institut der Wirtschaftsprüfer (Hrsg.), Rechnungslegung nach International Accounting Standards, 1995, S. 7. 4 Meinem Assistenten, Herrn Assessor Martin Schwab danke ich für fruchtbare Gespräche und seine engagierte Hilfe bei der Niederschrift dieses Beitrags.

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diese Weise nicht befohlen, nach außerstaatlichem Recht zu bilanzieren, es würde ihnen aber die Möglichkeit hierzu eröffnet. Falls das deutsche Gesetz die außenstehende Anordnung (nämlich die IAS) als den eigenen Bilanzierungsvorschriften gleichwertig erklärt, würde es diese Anordnung qualitativ in den eigenen gesetzlichen Geltungsrang erheben: Wenn dem Bürger kraft Gesetzes befohlen wird, sich in einer bestimmten Situation entweder nach Regelung A oder Regelung B zu verhalten, so sind beide Wahlmöglichkeiten als geltendes Recht gewollt. a) Die Verfassungsrechtslage Die Methode des Gesetzgebers, es dem Normadressaten freizustellen, ob er sich nach dem von ihm selbst gesetzten Recht oder nach einer außenstehenden Regelung richten will, hat allerdings Vorbilder, die die Einordnung der für § 292 H G B geplanten Änderung in das Problemfeld der Verweisungstechnik zweifelhaft erscheinen lassen könnten. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich über die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung zur Kreuzung einer Bundeseisenbahn und einer Landesstraße zu befinden, in der das Verfahren der Planfeststellung geregelt war. § 9 Eisenbahnkreuzungsgesetz sah für diesen Fall vor, daß die Behörde nach ihrem Ermessen entscheiden durfte, ob sie das Planfeststellungsverfahren nach den Regelungen des (Bundes-)Eisenbahnrechts oder denjenigen des (Landes-)Straßenrechts durchführen wollte. Das Bundesverfassungsgericht 5 sah hierin eine Verweisung von Bundesrecht (eben jenes § 9 EbKrG) auf Landesrecht (nämlich auf die dortigen Regelungen zur straßenrechtlichen Planfeststellung). Bei Lichte betrachtet trifft dies jedoch nicht zu6: § 9 EbKrG regelte Maßnahmen, die eine Bundeseisenbahn ebenso betrafen wie eine Landesstraße. An sich war daher sowohl das Bundeseisenbahn- als auch das Landesstraßenrecht einschlägig; in beiden Rechten fanden sich Regelungen zum Planfeststellungsverfahren. Es ergab sich folglich das Problem, daß ohne eine besondere Klärung durch den Gesetzgeber unsicher gewesen wäre, welches dieser beiden Rechte gelten sollte. Vor diesem Hintergrund versteht sich § 9 EbKrG als eine Regelung der Anwendungskonkurrenz. Entschied sich die Planfeststellungsbehörde für die Verfahrensdurchführung nach Landesrecht, so wurde damit nicht etwa, wie dies konstitutives Merkmal einer jeden Verweisung ist, das Landesrecht in den Geltungsrang von Bundesrecht erhoben; es galt vielmehr nach wie vor kraft seiner eigenen Legitimation, 5

BVerfGE 26, 338, 366 f; dem folgend Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 29. ' Vgl. zum Folgenden demnächst Schwab, Rechtsfragen der Politikberatung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsfreiheit und Unternehmensschutz, Teil V § 15 B III 3 b ee.

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die es aus der Verbandskompetenz des Landes für die Regelung des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 G G ) und aus der Organkompetenz des Landesparlamentes für die Landesgesetzgebung schöpfte. § 9 EbKrG behandelte somit die Auflösung der Kollision einschlägiger Rechtsnormen zweier innerstaatlicher Gesetzgeber, vergleichbar den Kollisionsnormen des Internationalen Privatrechts7 für die Anwendungskonkurrenz von Rechtsnormen verschiedener Staaten8.

b) IAS und bilanzrechtliche Verweisung Angesichts dieser Rechtslage könnte man daran zweifeln, ob sich die geplante Änderung des § 292 H G B in das Problemfeld der staatsorganisationsrechtlichen Zulässigkeit von Verweisungen einordnen läßt: Nicht anders als im Rahmen des § 9 EbKrG wird dem Normadressaten erlaubt, sich entweder an das vom Bundesgesetzgeber selbst gesetzte oder an ein näher bezeichnetes außenstehendes Recht zu halten. Trotzdem besteht im Vergleich zur dargestellten Verfassungsrechtslage ein entscheidender Unterschied: Während das in § 9 EbKrG als Alternative angebotene Landesstraßenrecht unabhängig von der Bezugnahme in § 9 EbKrG kraft eigener verfassungsrechtlich verankerter Legitimation galt, fehlt den IAS eine solche apriorische Legitimation im deutschen Rechtssystem. Insbesondere würde es nicht angehen, das beabsichtigte Wahlrecht in § 292 H G B als - dem Muster des Internationalen Privatrechts nachgebildetes - (Bilanz-)Kollisionsrecht zu begreifen; denn den IAS ist nicht durch fremde Staatsgewalt normative Legitimation verliehen. Die IAS werden auch nicht dadurch zur ausländischen Rechtsnorm, daß sie von Börsenaufsichtsbehörden im Ausland ständig praktiziert werden. Die IAS können mithin nur dann zum (alternativ zum H G B ) gültigen Rechtsmaßstab werden, wenn das Bundesgesetz (also das H G B ) sie in seinen eigenen Geltungsrang erhebt. Folglich wäre die geplante Änderung des § 292 H G B , wenn sie denn realisiert werden sollte, ein Fall der gesetzlichen Verweisung.

2. Typologie der Verweisungsformen Formuliert der Gesetzgeber die an den Bürger gerichteten Verhaltensanforderungen nicht selbst, sondern verweist er auf Regelwerke eines externen Normgebers, so wird die Frage nach der Verfassungs-

Schröder, N J W 1967, 2285, 2290. ' Das bedeutet aber nicht, daß sich mit dieser Begründung jede Inbezugnahme von Landes- in Bundesrecht oder umgekehrt aus der Verweisungsproblematik ausscheiden und für verfassungsrechtlich unbedenklich erklären läßt; a. A. offenbar Schröder, N J W 1967, 2285, 2288 ff. 7

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mäßigkeit in zwei Richtungen bedeutsam: Zum einen stellt sich die Frage, ob das Gesetz noch den Anforderungen an eine rechtsstaatliche Verkündung genügt, und zum anderen ist zu prüfen, ob nicht auf diese Weise der Gesetzgeber entgegen dem Demokratieprinzip seine Legislativbefugnisse aus der Hand gibt. Diese Fragen sind mit der Feststellung, daß es sich bei der konkret untersuchten gesetzlichen Regelung (nämlich bei der geplanten Inbezugnahme der IAS durch das deutsche Konzernbilanzrecht) um eine Verweisung handelt, noch nicht beantwortet. Vielmehr unterscheidet man typologisch mehrere Arten der Verweisung, und von der Einordnung in diese Typologie hängt die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Verweisung ab: a) Normergänzende

und normkonkretisierende

Verweisung

Die Einbeziehung eines außenstehenden Sollenssatzes in ein staatliches Gesetz ist zum einen in der Weise denkbar, daß das verweisende Gesetz für sich gesehen kein geschlossenes Tatbestand-Rechtsfolge-Programm enthält, sondern erst in Verbindung mit der einbezogenen außergesetzlichen Anordnung eine sinnvolle Verhaltensanweisung ergibt. In einem solchen Fall spricht man von einer normergänzenden Verweisung9. Ein Beispielsfall hierfür ist der frühere § 5 Abs. 2 Gefahrstoffverordnung 10 . Nach dieser Vorschrift waren bestimmte Stoffe als krebserzeugend zu kennzeichnen, wenn sie „aufgrund neuer gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse, die von der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft festgestellt werden, (...) als krebserzeugend einzustufen sind". Den Inhalt dieser Anordnung konnte man folglich nur ermitteln, wenn man ergänzend Abschnitt III der von der DFG publizierten MAKWerte-Liste heranzog, wo die als krebserzeugend einzustufenden Substanzen im einzelnen aufgelistet sind. Andererseits ist denkbar, daß das Gesetz selbst ein geschlossenes Regelungsprogramm enthält, das aber mit einer Fülle höchst unbestimmter Rechtsbegriffe behaftet ist. Hier sieht sich der Gesetzgeber gelegentlich veranlaßt, in Gestalt der Bezugnahme auf ein außenstehendes Regelwerk dem Normadressaten eine Art „Richtlinie" an die Hand zu geben, mit der sich der Inhalt der Verhaltensanforderungen näher bestimmen läßt. Beispiel hierfür ist § 1 der 2. Durchführungsverordnung zum Energiewirtschaftsgesetz: Nach dessen Abs. 1 sind elektrische

' Vgl. Dentiinger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im U m welt- und Technikrecht, 1990, Rdn. 144; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1980, S. 385, 390 ff. 10 Vgl. dazu Tilmann, BB 1986, 1587, 1591.

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Energieanlagen und -verbrauchsgeräte „nach den anerkannten Regeln der Elektrotechnik einzurichten und zu unterhalten". Abs. 2 bestimmt sodann, daß „als solche Regeln" die Bestimmungen des Verbands deutscher Elektrotechniker „gelten"". In einem solchen Fall spricht man von einer normkonkretisierenden Verweisung: Das Gesetz enthält zwar bereits in sich selbst eine sinnvolle Verhaltensanweisung, aber zugleich zeigt es mit der Einbeziehung der außenstehenden Anordnung einen von mehreren möglichen Wegen auf, wie man als Normadressat dieser Anweisung gerecht werden kann. Wie sich die geplante Änderung des § 292 H G B in diese Dichotomie einordnen ließe, ist nicht sogleich ersichtlich. Einerseits enthält das H G B für die Konzernrechnungslegung in den Bestimmungen der §§ 290 ff bereits eine geschlossene Verhaltensanweisung; dies würde für eine normkonkretisierende Verweisung sprechen. Doch sollen mit den in Bezug genommenen IAS nicht die im H G B enthaltenen Anforderungen näher konkretisiert, sondern alternativ zur deutschen Konzernrechnungslegung ein Regelungsmodell zur Verfügung gestellt werden, das sich in mannigfachen Punkten vom H G B unterscheidet12. Ob das publizitätspflichtige Unternehmen von der Möglichkeit, statt nach H G B nach IAS zu bilanzieren, in einer Weise Gebrauch gemacht hat, die man nach deutschem Recht als ordnungsgemäß anerkennen kann, ist erst dann feststellbar, wenn man im einzelnen unter die Anforderungen der IAS subsumiert hat. Sollte dem Unternehmen eine solche Möglichkeit eingeräumt werden, so kann von einem geschlossenen Regelungsprogramm folglich erst dann die Rede sein, wenn die IAS im einzelnen mit herangezogen werden. Die geplante Änderung des § 292 H G B wäre somit eine normergänzende Verweisung. 3. Statische und dynamische

Verweisung

Wird ein außergesetzliches Regelwerk durch eine Verweisungsnorm im Gesetz in Bezug genommen, so kann sich diese Bezugnahme auf eine bestimmte Fassung dieses Regelwerks beschränken. Im Normtext wird dies etwa dadurch deutlich, daß das Ausgabedatum dieses Regelwerks benannt oder auf sonstige Weise klargestellt wird, daß nur diese eine präzise fixierte Fassung gemeint ist. In einem solchen Fall spricht man von einer statischen Verweisungu. " Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 395. Zur Fülle der Unterschiede s. die Studie Institut der Wirtschaftsprüfer (Hrsg.), Rechnungslegung nach International Accounting Standards, 1995. 13 Nicklisch, N J W 1983, 841, 843; Kypke, Technische Normung und Verbraucherinteresse, 1982, S. 107 f; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 384; Hömig, DVB1. 1979, 307; Schenke, NJW 1980, 743, 744; Fuß, FS Paulick, 1973, S. 293 ff, 295. 12

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Andererseits mag die Verweisungsnorm die außenstehende Anordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung in Bezug nehmen. Es werden mithin auch solche Änderungen dieser Anordnung in die normative Geltung einbezogen, die zeitlich dem Erlaß der Verweisungsnorm nachfolgen. Dann handelt es sich um eine dynamische Verweisung4. Und als eben eine solche dynamische Verweisung wäre auch die geplante Änderung des § 292 HGB einzustufen: Die Unternehmen, die den ausländischen Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen beabsichtigen, sollen ihren Konzernabschluß nach den Bilanzierungsvorschriften der IAS in ihrer jeweils geltenden Fassung aufstellen dürfen. Nur so läßt sich das Ziel des Gesetzgebers erreichen, ohne eine ständige Anpassung des HGB den deutschen Unternehmen auf Dauer den Zugang zum ausländischen Kapitalmarkt ohne den Aufwand einer doppelten Konzernrechnungslegung zu sichern. Ausgehend von diesen Feststellungen ist nunmehr die Verfassungsmäßigkeit der Novellierung zu prüfen, wie sie in § 292 H G B ins Auge gefaßt ist, und zwar in dieser Reihenfolge: Zunächst soll die Frage der ordnungsgemäßen Verkündung und sodann das Problem der Delegation von Legislativbefugnissen erörtert werden. III. Verweisung und Verkündungsverbot Eine Rechtsnorm gelangt erst dann zur Entstehung, wenn sie ordnungsgemäß verkündet worden ist15. Die Anforderungen an eine solche Verkündung ergeben sich aus Art. 82 Abs. 1 GG: Gesetze (S. 1) und Rechtsverordnungen (S. 2) werden „vom Bundespräsidenten (...) ausgefertigt und im Bundesgesetzblatte verkündet"16. 1. Zur Interpretation des Art. 82 Abs. 1 GG Aus dieser Verfassungsnorm hat man verbreitet geschlossen, das gesamte geltende Recht, d. h. jeder Sollenssatz, der in irgendeiner Form verbindlich das Verhalten des Bürgers zu steuern bestimmt sei, müsse im hierfür vorgesehenen amtlichen Verkündungsblatt (das ist bei Bundesgesetzen das Bundesgesetzblatt) publiziert werden17. Das Gesetz habe dem Bürger das geltende Recht zur Kenntnis zu bringen und dürfe nicht M

Nicklisch, NJW 1983, 841, 843; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 384; Hömig, DVBl. 1979, 307; Schenke, N J W 1980, 743, 744; Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 295. 15 Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 9; Ossenhühl, DVBl. 1967, 401, 405; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970, S. 138. " Hervorhebung vom Verfasser. " Ossenhühl, DVBl. 1967, 401, 406; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 157.

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nur Gesetzesbibliographie sein18. Demgegenüber hat das Bundesverwaltungsgericht19 unter Zustimmung eines Teils der Literatur20 mit Blick auf das Verkündungserfordernis die Verweisung auf außenstehende Anordnungen unter diesen Voraussetzungen für zulässig gehalten: - Die Rechtsnorm müsse klar zum Ausdruck bringen, daß sie die außenstehende Anordnung zu ihrem Bestandteil mache; - In der ergänzten Rechtsnorm müsse die ergänzende Anordnung hinreichend bestimmt sein; - Die Verlautbarung der ergänzenden Anordnung müsse für den Betroffenen zugänglich und ihrer Art nach für amtliche Anordnungen geeignet sein. Dagegen würde die Forderung, der Inhalt des geltenden Rechts müsse in jeder Hinsicht dem Bundesgesetzblatt zu entnehmen sein, zu einer Uberfrachtung und überdies oft fachspezifischen Verfremdung der amtlichen Verkündungsblätter führen, ohne daß dadurch notwendigerweise immer oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle das geltende Recht für den Rechtsunterworfenen besser zugänglich würde21. 2. Verweisung und die Funktionen von Ausfertigung und

Verkündung

Um beurteilen zu können, ob Verweisungen unter dem Gesichtspunkt des Art. 82 Abs. 1 G G zulässig sind, hat man sich an den Funktionen einerseits der Verkündung, andererseits aber auch der Ausfertigung zu orientieren. a)

Verkündung

Die Verkündung dient dazu, dem Bürger das geltende Recht zur Kenntnis zu bringen; ihm darf folglich der Zugang22 zu den Verhaltensanweisungen, denen er unterliegt, nicht unzumutbar erschwert werden23. Grundsätzlich muß sie der Bürger daher dem Gesetzblatt selbst entnehmen können. Weicht der Gesetzgeber hiervon ab und nimmt er Bezug auf ein außergesetzliches Regelwerk, so bedarf dies eines sachlichen

Ossenbühl, DVB1. 1967, 401, 406. BVerwG N J W 1962, 506. 20 Hill, N J W 1982, 2104, 2107; Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 13 f; Schenke, N J W 1980, 743, 744; Hömig, DVB1. 1979, 307, 308 f; ähnlich Breuer, AöR 101 (1976), 46, 62; ders., DVBl. 1978, 598, 589; Arndt, JuS 1979, 784, 788. 21 Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 13 f. 22 Bei der Frage, welche Anforderungen an die Verlautbarung einer Norm gestellt werden müssen, kommt es maßgeblich auf die Zugänglichkeit des Rechts für den Bürger an, vgl. Hömig, DVBl. 1979, 307, 308. 23 Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 316 ff. 18 19

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Grundes 24 , und zwar nur eines solchen, der sich aus dem Gedanken der leichten Zugänglichkeit des Norminhalts erklären läßt. Der Gesetzgeber muß mithin in vertretbarer Weise annehmen können, daß um eben dieser Zugänglichkeit willen die Verweisung auf ein anderweit gesetztes Regelwerk die praktikablere Lösung ist. Dies ist insbesondere dann denkbar, wenn (wie häufig im technischen Sicherheitsrecht) die außenstehende Anordnung eine Fülle von Details enthält, die wegen ihres außerjuristischen Fachbezugs im Gesetzblatt nicht zweckmäßig untergebracht werden können, ohne dessen Übersichtlichkeit zu gefährden. Aber selbst bei einer solchen „geteilten Verkündung" muß der wesentliche Teil des gesetzlichen Regelungsprogramms aus dem Gesetzblatt ersichtlich sein25. b)

Ausfertigung

Ferner setzt die verfassungsrechtliche Verträglichkeit der Verweisungstechnik voraus, daß die spezifische Funktion der Ausfertigung nicht gefährdet wird. Diese besteht darin zu gewährleisten, daß die verlautbarte Norm authentisch das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens und damit den Willen der Gesetzgebungsorgane wiedergibt 26 . Eben dieser Gedanke steht auch hinter der Forderung des Bundesverwaltungsgerichts, die Verlautbarung der ergänzenden Anordnung müsse ihrer Art nach für amtliche Anordnungen geeignet sein: U m der Verfälschungsgefahr vorzubeugen 27 , ist die Identität des Verweisungsobjekts unter staatlicher (amtlicher) Kontrolle zu halten. Soll auf Bekanntmachungen privater Institutionen verwiesen werden, so muß ein Exemplar dieser Bekanntmachung amtlich hinterlegt werden28 (vgl. auch § 7 Abs. 2 Bundesimmissionsschutzgesetz: archivmäßig gesichert werden 29 ), und hierauf ist in der Verweisungsnorm hinzuweisen 30 . 3. Die Änderung

des § 292 HGB im Lichte des Art. 82 Abs. 1 GG

Unter diesen Voraussetzungen vermag mithin selbst eine Verweisung prinzipiell die Erfordernisse des Art. 82 Abs. 1 G G zu erfüllen. Indes - bei der geplanten Änderung des § 292 H G B ist die Einhaltung dieser Ebenso Schenke, NJW 1980, 743, 744, wenn auch ohne nähere Präzisierung. Vgl. Denninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, Rdn. 170. 26 Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 141. 27 Vgl. Schenke, NJW 1980, 743, 744; Hömig, DVB1. 1979, 307, 311. 28 Vgl. - allerdings für den Sonderfall der Verweisung auf Verwaltungsvorschriften Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 16. 29 Für Erfordernis archivmäßiger Sicherung schon Hömig, DVB1. 1979, 307, 311. )0 Schenke, NJW 1980, 743, 744. 24

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Erfordernisse nicht sichergestellt; denn Objekt der Verweisung soll eine Bekanntmachung des IASC sein, so daß eine ordnungsgemäße Verkündung die amtliche Hinterlegung eines Exemplares dieser Bekanntmachung und einen Hinweis auf diese Hinterlegung in der bezugnehmenden Norm (also in § 292 H G B in seiner geplanten Neufassung) erfordert. Es ist derzeit nicht zu erkennen, ob die Initiatoren des Novellierungsplans dies hinreichend berücksichtigt haben. a) Zur Zugänglichkeit fremdsprachiger

Regelwerke

Unter dem Gesichtspunkt des Verkündungserfordernisses treten im Vergleich zu sonst üblichen Verweisungen noch Zusatzprobleme auf, weil ein Regelwerk in Bezug genommen werden soll, das im Original nicht in deutscher, sondern in englischer Sprache abgefaßt ist. Der Verweis auf ein solches Regelwerk wahrt nicht die Vorgaben des Art. 82 Abs. 1 GG. Denn ganz allgemein soll die Verkündung dem normunterworfenen Bürger das geltende Recht zuverlässig zur Kenntnis bringen; dies ist Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips 31 . Dem Bürger muß mithin das Recht zugänglich gemacht werden, und zwar sowohl in physischer als auch in ideeller Hinsicht. Die ideelle Zugänglichkeit ist nicht gewährleistet, wenn der Bürger möglicherweise die Sprache nicht versteht, in der die ihn betreffende Verhaltensanweisung gehalten ist. Fehlleistungen bei der Übersetzung mögen hinzukommen. Deshalb hat der deutsche Bürger vielmehr ein Recht darauf, von der durch ihn legitimierten deutschen Staatsgewalt in seiner Muttersprache angesprochen zu werden. b) Die Befolgungs-Bereitschaft

- ein Einwand?

N u n mag man einwenden, in aller Regel seien die beteiligten Unternehmen als IAS-Adressaten mit der Maßgeblichkeit der englischen Fassung einverstanden; denn die von ihnen beauftragten Wirtschaftsprüfer seien sehr wohl in der Lage, die IAS zutreffend anzuwenden. Man könnte sich daher die Frage stellen, ob die Forderung nach deutscher Gesetzgebung in deutscher Sprache dispositiv ist. Nahe liegt es zu argumentieren, das Rechtsstaatsprinzip gebiete lediglich die Zugänglichkeit der Norm für die jeweils individuell von ihrem Anwendungsbereich berührten Personen. Indes ist das Gesetz auf dauerhafte Geltung auch für diejenigen Personen angelegt, die nicht schon gegenwärtig nach ihrem Einverständnis gefragt werden können, und im übrigen auf Geltung für einen unübersehbaren Personenkreis, der gar nicht erschöpfend nach seinem Einverständnis gefragt werden kann. Zudem sind am Inhalt

31

Hornig, DVB1. 1979, 307, 308.

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des geltenden (Konzern-)Bilanzrechts nicht nur die rechnungslegungspflichtigen Unternehmen interessiert, sondern nach dem gemeinschaftsrechtlich induzierten Gesetzesplan überdies die aktuellen und potentiellen Gläubiger des Unternehmens sowie die Öffentlichkeit (arg. § 325 Abs. 3 HGB). c) Legitimation und Rechenschaftspflicht staatlicher Entscheidungsträger Dies mündet in einen weiteren Aspekt ein, der die Abfassung deutscher Gesetze in deutscher Sprache gebietet: Die Ausübung demokratisch legitimierter Staatsgewalt muß für ihre Legitimatoren, d. h. für das Volk (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), transparent sein. Dies Gebot der Transparenz staatlichen Handelns hat für den Gesetzgeber Eingang in den ausdrücklichen Verfassungswortlaut, nämlich in Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG gefunden; auch für die Verwaltung ist in den letzten Jahren - hauptsächlich im Zusammenhang behördlicher Aufklärungstätigkeit - zunehmend für eine Verpflichtung plädiert worden, sich selbst in der Öffentlichkeit mitzuteilen und darzustellen 32 . Hieraus ist gelegentlich sogar eine verfassungsunmittelbare Ermächtigung der Bundesregierung zu Eingriffen in Grundrechte mittels Information der Öffentlichkeit hergeleitet worden33. Transparenz des Verfahrens ist aber ohne Transparenz der Ergebnisse aus diesem Verfahren nicht denkbar. Daher taugt das „Einverständnis" einer bestimmten Gruppe von Normunterworfenen mit der Abfassung eines Gesetzes in fremder Sprache nicht als Argument. Vielmehr ergibt sich die Forderung, deutsche Gesetze in deutscher Sprache zu verkünden, außer aus dem Rechtsstaatsprinzip zusätzlich noch aus einem vom Individuum völlig losgelösten Staatsorganisations-rechtlichen Grund, nämlich aus der Korrelation von Legitimation und Verantwortung: Die vom deutschen Volk legitimierten Hoheitsträger müssen in deutscher Sprache Rechenschaft für die Ausübung der ihnen anvertrauten Staatsgewalt ablegen, und dies tun sie u. a. dadurch, daß sie die Ergebnisse bestimmter Entscheidungen in verständlicher Form als Gesetz bekannt machen. Aus diesem Befund hat der Gesetzgeber für das Verwaltungsverfahren in § 23 Abs. 1 VwVfG und für das Gerichtsverfahren in § 184 GVG die Konsequenzen gezogen: Deutsch ist die Sprache, die im Verfahren und bei der Verkündung des Verfahrensergebnisses einzuhalten ist; für den Gesetzgeber selbst kann nichts anderes gelten.

" Ossenbiihl, Umweltpflege durch behördliche Warnungen und Empfehlungen, 1986, S. 37; Robbers, A f P 1990, 84, 85. " Siehe namentlich BVerwG NJW 1989, 2272, 2273 f - Jugendreligionen.

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Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, die Verweisung auf ausländisches Recht sei aus dem Internationalen Privatrecht vielfach bekannt 34 . Das Internationale Privatrecht hat die Funktion, für Privatrechtsbeziehungen zwischen Bürgern unterschiedlicher Staaten zu klären, welches nationale Recht anwendbar ist. Hat der deutsche Gesetzgeber sich für die Anwendbarkeit ausländischen Rechts entschieden, so gilt dies kraft seiner originären Legitimation aus der Organisationsverfassung des fremden Staates; es wird also nicht, wie dies für die Verweisung charakteristisch ist, in den Geltungsanspruch des deutschen Rechts mit aufgenommen. Es gilt, was schon oben zum früheren § 9 EbKrG ausgeführt wurde: geregelt wird lediglich die Kollision zweier Rechte, die je allein aus sich selbst heraus anwendbar sind, zugunsten eines von ihnen. d) Ergebnis Somit verstößt die Verweisung auf die IAS im geplanten neuen § 292 HGB gegen Art. 82 Abs. 1 GG, falls nicht eine deutsche von einem vereidigten Dolmetscher gefertigte Ubersetzung 35 der IAS amtlich hinterlegt wird, und zudem auf diese Hinterlegung in der neuen Fassung des § 292 HGB hingewiesen wird. Außerdem stellt die geplante Änderung des § 292 HGB, wie oben II 3 belegt, eine normergänzend-dynamische Verweisung dar. Wenn man mit dem Erfordernis ernst macht, daß die Authentizität der ergänzenden Anordnung innerhalb des Ausfertigungs-Verfahrens für das verweisende Gesetz gewährleistet sein muß, vermag eine dynamische Verweisung den Verkündungsanforderungen nicht mehr zu genügen: Jede Änderung in dem in Bezug genommenen Regelwerk, die dem Ausfertigungsverfahren zeitlich nachfolgt, läßt sich nicht mehr dieser Authentizitätsprüfung unterziehen. Folglich wäre die geplante Änderung des § 292 HGB bereits aus formalen Gründen wegen Verstoßes gegen Art. 82 Abs. 1 GG verfassungswidrig 36 . IV. Verweisung und Demokratieprinzip Wenn aber die geplante Änderung des § 292 HGB eine normergänzend-dynamische Verweisung enthält, so führt dies zu einer weiteren mit der Verweisungstechnik verbundenen verfassungsrechtlichen ImpliSo aber Jansen, DÖV 1979, 332, 334. Vgl. zu ähnlich gelagerten Problemen bei der Verweisung auf unverbindliche Regelwerke von EG-Gemeinschaftsorganen, die im Original in französischer und/oder engischer Sprache bekanntgemacht werden, Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 305 ff, insbesondere 311. 36 Für Verstoß der dynamischen Verweisung gegen Art. 82 Abs. 1 GG auch Arndt, JuS 1979, 784, 788; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 161 f. 34

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kation. Hat nämlich der Gesetzgeber irgendwann einmal ausgesprochen, daß ein externes Regelwerk das geltende Recht mit konstituieren solle, ohne diese Verweisung ausdrücklich auf eine bestimmte Fassung dieses Regelwerkes zu beschränken, so folgt daraus: Dies Regelwerk solle in seiner jeweils geltenden Fassung gelten. Seine künftigen Änderungen durch den Regelwerk-Geber werden mithin zugleich und automatisch Bestandteil des geltenden Rechts (und nehmen am Geltungsrang der Verweisungsnorm teil37), ohne daß die Änderung noch einmal an den Willen des Gesetzgebers rückgebunden würde. 1. Zur normkonkretisierend-dynamischen

Verweisung

Dennoch hält eine verbreitete Ansicht die normkonkretisier end-dyr\&mische Verweisung für zulässig38: Der Gesetzgeber habe ein eigenes geschlossenes Tatbestand-Rechtsfolge-Programm vorgelegt, so daß er die Legislativbefugnisse in vollem Umfang in der Hand behalten habe. Aber diese Annahme begegnet Bedenken: Sollte nämlich ein Gesetz anordnen, daß die Erfüllung seiner Anforderungen fingiert oder vermutet wird, sofern nur ein externes Regelwerk beachtet worden ist, so hätten Behörden und Gerichte dies externe Regelwerk ihrer Entscheidung zugrundezulegen, auch und sogar in seiner ggf. später geänderten Fassung. Damit hätte der Gesetzgeber seine Steuerungsbefugnisse insoweit materiell dem externen Normgeber überantwortet und gerade nicht in eigenen Händen behalten39. 2. Die normergänzend-dynamische a) Versteckte

Verweisung

Rechtsetzungsermächtigung

Für die normergänzend-dynamische Verweisung auf Regelwerke außerstaatlicher Stellen wird jedoch ganz überwiegend und zu Recht die Auffassung vertreten, daß sie wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip im Widerspruch zum Grundgesetz stehen40. Eine sinnvolle, weil 37

Hömig, DVBl. 1979,307, 309. Backherms, JuS 1980, 9,11; Ladern, U P R 1987,253,260; Fröhler, WiVerw. 1991, 2, 7 f. 39 Vgl. demnächst Schwab, Rechtsfragen der Politikberatung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsfreiheit und Unternehmensschutz, Teil V § 15 III 3 b aa. 40 V G Hamburg, NJW 1979, 667, 668; Arndt, JuS 1979, 784, 787; Backherms, JuS 1980, 9, 11; Baden, NJW 1979, 623, 626; Breuer, N V w Z 1988, 104, 107; Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 41; Denninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, Rdn. 144; Fröhler, WiVerw. 1991, 2, 7 f; Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 298 f; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 122 ff, 180; Ladeur, U P R 1987, 253, 260; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 391; Nicklisch, NJW 1983, 841, 843; Nickusch, N J W 1967, 811, 812; Ossenbühl, DVBl. 1967, 401, 406; Plischka, Technisches Sicherheitsrecht, 1969, S. 47; Salzwedel, N V w Z 1987, 276, 278; Tilmann, BB 1986,1587, 1589. 3!

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logisch geschlossene Verhaltensanweisung liegt erst dann vor, wenn man zum Gesetz ergänzend die in Bezug genommene außenstehende Anordnung heranzieht. Bestandteil der Verhaltensanweisung ist diese Anordnung in ihrer aktuell gültigen Fassung, mag diese sich auch nach Erlaß des verweisenden Gesetzes geändert haben. Diese Änderung ist geltendes Recht geworden, ohne daß der Gesetzgeber dies in seinen Willen aufgenommen hat. Damit ist die Befugnis zur Änderung und Anpassung des Rechts materiell auf eine Institution übergegangen, die nicht von der deutschen Staatsgewalt legitimiert ist und auch nicht in das gewaltenteilige System des Grundgesetzes einbezogen. b) Zur Möglichkeit reaktiver Kontrolle Verweisungen dieser Art sind auch nicht etwa deshalb verfassungskonform, weil der Gesetzgeber jederzeit die Möglichkeit habe, die Verweisungsnorm zu ändern oder aufzuheben, falls er mit der Änderung des Verweisungsobjekts nicht einverstanden sei41. Die in Bezug genommene Norm ist nämlich zumindest zeitweise in Kraft. Das Demokratieprinzip verbietet aber sogar die nur vorübergehende Geltung von Recht, dem nicht eine ununterbrochene, auf das ganze Volk zurückgehende Legitimationskette zugrundeliegt. Die zeitweilige Rechtswirkung des Verweisungsobjekts läßt sich nicht in allen Fällen wieder rückgängig machen42. Zudem wird der Gesetzgeber kaum von der Möglichkeit intensiven Gebrauch machen, seine Verweisungsnorm reaktiv zu kontrollieren. Denn mit der dynamischen Verweisung verfolgt er gerade den Zweck, die zu regelnde Materie nicht mehr selbst unter Kontrolle halten und ggf. laufend anpassen zu müssen43. c) Tendenzen zur Restriktion des Verbots dynamischer

Verweisungen

Allerdings finden sich in der jüngeren Rechtsprechung und Literatur Tendenzen, das einschneidende Verbot der normergänzend-dynamischen Verweisung aufzuweichen. So meint das Bundesverfassungsgericht44 im Zusammenhang mit einer dynamischen gesetzlichen Verweisung auf eine tarifvertragliche Regelung, von einem unzulässigen Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnisse könne keine Rede sein, solange nur der Inhalt der in Bezug genommenen Regelung im wesentlichen feststehe. Hierbei knüpft das Gericht an die bereits zitierte Entscheidung zum früheren § 9 EbKrG (oben II 1 a) an, dessen 41

So aber Schröder, NJW 1967, 2285, 2290. Arndt, JuS 1979, 784, 785; Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 297. ° Arndt, JuS 1979, 784, 785. 44 BVerfGE 64,208,214 f.

42

Deutscher Konzernabschluß: IAS und Grundgesetz

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Verfassungsmäßigkeit es mit eben dieser Begründung bejaht hatte; sie aber ist nach hier vertretener Ansicht überhaupt nicht als VerweisungsFall anzusehen. In der Literatur wird - allerdings im Zusammenhang mit der dynamischen Verweisung auf staatliche Regelwerke (insbesondere Verwaltungsvorschriften) - diese verfassungsgerichtliche Aussage dahin verallgemeinert, eine dynamische Verweisung auf solche Regelwerke sei dann zulässig, wenn diese Werke in einem sog. „strukturierten Regelungsbereich" erlassen worden seien, der Inhalt der Regelung daher vorhersehbar und voraussichtlich angemessen sei45. Andere wollen dem Gesetzgeber freistellen, seine Befugnisse auch auf außerstaatliche Stellen zu übertragen, wenn er (je nach Bedeutsamkeit der privaten N o r m setzungsakte unterschiedlich umfangreiche) flankierende Maßnahmen organisations- und verfahrensrechtlicher Art mit dem Ziel treffe, auf Bildung, Besetzung und Ausgewogenheit der Regelwerk-Geber Einfluß zu nehmen und eine gewisse Durchschaubarkeit und Publizität der Entscheidungsfindung zu gewährleisten 46 . Beide hier dargestellten Ansätze sind zum technischen Sicherheitsrecht in Deutschland entwickelt worden und zielen darauf ab, dem Sachverstand staatsexterner Fachleute Eingang in Regelungskomplexe zu verschaffen, die unter der Verantwortung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers stehen: Inwieweit darf er seine Normsetzungsbefugnisse auf Private delegieren? Während der erste Ansatz einer solchen Delegation materiell-inhaltliche Schranken ziehen will, setzt der zweite Ansatz auf organisationsrechtliche. Das alles ist noch in der verfassungsrechtlichen Diskussion, ohne bislang zu allseits akzeptierten und damit konsolidierten Ergebnissen geführt zu haben. Aber wie dem auch sei für eine Konzernrechnungslegung nach IAS, welche die deutschen H G B - R e g e l n ersetzen, ist festzuhalten:

3. Die geplante Änderung des § 292 HGB im Lichte des Demokratieprinzips Der deutsche Gesetzgeber wird schlechterdings nicht in der Lage sein, jene Voraussetzungen zu erfüllen, die eine Rechtsetzungs-Delegation an Private verfassungsgemäß erscheinen lassen könnten: Auf Besetzung und Verfahren des International Accounting Standards Committee, das die IAS festsetzt, kann er keinen unmittelbaren, geschweige denn maßgeblichen Einfluß nehmen. Ebensowenig stünde der Inhalt der IAS, auf die § 292 H G B in seiner geplanten Fassung Bezug nehmen würde, in seiner künftigen Fortentwicklung von vornherein fest. Daneben und vor Brugger, VerwArch 78 (1987), 1, 25. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 19 IV Rdn. 207; ähnliche Ansätze schon bei Breuer, AöR 101 (1976), 47, 78; Badura, FS Bachof, 1984, S. 169,177. 45

46

794

Peter Hommelhoff

allem würde der deutsche Gesetzgeber die nationalen Gestaltungsspielräume wieder aufgeben, die er sich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft mit den Staatenwahlrechten in der 7. EG-(Konzernbilanz-) Richtlinie erkämpft hatte, um mitgliedstaatlich-deutsche Wertungen zur Konzernrechnungslegung in seinem Verantwortungsbereich umsetzen, überprüfen und ggf. fortschreiben zu können. Uber diese rechtspolitischen Wertungen, die in einer Vielzahl von Punkten von denen der IAS abweichen 47 , soll nunmehr eine ausländische Privatkommission disponieren - freilich nur für ein Konzernrechnungslegungs-pflichtiges Unternehmen in Deutschland, falls dies es so will. Bei der geplanten Änderung des § 292 H G B handelt es sich um eine normergänzend-dynamische Verweisung: Zwei Verhaltensmodelle werden alternativ zur Verfügung gestellt; den Inhalt des einen bestimmt der deutsche Gesetzgeber selbst, den des anderen bestimmt das International Accounting Standards Committee. Damit wäre die geplante Änderung des § 292 H G B auch wegen eines Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 2 S. 1 G G verfassungswidrig. V. Delegation von Legislativbefugnissen und Gesetzesvorbehalt 1. Die „ Wesentlichkeitstheorie"

des

Bundesverfassungsgerichts

Aus Gewaltenteilungsgrundsatz und Demokratieprinzip leitet das BVerfG in ständiger Rechtsprechung her, der Gesetzgeber dürfe sich seiner Rechtsetzungsbefugnisse nicht beliebig entäußern 48 . Das gilt sowohl im Verhältnis zur bürokratisch-hierarchisch strukturierten staatlichen Exekutive 49 , als auch - allerdings in teilweise eingeschränktem Umfang - für autonome Körperschaften des öffentlichen Rechts, insbesondere für berufsständische Kammern 50 . Vielmehr hat der Gesetzgeber die „wesentlichen" Fragen selbst zu regeln. Innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung ist Rechtsetzung in erster Linie Aufgabe des Parlaments; dies muß mithin eigene richtungsweisende Sachentscheidungen treffen und darf seine Rolle nicht darauf beschränken, die Zuständigkeiten für die Rechtsetzung beliebig auf staatsin- und -externe Entscheidungsträger zu verteilen. 47 Nichts belegt dies schlagender als die Tatsache, daß der nach deutschen Bilanzregeln aufgestellte Daimler-Abschluß 1993 einen Gewinn von 615 Mio. DM auswies, während er nach amerikanischen Regeln zu einem Verlust von 1800 Mio. DM, also einer Differenz von 2,4 Mrd. DM führte (s. F A Z vom 12.12.1995, S. 23). 48 Vgl. nur BVerfG D Ö V 1979, 330; siehe auch VG Hamburg NJW 1979, 667, 668; Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 296. 49 Vgl. insbesondere BVerfGE 58, 257, 268 ff (Schulwesen); BVerfGE 40, 237, 249 f (Strafvollzug). 50 BVerfGE 33,125, 155 ff - Facharzt-Entscheidung.

Deutscher Konzernabschluß: IAS und Grundgesetz

2. Das „ Wesentliche" im Bereich der

795

Konzernrechnungslegung

Was im einzelnen als „wesentlich" anzusehen ist, ließ sich bis heute nicht abschließend klären. Ebensowenig wird man eine allgemeingültige Formel mit Aussagekraft ausformen können; vielmehr kommt es auf die Besonderheiten des jeweils zu regelnden Sachbereichs an. Will also der Gesetzgeber für den Bereich der Konzernrechnungslegung zwei Modelle der Aufstellung eines Jahresabschlusses alternativ zur Verfügung stellen, so hat er zumindest die Zweckrichtung dieser Modelle und die dabei verfolgten Prioritäten selbst zu regeln. Das setzt eine betont juristische Diskussion um die eigenständigen Zwecke der Konzernrechnungslegung voraus, wie sie bislang im wesentlichen erst im betriebswirtschaftlichen Schrifttum geführt worden ist51. So soll der Konzernabschluß nach geltendem Handelsrecht der Dokumentation, der Rechenschaft, der Kapitalerhaltung qua Informationen und der Kompensation dienen. Aber ob das die Summe der spezifischen Rechtszwecke für die Konzernrechnungslegung ist, bedarf noch einer konsolidierenden Erörterung unter Einschluß von Juristen. Denn die Zwecksetzungen für eine Regelung gestalten diese rechtspolitisch zentral. Solche Entscheidungen darf das zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung seiner Legislativbefugnisse verpflichtete Parlament nach der Wesentlichkeitstheorie gemäß Art. 80 Abs. 1 G G nicht einmal dem Verordnungsgeber überlassen; erst recht dürfen sie nicht an ein staatsexternes Gremium (wie das IASC) delegiert werden. Grenzen, die der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive gezogen sind, müssen erst recht für die Delegation an eine private Institution gelten52. Der Gesetzgeber verstößt mithin gegen die Verfassung, wenn er die Regelung in „wesentlichen" Fragen nicht selbst trifft, sondern hierfür auf das Regelwerk eines staatsexternen Gremiums im Wege dynamischer Verweisung Bezug nimmt53. Dies alles wird bei der geplanten Änderung des § 292 H G B offenbar nicht scharf genug in den Blick genommen. Das IASC ist völlig frei von den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers darin, nach welchen Grundprinzipien Konzerne Rechnung legen sollen und wie es diese Grundprinzipien in naher und ferner Zukunft fortentwickeln oder gar in eine andere Richtung lenken will; jede sogar grundstürzende Richtungsänderung würde mit der vorgesehenen Verweisung zum Bestandteil des deutschen Bilanzrechts, ohne daß der Gesetzgeber die Änderungen vorher in seinen Willen aufgenommen hätte.

Dazu neuestens Baetge, Konzernbilanzen, 2. Aufl. 1995, S. 20 ff m. w. N. " Schenke, NJW 1980, 743, 745; Fuß, FS Paulick, S. 293 ff, 296 f und 300. 53 BVerfG DÖV 1979, 330, 331 f; ähnlich Jansen, DÖV 1979, 332, 333. 51

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VI. Résumé Um deutschen Unternehmen den Zutritt zu den internationalen Kapitalmärkten zu erleichtern, beabsichtigt das Bundesjustizministerium für die Konzernrechnungslegung eine Offnungsklausel in § 292 HGB: Der nach IAS aufgestellte Konzernabschluß nebst Konzernlagebericht soll den nach handelsrechtlichen Regeln aufgestellten Abschluß ersetzen. Ein solches Vorhaben widerspricht in mehrfacher Hinsicht den Vorgaben des Grundgesetzes: Zum einen würde sich der Gesetzgeber in nicht mehr akzeptabler Weise seiner wesentlichen Legislativbefugnisse begeben und sich damit zweitens zugleich der Verantwortung für die Fortentwicklung der (Konzern-)Rechnungslegung entziehen. Zum dritten würde die IAS Bestandteil des in Deutschland geltenden Rechts, ohne die Voraussetzungen zu erfüllen, die das Verfassungsrecht an die Normverkündung stellt. In der Vergangenheit hat man gelegentlich bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von Verweisungsnormen, in denen an sich eine verbotene dynamische Verweisung zu erblicken gewesen wäre, den Ausweg beschritten, die betreffenden Vorschriften verfassungskonform als bloß statische Verweisungen auszulegen54, d. h. als Verweisung auf die einbezogene Regelung in eben der Fassung, wie sie zur Zeit des Erlasses der Verweisungsnorm galt. Statische Verweisungen sind unter dem Blickwinkel des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips unbedenklich; denn der Gesetzgeber hat die in Bezug genommenen externen Sollenssätze in jeder Hinsicht kraft eigener Willensentscheidung zum Bestandteil des geltenden Rechts gemacht55. Indes - der bilanzrechtliche Gesetzgeber würde sein rechtspolitisches Ziel, deutschen Unternehmen mit Ausrichtung auf ausländische Kapitalmärkte den doppelten Jahresabschluß zu ersparen, nicht auf Dauer erreichen. Denn sobald sich an den IAS etwas ändert, wäre ein Konzernabschluß nach der statisch in Bezug genommenen früheren Fassung nicht mehr geeignet, den Zugang zur Börse in der Fremde zu ermöglichen. Aber nicht allein das deutsche Verfassungsrecht strahlt auf die Novellierung des § 292 H G B aus; hinzu kommen schwierige Fragen im Verhältnis zwischen dem Grundgesetz und dem europäischen Gemeinschaftsrecht, wie es durch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts56 beschrieben und konturiert worden ist. Wenn namentlich die Europäische Kommission, wie von kompetenter Stelle berichtet57, neue-

54 55 56 57

Vgl. BVerfG DÖV 1979, 330, 332; VG Hamburg NJW 1979, 667. Vgl. nur Schenke, NJW 1980, 743, 744; Hömig, DVB1. 1979, 307 f. BVerfGE 89,155. Van Hülle, FAZ vom 12. 12. 1995, S. 23.

Deutscher Konzernabschluß: IAS und Grundgesetz

79 7

stens auf ein Bilanzrecht setzt, das von privaten Gremien autonom entwickelt und in Kraft gesetzt werden soll, dann wird sich die deutsche Ministerialbürokratie sehr sorgfältig überlegen müssen, ob das Grundgesetz den deutschen Stellen überhaupt erlaubt, sich im EG-Ministerrat auf eine solche Delegation von Legislativbefugnissen und damit auf eine solche Selbstentmündigung des Gesetzgebers einzulassen. Das ist offenbar übersehen worden, wenn man lesen kann, für die neue europäische Bilanzstrategie hätten sich die internationalen Rechnungslegungsgremien bereits auf einen Zeitplan bis zum Jahr 2000 geeinigt 58 . Angesichts dieser Dimension scheint es angezeigt, daß die Diskussion um die Fortentwicklung des Bilanzrechts in Europa nicht länger allein den erfahrenen Kennern der Rechnungslegung überlassen bleibt.

58

F A Z aaO (vorige Fn.).

Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der O H G und KG KLAUS J . H O P T

I. Aufstellung, Feststellung und Unterzeichnung des Jahresabschlusses bei der Personengesellschaft 1.

Aufstellung

Auch bei der Personengesellschaft ist zwischen Aufstellung des Jahresabschlusses und seiner Feststellung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht nur bilanzrechtlich grundlegend (vgl. § 264 H G B über die Pflicht zur Aufstellung, demgegenüber §§ 172, 173 AktG und § 46 Nr. 1 GmbHG). Vielmehr ist sie wegen der für beide Akte möglicherweise unterschiedlichen Zuständigkeiten auch über die Kapitalgesellschaft hinaus gesellschaftsrechtlich schlechthin essentiell.1 Die Aufstellung ist die Vorbereitung des Jahresabschlusses bis zur Beschlußreife. Die Aufstellungspflicht folgt aus § 242 H G B . Sie ist Sache des Einzelkaufmanns und bei der Personengesellschaft allein Sache des geschäftsführenden Gesellschafters.2 Bei der K G obliegt die Aufstellung also nicht allein und schlechthin den Komplementären im Gegensatz zu den Kommanditisten, wie früher angenommen, sondern nur, aber auch all denjenigen Gesellschaftern der KG, die Geschäftsführungsbefugnis haben. ' Heute h. L., Hopt, H G B , 29. Aufl., München 1995, § 242 Rdn. 1, § 264 Rdn. 8; § 163 Rdn. 3 m. w. N.; Staub/Hüffer, H G B , 4. Aufl., Berlin 1988, § 242 Rdn. 46. Nach der Drucklegung des Beitrags hat der B G H (II ZR 263/94) am 29. 3. 1996 ein Urteil erlassen, das im Anschluß an Schulze-Osterloh, B B 1995, 2519 eine neue Differenzierung einführt (nur Leitsätze, Begründung lag noch nicht vor; Vorinstanz O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126). Danach bleibt es für Bilanzierungsmaßnahmen, die der Darstellung der Lage des Vermögens des Unternehmens i. S. v. § 238 Abs. 1 Satz 2 H G B dienen, bei der Alleinzuständigkeit des geschäftsführenden Gesellschafters in den allgemeinen Grenzen von Gesetz und GoB. Dagegen sollen Bilanzierungsentscheidungen, die der Sache nach Ergebnisverwendungen sind, wie die Bildung offener Rücklagen, die Bildung zusätzlicher Abschreibungen nach § 253 Abs. 4 HGB, die Bildung von Aufwandrückstellungen nach § 249 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 H G B sowie die Bildung steuerlicher Sonderabschreibungen nur durch alle Gesellschafter gemeinschaftlich getroffen werden. Der B G H beläßt damit zwar wohl zunächst die Aufstellung wie bisher allein dem geschäftsführenden Gesellschafter (wie hier I I ) , doch macht er deutlich, daß bei allen Bilanzierungsmaßnahmen, die auf eine Ergebnisverwendung hinauslaufen (vgl. II 1 b a. E.), die Kommanditisten ein originäres Mitspracherecht haben. Dieses Mitspracherecht setzt sich dann - aber wohl erst im Rahmen der Feststellung - gegen das auch vom B G H anerkannte Bilanzierungsermessen des geschäftsführenden Gesellschafters durch. Im übrigen trifft die Kommanditisten eine Zustimmungspflicht (s. u. II 4).

800

Klaus J. Hopt

2.

Feststellung

Die Feststellung des Jahresabschlusses ist demgegenüber die innerhalb der Gesellschaft bindende Billigung des Jahresabschlusses. Sie ist also ein Rechtsgeschäft, und zwar nach der Rechtsprechung ein rechtsgeschäftliches Anerkenntnis im Sinne von §§ 780, 781 B G B unter mehreren sie gemeinsam Feststellenden (vgl. § 245 S. 2 BGB). 3 Nach der neueren treffenderen Lehre ist die Feststellung dagegen ein kausaler Feststellungsvertrag unter den Gesellschaftern.4 Die Feststellung hat unter den Gesellschaftern Bindungswirkung nach § 779 BGB. 5 Unabhängig von der Rechtsnatur entspricht es der zwischenzeitig h. L., daß die Feststellung nicht allein dem Komplementär als Teil seiner Geschäftsführungsbefugnis zusteht, sondern unter Mitwirkung auch der Kommanditisten als Grundlagengeschäft unter allen Gesellschaftern erfolgt.6 Die Begründung für die frühere gegenteilige Ansicht mit Hinweis auf § 41 S. 2 a. F. H G B (jetzt § 245 S. 2 HGB) und auf § 166 Abs. 1 H G B trägt demgegenüber nicht. Erstere Norm betrifft allein die öffentlichrechtlich relevante Unterzeichnung der Bilanz. Letztere regelt das Kontrollrecht, ohne etwas über die Zuständigkeiten für Gesellschaftsvertragsänderungen und andere Grundlagengeschäfte zu besagen. Eine andere Auslegung würde aus einer Norm zum Schutze der Kommanditisten eine diesen Schutz gravierend einschränkende Norm machen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung tendiert in dieselbe Richtung7, hat BGH, BB 1980,121 (122); Hopt, HGB, § 164 Rdn. 3. BGH, WM 1960, 187, O L G Hamburg, ZIP 1983, 62. * Ulmer, Die Mitwirkung des Kommanditisten an der Bilanzierung der KG, Festschrift für Hefermehl, München 1976, S. 207 (215); Hopt, HGB, § 1 6 4 Rdn. 3, § 2 4 2 Rdn. 3; Heymann/Emmerich, HGB, Berlin 1989, § 120 Rdn. 9; Schlegelberger/Martens, HGB, 5. Aufl., München 1992, § 120 Rdn. 5. 5 Schlegelberger/K. Schmidt, § 138 Rdn. 51; nach der Rechtsprechung ist Anfechtung möglich. 6 Hopt, HGB, § 164 Rdn. 3; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, § 53 III 2 c (S. 1278); Staub/Schilling, HGB, 4. Aufl., Berlin 1987, § 167 Rdn. 3; Schlegelberger/Martens, aaO, 1986, § 167 Rdn. 6; Heymann/Hom, § 164 Rdn. 3 (anders aber § 167 Rdn. 2); Staub/Hüffer, § 242 Rdn. 49; Schulze-Osterloh, BB 1980, 1402; Priester, Stille Reserven und offene Rücklagen bei Personengesellschaften, Zur Bedeutung von § 253 Abs. 4 HGB, Festschrift für Quack, Berlin 1991, S. 373 (380); alle im Anschluß an Ulmer, Festschrift für Hefermehl 1976, S. 207 (214 ff). A. A. Westermann u. a., Handbuch der Personengesellschaften, Bd. 1, Köln 1967/1991, Rdn. 1/870; BeckBilKom/Wx, 2. Aufl., München 1990, § 2 4 7 Rdn. 186 (aber mit nur einem alten Zitat); Heymann/Hom, § 167 Rdn. 2 (aber § 164 Rdn. 3) mit Nachweis früherer Rechtsprechung und älterer Beiträge z. B. Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personengesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 341 f. 7 So B G H Z 76, 338 (342) zur Teilnahme der Kommanditisten an der Wahl der Abschlußprüfer nach dem PublG; B G H Z 80, 357 (358) zur Bilanzfeststellung bei der BGBGesellschaft; in die umgekehrte Richtung, allerdings nicht ausdrücklich früher RGZ 112, 19 (25), nicht angesprochen in BGH, BB 1960, 206. 2 3

Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der O H G und K G

801

sich aber zur Frage der Beteiligung der Kommanditisten an der Bilanzfeststellung noch nicht speziell und abschließend geäußert. Eine Ausnahme macht das O L G Stuttgart. 8 3.

Unterzeichnung

Von der Feststellung ist die Unterzeichnung des Jahresabschlusses zu unterscheiden (§ 245 S. 1 H G B ) , die eine öffentlichrechtliche Pflicht des Kaufmanns bzw. sämtlicher persönlich haftender Gesellschafter ist und nicht, wie zu erwarten, nur sämtlicher geschäftsführender Gesellschafter (§ 245 S. 2 H G B ) . Zu unterzeichnen ist der festgestellte Jahresabschluß der Gesellschaft. Beim Einzelkaufmann fallen die von der Aufstellung nicht getrennte Feststellung und die Unterzeichnung zusammen. 9 II. Zulässigkeit und Grenzen der Bildung stiller Reserven bei der Personengesellschaft 1. Grundsätzliche

Zulässigkeit

a) Zunächst ist streng zwischen bilanzrechtlicher und gesellschaftsrechtlicher Zulässigkeit der Bildung von stillen Reserven zu unterscheiden. Die Einschränkungen der §§ 279 ff H G B gelten nur für Kapitalgesellschaften und sind auch nicht mittelbar auf Personengesellschaften auszudehnen. Wieweit die Befugnis zur Bildung von stillen Reserven bei Personengesellschaften geht (§ 253 Abs. 4 H G B ) , ist allerdings streitig10, aber hier nicht weiter zu untersuchen. b) Was bilanzrechtlich zulässig ist, muß jedoch noch nicht ohne weiteres auch gesellschaftsrechtlich zulässig sein. Vielmehr kommt es hier darauf an, wie weit die Geschäftsführungsbefugnis des Komplementärs reicht und welche Rechte die Kommanditisten haben." Danach ist der Komplementär im Rahmen der Ansatz- und Bewertungsmöglichkeiten einschließlich der Reservenbildung grundsätzlich ohne weiteres berechtigt, die Handelsbilanz abweichend von der Steuerbilanz und mit erheblichen Unterschieden zwischen beiden aufzustellen. Jedoch sind die Kommanditisten gesellschaftsrechtlich an der Feststellung beteiligt.12 Damit ist jedenfalls kompetenzmäßig dafür gesorgt, daß » O L G Stuttgart, Z I P 1995, 126 (128) mit i. Erg. abl. Anm. Felix, ebenda 129; abl. Anm. ferner durch Buck, D B 1995, 34, und Autenrietb, N W B 2/1995, S. 563. ' Hopt, H G B , § 245 Rdn. 1 m. w. N.; Staub/Hüffer, § 245 Rdn. 2, 5. 10 Hopt, H G B , § 253, Rdn. 25 ff; Adler/Dürig/Schmaltz (ADS), Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., Stuttgart 1995, § 253 Rdn. 570 ff, Grenze insbesondere erst bei der Willkürfreiheit, ebenda Rdn. 578. 11 Hopt, H G B , § 114 Rdn. 3, § 120 Rdn. 5, 6, 8, § 164 Rdn. 3 und die oben zu I 1 genannten Quellen. 12 O b e n I 2.

802

Klaus J. Hopt

die Interessen der Kommanditisten artikuliert und berücksichtigt werden können. Dieses Mitwirkungsrecht der Kommanditisten an der Feststellung bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, daß sie im Rahmen des damit verbundenen Grundlagengeschäftes beliebig von dem aufgestellten Jahresabschluß abweichen können. Vielmehr verbleibt es trotz dieser Mitwirkung grundsätzlich bei der Ersatzzuständigkeit und dem damit verbundenen, der Geschäftsführungsbefugnis entsprechenden Bilanzierungsermessen des Komplementärs." Von der Feststellung des Jahresabschlusses und der damit verbundenen Gewinnermittlung ist die Gewinnverwendung zu unterscheiden.14 Dazu gehört unter anderem die Bildung offener Reserven. Die Gewinnverwendung ist nicht mehr Sache des Komplementärs, sondern von vornherein die aller Gesellschafter. Offene Rücklagen können auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses zulässig sein, jedenfalls sofern es sich um notwendige Rücklagen handelt und der Gesellschaftsvertrag allgemein Vertragsänderungen mit bloßer Mehrheit erlaubt.15 2. Materiellrechtliche

Grenzen

a) Auch wenn man die grundsätzliche Zuständigkeit des geschäftsführenden Gesellschafters bzw. Komplementärs zur Aufstellung des Jahresabschlusses anerkennt, fragt sich, ob er bei der Ausübung dieser Zuständigkeit völlig frei ist oder an materiellgesellschaftsrechtliche Grenzen stößt. Im Extremfall geht es praktisch darum, ob er den Jahresabschluß auch so aufstellen darf, daß die übrigen Gesellschafter bzw. Kommanditisten „ausgehungert" werden; das Problem stellt sich aber selbstverständlich nicht erst dann. Solche Grenzen sind nicht schon deshalb überflüssig, weil die Kommanditisten nach der heute herrschenden Ansicht an der Feststellung des Jahresabschlusses mitwirken und so ihre Interessen vertreten sind. Denn bereits mit der Aufstellung setzt der Komplementär ein wichtiges Datum, und zwar mindestens tatsächlich, weil eine komplette Neugestaltung der Bilanz im Rahmen der Feststellung in aller Regel schon praktisch ausscheidet, und erst recht rechtlich, wenn der Komplementär in gewissem Rahmen ein Bilanzierungsermessen hat, an dessen Ausübung auch die Gesellschafter bei der Feststellung der Bilanz gebunden sind.16 Die Existenz solcher materiellrechtlicher Grenzen schon bei der Aufstellung des Jahresabschlusses sind mit der heute ganz überwiegenden " Unten II 3. » Unstr., Hopt, HGB, § 120 Rdn. 7, 8; Beispiel: BGH, BB 1974, 854 für die GmbH. 15 BGH, BB 1976, 948 m. Anm. Ulmer; vgl. auch BGH, BB 1974, 854 (855), aber mit einer im wesentlichen nur bilanzrechtlichen Argumentation, insbesondere Bindung von Geschäftsführer und Gesellschafterversammlung an die GoB. 16 Unten III 3, 4.

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Meinung in der Literatur zu bejahen. 17 Diese Grenzen folgen dogmatisch zwanglos aus der gesellschafterlichen Treue-, Förder- und Rücksichtspflicht, der jedes gesellschafterliche Handeln unterliegt. 18 Eines Rückgriffs auf das Entnahmerecht des § 122 H G B , das den Kommanditisten nach § 169 Abs. 1 Satz 1 H G B nicht zusteht, bedarf es nicht. U m gekehrt ist auch der Hinweis darauf, daß der Kommanditist nach § 169 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz H G B den ihm zukommenden Gewinn grundsätzlich ganz entnehmen kann 19 , aus zwei Gründen problematisch: Zum einen ist auch für § 169 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz H G B anerkannt, daß die Treuepflicht des Kommanditisten dieses Gewinnentnahmerecht ausnahmsweise beschränken kann, wenngleich auch nur vorübergehend und soweit der Gesellschaft ein schwerer, nicht wieder gut zu machender Schaden droht. 20 Zum anderen und vor allem geht es hier aber um die Vorfrage, ob es überhaupt zu einem solchen ausgewiesenen und festgestellten Gewinn kommt. b) Die konkrete Grenzziehung ist allerdings schwierig und ungeklärt, von offensichtlichen Fällen abgesehen wie dem, daß die Bilanzierung rechtsmißbräuchlich als Instrument einer Aushungerungsstrategie eingesetzt wird, um Mitgesellschafter aus der Gesellschaft hinauszudrängen.21 Einigkeit besteht nur darin, daß die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind, nämlich das Bestands- und Sicherungsinteresse der Gesellschaftier) einerseits, das in bestimmtem Umfang stille oder offene Reserven verlangt, wie andererseits das Interesse der Gesellschafter an der Partizipation am erwirtschafteten Gewinn. Ein allgemeiner Vorrang des einen oder des anderen Interesses läßt sich dabei von Gesetzes wegen nicht feststellen. Weder ist ein solcher Vorrang der Reservenbildung aus § 253 Abs. 4 H G B zu entnehmen, denn § 253 Abs.4 H G B betrifft nur die bilanzrechtliche Zulässigkeit, besagt aber nichts über die internen gesellschaftsrechtlichen Zuständigkeiten und Reservebildungs- und Gewinnausschüttungsregeln. 22 Umgekehrt ist eine Vorschrift wie § 254 Abs. 1 A k t G , die wegen der Bezugnahme auf 4 % des Grundkapitals (Nennwert) ohnehin nicht viel 17 Grundlegend Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 222, und, soweit das Problem gesehen wird, die gesellschaftsrechtliche Literatur; anerkannt aber auch von der bilanzrechtlichen Literatur, z. B. Großfeld, Bilanzrecht, 2. Aufl., Heidelberg 1990, Rdn. 231; BeckBilKom/Pankow/Lienau/Feyel, § 253 Rdn. 654. Zwischen bilanzrechtlicher Zulässigkeit und darüber hinausgehenden gesellschaftsrechtlichen bzw. -vertraglichen Bestimmungen klar trennend auch die Rechtsprechung z. B. B G H , BB 1974, 854 (855) zur GmbH. Allgemein Lutter, AcP 180 (1980) 84. " Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 222. 20 M. w. N . Hopt, H G B , § 169 Rdn. 3. 21 Z . B . ADS, §253 Rdn. 580; BeckBilKom/Pankow/Lienau/Feyel, §253 Rdn. 654; Großfeld, Bilanzrecht, Rdn. 231; auch ders., NJW 1986, 955 (957, 598). 22 Anders insoweit Priester, Festschrift für Quack, S. 390 f.

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wert ist, entgegen dem Entwurf des Bilanzrichtliniengesetzes 23 noch nicht einmal für die GmbH Gesetz geworden. Sie vermag erst recht keine Wertung für die Personengesellschaft abzugeben.24 Für die Grenzziehung nicht tauglich ist sodann der Hinweis, daß Reserven vor den Gesellschaftern nicht versteckt werden dürfen. Dieser Grundsatz, dem in der Sache voll beizupflichten ist, besagt nämlich nichts über die Bildung stiller oder offener Reserven und die jeweilige Reichweite derselben, sondern wird durch ein entsprechendes Informations- und Kontrollrecht (§§ 118,166 HGB) ohne weiteres umgesetzt.25 Auch der Versuch der Grenzziehung durch Postulierung einer bestimmten, am Jahresgewinn orientierten Mindestthesaurierung, die auf jeden Fall ermessensgerecht sein soll, ist zu rigide und entbehrt einer rechtlichen Grundlage.26 Eine äußerste Grenze nach der einen Seite wird man jedoch dort ziehen können, wo notwendige Rücklagen gebildet werden, also solche, die erforderlich scheinen, um das Unternehmen für die Zukunft lebens- und widerstandsfähig zu erhalten.27 Das impliziert allerdings eine Prognose, die zu treffen notwendigerweise ein geschäftliches Ermessen beinhaltet.28 Als mögliche Grenze nach der anderen Seite bleibt, daß die Gesellschafter jedenfalls insoweit ein beachtliches Interesse an der Gewinnausschüttung haben, als sie auch für einbehaltene Gewinne einkommenssteuerpflichtig werden. Allerdings kennt das Gesetz kein Steuerentnahmerecht neben § 122 HGB29, und daß den Gesellschaftern zumindest ein Betrag in Höhe der auf ihren Gesellschaftsanteil zu zahlenden Steuern verbleiben muß, ist gesellschaftsrechtlich nicht generell vorgeRegE BiRiLiG BTDrucks 10/317 (1983) § 42h G m b H G mit Begründung S. 112/113. A . A. Schlegelberger/Martens, § 169 Rdn. 26. 25 Priester, Festschrift für Quack, S. 383 f, im Anschluß an U. Huber, aaO, S. 336 unter Hinweis auf die Abrechnungsfunktion der Bilanz. 26 Gegen Hommelhoff, Z G R 1986, 418 (427 ff, für die GmbH 60 % des jeweiligen Jahresergebnisses als abwägungsfreie Thesaurierung) die ganz ü. L., Nachweise bei Priester, Festschrift für Quack, S. 395. 27 So die Formulierung von BGH, BB 1976, 948 (949), allerdings zu Bildung von offenen Rücklagen durch Mehrheitsbeschluß der Gesellschafter. Zur Frage der Mehrheitsentscheidung dabei auch O L G München, DB 1994, 1465 (1466). Ferner BGH, W M 1973, 844 (846) kritisch zu §§ 122, 169 HGB, die dem Eigenkapitalbedürfnis der Gesellschaft nicht gerecht werden. 28 So Ulmer, Anm. BB 1976, 950 und unten II 3. 29 Hopt, HGB, § 122 Rdn. 17; anders wohl Schlegelberger/Martens, § 122 Rdn. 11, § 169 Rdn. 19 (in Ausnahmefällen); wohl auch A. Hueck, Das Recht der O H G , 4. Aufl., Berlin 1971, § 17 III 2 (S. 249). Zur Problematik des Steuerentnahmerechts Barz, Die vertragliche Entnahmeregelung bei O H G und K G , Festschrift für Knur, München 1972, S. 25; Ganssmüller, Das Steuerentnahmerecht der Gesellschafter der O H G und K G , 1986; Gassner, Steuergestaltung und ihre Grenzen bei Familiengesellschaften, Festschrift für Ludwig Schmidt, München 1993, S. 771 (777). 23 24

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schrieben. 30 Doch wird man in vielen Fällen, vielleicht sogar im Regelfall - also u. a. wenn nicht die Reservenbildung bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung im Interesse der Gesellschaft notwendig ist - dem Gesellschaftsvertrag einen (auch stillschweigend möglichen) Gesellschafterwillen dahingehend entnehmen können, daß die Gesellschafter im Rahmen der Handelsbilanz so gestellt werden sollen, daß sie aus der sich daraus ergebenden Gewinnausschüttung die nach der Steuerbilanz anfallenden persönlichen Steuern begleichen können. 31 Insgesamt bleibt also die Interessenabwägung, die letztendlich die zuständige Tatsacheninstanz je nach den Umständen der konkreten Gesellschaft und Gesellschafter verbindlich vornimmt. 32 3. Bilanzielles

Ermessen des geschäftsführenden

Gesellschafters

a) Die soeben dargestellten materiellrechtlichen Grundsätze über Zulässigkeit und Grenzen der Bildung stiller Reserven bei der Personengesellschaft haben alle Gesellschafter zu beachten, also der geschäftsführende Komplementär bei der Aufstellung des Jahresabschlusses und alle Gesellschafter, insbesondere die Kommanditisten, bei der Zustimmung dazu im Rahmen des Beschlusses über die Feststellung des Jahresabschlusses. Dies ergibt sich aus der gesellschafterlichen Treue-, Förderund Rücksichtspflicht. 33 Dennoch legt der Vergleich mit anderen Gesellschaftsformen die Frage nahe, wer in letzter Instanz über den Inhalt der Bilanz im einzelnen, die Bilanzierungsansätze und die Bilanzierungspolitik entscheidet. Diese Frage ist durch die Bejahung eines Mitwirkungsrechts der K o m manditisten an der Feststellung des Jahresabschlusses nicht präjudiziert,

30

ADS, § 253 Rdn. 580; Hopt, H G B , § 253 Rdn. 34. Hopt, H G B , § 122 Rdn. 17; vgl. auch ADS, § 253 Rdn. 580: „in die richtige Richtung". In der Literatur wird dies teilweise bereits dem Gesetz (Treuepflicht) entnommen, so z. B. Großfeld, Bilanzrecht, Rdn. 231; den., NJW 1986, 955 (958); den., WPg 1987, 698 (707); Binz, Die G m b H & Co., 8. Aufl., München 1992, § 7 Rdn. 68; Hommelhoff, Z G R 1986, 418 (432); Priester, Festschrift für Quack, S. 394; zu § 122 H G B Schlegelbergerl Martens, § 122 Rdn. 12. Nach a. A. bedarf dies einer besonderen, allerdings häufigen und empfehlenswerten Klausel in Gesellschaftsvertrag oder Satzung, so z. B. Goerdeler, Gewinnverwendung bei der G m b H nach geltendem und künftigem Recht, Festschrift für Werner, Berlin 1984, S. 153 (162 Fn. 29); Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rdn. 1/901; wohl auch Staub/Schilling, § 169 Rdn. 8. Auch O L G München, D B 1994, 1465 (1466) betrifft nur eine dahingehende Satzungsklausel; ebenso der Hinweis in B G H , ZIP 1990, 1327 (1328), im Gesellschaftsvertrag müsse Vorsorge für eine solche Steuerentnahme getroffen werden. 32 Unten II 5. 33 Nachweise bei Hopt, H G B , § 109 Rdn. 4, 23 ff. 31

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wie ein Blick auf die Rechtslage bei der G m b H und der Aktiengesellschaft zeigt. b) Bei der GmbH haben die Gesellschafter ein Weisungsrecht gegenüber dem Geschäftsführer, denn die Feststellung des Jahresabschlusses und die Verwendung des Ergebnisses unterliegt nach § 46 Nr. 1 G m b H G der Bestimmung der Gesellschafter. Das entspricht der Aufgabenverteilung bei der GmbH. Der Geschäftsführer, der nicht Gesellschafter zu sein braucht und dies auch häufig nicht ist, ist von den Gesellschaftern zur Führung der Gesellschaftsgeschäfte angestellt. Die eigentliche Entscheidung liegt aber allein bei ihnen. c) Bei der Aktiengesellschaft sind Zuständigkeiten und Verantwortung anders verteilt. Der Vorstand hat die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). Der Vorstand stellt den Jahresabschluß auf und läßt ihn prüfen (§ 170 AktG). Die Feststellung obliegt dem Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam, indem der letztere den aufgestellten Jahresabschluß billigt (§ 172 Satz 1 AktG). Nur wenn Vorstand und Aufsichtsrat sich nicht einigen können, oder wenn sie die Feststellung der Hauptversammlung überlassen wollen, wird der Jahresabschluß von der Hauptversammlung festgestellt (§ 173 Abs. 1 AktG). Diese ist dabei nicht an den aufgestellten Jahresabschluß gebunden, sondern kann selbständig abweichen, dann allerdings mit der Folge, daß noch einmal geprüft werden muß (§ 173 Abs. 3 AktG). d) Bei der Personengesellschaft ist die Zuständigkeitsverteilung mit derjenigen bei der G m b H nicht vergleichbar. Die Geschäftsführung steht hier anders als dort dem bzw. den für die Geschäftsführung zuständigen Gesellschafter(n), nicht einem angestellten Dritten zu.34 Die Geschäftsführung steht dem geschäftsführenden Gesellschafter als persönliches Recht, verbunden mit einer entsprechenden Pflicht zu (§114 Abs. 1 HGB). Ist sie im Gesellschaftsvertrag einem oder mehreren Gesellschaftern übertragen, sind die übrigen Gesellschafter von der Geschäftsführung ausgeschlossen (§114 Abs. 2 HGB). Die nicht geschäftsführenden Gesellschafter können also die Geschäftsführung nicht gegen den Willen der Geschäftsführenden an sich ziehen. Das gilt auch bei der Feststellung des Jahresabschlusses. In der Literatur ist insoweit die Parallele zur Zuständigkeitsverteilung bei der Aktiengesellschaft gezogen worden. Wie dort dem Vorstand stehe bei der Personengesellschaft dem geschäftsführenden Gesellschaf34 Z u m Grundsatz der Selbstorganschaft m. w. N . Hopt, H G B , § 114 Rdn. 24-25, § 125 Rdn. 5. Auch wenn man diesen Grundsatz nicht als zwingend anerkennen will, bleibt doch der gesetzestypische Regelfall der der Geschäftsführung durch die Gesellschafter selbst. Dies allein ist für die Argumentation hier entscheidend.

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ter ein eigenes Bilanzierungsermessen zu. 35 Diese Parallele ist jedoch unnötig und hinkt auch, weil es bei der Personengesellschaft keinen Aufsichtsrat gibt und damit keine Kontrolle des Bilanzierungsermessens mit der möglichen Folge, daß bei Meinungsverschiedenheiten eben dann doch alle Gesellschafter (wie die Hauptversammlung bei der Aktiengesellschaft) entscheiden. Der Gesichtspunkt des persönlichen Geschäftsführungsrechts trägt bei der Personengesellschaft schon für sich. Hinzu kommt bei der Personengesellschaft ein zweiter, entscheidender Gesichtspunkt dafür, daß dem geschäftsführenden Gesellschafter ein im Kern unantastbares Bilanzierungsermessen verbleiben muß: die persönliche Haftung. Wer darüber bestimmt, wie der Jahresabschluß im einzelnen aussieht, entscheidet über die Bildung stiller und offener Reserven, die Ausschüttung und letztlich die Kapitalausstattung der Gesellschaft und beeinflußt damit zugleich maßgeblich die Risiken der persönlichen Haftung des geschäftsführenden Gesellschafters. 36 Besonders anstößig wäre dies bei der Kommanditgesellschaft, wenn nämlich die Kommanditisten etwa im Rahmen einer Mehrheitsentscheidung der Gesellschafter, ohne selbst haften zu müssen, das Haftungsrisiko des Komplementärs beeinflussen könnten. Diese Überlegung trifft aber auch bei der O H G zu, bei der die Geschäftsführung einem Gesellschafter überlassen worden ist. Die anderen können nicht über die Feststellung des Jahresabschlusses Einfluß auf die Risiken der persönlichen Haftung des geschäftsführenden Gesellschafters nehmen (auch wenn sie damit zugleich ihre eigenen Risiken dimensionieren). Danach ist festzuhalten, daß die Kommanditisten nicht beliebig von dem aufgestellten Jahresabschluß abweichen können, sondern grundsätzlich die Erstzuständigkeit und das damit verbundene, der Geschäftsführungsbefugnis entsprechende Bilanzierungsermessen des Komplementärs zu respektieren haben. 37 35

Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 219, auch Priester, Festschrift für Quack, S. 382. Dagegen will Felix, ZIP 1995, 129 (130), zwischen einfachem Bilanzierungsermessen und bilanziellen Grundentscheidungen unterscheiden und letztere allen Gesellschaftern als Grundlagengeschäft zuweisen, dazu gehöre auch die Entscheidung über eine Abweichung vom Grundsatz der Bewertungsstetigkeit; ihm folgend Autenrieth, NWB 2/1995, 563 (564). Wie das einfache und das „gebundene" bzw. „qualifizierte" Ermessen abzugrenzen sein soll („feinsinnige Differenzierung", so Autenrieth, ebenda), bleibt nicht von ungefähr offen. Tatsächlich ist diese Differenzierung nicht durchhaltbar. Auf die Größe des Bilanzeffekts kann es sicher nicht ankommen. Aber auch grundlegende und andere bilanzielle Entscheidungen lassen sich nach dem Gesetz nicht ohne Willkür trennen. Davon die Zuständigkeiten abhängig zu machen mit einschneidenden, sich oft erst nach langem Rechtsstreit herausstellenden Rechtsfolgen, ist nicht sinnvoll. 36 Zutr. Priester, Festschrift für Quack, S. 382, 390. 37 Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 218/219 und, soweit die Frage angesprochen wird, ihm im wesentlichen folgend die Literatur, z. B. Scblegelberger/Martens, § 167 Rdn. 7; Staub/Schilling, § 167 Rdn. 2; Hopt, H G B , § 163 Rdn. 3.

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c) Das gilt auch bei der GmbH & Co. Auch dort sind die Geschäftsführung und die persönliche Haftung im Regelfall Sache der Komplementär-GmbH. Daß diese vielfach nur zur Haftungsbeschränkung eingeschaltet ist, ändert daran nichts. Vielmehr ist es sachgerecht, das Bilanzierungsermessen auch hier beim Komplementär zu belassen. Das gilt nicht nur, wenn von der Steuerungsfunktion der GmbH-Anteile gezielt Gebrauch gemacht worden ist, sondern auch bei der normalen GmbH & Co.38 Die Haftungsbeschränkung bei der GmbH ist vielfältig mittelbar und teilweise sogar unmittelbar durchbrochen. Die Einflußnahme der Kommanditisten auf die Haftungsrisiken der GmbH durch Ansichziehen des Bilanzierungsermessens erscheint auch dort problematisch. Dasselbe ist sogar bei der beteiligungsgleichen GmbH & Co. anzunehmen, eine Konstruktion, mit der sich die Gesellschafter ihren Einfluß auch auf die Geschäftsführung voll sichern wollen.39 Denn nach dieser Konstruktion nehmen die Gesellschafter ihren Einfluß auf Geschäftsführung und Bilanzierung gerade nicht als Kommanditisten, sondern als Gesellschafter der GmbH wahr. 4. Zustimmungspflicht

der übrigen

Gesellschafter

Dogmatisch bedeutet die Anerkennung eines bilanziellen Ermessens des geschäftsführenden Gesellschafters der Personengesellschaft, daß die nicht geschäftsführenden Komplementäre und Kommanditisten eine Zustimmungspflicht trifft, soweit sich der aufgestellte Jahresabschluß mit seinen Bilanzansätzen, Bewertungsmethoden, Ausübung von Wahlrechten und anderen bilanziellen Entscheidungen im Rahmen des nach dem Gesetz, den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) und dem Gesellschaftsvertrag Zulässigen hält.40 Daß mit einer solchen Zustimmungspflicht in den genannten Grenzen das Bilanzierungsermessen des (geschäftsführenden) Komplementärs über die Aufstellung hinaus auch für die Feststellung rechtlich stabilisiert wird, ist nicht zu beanstanden, sondern ist die Folge der Aufgabenteilung zwischen dem geschäftsführenden und den anderen Gesellschaftern.41 Eine solche Zustimmungspflicht ist auch nichts Besonderes, sondern ergibt sich als Folge der Treuepflicht auch in vielen anderen, teilweise weit einschneidenderen Fällen, wie z. B. Zustimmung zu den ver-

38 Priester, Festschrift für Quack, S. 383 m. w. N.; a. A. Scholz/K. Schmidt, GmbHG, 8. Aufl., Köln 1995, § 46 Rdn. 48. " A. A., aber zu Recht nur halbherzig, Priester, Festschrift für Quack, S. 383. 40 Ulmer in Münchener Kommentar zum BGB, 2. Aufl., München 1986, § 721 Anm. 7; Staub/Hüffer, § 242 Rdn. 47. " Zutr. Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 220.

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schiedenen Gestaltungsklagen (§§ 17, 127, 140 HGB) und sogar zur Änderung des Gesellschaftsvertrags.42 Die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß die Wertansätze in der Bilanz sich im Rahmen des nach Gesetz, GoB und Gesellschaftsvertrag Zulässigen halten, trägt im Zustimmungsprozeß43 der Komplementär, nicht die beklagten Kommanditisten.44 Die Zustimmung kann auch stillschweigend erklärt werden, z. B. dadurch, daß die Kommanditisten, wenn ihnen der aufgestellte Jahresabschluß mitgeteilt wird, dagegen keinen Widerspruch erheben und auf diese Weise zu erkennen geben, daß sie mit der entsprechenden Feststellung einverstanden sind.45 Zu beachten ist, daß die Kommanditisten mit der wirksamen Zustimmung insoweit das Kontrollrecht nach § 166 H G B verlieren.46 5. Verfahrensrechtliche

Durchsetzung

a) Lehnen die Kommanditisten es ab, dem aufgestellten Jahresabschluß zuzustimmen und ihn auf diese Weise zusammen mit dem Komplementär festzustellen, kann der Jahresabschluß nicht festgestellt werden. Der Komplementär kann dann die Kommanditisten auf Erteilung der Zustimmung verklagen.47 Er kann dazu sogar verpflichtet sein, weil er nicht beliebig zuwarten kann. Denn er muß den Jahresabschluß innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit für das Unternehmen aufstellen und später unterzeichnen (§§ 243 Abs. 3, 245 HGB). b) Möglich ist auch umgekehrt, daß die Kommanditisten im Klagewege gegen den Komplementär vorgehen. Dabei ist jedoch genau zu unterscheiden. Ohne weiteres möglich ist eine Klage der Kommanditisten dahin, den (geschäftsführenden) Komplementär dazu zu verpflichten, den Jahresabschluß so aufzustellen, daß er sich im Rahmen des nach Gesetz, GoB und Gesellschaftsvertrag Zulässigen hält. Denn jeder Gesellschafter kann den geschäftsführenden Gesellschafter durch eine actio pro socio zur Aufstellung des Jahresabschlusses zwingen. Meinungsverschiedenheiten über die aufzustellende Bilanz und ihre einzelnen Posten 42 Z. B. BGHZ 64, 257; 68, 82 (beide zu § 140 HGB); BGHZ 44, 41; 98, 279; WM 1986, 1349 (zu Vertragsänderung); weitere Nachweise bei Hopt, HGB, § 105 Rdn. 66. 43 Unten II 5. 44 Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 209; Priester, Festschrift für Quack, S. 381, 395; Schlegelbergerl Martens, § 167 Anm. 4. 45 BGH, BB 1975, 1605 (1606); trotz anderer Grundauffassung auch Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rdn. 1/870. 46 Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 209, 224; Schlegelberger/Martens, § 167 Anm. 4. 47 Ulmer, Festschrift für Hefermehl, S. 209.

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sind dann notfalls im Klagewege gegen den bzw. die widerstrebenden Gesellschafter zu klären.48 Dagegen ist eine Klage der Kommanditisten gegen den Komplementär auf richtige Feststellung der Bilanz nicht möglich, denn diese Feststellung obliegt nicht dem Komplementär allein, sondern allen Gesellschaftern einschließlich der Kommanditisten. 49 Da auch der Komplementär an der Feststellung, die wie ausgeführt ein Grundlagengeschäft darstellt, beteiligt ist, kommt aber eine Klage der Kommanditisten gegen den Komplementär auf Mitwirkung und Zustimmung bei der Feststellung der Bilanz in Betracht. Eine Pflicht der Kommanditisten zur Erhebung einer solchen Klage ist allerdings anders als beim Komplementär kaum vorstellbar. III. Gesellschaftsvertragsklauseln 1. Zulässigkeit abweichender

Vereinbarungen

a) Gesellschaftsrechtlich sind abweichende Vereinbarungen von den oben genannten Grundsätzen im Rahmen der allgemeinen Grenzen zulässig (§ 109 H G B ) . Solche Grenzen setzt etwa die Kernbereichslehre.50 Auch Grundlagengeschäfte bedürfen nicht immer zwingend der Zustimmung aller Gesellschafter, der Gesellschaftsvertrag kann vielmehr anderes vorsehen. 51 Die Mitwirkung der nicht geschäftsführenden Gesellschafter, insbesondere der Kommanditisten, und die Zulässigkeit und Grenzen der Bildung stiller Reserven sind also grundsätzlich durch Gesellschaftsvertrag anders ausgestaltbar. So können beispielsweise die Mitwirkung der Kommanditisten in einem Beirat gepoolt werden. Die Grenzen des bilanziellen Ermessens des geschäftsführenden Gesellschafters können durch materiellrechtliche Vorgaben für die Ermessensausübung, z. B. einen besonderen Auftrag zur Reservenbildung, und durch verfahrensrechtliche Einschränkungen, z. B. Zustimmungsrecht der Kommanditisten zu größeren Investitionen, eingegrenzt werden. Den Gesellschaftern kann ausdrücklich zugesagt werden, daß sie im Rahmen der Handelsbilanz so gestellt werden, daß sie aus der sich daraus ergebenden Gewinnausschüttung die nach der Steuerbilanz anfallenden persönlichen Steuern begleichen können. Zusätzlich zu einem solchen Recht oder auch an seiner Stelle - das ist notfalls durch Auslegung zu klären - kann die Gesellschaft es über-

B G H , B B 1980,120; W M 1983, 1279; Hopt, H G B , § 164 Rdn. 3. Anders konsequent die oben I I b erwähnte frühere Literatur, die den Kommanditisten Mitwirkungsrechte auch bei der Feststellung versagt. so Urteilsnachweise bei Hopt, H G B , § 119 Rdn. 36. 51 Hopt, H G B , § 114 Rdn. 3. 48

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nehmen, die auf die Gesellschafterbeteiligung entfallenden Steuern vom Ertrag und Vermögen sowie sonstige Abgaben vorschußweise zu zahlen.52 b) Die bilanzrechtlichen Vorschriften sind dagegen grundsätzlich zwingend, sofern nicht das Gesetz selbst Ausnahmen vorsieht, wie z. B. die Ausnahmen vom Grundsatz der Bewertungsstetigkeit. Auch das Verfahrensrecht ist grundsätzlich zwingend, bestimmte Einzelheiten sind aber dispositiv.53

2.

Einheitsbilanzklauseln

a) Für die GmbH ist entschieden worden, daß der GmbH-Geschäftsführer nicht verpflichtet werden kann, die Bilanz ausschließlich nach steuerlichen Vorschriften aufzustellen.54 Diese Ansicht stützt sich auf die Vorgaben der 4. EG-Richtlinie, welche der Sache nach eine Handelsbilanz mit besonderen Gläubigerschutzvorkehrungen vorsieht, die nicht durch die Zwecke der steuerlichen Gewinnermittlung verfälscht werden darf. Das diese EG-Richtlinie umsetzende deutsche Bilanzrichtliniengesetz ist gemeinschaftskonform auszulegen.55 Das bedeutet nicht eo ipso die Unzulässigkeit der Einheitsbilanz. Denn im konkreten Fall kann es so sein, daß die von vornherein unter Berücksichtigung der steuerlichen Vorschriften aufgestellte Bilanz uneingeschränkt auch den handelsrechtlichen genügt. Das entspricht auch einer verbreiteten Bilanzierungspraxis vor allem bei kleineren und mittleren Unternehmen. Aber eine (GmbH-)Satzungsklausel, die überhaupt nur eine Einheitsbilanz zuläßt, einerlei wie die steuerrechtlichen von den handelsrechtlichen Vorschriften abweichen, wäre mit den im Lichte des EG-Rechts ausgelegten Vorschriften des 3. Buchs des H G B nicht vereinbar. b) Dasselbe soll nach der Ansicht des O L G Stuttgart für den geschäftsführenden Gesellschafter einer Personengesellschaft gelten.56 Dafür spricht, daß die allgemeinen Regeln über das Verhältnis von Handels52 Weitere Beispiele für gesellschaftsvertragliche Klauseln zur Regelung des Konflikts zwischen dem Kapitalbedürfnis der Gesellschaft und dem Gewinnentnahmerecht der Gesellschafter bei Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rdn. 1/901. " Beispiele bei Hopt, HGB, § 109 Rdn. 44-45. 54 So BayObLG, NJW 1988, 916; O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126 (128). 55 4. EG-Richtlinie vom 2 5 . 7 . 1 9 7 8 , AB1EG 1 4 . 8 . 1 9 7 8 Nr. L 222/11, Hopt, HGB, Einl 4 vor § 238. Zur Verfälschung der Handelsbilanz schon durch den bloßen Grundsatz der umgekehrten Maßgeblichkeit Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, Köln, 9. Aufl. 1993, § 2 III. Zur Handelsbilanz und Steuerbilanz (unter dem BiRiLiG) Übersicht von Döllerer, BB Beil 12/1987. 56 O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126 (128). Dagegen vehement Buck, DB 1995, 34; Auten-

rietb, NWB 2/95, 563; nur für „Satzungen" ausgesprochen bei Hopt, HGB, § 242 Rdn. 6.

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und Steuerbilanz im Grundsatz nicht auf Kapitalgesellschaften beschränkt sind, sich also eine Differenzierung insoweit zwischen der GmbH und der Personengesellschaft nicht ohne weiteres aufdrängt. Allerdings erfassen die EG-Bilanzrechtsrichtlinien nur die Kapitalgesellschaften und inzwischen auch die GmbH & Co. Doch blieb es dem nationalen Gesetzgeber unbenommen, darüber hinausgehend Personenund Kapitalgesellschaften gleichzubehandeln. Geht man davon aus, daß der deutsche Gesetzgeber insoweit keine unterschiedliche Behandlung der Personen- und Kapitalgesellschaften vorgesehen hat, stellt sich die Frage, ob zumindest für Kapitalgesellschaften Einheitsbilanzsatzungsklauseln zulässig sind. Dies berührt das Europarecht. Der Bundesgerichtshof wäre dann als letzte innerstaatliche Instanz zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofes nach Art. 177 Abs. 3 EG-Vertrag verpflichtet. Auf eine Offenkundigkeit der 4. EGRichtlinie im gegenteiligen Sinne als hier (für die GmbH) vertreten könnte sich ein deutsches Gericht nicht berufen. Denn für vernünftige Zweifel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gäben dann schon das genannte Urteil und die entsprechenden Stimmen in der Literatur Anlaß. 57 c) Die Berufspraxis der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater unterstellt bei Personengesellschaften dann, wenn der Gesellschaftsvertrag nur allgemeine Regeln zur Bilanzierung oder gar keine Aussage über die Bewertung enthält, offenbar überwiegend eine Einheitsbilanz. Das ist allerdings nur eine praktische Vereinfachung, die aber nicht die genaue Prüfung des jeweiligen Gesellschaftsvertrags und des daraus zu erschließenden Willens der Gesellschafter überflüssig macht.58 3. Klauseln über die Anwendbarkeit aktienrechtlicher Bilanzierungsvorschriften In Gesellschaftsverträgen finden sich gelegentlich Bestimmungen folgender Art: „Die Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung sind nach den Regeln eines vorsichtigen Kaufmanns unter entsprechender Anwendung der Vorschriften des Aktienrechts aufzustellen." Damit wird für die materiellen Maßstäbe der Aufstellung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung - nicht ohne weiteres auch für die innergesellschaftlichen Zuständigkeiten - auf Aktienrecht zurückgegriffen. Eine solche 57 EuGH, 6. 10. 1982, RS 283/81 CILFIT, Slg. 1982, 3415 (3430 Rdn. 16), dazu kurz Hopt, ZGR 1992, 265 (287). Allgemeiner zum Streit, ob die Mitgliedstaaten unter der 4. EG-Richtlinie ein Wahlrecht zwischen Trennung oder Verbindung von Handels- und Steuerbilanz haben oder nicht, Haller, RIW 1992, 43, 48 (i. Erg. wohl verneinend), Niessen, RIW 1992, 292 (bejahend). 58 Buck, DB 1995, 34.

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Klausel, die die Bilanzierung bei einer Personengesellschaft gesellschaftsrechtlich an die schon früher und erst recht heute strengeren Bilanzvorschriften für Kapitalgesellschaften bindet, ist zulässig. Was die Klausel im einzelnen besagt, kann bei Gesetzesänderungen seit Vereinbarung des Gesellschaftsvertrags unklar sein. Datiert der Gesellschaftsvertrag von vor 1965, sind drei Möglichkeiten denkbar: Geltung des AktG 1937 mit den bis 1957 ergangenen Änderungen, Geltung des AktG 1965 oder Geltung des insoweit an dessen Stelle getretenen Bilanzrichtliniengesetzes, d. h. der Vorschriften des 3. Buches des H G B und dort speziell der §§ 264 ff H G B für Kapitalgesellschaften.59 Das ist keine Rechtsfrage des intertemporalen Aktien- und Bilanzrechts, sondern eine Auslegungsfrage (§§ 133, 157 BGB). Die bloße Feststellung, daß der Gesellschaftsvertrag auf das Aktienbilanzrecht verweist, trägt den Schluß, damit sei das jeweilige Aktienbilanzrecht gemeint, nicht.60 Vielmehr wäre im genannten Beispiel erst festzustellen, inwieweit die Vorschriften des AktG 1965 und später die des BiRiLiG inhaltlich denen des AktG 1937 entsprechen oder davon abweichen. Wenn insoweit ein wesentlicher gesetzgeberischer Wertewandel stattgefunden hat, kann nicht ohne weiteres angenommen werden, daß der Wille der Gesellschafter bei Abschluß des Gesellschaftsvertrags dahin ging, in der Gesellschaft diesen Wertewandel mitzumachen. Ausgeschlossen ist eine solche Unterstellung jedenfalls unter denselben Gesellschaftern, die den ursprünglichen Vertrag unter dem damaligen Verständnis der Verweisung geschlossen haben. Das mag anders zu entscheiden sein, wenn ein neu eintretender Gesellschafter den Gesellschaftsvertrag mit einer Verweisung auf das neue Aktien- und Bilanzrecht verstehen darf. Die alten Gesellschafter müssen das dann so gegen sich - und das heißt dann wohl eigentlich auch unter sich - gelten lassen (§§ 133,157 BGB). 4. Klauseln über

Reservenbildung

a) Klauseln über die Reservenbildung werden zur Stärkung des Unternehmens in der Literatur und Rechtsprechung empfohlen und finden sich in der Praxis häufig. Eine typische Formulierung lautet: „Bei Aufstellung der Bilanz ist besonders darauf zu achten, daß zur Sicherung der 59 Allgemein zu Entwicklung und Unterschieden Assmann in Großkomm. AktG, Berlin 1992, Einl Rdn. 173 ff. Anders Felix, ZIP 1995, 129, offen Buck, DB 1995, 34. Die Meinung, auch ohne Änderung des Gesellschaftsvertrags führe die spezielle Bilanzierungspraxis zur Rechtsfolge, daß das Bilanzrecht des AktG 1965 gelte, so Felix, ebenda, ist dogmatisch nicht nachvollziehbar. Denn die Anwendung aktienrechtlicher Vorschriften beruht allein auf dem Gesellschaftsvertrag.

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Vermögensverhältnisse der Gesellschaft in weitgehendem Maße Reserven gebildet werden." Eine solche Klausel enthält eine Anweisung für die Aufstellung der Bilanz. Diese Anweisung richtet sich zunächst an denjenigen, der die Bilanz aufstellt und schränkt das ihm im Rahmen der Geschäftsführung zustehende Ermessen ein. Sie ist zulässig. Diese ermessensbeschränkende Wirkung behält die Klausel auch dann, wenn von ihr jahrzehntelang kein Gebrauch gemacht worden ist. Der geschäftsführende Gesellschafter kann sich auf diese Klausel berufen und muß gegebenenfalls sogar entsprechend handeln, auch wenn er erstmals von der Einheitsbilanz abgeht und demzufolge die Steuerbilanz und die von ihm aufgestellte Handelsbilanz erheblich voneinander abweichen. Anders wäre es nur, wenn die Klausel zwischenzeitig abbedungen worden wäre.61 Die Umschreibung der Klausel, Reserven seien „in weitgehendem Maße" zu bilden, gibt keine exakte Grenzziehung zwischen noch zulässiger Reservenbildung und Kernbereich des Gewinnausschüttungsrechts der Gesellschafter vor. Das ist von einer solchen Klausel auch nicht zu erwarten und unschädlich. Eine genaue Grenzziehung ist nur an den jeweiligen konkreten Buchungs- und Bilanzierungsmaßnahmen möglich. Dabei kann eine Rolle spielen, ob Privatpersonen Gesellschafter sind oder nur Unternehmen. b) Reservenbildungsklauseln, die ihrem Wortlaut nach nur für die Aufstellung gelten, bezwecken die Sicherung der Gesellschaft durch Reservenbildung. Das wird im Regelfall schon tatsächlich dadurch erreicht, daß die Aufstellung die Feststellung so weit vorbereitet, daß der aufgestellte Jahresabschluß ohne Änderungen auch festgestellt wird. Die Klausel kann aber weitergehend dahin auszulegen sein, daß auch diejenigen, die den Jahresabschluß feststellen, die Reservenbildung beachten müssen. Dann bestätigt (in Einzelfällen erweitert) die Klausel die Pflicht der übrigen Gesellschafter, einem im Rahmen des Aufstellungsermessens des geschäftsführenden Gesellschafters ordnungsgemäß aufgestellten Jahresabschluß mit einer solchen Reservenbildung auch zuzustimmen. Diese Zustimmungspflicht trifft dann auch den Beirat, wenn dessen Zustimmung der Zustimmung der Kommanditisten vorgeschaltet ist oder an die Stelle ihrer Zustimmung treten soll. c) Klauseln über die Anwendbarkeit aktienrechtlicher Bilanzierungsvorschriften und solche über Reservenbildung können sich widersprechen. Im Zweifel setzt sich die Reservenbildungsklausel als speziellere Vorschrift durch. Also auch wenn die Verweisungsklausel dahin auszu61

Unten IV 1.

Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der O H G und K G

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legen ist, daß die heute geltenden Vorschriften des Aktien- und Bilanzrechts einschließlich der §§ 279 ff HGB anzuwenden sind, folgt dann aus der Reservenbildungsklausel, daß es für Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der ursprünglichen konservativen Rechtslage bleibt, wie sie heute nur noch für die Personengesellschaft gilt. 5. Genehmigungsklauseln

etwa bei größeren

Investitionen

Klauseln, die die Geschäftsführung des geschäftsführenden Gesellschafters bzw. Komplementärs an die Zustimmung der Kommanditisten oder eines Beirats binden, sind ähnlich wie bei der Aktiengesellschaft Genehmigungsvorbehalte des Aufsichtsrats in der Praxis weithin üblich. Für die hier behandelten Fragen der Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung können Klauseln relevant werden, die z. B. größere Investitionen an die Genehmigung des Beirats binden. Diese Klauseln dürfen dann von dem Komplementär nicht dadurch unterlaufen werden, daß er für solche Großinvestitionen in der Bilanz Vorsorge trifft (und dadurch Gewinne bindet), die der Beirat nicht genehmigt hat. Diesen Sperreffekt kann eine solche Klausel auch schon dann entfalten, wenn der Beirat noch keine Absage erteilt hat, sondern noch gar nicht gefragt worden ist. 6. Einschaltung

eines

Beirats

a) Klauseln mit Genehmigungsvorbehalten für die Bilanzierung sind in der Praxis verbreitet.62 Ist die „Genehmigung des Jahresabschlusses und der übrigen Bilanzen einschließlich der für die Verteilung an die Gesellschafter maßgebenden Gewinnfeststellung" einem Beirat vorbehalten, so bedeutet das nur, daß der Jahresabschluß ohne die Genehmigung nicht festgestellt ist. Der Beirat ist aber nach dieser Klausel auf die Genehmigung gemäß der Aufstellung beschränkt. Der Beirat kann also den Jahresabschluß nicht selbst abweichend von der aufgestellten Fassung feststellen. Genehmigung im Sinne einer solchen Klausel ist nicht gleichbedeutend mit Feststellung

Typisches Beispiel: „Dem Beirat stehen insbesondere folgende Rechte zu: - Die Genehmigung des Jahresabschlusses und der übrigen Bilanzen einschl. der f ü r die Verteilung an die Gesellschafter maßgebenden Gewinnfeststellung. Der Beirat ist berechtigt, hierbei einen öffentlich bestellten Wirtschaftsprüfer auf Kosten der Gesellschaft beizuziehen. Der persönlich haftende Gesellschafter hat Anspruch auf die Beschlußfassung des Beirats hinsichtlich seiner Entlastung." " Anders Felix, ZIP 1 9 9 5 , 1 2 9 . 62

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Allerdings hat die Rechtsprechung gelegentlich die satzungsmäßige Genehmigung im Sinne der Feststellung verstanden. 64 Doch ging es dabei um die in der Satzung einer G m b H sogenannte Genehmigung der Bilanz und Gewinnverwendung durch die Gesellschafterversammlung, also letztlich nur um die Bestätigung des § 46 N r . 1 G m b H G , der die Allzuständigkeit der GmbH-Gesellschafter für die Feststellung des Jahresabschlusses und die Verwendung des Ergebnisses vorsieht. Die Zuständigkeiten bei der Personengesellschaft sind aber aus guten Gründen anders geregelt als bei der GmbH. 6 5 Auch der Vergleich mit der Aktiengesellschaft hinkt. Billigt der Aufsichtsrat den aufgestellten Jahresabschluß nicht, stellt er diesen zwar jedenfalls nicht selbst fest, aber die Feststellung ist dann Sache der Hauptversammlung (§ 173 Abs. 1 2. Alternative AktG). Aber eben dies ist bei der Personengesellschaft anders, weil dort dem geschäftsführenden Gesellschafter ein eigenes bilanzielles Ermessen gewährleistet ist.66 b) Ausnahmsweise ist es allerdings vorstellbar, daß auch die Feststellung des Jahresabschlusses dem Beirat übertragen ist. In einem solchen Fall geht dann die Aufgabe des Beirats über die übliche Beratung, Unterstützung und Überwachung der Geschäftsführung hinaus. Der Beirat übernimmt dann Aufgaben, die an sich allen Gesellschaftern zustehen. Voraussetzung ist dann aber, daß jedenfalls der persönlich haftende Gesellschafter in einem solchen Beirat Sitz und Stimme hat. Schon bei den nur mit ihrer Einlage haftenden Kommanditisten geht man zutreffend davon aus, daß diese an der Feststellung des Jahresabschlusses mitwirken müssen, weil die Bilanz als kausaler Feststellungsvertrag unter den Gesellschaftern anders als durch Rechtsgeschäft nicht Zustandekommen kann und weil es sich um ein Grundlagengeschäft handelt. Erst recht muß der Komplementär bei der Feststellung des Jahresabschlusses Sitz und Stimme haben. Allerdings hindert die Vertragsnatur der Feststellung nicht, daß die Gesellschafter über die Feststellung durch Beschluß entscheiden. Dieser Beschluß muß zwar grundsätzlich einstimmig ergehen, aber der Gesellschaftsver trag kann dafür einen Mehrheitsbeschluß vorsehen. Dabei muß jedoch der Bestimmtheitsgrundsatz und, da es sich um ein Grundlagengeschäft handelt, der Kernbereichsschutz gewahrt bleiben. 67 Sieht der Gesellschaftsvertrag unmißverständlich vor, daß der Beirat den Jahresabschluß selbst ohne Sitz und Stimme des persönlich haftenZ. B. BGH, BB 1974, 854 für eine GmbH. Oben II 3 b. " Oben II 3 c. 67 Staub/Hüffer, § 242 Rdn. 47. 64

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den Gesellschafters feststellt, ist entweder die Klausel über die Feststellungszuständigkeit des Beirats oder mindestens die Klausel über den Ausschluß des Stimmrechts des Komplementärs in einer so wichtigen, seine persönliche Haftung betreffenden Angelegenheit nichtig.68 Ein dagegen verstoßender Beiratsbeschluß wäre fehlerhaft, und das heißt im Recht der Personengesellschaften nicht nur anfechtbar wie nach §§ 243 ff AktG, sondern nichtig.69 c) Im Regelfall bedarf also bei solchen Bilanzgenehmigungsklauseln der Beirat für die Feststellung der Mitwirkung des Komplementärs, der die entsprechende Bilanz aufgestellt hat. Umgekehrt bedarf der Komplementär der Mitwirkung des Beirats, weil ohne dessen Genehmigung die Bilanz nicht festgestellt ist.70 Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Komplementär und Beirat, liegt der Letztentscheid nach den allgemeinen Regeln für Personengesellschaften nicht bei der Gesellschafterversammlung. Etwas anderes folgt auch nicht aus einer Klausel über die Anwendbarkeit aktienrechtlicher Bilanzierungsvorschriften. Denn diese betreffen typischerweise nur die materiellrechtlichen Regeln über die Aufstellung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung, aber nicht die kompetentiellen Zuständigkeiten. Denn die Aktiengesellschaft ist nach Struktur und Organzuständigkeiten mit der Personengesellschaft nicht vergleichbar.71 Soll der Jahresabschluß abweichend von der aufgestellten Form festgestellt werden, muß also der widerstrebende Beirat oder Komplementär auf Mitwirkung verklagt werden. Klagebefugt sind der Komplementär sowie mit der actio pro socio jeder einzelne Kommanditist. Der Sache nach setzen die Klauseln über die Einschaltung des Beirats jedoch diesen an die Stelle der sonst zur Mitwirkung an der Bilanzfeststellung aufgerufenen Kommanditisten.72 Daraus kann, nicht muß sich ergeben, daß der Beirat als solcher ein Klagerecht gegen den Komplementär auf Mitwirkung an der Feststellung des Jahresabschlusses hat. Eine Auslegung der Klausel dahin, daß die Kommanditisten ihr Recht zur actio pro socio an den Beirat verlieren, liegt dagegen fern.73 61

Hopt, HGB, § 119 Rdn. 13 m. w. N. " Nachweise bei Hopt, HGB, § 119 Rdn. 31, auch zu der Ansicht, Beschlüsse seien auch bei den Personengesellschaften grundsätzlich nur anfechtbar. 70 Die Behandlung des Genehmigungsrechts des Beirats als bloßes „Prüfungsrecht", so das OLG Stuttgart, ZIP 1995, 126 (128 Ii. Sp.), ist mißverständlich, zutr. aber ebenda S. 128 re. Sp.; insofern geht die Kritik von Bück, DB 1995, 34 (35), der Beirat werde zum Akklamationsorgan degradiert, fehl. 71 Oben III 3. 72 Eine solche Bestimmung ist zulässig, Hopt, HGB, § 163 Rdn. 14 m. w. N. 73 Erhaltung der actio pro socio mindestens in ihrem Kern fällt unter den Kernbereich, Löffler, NJW 1989, 2656, Hopt, HGB, § 119 Rdn. 36, Einzelheiten sind str.

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IV. Änderung der Bilanzierungspraxis

1. Festschreibung durch stillschweigende des Gesellschaftsvertrags

Änderung

Der Änderung der Bilanzierungspraxis kann zunächst schon entgegenstehen, daß der Gesellschaftsvertrag durch die langjährige Handhabung der Bilanzierung in einem bestimmten Sinne stillschweigend geändert worden ist. Die übliche Schriftformklausel im Gesellschaftsvertrag steht dem nicht entgegen. Die Rechtsprechung 74 nimmt nämlich eine Auslegungsregel dahin an, daß eine Schriftformklausel in Gesellschaftsverträgen wegen des gemeinsamen Bestandsinteresses und der Häufigkeit von Gesellschaftsvertragsänderungen in der Regel nur Klarstellungsfunktion habe. Auch wenn man mit der Literatur eine solche Auslegungsregel ablehnt75, ergibt doch die Auslegung meistens, daß die Schriftformklausel kein Gültigkeitserfordernis aufstellen sollte.76 In Rechtsprechung und Lehre ist heute anerkannt, daß bei langjähriger Übung einer bestimmten Gesellschaftspraxis eine stillschweigende Änderung des Gesellschaftsvertrags anzunehmen sein kann77, und daß eine 20 Jahre dauernde faktische Abweichung vom Gesellschaftsvertrag dessen einvernehmliche Änderung vermuten lassen und zu einer Beweislastumkehr führen kann.78 Aber das gilt nicht schlechthin schon bei jeder langjährigen Übung. Vielmehr kommt es immer auf den Einzelfall an, also darauf, ob nach den jeweiligen Umständen die durch die Übung begünstigten Gesellschafter aus der Übung auf einen Vertragsänderungswillen der übrigen Gesellschafter zu ihren Gunsten schließen durften. Der entscheidende Punkt ist also keineswegs, ob die Begünstigten auf den Fortbestand der langjährigen Übung vertrauen durften, sondern umgekehrt, ob diejenigen, zu deren Ungunsten von dem ursprünglich im Gesellschaftsvertrag Vereinbarten abgewichen wird, sich an dieser Übung rechtlich verbindlich und ein für allemal festhalten lassen müssen (§§ 133, 157 B G B ) . Eben dieser nach außen erkennbare Wille sämtlicher Gesellschafter, eine langjährige Übung zu „zementieren", muß festgestellt werden. Das ist bei so einschneidenden Praktiken wie solchen zur

Z. B. BGHZ 49, 365. So die heute h. L., Nachweise bei Hopt, HGB, § 105 Rdn. 63. 76 Wohl nur mißverständlich anders OLG Stuttgart, ZIP 1995, 126 (127). 77 BGH, WM 1967,1099. 78 BGH, NJW 1966, 826, WM 1973, 846, 1978, 301, OLG München, DB 1994, 1465, Hopt, HGB, § 105 Rdn. 62, Wedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, München 1980, § 3 II 2 (S. 171/172). Anders zutr. für Publikumsgesellschaft BGH, NJW 1990, 2684. 74

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Bilanz, Reservenbildung und Gewinnausschüttung bei der O H G und KG

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Gewinnausschüttung und Reservenbildung problematisch.79 Wenn tatsächlich unterschiedliche Meinungen der Gesellschafter zur Bilanzierung bestanden haben, kommt auch die dogmatisch von der Vertragsänderung zu unterscheidende Vertrauenshaftung auf Grund langjähriger Übung nicht in Betracht.80 2. Bewertungsstetigkeit:

Grundsatz und

Ausnahmen

a) Der Grundsatz der Bewertungsstetigkeit (materielle Bilanzkontinuität) ist in § 252 Abs. 1 Nr. 6 H G B geregelt. Er besagt, daß die auf den vorhergehenden Jahresabschluß angewandten Bewertungsmethoden beibehalten werden sollten. Der Grund dafür ist ein bilanzieller; die Jahresabschlüsse verschiedener Geschäftsjahre sollen miteinander vergleichbar sein.81 Anders als für die in § 252 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 H G B niedergelegten Grundsätze, die als Mußvorschriften formuliert sind, handelt es sich hier um eine bloße Sollvorschrift, von der aber nach Abs. 2 ebenso wie von Abs. 1 Nr. 1 bis 5 doch nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Soweit es um die Bildung von stillen Reserven geht, wie bei Personengesellschaften nach § 253 Abs. 4 H G B zulässig82, ist zu bemerken, daß die Literatur § 252 Abs. 1 Nr. 6 H G B auf die Abschreibungen nach § 253 Abs. 4 H G B nicht zur Anwendung bringen will.83 b) Auf jeden Fall kann aber nach Abs. 2 von diesem Grundsatz wie von allen anderen Grundsätzen des Abs. 1 in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden. Dazu, in welchen Fällen ein solcher begründeter Ausnahmefall anzuerkennen ist, gibt es in der Literatur einen langen Katalog. Zu nennen sind etwa eine grundlegend andere Einschätzung der Unternehmensentwicklung84, oder eine Änderung der Unterneh-

79 Das O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126 (127), hat diesen Änderungswillen unter Hinweis auf Vorgänge bei der Bilanzfeststellung in den Jahren 1972 und 1982. 80 Zu einer solchen Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, München 1971, S. 383 ff, im übrigen ebenda S. 386: eindeutig Ausnahmecharakter, bloße langjährige Übung allein kann niemals ausreichen. " BeckBilKomm/Budde/Geißler, § 2 5 2 Rdn. 55; ADS, § 2 5 2 Rdn. 103; Großfeld, Bilanzrecht, Rdn. 79; Claussen/Korth in Kölner Komm, zum AktG, 2. Aufl., Köln 1990, § 252 Rdn. 33. 82 Reichweite wie bereits erwähnt str., Hopt, HGB, § 2 5 3 Rdn. 25 ff; ADS, § 2 5 3 Rdn. 570 ff. " ADS, § 252 Rdn. 105 m. w. N., mit der Begründung, die Vornahme der nur auf vernünftiger kaufmännischer Beurteilung beruhenden Abschreibungen nach § 253 Abs. 4 H G B sei an keine bestimmte Methode gebunden. 84 Str., bejahend Hopt, HGB, § 252 Rdn. 19; BeckBilKomm¿Budde/Geißler, § 252 Rdn. 61; dagegen wohl verneinend Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 15. Aufl., München 1988, § 42 Rdn. 259.

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menskonzeption durch Wechsel des Management. 85 Als selbstverständlich wird angesehen, daß als Ausnahme all diejenigen Fälle gelten müssen, in denen die Änderung auf (zwingenden) gesetzlichen Vorschriften beruht.86 Dasselbe muß aber auch dann gelten, wenn der Gesellschaftsvertrag bestimmte Verfahrensweisen oder Grundsätze vorsieht und diese irrtümlich oder aus anderen Gründen bisher nicht beachtet worden sind. Der Grundsatz der Bewertungsstetigkeit kann das Unternehmen nicht dahin binden, gesetzliche oder gesellschaftsvertragliche Vorschriften im bloßen Interesse der Kontinuität zu mißachten.

3. Recht auf

Übergangsregelungen

Allerdings folgt aus der gesellschafterlichen Treuepflicht, die das gesamte Verhalten der Gesellschafter zur Gesellschaft und untereinander beherrschend prägt87, daß die Änderung einer langjährigen Bilanzierungspraxis nur unter Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen und Erwartungen der Beteiligten zulässig ist. Der geschäftsführende Gesellschafter, der den Jahresabschluß aufstellt, darf danach die an sich zulässige Änderung der Bilanzierungspraxis nicht überraschend, abrupt und auf einmal vornehmen, sondern muß mit Rücksicht auf die Kommanditisten für einen gleitenden Ubergang sorgen. Darauf haben diese einen Rechtsanspruch. 88 Eine allgemeine Aussage, wie dieser gleitende Übergang auszusehen hat, ist nicht möglich. Die gesellschafterliche Treuepflicht zeichnet sich gerade durch ihre besondere Adaptabilität im Hinblick auf den konkreten Fall und auf die jeweiligen stärkeren oder schwächeren Interessen und Erwartungen aller Beteiligten aus. Denkbar sind Ubergangsregelungen dahin, daß die Änderungen nach Umfang und Jahresabschlüssen gestaffelt vorgenommen werden, also z. B. derart, daß die Differenz des Jahresabschlusses zwischen Steuer- und Handelsbilanz für die Berechnung des Gewinnausschüttungsanspruches beim ersten Mal nur zur Hälfte und dann voll oder auch degressiv gestreckt über mehr als ein Jahr abgebaut wird. Es kommen aber auch vielfältige andere Gestaltungen in Betracht, auf die sich die Parteien einigen könnten, z. B. ein außergewöhnliches Entnahmerecht oder Verzinsung von nicht zu den Kapitalanteilen gehörenden Konten.89 »5 BeckBilKomm/Budde/Geißler, § 252 Rdn. 61, str. »6 BeckBilKomm/Budde/Geißler, § 252 Rdn. 60. 87 BGHZ 30, 201; 44, 40; 64, 257; 68, 82; weitere Einzelheiten bei Hopt, HGB, § 109 Rdn. 23-28, K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 20 IV. 88 Zutr. BGH (oben Fn. 1); auch schon O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126 (128), allerdings allgemeiner unter Berufung auf Treu und Glauben (§ 242 BGB). 89 Dazu 'Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rdn. 1/901.

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Aus der Treuepflicht eine Pflicht des Komplementärs ableiten zu wollen, die Änderung einer langjährigen Bilanzierungspraxis stets erst anzukündigen, d. h. den anstehenden Jahresabschluß noch nach der bisher befolgten Übung aufzustellen, kann dagegen nicht angenommen werden.90 Solche Ankündigungspflichten würden bestehende Rechte, für deren Ausübung grundsätzlich gerade keine Fristen vorgesehen sind, zu sehr einschränken. Wenn ein solches Recht besteht, muß es grundsätzlich auch sofort geltend gemacht werden können.91 Zusammenfassung I. Aufstellung, Feststellung und Unterzeichnung des Jahresabschlusses sind auch bei der Personengesellschaft streng zu trennen. Die Aufstellung ist Sache des geschäftsführenden Gesellschafters. An der Feststellung, die ein Grundlagengeschäft darstellt und rechtlich als kausaler Feststellungsvertrag anzusehen ist, wirken die Kommanditisten mit. Die Unterzeichnung ist öffentlichrechtliche Pflicht und hat durch alle persönlich haftenden Gesellschafter zu erfolgen. II. Hinsichtlich der Zulässigkeit und Grenzen der Bildung von stillen Reserven ist streng zwischen Bilanz- und Gesellschaftsrecht zu unterscheiden. Das Gesellschaftsrecht kann gegenüber dem Bilanzrecht engere, aus der Treu-, Förder- und Rücksichtspflicht folgende materiellrechtliche Grenzen setzen. Das Gesetz kennt kein Steuerentnahmerecht neben § 122 H G B , aber es besteht ein beachtliches Interesse der Gesellschafter daran, daß die Handelsbilanz so auf- und festgestellt wird, daß die Bezahlung der persönlichen Steuern auf Grund der Beteiligung sichergestellt ist. Die konkrete Grenzziehung kann nur durch Interessenabwägung am konkreten Fall erfolgen. Der geschäftsführende Gesellschafter der Personengesellschaft (OHG, KG, G m b H & Co) hat ein bilanzielles Ermessen, das die übrigen Gesellschafter zu respektieren haben. Das entspricht nicht nur seinem persönlichen Geschäftsführungsrecht. Ein entscheidender weiterer Gesichtspunkt für dieses Bilanzierungsermessen ist vielmehr die persönliche Haftung des Gesellschafters. Die übrigen Gesellschafter trifft danach 90 Zutr. O L G Stuttgart, ZIP 1995, 126 (128). Anders die Vorinstanz, die einen zeitlichen Vorlauf einer solchen Ankündigung bis zu ihrer Verwirklichung von mindestens 1 '/2 Jahren für notwendig gehalten hatte. " Vgl. die entsprechende Problematik bei der mangels anderer Absprache jederzeit möglichen ordentlichen Kündigung z. B. von Darlehensverträgen. Grenzen folgen dort aus Gesetz durch das Verbot der Kündigung zur Unzeit (§§ 627 Abs. 2, 671 Abs. 2, 675 Halbsatz 2 BGB analog). Die von einzelnen Gerichten zusätzlich postulierte Pflicht zur Vorankündigung wird in der Literatur abgelehnt, Hopt/Miilbert, Bankvertragsrecht, Berlin 1989, § 609 Rdn. 24.

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eine Zustimmungspflicht, soweit sich der aufgestellte Jahresabschluß mit seinen Bilanzansätzen, Bewertungsmethoden, Ausübung von Wahlrechten und anderen bilanziellen Entscheidungen im Rahmen des nach dem Gesetz, den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) und dem Gesellschaftsvertrag Zulässigen hält. III. Gewinnausschüttung und Reservenbildung können bei der Personengesellschaft im Rahmen bestimmter Grenzen wie etwa des Kernbereichsschutzes durch Gesellschaftsvertragsklauseln abweichend vom Gesetz geregelt werden. - Die Zulässigkeit von Einheitsbilanzklauseln ist auch bei der Personengesellschaft umstritten. - Klauseln über die Anwendbarkeit aktienrechtlicher Bilanzierungsvorschriften werfen häufig schwierige Auslegungsprobleme auf. Sind die in Bezug genommenen Vorschriften seit Abschluß des Gesellschaftsvertrags geändert worden, gelten die neuen Vorschriften, außer wenn ein grundlegender Wertewandel stattgefunden hat (§§ 133, 157 BGB). In aller Regel ist Verweisung nur auf materiellrechtliche Regeln des AktG, nicht auch auf Zuständigkeitsregeln gewollt. - Klauseln über die Reservenbildung schränken das bilanzielle Ermessen des geschäftsführenden Gesellschafters ein. - Genehmigungsklauseln etwa bei größeren Investitionen sind häufig. Der geschäftsführende Gesellschafter darf sich über sie nicht durch Ausübung seines bilanziellen Ermessens hinwegsetzen. Häufig ist ein Beirat eingeschaltet. Die nach dem Gesellschaftsvertrag vorgesehene Genehmigung des Beirats ist nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Feststellung. Das ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn der geschäftsführende Gesellschafter im Beirat zwar Sitz, aber keine Stimme hat; ist ausdrücklich das Gegenteil vorgesehen, verstößt der Stimmrechtsentzug gegen den Kernbereichsschutz. Müssen nach dem Gesellschaftsvertrag der geschäftsführende Gesellschafter und der Beirat zur Feststellung des Jahresabschlusses zusammenwirken und können sie sich nicht einigen, entscheidet nicht wie bei der Aktiengesellschaft die Gesellschafterversammlung (dann je nachdem mit Mehrheit), sondern letztendlich das Gericht auf Klage des geschäftsführenden Gesellschafters oder der actio pro socio eines anderen Gesellschafters. IV. Die Änderung einer Bilanzierungspraxis führt häufig zu Streit. Sie ist nur einvernehmlich möglich, wenn kraft langjähriger Übung der Gesellschaftsvertrag stillschweigend geändert worden ist oder eine dahingehende Vermutung nicht widerlegt werden kann. Der Grundsatz der Bewertungsstetigkeit wird durch Ausnahmen durchbrochen und zwingt nicht zur Mißachtung von gesetzlichen oder gesellschaftsvertraglichen Bestimmungen im bloßen Interesse der Kontinuität. Zulässige Änderungen sind durch Übergangsregeln für die betroffenen Gesellschafter verträglicher zu gestalten.

Eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung Rechtsfortbildung durch die „Lagergrundstück"-Urteile des Bundesgerichtshofs

GÖTZ HUECK

I. Einleitung

Die folgenden Betrachtungen seien Walter Odersky gewidmet, zuvörderst und vor allem dem Freund in herzlicher Verbundenheit, dann aber gleichermaßen dem angesehenen Wissenschaftler und erfolgreichen akademischen Lehrer, dem hohen Richter. Das dafür gewählte Thema soll nicht nur dieser Stellung Rechnung tragen, sondern vor allem auch anknüpfen an sein bei aller bewundernswerten Vielseitigkeit stets besonders ausgeprägtes wissenschaftliches Interesse am Gesellschaftsrecht, das bereits in seiner herausragenden Dissertation zum Recht der Einmanngesellschaft Ausdruck gefunden und auch seine Lehrtätigkeit wesentlich geprägt hat. *

1. Obwohl die bemerkenswerte Aktivität des Gesetzgebers gegen Ende der abgelaufenen 12. Legislaturperiode des Bundestages neben anderen Bereichen auch das Gesellschaftsrecht legislativ mit einem wahrhaften Innovationsschub bedacht und so zugleich den Erörterungen in der gesellschaftsrechtlichen Literatur, nach ausgiebiger Diskussion schon im Vorfeld, nun auch weiter die aktuelle Hauptrichtung gewiesen hat, soll hier dennoch, nicht zuletzt, um dem besonderen Anlaß gerecht zu werden, der Blick auf das weite, nicht minder aktuelle Feld der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelenkt werden. In gewissem Sinn als Kontrapunkt zur offenkundigen Innovation durch den vom Gesetzgebungsauftrag getragenen energischen „Federstrich des Gesetzgebers" ist das gleichmäßige Fortschreiten der Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein eher verhaltener, meist sich schrittweise entfaltender kontinuierlicher Prozeß einer subtilen, gewiß nicht weniger wichtigen und wirkungsvollen Form rechtlicher Innovation. Das gilt bereits für die Auslegung bei Anwendung von, vor allem auch neuen, Normen - insoweit gerade auch für die eingangs apostrophierte legislatorische Innovationsflut, die mit verfahrensbedingter Zeitverschiebung alsbald auch die höchstrichterliche Rechtsprechung erreichen wird das gilt aber naturgemäß mehr noch für den sensiblen Bereich der richter-

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Götz Hueck

liehen Rechtsfortbildung, die zwar nicht ausschließlich, doch in besonderem Maße den Obersten Bundesgerichten als eine ihrer vornehmsten Aufgaben anvertraut ist. Hierauf soll im folgenden die Aufmerksamkeit gerichtet werden, allerdings nicht erneut auf die vielbehandelten grundlegenden Fragen nach der - unbestreitbaren und heute wohl unbestrittenen - Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung und nach ihren Grenzen, deren präzise Bestimmung auch jetzt noch jedenfalls in Randbereichen Schwierigkeiten bereitet1. Vielmehr erscheint es durchaus reizvoll, einmal das Vorgehen des höchsten Zivilgerichts, hier des für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats des BGH, im konkreten Regelungszusammenhang zu verfolgen, die behutsame, nicht immer, doch typischerweise in mehreren Entscheidungsschritten und nach guter Tradition unter Berücksichtigung auch kritischer Stimmen in der Literatur vollzogene Ausformung einer Rechtsfortbildung nachzuzeichnen und dabei zugleich deren Ergebnisse in ihrer Bedeutung für einen bestimmten Fragenkomplex materiellrechtlich zu würdigen. Gerade auch die Rechtsprechung der letzten Jahre und Jahrzehnte zum Gesellschaftsrecht ist reich an - meist als geglückt zu bezeichnender - Rechtsfortbildung 2 . Sie hat ganz überwiegend, wenn schon nicht stets von vornherein, so doch am Ende mehrheitliche, nicht selten nahezu einhellige Zustimmung in der Literatur gefunden und wiederholt auch den Gesetzgeber zu kodifikatorischer Übernahme veranlaßt. Erfaßt wurden davon fast alle Bereiche des Gesellschaftsrechts 3 , relativ geringfügig allerdings das Recht der BGB-Gesellschaft; im übrigen aber seien genannt: im Personengesellschaftsrecht etwa die strenge Einschränkung vertraglicher Ausschlußklauseln, ebenso allzu rigider Abfindungsklauseln, beides rechtsfortbildend dann auch auf die GmbH übertragen, ferner die Begrenzung der Forthaftung ausgeschiedener Gesellschafter, die Sonderrechtsnachfolge in Beteiligungen im Erbfall; - im ' Allgemein und grundsätzlich zur richterlichen Rechtsfortbildung statt vieler Latenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, Kapitel 5, S. 366 ff; ferner etwa, gerade mit Blick auf die Rechtsfortbildung durch den BGH, Hesselberger, Entwicklung, Grenzen und Gefahren richterlicher Rechtsfortbildung, Festschrift Kellermann, 1991 S. 153 ff; weitere Angaben bei den Genannten, vgl. auch nachfolgend Fn. 2 und 3. 1 Dazu ZGR-Symposion Richterliche Rechtsfortbildung im Gesellschaftsrecht, ZGR 1988, 293 ff mit Beiträgen zum Grundsätzlichen und zu besonders wichtigen Einzelfragen von Seidl S. 296 ff, Wank S. 314 ff, Zöllner S. 392 ff, von Gerkan S. 441 ff, Hommelboff S. 460 ff und Rümker S. 494 ff; die beiden letzteren gerade auch zur Entwicklung des Rechts des Eigenkapitalersatzes. 3 Kritisch zusammenfassend mit überwiegend positivem Ergebnis Ulmer, Richterrechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht 1971-1985, Heidelberg 1986; auch Kühler, Die Autorität der Sachnähe, Festschrift Stimpel, 1985 S. 3 ff; mit deutlich kritischer Tendenz etwa Rehbinder, Richterlicher Aktivismus im Personengesellschaftsrecht und Kautelarjurisprudenz: Ist eine Koexistenz möglich?, Festschrift Stimpel, 1985 S. 47 ff; - vgl. im übrigen auch Fn. 2.

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Grenzbereich zu den Kapitalgesellschaften die Sonderregeln für die Publikums-KG, ferner vor allem das Recht der GmbH & Co. KG; - im GmbH-Recht besonders das, inzwischen auch für die A G übernommene, Recht der Vorgesellschaft mit der Abkehr vom Vorbelastungsverbot, weiter etwa Ausschluß und Austritt von Gesellschaftern aus wichtigem Grund in Anlehnung an die entsprechenden Normen für Personenhandelsgesellschaften, Gläubigerschutz durch Bindung eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen und nicht zuletzt die gegenüber dem Aktienrecht eigenständigen Regeln für den GmbH-Konzern; - im Aktienrecht z. B. der in verschiedenen Richtungen verstärkte Minderheitsschutz, die differenzierte Ausformung von Strukturen für den Aufsichtsrat und Einzelheiten zur Rechtsstellung seiner Mitglieder, auch hier die Fortentwicklung des Rechts der verbundenen Unternehmen; - die beliebig gewählten Beispiele könnten vielfältig vermehrt werden. 2. Der Betrachtung der Vorgehensweise des Gerichts in einem abgrenzbaren konkreten Zusammenhang mag die erst jüngst im Grundsätzlichen zu einem überzeugenden Abschluß gebrachte Rechtsfortbildung zur eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung dienen, die der II. Senat des B G H seit 1989 in vier Entscheidungen entwickelt hat, die plakativ unter der Bezeichnung Lagergrundstück-Urteile zusammengefaßt werden4. Der Sache nach handelt es sich um eine zwar recht spezielle, aber gerade in neuerer Zeit besonders im Hinblick auf zahlreiche Betriebsaufspaltungen, doch keineswegs nur für diese, aktuelle und wichtige Materie. Die praktische Bedeutung und zugleich ein ausgeprägtes Interesse an der dogmatischen Bewältigung der Problematik spiegeln sich in einer Fülle vielfältig divergierender Äußerungen in der Literatur wider5, die das besondere Gewicht der rechtsfortbildenden Entschei4 Urteil vom 16. 10. 1989 - II ZR 307/88 - B G H Z 109, 55, Lagergrundstück I; - Urteil vom 14. 12. 1992 - II ZR 298/91 - B G H Z 121, 31, Lagergrundstück II; - Urteil vom 11. 7. 1994 - II ZR 146/92 - B G H Z 127, 1, Lagergrundstück III; - Urteil vom 11. 7. 1994 II ZR 162/92 - B G H Z 127, 17, Lagergrundstück IV. 5 Ausführliche Stellungnahmen sind selbstverständlicher Inhalt der neueren Kommentare, Lehr- und Handbücher zum GmbH-Recht, so beispielsweise: Hachenburg/Ulmer, GmbHG, 8. Aufl. 1991 § 32a,b Rdn. 105 ff mit insgesamt positiver Wertung; Scholz/ K. Schmidt, GmbHG, 8. Aufl. 1993 §§32a, 32b Rdn. 106 ff, grundsätzlich ablehnend (Rdn. 111 ff); beide mit Ubersichten zur sonstigen Literatur; - aus dieser, teils vor den Entscheidungen des B G H (vorausgehend Fn. 4), teils sie kritisch begleitend, exemplarisch etwa Bäcker, ZIP 1989, 681; Brandes, Z G R 1989, 244; Dry gala, Der Gläubigerschutz bei der typischen Betriebsaufspaltung, 1991; ders., BB 1992, 80; Fabritius, Die Überlassung von Anlagevermögen an die GmbH durch Gesellschafter, 1988; Hueck, Z G R 1989, 216; Knobbe-Keuk, B B 1984, 1; dies., Festschrift Kellermann, 1991 S. 227; Priester, Gebrauchsüberlassungsverträge im Kapitalersatzrecht, in; Priester/Timm (Hrsg.), Abschied von der Betriebsaufspaltung?, 1990, RWS-Forum 5, S. 1; K. Schmidt, ZIP 1990, 69; ders., ZIP 1993, 161; Ulmer, Festschrift Kellermann, 1991 S. 485; Wiedemann, ZIP 1986, 1293.

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düngen sinnfällig unterstreicht. Deren Aufeinanderfolge ist für das schrittweise - hier übrigens, wie zu zeigen ist, zwar zielstrebige, doch keineswegs ganz geradlinige - Vorgehen des Gerichts im Dialog mit der begleitenden, vielfach kritischen Literatur exemplarisch und daher für die beabsichtigte Betrachtung besonders geeignet. Nebenbei sei daran erinnert, daß das Recht des Kapitalersatzes, dem hier ein spezieller Ausschnitt entnommen wird, insgesamt ursprünglich praeter legem durch gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung entstanden ist in der oben erwähnten Rechtsprechung des B G H zu den eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen6, gestützt auf Grundprinzipien der Kapitalbildung und -erhaltung und unter Heranziehung von §§ 30, 31 GmbHG. Die spätere Übernahme durch den Gesetzgeber mit der GmbH-Novelle von 19807 in §§ 32a, 32b G m b H G ist bekanntlich unvollkommen geblieben und hat, erneut rechtsfortbildend praeter legem, zur Aufrechterhaltung des weitergreifenden Inhalts der Rechtsprechung durch den B G H geführt8 und damit zum Nebeneinander von Gesetz und fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätzen im Kapitalersatzrecht9. Wiederum rechtsfortbildend, nunmehr aber gesetzesimmanent durch Analogie, wirken die hier zu behandelnden Entscheidungen zur Nutzungsüberlassung, indem sie gestützt auf § 32a Abs. 3 G m b H G die Kapitalersatzbindung für Gesellschafterdarlehen entsprechend auf wirtschaftlich vergleichbare Nutzungsüberlassungen erstrecken. Dafür müssen dann folgerichtig neben § 32a GmbHG auch die richterrechtlich fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätze Geltung beanspruchen. So bietet sich insgesamt ein komplexes Bild aufeinander aufbauender und ineinandergreifender Rechtsfortbildungen, die eine partielle gesetzliche Regelung umschließen.

6 Grundlegend die Entscheidung im sog. Lufttaxi-Fall B G H Z 31, 258, 263 ff, danach in ständiger Rechtsprechung. 7 Gesetz zur Änderung des GmbHG und anderer handelsrechtlicher Vorschriften vom 4. 7 . 1 9 8 0 (BGBl. IS. 836). 8 Ausführlich und grundlegend B G H Z 90, 370, 376 ff, seither ständige Rechtsprechung und nahezu einhellige Meinung in der Literatur, vgl. nur Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 14 f, 158 ff; Hueck, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 16. Aufl. 1996 § 32a Rdn. 72 ff, insbesondere 74. - Eingehende Würdigung unter dem Gesichtspunkt richterlicher Rechtsfortbildung bei Hommelhoff, Z G R 1988, 460, besonders 478 ff (oben Fn. 2) sowie Kübler, Festschrift Stimpel, 1985 S. 3 (oben Fn. 3). 9 Auch dazu statt vieler Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 160; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) Rdn. 74 a. E.; Lutter/Hommelhoff GmbHG, 14. Aufl. 1995 §§ 32a/b Rdn. 1; - gerade auch hierzu vor allem Kübler, auch Hommelhoff jeweils aaO (Fn. 8 a. E.).

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II. Ausgangslage 1. Die Überlassung von Gegenständen des Anlagevermögens durch Gesellschafter an ihre Gesellschaft ist, gerade auch bei den hier interessierenden, vorwiegend mittelständischen Unternehmensformen der G m b H und G m b H & Co. K G , seit jeher geläufige und vielfach geübte Praxis. Gemeint ist damit in diesem Zusammenhang primär die Überlassung außerhalb gesellschaftsvertraglicher Verpflichtungen zu Sacheinlagen quoad usum. Sie erfolgt wie die Darlehensgewährung als Drittgeschäft zwischen Gesellschafter und Gesellschaft, meist miet- oder pachtweise, jedenfalls überwiegend gegen Entgelt, viel seltener unentgeltlich. Gleichfalls seit langem und in etwas jüngerer Zeit deutlich zunehmend finden sich Nutzungsüberlassungen größeren Stils im Rahmen von Betriebsaufspaltungen 10 durch Überlassung des gesamten Anlagevermögens oder doch wesentlicher Teile desselben von einem Unternehmen an ein oft eigens zu diesem Zweck gegründetes anderes. Die Kautelarpraxis hält dafür zahlreiche Varianten bereit, so die Aufspaltung in Besitz- und Betriebsgesellschaft, erstere meist Personengesellschaft, letztere regelmäßig G m b H oder G m b H & Co. K G , um nur das wichtigste, am weitesten verbreitete Modell zu nennen. Dieser Vorgang ist stets entgeltlich, auch hier typischerweise, doch nicht notwendig, in Form von Pacht oder Miete. Insgesamt sind die Gestaltungsmöglichkeiten sehr vielfältig. Die Motive der Beteiligten sind es nicht minder; sie reichen von steuerlichen Erwägungen über organisatorische Maßnahmen wie Dezentralisierung, Standortwahl und anderes bis zu wirklichen oder vermeintlichen zivilrechtlichen Vorteilen, dies vor allem zur Risikobegrenzung, also besonders unter Haftungsgesichtspunkten. In dieser Situation hat die fortschreitende Entwicklung des Rechts der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen hin zu einem differenzierteren und zugleich weiter greifenden System eines allgemeinen Kapitalersatzrechts im Laufe der Zeit zwangsläufig zu Erwägungen über eine Einbeziehung auch der Nutzungsüberlassung geführt. Vor allem seit der sehr allgemein gehaltenen gesetzlichen Regelung in § 32a G m b H G , dort insbesondere in Absatz 3, stellte sich die Frage ganz dringlich, ob und inwieweit nicht nur die Darlehensgewährung durch Gesellschafter, sondern auch eine Bereitstellung von Sachmitteln zur Nutzung der Eigen-

10 Die hier behandelten Fälle der Betriebsaufspaltung durch schuldrechtliche Nutzungsüberlassung sind von den nunmehr in §§ 123 ff U m w G geregelten drei Formen der gesellschaftsrechtlichen Spaltung zu unterscheiden, für die gerade der dingliche Vermögensübergang wesentlich ist. Immerhin können daneben oder als Folge zusätzlich schuldrechtlich wirkende Nutzungsüberlassungen hinzukommen; sie sind aber vor allem auch weiterhin wie bisher selbständig ohne umwandlungsrechtlichen Zusammenhang möglich und werden in dieser Form auch künftig erhebliche praktische Bedeutung haben.

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kapitalbindung im Krisenfall zu unterwerfen sei. Die eindeutig in § 32a GmbHG bereits in Absatz 1 angelegte Erfassung echter Sachdarlehen im Sinn von § 607 Abs. 1 BGB als kapitalersetzend 11 schien einen Hinweis zu geben, doch wurde alsbald der fundamentale Unterschied zwischen Darlehenshingabe jeder Art und Nutzungsüberlassung erkannt: der dingliche Ubergang des Darlehensgegenstands in das Gesellschaftsvermögen findet bei der Nutzungsüberlassung keine adäquate Entsprechung. Ihr Gegenstand mag zwar in den Besitz der Gesellschaft übergehen, die dingliche Zuordnung zum Vermögen des Uberlassenden, bei Sachen also in der Regel dessen Eigentum, wird aber durch die Überlassung nicht berührt. Daraus ergibt sich für die Anwendung von Kapitalersatzrecht auf Nutzungsüberlassungen eine mehrstufige Problematik: schon die entsprechende Anwendung der Regeln für eigenkapitalersetzende Darlehen als solche ergibt sich keineswegs ohne weiteres, sondern bedarf gesonderter Begründung; wird sie im Grundsatz bejaht, sind die besonderen Voraussetzungen für ihr jeweiliges Eingreifen zu klären; schließlich und vor allem müssen die Wirkungen, also Umfang und Folgen einer Verstrickung als Eigenkapitalersatz näher bestimmt werden. Diese Problematik ist im Grundsatz, wenn auch vielleicht nicht in ihrer ganzen Tragweite, schon frühzeitig in der etwas älteren Literatur erkannt, allerdings dann durchaus kontrovers behandelt worden. 12 2. Erst verhältnismäßig spät13 wurde der II. Senat des BGH mit der Problematik kapitalersetzender Nutzungsüberlassungen befaßt, für die er dann aber relativ schnell in den vier Lagergrundstück-Urteilen 14 sowohl im Grundsätzlichen für Geltung, Voraussetzungen und Tragweite der Kapitalersatzbindung als auch für eine ganze Reihe der zahlreichen Detailfragen rechtsfortbildend überzeugende Lösungen entwickelt hat. 11 Dazu Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 27; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 29. 12 Ausführliche Übersicht über den Meinungsstand vor den Lagergrundstück-Urteilen des BGH bei Fabritius aaO (Fn. 5) S. 55 ff; - das Spektrum reicht von uneingeschränkter Gleichstellung mit kapitalersetzenden Darlehen unter Einbeziehung auch der Sachsubstanz etwa bei Braun, ZIP 1983, 1175, 1179 ff; Schulze-Osterloh, ZGR 1983, 123, 142 f; Wiedemann, ZIP 1986, 1293, 1300; - über deutliche Zurückhaltung, so differenzierend bei Brandes, ZGR 1989, 244, 245 ff; Hueck, ZGR 1989, 216, 221 ff, 236 ff; - bis zur grundsätzlichen Ablehnung bei Knobbe-Keuk, BB 1984, 1 ff; tendenziell zunächst auch Ulmer in: Das neue GmbH-Recht in der Diskussion, 1981 S. 55, 59 (anders später, z. B. Hachenburg/Ulmer aaO [Fn. 5] § 32a, b Rdn. 106). 13 Zur Entwicklung bereits oben I., 2.: die dort (Fn. 6) genannte Grundsatzentscheidung BGHZ 31, 258 zur Bindung eigenkapitalersetzender Darlehen erging bereits 1959, die gesetzliche Regelung in § 32a GmbHG folgte 1980 (Fn. 7); - hingegen beginnt die klärende Rechtsprechung des II. Senats zur Nutzungsüberlassung erst im Oktober 1989 mit dem ersten der Lagergrundstück-Urteile (oben Fn. 4). M Oben Fn. 4.

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Die Urteile betreffen, ganz bezeichnend für die Praxis der Betriebsaufspaltung und sonstiger Nutzungsüberlassungen, im Kern sehr ähnliche Tatbestände. In allen vier Fällen waren an eine Gesellschaft Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens vermietet oder verpachtet worden, darunter jeweils auch ein der Lagerhaltung, in drei Fällen für ein Bauunternehmen, dienendes Grundstück. Alle Gesellschaften, im Fall Lagergrundstück II eine GmbH; in den anderen Fällen jeweils eine GmbH & Co. KG, waren später in Konkurs gegangen; dadurch wurden die Rechtsfolgen der Nutzungsüberlassung im Krisenfall zwischen dem jeweiligen Konkursverwalter und den Uberlassenden streitig. Bei letzteren handelte es sich in den Fällen Lagergrundstück I und IV um Gesellschafter der nutzungsberechtigten Gesellschaften, in den beiden anderen Fällen (II und III) dagegen um Personenhandelsgesellschaften, eine K G (II) und eine O H G (III), die die Anlagegüter der jeweils erst später gegründeten GmbH bzw. GmbH & Co. K G zur Nutzung überlassen hatten. Damit lagen hier Fälle echter Betriebsaufspaltung zwischen Besitz- und Betriebsgesellschaft vor, ganz dem vorausgehend unter 1. erwähnten Standardmodell entsprechend, wobei es keinen nennenswerten Unterschied macht, daß in einem Fall (II) das ganze Anlagevermögen, im anderen (III) nur wesentliche Teile desselben, nämlich Grundstück und Großgeräte, zur Nutzung überlassen worden waren. - In allen vier Fällen standen somit die Verstrickung nach §§ 32a, 32b G m b H G bzw. § 172a H G B bei Nutzungsüberlassungen sowie die Anwendbarkeit der weitergeltenden Rechtsprechungsgrundsätze mit §§ 30, 31 G m b H G zur Entscheidung. III. Nutzungsüberlassung als Eigenkapitalersatz 1. Ganz im Vordergrund des ersten Lagergrundstück-Urteils 15 stand naturgemäß die Grundsatzfrage nach der entsprechenden Anwendung der Kapitalersatzregeln auf Nutzungsüberlassungen durch Gesellschafter, hier konkret die Frage, ob die mietweise Gebrauchsüberlassung von Geschäftsräumen und einem Lagergrundstück wirtschaftlich einer Darlehensgewährung gemäß § 32a Abs. 3 GmbHG entspricht. Der Senat bejaht das und gibt dabei in seiner ausführlichen Begründung" einer wirtschaftlichen Wertung in diesem Zusammenhang eindeutig den Vorrang gegenüber dem von einigen ablehnenden Stimmen in der damaligen Literatur17 als analogiehindernd hervorgehobenen strukturellen BGHZ 109, 55, oben Fn. 4. " BGHZ 109, 57 ff. 17 BGHZ 109, 58 unter Verweisung auf die Übersicht bei Hueck, ZGR 1989, 216, 222 dort insbes. Fn. 10. 15

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Unterschied zwischen Darlehen und Nutzungsüberlassung hinsichtlich der dinglichen Zuordnung des jeweiligen Gegenstands. Zugleich wird allerdings betont, daß diese wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht auf die Lösung von Problemen bei den Rechtsfolgen der analogen Anwendung von Kapitalersatzregeln auf Nutzungsüberlassungen übertragen werden kann18. Hier wird auffallende Zurückhaltung deutlich, die der Senat im ersten und in der Folge auch im zweiten LagergrundstückUrteil gegenüber den Rechtsfolgen kapitalersetzender Nutzungsüberlassungen übt19. Die Begründung für die entsprechende Anwendung der Kapitalersatzregeln auf Nutzungsüberlassungen stützt der Senat auf die Ratio des § 32a Abs. 3 G m b H G und zugleich auf die im wesentlichen damit übereinstimmenden Gründe, die seine Rechtsprechung zur Rückzahlungssperre von Gesellschafterdarlehen nach §§ 30, 31 G m b H G tragen, ihre ursprüngliche Entwicklung ebenso wie die heutige Fortgeltung 20 . Darin kommt zugleich zum Ausdruck, daß auch die fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätze auf kapitalersetzende Nutzungsüberlassungen anzuwenden sind21; nach ihnen entscheidet der Senat dann konsequent über die im Streit befindlichen Mietzinsansprüche bzw. deren Rückzahlung 22 . Tragender Gesichtspunkt ist danach wie bei der Entwicklung und weiteren Anwendung der Regeln für eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen so auch hier für deren Übertragung auf Nutzungsüberlassungen die Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter 23 . Zwar gilt als generelles Prinzip für die Gesellschafter weitestgehende Finanzierungsfreiheit 24 . Abgesehen von den gesetzlichen Minima der Kapitalausstattung nach §§ 5, 7 Abs. 2 und 3 G m b H G , die durch die Vorschrif-

18

B G H Z 109, 59 mit Hinweis auf Ulmer, ZIP 1984, 1163, 1172; - auch dazu Hueck aaO (Fn. 17) S. 222 ff mit weiteren Nachweisen. " Deutlich sowohl B G H Z 109, 65 f als auch 121, 34; - näher unten V, 1. 20 Oben Fn. 6 und 8. 21 Oben I, 2., dazu Fn. 8 und 5. 22 B G H Z 109,66,67. 23 Allgemein dazu vor allem B G H Z 105, 168, 175 f; grundsätzlich bereits B G H Z 90, 381, 388 f mit Angaben zur vorausgegangenen Rechtsprechung; - in gleichem Sinn ganz überwiegend die Literatur, vgl. nur Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 8; Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 4; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 3; Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) § 32a/b Rdn. 3; Wiedemann, Festschrift Beusch, 1993 S. 893, 909 ff; - kritisch zur Heranziehung der Finanzierungsverantwortung speziell im Zusammenhang mit der Nutzungsüberlassung K. Schmidt, ZIP 1990, 69, 73 f; auch Knobbe-Keuk, DStR 1992, 823. 24 B G H Z aaO (Fn. 23); - ganz h. M. in der Literatur, vgl. etwa Hachenburger/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn.6 f; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 2 mit weiteren Nachweisen; auch die anderen vorausgehend in Fn. 23 Genannten.

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ten über die Kapitalaufbringung und -erhaltung abgesichert sind, steht es den Gesellschaftern und im Rahmen ihrer Zuständigkeit den Geschäftsführern frei, über Höhe und Art der für die Verfolgung des Gesellschaftszwecks einzusetzenden Finanzierungsmittel zu bestimmen. Das umfaßt auch den Einsatz von Gesellschafterdarlehen. Jedoch schränken §§ 32a, 32b G m b H G und die Rechtsprechungsgrundsätze des B G H die Finanzierungsfreiheit für den Fall ein, daß die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft bei objektiver Betrachtung die Zuführung von weiterem haftendem Eigenkapital erfordert. In solcher Lage sind die Gesellschafter gehalten, entweder der Gesellschaft die zur Fortführung der Geschäfte erforderlichen Mittel als Eigenkapital zur Verfügung zu stellen oder die Gesellschaft alsbald zu liquidieren. Dagegen ist es ihnen verwehrt, statt dessen die weitere Geschäftstätigkeit der Gesellschaft durch Darlehen zu finanzieren, um sich im Falle des wirtschaftlichen Zusammenbruchs vorzeitig vor außenstehenden Gesellschaftsgläubigern oder zumindest mit ihnen konkurrierend aus dem noch vorhandenen Gesellschaftsvermögen befriedigen zu können. Allerdings ist auch unter diesem Gesichtspunkt die Finanzierung durch Gesellschafterdarlehen keineswegs ganz unzulässig; wohl aber treten Zinsen und Rückzahlungsforderungen zwingend kraft Gesetzes für die Dauer der Krisenlage hinter die Fremdforderungen im Rang zurück; sie sind in dieser Hinsicht wie Eigenkapital zu behandeln. Es soll mit anderen Worten gewährleistet werden, daß die Gesellschafter zur Fortsetzung der Gesellschaft in der Krise nur haftendes Eigenkapital oder ihm gleichgestellte Mittel einsetzen. Zugleich soll verhindert werden, daß durch die Fortsetzung der Gesellschaft ohne zureichende Ausstattung mit Eigenkapital nach außen der Eindruck eines lebensfähigen, angemessen finanzierten Unternehmens erweckt und so die an sich notwendige Liquidation durch Konkurs oder in anderer Weise zum Nachteil der Gläubiger verschleppt wird. Für die Beurteilung der Nutzungsüberlassung stellt der Senat auf deren im Ergebnis ganz entsprechenden wirtschaftlichen Effekt ab. Durch die Bereitstellung der benötigten Anlagegüter zur Nutzung kann auch ohne deren Ubergang in das Gesellschaftsvermögen die Fortführung eines notleidenden Unternehmens über den Zeitpunkt einer an sich gebotenen Liquidation hinaus ebenso wirksam gefördert werden wie durch die darlehensweise Zuführung der zur Beschaffung der Güter erforderlichen Finanzmittel. Der nach außen entstehende Eindruck eines wirtschaftlich funktionsfähigen Unternehmens, das die eingesetzten Anlagegüter, wenn schon nicht im Eigentum, so doch in ordnungsgemäß aus eigener Kraft dauerhaft finanzierbaren Leasing- oder sonstigen Uberlassungsverträgen nutzt, kann so in gleicher Weise entstehen wie bei vergleichbarer Finanzierung durch Darlehen. Das rechtfertigt die entspre-

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chende Anwendung der Regeln des Kapitalersatzrechts auf Nutzungsüberlassungen nach § 32a Abs. 3 GmbHG im Grundsatz, ohne daß damit bereits eine generelle Aussage über deren Rechtsfolgen verbunden ist. 2. Die grundsätzliche Entscheidung für eine entsprechende Einbeziehung von Nutzungsüberlassungen als Eigenkapitalersatz hat in der Literatur kaum Widerspruch gefunden. Eine wichtige Ausnahme bilden allerdings die vor allem von K. Schmidt25 vorgebrachten Einwendungen. Seine detaillierte Kritik geht, kurzgefaßt, im Ansatz von dem bereits mehrfach erwähnten strukturellen Unterschied zwischen Darlehen und Nutzungsüberlassung hinsichtlich der dinglichen Zuordnung des jeweiligen Gegenstands aus. Dementsprechend betont er zum Regelungsziel des § 32a GmbHG, daß hier nur und gerade die anstelle einer gebotenen Eigenkapitalzuführung vorgenommene inadäquate, weil mit einer Rückzahlungsforderung verbundene, darlehensmäßige oder entsprechende Zuführung liquider Mittel erfaßt werde. Er sieht also die als Fremdkapital auch bilanziell in einem entsprechenden Passivposten auszuweisende Darlehensforderung als eigentlichen Regelungsgegenstand. Hiermit setzt sich in der Folge der II. Senat in seinem zweiten LagergrundstückUrteil26 auseinander und bestätigt dabei den im Lagergrundstück I-Urteil entwickelten Standpunkt27. Erneut wird der Grundsatz der Finanzierungsverantwortung herangezogen und im Zusammenhang damit wiederum vor allem die wirtschaftliche Wertung in ihrem Vorrang vor der dinglichen Vermögenszuordnung des überlassenen Gegenstands nachdrücklich betont. Mit Recht wird im Hinblick auf den weitgefaßten Tatbestand des § 32a Abs. 3 GmbHG und seine Entstehungsgeschichte eine Beschränkung auf bilanziell als Passivposten auszuweisende Gesellschafterleistungen abgelehnt, da sich dafür kein hinreichender Anhalt aus dem Gesetz und seiner Entstehung in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Senats ergibt. Nicht allein die Zuführung liquider Mittel, sondern auch eine sonstige Entlastung der Liquiditätslage der Gesellschaft kann danach für die entsprechende Anwendung von § 32a GmbHG ausreichen28.

K. Schmidt, ZIP 1990, 69 ff, insbes. 75 f; zusammenfassend nunmehr Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 111 ff, insbes. 113. 26 BGHZ 121, 31, oben Fn. 4. 27 Zwischenzeitlich bereits bestätigt in BGH NJW 1990,1725,1727 (insoweit in BGHZ 110, 342 nicht abgedruckt) und NJW 1991, 1057, 1059, allerdings jeweils nur obiter, im wesentlichen durch Bezugnahme. 28 B G H Z 121, 34 f; - der Senat bezieht sich dabei für weitere Einzelheiten der Argumentation auf die eingehende Auseinandersetzung mit den von K. Schmidt aaO (Fn. 25) vorgebrachten Argumenten bei Ulmer, Festschrift Kellermann, 1991 S. 485, insbes. S. 489 ff mit weiteren Nachweisen; - vgl. im übrigen etwa auch Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 113 f; - dagegen erneut K. Schmidt, ZIP 1993, 161 ff, kritisch zur Entscheidung Lagergrundstück II; sowie Scholz/Schmidt wie Fn. 25. 25

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3. Die entsprechende Anwendung der Kapitalersatzregeln, der §§ 32a, 32b G m b H G wie auch der fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätze, kann damit f ü r die Rechtsprechung des II. Senats als geklärt gelten. In späteren Entscheidungen, v o r allem in den Lagergrundstück-Urteilen III und IV, wird das ohne neuerliche Begründung als gefestigte Rechtsprechung des Senats bezeichnet 29 . Auch die ganz überwiegende Meinung in der Literatur stimmt dem im grundsätzlichen zu 30 . Hervorgehoben sei noch, daß sich den Lagergrundstück-Urteilen keine generelle Kapitalausstattungspflicht im Sinne einer Pflicht der Gesellschafter entnehmen läßt, die Gesellschaft von Anfang an oder auch je nach der weiteren Geschäftsentwicklung ausreichend mit Eigenkapital auszustatten 31 . Ebensowenig läßt sich die v o m Senat vorgenommene Einbeziehung der Nutzungsüberlassung als Anerkennung einer Unterbilanzhaftung deuten 32 .

IV. Voraussetzungen 1. Die v o m Senat befürwortete entsprechende Anwendung der Kapitalersatzregeln bedingt angesichts ihrer oben zu III. 1. dargestellten Begründung mit den allgemeinen Grundgedanken, die gleichermaßen f ü r die Erfassung eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen gelten, keine grundlegend abweichende Bestimmung der jeweiligen Vorausset29 BGHZ 127, 1, 4 und 127, 17, 21, oben Fn. 4; ferner BGH NJW 1993, 2179, 2180; auch NJW 1995, 658 f; dazu die bereits oben Fn. 27 genannten Entscheidungen. 30 So ungeachtet unterschiedlicher Schwerpunkte in der Begründung und mancher Differenzen hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgen - dazu auch im folgenden ganz h. M., vgl. etwa Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 106; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 32; Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 112 ff; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl. 1992 § 38 Rdn. 21; neuestens Rümker, MünchHandb. GesR Bd. 3 GmbH, 1996 § 53 Rdn. 72 ff; ferner etwa Brandes, ZGR 1989, 244 ff; den., Grundpfandrechte und Betriebsaufspaltung, in: Priester/Timm (Hrsg.), Abschied von der Betriebsaufspaltung?, 1990, RWS-Forum 5, S. 43 ff; Drygala aaO (Fn. 5) S. 45 ff; ders., BB 1992, 80; Fabritius aaO (Fn. 5) S. 54 ff; Hommelhoff/Kleindiek, Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992 S.421, 433 ff; Schulze-Osterloh, ZGR 1983, 123, insbes. 131 f, 136 ff; Ulmer, Festschrift Kellermann, 1991 S. 485; Wiedemann, ZIP 1986, 1293; - zurückhaltend, doch im Grundsatz auch Knobbe-Keuk, Festschrift Kellermann, 1991 S. 227; nur mit Bedenken Priester aaO (Fn. 5) S. 1, insbes. 9 ff; - strikt ablehnend Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 113; K. Schmidt, ZIP 1990, 69; den., ZIP 1993,161; ihm folgend Kallmeyer, GmbHR 1994, 290; auch Spiegelberger, DStR 1991, 468. 31 Vielmehr gilt Finanzierungsfreiheit, oben III, 1 mit Fn. 24; weitere Angaben zur h. M., aber auch zu weitergehenden Auffassungen bei Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 2. 32 Auch dazu Hueck wie Fn. 31 sowie ebendort § 5 Rdn. 6 mit Angaben zur umfangreichen kontroversen Literatur; - den Zusammenhang mit der Unterkapitalisierung behandelt vor allem K. Schmidt, ZIP 1993, 161,164; auch ZIP 1990, 69, 74 f.

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zungen für die Verstrickung von Nutzungsüberlassungen im konkreten Fall. Das kommt in allen vier Lagergrundstück-Urteilen eindeutig durch die Handhabung der Voraussetzungen zum Ausdruck. N u r im Detail gibt es geringfügige Besonderheiten, auf die anschließend einzugehen ist. Keine solche Besonderheit, wohl aber praktisch gerade für Betriebsaufspaltungen, die einen wesentlichen Teil der Nutzungsüberlassungen begründen, sehr wichtig ist, daß der Senat in den Entscheidungen Lagergrundstück II und III33 den bereits für Gesellschafterdarlehen entwickelten Gedanken der wirtschaftlichen Einheit verbundener Unternehmen aufgreift 34 . Danach können bei Betriebsaufspaltungen nicht nur an der insolventen Betriebsgesellschaft beteiligte Gesellschafter, sondern bei Gesellschafteridentität zwischen beiden Gesellschaften auch die nicht an der Betriebsgesellschaft beteiligte Besitzgesellschaft gemäß § 32a Abs. 1 und 3 G m b H G hinsichtlich der überlassenen Anlagegüter gebunden sein35. Gleichfalls für Betriebsaufspaltungen wichtig ist die wiederum nicht auf Nutzungsüberlassungen beschränkte Feststellung des Senats, daß die kapitalersetzende Funktion nicht notwendig eine Festlegung der Uberlassung durch einen gesellschaftsvertraglich oder in anderer Weise zwischen den Gesellschaftern vereinbarten Finanzplan voraussetzt 36 . Jedoch ist eine solche Festlegung möglich und naheliegend 37 . Sie begründet dann ebenso wie bei Finanzplankrediten von Gesellschaftern auch bei der Nutzungsüberlassung deren eigenkapitalersetzende Funktion 38 . 2. Das bei Gesellschafterdarlehen wichtigste und häufigste Kriterium für die eigenkapitalersetzende Funktion, die Kreditunwürdigkeit der Gesellschaft, gilt zwar im Prinzip auch für die Nutzungsüberlassung, erfährt hier aber eine nicht unerhebliche Modifikation. Ausgangspunkt ist der bereits in der etwas älteren Literatur noch vor den Lagergrundstück-Urteilen entwickelte Gedanke, daß im Hinblick auf das bei der Nutzungsüberlassung dem Uberlassenden verbleibende Eigentum und dessen Verwertbarkeit auch von einem außenstehenden Dritten gerin33

B G H Z 121, 31, 34 f und 127,1, 5. Dazu bereits B G H Z 81, 311, 315; 105, 168, 176 f ständige Rechtsprechung; Literatur verbreitet zustimmend, so Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 121; Hüffer, Z H R Bd. 153 (1989), 330 ff; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) Rdn. 24 mit weiteren Angaben, auch zu stärker differenzierenden abweichenden Ansichten. 35 Kritisch dazu K. Schmidt, ZIP 1993,167. 36 B G H Z 121, 31, 41 f zur Betriebsaufspaltung im Fall Lagergrundstück II. 37 Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 117. 38 Dazu Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 111; Lutter/Hommelboff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 126; - allgemein zur kapitalersetzenden Funktion beim Finanzplankredit Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 46a f und die dort Genannten. 34

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gere Anforderungen an die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gesellschaft gestellt werden als bei Gewährung eines Darlehens. Das führte zu dem an geringere Bonitätsanforderungen anknüpfenden Merkmal der Überlassungswürdigkeit, sozusagen als abgeschwächter Form der Kreditwürdigkeit 39 . Diesen Gedanken hat der Senat bereits im ersten Lagergrundstück-Urteil aufgegriffen 40 und im zweiten Lagergrundstück-Urteil fortgeführt 41 . Allerdings könnten die Ausführungen den Eindruck erwecken, als verlange der Senat kumulativ die Feststellung sowohl der Kreditunwürdigkeit im allgemeinen Sinn als auch einer davon zu unterscheidenden Überlassungsunwürdigkeit als Kreditunwürdigkeit geringeren Grades. Jedoch ist das erste Merkmal hier nur in dem Sinn zu verstehen, daß die Gesellschaft außerstande ist, gerade diesen Gegenstand zu erwerben oder sich die Mittel dafür zu beschaffen 42 . Wenn der Senat dann fortfährt 43 , zu dem Unvermögen, die Investitionskosten aus eigener Kraft aufzubringen oder zu beschaffen, müsse „hinzukommen", daß kein außenstehender Dritter anstelle des Gesellschafters zur Überlassung des Gebrauchs bereit gewesen wäre, so wird die Argumentationslinie deutlich: eine Nutzungsüberlassung braucht noch nicht eigenkapitalersetzend zu sein, wenn die Gesellschaft zwar im allgemeinen Sinn kreditunwürdig ist, jedoch noch die objektiv zu beurteilende Chance einer Überlassung des Gegenstands auch durch einen Dritten besteht. Im Ergebnis dürfte es danach regelmäßig nur auf den letzteren Gesichtspunkt ankommen, so daß eine Beschränkung hierauf unter Aufgabe der Kumulation zweier Kriterien durchaus zu erwägen ist. Allerdings bedarf das einer weiteren Korrektur. Der Senat unterscheidet mit Recht zwischen Standardwirtschaftsgütern und speziellen Wirtschaftsgütern 44 . Erstere sind solche, für die ein breiter Markt besteht, so daß ein Dritter, in seinen Interessen geschützt durch sein fortbestehendes Eigentum und die Möglichkeit leichter anderweitiger Verwertbarkeit, das Wirtschaftsgut der Gesellschaft auch dann noch überlassen wird, wenn diese zwar im allgemeinen Sinn kreditunwürdig ist, aber doch noch liquide genug, dem Überlassenden Gewähr für die Erfüllung der Vertragspflichten, Zahlung des Entgelts und Ausgleich für even-

" Dazu aus der Zeit vor den Lagergrundstück-Urteilen etwa Fischer/ Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 12. Aufl. 1987 §§ 32a/b Rdn. 72; Brandes, ZGR 1989, 252; Hueck, ZGR 1989, 230; kritisch aber von Gerkan, GmbHR 1986, 222. 40 B G H Z 109, 55, 62 ff. 41 B G H Z 121, 31, 38 ff; dazu ferner kurz B G H NJW 1991, 1057, 1059 und 1993, 2179, 2180 f. 42 Dazu z . B . Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) Rdn. 116: „spezielle Kreditunwürdigkeit". 43 B G H Z 109,63. 44 B G H Z 109,63 f.

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tuelle Schäden, auf angemessene Zeit zu bieten. Dagegen sind spezielle Wirtschaftsgüter so sehr auf den konkreten Verwendungszweck ausgerichtet, daß ein anderweitiger Einsatz nicht oder nur unter größeren Schwierigkeiten möglich sein wird. Dementsprechend hoch werden die Anforderungen eines Dritten an die Bonität der Gesellschaft vor einer Nutzungsüberlassung sein. Damit kommt der Senat zu einer differenzierenden Betrachtungsweise je nach Art des überlassenen Wirtschaftsguts, die heute auch der überwiegenden Meinung in der Literatur entspricht45: bei Standardwirtschaftsgütern wird die Bonitätsprüfung auf eine erleichterte Überlassungswürdigkeit reduziert, während bei speziellen Wirtschaftsgütern, ganz besonders bei der Überlassung ganzer Betriebseinheiten im Rahmen von Betriebsaufspaltungen, die Prüfung derjenigen der allgemeinen Kreditwürdigkeit entsprechen wird, eine verminderte Überlassungswürdigkeit also faktisch ausscheidet. Es liegt auf der Hand, daß die Übergänge zwischen beiden Formen der zu stellenden Anforderungen graduell fließend sein werden. 3. Auch hinsichtlich des für die Qualifizierung als Eigenkapitalersatz maßgebenden Zeitpunkts gilt für Nutzungsüberlassungen im wesentlichen Gleiches wie für Gesellschafterdarlehen. Hiervon gehen ersichtlich die Lagergrundstück-Urteile aus, doch werden insoweit auch einige Besonderheiten deutlich. Im Grundfall besteht jedoch volle Übereinstimmung: wie ein Darlehen ist auch die Nutzungsüberlassung eigenkapitalersetzend, wenn die Voraussetzungen dafür bei der Gewährung, hier bei der Einräumung von Gebrauch oder Nutzung vorliegen, in diesem Zeitpunkt also bereits Kredit- bzw. Überlassungsunwürdigkeit besteht. Das kann, wie der Senat im Fall Lagergrundstück II hervorhebt 46 , auch von Anbeginn, d. h. von der Entstehung der Gesellschaft oder zumindest deren Geschäftsaufnahme an zutreffen. Eine solche Situation ist zwar auch bei Gesellschafterdarlehen durchaus möglich und daher keine spezifische Besonderheit von Nutzungsüberlassungen. Sie liegt aber bei diesen, und hier wiederum vor allem bei Betriebsaufspaltungen mit finanziell schwach ausgestatteter Betriebsgesellschaft, rein tatsächlich-wirtschaftlich ungleich näher47; der Tatbestand Lagergrundstück II ist dafür bezeichnend. In solchen Fällen finden, worauf der Senat besonders hinweist, vor allem von vornherein 45 Dazu Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 108 ff; Hueck in: Baumbach/ Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33b ff, insbes. 33e; jeweils mit weiteren Angaben; ferner Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 116; Knobbe-Keuk, Festschrift Kellermann, 1991 S. 236 ff; Ulmer, ebendort, S. 495 ff; - ablehnend Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 115; Vonnemann, DB 1990, 261, 262. «• BGHZ 121, 31 (Leitsatz c), 37 ff, insbes. 42 f. " Vgl. auch Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33m.

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§§ 30, 31 G m b H G nach den Rechtsprechungsgrundsätzen des B G H und im Konkurs sowie in dessen Vorfeld § 32a G m b H G , § 32a K O auf das Nutzungsentgelt Anwendung. Weiter besteht auch darin Ubereinstimmung mit der Rechtslage bei Gesellschafterdarlehen, daß bei späterem Eintritt der Krise eine ursprünglich nicht eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung durch qualifiziertes Belassen eine Umqualifizierung in Eigenkapitalersatz erfährt. Diese findet statt, wenn der Uberlassende den Gegenstand nach dem für ihn erkennbaren Eintritt der entsprechenden Voraussetzungen der Gesellschaft beläßt, obwohl ihm die Rücknahme rechtlich möglich wäre, so vor allem, wenn er eine ihm zustehende Kündigungsmöglichkeit nicht wahrnimmt 48 . Dazu betont der Senat aber mit Recht schon im ersten Urteil, daß der Eintritt der Krise als solcher ungeachtet der Gefahr einer Umqualifizierung der Nutzungsüberlassung in Eigenkapitalersatz kein Recht zur Kündigung des der Überlassung zugrundeliegenden Mietverhältnisses begründet, da der Herausgabeanspruch dadurch nicht gefährdet wird 49 . Darüber hinausgehend stellt der Senat dann in seinem zweiten Lagergrundstück-Urteil bei fehlender Kündigungsmöglichkeit darauf ab, ob der überlassende Gesellschafter in sonstiger Weise durch seinen Einfluß in der Gesellschaft deren Liquidation mit oder ohne Konkursantrag herbeiführen kann 50 . Das wird mit der für das ganze Kapitalersatzrecht grundlegenden Finanzierungsverantwortung 51 begründet. Diese verlangt hier eine klare Entscheidung zwischen Beibehaltung der Nutzungsüberlassung zur Stützung der Gesellschaft in der Krise oder dem Betreiben der Liquidation zur Vermeidung einer Fortführung ohne ausreichende Mittel. Macht der Gesellschafter, gegebenenfalls auch zusammen mit anderen Gesellschaftern in gleicher Lage, von einer solchen Einflußmöglichkeit keinen Gebrauch, so liegt auch darin ein qualifiziertes Belassen, das gleichfalls die Umqualifizierung der Nutzungsüberlassung in Eigenkapitalersatz bewirkt. - Auch das Nichtherbeiführen einer an sich durchsetzbaren Liquidation als Grundlage für die Umqualifizierung ist im übrigen keineswegs auf Fälle der Nutzungsüberlassung beschränkt,

« BGHZ 109, 55, 60; auch 121, 31, 35 f; BGH NJW 1993, 2179, 2180; - zustimmend h. M., etwa Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 117; Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 107 mit 25 ff; - kritisch dagegen K. Schmidt, ZIP 1990, 69, 75. 49 BGHZ 109, 60; zustimmend Lutter/Hommelhoff wie Fn. 48; kurz auch BGHZ 127, 26 Lagergrundstück IV. 50 BGHZ 121,31, 36 f; bestätigt in BGH NJW 1993,2179, 2180, sowie BGHZ 127,1, 6 Lagergrundstück III; - zustimmend Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33f mit weiteren Angaben; auch Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 117 mit 48. 51 Oben III, 1.

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sondern kann ebenso für die Umqualifizierung von Gesellschafterdarlehen in Betracht kommen52. Der Senat trägt dem durch seine allgemein gehaltenen Formulierungen in den Lagergrundstück-Urteilen II und III Rechnung. V. Rechtsfolgen 1. Umfang und rechtliche Tragweite der Verstrickung von Nutzungsüberlassungen als Eigenkapitalersatz waren seit jeher besonders umstritten53 und sind es bis zu einem gewissen Grad auch heute noch54. Immerhin hat die Rechtsprechung des II. Senats in den LagergrundstückUrteilen manches zu einer Klärung beigetragen und den sich für einige wichtige Fragen abzeichnenden Konsens eines größeren Teils der Literatur gefördert. Allerdings ist der Senat gerade hier besonders behutsam und schrittweise vorgegangen. So zeichnen sich, wie weiter oben bereits angemerkt, vor allem die Urteile Lagergrundstück I und II durch betonte Zurückhaltung aus. Zwar weist der Senat im ersten Urteil55 mit zahlreichen Angaben auf die Meinungsvielfalt in der Literatur hin, läßt dann aber die dort vor allem kontrovers erörterte zentrale Frage nach dem Gewicht der fortbestehenden dinglichen Zuordnung des Nutzungsgegenstands beim Uberlassenden und nach Möglichkeiten ihrer Durchbrechung zugunsten der Gläubiger der notleidenden Gesellschaft ausdrücklich offen. Konkret entschieden wird vielmehr nur über die schon seinerzeit kaum bestrittene Bindung des Nutzungsentgelts, hier des allein in Streit befindlichen Mietzinses. Auch das zweite Lagergrundstück-Urteil56 geht kaum darüber hinaus. Wieder wird letztlich nur über das Nutzungsentgelt entschieden, hier ergänzt um eine Äußerung zur Behandlung anderer miet- oder pachtrechtlicher Forderungen57. Die rechtliche Erfassung der Sachsubstanz des Nutzungsgegenstandes bleibt unter Hinweis auf das erste Urteil wiederum ausdrücklich offen. Allerdings fügt der Senat hier im Hinblick auf Schadenersatzansprüche wegen Eigentumsverletzung noch die Feststellung an, daß das Eigentum an dem Nutzungsgegenstand im Zeitpunkt des Eingreifens der Kapitalersatzregeln jedenfalls nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft übergeht, daß ferner auch eine von selbst 52 Näher Hueck, in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 40a mit weiteren Angaben zur Literatur wie auch zu diesbezüglichen neueren Tendenzen in der Rechtsprechung des BGH. 55 Vgl. für die etwas ältere Literatur oben Fn. 12. 54 Angaben in den folgenden Abschnitten. 55 B G H Z 109, 55, 65 f, oben Fn. 4. 54 B G H Z 121, 31,42, 43, oben Fn. 4. 57 B G H Z 121, 31 f (Leitsätze d und e), 43 f; auch nachfolgend unter 2.

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eintretende Änderung der Eigentumszuordnung jedenfalls vor Konkurseröffnung nicht stattfindet; weder §§ 32a, 32b G m b H G noch die Rechtsprechungsgrundsätze zu §§30, 31 G m b H G ergeben dafür eine Grundlage 5 8 . D a z u bemerkt der Senat zutreffend, daß so weitgehende Folgerungen aus der Verstrickung ersichtlich auch in der Literatur nicht gezogen werden. Dennoch oder gerade deshalb wirkten diese an sich sehr zurückhaltenden Äußerungen des Senats zunächst eher irritierend, da sie auch als Ankündigung oder doch tendenzielle Öffnung gegenüber den Befürwortern einer mehr oder weniger weitgehenden Erfassung der Sachsubstanz als Eigenkapitalersatz hätten gewertet werden können. Das entsprach jedoch offensichtlich nicht der Intention des Senats, der sich vielmehr nur jeder nicht entscheidungserheblichen weitergehenden Aussage zu den umstrittenen Rechtsfolgen eigenkapitalersetzender Nutzungsüberlassungen enthalten wollte. Das ergibt sich ex post deutlich aus den späteren Lagergrundstück-Urteilen III und IV. Mit diesen Urteilen 59 , beide vom gleichen Tag, einander bestätigend und ergänzend, nimmt der Senat nunmehr ausführlich und dezidiert zu den Rechtsfolgen eigenkapitalersetzender Nutzungsüberlassungen im Grundsätzlichen wie auch in wichtigen Details Stellung. Systematisch kann man danach die Ergebnisse in drei Komplexen erfassen: zu dem schon mit den beiden vorausgegangenen Urteilen thematisierten Bereich des Nutzungsentgelts (unten 2.) kommen die weiteren, mehr ins Zentrum der Problematik zielenden Fragenkreise Einbeziehung der Sachsubstanz (unten 3.) und Verstrickung des Nutzungsrechts (unten 4.) hinzu. 2. Verhältnismäßig unproblematisch und in der Literatur kaum noch streitig 60 ist die Bindung des für eine kapitalersetzende Nutzungsüberlassung geschuldeten Nutzungsentgelts nach §§ 32a, 32b G m b H G und den fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätzen zu §§ 30, 31 G m b H G . Wie vorausgehend zu 1. bereits berichtet, war das die wesentliche Aussage zu den Rechtsfolgen der Eigenkapitalbindung von Nutzungsüberlassungen in den Lagergrundstück-Urteilen I und II 61 , nur noch kurz als

5» B G H Z 121, 45 unter Bezugnahme auf Brandes, Z G R 1989, 244, 246; Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) Rdn. 113; nur kurz bestätigt in B G H Z 127, 8 und 127, 22 Lagergrundstück III und IV. 59 B G H Z 127, 1 und 127, 17, oben Fn. 4. 60 Vgl. für die ganz überwiegende Meinung nur Hachenburg/Ulmer aaO (Fn. 5) §§ 32a,b Rdn. 112; Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33g; Lutter/ Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 118; ferner z. B. Ulmer, Festschrift Kellermann, 1991 S. 485, 492 f, 498; Knohbe-Keuk, ebendort S. 235; auch Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 117 bei Zugrundelegung der dort abgelehnten h. M. " Oben Fn. 55, 56.

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feststehend bestätigt in den Urteilen Lagergrundstück III und IV 62 . Danach darf von dem Zeitpunkt an, in dem die Nutzungsüberlassung als Eigenkapitalersatz qualifiziert ist, entsprechend den fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätzen das Nutzungsentgelt nach § 30 Abs. 1 GmbHG nicht aus dem zur Deckung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen gezahlt werden; hiergegen verstoßende Zahlungen sind nach § 31 GmbHG zu erstatten. Mit Eröffnung des Konkurs- oder Vergleichsverfahrens entfällt der Anspruch auf Nutzungsentgelt nach § 32a Abs. 1 und 3 GmbHG ganz; im letzten Jahr vor Konkurseröffnung geleistete Zahlungen unterliegen der Rückgewähr nach §§ 32a, 37 K O , ohne daß es dafür auf die Beeinträchtigung des Stammkapitals ankommt 63 . Dabei ist wichtig, daß diese Behandlung des Nutzungsentgelts unmittelbar aus der Qualifizierung der Nutzungsüberlassung als Eigenkapitalersatz folgt als deren Wirkung. Deshalb bedarf es keiner gesonderten Prüfung mehr, ob das Nutzungsentgelt selbst als Geldforderung kapitalersetzend ist, etwa durch Stundung, Stehenlassen oder ähnliches64. Etwas anderes gilt jedoch für sonstige Forderungen gegen die Gesellschaft im Zusammenhang mit der Nutzungsüberlassung, etwa auf Erstattung vom Gesellschafter an ihrer Stelle verauslagter Erhaltungskosten oder auf Schadenersatz wegen Beschädigung der überlassenen Sache. Solche Leistungen sind nicht Teil der vom Gesellschafter gewährten Nutzungsüberlassung und werden deshalb auch nicht von deren Kapitalersatzfunktion erfaßt; der Gesellschafter wird durch letztere nicht zu zusätzlichen weiteren Leistungen verpflichtet. Insoweit greifen die Kapitalersatzregeln nur ein, soweit ihre Voraussetzungen wie für andere Geldforderungen gerade auch für diese Forderungen vorliegen65. 3. Besonderes Gewicht für die Erschließung der Rechtsfolgen eigenkapitalersetzender Nutzungsüberlassungen kommt den Lagergrundstück-Urteilen III und IV zu66. Der II. Senat nimmt mit ihnen ebenso grundsätzlich wie dezidiert zu der in der Literatur höchst kontrovers erörterten Verstrickung nutzungsüberlassener Gegenstände mit ihrer Sachsubstanz als Folge und im Rahmen der Eigenkapitalbindung Stel-

62 B G H Z 127, 7 und 127, 21; ebenso B G H N J W 1993, 2179, 2180, alle Urteile jeweils für Miet- und Pachtzins; - entsprechend für Leasing-Raten eines mietähnlich gestalteten Leasing-Geschäfts B G H N J W 1991, 1057, 1059; zur heute in der Literatur bevorzugten Behandlung des Finanzierungsleasing unmittelbar als, ggf. auch kapitalersetzendes, Darlehen Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33 mit weiteren Angaben. " B G H Z 121, 31, 42. 64 Ganz h. M., vgl. die in Fn. 60 Genannten. 65 B G H Z 121,31 f (Leitsätze d und e), 43 f. " B G H Z 127,1 und 127, 17, oben Fn. 4.

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lung. Ein nicht ganz unerheblicher Teil der Literatur tritt entgegen der inzwischen allerdings überwiegenden Meinung auch in neuerer Zeit noch für eine Einbeziehung des überlassenen Gegenstands in die Konkursmasse beim Konkurs der Gesellschaft ein; die Vorschläge hierfür variieren allerdings vielfältig und reichen von der Einbeziehung in corpore, sei es durch Versagung des Aussonderungsrechts, sei es durch einen Eigentumsübertragungsanspruch, bis hin zu den verschiedensten Formen eines Wertersatzes, weiter aber auch differenzierend nach der Art des Gegenstandes etwa zwischen kurz- oder langlebigen beweglichen Wirtschaftsgütern oder Grundstücken u. a. m.67. In der mit zahlreichen Angaben belegten ausführlichen Auseinandersetzung hiermit kommt der Senat zu einer klaren Ablehnung jeglicher Einbeziehung der Sachsubstanz in die Verstrickung nach den Kapitalersatzregeln. Ausgehend von der bereits früher getroffenen Feststellung 68 , daß der überlassene Gegenstand weder beim Eingreifen der Kapitalersatzregeln noch bei Konkurseröffnung in das Eigentum der Gesellschaft übergeht, erweitert der Senat nunmehr seine Aussage dahin, daß ganz generell für eine Inanspruchnahme der Sachsubstanz oder des Substanzwerts des überlassenen Gegenstands zur Konkursmasse keinerlei Rechtsgrundlage und, noch allgemeiner, auch kein Sachgrund erkennbar ist69. Im Kern liegt, wie der Senat hervorhebt, allen Versuchen, eine Einbeziehung nutzungsüberlassener Gegenstände mit ihrer Sachsubstanz, sei es auch nur dem Wert nach, zu begründen, die Erwägung zugrunde, die Parallele zum Belassen eines kapitalersetzenden Darlehens müsse bei der Nutzungsüberlassung gleichfalls im Wegfall eines Rückforderungs-, hier des Herausgabeanspruchs bestehen. D e m hält der Senat mit Recht die unterschiedliche dingliche Zuordnung des jeweiligen Gegenstands entgegen 70 : Die in der Inanspruchnahme der Sachsubstanz liegende Durchbrechung der dinglichen Vermögenszuordnung und des geltenden Konkursrechts findet weder in §§ 32a, 32b G m b H G noch in den fortgeltenden Rechtsprechungsgrundsätzen zu §§ 30, 31 G m b H G noch an anderer Stelle der Rechtsordnung eine Grundlage. Weiter betont der Senat vor allem, daß die Kapitalersatzregeln auf die Bindung und Erhaltung von in der Krise der Gesellschaft zugeführten oder belassenen Gesellschafterleistungen, 67 Sorgsam zusammengestellte Ubersichten pro und contra gibt der Senat selbst in den Lagergrundstück-Urteilen I und dann besonders III und IV, B G H Z 109, 65 sowie vor allem 127, 8 f und 127, 22, 25, 27 f; - im übrigen Ubersichten bei Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33h, 33i; auch Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 116; vgl. ferner etwa Knobbe-Keuk, Festschrift Kellermann 1991 S. 231 ff; Ulmer, ebendort S. 485, 486 f; zur etwas älteren Literatur auch Brandes, Z G R 1989, 245 ff. 68 B G H Z 121, 45 Lagergrundstück II, dazu vorausgehend zu 1. bei Fn. 58. " Ausführlich B G H Z 127, 8 f und 127, 22 ff. 70 Dazu bereits oben II, 1.

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also die Verhinderung von deren Abzug gerichtet sind, sich darin aber auch erschöpfen. Dagegen begründen sie keineswegs eine Verpflichtung zur Zuführung weiterer Mittel. Der Umqualifizierung kann, wie der Senat es auch ausdrückt, nur das unterliegen, was der Gesellschafter der Gesellschaft zugeführt hat; was sie von ihm nicht erhalten hat, bleibt außerhalb einer möglichen Eigenkapitalbindung. Deshalb hat der Gesellschafter der Gesellschaft die gewährte Nutzung zu belassen, aber nicht etwa darüber hinaus zusätzlich das Eigentum an dem betreffenden Gegenstand oder dessen Substanzwert zur Konkursmasse beizutragen. Eine Inanspruchnahme des Substanzwerts ist somit abzulehnen 71 . 4. Konsequent setzt der Senat die zur Ablehnung jeder Einbeziehung des Substanzwerts führende Argumentation ins Positive fort. Wenn der Gesellschafter der Gesellschaft nur das Recht zu Nutzung und Gebrauch eines Gegenstandes überlassen hat, so liegt auch allein darin die Gesellschafterleistung, die beim Eingreifen der Kapitalersatzregeln von der Bindung als Eigenkapitalersatz erfaßt wird. Dementsprechend erkennt der Senat in den Lagergrundstück-Urteilen III und IV72 als Rechtsfolge der eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung (abgesehen von den oben zu 2. dargestellten Folgen für das Nutzungsentgelt) die Bindung des Nutzungsrechts an dem überlassenen Gegenstand nach den Regeln des Kapitalersatzrechts, so als hätte der Gesellschafter ihn der Gesellschaft in Form einer Sacheinlage quoad usum als Eigenkapital zur Verfügung gestellt73. Im Grundsätzlichen hat der Senat damit die Rechtsfolgen der eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung geklärt: Der Bindung als Eigenkapitalersatz unterliegt nicht der zur Nutzung überlassene Gegenstand als solcher, sondern nur das Nutzungsrecht an ihm, während die dingliche Zuordnung, regelmäßig als Eigentum beim überlassenden Gesellschafter, nicht berührt wird. Gebunden ist außerdem stets das Nutzungsentgelt. Insgesamt zeigt sich damit das Bild einer geglückten, sorgfältig begründeten und behutsam vollzogenen höchstrichterlichen

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Auch in der Literatur in neuerer Zeit überwiegende Meinung, vgl. oben Fn. 67. B G H Z 127,1,10 ff und 127, 17, 25 f. 73 So vor allem B G H Z 127, 25, sachlich ebenso 127, 10 ff; - inhaltlich entspricht das der heute überwiegenden Meinung, dazu zahlreiche Angaben im erstgenannten Urteil aaO; danach, den Urteilen zustimmend Hueck in: Baumbach/Hueck aaO (Fn. 8) § 32a Rdn. 33i mit Angaben zur vorausgegangenen Literatur; Lutter/Hommelhoff aaO (Fn. 9) §§ 32a/b Rdn. 120 und 119; Rümker, MünchHandb. GesR Bd. 3 G m b H , 1996 § 53 Rdn. 75; - vgl. im übrigen außer den vom B G H aaO Genannten noch Hommelhoff/Kleindiek, Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992 S. 421, 435; Ulmer, Festschrift Kellermann, 1991 S. 485, 498 f, 502 f; - a. A. Knobbe-Keuk, ebendort S. 235 f, 239 ff für Bindung nur des Nutzungsentgelts. 72

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Rechtsfortbildung. Ihr entspricht, wie gezeigt, auch die in der neueren Literatur überwiegende Meinung 74 . Darüber hinaus hat der Senat in den Lagergrundstück-Urteilen III und IV eine Reihe von Lösungen zu Detailfragen des Nutzungsrechts entwickelt. Davon seien hier abschließend erwähnt: Aus dem oben zu 3. dargestellten Prinzip der Bindung des Gesellschafters nur hinsichtlich der von ihm erbrachten Leistung leitet der Senat konsequent ab, daß keine Verpflichtung besteht, anstelle der weiteren Nutzungsgewährung den Nutzungswert des überlassenen Wirtschaftsguts zu ersetzen75. Das Risiko mangelnder Verwertbarkeit haben vielmehr die Gläubiger zu tragen. - Immerhin stehen dem Konkursverwalter mehrere Verwertungsmöglichkeiten offen 76 : er kann das Nutzungsrecht bei zeitweiser Fortführung des Unternehmens selbst ausüben, es aber auch gegen Entgelt zugunsten der Masse anderen zur Ausübung überlassen oder es mit dem Unternehmen wie auch isoliert veräußern. - Allerdings besteht das N u t zungsrecht zeitlich nicht unbegrenzt. In der umstrittenen Frage der Zeitbestimmung stellt der Senat für die Dauer des Nutzungsrechts ebenso wie für seine sonstige Ausgestaltung grundsätzlich auf den Überlassungsvertrag ab77, faßt aber auch mißbräuchliche Vertragsgestaltungen ins Auge, die zur Unwirksamkeit der Zeitvereinbarung und ebenso wie bei deren völligem Fehlen zur Bestimmung der Dauer nach allgemeinen Kriterien der Vertragsergänzung führen 78 .

74 Kritisch aber von Gerkan, Z H R Bd. 158 (1994), 668; weiterhin generell ablehnend Scholz/Schmidt aaO (Fn. 5) §§ 32a, 32b Rdn. 113. 75 B G H Z 127,1, 13 und 127, 17, 28. 76 B G H Z 127,1, 12,14 und 127, 17, 26. 77 B G H Z 127, 1, 10. 78 B G H Z 127,1,10 f.

Blockabstimmungen im Aktien- und GmbH-Recht MARCUS LUTTER

I. Einleitung Das Aktiengesetz sieht in § 120 Abs. 1 Satz 1 vor, daß über die jährlich zu beschließende Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat je insgesamt, also je über alle Mitglieder des Vorstands und je über alle Mitglieder des Aufsichtsrats abzustimmen ist, es sei denn, Aktionäre verlangten die Einzelabstimmung über ein Vorstands- bzw. AufsichtsratsMitglied (§ 120 Abs. 1 Satz 2 AktG). Und das O L G München befand kürzlich 1 , diese vom Gesetz vorgesehene Blockabstimmung sei so normal und selbstverständlich, daß sich die stattgehabte Einzelabstimmung ihr gegenüber insgesamt als rechtsmißbräuchlich erweisen könne - und hat daher die Einzelabstimmung für nichtig erklärt. Umgekehrt hatte die Gesellschafterversammlung einer G m b H über die im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Ausschließung von mehreren Gesellschaftern durch Einziehung ihrer Geschäftsanteile insgesamt abgestimmt und das O L G Naumburg 2 hat diesen Blockbeschluß für rechtsfehlerhaft und mithin nichtig erklärt. Wie also soll sich in solcher Lage ein Versammlungsleiter künftig verhalten, dem Anträge einerseits auf Einzelabstimmung, andererseits auf Blockabstimmung vorliegen? Kann er es, wie immer er entscheidet und verfährt, überhaupt nur falsch machen? II. Überblick 1. Blockabstimmungen über einheitliche Gegenstände und mithin die Zusammenfassung mehrerer Entscheidungen in einem einzigen Abstimmungsvorgang dienen zunächst einmal der Beschleunigung und der Vereinfachung von Haupt- und Gesellschafterversammlungen: statt bis zu 20 Einzelabschlüsse über die Entlastung der Mitglieder eines Aufsichtsrates, bis zu 12 Einzelbeschlüsse über die Entlastung der Mitglieder eines Vorstandes und wieder 10 Beschlüsse über die Wahl der Anteils' OLG München, Urt. v. 17. 3. 1995, Az. 23 U 5930/94 (rechtskräftig), abgedruckt in: DB 1995,1020 = BB 1995,1048 = WM 1995, 842 = AG 1995, 381 = WuB II A. § 136 AktG 1.95 mit Anm. H. F. Müller = EWiR § 136 AktG 1/95, 527 (mit abl. Anm. Dreher/Neumann). 2 OLG Naumburg, Urt. v. 25. 4. 1995 (Az. 1 U 10/95), noch unveröffentlicht.

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eigner-Vertreter im Aufsichtsrat, statt also bis zu insgesamt 42 Einzelbeschlüsse fassen zu müssen, kann sich die Hauptversammlung auf drei Beschlüsse konzentrieren. Die Vorzüge des Verfahrens liegen auf der Hand 3 . 2. Uber diese technischen Vorzüge dürfen aber die materiell-rechtlichen Fragen nicht übersehen werden. So leuchtet es unmittelbar ein, daß man von einem Aktionär oder Gesellschafter schwerlich verlangen kann, Herrn A, dem er mißtraut, nur deshalb zu entlasten, weil er dessen Vorstands- oder Aufsichtsrats-Kollegen B besonders schätzt; und in gleicher Weise kann man von ihm kaum verlangen, Herrn X, den er für ganz und gar ungeeignet hält, nur deswegen in den Aufsichtsrat zu wählen, weil Frau Y, die ebenfalls vorgeschlagen ist, aus seiner Sicht unbedingt gewählt werden sollte. Entscheidend ist aber vor allem, daß durch solche Zusammenfassungen sachliche Verschiebungen im Kreis der Stimmberechtigten durch Stimmverbote entstehen können 4 . Denn Stimmverbote gelten bei Beschlußgegenständen stets, auch wenn der vom Stimmverbot Betroffene nur mitbetroffen ist; umgekehrt wirken sie nicht über den Betroffenen hinaus, wenn getrennt abgestimmt wird. Genau auf diesem zunächst ganz einfachen Unterschied beruhen die beiden eingangs erwähnten Entscheidungen. Im Fall des OLG Naumburg sah die Satzung einer GmbH vor, daß die Gesellschafterversammlung beim Vorliegen bestimmter Tatbestände, etwa der Kündigung eines Gesellschafters, diesen aus der Gesellschaft ausschließen könne; sie wies der Gesellschafterversammlung also und im Gegensatz zu anderen Satzungen, die hier ein „Muß" statuieren, eine Ermessensentscheidung zu. Bei der Blockabstimmung über alle in gleicher Weise Betroffenen waren naturgemäß diese alle vom Stimmrecht ausgeschlossen; wäre hingegen einzeln abgestimmt worden, so wären die jeweils anderen stimmberechtigt gewesen und das hätte, wie das OLG Naumburg korrekt sieht, zu anderen Beschlußergebnissen führen können. Mit umgekehrtem Vorzeichen galt das gleiche im Fall des OLG München. Hier sollte dem ganzen Vorstand, also allen Vorstandsmitgliedern das Mißtrauen ausgesprochen werden. Alle Vorstandsmitglieder waren 3 Vgl. auch den Ausschußbericht zum RegE des § 120 Abs. 1 A k t G 1965, abgedruckt bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 167: „Die gesonderte Abstimmung über die Entlastung jedes einzelnen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieds kann den Ablauf der Hauptversammlung erheblich verzögern. Die Interessen der Aktionäre und einer Minderheit sind auch dann genügend gewahrt, wenn eine gesonderte Abstimmung nur dann durchgeführt werden muß, wenn entweder die Hauptversammlung es beschließt, oder wenn eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteil zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals oder den Nennbetrag von 2 Mio. D M erreichen, es verlangt." 4 Scholz/Karsten Schmidt, G m b H G , 8. A u f l . 1995, § 4 7 G m b H G Rdn. 147 f m.w.N.; vgl. auch Roth, G m b H G , 2. A u f l . 1987, § 47 G m b H G A n m . 5.4.2.

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auch Aktionäre mit erheblichen Stimmanteilen. Bei der Einzelabstimmung konnten möglicherweise die jeweils anderen Vorstandsmitglieder mitstimmen und so wechselseitig den Ausspruch des Mißtrauens verhindern5; bei Blockabstimmung wäre hingegen die Entlastung allen Vorstandsmitgliedern verweigert worden, da dann alle Vorstandsmitglieder als Aktionäre vom Stimmrecht ausgeschlossen gewesen wären.

III. Grundsatz 1. Nur das Aktiengesetz sieht in der bereits erwähnten Vorschrift des § 120 Abs. 1 Satz 1 AktG einen Fall der Blockabstimmung vor; im übrigen kennen weder das AktG noch das G m b H G solche Fälle. Daraus läßt sich unschwer schließen: die Einzelabstimmung ist die Regel, die Blockabstimmung hingegen die Ausnahme. 2. Das bedeutet nun nicht, daß Blockabstimmungen - vom Fall des § 1 2 0 Abs. 1 Satz 1 A k t G abgesehen - stets unzulässig wären. Die eingangs gebrachten Beispiele machen im Gegenteil deutlich, daß Blockabstimmungen für die Praxis des Gesellschaftsrechts unabdingbar sind6. Aber sie dürfen nicht zu einer Veränderung der sachlichen Abstimmungsergebnisse führen oder auch nur führen können. Ordnet der Versammlungsleiter im Falle des O L G Naumburg Blockabstimmung an, so werden alle von der Einziehung Betroffenen vom Stimmrecht ausgeschlossen; ordnet er Einzelabstimmung an, so kann das Ergebnis davon verschieden sein. Sieht man diese Gefahr des Eingriffs in ein sachliches Beschlußergebnis in seinem vollen Gewicht, so kann man sagen: Blockabstimmungen sind nur zulässig, wenn - sie im Einvernehmen aller Anwesenden auf einer Gesellschafterversammlung/Hauptversammlung gefaßt werden oder - der Versammlungsleiter eine entsprechende Anordnung trifft, weil dadurch keine materielle Rechtsveränderung eintreten kann, die das Beschlußergebnis beeinflussen könnte, vor allem also Stimmverbote nicht in Frage stehen7. 5 Das O L G folgt hier der wohl h. M., die eine Überkreuz-Entlastung stets für möglich hält; vgl. unten Fn. 9. Falls allerdings gemeinsame Pflichtverletzungen der Vorstandsmitglieder im Raum standen (insoweit ist der Sachverhalt nicht vollkommen klar), ist das nach der neueren BGH-Rechtsprechung zumindest fraglich, vgl. BGHZ 97, 28, 33 f und Häffer, Aktiengesetz, 2. Aufl. 1995, § 136 AktG Rdn. 29. Näher dazu unten IV, 2. ' Zur üblichen Listenwahl von Aufsichtsratsmitgliedern, d. h. der Blockabstimmung über den Vorschlag der Verwaltung bei Neuwahl des Aufsichtsrats vgl. unten V, 3 b und Fn. 28. 7 Kommen Stimmverbote in Frage und findet dennoch Blockabstimmung statt, werden diese aber für das Ergebnis nicht relevant (nicht kausal), so ist der Beschluß zwar nicht anfechtbar (er beruht nicht auf dem Mangel), das Verfahren bleibt dennoch inkorrekt.

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IV. Einzelheiten 1. Normalerweise wird über jeden Beschlußgegenstand einzeln abgestimmt. Das gilt auch für sachlich gleiche Gegenstände. Werden etwa zwei sachlich ähnliche oder gar gleiche Rechtsgeschäfte mit zwei verschiedenen Gesellschaftern vorgenommen und bedürfen diese der Zustimmung der Gesellschafterversammlung, so ist der jeweils direkt betroffene Gesellschafter vom Stimmrecht ausgeschlossen, §§ 136 Abs. 1 AktG, 47 Abs. 4 GmbHG 8 . In diesem Fall kann die Vornahme mit Zustimmung der betroffenen Gesellschafter auch in einem einzigen Beschluß, also im Block, erfolgen; dann sind beide vom Stimmrecht ausgeschlossen. Aber es muß so nicht sein: die Gesellschafter können auf getrennter Abstimmung bestehen9 und jeweils bei der Beschlußfassung über den anderen Betroffenen mitwirken; direkte Beteiligung am Rechtsgeschäft als Partei schließt das Stimmrecht aus10, nicht aber allgemeine sonstige Motivationslagen, mögen sie den Gedanken des do ut des noch so sehr nahelegen11. Daher verfälscht die Einzelabstimmung das Beschlußergebnis nicht, sie ist mithin nicht fehlerhaft. Entscheidend ist hier also, ob ein einheitlicher Beschlußgegenstand vorliegt. Dies ist der Fall, wenn ein einziges Rechtsgeschäft von der Gesellschaft mit zwei Gesellschaftern abgeschlossen wird. Andererseits reicht allein die Gleichartigkeit von Rechtsgeschäften mit verschiedenen Gesellschaftern aber nicht aus, um alle an solchen Rechtsgeschäften beteiligten Gesellschafter auch an den Abstimmungen über die mit den anderen Gesellschaftern abzuschließenden Rechtsgeschäfte auszuschließen, da es sich dann jeweils um verschiedene Beschlußgegenstände handelt12. 8 Näher dazu Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 110, 125, 150 f; Rowedder/Koppensteiner, GmbHG, 2. Aufl. 1990, § 47 GmbHG Rdn. 56 und Hüffer, aaO (Fn. 5), § 136 AktG Rdn. 22. ' Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 48 Rdn. 48 und § 47 Rdn. 149; Rowedder/ Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 47 Rdn. 48, 61; Zöllner, Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, 1963, S. 183. 10 Vgl. § 47 Abs. 4 Satz 2 1. Alt. GmbHG, § 136 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AktG und dazu Lütter/Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl. 1994, § 4 7 GmbHG Rdn. 22; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 151; Rowedder/Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 47 GmbHG Rdn. 56; Zöllner, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 15. Aufl. 1988, § 47 GmbHG Rdn. 48 f, 59; Hüffer, aaO (Fn. 5), § 136 AktG Rdn. 22. " Dies gilt insb. für persönliche Nähebeziehungen (Ehegatten, Verwandte u. ä.), B G H Z 56, 47, 54; B G H Z 80, 69, 71 ff; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), § 47 Rdn. 14; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 154; Rowedder/Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 4 7 GmbHG Rdn. 51; Hachenburg/Hüffer, GmbHG, 8. Aufl. 1991, § 4 7 Rdn. 140; Hüffer, aaO (Fn. 5), § 136 AktG Rdn. 16. 12 Vgl. dazu Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 154, 149; Rowedder/Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 47 GmbHG Rdn. 48; Zöllner, Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, 1963, S. 183.

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2. Anders ist es hingegen, wo es etwa um die Abstimmung über die Geltendmachung einer Schadensersatzforderung gegen zwei GesellschafterGeschäftsführer geht, die gemeinsam vertragswidrig oder gar deliktisch gehandelt haben sollen. Hier ist jeder von beiden nicht nur daran interessiert, die Geltendmachung der Ansprüche gegen sich selbst zu verhindern - und ist daher nach § 47 Abs. 4 Satz 2 G m b H G , § 136 Abs. 1 Satz 1 A k t G vom Stimmrecht ausgeschlossen - , er ist auch daran interessiert, die Geltendmachung gegen den Kollegen zu verhindern; denn in diesem Verfahren käme sein eigener Tatbeitrag unabdingbar zur Sprache; die eigene Rechtslage wäre verschlechtert. Daher ist jeder Betroffene auch bei der Abstimmung über den anderen Mitbetroffenen vom Stimmrecht ausgeschlossen 13 , die Blockabstimmung ist mithin erlaubt und zugleich eine elegante Lösüng, führt sie doch per se zum Ausschluß des Stimmrechts beider Betroffener. 3. W o immer die Gesellschafterversammlung mit unternehmerischem Ermessen entscheidet, können Blockabstimmungen, die zu einer Veränderung des Kreises der Stimmberechtigten führen, nur mit Zustimmung aller Gesellschafter durchgeführt werden. Das gilt selbst dann, wenn die Gegenstände sachlich identisch erscheinen: Soll etwa den Gesellschaftern A und B je ein Kredit von D M 100 000 eingeräumt werden, so darf beim Widerspruch auch nur eines anderen Gesellschafters nicht im Block abgestimmt werden, da jeder andere Gesellschafter das Recht hat und daher auch die Möglichkeit dazu haben muß, für den Kreditvertrag mit A und gegen den mit B zu stimmen. Eine Ermessensentscheidung soll gerade die Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles ermöglichen. Das ist bei Blockabstimmungen gerade nicht möglich. 4. Anders ist es hingegen dann, wenn kein Ermessen besteht und die Gesellschafterversammlung nur zu vollziehen hat. So kann die Einziehung nach § 34 G m b H G nur von der Gesellschafterversammlung 14 beschlossen werden, auch wenn die Satzung festlegt, daß beim Sachverhalt

13 BGHZ 97, 28, 33 f = WM 1986, 456, 457; insoweit zust. Karsten Schmidt, NJW 1986, 2018, 2019; vgl. auch BGHZ 116, 353, 358; OLG München NJW-RR 1993, 1507; Zöllner, in: Baumbach/Hueck, aaO (Fn. 10), § 47 GmbHG Rdn. 47; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 134, 149, 153; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl. 1990, §33 Rdn. 49; vgl. auch Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), §47 Rdn. 18; Hachenburg/Höffer, aaO (Fn. 9), §47 Rdn. 144 und den., aaO (Fn. 5), § 136 AktG Rdn. 20. M Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), § 34 GmbHG Rdn. 8 m.w.N. Anders ist es im Aktienrecht bei der angeordneten Zwangseinziehung: sie kann vom Vorstand durchgeführt werden; vgl. § 237 Abs. 6 AktG und Lutter, Kölner Komm, zum AktG, 2. Aufl., § 237 Rdn. 37 ff.

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A einzuziehen ist. Hier haben die Gesellschafter kein Entscheidungsermessen, hier müssen sie handeln. Vom Ausschluß des Betroffenen selbst vom Stimmrecht abgesehen 15 , kann die Blockabstimmung von Rechts wegen das Ergebnis nicht verändern. V. Verordnung in der Satzung und Geschäftsordnung Die hier angesprochenen Fragen sind oft nicht einfach zu entscheiden und können daher, müssen sie ad hoc getroffen werden, leicht den Versammlungsleiter überfordern. Der Gedanke liegt daher nahe, sie in einer Geschäftsordnung oder gar der Satzung vorweg zu regeln. Soweit das in der Weise geschieht, daß das hier Gesagte wiederholt wird, entstehen keinerlei Probleme: das geltende Recht festzuhalten, kann stets und unter welcher Bezeichnung auch immer geschehen. Von Gewicht wird eine solche Ordnung erst, wenn sie gestaltend, mithin verändernd in die an sich bestehende Rechtslage eingreift. Ist das überhaupt möglich? 1.

Aktiengesellschaft

Soll etwa festgelegt werden, daß ähnliche Gegenstände stets im Block zu verhandeln und zu entscheiden sind, so bedeutet das sachlich den Eingriff in das Stimmrecht durch die Erweiterung von Stimmverboten einerseits und in Abstimmungschancen andererseits. Solche Veränderungen gegenüber der lex lata stehen der Satzung der Aktiengesellschaft nicht zu, § 23 Abs. 5 AktG. Denn weder erlaubt das Gesetz ausdrücklich solche Veränderungen im Sinne von Abs. 5 Satz 1, noch handelt es sich um eine schlichte Ausgestaltung im Sinne von Abs. 5 Satz 2 16 . Und was die Satzung nicht kann, steht einer Geschäftsordnung erst recht nicht zu17.

15 Sofern es sich um einen Ausschluß aus wichtigem Grund handelt, hat der Auszuschließende kein Stimmrecht, vgl. BGHZ 9, 157, 178; O L G Stuttgart, WM 1989, 1252, 1253; Lutter/Hommelboff, aaO (Fn. 10), § 34 Rdn. 9 und § 47 Rdn. 17; Scholz/Westermann, GmbHG, 8. Aufl. 1993, § 34 Rdn. 40; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 Rdn. 138 f; Zöllner, in: Baumbach/Hueck, aaO (Fn. 10), § 47 Rdn. 56. Ist der Einziehungsgrund nur in der Satzung geregelt, kommt es auf die Auslegung der Satzung an, ob der Auszuschließende Stimmrecht haben soll oder nicht, da eine Erweiterung von Stimmverboten in der GmbH zulässig ist, vgl. BGHZ 92, 386, 395; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 47 GmbHG Rdn. 172; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 19), § 47 GmbHG Rdn. 13; Rowedder/Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 47 GmbHG Rdn. 68. 16 Vgl. dazu Hüffer, aaO (Fn. 5), § 23 AktG Rdn. 36; Kraft, in: Kölner Komm. z. AktG, 2. Aufl. 1986 ff, § 23 Rdn. 82 ff. 17 Geschäftsordnungen der Hauptversammlung sind in der Praxis nicht bekannt; auch bei Happ (Hrsg.), Aktienrecht, 1995 findet sich dazu kein Hinweis.

Blockabstimmungen im Aktien- und GmbH-Recht

2.

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GmbH

a) In der GmbH verhält sich diese Frage viel weniger einfach. Denn hier herrscht in ganz hohem Maße Satzungsfreiheit18. So kann die Satzung ebenso Mehrstimmrechts-Geschäftsanteile vorsehen wie Geschäftsanteile ohne Stimmrecht19. Bestimmt sie also, daß Entlastung stets im Block zu erfolgen habe, so wirkt das bei Gesellschafter-Geschäftsführern und Gesellschafter-Aufsichtsräten wie ein partieller Ausschluß vom Stimmrecht. Das ist möglich20. Denn es wird damit nicht ad hoc in einen konkreten Konflikt eingegriffen, sondern vorweg werden die Dinge individuell beschränkend geregelt mit dem Ziel, schwierige Rechtsfragen erst gar nicht entstehen zu lassen. Das ist im GmbH-Recht möglich und einer der Vorzüge dieses Rechtsgebietes21. Doch ist Klarheit der Klausel erforderlich, Unbestimmtheit zu vermeiden: „Gleichartige Rechtsgeschäfte" würde dem genügen, „gleichartige Interessen" aber wären zu unbestimmt. Abgesehen vom Fall der Entlastung und gleichartiger Rechtsgeschäfte kommt eine solche Gestaltung also vor allem noch für die Kündigung der Anstellungsverträge von Gesellschafter-Geschäftsführern und ihre (gleichzeitige) Abberufung aus wichtigem Grund in Betracht22. b) Allerdings gibt es auch hier Grenzen der Gestaltungsfreiheit. Dazu gehört etwa die Möglichkeit, einen Gesellschafter aus wichtigem Grund und gegen seinen Willen aus der Gesellschaft auszuschließen23, ihn als Geschäftsführer aus wichtigem Grund abzuberufen und Schadensersatz wegen Pflichtverletzung gegen ihn geltend machen zu können. Daher 18 Hachenburg/Ulmer, GmbHG, 8. Aufl. 1990, Einl. Rdn. 49; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), Einl. Rdn. 4 und § 3 GmbHG Rdn. 18; Scholz/Westermann, aaO (Fn. 11), Einl. Rdn. 22 ff; allg. dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, § 5 1 3 (S. 75 f). " Hachenburg/Hüffer, aaO (Fn. 11), § 4 7 GmbHG Rdn. 49 f; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), § 3 GmbHG Rdn. 27 und § 47 GmbHG Rdn. 4; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 4 7 GmbHG Rdn. 8, 11; Scholz/Priester, GmbHG, 8. Aufl. 1995, § 5 3 GmbHG Rdn. 158; B G H Z 14, 264, 269 ff [zu Anteilen ohne Stimmrecht]; BayObLG GmbHR 1986, 87 und O L G Frankfurt GmbHR 1990, 79, 80 [zu Mehrstimmrechten]. 20 Vgl. die Nachweise in Fn. 19. 21 Vgl. Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), Einl. Rdn. 1 und 4. 22 B G H Z 86, 177, 178; Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 4 6 Rdn. 76 und § 4 7 GmbHG Rdn. 118, 141 mit umfangr. Nachw.; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), § 4 7 GmbHG Rdn. 19; Rowedder/Koppensteiner, aaO (Fn. 8), § 47 GmbHG Rdn. 62. Dabei handelt es sich zwar wie bei der Bestellung von Organen um sog. „Sozialakte", bei denen an sich auch betroffene Gesellschafter mitstimmen dürfen, aber der hier besonders ausgeprägte Interessenwiderstreit zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern, sowie der Gedanke des Verbots „Richtens in eigener Sache" sprechen hier gegen ein Stimmrecht des Gesellschafters. 25

Zum Stimmverbot in diesen Fällen vgl. oben Fn. 13.

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kann auch die Satzung solche Entscheidungen weder aufheben noch etwa wirksam Bedingungen schaffen, unter denen eine Entscheidung dieser Art praktisch nicht möglich ist.

3. Dispositionsbefugnis des Versammlungsleiters und Geschäftsordnungs-Entscheidungen In den hier erörterten Fragen bestehen in aller Regel allenfalls Gestaltungsmöglichkeiten für die Satzung. Aber es gibt Sondersituationen. Eine regelt, wie bereits eingangs erwähnt, das Aktiengesetz mit § 120 Abs. 1 Satz 1, wonach Blockabstimmung über die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat erfolgt, soweit nicht Einzelabstimmung wirksam verlangt wird (§ 120 Abs. 1 Satz 2 AktG). Aber die Frage kann sich auch in anderer Weise stellen: Wie ist hier im GmbH-Recht zu verfahren? Wie ist bei Wahlbeschlüssen über mehrere Personen zu verfahren (sog. Listenwahl) 24 ? Hat hier - soweit Fragen des Stimmrechtsausschlusses keine Rolle spielen - , der Versammlungsleiter Entscheidungsmacht oder ist die Versammlung selber im Rahmen eines Geschäftsordnungsbeschlusses dafür zuständig? a) Im GmbH-Recht ist die Gesellschafterversammlung oberstes Organ und hat die Kompetenz-Kompetenz. Da keine Norm den Leiter der Versammlung auch nur erwähnt, geschweige denn ihm eine solche Kompetenz zuweist, bleibt es bei der Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung. Das bedeutet: Der Versammlungsleiter kann nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen entweder Einzel- oder Blockabstimmungen anordnen25. Dieser Anordnung kann jeder Gesellschafter widersprechen und die Entscheidung der Gesellschafterversammlung verlangen. In diesem Rahmen kann dann der betreffende Gesellschafter versuchen, sein spezielles Anliegen zu verfolgen, etwa Einzelabstimmung über Wahlen zu erreichen. Gelingt ihm das nicht, so ist die anschließende Blockabstimmung nicht fehlerhaft. b) Das gleiche muß man im Aktienrecht annehmen, allerdings aus anderen Gründen. Zwar ist auch hier dem Versammlungsleiter keine beson24 Bei der Listenwahl zum Aufsichtsrat geht die ganz h. M. von der Zulässigkeit aus, vgl. aaO, Fn. 5. Das entscheidende Argument ist dabei, daß für die Hauptversammlung, wenn sie mit einem der Vorgeschlagenen nicht einverstanden ist, die Möglichkeit zur Ablehnung der gesamten Liste besteht und danach die übrigen Kandidaten der Liste einzeln oder auf einer neuen Liste gewählt werden können. 25 Scholz/Karsten Schmidt, aaO (Fn. 4), § 48 GmbHG Rdn. 48 und 50; W. Vogel, Gesellschafterbeschlüsse und Gesellschaftsversammlung, 2. Aufl. 1986, S. 145 f; Eder, in: GmbH-Handbuch, 13. Aufl. 1992 ff, Rdn. 1-462.2 und 463.2; ein Versammlungsleiter muß allerdings nicht bestellt werden, BGHZ 76, 154, 156; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 10), § 48 GmbHG Rdn. 8; Hachenburg/Hiiffer, aaO (Fn. 11), § 48 Rdn. 29.

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dere Kompetenz zugewiesen. Aber die Hauptversammlung ist nicht oberstes Organ26 und daher mitnichten a priori zur Entscheidung über Fragen des Ablaufes der Hauptversammlung zuständig. Das ist vielmehr unter funktionalen Aspekten im Zweifel eben doch der Versammlungsleiter27. Allerdings wird man gerade hier bei Frage der Einzel- oder Blockabstimmung eine Ausnahme machen müssen und die Zustimmung der Hauptversammlung anzunehmen haben. Denn der Aktionär, der etwa bei Listenwahl - die ein Anwendungsfall der Blockabstimmung ist - Einzelabstimmung beantragt, muß im Rahmen dieser Entscheidung die Chance haben, sein Anliegen von der Hauptversammlung entscheiden zu lassen. Die Lehre geht hier überwiegend davon aus, daß der Versammlungsleiter keines Votums der Hauptversammlung bedarf, sondern allein die Blockabstimmung (Blockwahl) anordnen könne, da jeder Aktionär frei sei, gegen die Liste zu stimmen, um anschließend - wenn es erfolgreich war - durch Einzelabstimmung oder eine andere Liste mit anderen Personen das gleiche Ergebnis zu erzielen28. Das trifft vordergründig zu. Bedenkt man aber, daß sich der Widerspruch des Aktionärs in aller Regel nur gegen eine oder wenige Personen der Liste richten wird, so sind seine Chancen, Gefolgschaft gegen die ganze Liste zu finden, deutlich geringer als beim „Angriff" nur gegen einzelne der Vorgeschlagenen. Es geht also um die Frage, ob bei entsprechendem Widerspruch auch nur eines Aktionärs zur Regel der Einzelabstimmung zurückgekehrt werden muß oder ob die Hauptversammlung darüber entscheiden kann; diese Befugnis sollte man ihr hier in Anlehnung an das GmbH-Recht und die allgemeinen Grundsätze des Versammlungsrechts zusprechen. 26 Hüffer, aaO (Fn. 5), § 118 AktG Rdn. 4 und § 119 AktG Rdn. 1; vgl. auch Geßler, FS Stimpel, 1985, S. 771, 773 ff; Lutter, FS Quack, 1991, 301, 312 ff; im Ergebnis auch von Rechenberg, Die Hauptversammlung als oberstes Organ der Aktiengesellschaft, 1986, S. 165. 27 Das Aktiengesetz erwähnt ihn in §§ 129 Abs. 4 Satz 2, 130 Abs. 2 AktG als „Vorsitzender". Bei der AG wird in der Regel der Vorsitzende des Aufsichtsrates in der Satzung zum Leiter der Hauptversammlung bestimmt, vgl. Hüffer, aaO (Fn. 5), § 129 Rdn. 17 ff; Happ, aaO (Fn. 17), Abschnitt 10.08 Anm. 8 (S. 633 f). Schweigt die Satzung, so fällt dies in die Kompetenz der Hauptversammlung, O L G Hamburg, WM 1990, 149, 151 m.w.N. (Vorstandsvorsitzender als Versammlungsleiter); vgl. auch den Sonderfall des § 122 Abs. 3 Satz 2 AktG (gerichtliche Bestimmung). 28 Bei den Wahlen zum Aufsichtsrat geht die ganz h. M. von der Zulässigkeit einer sog. Listenwahl aus, d. h. daß der Vorschlag der Verwaltung insgesamt zur Abstimmung gestellt wird (vgl. §§ 101 Abs. 1 i. V. m. 124 Abs. 3 Satz 1 AktG), so Quack, FS Rowedder, 1994, S. 387 ff; Hüffer, aaO (Fn. 5), § 101 AktG Rdn. 6; Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4 (Aktiengesellschaft), 1988, §30 Rdn. 15; vgl. ferner L G Dortmund, A G 1968, 390, 391; Barz, Freundesgabe Hengeler, 1972, S. 14 f; krit. hingegen Geßler, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Komm. z. AktG, § 101 AktG 1 und Kaiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl. 1991, § 15 Rdn. 35.

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VI. Blockabstimmung als Rechtspflicht? 1. Bislang hatten wir festgestellt, daß Einzelabstimmung die Regel und Blockabstimmung die Ausnahme ist, die erlaubt und dann auch zweckmäßig sein kann, vom gesetzlichen Fall des § 121 AktG abgesehen aber nicht Pflicht ist. Das hat das O L G München29 anders gesehen und das vom Gesetz erlaubte Verlangen nach Einzelabstimmung als mißbräuchlich gewertet, mithin in casu eine Rechtspflicht zur Blockabstimmung statuiert. Ist das richtig? In der Sache ging es um die Frage, ob zwei Vorstandsmitglieder, denen bestimmte Mängel bei der Geschäftsführung vorgeworfen waren, bei der Abstimmung über die Entlastung je des anderen mitstimmen dürfen oder nicht. Waren die Vorwürfe in bezug auf beide Vorstandsmitglieder sachlich gleich, so waren sie auch bei der Einzelabstimmung vom Stimmrecht je des anderen ausgeschlossen30; betrafen die Vorwürfe hingegen unterschiedliche Gegenstände, so war nur jeder für seine Person, nicht aber für die Person des anderen vom Stimmrecht ausgeschlossen. Im ersten Fall konnte die vom Gesetz vorgesehene Blockabstimmung stattfinden; denn beide waren sowieso vom Stimmrecht ausgeschlossen; aber auch bei der Einzelabstimmung galt nichts anderes; d. h. die von den Betroffenen gewünschte Einzelabstimmung hatte keinen Einfluß auf das Ergebnis bzw. hätte keinen Einfluß auf das Ergebnis haben dürfen. Im zweiten Fall war der jeweils andere Betroffene an der Ausübung des Stimmrechts nicht gehindert; mithin war der Wunsch nach Einzelabstimmung gerechtfertigt. Die Überlegung zeigt: die Frage nach der Blockabstimmung ist technischer, nicht materieller Natur. Nicht an ihr entscheidet sich die Frage des Stimmrechts, sondern an den davorliegenden materiellen Aspekten. Anders gewendet: es gibt keine materielle Rechtspflicht zur Blockabstimmung zur Gewährleistung eines bestimmen materiellen Ergebnisses; dafür ist die Frage nach der Blockabstimmung der falsche Ort. Das O L G München hätte also über den sachlichen Vorwurf verhandeln müssen und über die Frage, ob sachlich gleiche Betroffenheit der Vorstandsmitglieder vorlag. War das der Fall, hätten die Entlastungsbeschlüsse für nichtig erklärt werden müssen, da sich die relevante Mehrheit gegen sie ausgesprochen hatte; denn jeweils der andere war dann vom Stimmrecht ausgeschlossen - und das war für das Beschlußergebnis relevant. Im anderen Fall hatte alles seine Ordnung und der Wunsch 29 30

O b e n F n . 1. Vgl. die Nachw. oben Fn. 13.

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nach Einzelabstimmung war gerechtfertigt und mitnichten mißbräuchlich oder treuwidrig. 2. Entscheidend daraus ist die Erkenntnis: jenseits von § 121 AktG gibt es keine Pflicht, sondern nur eine Befugnis zur Blockabstimmung dann, wenn sie zu keiner Änderung der materiellen Rechtslage führt; die aber richtet sich nach anderen, von den Fragen der Blockabstimmung völlig unabhängigen Aspekten.

Das lex mercatoria-Problem* HANS-JOACHIM MERTENS

I. Zur Diskussion über die lex mercatoria als Rechtsordnung 1. Der Streit um die lex

mercatoria

Seit Jahrzehnten herrscht ein erbitterter Streit darüber, ob die lex mercatoria als eine eigenständige Rechtsordnung existiert1. Groß ist die Zahl der Bücher und Aufsätze, die auf diese Frage eine Antwort zu geben suchen2; gering dagegen die Zahl derjenigen Arbeiten, die fragen, * Der Beitrag basiert auf Überlegungen, die der Verfasser auf der Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung im März 1994 vorgetragen hat. Eine abgekürzte Fassung des Vortrags wird voraussichtlich auf englisch in dem von Gunther Teubner geplanten Sammelband Global Law Without The State im Verlag Dartmouth Gower, Aldershot, erscheinen. ' Darstellung des Streitstandes bei Christian v. Bar, Internationales Privatrecht I (1987) 74 ff; Uwe Blaurock, Ubernationales Recht des Internationalen Handels: ZEuP 1993, 247-267 (261 ff); Felix Dasser, Internationale Schiedsgerichte und lex mercatoria (Zürich 1989) 48 ff (Schweizer Studien zum internationalen Recht, 59); Friedrich K. Juenger, Lex mercatoria und Eingriffsnormen, in: Beiträge zum Handels- und Wirtschaftsrecht, FS Fritz Rittner (1991) 233-249; Karl Jan Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen" Rechts im internationalen Handelsschiedsgerichtsverfahren (1990) 14 ff (Internationales Wirtschaftsrecht, 7); Kurt Siehr, Sachrecht im IPR, transnationales Recht und lex mercatoria, in: Internationales Privatrecht, Internationales Wirtschaftsrecht, hrsg. von Wolfgang Holl/Ulrich Klinke (1985) 103-126 (108); Ursula Stein, Lex mercatoria. Realität und Theorie (1995) 179 ff. Zur Geschichte der lex mercatoria vgl. zuletzt Rudolf Meyer, Bona fides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition (Göttingen 1994) (Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte, V). 2 Repräsentative Stimmen für die lex mercatoria: Klaus Peter Berger, Internationale Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit (1992) (Recht des internationalen Wirtschaftsverkehrs, 10); Andreas Bucher, Transnationales Recht im IPR, in: Aktuelle Fragen zum Europarecht aus der Sicht in- und ausländischer Gelehrter, hrsg. von Fritz Schwind (Wien 1986) 11-59 (Veröffentlichungen der Kommission für Europarecht, 5 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. KL, Sitzungsberichte, 464); Berthold Goldman, Frontières du droit et „lex mercatoria": Arch. phil. dr. N. S. 9 (1964) 177-192; ders., La lex mercatoria dans les contrats et l'arbitrage internationaux, Réalité et perspectives: Clunet 106 (1979) 475-505; Philippe Fouchard, L'arbitrage commercial international (1965) (Bibliothèque de d.i.p., 2); Philippe Kahn, „Lex mercatoria" et pratique des contrats internationaux, L'expérience française, in: Le contrat économique international, Stabilité et évolution, Travaux des 7' journées d'études juridiques Jean Dabin ... (1975) 171-211 (Bibliothèque de la Faculté de droit de l'Université catholique de Louvain, 9); Eric Loquin, L'application de règles anationales dans l'arbitrage commercial international, in: L'apport de la jurisprudence arbitral (1986) 67-122; Filali Osman, Les Principes généraux de la lex mercatoria (1992); Ursula Stein (Fn. 1). Prononcierte Gegner: Antoine Kassis, Théorie générale des

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ob es sich um eine sinnvolle Frage handelt3. Hierzu besteht aber aller Grund; denn vernünftigerweise läßt sich über die lex mercatoria als eigenständige Rechtsordnung nur diskutieren, wenn eine gewisse Verständigung darüber erzielt ist, was man unter lex mercatoria, unter Rechtsordnung und unter deren eigenständiger Existenz verstehen will. Es ist auffällig, daß die Diskutanten diese Begriffe keineswegs einheitlich handhaben. Womöglich handelt es sich um einen Glaubenskrieg 4 , der durch Mißverständnisse angeheizt wird und durch Aufklärung versachlicht werden kann. Deshalb gehört zunächst die Frage selbst auf den Prüfstand. 2. Probleme der Definition juristischer

Grundbegriffe

Müssen wir, um sie sinnvoll stellen zu können, jedenfalls in etwa wissen, was wir meinen, wenn wir lex mercatoria oder Rechtsordnung sagen, so fragt sich, wie wir für solche Begriffe, die uns kein Gesetz vorgibt, eine für die Diskussion ausreichende Eindeutigkeit herstellen können, ja mehr als nur Eindeutigkeit, nämlich auch eine hinreichende Akzeptanz. Es kann ja schwerlich genügen, daß ich die Frage nach der Existenz der lex mercatoria als Rechtsordnung beantworte, indem ich meine eigenen Begriffe davon entwickle, wenn ich diese Begriffe in der wissenschaftlichen Diskussion nicht auch als maßgeblich oder jedenfalls als sachdienlich vermarkten kann. Ich sage bewußt: vermarkten; denn es geht hier nicht um die Vermittlung besserer Erkenntnis - bekanntlich sind Definitionsfragen keine Erkenntnisfragen - , sondern um die Herbeiführung eines relativ einheitlichen Sprachgebrauchs, der nicht zuletzt auch eine Organisations- und Marktfrage ist und von Absatzstrategien wie Schulenbildung oder Zitierkartellen beeinflußt wird. Besteht keine autoritäre Definitionsmacht, so ist ein monopolistischer Sprachgebrauch fast nie erreichbar. Der Definitionsmarkt für manche Begriffe ist polypolistisch strukturiert, manchmal sogar atomistisch zersplittert; und im Extremfall, der vor allem in der Dissertationsliteratur gar nicht so selten ist, sind die Begriffsanbieter nur Selbstversorger. Besteht aber - wie

usages du commerce, Droit comparé, contrats et arbitrage internationaux, lex mercatoria (1984); Paul Lagarde, Approche critique de la lex mercatoria, in: Le droit des relations économiques internationales, Etudes Berthold Goldman (1983) 125-150; F. A. Mann, Internationale Schiedsgerichte und nationale Rechtsordnung: ZHR 130 (1968) 97-129; Lord Justice Mustill, The New Lex Mercatoria, The First Twenty-five Years, in: Liber amicorum Lord Wilberforce (1987) 149-183; Andreas Spickhoff, Internationales Handelsrecht vor Schiedsgerichten und staatlichen Gerichten: RabelsZ 56 (1992) 116-141. J Vgl. jetzt aber Ursula Stein (Fn. 1). 4 Vgl. Vitta, in: Frédéric Klein/Frank Viseber, Colloque de Bàie sur la loi régissant les obligations contractuelles (1983) 156.

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meist - ein mehr oder minder enges Definitionsoligopol, so kann man es dabei bewenden lassen und die Diskussion im Wege einer Art Wenndann-Methode fortführen, indem man offenläßt, welche der konkurrierenden Definitionen vorzugswürdig ist, und prüft, welche Antwort sich jeweils auf die gestellte Frage ergibt, wenn man die eine oder aber die andere Definition zugrunde legt. Möglicherweise kann man sich dann sogar darüber schlüssig werden, welche Definition für das, worum es in der Diskussion geht, den besseren Ausgangspunkt darstellt.

3. Begriff der lex mercatoria Am Beispiel der lex mercatoria läßt sich leicht zeigen, wie diese Wenn-dann-Methode funktioniert.

a) Lex mercatoria als internationales

Praxisrecht

Wenn man als lex mercatoria ganz allgemein das sog. internationale Praxisrecht bezeichnet und als Rechtsordnung ein Normensystem, das einem Richter rechtliche - also auf die Frage nach Recht oder Unrecht bezogene - Entscheidungen ermöglicht, und wenn man den Begriff der Eigenständigkeit im Sinne einer relativen Unabhängigkeit von nationalen Rechten versteht, so ergibt ein Blick in die internationale Rechtsund Wirtschaftspraxis, daß die lex mercatoria als eigenständige Rechtsordnung existiert 5 . Denn das internationale Praxisrecht bietet mit den Vertragsformularen und Standardbedingungen, wie sie von zwischenstaatlichen Wirtschaftsorganisationen wie U N C I T R A L , U N I D R O I T 6 oder E C E 7 und E S C A P 8 , von einer Vielzahl nationaler Branchenorganisationen 9 und von Institutionen wie der ILA 1 0 , der I C C " oder der IMC 1 2 formuliert worden sind, sowie mit seinen vielfältigen Handelsbräuchen und mit den von U N I D R O I T ausgearbeiteten Principles of International Commercial Contracts 1 3 , die sich nach ihrer Präambel zugleich

Dazu vor allem Ursula Stein (Fn. 1). International Institute for the Unification of Law mit Sitz in Rom. 7 Economic Commission for Europe (Europäische Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen). ' Economic and Social Commission for Asia and the Pacific (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Asien und Pazifik). ' Ubersicht etwa in Clive M. Schmitthoff s Export Trade. The Law & Practice of International Trade (1990). 10 International Law Association mit Sitz in London. " International Chamber of Commerce (Internationale Handelskammer) mit Sitz in Paris. 12 International Maritime Commission mit Sitz in Antwerpen. " Von U N I D R O I T mit kommentierenden Erläuterungen veröffentlicht im Mai 1994. 5

6

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als Teil der lex mercatoria verstehen, eine weitgehend komplette Ordnung für die Gestaltung und Abwicklung internationaler Austauschbeziehungen. Außerhalb des standardisierten Wirtschaftsverkehrs pflegen die internationalen Verträge gerade aus dem Bestreben, den Rückgriff auf nationales Recht auszuschließen, eingehende und umfassende Regelungen zu enthalten. Die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, die als Institution für die Entscheidung von internationalen Rechtsstreitigkeiten der staatlichen Gerichtsbarkeit seit langem den Rang abgelaufen hat, ist inzwischen in hohem Maße durchorganisiert und hat Schiedsordnungen von hoher prozeduraler Qualität entwickelt. Im internationalen Schiedswesen haben sich die Regeln über die schiedsrichterlichen Kompetenzen und Pflichten und über Verfahrensgarantien herausgebildet, die praktisch weltweite Anerkennung genießen. Ich denke etwa an das Prinzip der Autonomie der Schiedsklausel, an die Kompetenz des Schiedsrichters, über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden, also auch über die Reichweite der Schiedsvereinbarung, oder an die Grundsätze der überparteilichen Rechtspflege, der Gleichbehandlung der Parteien, des rechtlichen Gehörs und der Bindung des Schiedsgerichts an den Parteiwillen. Die Grundlagen der richterlichen Rechtsfindung, die ich soeben skizziert habe, prägen auch durchaus das Verhalten und die Erwartungen derjenigen, die am internationalen Rechtsverkehr teilnehmen.

b) Lex mercatoria ah aus sich heraus geltendes anationales Recht Wenn man dagegen mit der lex mercatoria die Vorstellung verbindet, daß es sich um ein Recht handelt, das nicht aus einem nationalen Recht ableitbar ist, sondern aus sich heraus gilt und den Richter befähigt oder vielleicht sogar verpflichtet, nationalrechtliche Geltungsansprüche hintanzusetzen, so kann man anfangen darüber zu rechten, ob es eine solche anationale Rechtsordnung gibt. Da vernünftigerweise nur dieser zweitgenannte Begriff der lex mercatoria umstritten sein kann und nur im Hinblick auf ihn Einigungsbedarf besteht, brauchen wir nicht im Sinne der Wenn-dann-Methode zweigleisig fortzufahren, sondern können uns darüber verständigen, daß sich unsere Fragestellung auf die Behauptung einer lex mercatoria im Sinne eines aus sich selbst heraus geltenden autonomen anationalen Rechts bezieht.

4. Begriff der

Rechtsordnung

Kann uns eine entsprechende Verständigung auch beim Begriff der Rechtsordnung gelingen? Auch hier könnte man an eine Praktizierung der Wenn-dann-Methode denken. Denn die meisten Definitionen der

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Rechtsordnung14 lassen sich in zwei Kategorien einteilen, solche, die auf eine normative Betrachtungsweise oder, wie Alexy15 sagt, auf die Teilnehmerperspektive Bezug nehmen, und solche, die das Recht aus der Beobachterperspektive als tatsächliche Erscheinung erfassen wollen. Die normative Sichtweise fragt nach den Normen, die als Recht Geltung beanspruchen, die faktische orientiert sich an der Frage, nach welchen Regeln sich die Rechtsanwender tatsächlich richten oder auch welche Regeln in der Gesellschaft tatsächlich befolgt werden. Die Gegenüberstellung von normativer und faktischer Betrachtungsweise könnte es relativ einfach machen, eine Definition der Rechtsordnung jeweils aus der einen oder der anderen Perspektive zu entwickeln und dann eine Entscheidung darüber zu treffen, ob man die Frage nach der Existenz der lex mercatoria als Rechtsordnung auf die eine oder andere dieser Perspektiven beziehen will. Ganz so einfach liegen die Dinge indessen nicht. Zunächst wissen wir heute, daß der juristische Entscheidungsvorgang in einem viel komplizierteren und auch wesentlich freieren Verhältnis zu den Rechtsnormen16 steht, als herkömmliche Rechtsanwendungslehren angenommen haben17. Wir wissen weiter, daß eine abschließende Beschreibung der normativen Gesichtspunkte, die auf juristische Entscheidungen einwirken, kaum möglich ist18 und daß die staatliche Gesetzgebung, die an sich die Macht hätte, das Justizsystem auf die relativ strikte Anwendung einigermaßen präziser Normen zu beschränken, hiervon keinen Gebrauch macht, und zwar mit Grund; denn Fälle, die der Gesetzgeber nicht vorausgesehen und abgewogen hat, lassen sich durch strikte Normanwendung selten sachgerecht entscheiden, und das legislative Normschöpfungspotential des Gesetzgebungsstaates ist viel zu gering, als daß es den gesellschaftlichen Rechtsbedarf decken könnte. Es ist auf die Ergänzung durch das Verfertigen von Normen im Zuge der richterlichen EntscheiM Vgl. dazu etwa Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (1992) 31 ff; Ralf Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee (1986); ders., Der Begriff des Rechts, in: Ralf Dreier, Recht - Staat - Vernunft (1991) 95; Norbert Hoerster, Recht und Moral 2 (1987); alle m. w. Nachw. 15 Robert Alexy (Fn. 14) 47 ff. 16 Entwicklungen nach common law rules folgen ohnehin nicht dem Prinzip der strikten Normanwendung; vgl. etwa Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993) 365, 370; Frederick Schauer, Playing by the Rules (Oxford 1991; Paperback-Ausgabe 1992) 178. 17 Dazu instruktiv Joel Levin, How Judges Reason (1992) 212 ff und passim. " Vgl. etwa Hans-Joachim Mertens, Nichtlegislatorische Rechtsvereinheitlichung durch transnationales Wirtschaftsrecht und Rechtsbegriff: RabelsZ 56 (1992) 219-242 (232 ff); Alain Pellet, Contre la tyrannie de la ligne droite, in: Sources of International Law, hrsg. von D. S. Constantopoulos u. a. (Thesaurus Acroasium Vol. X I X 1992) 291, 307 ff.

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dung konkreter Rechtsfälle und auf die autonome Rechtsgestaltung durch die privaten Rechtssubjekte selbst angewiesen. Qualität und Legitimität des modernen Privatrechts beruhen auf dem Wechselspiel von Legislative und Judikative, das seinerseits auf die Anmeldung der Ansprüche der Betroffenen und auf deren öffentliche Diskussion reagiert19. Die Zurückhaltung, die sich der Staat gegenüber der Rechtsschöpfung durch sein Justizsystem auferlegt, und die Ermunterung, mit der er die praktisch und ökonomisch unabdingbare Entlastung seiner legislativen Normvorratshaltung durch die richterliche just-in-timeproduction von Normen begleitet, sind bemerkenswert. Mechanismen wie der Instanzenzug, die Begründungspflicht, die Veröffentlichung und öffentliche Kritik der Entscheidungen reichen in Verbindung mit der wissenschaftlichen Verarbeitung der Rechtsordnung und der juristischen Sozialisation der Entscheider aus, um sozial unverträgliche Subjektivismen weitgehend auszuschalten. Das Justizsystem rollt nur zum Teil auf den Schienen des Gesetzes; es betreibt vielmehr selbst in großem Umfang innerhalb und gelegentlich auch außerhalb der Schienenstränge Straßenbau. Nur werden die Verkehrswege nicht im Niemandsland angelegt, sondern knüpfen an die bestehenden an und ergänzen sich - gewiß mit vielen Umsteige- und Anschlußproblemen zu einem Verkehrsnetz. Somit müßte einer Rechtsordnung, die man sich allein als Normensystem vorstellt, eine Ermächtigungsnorm hinzugedacht werden, die dahin geht, daß die Entscheidungsorgane in einem mehr oder minder weit gezogenen Rahmen unter Beachtung gewisser Sprachregelungen nach eigenem Gutdünken entscheiden dürfen. Prinzipiellen Tadel erfahren sie erst, wenn sie sich offen über die juristischen Grundbedingungen der Entscheidungsverfertigung hinwegsetzen, also etwa außerhalb eines geordneten Verfahrens entscheiden, sich von Korruption leiten lassen, in Willkür verfallen oder ihre Entscheidung nicht mit Argumenten begründen, die zum juristischen Sprachhaushalt gezählt werden. Vielleicht wäre es unter diesen Umständen aber adäquater, den Begriff der Rechtsordnung von vornherein nicht auf das Normensystem zu verengen, sondern um den Gesichtspunkt des Normschöpfungspotentials zu ergänzen. Man könnte sogar daran denken, ein Rechtssystem, dessen Entscheidungsprämissen außerhalb der Bereiche bürokratischen Regelvollzugs großenteils offen und flexibel sind und durch die zu entscheidenden Sachverhalte laufend verändert werden, überhaupt von einem " Christian Joerges/Gert Brüggemeier, Europäisierung des Vertragsrechts und Haftungsrechts, in: Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, hrsg. von Peter-Christian Müller-Graff (1993) (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e. V. Bd. 33).

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prozeduralen Begriff der Verfertigung von Rechtsentscheidungen20 her zu definieren statt in Form eines Normenkomplexes. Jedenfalls verfehlt ein statischer Begriff der Rechtsordnung, der nur den Normenbestand und nicht das Entscheidungspotential, das Wirken der Richtermacht selbst erfaßt, die Rechtswirklichkeit. Betrachtet man die Rechtsordnung als das law in action, so werden allerdings traditionelle Vorstellungen von der Norm und der Bindung des Rechtsanwenders an die Norm fragwürdig und die traditionelle Rechtsquellenlehre kann ihre Funktion, das geltende Recht zu identifizieren, ohne dabei die Frage nach Begriff und Natur des Rechts aufzuwerfen21, nicht mehr erfüllen. Für Beschreibungen des Rechts als eines teils staatlich administrierten, teils gesellschaftlich geprägten Markt- und Diskussionsprozesses oder als einer lebenden Sprache22, deren Normgrammatik sich mit dem steten vom Zeitgeist bewegten Spiel des Sprachgebrauchs verändert wie ein Flußbett durch die Kräfte des Wassers, erscheint letztlich auch die strikte Unterscheidung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive vordergründig; denn die Innenansicht kommt ohne die Verarbeitung der Außenansicht nicht aus. Sicherlich kann man auch solche Beschreibungen des Rechts unter dem Begriff der Rechtsordnung erfassen. Es fragt sich aber doch, ob er nicht zu stark vorbelastet ist, um zu kennzeichnen, daß Gesetze, Rechtsprechung und paralegale Normen, staatliche Rechtsadministration, berufliche Juristensozialisation, kollektive Illusionen über Rechtserkenntnis, teils freier, teils manipulierter rhetorischer Austausch von Rechtsmeinungen auf Meinungsmärkten, offener Handel und Schwarzhandel mit Rechtsgefühlen ein Rechtsleben erzeugen, das - ähnlich wie das Marktgeschehen oder die Sprache - von keiner Metaebene aus umfassend übersehen und von keiner Großtheorie gesteuert werden kann. Jedenfalls erscheint der Begriff der Rechtsordnung so unterschiedlich definierbar und die hierzu vertretbaren Ansätze so kontrovers, daß ich in bezug auf ihn keine wirkliche Chance sehe, den Meinungspluralismus auf ein für die Diskussion hinnehmbares Maß zu reduzieren. 5. Ergebnis Meine These ist demnach, daß die Frage, ob die lex mercatoria als eigenständige Rechtsordnung existiert, die Grundvoraussetzung einer sinnvollen Diskussion, daß alle Diskussionsteilnehmer über dasselbe Thema reden, schwerlich gewährleisten kann. 20 Robert Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation: Rechtstheorie 1981, Beiheft 2, 177-188 (185 ff). 21 Dazu Niklas Luhmann (Fn. 16) 524 ff. 22 Zu Recht als Markt und Sprache s. auch Hans-Joachim Mertens (Fn. 18) 232 ff.

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II. Zulässigkeit des schiedsrichterlichen Rückgriffs auf die lex mercatoria

1. Lex mercatoria ah Normschöpfungspotential Wir brauchen diese Frage deshalb aber doch nicht in Bausch und Bogen zurückzuweisen. Es steckt darin nämlich ein Kern, der sich schärfer formulieren und kontrollierbar diskutieren läßt. Diesen Kern möchte ich herausarbeiten, indem ich noch einmal auf die Definitionsproblematik der lex mercatoria zurückkomme. Unsere Definition erscheint nämlich nach dem, was ich zur Frage der Rechtsordnung gesagt habe, noch unvollständig; denn auch in bezug auf die lex mercatoria muß die Frage gestellt werden, ob es sich (nur) um einen Komplex von Normen handeln soll, die zur Anwendung bereitstehen - also sozusagen oder auch um um ein Schienennetz, auf dem der Richter fahren kann eine Autorisierung des Richters zum Straßenbau - also um ein Normschöpfungspotential. Sicherlich müssen wir, um dem Phänomen der normgestützten richterlichen Normgewinnung Rechnung zu tragen, auch den letzteren Aspekt als integrierenden Bestandteil der lex mercatoria verstehen. Bezeichnenderweise wird der lex mercatoria von ihren Verfechtern außerhalb des kodifizierten internationalen Praxisrechts nur ein relativ geringer und im einzelnen umstrittener Bestand subsumtionsfähiger Normen zugeordnet, dagegen vor allem Prinzipien für die Gewinnung richterlicher Entscheidungsnormen23. Die lex mercatoria als Normschöpfungspotential dürfte sogar der eigentliche Brennpunkt der lex mercatoria-Diskussion sein; denn die Anstößigkeit der lex mercatoria liegt nicht in der Qualifizierung des einen oder anderen schütteren Rechtssatzes als Norm anationaler Qualität, sondern in der These, Richter könnten und dürften internationale Streitigkeiten aufgrund von Rechtsargumenten und rechtlichen Maßstäben entscheiden, die sie ohne Ableitung aus nationalen Rechten zu entwickeln vermögen. Genau dieses Thema scheint mir der Diskussionsgegenstand zu sein, um den es bei der Frage nach der Existenz der lex mercatoria als einer eigenständigen Rechtsordnung im Kern geht, und diese These scheint mir auch für eine Diskussion eindeutig genug. Die Frage, ob der Richter in internationalen Streitigkeiten unter Ausschluß der Bezugnahme auf nationales Recht mit anationalen rechtlichen Maßstäben und Rechtsargumenten operieren kann und darf, läßt sich in zwei Unterfragen unterteilen, nämlich zum einen, ob die lex mercatoria in diesem Sinne eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bietet, und

23

Vgl. etwa Klaus Peter Berger (Fn. 2) 373 ff.

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zum anderen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Richter zu einer Entscheidung auf der Basis anationalen Rechts als ermächtigt angesehen werden kann oder sogar als verpflichtet angesehen werden muß. 2. Lex mercatoria als hinreichende

Entscheidungsgrundlage?

Die Frage, ob das Normpotential, aus dem der Richter schöpfen kann, ausreicht, um ihm im allgemeinen und auf breiter Front begründbare und willkürfreie Entscheidungen zu ermöglichen, ohne auf das nationale Recht zurückgreifen zu müssen, kann - wie ich meine - unbedenklich bejaht werden. In einer Vielzahl von Fällen kommt der Richter schon mit dem kodifizierten internationalen Praxisrecht aus, oder er kann bei Vertragsauslegungs- und Vertragsabwicklungsproblemen die Lösung aus dem Vertrage selbst ableiten. Das internationale Praxisrecht in einzelnen ungeregelten Fragen fallweise zu ergänzen, ist ein richterliches Routineproblem, und die internationalen Verträge sind meist so ausführlich, daß sie es dem Richter leicht machen, Entscheidungsnormen für darin nicht vorgesehene Vertragsauslegungs- und Vertragsabwicklungskonflikte zu interpolieren. Mit den Universalien der Rechtsanwendung wie pacta sunt servanda, Treu und Glauben, Verhältnismäßigkeit, Einstehenmüssen für die eigene Rechtssphäre und für eigenes Verschulden, Bereicherungsverbot oder clausula rebus sie stantibus, die ihren Niederschlag in der internationalen Schiedspraxis gefunden haben und von dieser oft bereits in beachtlicher Weise konkretisiert worden sind, findet der Richter einen ausreichenden Wertungshintergrund. In zunehmendem Maße werden Schiedssprüche veröffentlicht 24 und wissenschaftlich kommentiert 25 . Die Prinzipien der Entscheidungsharmonie und -kontinuität können so als maßgebliche Elemente der richterlichen Streitentscheidung ihre Wirkung entfalten. Nimmt man die Regeln über die schiedsrichterlichen Kompetenzen und Pflichten und über Verfahrensgarantien hinzu, die ich bereits erwähnt habe, so kann es keine ernsthaften Zweifel geben, daß die Rahmenbedingungen einer willkürfreien richterlichen Entwicklung konkreter rechtlicher Entscheidungsgesichtspunkte in bezug auf internationale Streitigkeiten ohne Rückgriff auf nationale Rechte erfüllt sind. Ungeachtet des der lex mercatoria im einzelnen zuzurechnenden Bestandes an subsumtionsfähigen Normen birgt sie ein praktisch umfassendes rechtliches Konfliktlösungspotential.

24

So alle Schiedssprüche der ICSID und des Iran-United States Claims Tribunal. Vgl. etwa zur ICC-Schiedsgerichtsbarkeit das Handbuch von W. Lawrence Craig/William W. Park/Jan Paulsson, International Chamber of Commerce Arbitration 2 25

(1990).

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3. Lex mercatoria als zulässige a) Fragestellung und

Entscheidungsgrundlage?

Beantwortungskriterien

Somit können wir zu der Frage übergehen, ob der Richter - und hier denke ich zunächst nur an den internationalen Schiedsrichter - von der Möglichkeit Gebrauch machen darf oder sogar soll, seine Entscheidung auf eine anationale Basis zu stützen, also nicht aus einem nationalen Recht abzuleiten. Uberlegt man, wer hierauf eine verbindliche Antwort geben könnte, so bieten sich vier Instanzen an, nämlich die Rechtstheorie, die nationalstaatlichen Rechtsordnungen, das Völkerrecht und schließlich die Konfliktparteien selbst. Erörtern wir zunächst, ob und inwieweit der Richter von diesen Instanzen verbindliche Vorgaben erhält oder jedenfalls Entscheidungshilfe erwarten kann, und fragen wir uns dann, wie er handeln soll, wenn sie ihm keine Direktiven zuteil werden lassen.

b) Unmaßgeblichkeit

rechtstheoretischer

Entscheidungskriterien

Was die Rechtstheorie als Instanz angeht, so kann ich mich hier nicht lange bei der Definitionsfrage aufhalten; ich verstehe darunter einfach im Gegensatz zur Dogmatik, die Behauptungen über das geltende Recht auf das geltende Recht stützt, die Summe all derjenigen wissenschaftlich gemeinten Behauptungen, die über das Recht aufgestellt werden, ohne selbst rechtlich begründet zu sein, also das mehr oder minder disziplinierte, meist allerdings ziemlich disziplinlose Freistilringen über Grundfragen des Phänomens Recht, bei dem manche mit nichts als ihrem common sense antreten, andere mit systemtheoretischen Tarnnetzen kämpfen, unter denen sie mit ihren Argumenten bis zur Unkenntlichkeit verschwinden können, andere mit dialektischen Kniffen den Gegner oder auch sich selbst zu Fall bringen und wieder andere in antiker Ritterrüstung auf hohen Rössern alter Philosophenschulen sitzen und irritiert auf das geschäftige Gewühl am Boden blicken, das sich nicht mehr um sie schert. Alles in allem handelt es sich schon deshalb um eine sehr sympathische Disziplin, weil hier Meinungen aufeinanderprallen, von denen im Prinzip keine irgendeinen Anspruch erheben kann, ernster genommen zu werden als die andere und bei der es bisher weder Sieger noch Besiegte gibt und voraussichtlich auch niemals geben wird. Wie immer man sie einschätzt, als maßgebliche Instanz für die Frage, ob sich der Richter auf anationales Recht beziehen darf, versagt sie einfach deshalb, weil nicht ersichtlich ist, wieso sie für den Richter überhaupt verbindlich sein sollte. Für die Entscheidungsfindung kann sie

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keine Maßgeblichkeit beanspruchen 26 . Sie kann die Rechtsanwender noch nicht einmal daran hindern, sich unterschiedliche Begriffe von der Rechtsordnung zu machen, oder ihnen gebieten, sich davon überhaupt einen Begriff zu machen. Bei Entscheidungen, die durch strikte N o r m bindung präjudiziert sind, kommt die Berücksichtigung rechtstheoretischer Meinungen durch den Richter von vornherein nicht in Betracht. Aber auch sonst ist die Rechtstheorie für die richterliche Entscheidung eher dysfunktional, kann sie doch allenfalls zu Selbstzweifeln oder zur Wahrnehmung von Legitimationsdefiziten führen, an deren Ausbreitung ein Justizsystem nicht interessiert sein kann, das hic und nunc zu funktionieren hat und nicht erst an jenem Sanktnimmerleinstag, an dem man weiß, was richtigerweise unter Begriffen wie Recht oder Rechtsordnung oder Grundnorm oder Rechtsgeltung zu verstehen ist. Ihre funktionale Bedeutung haben solche Begriffe weniger für das Entscheidungsverhalten 27 als vielmehr im Hinblick auf die Darstellung des Justizsystems als eines wissenschaftlich angeleiteten und theoretisch fundierten. Das dient der Vermehrung seiner Autorität, seiner Legitimation und seines Handlungsspielraums. Hierfür genügt es, wenn diese Begriffe den Eindruck vermitteln, es müßte sich dabei was denken lassen. Und diesen Eindruck zu erzeugen, ist die Rechtstheorie, indem sie sich mit ihnen abmüht, in der Tat fähig. So fehlt es ihr keineswegs an juristischer Nützlichkeit, nur eben an juristischer Autorität. c) Die Antwort

der

Nationalstaaten

Wie steht es mit der Perspektive der Nationalstaaten, die ohne Zweifel eine maßgebliche Instanz sind? Denn sie haben das Vollstreckungsmonopol und können daher Schiedssprüche, die auf anationales Recht gestützt sind, wirksam unterbinden. D a der internationale Schiedsrichter kraft Parteiauftrages für eine vollstreckungsfähige Entscheidung zu sorgen hat, würde er auch seiner eigenen Aufgabe nicht gerecht, wenn er einen Schiedsspruch auf anationales Recht stützte und dadurch die Vollstreckung gefährdete oder verhinderte. Doch läßt sich beobachten, daß die Nationalstaaten von der Möglichkeit, den internationalen Schiedsrichter durch die Gestaltung ihres Vollstreckungsrechts und ihres Rechts der Anfechtung von Schiedssprüchen an anational begründeten Rechtsentscheidungen zu hindern, tendenziell 26 Vgl. Martin Schulte, Recht, Staat und Gesellschaft - rechtsrealistisch betrachtet, in: Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit, F S Werner Krawietz (1993) 317-332 (330); für Praxisrelevanz der Theorie dagegen in der gleichen Festschrift Massimo La Torre, O n the Relevance of Legal Theory for Legal Practice, 687. 27 Immerhin lassen sich theoretische Gesichtspunkte nicht selten auch als dogmatische handhaben und bereichern so den Vorrat an entscheidungsrelevanten Topoi.

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immer weniger Gebrauch machen. Bei der Mehrzahl der Staaten geht der Trend eindeutig dahin, gegen die Berufung auf anationales Recht in internationalen Schiedssprüchen keine Einwände zu erheben28 oder sogar anationales Recht als Bezugsmaterie des nationalen Rechts anzuerkennen29. Soweit ersichtlich, werden Schiedssprüche in nationalen Rechtsordnungen auch nicht deshalb als mangelhaft behandelt, weil ihnen eine kollisionsrechtliche Entscheidung nicht zu entnehmen ist. Bekanntlich begnügen sich internationale Schiedsrichter nicht selten mit Regeln, die sie dem internationalen Praxisrecht oder dem maßgeblichen Vertrag entnehmen, und machen keine näheren Angaben darüber, ob sie ihre Entscheidung in den Kontext eines nationalen Rechts stellen oder nicht30. Hinsichtlich der Staaten können wir damit die Bilanz ziehen, daß sie Schiedssprüchen ohne Kollisionsentscheidung für ein nationales Recht mehrheitlich keine Steine in den Weg legen. Sie gebieten durchweg auch nicht, daß ein in ihren Grenzen amtierendes Schiedsgericht ihr Verfahrensrecht anwendet. Soweit ein Staat, der als Vollstreckungsstaat in Betracht kommt, auf der Anwendung seines Verfahrens oder bestimmter Eingriffsnormen oder überhaupt auf der Nationalisierung eines Konflikts besteht, muß sich ein Schiedsspruch freilich daran halten. d) Schweigen des

Völkerrechts

Die Perspektive des Völkerrechts streife ich nur mit einem Satz. Wenn man einigermaßen seriös mit ihm umgeht, kann man ihm maßgebliche Regeln über schiedsrichterliches Entscheidungs- und Begründungsverhalten in privatrechtlichen Konflikten nicht entnehmen. e) Lex mercatoria und Bindung des Schiedsrichters an und Parteiwillen

Parteiauftrag

Wie verhält es sich mit der Anwendung anationalen Rechts aus der Sicht der letzten von mir genannten Instanz, den Parteien? Die Bindung des Schiedsrichters an den Parteiauftrag ist ein Grundelement der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit; ob sie sich aus internationalem Gewohnheitsrecht oder aus nationalem Auftragsrecht ergibt, mag hier offenbleiben. Der Parteiauftrag kann auch das anwendbare Recht vorgeM Vgl. etwa Uwe Blaurock (Fn. 1) 264; Felix Dasser (Fn. 1) 269 ff; Ursula Stein (Fn. 1) S. 87 ff. 29 Otto Sandrock, Die Fortbildung des materiellen Rechts durch die Internationale Schiedsgerichtsbarkeit, in: Rechtsfortbildung durch Internationale Schiedsgerichtsbarkeit (1989) 77 f, 79 f. 30 Vgl. etwa Jan Paulsson, La lex mercatoria dans l'arbitrage C.C.I.: Revue de l'arbitrage 1990, 55-100 (75).

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ben. Einer Verpflichtung, nach der lex mercatoria zu entscheiden, kann sich der Schiedsrichter daher nicht entziehen; in Zweifelsfällen hat er zu ermitteln, was die Parteien damit meinen, und sich danach zu richten. Befürchtet er, daß er auf diese Weise in Ansehung des potentiellen Vollstreckungsstaates seiner Pflicht zum Erlaß eines vollstreckbaren Schiedsspruchs nicht genügen könnte, so wird es naheliegen, daß er die Parteien darauf hinweist. Daß der Richter anationale Regeln und Rechtsgrundsätze auf der Basis parteiautonomer Rechtswahl anwenden darf und muß, wird heute auch von den meisten Stimmen befürwortet, die gegen eine eigenständig geltende lex mercatoria votieren. Auch sie können und wollen nicht bestreiten, daß die internationale Schiedsgerichtsbarkeit entscheidungsfähig ist, ohne auf das nationale Recht zurückgreifen zu müssen. Worum es ihnen geht, ist nur, daß die Nabelschnur zum nationalen Recht, und sei sie noch so lang und dünn, erhalten bleibt31. Die Parteiautonomie ist der beste Anknüpfungspunkt für diese Nabelschnur; denn sie läßt sich als eine im nationalen Recht verankerte Berechtigung für die Parteien ansehen, ein nicht aus eigener Kraft geltendes Recht zur Rechtsgrundlage für die Entscheidung eines Konfliktes zu erheben. In dieser Sichtweise bleibt der Schlüssel, mit dem sich der Richter kraft Parteiauftrags die Reichtümer der internationalen Regelwelt erschließt, beim nationalen Recht, das dieser Welt über die Parteiautonomie den Geltungsanspruch einhaucht. Vielfach wird der Richter auch bei Dissens der Parteien darüber, ob die lex mercatoria dem Schiedsspruch zugrunde gelegt werden soll, eine Entscheidung über ihre Anwendbarkeit treffen können, nämlich soweit sich der Streit der Parteien auf ein Rechtsverhältnis bezieht und sich aus der Auslegung dieses Rechtsverhältnisses entnehmen läßt, daß die Parteien ausdrücklich oder stillschweigend die Geltung der lex mercatoria in ihren gemeinsamen Willen aufgenommen hatten. Welches Recht die Parteien angewendet wissen wollen, brauchen sie nicht ausdrücklich zu bekunden. Ihr Schweigen wird durchweg auslegungsfähig sein, und zwar meistens im Sinne der Zulassung anationalen Rechts; dies zumal dann, wenn der Konflikt einen Bereich betrifft, für den ein internationales Regelwerk besteht, oder einen Vertrag, der bewußt so ausgestaltet ist, daß er möglichst weitgehend aus sich heraus

" Vgl. etwa Antoine Kassis (Fn. 2) 282 ff, 287 ff, 314 ff, 392, 408 ff; den., L'arbitre les conflits de lois et la lex mercatoria, in: Antaki/Prujiner (Hrsg.) 1986, 140 f; Sir Michael J. Mustill, The new lex mercatoria: The first twenty-five years, in: FS Lord Wilberforce (1987) 149-183; Otto Sandrock (Fn. 29) 78; Erich Schanze, Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht (1986) 132 ff (Studien zum Internationalen Rohstoffrecht, Bd. 9).

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ausgelegt werden kann, ebenso auch dann, wenn das Rechtsverhältnis, um das es geht, keine signifikanten Bezüge zu einer nationalen Rechtsordnung aufweist und die Bevorzugung des nationalen Rechts einer Partei vor dem der anderen unbillig erscheint, oder dann, wenn der Konflikt vor einem Schiedsgericht der institutionalisierten Schiedsgerichtsbarkeit ausgetragen wird, das üblicherweise auf der Basis anationaler Grundsätze entscheidet. f) Maßgeblichkeit der lex mercatoria außerhalb des Parteiwillens Damit sind wir bei dem Ergebnis, daß sich die Anwendung der lex mercatoria für den internationalen Schiedsrichter verbietet, wenn sie dem gemeinsamen Willen der Parteien nicht entspricht oder wenn dadurch die Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs gefährdet wird; geboten ist die Anwendung der lex mercatoria dagegen in dem Maße, wie die Parteien von ihrer Maßgeblichkeit ausgegangen sind. Uber eine Geltung der lex mercatoria aus eigener Kraft sagt dieses Ergebnis noch nichts aus. Diese Frage stellt sich erst dann, wenn die Parteien über das ihrer Auffassung nach maßgebliche Recht schweigen und sich auch aus ihrem Verhalten darüber keine Schlüsse ziehen lassen, oder wenn sie sich über die Geltung der lex mercatoria uneinig sind, ohne daß Gesichtspunkte für die Prävalenz des Standpunktes der einen oder der anderen Seite sprechen. Letztlich erscheint es wenig weiterführend, zur Beantwortung dieser Frage einen deus ex machina aus dem Hut zu zaubern, der nach sattsam bekannter Manier der bisherigen lex mercatoria-Diskussion das eine oder andere Ergebnis als geltendes Recht oder als überlegene Einsicht verkündet. Immerhin läßt sich sagen, daß es heute innerhalb des professionellen richterlichen Entscheidungsspielraums liegt, von einem objektiven Geltungsanspruch der lex mercatoria auszugehen. Dafür genügt es, daß die Behauptung ihrer eigenständigen und objektiven Geltung dem Bereich des juristisch Vertretbaren und Begründbaren angehört. Daß der Richter letztlich ohne eine verbindliche Norm auskommen muß, die ihm sagt, ob es eine eigenständig und objektiv geltende lex mercatoria gibt, ist im übrigen ein Umstand, den man ebensowenig dramatisieren muß, wie man ihn ändern kann. Zur Entscheidungsunfähigkeit verurteilt sie den Richter gewiß nicht. Die Anwendung von lex mercatoria-Gesichtspunkten verlangt ihm ohnehin nur selten ein explizites Bekenntnis zum Geltungsanspruch der lex mercatoria ab. Zum einen kann er es vielfach auf sich beruhen lassen, welcher Rechtsordnung er ein für ihn entscheidungserhebliches Argument zuschreibt. Oft wird er sich die Frage, aus welchem Normschöpfungspotential er sich bedient, gar nicht stellen. Das gilt in besonderem Maße für Universalien der

Das lex mercatoria-Problem

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Rechtsanwendung, die ihm so geläufig sind, daß er kein Bedürfnis empfindet, sie aus bestimmten positivrechtlichen Normen abzuleiten. Zum anderen kommt er meistens ohne eine genaue Aussage darüber aus, ob er anationales Recht kraft eines diesem innewohnenden objektiven Geltungsanspruchs anwendet oder aber auf der Basis der Parteiautonomie oder gar kraft einer Inbezugnahme durch ein nationales Recht. III. Die rechtspolitische Dimension Meine Weigerung, eine Aussage über die objektive Geltung der lex mercatoria zu machen, soll mich allerdings nicht hindern, rechtspolitisch Stellung zu beziehen. Soll man den Schiedsrichtern empfehlen, wann immer ohne Schaden für den Schiedsspruch möglich, auf anationales Rechtsgut zu rekurrieren, und zwar möglichst ohne kollisionsrechtliche Umwege? Soll man den nationalen Gerichten nahelegen, ein solches schiedsrichterliches Vorgehen großzügig zu tolerieren, vielleicht sogar auch nationalen Richtern die lex mercatoria schmackhaft machen? Mir scheint, es bestehen gute rechtspolitische Gründe, in diese Richtung zu denken. Ich nenne die Stichworte: Weltgesellschaft32, Weltmarkt, Veränderung der Staatlichkeit im Verhältnis zur Selbstorganisation der Gesellschaft" und Umbau des Rechtssystems in Richtung auf prozedurale Programmierung gesellschaftlicher Selbststeuerung34, Universalisierung des Wirtschaftsrechts durch multinationale Anwaltspraxen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und durch die internationale Schiedsgerichtsbarkeit selbst, Zunahme der nationalstaatlich nicht mehr angemessen lokalisierbaren Konflikte und der transnational konzipierten Güter, Leistungen, Handels- und Zahlungsmechanismen35. Zudem scheint sich für den internationalen Wirtschaftsverkehr die private oder offiziöse Rechtsvereinheitlichung wegen größerer Sachnähe, geringerer Beeinflußbarkeit durch sachfremde politische Einflüsse und größerer Elastizität der von den Staaten getragenen klassischen internationalen Gesetzgebung als überlegen zu erweisen36.

12 Mit einer politisch-nationalstaatlich nicht zu kontrollierenden Wirtschaft: Luhmann (Fn. 16), 571,572. 33 Dazu etwa Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen: Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung (1993). 34 Dazu etwa Gunther Teubner, Verrechtlichung - Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, hrsg. von Friedrich Kühler (1984) 289-344 (334 ff). 35 Vgl. etwa Kazuaki Sono, Reorientation of the Traditional Legal Thinking in the Age of Delocalization (Impact of Globalized Economy): Riv. del diritto commerciale 1992, 1087. 36 Vgl. dazu Hans-Joachim Mertens (Fn. 18).

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Daß Juristen unter diesen Umständen ohne zwingendes staatliches Gebot ein nationales Normsetzungsmonopol verteidigen sollten, dessen ideologische Grundlagen wenig zeitgemäß sind und das ohnehin nur in der Theorie, nicht aber in der gesellschaftlichen Realität der Rechtserzeugung und Rechtsanwendung existiert37, ist nicht einzusehen. Wohl aber ist hervorzuheben, daß die lex mercatoria ein Instrument der rechtlichen Konfliktbewältigung darstellt, mit dem der Richter einen verantwortlichen Umgang pflegen muß. Über staatliche Eingriffsnormen kann er sich damit beispielsweise nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Lex mercatoria-Gesichtspunkte darf er nicht zur Interpretation von Verträgen heranziehen, die ihnen ersichtlich keinen Raum gewähren wollen. Im Hinblick darauf, daß lex mercatoria-Regeln kein staatliches Gesetzgebungsverfahren durchlaufen haben, besteht für ihre Anwendung ein besonderer Legitimationsbedarf im Sinne der Rechtfertigung ihrer Sachgerechtigkeit und Billigkeit38. So gesehen erscheint die lex mercatoria heute als ein rechtspolitisch unverzichtbares Fundament der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.

" Dazu Hans-Joachim Mertens, Leges praeter legem: Aktiengesellschaft 1982, 29-41 m. Nachw. 38 Dazu näher Hans-Joachim Mertens (Fn. 18) 239 f.

Zur Treuhand an GmbH-Anteilen Notwendige Differenzierung zwischen einfacher (verdeckter) und qualifizierter (offener) Treuhand

PETER U L M E R

I. Einführung Die Treuhand als Rechtsinstitut hat im deutschen Recht - im Unterschied namentlich zum angloamerikanischen 1 - bisher nur recht unvollkommene Berücksichtigung gefunden. Gesetzliche Regelungen gibt es nur zu Detailfragen 2 , die übliche Behandlung als Unterfall der mittelbaren Stellvertretung 3 bietet nicht mehr als eine erste Orientierung. Symptomatisch für diesen hier nicht näher zu dokumentierenden Befund ist die Behandlung der Treuhand an Gesellschaftsanteilen im GmbH-Recht. Obwohl Rechtsfragen insoweit in verschiedenen Zusammenhängen auftreten, darunter vor allem bei der Form- und Zustimmungsbedürftigkeit der Anteilsveräußerung (§15 Abs. 3 bis 5 GmbHG), im Hinblick auf die Begründung von Mitspracherechten des Treugebers gegenüber der Gesellschaft sowie bei der Anwendung der Vorschriften über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in Fällen treuhänderisch gehaltener Beteiligungen, finden sich bisher nur wenige Untersuchungen, die um einen systematischen, über die Einzelproblematik hinausreichenden Ansatz bemüht sind 4 ; durchschlagender Erfolg war ihnen nicht beschieden. In einer Grundsatzentscheidung vom 13 . 4. 19925 hat der II. Zivilsenat des B G H sich um eine solche Klärung bemüht, soweit es die Haftung des Treugebers für die Kapitalaufbringung in der G m b H betrifft. In Anknüpfung an ein obiter dictum aus B G H Z 31, 258 (266 f) und unter aus' Vgl. dazu statt aller Kötz, Trust und Treuhand, 1963, S. 26 ff, insbes. S. 70 ff, und Coing, Die Treuhand kraft privaten Rechtsgeschäfts, 1973, S. 3 ff. 2 Vgl. etwa § 39 Abs. 2 S. 2 A O , §§ 287 Abs. 2, 291 ff InsO, § 6 K A G G sowie unten III. 3 Vgl. Palandt-Heinrichs, B G B , 55. Aufl. 1996, Einf. Rdn. 6 f vor § 164, MünchKommSchramm, B G B , 3. Aufl. 1993, Vor § 164 Rdn. 27 ff, 33; Soergel-Leptien, B G B , 12. Aufl. 1988, Vor § 164 Rdn. 58 ff, 62. 4 So namentlich Blaurock, Unterbeteiligung und Treuhand an Gesellschaftsanteilen, 1981; vgl. auch Beuthien, Treuhand an Gesellschaftsanteilen, Z G R 1974, 26 ff, und Roth/ Thöni, Treuhand und Unterbeteiligung, in Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 245 ff. 5 B G H Z 118,107.

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führlicher Auseinandersetzung mit der Literaturkritik an der Tendenz der Rechtsprechung, den Treugeber grundsätzlich in die Haftung für Kapitalaufbringung und -erhaltung einzubeziehen, hat er sich aus Gründen des Gläubigerschutzes für die Gleichstellung des Treugebers mit einem GmbH-Gesellschafter ausgesprochen. Als entscheidend hat er es angesehen (S. 116), daß „derjenige, der insbesondere auch im Rahmen eines Treuhandverhältnisses zur Gründung einer GmbH einen Mittelsmann benutzt, der lediglich formal, aber nicht wirtschaftlich die Stellung eines Gesellschafters ausfüllen soll, im Interesse einer effizienten und praktikablen Sicherung des Haftungsfonds der GmbH als mittelbarer Gesellschafter für die ordnungsgemäße Aufbringung des Garantiefonds der GmbH ebenso in die Verantwortung zu nehmen ist wie für dessen spätere Erhaltung."

Oder, wie es an anderer Stelle der Entscheidung (S. 113) heißt: „Wer einen anderen statt seiner formalrechtlich zum Gesellschafter einer GmbH macht, gleichzeitig aber die mit der Gesellschafterstellung verbundenen Rechte und wirtschaftlichen Vorteile für sich selbst reserviert, muß grundsätzlich auch die mit der Gesellschafterstellung verbundene Verantwortung für eine ordnungsgemäße Finanzierung der Gesellschaft auf sich nehmen."

Das Gewicht höchstrichterlicher Grundsatzentscheidungen nicht nur für die Rechtsanwendung, sondern auch für die Rechtsfortbildung steht außer Zweifel. Das erscheint heute als so selbstverständlich, daß es auch und gerade in einer dem scheidenden Präsidenten des BGH, Walter Odersky, gewidmeten Festschrift - besonderer Hervorhebung oder näherer Begründung kaum bedarf. Insbesondere im Gesellschaftsrecht mit seinen eher rudimentären gesetzlichen Regelungen hat man sich an diese Entwicklung seit langem gewöhnt6 und kann - von gelegentlichen „Ausreißern" abgesehen7 - gut damit leben. Aufgabe des Schrifttums bleibt es freilich, die jeweiligen Grundsatzentscheidungen auf ihre inhaltliche Tragweite, ihre systematische Stimmigkeit und die in ihnen erkennbaren Entwicklungstendenzen zu überprüfen und ggf. Korrekturen oder veränderte Akzentsetzungen anzuregen - das folgt schon aus der notwendigen Einzelfallbezogenheit höchstrichterlicher Entscheidungen und der ihnen aus diesem Grund anhaftenden Zufälligkeit. Erweist sich der im Interesse optimaler Rechtspflege unverzichtbare Dialog zwischen Rechtsprechung und Schrifttum als erfolgreich, so kann er zum Garanten einer kontinuierlichen, neu auftretenden Erfordernissen auch ohne

6 Vgl. die Zusammenstellung bei Ulmer, Richterrechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht 1971-1985,1986, S. 5 ff. 7 Als ein solcher wurde in neuerer Zeit vor allem das sog. Video-Urteil des II. Zivilsenats (BGHZ 115, 187) zur persönlichen Haftung von GmbH-Gesellschaftern im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern angesehen (zur Korrektur vgl. Fn. 8).

Zur Treuhand an GmbH-Anteilen

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Eingriffe des Gesetzgebers sachgerecht Rechnung tragenden Rechtsentwicklung werden. 8 In diesem Sinne soll das BGH-Urteil zur Haftung des Treugebers für die Kapitalaufbringung in der GmbH im folgenden zum Anlaß genommen werden, nach möglichst einheitlichen Kriterien für die Behandlung der verschiedenen Treuhandkonstellationen im GmbH-Recht zu suchen. Gefragt ist m. a. W. keine Detailkritik an dem Urteil oder an seinen einzelnen Begründungsteilen; es geht vielmehr um den Versuch seiner sachgerechten Einordnung in einen größeren Zusammenhang. Dafür bietet sich die seit einiger Zeit vor allem im Personengesellschaftsrecht diskutierte, auch schon in einigen BGH-Urteilen 9 angeklungene Unterscheidung zwischen verdeckter und offener (besser: einfacher und qualifizierter) Treuhand an.10 Die vorstehenden Urteilszitate lassen vermuten, daß sich der II. Zivilsenat von dieser Unterscheidung hat leiten lassen, auch wenn er darauf in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich eingegangen ist. II. Zum Untersuchungsgegenstand 1. Gründe für die Einschaltung von Treuhändern als GmbH-Gesellschafter

Bis zur GmbH-Novelle 1980 bildete einen Hauptanwendungsfall für die Einschaltung von Treuhändern in die GmbH-Gründung die wirtschaftlich gewollte, rechtlich nicht mögliche Einmann-Gründung; dieser Bereich machte schätzungsweise 25 % aller Gründungen aus.11 Da das GmbH-Recht vor der Novellierung des § 1 GmbHG das Vorhandensein von mindestens zwei Gesellschaftern im Gründungsstadium der GmbH voraussetzte und da es die Anteilsvereinigung erst nach Eintragung der GmbH zuließ, behalf man sich mit der Einschaltung eines „Strohmanns" für die Zwecke der Gründung. Freilich verband sich das meist mit der Absprache, daß der Strohmann seinen Anteil alsbald nach Eintragung auf den wirtschaftlichen Einmann-Gesellschafter (Treu8 Beispielhaft die Korrektur des Video-Urteils (Fn. 7) durch den II. Zivilsenat im TBB-Urteil BGHZ 122, 123 als Folge intensiver Diskussionen in und mit der Literatur. ' BGHZ 10, 44, 49 f; BGH WM 1987, 811; so zum GmbH-Recht auch schon BGH GmbH-Rdsch. 1977, 244, 245. 10 Vgl. dazu schon Coing (Fn. 1) S. 91; näher Schlegelberger-K. Schmidt, HGB, 5. Aufl. 1986, Vorbem. § 230 Rdn. 36 und 69; Staub-Ulmer, HGB, 4. Aufl. 1989, § 105 Rdn. 103, 106 m. weit. Nachw.; so zum GmbH-Recht jetzt auch Lutter-Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl. 1995, § 14 Rdn. 12 (bezogen auf die Haftung des Treugebers gegenüber der GmbH); im Ansatz (freilich ohne konkrete rechtliche Folgerungen) auch Roth/Thöni (Fn. 4) S. 251. " Zur Zahl und Entwicklung von Einmann-Gesellschaften vgl. die Nachw. bei Hachenburg-Ulmer, GmbHG, 8. Aufl. 1990, Einl. Rdn. 72.

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geber) zu übertragen hatte; teilweise wurden derartige Vereinbarungen, aufschiebend bedingt auf den Zeitpunkt der Eintragung, auch schon im Gründungsstatut getroffen.12 Rechtliche Bedenken gegen ein solches Vorgehen bestanden nicht mehr, nachdem es in BGHZ 21, 378 entgegen den in Teilen der Literatur noch fortbestehenden Vorbehalten als unbedenklich qualifiziert worden war. Ein weiterer, früher verbreiteter Grund für die Einschaltung eines Treuhänders lag in der Verfolgung von Sicherungszwecken. 13 Um dem Darlehensgeber (meist einem Kreditinstitut) eine Realsicherheit zu verschaffen, wurden die GmbH-Anteile vom Darlehensnehmer (als Sicherungsgeber und Treuhänder) an den Darlehensgeber (Sicherungsnehmer) übertragen. Dieser hatte die Stellung eines nach außen vollberechtigten Gesellschafters, während er im Innenverhältnis treuhänderischen Bindungen gegenüber dem Sicherungsgeber unterlag. Aus heutiger Sicht bilden derartige Konstellationen wohl eher die Ausnahme, nachdem sich für Sicherungszwecke verbreitet das Institut der Anteilsverpfändung durchgesetzt hat.14 Prüft man die der Rechtsprechung zugrundeliegenden neueren Treuhand-Fälle, so stößt man auf eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe, die zur Einschaltung von Treuhändern führen können. In Betracht kommt zum einen die Verweigerung der nach dem Gesellschaftsvertrag erforderlichen Zustimmung von Mitgesellschaftern zur Anteilsübertragung; sie mag Anlaß geben, den verhinderten Anteilserwerber als Treugeber zu behandeln, wobei die Parallele zur Unterbeteiligung ersichtlich ist. Denkbar ist zum anderen die Verwendung der Treuhand zum Zwecke vorweggenommener Vererbung in der Weise, daß der Gesellschafter seinen Anteil schon jetzt auf die potentiellen Erben (Ehefrau und Kinder) als Treuhänder überträgt und sich selbst im Innenverhältnis die Mitsprache- und Gewinnrechte an dem Anteil vorbehält.15 Er begnügt sich dadurch mit der Rolle des Treugebers, steht wirtschaftlich gesehen aber einem Nießbraucher am Anteil nahe. Einen dritten Bereich bilden die Fälle, in denen es dem Treugeber darum geht, seine Mitgliedschaft an der GmbH nicht erkennbar werden zu lassen. Die Verdeckung kann sich auf das Außenverhältnis beziehen, so wenn ein Gesellschafter seine Vgl. nur BGHZ 21, 378, 383. Dazu näher Mühl, Der Geschäftsanteil in einer GmbH als Kreditsicherheit (treuhänderische Übertragung, Verpfändung, Nießbrauch), in: Hadding/Schneider, Gesellschaftsanteile als Kreditsicherheit, 1979, S. 139 ff; vgl. auch Hachenburg-Zutt, GmbHG, 8. Aufl. 1991, Anh. § 15 Rdn. 56; Blaurock (Fn. 4) S. 68 f. H Zur Anteilsverpfändung vgl. statt aller Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 39 ff; Mühl (Fn. 13) S. 155 ff; die heute untergeordnete Rolle der Sicherungstreuhand an GmbH-Anteilen betonen zu Recht auch Roth/Thöni (Fn. 4) S. 248. 15 So in BGH GmbH-Rdsch. 1977, 244. 12

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Beteiligung an der G m b H aus Wettbewerbsgründen Dritten gegenüber nicht in Erscheinung treten lassen will16 oder wenn ein Produzent von Markenartikeln daran interessiert ist, im Wege des zweigleisigen Vertriebs seine Produkte teils mit, teils ohne Marke abzusetzen. 17 Der Treugeber kann an der Verdeckung seiner Beteiligung aber auch im Verhältnis zu den Mitgesellschaftern des Treuhänders interessiert sein, etwa weil er als Wettbewerber tätig ist oder bestimmte satzungsmäßige Beteiligungsvoraussetzungen nicht erfüllt und daher nicht mit der Zustimmung der Mitgesellschafter zu seiner Aufnahme in die G m b H rechnen kann.

2. Arten der Treuhand a) Verwaltungs- und Sicherungstreuhand Die klassische, jahrzehntelang übliche Einteilung der mit Vollrechtsübertragung auf den Treuhänder verbundenen, sog. fiduziarischen Vollrechtstreuhand unterscheidet zwischen der Verwaltungstreuhand und der Sicherungstreuhand. 18 Während die Verwaltungstreuhand üblicherweise auf einem Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen dem Treugeber und dem Treuhänder beruht, durch den sich der Treuhänder verpflichtet, die Interessen des Treugebers zu wahren und dessen Weisungen zu folgen, dient die Sicherungstreuhand dem jeweiligen Sicherungsinteresse des Treuhänders, auch wenn er den Treugeber als den eigentlichen Inhaber des Sicherungsguts anerkennt und sich verpflichtet, das Sicherungsgut ordnungsgemäß zu verwalten und es nach Erledigung des Sicherungszwecks an den Treugeber zurückzuübertragen. 19 Soweit es um die Treuhand an GmbH-Anteilen geht, spielt die Sicherungstreuhand heute, wie schon erwähnt, nur noch eine untergeordnete Rolle. Aus diesem Grunde kann sich die folgende Untersuchung auf die Probleme der Verwaltungstreuhand beschränken. Einer näheren Abgrenzung zwischen diesen beiden Arten der Treuhand bedarf es nicht.

b) Einfache und qualifizierte Treuhand Beschränkt man sich auf die Fälle der Verwaltungstreuhand, so setzt sich für die Treuhand an Gesellschaftsanteilen zunehmend die Unterscheidung zwischen der sog. „verdeckten" und der „offenen" Treuhand " So in B G H Z 118, 107; vgl. auch schon B G H Z 31, 258. Vgl. dazu Eden, Treuhandschaft an Unternehmen und Unternehmensanteilen, 2. Aufl. 1989, S. 191 f; Hagmanns ZIP 1989, 900. " Vgl. für die Treuhand an GmbH-Anteilen nur Blaurock (Fn. 4) S. 66 ff; Eden (Fn. 17) S. 26 f; allg. Going (Fn. 1) S. 85 ff. " Näher dazu Mühlen. 13) S. 147 ff. 17

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durch. 20 Dabei wird unter „verdeckter" Treuhand eine rein zweiseitige Abrede zwischen dem Treugeber und dem Treuhänder über dessen Amtieren als formalberechtigter Gesellschafter und Geschäftsbesorger für den Treugeber verstanden, während es bei der „offenen" Treuhand um die Begründung einer mittelbaren Gesellschafterstellung für den Treugeber im Einverständnis mit den Mitgesellschaftern geht. Entscheidend für die Unterscheidung zwischen der verdeckten und der offenen Treuhand ist also nicht der - nicht selten eher zufällige - Umstand, ob das Bestehen eines Treuhandverhältnisses den Mitgesellschaftern bekannt ist, sondern ob sie der mittelbaren Beteiligung zugestimmt und den Treugeber auf diese Weise in den Gesellschafterverband einbezogen haben. Das bringt das Begriffspaar „verdeckte" und „offene" Treuhand nicht hinreichend zum Ausdruck. U m insoweit künftig Mißverständnisse zu vermeiden, soll im folgenden statt dessen von „einfacher" und „qualifizierter" Treuhand gesprochen werden, wobei die Qualifizierung in der Zustimmung der Mitgesellschafter zur wirtschaftlichen Beteiligung des Treugebers an der GmbH liegt. Im Falle einer wirtschaftlichen Einmann-GmbH handelt es sich somit notwendig um eine qualifizierte Treuhand, da sich die Rechte des oder der Treuhänder von einem einheitlichen Treugeber ableiten, woraus zugleich das Einverständnis der Beteiligten mit der Behandlung des Treugebers als wirtschaftlicher Gesellschafter folgt. 3. Gestaltungsfreiheit des GmbH-Rechts im Unterschied zum Numerus Clausus der Sachenrechte Bedeutsam für die Entwicklung der Lehre von der qualifizierten (offenen) Treuhand an GmbH-Anteilen ist - zumal vor dem Hintergrund der abweichenden Diskussion zur Treuhand an Sachen - die Flexibilität des GmbH-Rechts mit Ausnahme seiner gläubigerschützenden Vorschriften über die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals. 21 Sie stellt es den Gesellschaftern frei, die Rechtsverhältnisse innerhalb der GmbH abweichend vom dispositiven Gesetzesrecht weitgehend nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, und eröffnet ihnen damit die Möglichkeit, Vereinbarungen über die Mitberechtigung des Treugebers an dem formal dem Treuhänder zugeordneten GmbH20 Vgl. die Nachweise o. Fn. 10; so auch schon H. Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Teil I Rdn. 113.3; Beuthien ZGR 1994, 31; mißverst. Eden (Fn. 17) S. 27 f, der zu Unrecht auf die Kenntnis außenstehender Dritter von der Treuhandbeziehung abstellt. 21 Vgl. dazu schon Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, insbes. S. 104 ff; aus heutiger Sicht vgl. Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) Einl. Rdn. 21; Scholz-Westermann, GmbHG, 8. Aufl. 1993, Einl. Rdn. 2 f, 22.

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Anteil und über die Aufteilung der aus der Mitgliedschaft folgenden Verwaltungs- und Vermögensrechte zwischen ihnen zu treffen. Demgegenüber gilt im Dritten Buch des B G B der Numerus Clausus der Sachenrechte. 22 Er steht der Entwicklung beschränkter dinglicher Rechte an Sachen außerhalb des gesetzlich geregelten Katalogs entgegen. Deswegen hat es die h. M. abgesehen von der für das Vollstreckungs- und Konkursrecht anerkannten Sonderbehandlung von treuhänderisch gehaltenen Sachen 23 bisher auch stets abgelehnt, zur dinglichen Anerkennung von Treuhandabreden und zu einer entsprechenden Verstärkung der Treugeberstellung zu kommen. Zwar wird hervorgehoben, daß die rechtsgeschäftliche Treuhand neben einem persönlichen auch ein sachliches konstitutives Element aufweise, d. h. zum einen die Bindung des Treuhänders durch die Treuhandabrede, zum anderen seine Verpflichtung ein bestimmtes Recht dinglich zu halten. Aber auch aus diesem sachlichen Element soll keine Verdinglichung der Treuhandabrede folgen.24

4. Zum Vergleich der Treuhand von GmbH-Anteilen mit Unterbeteiligung und Nießbrauch Die Nähe bestimmter Treuhand-Konstellationen entweder zur Unterbeteiligung oder zum Nießbrauch ist, wie schon angedeutet, offensichtlich. D e m sollte bei der rechtlichen Behandlung der jeweiligen Treuhand-Konstellationen schon deshalb Rechnung getragen werden, weil sich für die Beurteilung von Unterbeteiligung bzw. Nießbrauch am GmbH-Anteil zwischenzeitlich verläßliche Grundsätze herausgebildet haben, die sich auch dazu eignen, auf die Treuhand auszustrahlen.

a) Unterbeteiligung Bei der Unterbeteiligung am GmbH-Anteil handelt es sich i. d. R. um eine zweiseitige Abrede zwischen dem (Haupt-)Gesellschafter und dem Unterbeteiligten, die jenen verpflichtet, den Anteil partiell für den Unterbeteiligten zu halten.25 Ihrer Rechtsnatur nach ist eine solche Ab-

22 Vgl. nur M ü n c h K o r a m - Q » ^ , BGB, 2. Aufl. 1986, Einl. vor § 854 Rdn. 29, 32 f; Soergel-Mühl, BGB, 12. Aufl. 1989, Einl. vor § 854 Rdn. 21, 45; Wiegand AcP 190 (1990), 112, 117 ff; ferner speziell im Hinblick auf die Treuhand Siebert, Das rechtsgeschäftliche Treuhandverhältnis, 1933, S. 233 ff, 239. 23 Vgl. nur Palandt-Bassenge, BGB, 55. Aufl. 1996, § 903 Rdn. 38 ff, 42 f; MünchKomm-Ä". Schmidt, ZPO, 1992, §771 Rdn. 25 f; Kuhn-Ublenbruck, K O , 11. Aufl. 1994, § 43 Rdn. 10 ff, jew. m. w. N. auch zur Rspr. 24 Vgl. insbes. Coing (Fn. 1) S. 85; Soergel-Mühl (Fn. 22) Einl. vor § 854 Rdn. 45. 25 Vgl. nur Blaurock (Fn. 4) S. 49, 55 ff; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 35 ff m. w. N .

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rede meist als Innengesellschaft des bürgerlichen Rechts zu qualifizieren; insoweit unterscheidet sie sich trotz fließender Übergänge im Ansatz deutlich vom Treuhandverhältnis als einem Auftrag oder einem Geschäftsbesorgungsvertrag.26 Klare Parallelen zeigen sich aber darin, daß sowohl der Unterbeteiligte als auch der „einfache" Treugeber in keinem unmittelbaren Rechtsverhältnis zur GmbH oder zu den Mitgesellschaftern steht.27 Das spricht dafür, die Behandlung des „einfachen" Treugebers im GmbH-Recht an derjenigen des Unterbeteiligten zu orientieren.28 b) Nießbrauch Der Nießbrauch am GmbH-Anteil wird unter den Voraussetzungen der §§ 1068,1069 B G B heute durchweg als zulässig anerkannt.29 Er führt zur „dinglichen" (Mit-)Berechtigung des Nießbrauchers am GmbHAnteil auch ohne Ausscheiden des Bestellers aus der GmbH. Bedeutung hat das nicht nur für das dem Nießbraucher zustehende Gewinnrecht, sondern auch und vor allem für die Einräumung von mit dem Anteil verbundenen Verwaltungsrechten (Stimmrecht, Informationsrecht u. a.) an den Nießbraucher zur Absicherung des Gewinnrechts, ohne daß dem das auch im GmbH-Recht geltende Abspaltungsverbot entgegensteht.30 Der Nießbraucher ist damit, ohne formell Gesellschafter zu sein, im Einvernehmen mit den Mitgesellschaftern Mitberechtigter am Anteil mit der Folge, daß ihn grundsätzlich auch die mit dem Anteil verbundenen Verpflichtungen treffen.31 Die Nähe zum Fall der „qualifizierten" Treuhand, bei der dem Treugeber im Innenverhältnis eine Mitberechtigung gegenüber den Mitgesellschaftern zukommen soll, ist offensichtlich.

Vgl. Staub-Ulmer (Fn. 10) § 105 Rdn. 102,110; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 258 ff. Staub-Ulmer (Fn. 10) § 105 Rdn. 104,111. 28 In diese Richtung weisen auch die Überlegungen von Roth/Thöni aaO (Fn. 4). 29 Vgl. statt aller Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 58 ff; Scholz-Winter GmbHG, 8. Aufl. 1993, § 15 Rdn. 188 ff; Mühl (Fn. 13) S. 158 ff. 30 Im Anschluß an Fleck, in: Festschrift f. Robert Fischer, 1979, S. 107, 118 ff, 125 f inzwischen h. M.; vgl. Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 61, 64a; RowedderKoppensteiner, GmbHG, 2. Aufl. 1990, § 4 7 Rdn. 22; Baumbach-Hueck, GmbHG, 16. Aufl. 1996, § 15 Rdn. 52; Lutter-Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl. 1995, § 14 Rdn. 10, § 15 Rdn. 49; a. A. noch O L G Koblenz BB 1992, 1083; Scholz-Winter (Fn. 29) § 15 Rdn. 192; Scholz-K. Schmidt, GmbHG, 8. Aufl. 1995, § 47 Rdn. 18. 31 So für die Treupflicht zutr. auch Fleck (Fn. 30) S. 118 f; a. A. noch die h. M., die auch heute noch (und ohne auf § 18 Abs. 2 GmbHG einzugehen) die Pflichten aus dem Geschäftsanteil ausschließlich dem Gesellschafter/Nießbrauchsbesteller zuordnet; vgl. Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 1 5 Rdn. 60; Scholz-Winter (Fn. 29) § 1 5 Rdn. 193 m. w. N. 26

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III. Gesetzliche Regelungen der Treuhand am GmbH-Anteil Wie schon erwähnt, gibt es im GmbH-Recht keine generelle, die Treuhand an GmbH-Anteilen betreffende Regelung. Seit der GmbHNovelle 1980 finden sich jedoch zwei Vorschriften, die erkennen lassen, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Treuhand am GmbH-Anteil bedacht und daran Rechtsfolgen geknüpft hat. 1. Die Haftung des Treugebers für Ersatzansprüche nach § 9a GmbHG Die Regelung in § 9a GmbHG über die Haftung der Gesellschafter und Geschäftsführer für falsche Angaben, die zum Zwecke der Errichtung der Gesellschaft gemacht wurden, ist in Anlehnung an § 46 Abs. 4 und 5 AktG, wenn auch nicht unter vollständiger Übernahme der dort zu findenden Regelungen32, im Zuge der GmbH-Novelle 1980 in das GmbH-Gesetz aufgenommen worden. Die Haftung setzt, wie § 9a Abs. 2 und 3 GmbHG deutlich machen, Verschulden der Gesellschafter oder Geschäftsführer voraus und ist damit nach h. M. deliktsähnlicher Art.33 Die hier in Frage stehende Treuhand-Regelung findet sich in § 9a Abs. 4 GmbHG, wonach für falsche Angaben neben den Gesellschaftern in gleicher Weise Personen verantwortlich sind, für deren Rechnung die Gesellschafter Stammeinlagen übernommen haben. Das trifft sowohl für Fälle der einfachen als auch für solche der qualifizierten Treuhand zu. Von Interesse ist auch, daß der danach haftende Treugeber sich wegen seiner eigenen Unkenntnis über die haftungsbegründenden Umstände nicht exkulpieren kann, sondern sich die Kenntnis oder das Kennenmüssen des für ihn handelnden Treuhänders zurechnen lassen muß (vgl. § 9a Abs. 4 S. 2 GmbHG). 2. Die Generalklausel des § 32a Abs. 3 GmbHG zur Erfassung mittelbarer Gesellschafterdarlehen Als zweite einschlägige Regelung ist § 32a Abs. 3 GmbHG zu nennen. Diese Vorschrift wurde im Zuge der Regelungen der GmbH-Novelle zu den eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen in das GmbH-Gesetz aufgenommen. Im Unterschied zu § 9a Abs. 4 GmbHG bezieht sie sich nicht ausdrücklich auf „Personen, für deren Rechnung die Gesell32 Nicht in § 9a Abs. 4 G m b H G übernommen wurde die in § 46 Abs. 4, 5 AktG zusätzlich vorgesehene Ausfallhaftung des Treugebers bei Zahlungsunfähigkeit eines Aktionärs; vgl. dazu unten V 2 c. 33 Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 9a Rdn. 1; Rowedder-Rittner, G m b H G , 2. Aufl. 1990, § 9a Rdn. 33; Scholz-Winter (Fn. 29) § 9a Rdn. 7.

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schafter Stammeinlagen übernommen haben", sondern erklärt die Vorschriften über Gesellschafterdarlehen sinngemäß auf andere Rechtshandlungen eines Gesellschafters oder eines Dritten für anwendbar, die der Darlehensgewährung nach § 32a Abs. 1 oder 2 wirtschaftlich entsprechen. Auch wenn die Regelung somit nicht ausdrücklich auf mittelbare Gesellschafter Bezug nimmt, kann nach Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der Vorschrift doch kein Zweifel daran bestehen, daß mit den „Dritten" i. S. v. § 32a Abs. 3 auch Personen gemeint sind, die als mittelbar Beteiligte ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der G m b H haben und aus diesem Grunde geneigt sein können, anstelle der erforderlichen Kapitalzuführung eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen zu gewähren. 34

IV. Die bisherige Beurteilung von Treuhand-Konstellationen im GmbH-Recht der Form- und Zustimmungserfordernisse 1. Der Anwendungsbereich nach § 15 Abs. 3 bis 5 GmbHG Soweit sich mit der Begründung eines Treuhandverhältnisses die Abtretung des Anteils vom bisherigen Gesellschafter (künftigen Treugeber) an den Treuhänder als neuen Gesellschafter verbindet, steht die Anwendbarkeit der Form- und Zustimmungserfordernisse des § 15 Abs. 3 bis 5 G m b H G heute außer Zweifel. Es handelt sich jeweils schon äußerlich betrachtet um einen Gesellschafterwechsel, für den die genannten Vorschriften gelten. Ihre Nichtanwendung würde eine teleologische Reduktion mit Rücksicht auf die Beibehaltung der (mittelbaren) Gesellschafterstellung des künftigen Treugebers erfordern. Das ist bisher von keiner Seite vertreten worden. Umstritten ist demgegenüber die Behandlung derjenigen Fälle, in denen ohne formellen Gesellschafterwechsel die Treugeberposition übertragen wird. Im einzelnen ergibt sich der folgende Befund. a) Verfügungsgeschäft

(§ 15 Abs. 3)

Stets formbedürftig ist nach ganz h. M. nicht nur die Übertragung des Anteils vom bisherigen Gesellschafter (künftigen Treugeber) auf den als Treuhänder fungierenden Erwerber, sondern ebenso auch der umgekehrte Vorgang der (Rück-)Ubertragung vom Treuhänder auf den bis-

34

Vgl. dazu Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) §§ 32a, 32b Rdn. 123; Scholz-K.Schmidt, GmbHG, 8. Aufl. 1993, §§ 32a, 32b Rdn. 123; sowie zur Haftung analog §31 Abs. 1 GmbHG schon BGHZ 31, 258, 266 f; 75, 334, 336; 95, 188, 193.

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herigen Treugeber. 35 Über den Wortlaut des § 15 Abs. 3 G m b H G hinaus wendet die Rechtsprechung die Formvorschrift aber auch in denjenigen Fällen an, in denen - ohne Veränderung der formellen Gesellschafterstellung des Treuhänders - die Treugeberrechte aus dem Treuhandverhältnis vom bisherigen Treugeber auf einen Dritten übertragen werden 36 ; die Literatur ist gespalten.37 Begründet wird diese Anwendung der Formvorschrift mit dem Bestreben, eine Umgehung des Gesetzeszwecks zu vermeiden und die Übertragung der GmbH-Anteile zur Erschwerung des Anteilshandels auch dann der notariellen Form zu unterwerfen, wenn die formelle Gesellschafterstellung unverändert bleibt. Anderes gilt bei Einräumung einer Unterbeteiligung an einem G m b H Anteil 38 ; hierauf ist zurückzukommen. b) Verpflichtungsgeschäft

(§ 15 Abs. 4)

Bei der Begründung des Treuhandverhältnisses als des dem Verpflichtungsgeschäft i. S. v. § 15 Abs. 4 G m b H G entsprechenden Rechtsverhältnisses differenziert die Rechtsprechung danach, ob die Übernahme der Stellung als Treuhänder der Beteiligung an der G m b H vorangegangen ist, insbesondere durch Mitwirkung des Treuhänders an einer Strohmanngründung, oder ob der Gesellschafter als künftiger Treuhänder eine Abtretungspflicht hinsichtlich seines eigenen Anteils übernimmt. Im erstgenannten Fall soll das Treuhandverhältnis nicht der notariellen Form bedürfen, da die Abtretungsverpflichtung beim Ende des Treuhandverhältnisses schon aus § 667 B G B folge. 39 Anderes soll dann gelten, wenn die Abtretungsverpflichtung erst durch das Treuhandverhältnis herbeigeführt wird; in diesem Fall wird an dem Formerfordernis festgehalten. 40 Die Literatur stimmt dem Verzicht auf das Formerfordernis beim ursprünglich treuhänderischen Erwerb des Anteils durch den Treuhänder zu.41 Soweit es um die Neubegründung einer Abtretungspflicht hinsichtlich des bisher vom Treuhänder kraft eigenen Rechts ge-

35 BGH NJW 1965, 1376, 1377; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rein. 53; ScholzWinter (Fn. 29) § 15 Rdn. 15. 36 BGHZ 75, 352, 354; RGZ 159, 272, 281. 37 Dafür Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 1 5 Rdn. 53; Scholz-Winter (Fn. 29) § 1 5 Rdn. 16; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 15 Rdn. 56; Blaurock (Fn. 4) S. 154; a. A. Beuthien ZGR 1974, 39; Staub-Ulmer (Fn. 10) § 105 Rdn. 103 (für die verdeckte Treuhand); tendenziell auch Roth/Thöni (Fn. 4) S. 275. J« O L G Frankfurt GmbH-Rdsch. 1987, 57; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 36; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 15 Rdn. 58; Blaurock (Fn. 4) S. 154 f. » BGHZ 19, 69, 70; RGZ 124, 371, 376. 40 RGZ 124, 371, 376; offenlassend BGHZ 35, 272, 277. 41 Vgl. statt aller Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 52; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 15 Rdn. 55; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 274.

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haltenen Anteils geht, ist sie gespalten; teilweise will sie auch insoweit mit Rücksicht auf die gesetzliche Abtretungsverpflichtung aus § 667 B G B auf das Formerfordernis verzichten.42 c) Zustimmung der Mitgesellschafter

f f 15 Abs. 5)

Insoweit sollen nach ganz h. M. grundsätzlich die gleichen Maßstäbe gelten wie in bezug auf das Formerfordernis bei der Anteilsübertragung. Zustimmungsbedürftig ist danach nicht nur die Anteilsübertragung auf den künftigen Treuhänder unter Beibehaltung der Treugeberposition durch den bisherigen Gesellschafter43, sondern auch die Begründung oder Übertragung der Treugeberposition ohne formelle Änderung der Anteilszuordnung.44 Eine Ausnahme wird nur insoweit zugelassen, als es um die Rückübertragung des Anteils vom Treuhänder auf den Treugeber geht.45 Dem liegt die zutreffende Überlegung zugrunde, daß sich mit der Zustimmung zur Begründung der Treuhand (jedenfalls wenn diese offengelegt wird) in aller Regel diejenige zu ihrer Beendigung verbindet, so daß es einer erneuten Zustimmung nicht bedarf. 2. Die Haftung für Kapitalerhaltung

und

-aufbringung

Kapitalaufbringung und -erhaltung werden zwar häufig in einem Atemzug genannt, womit sich die Vorstellung zu verbinden scheint, daß der persönliche Anwendungsbereich beider Regelungen sich nach den gleichen Grundsätzen richtet. Bei näherem Zusehen zeigen sich jedoch nicht unerhebliche Unterschiede. Daher soll auch im folgenden zwischen der Haftung für die Kapitalerhaltung (und der ihr vergleichbaren Behandlung von Gesellschafterdarlehen) einerseits, der Haftung für die Kapitalaufbringung andererseits unterschieden werden. a)

Kapitalerhaltung

Die ganz h. M. in Rechtsprechung und Literatur bejaht die Haftung des Treugebers auf Rückerstattung verbotener Einlagenrückgewähr nach § 31 Abs. 1 GmbHG unter der Voraussetzung, daß die GmbH die ver-

42 So Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 52; Beuthien ZGR 1974, 77; anders die h. M.; vgl. Scbolz-Winter (Fn. 29) § 15 Rdn. 62; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 15 Rdn. 56; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 274. 43 Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 53; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 263. 44 RGZ 159, 272, 280 f; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 53; Scholz-Winter (Fn. 29) §15 Rdn. 17. 45 BGH NJW 1965, 1376, 1377 f; NJW 1980, 2701, 2709; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 53; Scholz-Winter (Fn. 29) § 15 Rdn. 17.

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botene Leistung causa societatis an ihn persönlich erbracht hat.46 Nach der Rechtsprechung soll die Haftung des Treugebers nach § 31 Abs. 1 GmbHG aber auch dann eingreifen, wenn die verbotene Rückgewähr von der GmbH nicht an den Treugeber, sondern an den Treuhänder als Gesellschafter erfolgt und dieser das Erlangte intern an den Treugeber weiterleitet.47 Die Literatur ist in diesem Fall gespalten; anstelle des Rückforderungsanspruchs gegen den Treugeber verweist sie die GmbH teilweise auf die Möglichkeit, den Anspruch des Treuhänders gegen den Treugeber auf Rückzahlung des Erlangten zu pfänden und auf diesem Wege gegen den Treugeber vorzugehen.48 Streitig ist auch die Frage, ob den Treugeber die Ausfallhaftung nach § 3 1 Abs. 3 GmbHG für die vom jeweiligen Empfänger nicht zu erlangenden Beträge der verbotenen Einlagenrückgewähr trifft. Die Rechtsprechung bejaht die Haftung auch in diesem Fall49, während die Literatur sie überwiegend ablehnt.50 Danach, ob der Treugeber intern Gesellschafterrechte wahrnimmt oder nicht, wird bei der Diskussion bisher meist nicht unterschieden.51 b) Eigenkapitalersetzende

Gesellschafterdarlehen

Insoweit wird hinsichtlich der Behandlung von Darlehen eines Treugebers durchweg auf die Neuregelung des § 32a Abs. 3 G m b H G verwiesen, soweit es um die Anwendung der gesetzlichen Regelungen geht.52 Danach sind eigenkapitalersetzende Darlehen Dritter, die der GmbH nahestehen, denjenigen von Gesellschaftern voll gleichgestellt. Darauf, ob und inwieweit der Treugeber über interne Einflußmöglichkeiten auf die GmbH verfügt, kommt es nach ganz h. M. nicht an.55 46 B G H Z 31, 258, 266; Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) § 2 Rdn. 62; Hachenburg-Goerdeler/Müller, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 31 Rdn. 21; Scholz-Westermann, GmbHG, 8. Aufl. 1993, § 31 Rdn. 12, 14; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 30 Rdn. 17, § 31 Rdn. 12; Fleck, in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 391, 411; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 269. 47 B G H Z 31, 258, 266 f; 75, 334, 335 f; B G H WM 1977, 73, 75; O L G Hamburg BB 1984,1253. 4! Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) Rdn. 65 (bei verdeckter Treuhand); Scholz-Westermann (Fn. 46) § 31 Rdn. 13 f; Ballerstedt J Z 1960, 517; Ehlke DB 1985, 803; a. A. (generell für Direkthaftung des Treugebers auch bei mittelbarem Erwerb) Hachenburg-Goerdeler/ Müller (Fn. 46) § 31 Rdn. 47; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 31 Rdn. 12; Fleck (Fn. 46) S. 411; offenlassend Roth/Thöni (Fn. 4) S. 270. « B G H Z 3 1 , 2 5 8 , 2 6 6 ; 118, 107,110. 50 Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) § 2 Rdn. 63; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 1 Rdn. 43; Rowedder-Rittner (Fn. 33) § 2 Rdn. 27; wohl auch Ballerstedt J Z 1960, 515, 517; Ehlke DB 1985, 802 f; a. A. Hachenburg-Goerdeler/Müller (Fn. 46) § 31 Rdn. 47; zwischen offener und verdeckter Treuhand differenzierend Lutter-Hommelhoff (Fn. 30) § 31 Rdn. 20. 51 Anders jetzt (zutr.) Lutter-Hommelhoff (Fn. 30) § 14 Rdn. 12, § 31 Rdn. 20. 52 Vgl. die Nachweise in Fn. 34. 53 Anders aber Roth/Thöni (Fn. 4) S. 271.

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c)

Kapitalaufónngung

Abgesehen von einem obiter dictum in BGHZ 31, 258, 266 lehnte die h. M. die Haftung des Treugebers für die vom Treuhänder gezeichneten Einlagen bisher ab und kam folgerichtig auch zur Verneinung einer Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG für die von Mitgesellschaftern nicht zu erlangenden Einlagen.54 Mit dieser Haltung hat, wie schon erwähnt, der BGH in seinem Grundsatzurteil von 1992 gebrochen.55 Er stützt sich dazu auf das doppelte Argument, daß die Haftung dem Treugeber zuzumuten sei, da er wirtschaftlich am Erfolg der GmbH interessiert und im Verhältnis zum Treuhänder ohnehin haftbar sei, und daß sie im Interesse der GmbH-Gläubiger geboten sei, weil diese zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf die Sicherstellung der Kapitalaufbringung angewiesen seien.56 Beide Argumente sprechen dafür, daß der BGH die Einbeziehung des Treugebers in die Kapitalaufbringungshaftung generell und ohne Rücksicht darauf bejaht, wie die Rechtsstellung des Treugebers ausgestaltet ist und ob ihm insbesondere interne Mitspracherechte innerhalb der GmbH zustehen. Demgegenüber lassen sich die oben (unter I) zitierten Formulierungen aus der Urteilsbegründung eher dahin verstehen, daß eine solche Haftung nur dann eingreifen soll, wenn der Treugeber - i. S. einer qualifizierten Treuhand - die mit der Gesellschafterstellung verbundenen Rechte für sich selbst reserviert und den Treuhänder dazu einschaltet, lediglich formal, aber nicht wirtschaftlich die Stellung eines Gesellschafters auszufüllen. Legt man das Gewicht hierauf, so sprechen die besseren Gründe dafür, daß auch die Rechtsprechung die Haftung des Treugebers für die Kapitalaufbringung im Falle der einfachen Treuhand verneint. Was zum anderen die Reichweite der Ausfallhaftung des Treugebers nach § 24 GmbHG angeht, so erscheint es nur folgerichtig, sie an den gleichen Grundsätzen wie die unmittelbare Haftung für die Kapitalaufbringung auszurichten.57

54 Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) § 2 Rdn. 62; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 1 Rdn. 43; Scholz-Emmerich, GmbHG, 8. Aufl. 1993, § 24 Rdn. 8; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, § 61 III 3 b S. 1535 f; weitere Nachweise bei Ulmer ZHR 156 (1992) S. 378 in Fn. 3; im Sinne des BGH aber Lutter-Hommelhoff (Fn. 30) § 24 Rdn. 8; Scholz-Schneider, GmbHG, 8. Aufl. 1993, § 19 Rdn. 61; Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbHG, 1987, § 1 Rdn. 14 und § 24 Rdn. 6; Neflin GmbH-Rdsch. 1963, 44. 55 BGHZ 118, 107, 111 (vgl. dazu oben I). 56 Näher dazu Ulmer ZHR 156 (1992), 377, 381. 57 Zur NichtÜbernahme der in § 46 Abs. 4, 5 AktG geregelten Ausfallhaftung des Treugebers in der A G im Zuge der GmbH-Novelle 1980 in § 9a Abs. 4 GmbHG vgl. unten V 2 d.

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3. Die Rechtsstellung des Treugebers innerhalb der GmbH a) Die herrschende Meinung Die bisher ganz h. M. geht insoweit von zwei grundsätzlich klar zu trennenden Rechtsverhältnissen aus.58 Aus der Sicht der G m b H ist Gesellschafter danach nur der Treuhänder. N u r ihm steht das Stimmrecht und das Informationsrecht zu und nur er unterliegt folgerichtig auch der Verschwiegenheits- und Treupflicht in der GmbH. Allerdings wird die Rolle des Treugebers (soweit sie den Mitgesellschaftern bekannt ist) dabei nicht völlig ausgeklammert. So soll der Treuhänder einem Stimmverbot wegen Interessenkollision nach § 47 Abs. 4 G m b H G unterliegen, wenn sich eine solche Kollision beim Treugeber zeigt.59 Bei der Prüfung der Gründe für eine Verweigerung der vom Treuhänder verlangten Auskunft oder Einsicht sollen auch Besorgnisse im Hinblick auf die Person des Treugebers nach §51a Abs. 2 G m b H G Beachtung finden.60 Und schließlich soll es möglich sein, den Treuhänder mit Rücksicht auf einen in der Person des Treugebers liegenden wichtigen Grund aus der GmbH auszuschließen.61 Der grundsätzlichen Ausklammerung des Treugebers aus dem Gesellschafterverband entspricht die Beurteilung der Rechte des Treugebers durch die h. M.62 Ihm sollen keine unmittelbaren Rechte gegenüber der G m b H zustehen. Vielmehr soll er darauf beschränkt sein, hinsichtlich des Treuguts seine Rechte gegenüber dem Treuhänder geltend zu machen, sei es durch Vereinbarung einer Stimmbindung oder durch die Erteilung von Weisungen hinsichtlich der Wahrnehmung der Gesellschafterrechte. Auch über ein unmittelbares Informationsrecht soll der Treugeber nicht verfügen. Nicht eindeutig geklärt ist bisher die Frage, ob den Pflichten des Treuhänders aus der Gesellschafterstellung und damit dem GmbH-Interesse der Vorrang vor den Bindungen aus dem Treuhandvertrag gebührt 63 oder ob beide Verpflichtungen gleichrangig nebeneinander stehen.64 Bedeutung kann das für die Anweisung des Treugebers gegenüber dem Treuhänder zur Stimmabgabe unter Verlet58

Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 56; Scholz-Emmerich (Fn. 54) § 2 Rdn. 58; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 1 Rdn. 41; Blaurock (Fn. 4) S. 123 f; Mühl (Fn. 13) S. 147 ff. 5 " BGHZ 56, 47, 53; Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 55; Hachenburg-Hüffer GmbHG, 8. Aufl. 1991, § 47 Rdn. 128; Scholz-K. Schmidt, GmbHG, 8. Aufl. 1995, § 47 Rdn. 154; Baumbach-Hueck-Zöllner GmbHG, 16. Aufl. 1996, § 47 Rdn. 63; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 273. 60 So tendenziell Roth/Thöni (Fn. 4) S. 276,280. 61 BGHZ 32, 17, 33; Scholz-Emmerich (Fn. 54) § 2 Rdn. 59; Baumbach-Hueck (Fn. 30) § 1 Rdn. 42; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 273. 62 Vgl. Nachweise in Fn. 58. 63 Dafür Beuthien ZGR 1974, 41; Blaurock (Fn. 4) S. 181. 64 So tendenziell Staub-Ulmer (Fn. 10) § 105 Rdn. 103.

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zung des Gesellschaftsinteresses haben. Sollte sie für den Treuhänder trotz des entgegenstehenden Gesellschaftsinteresses bindend sein, so würde er sich bei einem Vorstoß hiergegen schadensersatzpflichtig gegenüber dem Treugeber machen, soweit die Stimmabgabe in der GmbH nicht wegen Treupflichtverstoß unbeachtlich ist und die Weisungsbindung sich damit wegen objektiver Unmöglichkeit als gegenstandslos erweist. b) Neue

Tendenzen

Im Unterschied zu dieser bisher noch h. M. sind neuere Tendenzen in der Literatur darauf gerichtet, die Zulassung interner Mitspracherechte des Treugebers vom Einverständnis der Mitgesellschafter abhängig zu machen und auf die Anwendung des Abspaltungsverbots insoweit zu verzichten65; darauf ist im folgenden näher einzugehen. Die Rechtsprechung beharrt überwiegend noch auf dem Abspaltungsverbot 66 , wenn auch erste Auflockerungstendenzen erkennbar sind.67 V. Der gebotene Neuansatz: Differenzierung zwischen einfacher und qualifizierter Treuhand 1.

Grundlagen

Auf die Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Treuhand und auf ihre Bedeutung für die jeweilige Ausgestaltung des Treuhandverhältnisses und die Beziehungen des Treugebers zur GmbH wurde bereits hingewiesen. Angesichts des Ergebnisses der Bestandsaufnahme (unter IV), wonach eine einheitliche Linie in Rechtsprechung und Literatur in bezug auf die verschiedenen Regelungskomplexe des GmbH-Gesetzes und ihre Anwendung auf Treuhandverhältnisse derzeit nicht feststellbar ist, liegt die Frage nahe, ob Unterscheidung nicht den Schlüssel für eine in sich konsistente, an einheitlichen Maßstäben ausgerichtete Behandlung der Treuhandverhältnisse im GmbH-Recht bietet. Wie die folgenden Überlegungen zeigen, lassen sich dafür in der Tat gute Gründe anführen. a) Einfache

Treuhand

Die „einfache" Treuhand beruht, wie angedeutet, auf einem rein zweiseitigen Rechtsverhältnis zwischen Treugeber und Treuhänder, das aus 65 So namentlich Fleck (Fn. 30) S. 118 ff, 127; Ulmer ZHR 156 (1992), 389 f; a. A. die h. M., vgl. Hachenburg-Hüffer (Fn. 59) § 47 Rdn. 50; Scholz-K. Schmidt (Fn. 59) § 47 Rdn. 18; Baumbach-Hueck-Zöllner (Fn. 59) § 47 Rdn. 26; Roth/Thöni (Fn. 4) S. 278 ff. " So zuletzt in BGHZ 104, 66, 74 f. 67 Vgl. BGH GmbH-Rdsch. 1977, 244, 245.

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der Sicht der G m b H und der Mitgesellschafter des Treuhänders grundsätzlich neutral, ja ihnen häufig nicht einmal bekannt ist. Die Situation ist ähnlich derjenigen im Fall der Unterbeteiligung, wenn auch mit der Besonderheit, daß der Treuhänder (anders als der Hauptgesellschafter) an der G m b H kein eigenes Interesse hat.68 Vorbehaltlich der Frage, ob und inwieweit angesichts fehlender Offenlegung realistische Möglichkeiten bestehen, im GmbH-Vertrag das Eingehen von Unterbeteiligungen oder einfachen Treuhandverhältnissen zu untersagen, bleiben Unterbeteiligung und einfache Treuhand aus der Sicht der G m b H grundsätzlich Sache des daran als Hauptgesellschafter oder Treuhänder beteiligten Vertragspartners. 69 Ihre Ausstrahlung auf das GmbH-Recht oder dessen Anwendung auf Treuhand oder Unterbeteiligungsverhältnis bedürfen besonderer Begründung, wie sie etwa in den Neuregelungen der §§ 9a Abs. 4, 32a Abs. 3 G m b H G oder in den Durchgriffslehren gefunden werden kann. Fehlt es an derartigen Besonderheiten, so ist die Anwendung von GmbH-Recht im Verhältnis zum Treugeber zu verneinen. b) Qualifizierte

Treuhand

Grundsätzlich abweichend von der einfachen Treuhand beruht die „qualifizierte" Treuhand auf einer Fortentwicklung des GmbH-Innenrechts unter Anerkennung einer Doppelzuständigkeit von Treuhänder und Treugeber mit quasi dinglicher (gesellschaftsrechtlicher) Wirkung am GmbH-Anteil, ohne daß das Abspaltungsverbot entgegensteht. Eine derartige Doppelzuständigkeit ist im Personengesellschaftsrecht schon weitgehend anerkannt. 70 Sie wird aber auch im GmbH-Recht akzeptiert, jedenfalls soweit es um die Begründung eines Nießbrauchs am G m b H Anteil oder um den Fall der Anteilsverpfändung geht.71 Läßt man derartige Konstellationen auch für den Bereich der Treuhand zu, so wandelt sich das Treuhandverhältnis von einem zweiseitigen, nur Treuhänder und Treugeber verbindenden Vertrag zu einem umfassenden, auch die Mitgesellschafter und mittelbar die G m b H einbeziehenden Rechtsverhältnis. Da das Abspaltungsverbot nicht eingreift, 68 Vgl. B G H N J W 1994, 2886, 2887 unter Hinweis auf den fließenden Übergang des Innenverhältnisses von (einfacher) Treuhand und Unterbeteiligung. " Das ist für die Unterbeteiligung anerkannt, vgl. B G H Z 50, 316, 325; Blaurock (Fn. 4) S. 153; Schlegelherger-K. Schmidt (Fn. 10) § 230 Rdn. 207; anderes soll demgegenüber im Rahmen von § 15 Abs. 5 G m b H G für die Begründung eines Treuhandverhältnisses gelten, auch wenn sie sich nicht mit einer formellen Anteilsübertragung verbindet (vgl. Nachweise in Fn. 44). 70 Vgl. die Nachweise in Fn. 9,10. 71 Vgl. in diesem Sinne, wenn auch ohne ausdrückliche Betonung der Doppelzuständigkeit, Hachenhurg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 44 f, 59 ff; Scholz-Winter (Fn. 29) § 15 Rdn. 158 f, 192.

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unterliegt die Art und Weise der Aufteilung der Mitgliedschaftsrechte in der GmbH zwischen Treuhänder und Treugeber der Dispositionsfreiheit der Beteiligten, wobei für die Zustimmung der Mitgesellschafter mindestens die satzungsändernde Mehrheit, wenn nicht die Einstimmigkeit erforderlich ist (vgl. unter 3a). Auch hat die Einbeziehung des Treugebers in den Gesellschafterverband und die Zuerkennung von Mitgliedschaftsrechten an ihn notwendig die Erstreckung der entsprechenden, den Treuhänder treffenden Mitgliedschaftspflichten auf den Treugeber zur Folge.72 c) Tragweite der Unterscheidung Im folgenden (unter 2 und 3) ist zu prüfen, wie sich diese Differenzierung zwischen einfacher und qualifizierter Treuhand auf die einzelnen Problemkomplexe auswirkt und ob es auf diesem Wege gelingt, zu jeweils in sich stimmigen, den Belangen der Beteiligten und des Rechtsverkehrs angemessen Rechnung tragenden Lösungen zu kommen. Daß es bei diesen Lösungen teils um Fragen des Innenverhältnisses, teils um solche des Außenverhältnisses geht, steht der einheitlichen Beurteilung entgegen dem ersten Anschein nicht entgegen. Denn es entspricht den Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, daß sich mit der Gesellschafterstellung Pflichten sowohl nach innen als auch nach außen verbinden und daß nicht nur die Mitgesellschafter, sondern auch die Gläubiger ein berechtigtes Interesse daran haben, zu wissen, wer hinter dem Verband steht und für den Haftungsfonds aufzukommen hat. Der Grundsatz, daß Verträge nur inter partes wirken, gilt zwar im BGB-Schuldrecht, nicht aber im allgemeinen Verbandsrecht. Die übereinstimmende Beurteilung von Mitspracherechten im Innenverhältnis und Haftungsgrundsätzen für die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals ist also aus verbandsrechtlicher Sicht durchaus konsequent. 2. Folgerungen für die einfache Treuhand a) Form- und

Zustimmungserfordernisse

Im Fall der einfachen Treuhand greifen die Form- und Zustimmungserfordernisse des § 15 Abs. 3 und 5 G m b H G nur dann ein, wenn es um formelle Änderungen der Zuordnung des GmbH-Anteils geht. Daher bedarf die Übertragung des GmbH-Anteils auf den Treuhänder unter Begründung eines Treuhandverhältnisses zwischen ihm und dem bisherigen Gesellschafter sowie die Verpflichtung hierzu der notariellen Form und zusätzlich der - auf den Gesellschafterwechsel als solchen be72

So zutr. auch Fleck (Fn. 30) S. 118 f.

Zur Treuhand an GmbH-Anteilen

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schränkten - Zustimmung der Mitgesellschafter, sofern der GmbH-Vertrag solches vorschreibt. Formbedürftig ist auch die Rückübertragung des Anteils auf den Treugeber. Eine erneute Zustimmung hierzu kann dann entfallen, wenn die Gesellschafter sie schon konkludent bei der vorherigen Zustimmung erteilt hatten. Unterschiede zur h. M.73 ergeben sich in derartigen Fällen vor allem bei der Abtretung der Treugeberstellung ohne Änderung der Position des Treuhänders. Da eine Anteilsübertragung nicht stattfindet und der neue Treugeber auch nicht etwa eine gesellschafterähnliche Rechtsstellung erlangt, findet § 15 Abs. 3 G m b H G weder direkt noch analog Anwendung. Auch eine erneute Abtretungsverpflichtung des Treuhänders, die nach § 15 Abs. 4 G m b H G formbedürftig wäre, wird angesichts der Übertragung der Rechte des bisherigen auf den neuen Treugeber nicht begründet. Schließlich entfällt auch das Erfordernis der Zustimmung der Mitgesellschafter, da sich für sie angesichts der rein internen Bedeutung des Treuhandverhältnisses nichts ändert. b) Verhältnis des Treuhänders zur GmbH Soweit es um das GmbH-Innenverhältnis im Fall der einfachen Treuhand geht, ergeben sich durch die Begründung des Treuhandverhältnisses keine unmittelbaren Auswirkungen. Die Rechte und Pflichten aus der Verbandszugehörigkeit treffen ausschließlich den Treuhänder, während der Treugeber ähnlich dem Unterbeteiligten auf seine vertraglichen Beziehungen zum Treuhänder beschränkt ist. Das schließt es zwar nicht aus, im Einzelfall dem Treuhänder das Bestehen des Treuhandverhältnisses unter Durchgriffsgesichtspunkten entgegenzuhalten und ihn danach einem Stimmverbot wegen Interessenkollision beim Treugeber zu unterwerfen, ihm Schranken des Informationsrechts im Hinblick auf die Treugeberstellung entgegenzusetzen oder ihn mit Rücksicht auf seine Beziehungen zum Treugeber ausnahmsweise sogar aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft auszuschließen.74 Immer bedarf es hierfür jedoch besonderer Zurechnungsgründe, die nicht allein im Bestehen des Treuhandverhältnisses zu finden sind, sondern überdies voraussetzen, daß diese Rechtsbeziehung mittelbar auf das Verhalten des Treuhänders in der GmbH und auf die Wahrnehmung seiner Gesellschafterrechte ausstrahlt. c) Kapitalerhaltung und

Gesellschafterdarlehen

Eine Haftung des Treugebers wegen der Erstattung verbotener Rückzahlungen kommt bei der einfachen Treuhand nur dann und insoweit in 73

Vgl. die Nachweise in Fn. 36 f, 44. " Vgl. dazu oben IV 3a.

7

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Betracht, als die G m b H ihm selbst causa societatis, d. h. mit Rücksicht auf seine N ä h e zur Gesellschaft, die entsprechenden Leistungen erbracht hat. Leistet die G m b H an ihn ausschließlich aufgrund einer Anweisung des Treuhänders und ohne Kenntnis seiner Treugeberstellung, so begründet das ebensowenig seine persönliche Haftung für die Rückgewähr wie bei indirekter Weiterleitung des von der G m b H an den Treuhänder Geleisteten an ihn. Auch eine Ausfallhaftung des Treugebers nach § 31 Abs. 3 G m b H G scheidet in derartigen Fällen in aller Regel aus. Besonderheiten gelten mit Rücksicht auf § 32a Abs. 3 G m b H G bei eigenkapitalersetzenden Darlehen des Treugebers an die kapitalschwache G m b H . Ausschlaggebend hierfür ist das Eigeninteresse des Treugebers an der Existenz der G m b H als Regelungsgrund für die Umqualifizierung des Fremddarlehens in ein Gesellschafterdarlehen. Auf einen vom Treugeber ausgehenden unternehmerischen Einfluß auf die G m b H kommt es entgegen abweichenden Stimmen im Schrifttum hier ebensowenig an wie im Regelfall der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen. 75 d)

Kapitalauföringung

Hinsichtlich der Kapitalaufbringung bewendet es bei der Haftung des Treuhänders und der Mitgesellschafter im Rahmen der §§ 19, 24 G m b H G . Eine unmittelbare Haftung des Treugebers scheidet hier selbst dann aus, wenn er indirekt, auf dem Weg über den Treuhänder, an der Gründung der G m b H mitgewirkt hat. Anderes gilt im Fall der wirtschaftlichen E i n m a n n - G m b H , da es sich insoweit notwendig u m den Fall einer qualifizierten Treuhand handelt/ 6 Die Ausdehnung der Haftung auf den Treugeber in § 9a Abs. 4 G m b H G erfaßt zwar - als Sonderregelung - auch die einfache Treuhand. Sie beschränkt sich jedoch auf deliktsähnliche Ersatzansprüche der Gesellschaft wegen der ihr aus falschen Angaben bei der Errichtung schuldhaft zugefügten Schäden und ist nicht geeignet, im Analogiewege eine allgemeine Haftung des einfachen Treugebers für die Kapitalaufbringung zu begründen. Dabei ist nicht ohne Interesse, daß der Gesetzgeber der GmbH-Novelle 1980 die in § 46 Abs. 4, 5 A k t G vorgesehene Ausfallhaftung des Treugebers bei Zahlungsunfähigkeit eines Aktionärs nicht in das G m b H - G e s e t z übernommen hat. Dieser Unterschied bestätigt, daß es u m so weniger angeht, § 9a Abs. 4 G m b H G über die Ausfallhaftung hinaus als Rechtsgrundlage f ü r eine unmittelbare Haftung

75

Vgl. nur Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) §§ 32a, 32b Rdn. 35 (ganz h. M.); a. A. noch Lutter-Hommelhoff (Fn. 30) §§ 32a, 32b Rdn. 55 ff. 76 Vgl. dazu schon oben II 2b.

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Zur Treuhand an GmbH-Anteilen

des Treugebers hinsichtlich der gegen den Treuhänder gerichteten Einlageforderungen heranzuziehen. Den abweichenden, auf die (vermutete) Kenntnis der Senatsentscheidung B G H Z 31, 258 seitens des Novellengesetzgebers gestützten Ausführungen des II. Zivilsenats im neuen Grundsatzurteil77 ist nicht zu folgen. e)

Ergebnis

Im Ergebnis zeigt sich somit eine weitgehende Gleichstellung der einfachen Treuhand mit der typischen Unterbeteiligung, was das Rechtsverhältnis des Treugebers zur GmbH angeht.78 Sie ist nur folgerichtig, wenn man sich bewußt bleibt, daß in beiden Fällen eine unmittelbare Rechtsbeziehung des wirtschaftlich Interessierten zur GmbH weder beabsichtigt ist noch auch begründet wird. 3. Folgerungen für die qualifizierte

Treuhand

Der Unterschied der qualifizierten gegenüber der einfachen Treuhand liegt, wie schon erwähnt, darin, daß bei ihr der Treugeber auch ohne formelle Innehabung des GmbH-Anteils nach den übereinstimmenden Vorstellungen aller Beteiligten wie ein (Mit-)Gesellschafter behandelt werden soll. Im Innenverhältnis ist somit ähnlich wie beim Nießbrauch eine Doppelzuständigkeit von Treugeber und Treuhänder am Anteil gewollt. Ihr ist durch eine von der einfachen Treuhand grundsätzlich abweichende Beurteilung des Rechtsverhältnisses zwischen Treugeber und GmbH Rechnung zu tragen. a) Form- und

Zustimmungserfordernisse

Die Vorschriften des § 15 Abs. 3 bis 5 GmbHG über die notarielle Form der Anteilsabtretung und die Verpflichtung hierzu sowie über das Erfordernis der Zustimmung der Mitgesellschafter sind uneingeschränkt nicht nur auf Fälle der Begründung einer qualifizierten Treuhand, sondern auch der Übertragung der Treugeberposition auf einen neuen Treugeber anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn sich mit der Begründung oder Übertragung der Treugeberrechte keine formelle Änderung der Anteilszuordnung beim Treuhänder verbindet. Die Zustimmung der Mitgesellschafter hat dabei nicht nur die Funktion, dem etwaigen gesellschaftsvertraglichen Vinkulierungserfordernis i. S. v. § 15 Abs. 5 BGHZ 118, 107, 115; dazu krit. auchFleck (Fn. 46) S. 411. So - freilich nicht durchweg auf die einfache Treuhand beschränkt - tendenziell auch Roth/Thöni aaO (Fn. 4). Für das Innenverhältnis des Treugebers/Unterbeteiligten zum Treuhänder/Hauptbeteiligten bleibt es demgegenüber bei der Differenzierung zwischen Geschäftsbesorgungsvertrag und (Innen-)Gesellschaft, vgl. dazu oben II 3a. 77

7!

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G m b H G Rechnung zu tragen. Vielmehr kommt ihr unabhängig von diesem Erfordernis die Bedeutung zu, den Treugeber in den Gesellschafterverband einzubeziehen. Sie bedarf daher zumindest satzungsändernder Mehrheit, wenn nicht sogar der Zustimmung aller Gesellschafter wegen ihres unmittelbaren Betroffenseins, sowie notarieller Beurkundung entsprechend §§ 53, 54 GmbHG. 79 Fraglich ist, ob es darüber hinaus zur Wirksamkeit der Vereinbarung ihrer Eintragung als quasiSatzungsänderung im Handelsregister bedarf. Man wird darauf aus ähnlichen Gründen wie im Fall des Nießbrauchs am GmbH-Anteil oder der Anteilsverpfändung verzichten können;80 jedoch muß die Eingehung der qualifizierten Treuhand entsprechend § 16 Abs. 1 G m b H G bei der GmbH angemeldet werden, um ihr gegenüber Wirksamkeit zu entfalten. b)

GmbH-Innenverhältnis

Das Innenverhältnis zwischen dem Treugeber, der G m b H und ihren Gesellschaftern richtet sich im Fall der qualifizierten Treuhand grundsätzlich nach den getroffenen Parteiabreden. Das Abspaltungsverbot steht der Mitbeteiligung des Treugebers an den Mitgliedschaftsrechten, wie schon erwähnt, nicht entgegen. Sind besondere Abreden über die Aufteilung der Mitgliedschaftsrechte zwischen Treugeber und Treuhänder nicht getroffen worden, so orientiert sich die Rechtslage an den Fällen der Mitberechtigung mehrerer am Geschäftsanteil (§18 Abs. 1 GmbHG). c) Kapitalaufbringung

und -erhaltung,

Gesellschafterdarlehen

Für Ansprüche der G m b H wegen Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung haben Treuhänder und Treugeber im Fall der qualifizierten Treuhand in vollem Umfang als Gesamtschuldner einzustehen. Das folgt aus der Erstreckung der Mitgliedstellung auf den Treugeber und aus der in derartigen Fällen anwendbaren Vorschrift des § 18 Abs. 2 GmbHG. Eines besonderen Zurechnungsgrundes bedarf es im Unterschied zu den Fällen der einfachen Treuhand nicht. Hinsichtlich der vom Treugeber gewährten eigenkapitalersetzenden Darlehen greift § 32a Abs. 3 G m b H G ein, soweit es um die gesetzliche Regelung geht. Die aus § 31 abgeleiteten, neben der gesetzlichen Regelung weiter geltenden Rechtsprechungsgrundsätze 81 finden auf den qualifizierten Treugeber uneingeschränkt Anwendung. " Vgl. dazu Ulmer ZHR 156 (1992), 382. 80 Vgl. nur Hachenburg-Zutt (Fn. 13) Anh. § 15 Rdn. 42, 58, der sogar auf eine Anmeldung nach § 16 Abs. 1 GmbHG gegenüber der GmbH verzichten will; a. A. insoweit Scholz-Winter (Fn. 29) § 15 Rdn. 155, 189. »* Dazu vgl. nur Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) §§ 32a, 32b Rdn. 158 ff.

Zur Treuhand an GmbH-Anteilen

d) Ergebnis,

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Umgehungsprobleme

Im Ergebnis bestätigt sich damit für die qualifizierte Treuhand die Parallele zum Nießbrauch am GmbH-Anteil in gleicher Weise, wie das bei der einfachen Treuhand hinsichtlich der Parallele zur Unterbeteiligung der Fall war. Auch dieser Umstand spricht dafür, daß die hier vertretene Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Treuhand auf dem richtigen Wege ist und sich in das bisherige System des G m b H Rechts bruchlos einpaßt. Zu bedenken bleibt, ob nicht Treugeber in Fällen der qualifizierten Treuhand dem Risiko der Haftung für Kapitalaufbringung und -erhaltung möglicherweise dadurch entgehen können, daß sie sich die entsprechenden Mitspracherechte in der G m b H ohne Einhaltung der notariellen Form einräumen lassen und auf deren faktische Durchsetzung ohne rechtliche Bindung vertrauen. Eine solche Gefahr erscheint zumindest in den Fällen nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, in denen dem Treugeber die Stellung eines wirtschaftlichen Einmann-Gesellschafters zukommt und unabhängige Gesellschafter, die dem Treugeber die Rechte streitig machen könnten, an der G m b H nicht beteiligt sind. Indessen kann der Hinweis auf die Formnichtigkeit dem Treugeber keinen wirksamen Einwand gegen das Haftungsrisiko gewähren. Denn wenn die qualifizierte Treuhand trotz fehlender rechtlicher Bindung im Einverständnis der Beteiligten vollzogen wird, greifen jedenfalls die Grundsätze über die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft ein.82 Der Treugeber muß sich im Verhältnis zur G m b H und deren Gläubigern somit so behandeln lassen, als wäre die qualifizierte Treuhand formwirksam eingegangen worden. IV. Ausblick Zumindest auf den ersten Blick hat sich die vorstehende Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Treuhand als tragfähig erwiesen. In konsequenter Ausnutzung des flexiblen Innenverhältnisses der G m b H und unter Betonung der Nähe der Treuhand einerseits zur (verdeckten) Unterbeteiligung, andererseits zum Nießbrauch bietet sie einen systemkonformen Ansatz dafür, zu einer in sich stimmigen Beur-

82 Es handelt sich um ein nicht auf die Personengesellschaften beschränktes Institut des allg. Verbandsrechts, dem auch im GmbH-Recht Rechnung zu tragen ist, soweit nicht die (hier irrelevante) Sonderregelung des § 75 G m b H G bzw. die Analogie zu §§ 241 ff AktG vorgeht. Zu seiner Anwendung auf die fehlerhafte Vor-GmbH vgl. Hachenburg-Ulmer (Fn. 11) § 2 Rdn. 25, 92 f; Scholz-Emmerich (Fn. 54) § 2 Rdn. 63 f. Für Beurteilung des Falles unter Umgehungsaspekten noch Ulmer Z H R 156 (1992), 391.

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Peter Ulmer

teilung der verschiedenen Treuhandverhältnisse zu kommen. Die Probe ihrer Bewährung in der Praxis bleibt abzuwarten. Dazu berufen ist letztlich der II. Zivilsenat des BGH, auf dessen Dialogbereitschaft die Gesellschaftsrechts-Wissenschaft auch künftig angewiesen ist und auf die sie ihre Hoffnung setzt.

Gesellschaftsrechtliche Risiken bei der bankmäßigen Projektfinanzierung H A R M P E T E R WESTERMANN

I. Sachverhalt und Fragestellung 1. 7.ur Besicherung risikoreicher Kredite im allgemeinen Rechtswissenschaftliche Arbeit hat - insoweit wie richterliche Entscheidungstätigkeit - bis zu einem gewissen Grade die Aufgabe, Entwicklungen und Erscheinungen der rechtlich relevanten, aber nicht nur von rechtlichen Gegebenheiten bewegten Tatsachenwelt nachzuvollziehen und zu bewerten. Dabei können durch die Anerkennung von Vertragsgestaltungen als wirksam oder durch ihre Verwerfung ebenso wie durch die Aussprache von Haftungssanktionen Entwicklungen befördert, aber auch aufgehalten oder modifiziert werden. Bei Bankgeschäften, die die betriebliche Praxis ausbildet oder für die sie ein Bedürfnis vorfindet, bezieht sich das Wechselspiel von wirtschaftlicher Innovation und juristischem Nachvollzug heute hauptsächlich auf die Inhaltskontrolle von vertraglichen Regelungen; bekanntlich hat bei der Angemessenheitsprüfung von Formularverträgen das Recht der Bankgeschäfte schon lange eine gewisse Vorreiterfunktion, weil die Privatautonomie zumindest im Verhältnis zwischen Kreditinstituten und „Konsumenten" nur eine eingeschränkte Richtigkeitsgewähr zu bieten scheint. 1 Ein anderer neuralgischer Punkt neuerer Vertragsformen im Bankgeschäft betrifft naturgemäß die Sicherheit der Geldanlagen besonders im Kreditgeschäft. Besonders bei der Prüfung der Kreditsicherheiten stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang ein Kreditinstitut, das im wesentlichen frei festlegen kann, welche Sicherheiten es für die Tilgung und Verzinsung seiner Kredite verlangt, hierbei auf die Belange gegenwärtiger oder künftiger Gläubiger desselben Schuldners, die wegen ihrer Forderungen gar nicht oder schwächer gesichert sind, Rücksicht zu nehmen hat.

1 Freilich meint Schimansky WM 1995, 461 ff, bei der Behandlung zentraler Fragen des Bankgeschäfts habe der Respekt vor der Privatautonomie bisher stets obsiegt; siehe aber andererseits H. P. Westermann, Festschrift für Hermann Lange, 1992, S. 995 ff. Zu den Besonderheiten der Inhaltskontrolle im Bankgeschäft ders., Festschrift für Heinsius, 1991, S. 931 ff.

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Bedenkt man, daß an sich jeder Vertrag eines Gläubigers mit dem Schuldner für sich zu sehen ist, so ist eine solche Rücksichtnahmepflicht einer Bank auf die Interessen von Personen, mit denen eine Vertragsbeziehung gar nicht besteht, keineswegs selbstverständlich. 2 Sie ist gleichwohl heute als Grundlage eines deliktischen Schadensersatzanspruchs der zu kurz gekommenen ungesicherten Gläubiger gegen eine Bank etabliert3 und spielt auch bei der AGB-Inhaltskontrolle von Sicherungsverträgen eine Rolle. 4 Dabei geht es aber nicht nur um die Gestaltung und Durchführung von Massengeschäften, sondern vor allem auch um ad hoc zu treffende Entscheidungen in Unternehmenskrisen oder bei der einzelfallbezogenen Schaffung eines Vertragskonzepts für eine bestimmte Risikofinanzierung. Diese Beobachtung gehört auch zum Hintergrund der gesellschaftsrechtlichen Probleme der sogenannten Projektfinanzierung (zu den Tatbeständen siehe gleich unter 2). Wie zu zeigen sein wird, gelten die hier einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Regeln wenigstens teilweise dem Interessengegensatz zwischen einem seine Belange besonders wahrenden Kreditgläubiger, der gleichzeitig Gesellschafter ist oder einen Gesellschafter finanziert, und auf der anderen Seite den ungesicherten Gläubigern einer einen Kredit besichernden Gesellschaft. Die gesellschaftsrechtlichen Institute stehen aber mit dieser Aufgabe nicht allein, sondern wirken mit dem allgemein zivilrechtlichen Instrumentarium der Kontrolle von Kreditsicherungsverträgen zusammen. Das hat dazu Anlaß gegeben, die zivilrechtlichen Probleme an anderer Stelle5 aufzugreifen, worauf hier verwiesen werden muß. Das Zusammenwirken der Rechtsinstitute des allgemeinen bürgerlichen Rechts mit den speziellen Wertungen und Ansprüchen an die handelnden Personen, wie es bis zu einem gewissen Grade die „Sonderprivatrechte" auszeichnet 6 , kann gleichwohl zumindest am Rande thematisiert werden.

2 Siehe die dazu damals noch nicht für überflüssig gehaltenen grundsätzlichen Überlegungen von H. Westermann, Interessenkollisionen und ihre richterliche Wertung bei den Sicherungsrechten an Fahrnis und Forderungen, 1954, S. 34 ff. 3 Grundlegend BGH NJW 1970, 657; s. auch bereits BGH NJW 1963, 2270. Bedenken hinsichtlich der tatbestandsmäßigen Faßlichkeit der Bankenhaftung nach § 826 BGB aber bei Köndgen, Bankhaftung - Strukturen und Tendenzen, in: Köndgen (Hrsg.), Neue Entwicklungen im Bankhaftungsrecht, 1986, S. 133, 142 f. 4 Dazu hier nur Bälow, Recht der Kreditsicherheiten, 3. Aufl. 1993, S. 332 ff; Erman/ H. P. Westermann, 9. Aufl. 1993, § 398 Rdn. 21. 5 Vorgesehen für die Festschrift für Brandner, 1996. 6 Einige frühere Beobachtungen zum Verhältnis von allgemein-privatrechtlicher und sonderprivatrechtlicher Wertung bereits bei H. P. Westermann, AcP 178 (1978), 150 ff.

Gesellschaftsrechtliche Risiken bei der bankmäßigen Projektfinanzierung

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2. Die wesentlichen Sachverhaltselemente Die Sachverhalte der bankmäßigen Projektfinanzierung berühren gesellschaftsrechtliche Normen, deren Anwendung eine Bedrohung ausbedungener Kreditsicherheiten zur Folge haben kann, nicht immer in derselben Weise, während die allgemein-zivilrechtliche Problematik wohl schon eine gewisse Typizität aufweist. Deshalb muß eine Skizze der Rechtstatsachen einen „ N o r m a l f a i r und eine besondere Gestaltung nebeneinanderstellen. a) Von Projektfinanzierung spricht man, wenn Kredite an eine rechtlich selbständige Gesellschaft, die sogenannte Projektgesellschaft, herausgelegt werden, um ein von ihr durchzuführendes Projekt, meist eine Infrastrukturmaßnahme oder die Neuerrichtung eines Gewerbebetriebs, zu finanzieren. 7 Der oder die Gesellschafter der Projektgesellschaft, naturgemäß häufiger Unternehmen ein und derselben Unternehmensgruppe, fungieren in diesem Zusammenhang als sogenannte SponsorenGesellschaften, deren Aufgabe im wesentlichen darin besteht, für die Projektgesellschaft Eigenmittel, Personal und damit auch know how bereitzustellen und hierdurch die Projektgesellschaft in den Stand zu versetzen, ihren Betrieb oder die betreffende Anlage zu errichten und gewinnbringend zu betreiben. Im Gegensatz zu sonst verbreiteten Finanzierungsmethoden betrachten es aber die Sponsoren wenigstens im Modell - wenn es vielleicht auch insoweit nicht immer ganz durchgeführt wird - nicht als ihre Aufgabe, für die der Projektgesellschaft gewährten Bankkredite Sicherheiten bereitzustellen; vielmehr soll das kreditgebende Institut Zugriff nur auf das Vermögen der Projektgesellschaft und die von ihr erwirtschafteten Erlöse haben (non recourse-Finanzierung). Für die Bonität des Darlehensnehmers ist also lediglich die Wirtschaftskraft „des Projekts" maßgebend, dessen Träger-Gesellschaft also auch die Sicherheiten lediglich aus ihrem Vermögen zur Verfügung stellen muß. Die Zurückhaltung der Sponsorengesellschaften, über das Eigenkapital hinaus Geldmittel zur Verfügung zu stellen, hängt mit den Risiken der Projekte zusammen, bei denen es sich häufig um Entwicklungsmaßnahmen in Schwellenländern und Industrieanlagen auf dem Territorium künftiger oder erhoffter Handelspartner-Länder handelt, um Vorhaben also, für die eigentlich in erster Linie öffentliche Mittel eingesetzt werden sollten, die aber nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Es liegt auf der Hand, daß eine Bank, die sich bezüglich der Besicherung und Rückführung ausgereichter Kredite nicht auf ein Mutterunter7 Eingehende Darstellung bei Horn, in: Hinsch/Horn, Das Vertragsrecht der internationalen Konsortialkredite und Projektfinanzierungen, 1985, S. 201 ff; s. auch MaierReimer, Festschrift für Rowedder, 1994, S. 245, 248 ff.

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nehmen des Kreditnehmers stützen kann, die Konditionen der meist sehr namhaften Kredite genau prüfen und auch Wert darauf legen wird, die rechtlichen Risiken durch vielfältige Maßnahmen abzufangen. Dazu gehört, daß die Bank einen genauen Eindruck von der Realisierbarkeit der unternehmerischen Aktivitäten der Projektgesellschaft benötigt und den Einsatz der Eigen- wie der Fremdmittel auch vorbeugend daraufhin möchte kontrollieren können, ob Veränderungen oder Ausweitungen des Geschäftsbetriebs die Verzinsung und Rückführung ihrer Kredite gefährden. Die Bank wird also nicht unerhebliche Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Unternehmenspolitik der Projektgesellschaft wünschen, die ihr regelmäßig über eine Mitwirkung in den Gesellschaftsorganen oder in Koordinationsgremien zwischen SponsorenGesellschaften und Projektgesellschaft eingeräumt werden. Hinzu kommen die üblichen Sicherheiten am Vermögen der Projektgesellschaft. Schließlich bedingen sich die Kreditinstitute in diesem Zusammenhang manchmal die Verpfändung der Geschäftsanteile an der Projektgesellschaft durch den oder die Sponsoren-Gesellschaften aus. Hiermit soll erreicht werden, daß bei einem Notleiden des Projekts das Unternehmen der Projektgesellschaft durch Abtretung sämtlicher Geschäftsanteile verwertet werden kann. Dies alles zusammengenommen kann der kreditgebenden Bank eine Stellung verschaffen, die als Ubersicherung, Knebelung des Schuldners oder Inkaufnahme einer Gefährdung der übrigen Gläubiger der Projektgesellschaft unter allgemein zivilrechtlichen Gesichtspunkten von Nichtigkeit wegen Sittenverstoßes bedroht ist. Hierauf geht der soeben erwähnte Beitrag im einzelnen ein. Die gesellschaftsrechtlichen Fragen, die im vorliegenden Beitrag näher zu behandeln sind, stellen sich im Hinblick auf folgende Tatbestandselemente. b) Bestimmte Umstände des Außensteuerrechts, die mit der Behandlung von Zinszahlungen in bezug auf einen von ausländischen Gesellschaftern gegebenen oder gestützten Kredit als verdeckte Gewinnausschüttung zusammenhängen8, können es als sinnvoll erscheinen lassen, in Abweichung vom soeben skizzierten Modell der Projektfinanzierung den Kredit nicht der Projektgesellschaft selber, sondern einer im Rahmen der Unternehmensgruppe der Sponsoren-Gesellschaft als Zwischenholding fungierenden Gesellschaft zu gewähren. Die Sicherheiten aus dem Vermögen der Projektgesellschaft selber sind aber auch hier notwendig, so daß das Kreditinstitut für einen der Zwischenholding gewährten Kredit u. a. Sicherheiten von einer Kapitalgesellschaft erhält, an der die Kreditnehmerin direkt oder (im Rahmen einer Unternehmens-

s § 8 a KStG i. d. F. des „Standortsicherungsgesetzes", dazu näher Maier-Reimer (Fn. 7), S. 245, 249.

aaO

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gruppe) mittelbar beteiligt ist. Freilich geschieht die Kreditgewährung mit der weiteren Maßgabe, daß der Kredit an die Projektgesellschaft weitergegeben werden soll. 9 Die kreditgebende Bank wird sich die hieraus entstehende Forderung der Zwischenholding gegen die Projektgesellschaft abtreten lassen, so daß sich das Sicherheitenpaket noch vergrößert, zumal natürlich die rechtlichen Vorkehrungen, die dem Kreditinstitut Einfluß auf wichtige unternehmerische Entscheidungen in der Projektgesellschaft verschaffen sollen, nicht entfallen können. Obwohl diese Probleme sich bei der Einschaltung einer Zwischenholding einstellen, die die angedeuteten steuerrechtlichen Gründe hat, ist weder die Summe der zur Verfügung gestellten Sicherheiten noch die gesellschaftsrechtliche Problematik der Absicherung von Verbindlichkeiten eines Gesellschafters durch „seine" Gesellschaft wesentlich anders zu sehen, wenn eine Sponsoren-Gesellschaft direkt als Kreditnehmer fungiert, die dann in der gezeigten Weise den Kredit an die Projektgesellschaft weitergibt. Gesellschaftsrechtlich können derartige Gestaltungen die Kapitalerhaltungsvorschriften der §§ 30 ff G m b H G , 57 A k t G verletzen, indem der Gläubigerbank der Vorwurf gemacht wird, sich durch die Entgegennahme einer Sicherheit aus dem Gesellschaftsvermögen, die sich auf die Schuld eines Gesellschafters bezog, an einer Gefährdung des für die Gesellschaftsgläubiger reservierten Stammkapitals beteiligt zu haben. 10 Darüber hinaus kann es sein, daß der Kredit der Zwischenholding an die Projektgesellschaft angesichts deren wirtschaftlicher Situation kapitalersetzenden Charakter hat. Das würde weiter bedeuten, daß die Abtretung einer solchen Forderung an die kreditgebende Bank ihr keine echte Sicherheit vermittelt. Schließlich ist mit Blick auf das Urteil B G H Z 119,191 zu untersuchen, ob die Projektfinanzierung, namentlich die hierbei für notwendig gehaltene Abtretung der Anteile an der Projektgesellschaft an die darlehensgebende Bank, die letztere in die Situation eines „atypischen Pfandgläubigers " bringt, dessen Rechte nach Maßgabe der Regeln über die Rückstufung kapitalersetzender Gesellschafterdarlehen nachhaltig gefährdet sind." Eine derartige Qualifikation der Darlehen würde gegenüber den unter allgemein-zivilrechtlichen Aspekten zu behandelnden Bedrohungen der Durchsetzbarkeit eines Kredits wegen Knebelung oder Gläubigergefährdung die Besonderheit aufweisen, daß die Rückstufung allein schon durch die objektive Ausgestaltung der Stellung des Kreditgebers zu der Gesellschaft ohne die Notwendigkeit der Feststellung subjektiver Sittenwidrigkeitselemente begründet werden könnte. ' Auch dazu Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 249. Dazu eingehend zuletzt Peltzer G m b H R 1995, 15 ff; Schön Z H R 195 (1995), S. 351. 11 Zur Figur des „atypischen Pfandgläubigers" näher Altmeppen ZIP 1993, 1677 ff. 10

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3. Aufriß des Problemkreises Die zivilrechtlichen und die gesellschaftsrechtlichen Aspekte der Prüfung der Gültigkeit von Kreditsicherheiten bei derartigen Verträgen hängen in mehrfacher Weise zusammen. Im Normalfall geht es nicht an, eine Form der Kreditbesicherung als sittenwidrig und darum nichtig zu qualifizieren, weil sie gegen die gesellschaftsrechtlichen Kapitalerhaltungsvorschriften verstößt; jedenfalls ist dies die Rechtslage im GmbHRecht, wo § 31 GmbHG die Rückgewähr einer verbotswidrig aus dem Vermögen der Gesellschaft an einen Gesellschafter gebrachten Leistung anordnet.12 Diese Schwäche kann allerdings nur solchen Sicherheiten anhaften, die für die Verbindlichkeiten eines Gesellschafters der Projektgesellschaft gestellt worden sind, trifft also nur im soeben unter 2 b) behandelten Fall zu. Dieser Fragenkreis wird im folgenden unter II 1 behandelt, wobei im wesentlichen die Verhältnisse bei der GmbH ins Auge gefaßt werden. Größere Tragweite, weil nicht allein auf diese zuletzt genannte Konstellation bezogen, hat die Frage, ob bzw. von welchem Grade der unternehmerischen Einflußnahme auf die Führung der Projektgesellschaft an ein an einer Projektfinanzierung beteiligtes Kreditinstitut Gefahr läuft, daß das Darlehen als kapitalersetzend im Sinne der hauptsächlich zur GmbH ergangenen Rechtsprechung qualifiziert wird, so daß es im Konkurs der Projektgesellschaft nicht geltend gemacht und bei Rückführung außerhalb des Konkurses u. U. später vom Konkursverwalter zum Gegenstand eines Rückgewähranspruchs gemacht werden kann. Dies ist im Abschnitt III näher zu behandeln. II. Gleichzeitige Finanzierung der Projektgesellschaft und ihres Gesellschafters Ein Verstoß gegen die kapitalgesellschaftsrechtlichen Kapitalerhaltungsvorschriften setzt eine „Auszahlung" an einen „Gesellschafter" voraus, der sich allerdings auch auf das Rechtsverhältnis zwischen der die Sicherheit bestellenden Gesellschaft (hier also der Projektgesellschaft) und der Kreditgeberin auswirken muß. 1. Zur Auszahlung an einen „ Gesellschafter" Wenn eine Vermögenszuwendung an eine Zwischenholding oder eine Sponsorengesellschaft erfolgt, die Gesellschafterin der Projektgesellschaft ist, sind §§ 30 GmbHG, 57 AktG direkt anwendbar. Es kann aber 12 RGZ 168, 292; BGH GmbHR 1953, 58; BGHZ 69, 274, 280; 81, 365, 367; BGH WM 1982, 1402; O L G Düsseldorf ZIP 1989, 1458; Hachenburg-Goerdeler/Müller § 30 Rdn. 77; Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 11, 12.

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sein, daß die den Kredit aufnehmende und ihn u. a. durch das Vermögen der Projektgesellschaft besichernde Gesellschaft nicht selber deren Geschäftsanteile hält, so etwa, wenn für die Finanzierungsgeschäfte einer Unternehmensgruppe eine besondere Gesellschaft existiert, die nicht gleichzeitig die Anteile an der Schuldner-Gesellschaft hält. Dann gilt der Satz13, daß Zuwendungen an mit einem Gesellschafter verbundene Unternehmen auch gegen § 30 GmbHG verstoßen können, weil hiermit wirtschaftlich zugunsten des Gesellschafters das Stammkapital angegriffen wird. Nicht ganz unzweifelhaft ist, gegen wen sich der Erstattungsanspruch gem. § 31 GmbHG richtet. An sich haftet der Gesellschafter, doch hat der B G H eine Auszahlung an eine einem Gesellschafter nahestehende Person als Umgehung betrachtet und demgemäß den tatsächlichen Empfänger als zur Rückgewähr verpflichtet angesehen.14 Solcher Überlegungen bedarf es bei der Projektfinanzierung im hier erörterten Sinn nur, wenn eine Zwischenholding oder die Konzernspitze, die nicht die Anteile an der Projektgesellschaft halten, die Besicherung eines ihr gewährten Kredits durch die Projektgesellschaft vereinbaren oder durchsetzen. Zahlt die Gesellschaft auf Sicherheiten, die zugunsten der Verbindlichkeiten eines Gesellschafters bestellt sind, so ist der Gesellschafter gem. § 3 1 GmbHG verpflichtet.15 Dann haftet die Darlehensnehmerin aus § 3 1 GmbHG, was freilich praktisch nicht viel besagt, solange nicht geklärt ist, wie sich der Rückgewähranspruch gegenüber einer Einräumung von Sicherheiten durchsetzen läßt und ob dies auch dem Sicherungsnehmer entgegengehalten werden kann. Hat eine nicht am Kapital der Projektgesellschaft beteiligte Zwischenholding einen Kredit erhalten, für den die Projektgesellschaft nach Weiterleitung der Mittel an sie Sicherheiten stellt, so richtet sich der Rückgewähranspruch gegen die Zwischenholding und gegen die Konzernspitze (möglicherweise also gegen die Sponsoren-Gesellschaft), wenn sie die treibende Kraft bei der Transaktion gewesen ist16 oder - wie es auch heißt und in bezug auf Unternehmensverbindungen ja auch paßt - wenn zwischen dem Empfänger der Zuwendung und einem Gesellschafter ein Nähe-Verhältnis besteht.

13 BGHZ 86, 365; BGH NJW 1984, 1036; BGH WM 1985, 237, 239; Kühbacher, Darlehen an Konzernunternehmen - Besicherung und Vertragsanpassung, 1993, S. 37; Hachenburg- Coerdeler/Müller § 30 GmbHG Rdn. 53; Rowedder/Rowedder § 30 GmbHG Rdn. 13; Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 24; Lutter/Hommelhoff % 30 Rdn. 17. 14 BGHZ 81, 365, 368; siehe auch Scholz/H. P. Westermann § 31 Rdn. 10. 15 Peltzer/Bell ZIP 1993, 1757, 1761; Sonnenhol/Stützle WM 1983, 2, 3. " BGHZ 31, 258, 266; 81, 311, 315 f; BGH GmbHR 1986, 113 f; NJW 1990, 357; NJW 1991, 1057; Canaris, Festschrift für Fischer, 1979, S. 35 ff; Fleck, in: Festschrift Hundert Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 391, 401 ff; anders aber Sonnenhol/Groß ZHR 195 (1995) S. 388, 401.

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2. Die

Auszahlung

Soll die Sicherheitengewährung verbotswidrig sein, muß sie einer Auszahlung i. S. des § 30 GmbHG gleichstehen. Das ist zweifelhaft, weil zunächst das Gesellschaftsvermögen noch nicht vermindert wird, wenn auch unzweifelhaft seine Kapazität leidet, anderweitige Verbindlichkeiten der Projektgesellschaft abzusichern und damit die entsprechende Kreditaufnahme vielleicht erst zu ermöglichen. Auf diesen Gesichtspunkt hat in einer früheren Entscheidung der BGH17 maßgeblich abgestellt, freilich mit Blick auf das Aufleben der Kommanditistenhaftung gem. §§ 171, 172 HGB wegen einer Auszahlung von Gesellschaftsmitteln an ihn. Diese Betrachtungsweise ist indessen nicht allgemein anerkannt, und sie würde auch nur für die Bestellung dinglicher Sicherheiten gelten, während die Übernahme einer Bürgschaft durch die Projektgesellschaft zugunsten eines von der Konzernspitze oder einer Zwischenholding aufgenommenen Kredits die Fähigkeit der Bürgin, auch andere und speziell ihre eigenen Gläubiger abzusichern, nicht berühren würde. 18 Die stärkere quotale Belastung der ungesicherten Gläubiger, wenn sie im Insolvenzfall mit dem Bürgschaftsgläubiger konkurrieren müssen, ist ein Problem des richtigen Verhältnisses der Zugriffsrechte von Gesellschafts- und Gesellschaftergläubigern und mit der Beschränkung des Entscheidungsspielraums der Gesellschaft bei K r e d i t s i c h e rungen nicht deckungsgleich. Eine Lösung über die Gleichstellung eines Sicherungsnehmers mit einem Zuwendungsempfänger, an den für Rechnung eines Gesellschafters oder mit Rücksicht auf seine „Nähe" zu dem Gesellschafter geleistet wird, scheidet aus, da es im Verhältnis zwischen dem Kreditinstitut und seinem Schuldner an der Nähe fehlt, vielmehr ein natürlicher Interessengegensatz besteht.19 Ob man daher die Bank aus dem Einzugsbereich des Kapitalerhaltungsgebots ganz ausnehmen kann, das sich in erster Linie sicher nur an die Gesellschafter und den Geschäftsführer, nicht aber gegen dritte Gläubiger richtet, hängt bei wertender Betrachtung einerseits von der Frage ab, ob und inwieweit der Bank eine Befassung mit den Interna des Verhältnisses zwischen ihrem Kreditnehmer und der sicherungsgebenden Gesellschaft zuzumuten ist, andererseits aber von der Einschätzung der stammkapitalgefährdenden Wirkung der Sicherheit als solcher. Beide Gesichtspunkte sind mit Bezug auf die Kreditbesicherung durch abhängige Kapitalgesellschaften zuletzt in einer von der h. M. abweichenden Weise diskutiert worden. 17 BGH NJW 1976, 751; zust. für den Bereich des § 3 0 GmbHG auch Stützte DB 1979, 925, 926; Meister WM 1980, 390 Fn. 24. 18 Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 26. " Schön aaO (Fn. 10), S. 365.

Sonnenhol/

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Im Ausgangspunkt wird verbreitet angenommen, auch die bloße Sicherheitenbestellung und nicht erst die Bedienung einer Sicherung durch Zahlung oder sonstige Einbußen an Vermögensgütern könne unter das Auszahlungsverbot fallen.20 Zweifelhaft ist aber, ob hierdurch eine Unterbilanz entsteht. Die bis vor kurzem ganz h. M. lehnte dies ab, sondern ging davon aus, daß die reine Sicherheitenbestellung sich bilanziell nur im Rahmen des § 251 H G B als Merkposten „unter dem Strich" niederschlägt und ein Ausweis auf der Passivseite der Bilanz erst in Betracht kommt, wenn eine Inanspruchnahme der Gesellschaft aus der Sicherheit mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und folglich eine Rückstellung gebildet werden muß.21 Als Ausgleich für die eventuelle Vermögensgefährdung diene der Aufwendungsersatzanspruch des Sicherungsgebers gegen den Hauptschuldner, der sich aus § 775 B G B , einem Auftrag oder einem Geschäftsbesorgungsvertrag ergibt; dies gelte jedenfalls so lange, als dieser Ausgleich als werthaltig angesehen werden kann.22 Wenn die Inanspruchnahme aus der Sicherheit droht, ohne daß der Ausgleichsanspruch gegen den Hauptschuldner werthaltig ist, so wird allerdings vertreten, daß nunmehr der Geschäftsführer der Sicherungsgeberin die Bedienung der Sicherheit, die die Unterbilanz hervorrufen würde, zu verweigern hat.23 Freilich ist zuzugeben24, daß diese Lösung dem Kreditgeber zumutet, seine offenbar bedenkenfrei erworbene Sicherheit im Fall der Krise des Hauptschuldners - für den die Sicherheit gerade gedacht war - nicht durchsetzen zu können. Deshalb stellt sich hier ein Problem des Verkehrsschutzes, auf das noch zurück-

20 RGZ 133, 393 ff; 136, 260 f; Meister WM 1980, 390 ff; Sonnenhol/Stützle aaO (Fn. 17), S. 832 ff; Oetker KTS 1991, 521 ff; Kühbacher aaO (Fn. 13), S. 36 ff; Sonnenhol/Groß aaO (Fn. 16), S. 401 f; Hachenburg-Goerdeler/Müller § 30 Rdn. 65; Scholz/ H. P. Westermann § 30 Rdn. 26; Baumbach/Hueck § 30 Rdn. 18 ff; Lutter/Hommelhoff § 30 Rdn. 8, 19. 21 Sonnenhol/Groß aaO (Fn. 5), S. 398 f; Peltzer/Bell ZIP 1993, 1757, 1760; Peltzer GmbHR 1995, 15, 18; Hachenburg-Goerdeler/Müller § 30 Rdn. 66; Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 26; Baumbach/Hueck Rdn. 19; Lutter/Hommelhoff § 30 Rdn. 26; im Ergebnis ebenso Kerber WM 1989, 471, 478 f; Oetker aaO (Fn. 20), S. 526 f; Wittkowski GmbHR 1990,544, 549. 22 Weitergehend wollen Sonnenhol/Groß aaO (Fn. 16), S. 400 auf die Werthaltigkeit des Ausgleichsanspruchs erst abstellen, wenn in der Sicherheitenbestellung tatsächlich eine Vermögensminderung liegt. Sollte hiermit die effektive Bedienung der Sicherheit gemeint sein, so ist darauf hinzuweisen, daß in diesem Zeitpunkt regelmäßig der Ausgleichsanspruch wertlos sein wird, da auf die Sicherheiten erst zugegriffen wird, wenn der Hauptschuldner nicht zahlt. 23 Meister aaO (Fn. 20), S. 394; Peltzer GmbHR 1995, 20 ff; siehe auch Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 251. 24 Dies zur Kritik von Schön aaO (Fn. 10), S. 358, der die h. M. an dieser Stelle in einer Sackgasse sieht.

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zukommen sein wird. Das ganze, so heißt es25, sei eine Folge aus einer rein bilanziellen Betrachtung des Problems der Kapitalerhaltung, die in der Tat bisher - angesichts der Interpretation des Begriffs des „zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögens" als Unterbilanz 26 folgerichtig - als zwingend angesehen wurde.27 An dieser Stelle setzt eine neuere Kritik an, die allerdings auch Schwachpunkte der h. M. außerhalb der Anwendung bilanzrechtlicher Grundsätze sieht. Zunächst wird darauf hingewiesen, daß der Aufwendungsersatzanspruch einer Tochter- gegen eine Muttergesellschaft (und gleiches hätte gegenüber einer Schwestergesellschaft zu gelten) in der Durchsetzung, die ja nur in der Krise der Unternehmensgruppe nötig sein wird, durch den Einfluß der Konzernspitze verhindert werden könne, wenn nicht schon im Vertrag auf ihn verzichtet worden sei.28 Das letztere würde allerdings, wenn die Situation der Konzernspitze oder einer Zwischenholding als des Hauptschuldners bei Vertragsabschluß nicht allzu gut war29, die Frage nach dem Entstehen einer Unterbilanz bereits durch die Sicherheitengewährung in einem neuen Licht darstellen. Aber auch bei offensichtlich (noch) guter wirtschaftlicher Lage läßt sich nicht bestreiten, daß der Aufwendungsersatzanspruch der Tochtergesellschaft und ihren Gläubigern das Risiko einer Krise der Mutter bzw. der Unternehmensgruppe nicht abnimmt, wobei sich allerdings nicht fragt, ob dies bei Kreditgewährung an ein Konzernunternehmen wirklich verlangt werden kann. Ein weiterer Kritikpunkt ist sodann der hier schon erwähnte Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, jedenfalls bei Aktualisierung des Risikos, daß die Sicherheit in Anspruch genommen werden könnte, sich auf den Kapitalschutz berufen zu können, und dem Vertrauen der Bank auf eine dinglich einwandfrei eingeräumte Sicherheit.30 3. Anwendung auf den Fall der Projektfinanzierung Die Besonderheiten der Projektfinanzierung, auch wenn sie über eine formale Darlehenschuldnerschaft der Sponsoren-Gesellschaft oder eine Schön ebenda S. 359 ff. Nachweise bei Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 13. 27 So auch für die Zukunft Sonnenhol/Groß aaO (Fn. 16), S. 399 ff. 28 Schön aaO (Fn. 10), S. 355. 29 Hier ist an den vor einigen Jahren bekanntgewordenen Fall einer niederländischen Unternehmensgruppe zu erinnern, deren Spitze für ihre Bankverbindlichkeiten in einer schweren Krise den Schuldbeitritt sämtlicher als G m b H oder G m b H & C o K G organisierter, jeweils nur ein einzelnes Grundstück erschließenden deutschen Tochtergesellschaften herbeiführte, wobei die Hauptschuld jeweils das Mehrfache des Stamm- bzw. Kommanditkapitals der Tochtergesellschaften ausmachte. 25 26

30

So auch Schön aaO (Fn. 10), S. 358.

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Zwischenholding geschieht, liegt wirtschaftlich darin, daß die Projektgesellschaft, d. h. ihr Vermögen und/oder ihr cash flow ohne Eintreten der Sponsoren-Gesellschaft die Rückführung und Verzinsung ihr auch selbst zugeflossener Kredite bewerkstelligen soll. Man kann in solchen Fällen nicht davon sprechen, daß sich die Bank, wenn sie den einer Zwischenholding oder einer Sponsoren-Gesellschaft gewährten Kredit durch die Projektgesellschaft besichern läßt, aus der strukturellen Nachrangigkeit gegenüber den eigentlichen Gläubigern der Projektgesellschaft gewissermaßen in die par conditio creditorum gedrängt habe.31 Denn auf Grund der von ihr gewährten Finanzierung der Projekterrichtung ist die Bank, mag auch der Kredit formal über eine andere Gesellschaft geleitet worden sein, der eigentliche und in den meisten Fällen wohl auch der Hauptgläubiger der Projektgesellschaft, ohne dessen Beitrag ein operatives Geschäft gar nicht hätte aufgenommen werden können. Die Bonität des Kreditnehmers berechnet sich hier allein nach der Projektgesellschaft, weshalb auch der einleitend aufgezeigte starke Einfluß auf ihr unternehmerisches Tun allseits für erforderlich gehalten wird. Im Schrifttum ist auf eine weitere Besonderheit dieser Fallgestaltungen aufmerksam gemacht worden. 32 Bei Ausreichung des Kredits an eine Zwischenholding oder an die Sponsoren-Gesellschaft wird die Valuta an die Projektgesellschaft weitergegeben, was ä conto eines Darlehensvertrages geschehen dürfte, wobei der RückZahlungsanspruch der Bank als weitere Sicherheit abgetreten wird. Hat dann die Projektgesellschaft als Sicherungsgeberin einen Aufwendungsersatzanspruch gegen die Hauptschuldnerin aus § 775 B G B oder aus dem sonstigen schuldrechtlichen Innenverhältnis, so kann dieser Anspruch durch Verrechnung mit der Darlehensschuld befriedigt werden, was sich auch die Bank als Zessionarin nach § 404 B G B entgegenhalten lassen muß. Die Bedienung der Bürgschaftsschuld befreit die Gesellschaft dann im Wege der Aufrechnung von der Darlehensverbindlichkeit, was bei bilanzieller Betrachtung eine Beeinträchtigung des zur Deckung des Stammkapitals und der Passiva nötigen Aktivvermögens vermeidet. 33 Auch hier spielt wieder hinein, daß die Mittel von derjenigen Gesellschaft besichert worden sind, die sie erhalten und bestimmungsgemäß zum Aufbau ihres Geschäftsbetriebs verwendet hat. 31 So für den allgemeinen Fall der Kreditbesicherung durch abhängige Gesellschaften Schön aaO (Fn. 10), S. 352 f. J2 Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 245 ff, 250 ff; zust. insoweit Schön aaO (Fn. 10), S. 355. 33 So auch Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 255; zu dem dort (S. 254) unterbreiteten Vorschlag, generell die Bürgschaft einer abhängigen Kapitalgesellschaft mit einem Vorbehalt des Inhalts zu versehen, daß Zahlungen nicht geschuldet werden, wenn dadurch Unterbilanz entstehen würde, soll hier nicht Stellung genommen werden.

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Am Ende wird man sogar bezweifeln müssen, ob bei Tatbeständen der hier untersuchten Art überhaupt davon ausgegangen werden kann, daß die Sicherheitenbestellung, wenn man sie denn als „Auszahlung" ansehen will, ihre Grundlage im Gesellschaftsverhältnis hat34 oder wie ein „Drittgeschäft" behandelt werden muß. Es wird zwar regelmäßig so sein, daß die Bereitschaft der Projektgesellschaft, Sicherheiten zu gewähren, auf dem gesellschaftsrechtlich vermittelten Einfluß der Sponsoren-Gesellschaft beruht; aber die Sicherheiten, die der den Kredit weiterleitende Gesellschafter dem Kreditinstitut, von dem die Mittel stammen, versprechen muß, sind eben diejenigen, die auch bei einem Darlehensvertrag direkt zwischen dem Kreditgeber und der Projektgesellschaft hätten vereinbart werden müssen, nämlich Zugriff auf Vermögen und cash flow und Einfluß auf die Mittelbewirtschaftung. Es ist zwar weiter richtig, daß die Übernahme von Bürgschaften für „Dritte" regelmäßig nicht zum Unternehmensgegenstand der Projektgesellschaft gehören wird 35 , doch stellt sich dies anders dar, wenn man die Einschaltung der Zwischenholding und der Sponsoren-Gesellschaft als Darlehensnehmerin hinwegdenkt und unterstellt, die Projektgesellschaft habe ihre eigene Darlehensschuld besichern müssen. Für die Beurteilung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung (im Rahmen der Abgrenzung von Gesellschafter- und Drittgeschäften) ist darum hier nicht auf das nur formal zwischengeschobene Darlehensgeschäft mit der das Darlehen weiterreichenden Gesellschaft abzustellen. Etwas anderes hat möglicherweise zu gelten, wenn das (weitergereichte) Darlehen der Sponsoren-Gesellschaft oder der Zwischenholding kapitalersetzenden Charakter hat; auf diese - mögliche, aber nicht per se anzunehmende - Gestaltung ist unten S. 911 ff gesondert einzugehen. 4. Zur Besicherung eines einem Gesellschafter gewährten durch seine Gesellschaft

Kredits

Obwohl die Rechtslage bei der bankmäßigen Projektfinanzierung eine Stellungnahme zum weitergespannten Problem der K r e d i t s i c h e rung zugunsten eines Gesellschafters nicht unbedingt erfordert, sollten einige Überlegungen zur Richtigkeit der an der h. M. geübten Kritik nicht ausgeklammert werden; sie werden praktisch relevant jedenfalls dann, wenn man der soeben dargelegten Ansicht nicht folgt.

" Zu diesem Erfordernis RGZ 146, 84, 91 f; BGHZ 13, 49, 54; BGH WM 1985, 237, 239; Meister aaO (Fn. 20), S. 390 ff; Hachenburg-Goerdeler/Müller § 3 0 Anm. 36 ff; Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 17. 35 Daher nimmt Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 250 in derartigen Fällen doch ein „Gesellschaftergeschäft" an; ebenso im Ergebnis Peitzer GmbHR 1995, 15, 17.

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a) Die Abgrenzung von Gesellschafter- und Drittgeschäft soll sich nach dem Auftrags- oder Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen der Sicherungsgeberin und der Darlehensnehmerin richten.36 Dem ist zuzustimmen, solange eigene - und nicht ausschließlich die sicherungsgebende Gesellschaft treffende - unternehmerische Verbindlichkeiten des Gesellschafters gesichert werden, dem das Bankdarlehen gewährt worden ist. Das rechtfertigt aber nicht die Vernachlässigung des normalerweise gegebenen Aufwendungsersatzanspruchs der Sicherungsgeberin wegen seiner bloß schuldrechtlichen Natur 37 , denn bilanzmäßig geht es nicht an, den schuldrechtlichen Anspruch gegenüber einer dinglich wirkenden Sicherheit am Gesellschaftsvermögen als schwächer zu qualifizieren. Ebensowenig ist der Eindruck zutreffend, die Kapitalerhaltungsvorschriften schützten gegen bestimmte riskante Veränderungen der Zusammensetzung des Gesellschaftsvermögens. Das Risiko einer den Zugriff erschwerenden oder auch nur wirtschaftlich gefährlichen Anlage des Gesellschaftsvermögens nehmen §§ 30, 31 G m b H G dem Gläubiger so wenig wie § 57 AktG ab.38 Entscheidend ist danach in der Tat die Frage, ob die vom Gesetz bezweckte Verteidigung der die Verbindlichkeit deckenden Haftungsmasse gegenüber einer Auszahlung von Mitteln an die Gesellschafter durch die „Garantie einer bilanzmäßigen Rechnungsziffer" erreicht werden kann.39 Sollte in dieser Formulierung, die ja wohl nicht den Schutz an den Verbleib bestimmter Vermögensgegenstände im Gesellschaftsvermögen anknüpfen soll, die Aussage stecken, daß es letztlich nicht auf die Bewertung des Risikos der Inanspruchnahme aus der Sicherheit im Zeitpunkt ihrer Bestellung ankommen soll, so trägt der Gesellschafter - und mit ihm der Geschäftsführer - in vollem Umfang die Gefahr einer im Augenblick der Sicherheitenbestellung möglicherweise nicht absehbaren Fehlbewertung des eventuellen Ausgleichsanspruchs. O b man dies den Kapitalschutzregeln unterlegen kann, läßt sich zumindest als weitere Entwicklungsperspektive in einer die Kapitalflexibilität zugunsten des Gläubigerschutzes zunehmend einengenden Handhabung dieser Normen sicher nicht ausschließen40, ist aber in ihren Folgen auch noch nicht zu Ende gedacht.

* Schön aaO (Fn. 10), S. 356. So aber Schön aaO (Fn. 10), S. 360. 38 Siehe hierzu bereits U. H. Schneider, Festschrift für Döllerer, 1988, S. 537, 544; Flume Z H R 144 (1980), S. 18, 23 ff; zuletzt wieder Sonnenhol/Groß aaO (Fn. 16), S. 396, 400. 39 Dies bestreitet Schön aaO (Fn. 10), S. 362. 40 Dies könnte sich aus den Überlegungen von Stimpel, in: Festschrift Hundert Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 235 ff, zur Befreiung des § 30 Abs. 1 GmbHG vom handelsbilanziellen Denken ergeben. 37

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b) Eine Überprüfung ist besonders wichtig im Hinblick auf die Ansprüche, die das Kapitalerhaltungsrecht an ein Kreditinstitut stellt, das aus dem Vermögen einer Kapitalgesellschaft eine Sicherung für die Schuld eines ihrer Gesellschafter (einschließlich ihrer Muttergesellschaft im Konzern) hereinnimmt. Dies hängt u. a. davon ab, ob Verstöße gegen gesellschaftsrechtliche Verbote das Sicherungsgeschäft mit dem nicht gesellschaftsangehörigen Sicherungsnehmer - entweder nur die Sicherungsabrede oder auch ein etwaiges dingliches oder jedenfalls abstraktes Bestellungsgeschäft - in ihrer Gültigkeit antasten. Auch hier ist die h. M. ins Wanken gekommen, obwohl sie auf einem klaren Ausgangspunkt beruht, der nur bei Vorliegen allgemein akzeptierter Ausnahmen überwunden werden kann: Das Kapitalerhaltungsgebot richtet sich nur gegen Gesellschafter, nicht gegen Dritte 41 , so daß eine Verletzung nicht etwa als Gesetzesverstoß nach § 134 BGB zur Nichtigkeit einer Sicherungsabrede oder des dinglichen Geschäfts führen kann.42 Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn der Sicherungsnehmer mit Gesellschaftern und/oder Geschäftsführern zum Schaden der Gesellschaft und ihrer Gläubiger kollusiv zusammenwirkt. 43 Auch unterhalb dieser Schwelle ist aber ein Angriff auf den Bestand einer Sicherheit nicht ausgeschlossen, wenn das Verpflichtungsgeschäft darauf abzielt, daß die Zugriffsmöglichkeiten auf die Sicherheit auch dann bestehen sollen, wenn dies zu einer Unterbilanz führen wird 44 - wenn man dies nicht schon für sittenwidrig und kollusiv halten will. Diesem Vorwurf vorzubeugen, dient der Vorschlag, etwa eine Bürgschaft mit dem Vorbehalt zu versehen, daß nicht gezahlt werden soll, wenn hierdurch eine Unterbilanz begründet oder vertieft würde 45 - ein Kreditgeber wird sich darauf freilich nur faute de mieux einlassen. Für die h. M. spricht die nur eingeschränkte Rückgewährpflicht eines gutgläubigen Empfängers nach § 3 1 Abs. 2 G m b H G und die bedeutende Schwierigkeit, um nicht zu sagen: die praktische Unmöglichkeit, von Voraussetzungen wie der Entstehung oder Vertiefung einer Unterbilanz und der diesbezüglichen Gutgläubig-

41

RG H R R 1935, Nr. 1403; B G H W M 1982, 1402; Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 23. 42 Zu den Angaben oben in Fn. 12 noch B G H W M 1977, 1377; B G H LM Nr. 1 zu § 30 G m b H G ; Canaris, Festschrift für Fischer, S. 31, 55; Oetker KTS 1991, 521, 529; Joost Z H R 148 (1984), S. 27, 30 ff; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht § 37 III 2 c; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl. 1992, S. 441. 43 B G H ZIP 1981, 1332; B G H W M 1977, 1377; O L G Hamburg G m b H R 1970, 64; im neueren Schrifttum Peltzer/Bell ZIP 1993, 1757 ff; Raiser aaO (Fn. 42), S. 443, der allerdings aaO S. 441 „Bösgläubigkeit" des Dritten genügen läßt. 44 Wilhelm, Festschrift für Flume, S. 383; Canaris aaO (Fn. 42), S. 55; zust. Scholz/ H. P. Westermann § 30 Rdn. 10. 45 Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 254.

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keit des Sicherungsnehmers 46 den Bestand eines dinglichen Rechts abhängig zu machen.47 Die h. M. muß dieses Problem mit dem Rückforderungsrecht aus § 31 G m b H G und dem daraus abgeleiteten Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft 48 bzw. dem vorweggenommenen Befreiungsanspruch des Bürgen gegen den Hauptschuldner 49 bewältigen und prüfen, unter welchen Voraussetzungen diese Rechte einem nicht gesellschaftsangehörigen und auch nicht einem Gesellschafter „nahestehenden" Dritten entgegengesetzt werden können. Das wird zum Teil bejaht 50 , sollte aber nicht ohne die Voraussetzungen vorsätzlicher Schädigung der Gesellschafts- oder der Gläubigerinteressen angenommen werden. Insbesondere die Vorverlegung der Reizschwelle auf die bloße Kenntnis von der Gesellschaftereigenschaft eines seine Verbindlichkeit durch eine Sicherheit aus Gesellschaftsvermögen absichernden Schuldners51 würde angesichts der Information der Banken vom beruflichen und wirtschaftlichen Umfeld ihrer Geschäftspartner praktisch immer greifen und derartige Sicherheiten generell unmöglich machen. Andererseits ergibt das Leistungsverweigerungsrecht, wenn es sich nicht auch gegen den Sicherungsnehmer richtet, keine effektive Sicherung des Stammkapitals, zumal nach einredefreiem Erwerb die Sicherheit später auch durchgesetzt werden kann. Deshalb ist auch ohne die Voraussetzungen der Kollusion dem Dritten die Einrede aus der Gefahr der Begründung von Unterbilanz schon dann entgegensetzbar, wenn er weiß (nicht nur: nicht ausschließen kann), daß sich die Realisierung der Sicherheit stammkapitalgefährdend auswirken kann.52 5. Rechtslage bei kapitalersetzendem

Charakter des Kredits

Die oben unter 3 gewürdigte Sondersituation bei der Projektfinanzierung mit weitergeleiteten Bankkrediten muß noch auf die Frage hin 46 Hierbei müßte dann noch nach dem Maßstab der §§ 892 und 932 Abs. 2 BGB differenziert werden, soweit Immobiliar- oder Mobilarsicherheiten in Rede stehen, Michalski, Die AG 1980, 261, 268 f; Canaris aaO (Fn. 42), S. 31 ff. " Scholz/H. P. Westermann § 30 Rdn. 11. 48 RG JW 1938, 1176; BGHZ 9, 157, 164; Meister aaO (Fn. 20), S. 397; Scholz/ H. P. Westermann § 30 Rdn. 10. 49 Dazu Stimpel aaO (Fn. 40), S. 357. 50 Meister aaO (Fn. 20), S. 394; Canaris aaO (Fn. 42), S. 55 f; a. M. Oetker aaO (Fn. 21), S. 534 f; Kerber aaO (Fn. 21), S. 479; Lutter/Hommelhoff § 30 Rdn. 33. 51 Peltzer/Bell aaO (Fn. 43), S. 1763 f. 52 Ähnlich Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 252 f im Hinblick auf die Gefahr der Verstrickung der Bank in Untreuehandlungen des Geschäftsfühers, dann allerdings mit der weitergehenden Annahme, der relevante subjektive Tatbestand sei immer schon gegeben, wenn die Sicherungsabrede keinen Vorbehalt der Aufrechterhaltung des Stammkapitals enthalte.

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untersucht werden, wie es sich auswirkt, wenn der Kredit der Zwischenholding oder der Sponsoren-Gesellschaft Kapitalersatz darstellt.

a) Bei der Projektfinanzierung über eine Zwischenholding oder eine Sponsoren-Gesellschaft werden die Kapitalverhältnisse bei der Projektgesellschaft nicht selten so sein, daß auf den ersten Blick angenommen werden könnte, das an die Projektgesellschaft weitergeleitete Darlehen, formal ein Gesellschafterdarlehen, habe kapitalersetzenden Charakter. Verhält es sich jedoch so, daß das Darlehen nur aus steuerlichen Gründen den Umweg über einen von der Projektgesellschaft verschiedenen Darlehensnehmer nehmen mußte, daß es aber allein aus Mitteln der Projektgesellschaft abgesichert wird, so erweist sich diese selber als kreditwürdig, so daß die Sonderregeln über Kapitalersatz nicht eingreifen.53 Ahnlich ist die Gewährung einer vollwertigen Sicherheit durch die Gesellschaft zugunsten des Gesellschafters/Darlehensgebers als Indiz für die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft angesehen worden.54 An dieser Beurteilung ändert es auch nichts, daß die Darlehensforderung zur Sicherung an die Bank abgetreten wird, denn damit wird die Bank gerade in die Situation der Darlehensgeberin einer selbst kreditwürdigen Projektgesellschaft versetzt. Dies gilt allerdings für den Sonderfall der Projektfinanzierung; bei anderen Fällen der Besicherung der Verbindlichkeiten eines Gesellschafters durch Gesellschaftsvermögen kann es durchaus so sein, daß die sicherunggebende Gesellschaft ohne die Einschaltung anderer Konzernunternehmen nicht kreditfähig gewesen wäre, so daß der Kredit kapitalersetzend ist. Wenn weitere Sicherheiten durch nahestehende Dritte, etwa andere Konzernunternehmen, gegeben werden, kann dies ebenfalls für einen Kapitalersatz durch das Darlehen sprechen.55 b) Die ganz herrschende Behandlung der Kapitalersatzregeln hat es zugelassen, daß ein ursprünglich einer gesunden Gesellschaft gegebenes Gesellschafterdarlehen nachträglich, wenn es „stehengelassen" wurde, Kapitalersatzcharakter annehmen kann.56 Gegen diese h. M. mag - ins-

5J Darin ist Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 256 zu folgen; zum Erfordernis der Kreditunwürdigkeit der darlehensnehmenden Gesellschaft allgemein BGHZ 76, 326, 330; 81, 252, 255; Hachenburg-Ulmer §§ 32 a, b, Rdn. 49; Scbolz/K. Schmidt §§ 32 a, 32 b Rdn. 35; Häuselmann/Rümker/H. P. Westermann, Die Finanzierung der GmbH durch ihre Gesellschafter, 1992, S. 67 ff. 54 BGHZ 81, 262 f; OLG Hamburg WM 1990, 1292; Hachenburg-Ulmer aaO (Fn. 53), Rdn. 52. 55 BGHZ 105, 168, 185 = NJW 1988, 3143 m. Anm. K. Schmidt; Mayer BB 1990, 1938; Scholz/K. Schmidt § 32 a, 32 b Rdn. 41. 56 Seit BGHZ 75, 334, 336 ff = ZIP 1980, 115 m. Anm. Klasmeyer h. M.; Nachw. bei Scholz/K. Schmidt aaO (Fn. 53), Rdn. 43.

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besondere unter dem Gesichtspunkt, inwieweit eine Aktualität des Bewußtseins zu fordern ist, einen an sich abziehbaren Kredit „stehen zu lassen" - einiges sprechen, doch muß sie für die Praxis als Datum akzeptiert werden. Immerhin setzt das Stehenlassen eines Kredits eine „Finanzierungsentscheidung" eines Gesellschafters oder einer einem solchen gleichzuachtenden Person voraus. 57 Auch wenn diese vielfach im nachhinein als konkludent abgegeben aus den Umständen erschlossen werden wird, muß sie die bestehende Finanzierungsverantwortung eines Gesellschafters für seine Gesellschaft zum Ausdruck gebracht haben. Hätte die Zwischenholding nach der Weitergabe des Bankkredits an die Projektgesellschaft und Besicherung durch diese die Darlehensforderung an die Bank abgetreten, so wäre die Forderung nicht mehr diejenige eines Gesellschafters, die Entscheidung der Bank, das Darlehen etwa bei Eintreten einer Krise nicht zu kündigen, also nicht mehr Ausfluß der Finanzierungsverantwortung eines Gesellschafters. Dann treffen die Regeln über das Stehenlassen eines ursprünglich nicht kapitalersetzenden Darlehens während einer Krise den Nicht-Gesellschafter, hier also die Bank, nicht. 58 Allerdings handelt es sich nicht um die Durchsetzung der Darlehensforderung, sondern um die Gültigkeit der Bürgschaft der Projektgesellschaft und die Möglichkeit der Bank, diese Bürgschaft auch dann noch geltend zu machen, wenn das Darlehen der Zwischenholding an die Projektgesellschaft mittlerweile in relevanter Weise „stehengelassen" worden ist. Hier ist zunächst darauf hingewiesen worden 59 , die Bürgschaft der Projektgesellschaft für die Schuld ihres Gesellschafters gegenüber der Bank entspreche wirtschaftlich einer sicherungs- oder erfüllungsweisen Abtretung der Darlehensforderung der Zwischenholding. Das leuchtet besonders deshalb ein, weil wohl durchweg auch in dieser Konstellation die von der Projektgesellschaft verbürgte Forderung zur Sicherheit für die Darlehensschuld der Holding an die Bank abgetreten wird. Aber es ist auch unbestreitbar, daß in dieser Situation die Zwischenholding als Gesellschafterin bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Projektgesellschaft nicht das Recht gehabt hätte, das Darlehen abzuziehen - es also auch nicht in relevanter Weise „stehengelassen" haben kann - , weil die Gesellschafterin die Darlehensschuldnerin nach dem Innenverhältnis nicht auf der Bürgschaft für eine Darlehensschuld, die von der Krise bei der Projektgesellschaft sicher

Nachweise bei Scholz/K. Schmidt §§ 32 a, 32 b Rdn. 44. Auf diese Bemerkung von Scholz/K. Schmidt aaO (Fn. 53), Rdn. 124 bezieht sich Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 257. 59 Maier-Reimer ebenda mit Hinweis darauf, daß der Bürgschaftskonstruktion steuerrechtliche Erwägungen zugrundeliegen. 57

511

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nicht tangiert ist, „sitzenlassen" darf. Aber auch wenn man diese Weiterentwicklung der Rechtslage des ursprünglichen Gesellschafterdarlehens der Bank als Sicherungsnehmerin zurechnen wollte - was, wie gesagt, aufgrund ihrer Position als bloße Einzelrechtsnachfolgerin eigentlich nicht angeht - , so entstünde nur ein Hindernis bei der Durchsetzung der zur Sicherheit abgetretenen Darlehensforderung, das die Bank gemäß § 404 B G B gegen sich gelten lassen müßte; nicht aber würde daraus folgen, nunmehr sei die Darlehensforderung in einer ihren kapitalersetzenden Charakter begründenden Weise „stehengelassen" und die als Sicherung für das Darlehen der Bank an die Zwischenholding gewährte Bürgschaft der Projektgesellschaft nicht mehr durchsetzbar. 60 III. Die Bank als atypische Pfandgläubigerin Vielfach wird im untersuchten Bereich ein Darlehen eines Kreditinstituts an die Projektgesellschaft u. a. durch die Verpfändung der Geschäftsanteile durch die Muttergesellschaft besichert. Das kann die Durchsetzung der Sicherheit gefährden, weil der BGH 6 1 angenommen hat, daß durch die Verpfändung, die freilich im konkreten Fall mit weitgehenden Einflußrechten des Pfandgläubigers auf die Unternehmensführung der schuldenden Gesellschaft verbunden war, die Bank in die Rolle eines Quasi-Gesellschafters gelange, so daß ihr Darlehen den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterliege.

1. Das Urteil BGHZ

119,191

Wiederum handelte es sich um ein in einer Krise steckendes Unternehmen, freilich mit der Besonderheit, daß es als Konzerntochter ( G m b H & C o K G mit natürlichen Personen als Kommanditisten) in einem Unternehmensverbund von seiner Muttergesellschaft offenbar keine Unterstützung erfuhr, so daß es nach Ansicht seiner Hausbank nicht nur des Einsatzes einer außenstehenden Unternehmensberatung bedurfte, sondern, ähnlich wie im „Tiefbau"-Fall B G H Z 107, 7, einer „faktischen Verdrängung der bisherigen Geschäftsführung durch Mitarbeiter dieser Unternehmensberatung", ferner einer Verpflichtung der Gesellschaft, den bisherigen Geschäftsführer gegen einen von der Unternehmensberatung ausgesuchten auszuwechseln, sowie einen Beirat mit

Im Ergebnis ebenso Maier-Reimer aaO (Fn. 7). Im Urteil BGHZ 119, 191 = LM § 39 GmbHG Nr. 39 m. Anm. Heidenhain = ZIP 1992, 1300 m. Kurzkomm. v. Gerkan § 32 a GmbHG 5/92 = WuB II C § 32 a GmbHG 1/93 m. Anm. Michalski; dazu ferner Goette DStR 1992, 1480; Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 259 ff; Altmeppen aaO (Fn. 11). 60 61

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Aufsichtsratsfunktion zu bestellen. Der Konkurs trat trotzdem ein, bevor die genannten Maßnahmen durchgeführt wurden, da schon drei Wochen nach der letzten Kreditrückführung Vergleichsantrag gestellt und weitere drei Wochen später der Anschlußkonkurs eröffnet wurde. Der Konkursverwalter klagte gegen die Bank auf Rückzahlung des Betrages, um den die Gesellschaft unter dem Einfluß des Unternehmensberaters die Forderung der Bank zurückgeführt hatte. Der BGH gab der Klage wegen des kapitalersetzenden Charakters der Bankdarlehen statt, mußte hierfür also dartun, daß und weshalb die Bank eine der Stellung eines Gesellschafters und der damit verbundenen Finanzierungsverantwortung vergleichbare Position eingenommen hatte. Dabei wurde an den Umstand angeknüpft, daß die Bank - insoweit ähnlich wie das Kreditinstitut im Rahmen einer Projektfinanzierung - sich die Gesellschaftsanteile der Kommanditisten einschließlich der Gewinnbezugsrechte hatte verpfänden lassen. Im Ausgangspunkt war freilich nach dem Stand des Schrifttums62 klar, daß ein Pfandgläubiger, da ihm das Pfandrecht keinen Einfluß auf die Gesellschafterstellung des Verpfänders verschafft, auch nicht wie ein Gesellschafter die Finanzierungsverantwortung tragen kann. Es kam daher auf weitere Qualifizierungen an, durch die sich die beklagte Bank vom „typischen" Pfandgläubiger unterschied, wobei der BGH eine Parallele zum „atypischen" stillen Gesellschafter zog.63 Der BGH sah insofern als entscheidend an, daß sich die Bank auch die Gewinnbezugsrechte aus den verpfändeten Beteiligungen hatte mitverpfänden lassen und daß sie bestehende und zukünftige Ansprüche der Kommanditisten auf Gewinn, eventuelle Abfindungsansprüche bei Ausscheiden, schließlich auch noch Ansprüche auf Liquidationserlös und Kaufpreiszahlung bei Verkauf sicherungsweise erwarb. Noch stärker in diese Richtung wirkten die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Unternehmenspolitik, die der BGH schlagwortartig dahin würdigte, die Ausübung der den Gesellschaftern verbleibenden Mitgliedschaftsrechte habe letztlich nur auf dem Papier gestanden, wobei als besonders gravierend empfunden wurde, daß dies die laufenden Geschäfte der Gesellschaft betraf, die die Bank gleichsam im „Handstreich" übernommen habe. Hinzu kamen die Abhängigkeit aller den Gesellschaftsvertrag ändernden Beschlüsse, der Gewinnverwendungsbeschlüsse oder der 62

Häuselmann/Rümker/H.

P. Westermann

§§ 32 a/b Rdn.47; Baumbach/Hueck

aaO (Fn. 53), S. 62;

Lutter/Hommelhoff

§ 32 a Rdn. 21; Kuhn/Uhlenbruck

§ 32 a KO

Rdn. 11; so auch das Berufungsurteil O L G Hamm ZIP 1991, 531 mit Kurzkomm. Dreher EWiR § 32 a GmbH 2/91; a. M. allerdings Rowedder/Rowedder § 32 a Rdn. 22. " Zu dessen Behandlung in diesem Zusammenhang BGHZ 106, 7; O L G Hamburg

WM 1990,1292; v. Gerkan aaO (Fn. 61); Kollhosser

Baumbach/Hueck

§§ 32 a, 32 b (Fn. 7) Rdn. 22.

WM 1985, 929; Keusch BB 1989, 2358;

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Einbringung von Anteilen in eine andere Gesellschaftsverbindung von der Zustimmung der Bank. Unabhängig vom Vertragsinhalt mißbilligte der BGH die Art, in der die Bank die Unternehmensberatung in die Geschäftsführung eingesetzt hatte; das zeigt die plastische, aber auch ein wenig auf Effekt bedachte Schilderung, wie während des Gesprächs, in dem der bisherige Geschäftsführer der Gesellschaft unter Druck gesetzt wurde, der Inhaber der Unternehmensberatung „bereits in einem Hinterzimmer wartete" 64 und wie die Unternehmensberatung in der Folgezeit durch umfangreiche Verkäufe der Warenvorräte den Stand des Kontokorrentkredits erheblich zurückführte und auch sonst insgesamt „tat, was von ihr erwartet wurde". 2.

Stellungnahme

Der BGH erwähnte die offenkundige Ähnlichkeit mit der im „Tiefbau"-Fall beklagten Hammer Bank nicht, wohl deshalb, weil die dort im Mittelpunkt stehende tatbestandsmäßige Beschreibung einer qualifiziert faktischen Konzernierung im vorliegenden systematischen Zusammenhang nicht von Belang war. Auf der anderen Seite trug, wie gezeigt, die harte Vorgehensweise der Bank bei der Sicherung und später bei der Durchsetzung ihrer Forderungen durchaus zu der vom BGH für maßgebend gehaltenen „Gesamtbetrachtung" bei. Zur Typizität eines solchen Handelns von Banken, das im Hinblick auf diesen Fall mit Recht und sogar mit einiger Zurückhaltung als „hemdsärmelig" bezeichnet wurde 65 , muß auch nicht Stellung genommen werden, um sagen zu können, daß eine derartige Behandlung einer zu einer Unternehmensgruppe gehörenden Gesellschaft einen ausgesprochenen Ausnahmefall darstellt. Gleichwohl gehen natürlich von der Wertung durch den BGH Signale für die Beurteilung anderer Fälle der Verstärkung der Rechte eines Pfandgläubigers aus, für die man an sich, wenn man seine schwache Stellung zu den gewöhnlichen Bedürfnissen eines Kreditgebers ins Verhältnis setzt, ein gewisses Verständnis haben muß.66 Gerade in dieser Hinsicht ist die literarische Reaktion auf das Urteil des BGH, was etwas verwundert, nicht besonders lebhaft gewesen; eher wurde Überraschung laut, daß es zur Bejahung einer gesellschafterglei64 Wie Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 262 beobachtet, sprach das LG Hagen im erstinstanzlichen Urteil (ZIP 1990, 728) noch von einem „Nachbarraum", aus dem der BGH dann das „Hinterzimmer" machte - so macht der Ton die Musik. Ebenso, wenn die unter den Parteien streitige Tatsache, daß die Unternehmensberatung auf Weisung der Bank gehandelt habe, vom BGH als weniger bedeutsam bezeichnet wird mit der Begründung, man habe sich hier „subtilerer Formen der Einflußnahme" bedient. 65 Heidenhain Anm. zu BGH LM Nr. 39 zu §§ 30, 31, 32 a. " So auch Heidenhain ebenda.

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chen Stellung der Bank erst in der Revisionsinstanz gekommen war67, nachdem die Tatsacheninstanzen sowohl die Abtretung von Gesellschafterrechten und die Einflußmöglichkeiten der Bank auf die Unternehmensführung der Schulderin als auch schließlich die Art der Begründung dieser Stellung zwar untersucht, aber letztlich vom Sicherheitsinteresse der Gläubigerin als gedeckt angesehen und unternehmerischen Einfluß auf die Schuldnerin auch nicht durch die Einschaltung der Unternehmensberatung festgestellt hatten.68 War der B G H so viel klüger, bedurfte es vielleicht solcher Feststellungen gar nicht? Ein erster Punkt, der bei einer - freilich von der Situation bei der Projektfinanzierung beeinflußten - Betrachtung des Urteils auftaucht, ist der Umstand, daß der B G H für die gesellschafterähnliche Stellung der Bank im konkreten Fall u. a. anführte, daß die Gesellschaft, die sich für die Verpflichtungen einer anderen Konzerngesellschaft verbürgt hatte, zur Zahlung nur verpflichtet sein sollte, wenn ihre Steuerbilanz für das vorangegangene Geschäftsjahr einen Gewinn auswies. Eine solche Einschränkung der zugunsten eines anderen Konzernunternehmens eingegangenen Bürgschaft, aus der der B G H einen Hinweis auf den Eigenkapitalcharakter der von der Bank gewährten Mittel ableitete, versteht sich eher aus der Überlegung, daß verhindert werden sollte, durch die Bürgschaftsübernahme oder die Bedienung der Bürgschaft eine Unterbilanz zu verursachen. Das Interesse einer Bank, durch ein Pfandrecht den Zugriff auf die Geschäftsanteile zu erhalten, ist bei einer solchen Einschränkung der Bürgenschuld verständlicherweise größer69, damit allein aber noch nicht legitim. Entscheidend ist hierfür, nach welchem Ansatz die Stellung der Bank zur Gesellschaft und ihre Handlungsweise zu untersuchen sind. Hier ist, ähnlich wie in der mittlerweile etwas zur Ruhe gekommenen Diskussion um den qualifizierten faktischen Konzern, ein Schwanken zwischen Verhaltens- und zustandsbezogenen Argumenten70 zu beobachten, das Zweifel begründet, ob nicht mit der gewissermaßen objektiven Umqualifizierung des Bankkredits zum Gesellschafterdarlehen die Heranziehung von Anfechtungstatbeständen, die mangels festgestellter Gläubigerbenachteiligung nicht bejaht wor-

67 v. Gerkan aaO (Fn. 61); daß die Voraussetzungen einer atypischen Kommanditistenstellung gegeben waren, nimmt auch Michalski aaO (Fn. 61) „als selbstverständlich" an. 48 LG Hagen ZIP 1990, 728, 732 mit Kurzkomm. Meyer-Landrut EWiR § 32 a GmbHG 3/1990; OLG Hamm ZIP 1991, 531, 534 = WM 1992, 1655; krit. dazu Dreher Kurzkomm. EWiR § 32 a GmbHG 2/91. 69 Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 259. 70 Zur Verhaltensoder Zustandshaftung beim faktischen Konzern siehe nur K. Schmidt ZIP 1993, 549, 551 f; H. P. Westermann ZIP 1993, 554, 555 ff (beide zum „TBB-Urteil"); Hommelhoff DB 1992, 309; Stodolkowitz ZIP 1992, 1517, 1518.

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den waren71, oder der Nachweis eines sittenwidrigen schädigenden Verhaltens in Form einer Knebelung des Schuldners vermieden werden sollte. Grundlage für die Anwendung der Regeln über die kapitalersetzenden Darlehen ist hier § 32a Abs. 2 GmbHG, d. h. es kommt darauf an, ob es sich um ein einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechendes Geschäft handelt.72 Vielfach wird darauf abgestellt, ob der Dritte, also auch ein Pfandgläubiger, in den mitgliedschaftlichen Verband der Gesellschaft einbezogen worden ist.73 Dies geschieht indessen nicht durch hartes, nicht einmal durch rücksichtsloses Beitreiben von Darlehensforderungen, so daß die Einschaltung der Unternehmensberatung in die Geschäftsführung im Sinne einer Zurückführung eines Kreditsaldos insoweit nicht in Betracht kommt. Um Gesellschafterhandeln geht es dabei gerade nicht, und Sicherungsinteressen sind nicht identisch mit den Belangen eines Gesellschafters. Man wird noch sagen können, daß die Bank jedenfalls mit der Einschaltung der in ihrem Sinne handelnden Unternehmensberatung und mit der Entmachtung der bisherigen Geschäftsführung einen gesellschafterähnlichen Einfluß ausgeübt habe. Aber um dann aus dem Kredit einen kapitalersetzenden zu machen, hätte es eines „Stehenlassens" von ihrer Seite bedurft, während die Bank gerade das Gegenteil tat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht durch die Parallele zum atypischen stillen Gesellschafter, denn hierbei ging es seinerzeit dem BGH hauptsächlich darum, eine Flucht der als Mitinhaber geworbenen und auch handelnden Geldgeber aus der Rolle des mitverantwortlichen Gesellschafters in die eines außenstehenden Stillen zu verhindern.74 Hiernach hat es in der Tat den Anschein, daß der BGH aus der Einflußnahme des Kreditgebers auf die Art und Weise der Zurückführung des Kredits dessen kapitalersetzende Funktion ableitete, somit aus einem 71 BGHZ 119, 1 9 1 , 1 9 9 f; dazu auch bereits Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 263 f. Altmeppen aaO (Fn. 11) S. 1681 f sieht die Lösung des Falles in der anfechtungsrechtlich relevanten Kenntnis des „atypischen Pfandgläubigers" von der Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers während des kritischen Zeitraums. 72 Scholz/K. Schmidt §§ 32 a, 32 b Rdn. 30, 123 („mittelbare Unternehmensbeteiligung"); Baumbach/Hueck §§ 32 a, 32 b Rdn. 21. Dagegen soll nach Hachenburg-Ulmer §§ 32 a, b Rdn. 37 auch der Sicherungsnehmer, der der Gesellschaft in der Krise Mittel beläßt, sich nicht darauf berufen können, damit kein unternehmerisches Eigeninteresse verfolgt zu haben. S. aber auch ebenda Rdn. 126. 73 v. Gerkan GmbHR 1986, 223; Rümker, Festschrift für Stimpel, 1985, S. 693 f; Scholz/K. Schmidt, ebenda. 74 Siehe die Analyse des Urteils BGHZ 106, 7, 10 f durch Altmeppen aaO (Fn. 11), S. 1679 mit dem weiteren Hinweis, daß die steuerrechtlichen Motive der Anerkennung einer „atypischen stillen Beteiligung" eine Gesellschafterähnlichkeit des Stillen im Hinblick auf die Anwendung der Kapitalersatzregeln nicht begründen.

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- offenbar mißbilligenswerten - Handeln auf einen Zustand schloß. Dies wäre anders zu sehen, wenn der Pfandgläubiger wie ein Sicherheitszessionar zu behandeln wäre, der Gesellschafter wird und dann der Finanzierungsverantwortung unterliegt. Der B G H scheint diesen Gedanken nur insoweit heranziehen zu wollen, als es auf den „Erwerb einer Gesellschafterstellung im Rechtssinne" gerade nicht ankommen soll, und tatsächlich lag der hier am Rande kurz erwähnte Fall der Hamburger Stahlwerke 75 insofern ganz anders, als das Kreditinstitut wirklich die (politischen) Eigeninteressen verfolgt hatte. Hier bestand also eine Beteiligung am unternehmerischen Risiko, während der atypische Pfandgläubiger, so intensiv er in die Unternehmensführung eingreifen mag, nur sein Gläubigerrisiko vermindern will und dies - in Fällen wie dem vom B G H entschiedenen wohl auch übertrieben rücksichtslos - auch gegen die Gesellschafterbelange durchsetzt. Die Grundgedanken der Umqualifizierung von Darlehen in Eigenkapital, die in der Auseinandersetzung mit dem Urteil des B G H schon mehrfach beschworen wurden 76 , passen auf derartige Verhaltensweisen einer kreditgebenden Bank nicht. Früher wurde vertreten, es gehe darum, dem Gesellschafter-Darlehensgeber nicht die Vorteile aus einer Insider-Stellung zu belassen, die es ihm ermöglichen, seine Mittel bei Heraufkommen von Risiken und Krisen rechtzeitig zurückzuziehen, bis dahin aber die Chance der Beteiligung am Gewinn zu nutzen. Diese mit dem Verbot des venire contra factum proprium verbundene Vorstellung über die Sonderbehandlung von Gesellschafterdarlehen hat an Uberzeugungskraft verloren. 77 Auch gelegentlich auftauchende Anspielungen auf eine Pflicht des Gesellschafters, die Gesellschaft mit Kapital auszustatten oder sie sogar durch eine Krise zu führen, sind wohl nur mißverständnisse.78 Das wohl herrschende Verständnis der „Finanzierungsverantwortung" zielt auf objektive Forderungen der Eigenkapitalbildung und der Reaktion auf Unternehmenskrisen, die auf Einschränkungen der grundsätzlichen Finanzierungsfreiheit hinauslaufen: 79 Der Gesellschafter

75 B G H Z 105, 168 = NJW 1988, 3134 m. Anm. K. Schmidt; dazu Hüffer Z H R 153 (1989), S. 322; Lutter ZIP 1989, 477 ff. 76 Etwa von Altmeppen aaO (Fn. 11), S. 1682 und Maier-Reimer aaO (Fn. 7), S. 168 ff. " Siehe aber immerhin B G H Z 90, 381, 388 f; Fleck, Festschrift für Werner, 1984, S. 107, 116; kritisch Scholz/K. Schmidt §§ 32 a, 32 b Rdn. 9; weitere Nachw. bei Häuselmann/Riimker/H. P. Westermann aaO (Fn. 53), S. 10 f. 78 So Lutter ZIP 1989, 477 f zu Formulierungen im Urteil B G H Z 105, 168 zu den Hamburger Stahlwerken. 79 Deutlich v. Gerkan/Hommelhoff, Kapitalersatz im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2. Aufl. 1988, S. 6 ff, 16 ff; K. Schmidt aaO (Fn. 75); Häuselmann/Rümker/ H. P. Westermann aaO (Fn. 53), S. 12; Baumbach/Hueck § 32 a Rdn. 3.

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bleibt frei, mit wieviel Kapital er die Gesellschaft ausstatten will, und er muß auch in der Krise kein Kapital nachschießen. Er darf Mittel, die nicht kapitalersetzend waren (oder es durch „Stehenlassen" geworden sind), auch in einer Krise abziehen. Wenn er aber in einer solchen Situation die Fortsetzung der Geschäfte mit neuen Mitteln ermöglicht, wozu gehört, wenn er Mittel „stehenläßt", ist der „ordentliche Kaufmann" nicht frei, entweder das Eigenkapital zu erhöhen oder sich durch bloße Darlehensgewährung die Möglichkeit offenzuhalten, bei Scheitern seines Rettungsversuchs jedenfalls dieses Geld noch rechtzeitig abzuziehen, sondern muß es zur Gläubigerbefriedigung zur Verfügung stellen. In einer solchen Situation befindet sich der „atypische Pfandgläubiger", mag er noch so viel Einfluß in der Gesellschaft gewonnen haben, nun einmal nicht. Die Lösung hätte daher in verhaltensabhängigen Anspruchsgrundlagen gefunden werden müssen, für die es ausreichende Anhaltspunkte gab. 3. Ubertragbarkeit auf die Projektfinanzierung Blickt man von hier aus auf die Umstände bei einer Projektfinanzierung zurück, so ist zunächst hervorzuheben, daß das besprochene Urteil des B G H die wichtige Frage, inwieweit ein Pfandgläubiger seine als Sicherheit meist nicht als ausreichend empfundene Rechtsstellung vertraglich verstärken kann, ohne sich der „Finanzierungsverantwortung" im geschilderten Sinne auszusetzen, nicht behandelt hat.80 Das ist im Falle der Einschaltung einer Zwischenholding auch deshalb bedauerlich, weil, wie gezeigt, die Sicherheiten hier ohnehin schon unter dem Vorbehalt einer Gefährdung des Stammkapitals stehen. Auf der anderen Seite bestehen so erhebliche Unterschiede zwischen der Projektfinanzierung im hier erörterten Sinn und dem vom B G H zu beurteilenden Fall eines allzu durchgreifenden Krisenmanagements durch eine Gläubigerbank, daß Schlüsse von der einen auf die andere Fallgestaltung sich verbieten. Der hauptsächliche Unterschied liegt darin, daß die Darlehensgewährung und Besicherung bei der non-recourse-Projektfinanzierung von vornherein nicht „causa societatis" erfolgt, sondern als reines Finanzierungsgeschäft mit ausschließlichen Fremdmitteln. Dies zeigt sich deutlich daran, daß im Regelfall die Gesellschafter der Projektgesellschaft oder auch andere Gesellschaften der Unternehmensgruppe wohl Verantwortung für den Aufbau des Geschäfts bzw. der Anlagen tragen, aber gerade nicht für die Aufbringung oder Besicherung der über das

80

So auch Heidenhain

aaO (Fn. 65), Bl. 154.

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Eigenkapital hinaus benötigten Finanzmittel. Die vorstehende Untersuchung sollte gezeigt haben, daß der Geldkreditgeber, auch wenn er Zugriff auf das Anlagevermögen der Schuldnerin hat und Möglichkeiten besitzt, die Gewinnverwendung im Interesse der Bedienung seines Kredits zu beeinflussen, zwar eine Gläubigerposition verstärkt, sich damit aber nicht in den Stand versetzt, das bei ordnungsmäßigem kaufmännischem Verhalten bereitzustellende Eigenkapital mit geringem Risiko wirtschaften lassen und es notfalls kurzfristig abziehen zu können. Diese letztere Möglichkeit wird ein Kreditinstitut schon angesichts der individual-vertraglichen Kündigungsschranken, die schlagwortartig mit den Begriffen „Pflicht zur schonenden Rechtsausübung" und Verbot einer Kündigung „zur Unzeit" zusammengefaßt werden können81, oft gar nicht ohne weiteres haben. Auch wird bei der Projektfinanzierung der Einfluß der Bank auf die Unternehmensführung, an dessen Begründung und Intensität der B G H Anstoß nahm, nicht unter existenziellem Druck mit einer Kreditkündigung Zustandekommen, sondern auf einem zwischen Sponsoren und Bank ausgehandeltem Gleichgewicht der Interessenwahrnehmung beruhen, wenn auch nicht von einem Gleichlauf die Rede sein mag, da bis zur Rückführung des Kredits die Gläubigerinteressen einen gewissen Vorrang genießen dürften. Das schließt nicht aus, daß im Einzelfall später eine bestehende wirtschaftliche Notlage zur Verstärkung der Einflußmöglichkeiten ausgenutzt wird, und es kann auch sein, daß eine Bank von ihrer verstärkten Gläubigerposition aus Maßnahmen ergreift, die die Gesellschafter schädigen oder die Befriedigungschancen der übrigen Gläubiger gefährden. Das aber sind dann Vorwürfe, denen mit dem allgemein-zivilrechtlichen Instrumentarium zu begegnen ist82, die die Bank aber gerade nicht ihrerseits in die Nähe einer Gesellschafterstellung bringen. Zugespitzt gesprochen: Der auf Sicherheit bedachte Pfandgläubiger schwebt in der Versuchung, auf Kosten der Mitgläubiger den Schuldner auszusaugen, während der seine Finanzierungsverantwortung mißachtende quasi-Gesellschafter den Vorwurf verdienen kann, den Schuldner künstlich am Leben erhalten zu haben, ohne ihm das dafür erforderliche Blut einzuflößen. Man mag beides mißbilligen83, muß aber sehen, daß die Rechtsordnung mit differenzierten Maßstäben und unterschiedlichen Rechtsfolgen reagiert. 81 Staudinger-Hopt/Mülbert § 609 Rdn. 18 ff; MünchKomm-//. P. Westermann § 610 Rdn. 14, 19. " Hierzu ist auf den in Fn. 5 genannten Beitrag zu verweisen. 83 Nicht selten wird allerdings behauptet, die Sonderbehandlung kapitalersetzender Darlehen solle dieses Finanzierungsinstrument nicht diskriminieren, B G H Z 76, 326, 330 = N J W 1980, 1524; Fleck, Festschrift für Werner, S. 107; Hachenburg-Ulmer §§ 32 a, 32 b Rdn. 8; skeptisch in dieser Hinsicht ist aber Häuselmann/Rümker/H. P. Westermann aaO (Fn. 53), S. 11.

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Danach dürften Sicherungsmittel wie die Verpfändung der Geschäftsanteile der Projektgesellschaft, die Begründung von Zustimmungsvorbehalten bei wichtigen Unternehmensentscheidungen und von Einfluß auf die Verwendung der cash flow das Kreditinstitut noch nicht in die Rolle eines quasi-Gesellschafters mit Finanzierungsverantwortung bringen. Schaltet sich die Bank allerdings in die Alltags-Geschäftsführung ein, womöglich unter Verdrängung des Einflusses der Gesellschafter, so begründet dies die Gefahr einer allgemein-zivilrechtlichen Schadensersatzhaftung, verbunden mit der Perspektive, daß jetzt eingeräumte Kreditsicherheiten wegen einer sittenwidrigen Drucksituation nicht gültig bestellt sein könnten. Neben alledem sind insolvenzrechtliche Bedrohungen der Gläubigerrechte zu beachten, die sich ergeben können, wenn die Bank während der ihr bekannten Krise auf vorrangige Rückführung ihrer Forderungen hinwirkt. IV. Schlußbetrachtung Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Untersuchung von Risiken und Schwächen bestimmter Finanzierungs- und Sicherungsinstrumente des Bankgeschäfts eine Gemengelage von allgemein zivilrechtlichen und unternehmensrechtlichen Problemen, gewissermaßen heterogene Stolpersteine zutage fördert. Angesichts der Normsituation des Bankrechts zwischen Allgemein- und Sonderprivatrecht ist dies so lange unbedenklich, als die einzelnen Elemente der gewiß komplexen Rechtslage getrennt gewertet und die von ihnen ausgehenden Gefahren sachangemessen bewältigt werden können. Das aber wird bedeutend erschwert, wenn nicht mit der Folge einer diffusen und unsicheren Rechtslage unmöglich gemacht, wenn gesellschaftsrechtliche Regeln über die Kapitalerhaltung herangezogen werden, um eine sonst nicht leicht beweisbare sittenwidrige Knebelung oder Gläubigergefährdung zu begründen, oder wenn auf die prozessual notwendigen Feststellungen über vorwerfbares und schädigendes Gläubigerverhalten im Zuge einer Umqualifizierung des aus einer verstärkten Gläubigerposition handelnden Kreditinstituts zum quasi-Gesellschafter verzichtet wird. Hierbei geht es weniger, obwohl auch dies wichtig genug ist, um Methodenehrlichkeit bei der Urteilsbegründung, sondern mehr um die Berechenbarkeit von Risiken bei der Vertragsgestaltung und bei der Durchsetzung vertraglicher Rechte. Insbesondere die Anwendung allgemein-zivilrechtlicher Figuren mit wertausfüllungsbedürftigem Begriffsinhalt kann leicht dazu genutzt werden, als Schutzlücken empfundene Beschränkungen des Geltungsanspruchs sonderprivatrechtlicher Regelungen mit einem Instrumentarium zu überwinden, das nicht auf die spezifische Normsituation abgestimmt ist.

Gesellschaftsrechtliche Risiken bei der bankmäßigen Projektfinanzierung

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D e m zu begegnen, gehört zu den Aufgaben größer angelegter wissenschaftlicher Bemühungen, zu denen Einzelstudien wie die Untersuchung der zivil- und gesellschaftsrechtlichen Probleme bei der bankmäßigen Projektfinanzierung vielleicht einen pragmatischen Einstieg eröffnen können, ohne mehr sein zu sollen als Teilstücke eines noch zu entfaltenden Gesamtbildes.

Gedanken zur Vermögensordnung der Personengesellschaft H E R B E R T WIEDEMANN

I. Thema Wer sich mit der Vermögensorganisation der Personengesellschaften beschäftigt, stößt überwiegend auf Erörterungen zur Gesamthand, oder genauer zu den Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaftergesamtheit und Gesamthandsvermögen. Deren Bedeutung hat allerdings schon die zweite Kommission zur Vorbereitung des BGB gering eingeschätzt1; sie mochte sich zu den wissenschaftlichen Streitfragen über das Wesen der gesamten Hand nicht äußern, sondern nur entscheiden, „welche Bestimmungen sachlich den Vorzug verdienen". In der Tat genügt es, sich das Gesamthands- als Sondervermögen der Gesellschaft vorzustellen; irgendwelche Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Vermögensgegenständen und den einzelnen Gesellschaftern bestehen nicht. Die Zuordnung des Aktivvermögens geht vielmehr vollständig auf die Gesellschaftergesamtheit über. Erörterungsbedürftig sind dagegen die Rechtsbeziehungen zwischen dem Gesellschaftsvermögen und den einzelnen Gesellschaftern2, also die Beteiligungen der Mitglieder an ihrem Gesellschaftskapital. An die dazu grundlegenden Arbeiten von Ulrich Huber3 soll hier angeknüpft werden. Bemerkenswert ist weiter, daß es zum Thema Eigenkapital der Personengesellschaften nur spärlich Untersuchungen gibt.4 Der Befund steht in einem überraschenden Gegensatz zur Rechtslage bei den Kapitalgesellschaften, denn dort gehört die Erörterung der „Finanzverfassung"5 zu den geradezu überlaufenen Forschungsgebieten. Die Grundsätze der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung und die Regeln des (Kern-) Eigenkapitals und des (Ersatz-)Haftkapitals sind vielfältig ausgeleuchtet.

' Protokolle der Kommission f ü r die zweite Lesung des Entwurfs des BGB, Bd. II (1898), S. 430. 2 Vgl. zu den einzelnen Rechtsbeziehungen in der Personengesellschaft Wiedemann, W M 1992, Beilage N . r 7, S. 4 ff. 3 Vgl. Ulrich Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personengesellschaften des Handelsrechts (1970), S. 141 ff; den., Z G R 1988, S. 1-103. ' Vgl. Raimund Pauli, Das Eigenkapital der Personengesellschaften (1990); Susanne Sieker, Eigenkapital und Fremdkapital der Personengesellschaft (1991). 5 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (2. Aufl. 1988), § 29, S. 734 ff.

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Eine Vermögensvorsorge im Recht der Personengesellschaft scheint vordergründig überflüssig zu sein. Abgesehen von der Haftsumme des Kommanditisten erzwingt das Gesetz keine Mindestausstattung der Gesamthand. Die §§718-720 BGB gestalten ausschließlich das „Wie", nicht das „Ob" der Vermögensanlage; ihre inhaltliche Aussagekraft darf auch insoweit nicht überschätzt werden. Die übrigen Vorschriften zur Gewinnverteilung und zur Entnahmemöglichkeit in den §§721, 722 BGB, §§ 120-122, 167-169 HGB bieten nur Regelungsvorschläge - und dies mit einem heute nicht mehr zeitgemäßen Inhalt. Man ist versucht, die Lücke damit zu erklären, daß im Personengesellschaftsrecht kein Bedürfnis zur Eigenkapitalvorsorge besteht, weil die Forderungen der Gläubiger durch die unbeschränkte persönliche Haftung einzelner Mitglieder sichergestellt sind. Diese Deutung steht aber zu einseitig im Banne des Gläubigerschutzes und erklärt die Eigenkapitalvorsorge deshalb auch im Recht der Kapitalgesellschaften unzureichend. 6 Trotz persönlicher Haftung gilt es auch in der klassischen Personengesellschaft Vorsorge für die Vermögensaufbringung (= korrekte Erfüllung der versprochenen Beiträge) und Vermögenserhaltung (= korrektes Verfahren zu Gewinn- oder Vermögensabfluß) zu treffen, und zwar erstens und vor allem im Interesse der übrigen Mitgesellschafter, weil stets bei den Erwerbsgesellschaften, teilweise auch bei den Idealgesellschaften die Verbandsorganisation (Stimmrecht) und die Vermögensordnung (Kapitalanteil) auf der Beitragsquote aufbauen. Ein Gesellschafter, der seine Einlage vorsätzlich nicht korrekt erbringt, verletzt damit nicht nur seine Beitragspflicht gegenüber der Gesellschaft und schädigt damit das Gesellschaftsvermögen, sondern betrügt sozusagen fortlaufend seine Mitgesellschafter, weil der Vertrag auf einer nicht zutreffenden Basis durchgeführt wird. Die dadurch aufgeworfenen Probleme sind zunächst solche der Information der übrigen Gesellschafter. Solange sie die Umstände einer nicht korrekten Vermögensaufbringung oder Vermögensverlagerung (noch) nicht kennen, werden sie mögliche Sanktionen bei der Gewinnverteilung, beim Bezugsrecht und bei einem etwaigen Abfindungsverfahren nicht in Betracht ziehen. 7 Die korrekte Vermögensaufbringung liegt zweitens auch im Interesse der Gesellschaftsgläubiger, weil das gesamthänderische Sondervermögen gleichzeitig die Gesamthands- von der Privatvermögenssphäre der einzelnen Gesellschafter und ihrer Privatgläubiger abgrenzt. Nur die Gesellschaftsgläubiger haben einen unmittelbaren Zugriff auf das Gesamthandsvermögen; die Privat-

' GroßKomm-Wiedemann (4. Aufl. 1995), Vor § 182 AktG, Rdn. 60, § 183 AktG, Rdn. 96. 7 § 121 Abs. 2 HGB und §§ 60 Abs. 2, 134 Abs. 2 AktG treffen nur für bekannte Fälle der Nichterfüllung oder Änderung der Einlagepflichten Vorsorge.

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gläubiger können lediglich durch die „Hintertür" der § 725 B G B , § 135 H G B vollstrecken lassen. Ausführungen zur Vermögensaufbringung (IV) - die Vermögenserhaltung bleibt hier ausgespart - setzen eine Besprechung der beiden grundlegenden Rechtsbeziehungen zwischen der Gesellschaftergesamtheit und dem Gesellschaftsvermögen (II) und zwischen den einzelnen Gesellschaftern und dem Gesellschaftsvermögen (III) sowie ihre Dokumentation im Rechenwerk und in der Bilanz der Handelsgesellschaften voraus. II. Das Verhältnis der Gesellschaftergesamtheit zum Gesellschaftsvermögen Das unternehmerische Sondervermögen „gehört" nur der Gesellschaftergesamtheit, aber die einzelnen Gesellschafter sind daran naturgemäß „beteiligt". Das macht es notwendig, die Vermögenssphäre der Gesamthand von derjenigen der einzelnen Gesellschafter und von derjenigen außenstehender Dritter abzugrenzen. Inhalt und Umfang dieser Rechtsbeziehungen schlagen sich bei einem unternehmerischen Rechtsträger in seiner Buchführung und im Jahresabschluß nieder; bei Großunternehmen ist letzterer gemäß § 9 PublG zu veröffentlichen. Die Dokumentation der Rechtsbeziehungen zu Mitgliedern und zu Dritten in der Kontenführung und in der Bilanz trägt viel zum Verständnis der Finanzverfassung der Handelsgesellschaften bei, wobei man allerdings das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht vertauschen darf: maßgebend für die korrekte Buchführung und für den Jahresabschluß sind der Gesellschaftsvertrag und ihm gleichstehende Gesellschafterbeschlüsse, hilfsweise die gesetzlichen Regelungen - nicht etwa bestimmt das Rechenwerk der Gesellschaft ihre in- und auswärtigen Rechtsbeziehungen. 1. Der Ausweis des Gesellschaftsvermögens und der Gesellschaftsschulden unter den Aktiven und Passiven der Bilanz dient auf beiden Seiten der Darstellung des kaufmännischen Vermögens, auf der linken Seite unter dem gegenständlich zuordnungsrechtlichen, auf der rechten Seite unter dem wertmäßig wirtschaftlichen Blickwinkel. Auf der Aktivseite der Bilanz werden die dem Rechtsträger zugeordneten Vermögensgegenstände ausgewiesen. Zuordnung ist dabei weit zu verstehen und umfaßt bilanzrechtlich alle Gegenstände, die bei wirtschaftlicher Betrachtung zum kaufmännischen Vermögen gehören. 8 Diese Sicht eines „Vermögensregisters" gilt auch für die Personengesell« Vgl. Moxter,

Bilanzrechtsprechung (3. Aufl. 1993), S. 32 ff.

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schaft. 9 Auf der linken Seite ihrer Bilanz sind deshalb alle Vermögensgegenstände aufzunehmen, die der Gesamthand gehören, aber auch nur diese; vgl. § 5 Abs. 4 PublG. Dazu zählen deshalb nicht Grundstücke oder andere Gebrauchsgüter, die ihr von einem Gesellschafter oder von Dritten lediglich zur N u t z u n g (quoad usum) überlassen sind. Anders ist zu entscheiden, wenn der Vermögensgegenstand dem Werte nach (quoad sortem) überlassen wird, weil er dann nach überwiegender Meinung zum wirtschaftlichen Eigentum der Gesellschaft gehört. 10 Der Grenzverlauf zwischen Gesamthandsvermögen und Privatvermögen der einzelnen Gesellschafter führt zu keinen Überschneidungen: Rechtsgüter oder Forderungen der Gesamthand sind nicht solche einzelner Gesellschafter. 11 D e m einzelnen Mitglied stehen nach § 719 Abs. 1 BGB keine wie auch immer gearteten Vermögensanteile daran zu.12 Die linke Seite der Bilanz ist deshalb einheitlich auf die Gesellschaft bezogen. Die Passivseite der Bilanz ist unterschiedlichen Interpretationen zugänglich. In der Betriebswirtschaftslehre wird häufig formuliert, die linke Seite der Bilanz beschreibe die Verwendung, die rechte dagegen die H e r k u n f t der Betriebsmittel. 13 Diese Erklärung ist nicht zureichend, weil sie auf Einlagen und Darlehen zugeschnitten ist, offensichtlich aber f ü r Rücklagen oder gesetzlich begründete Schuldverhältnisse nicht paßt. Vorzugswürdig sind vielmehr zwei weitere Deutungen, die ihr Schwergewicht jeweils beim Eigen- bzw. beim Fremdkapital haben. Man kann die Passivseite damit erläutern, daß sie anstelle der gegenständlichen eine wertmäßige Zuweisung enthält: das Eigenkapital dient letztlich den Bedürfnissen der Gesellschafter, das Fremdkapital der Befriedigung der Gläubiger. Diese Aussage ist wichtig, u m die Beziehung zwischen den Gesellschaftern und „ihrem" Gesellschaftsvermögen zu beleuchten, denn dieses Rechtsverhältnis wird im Rahmen des Eigenkapitals dokumentiert. Für jeden Personengesellschafter wird ein Kapitalanteil geführt; seine Mitgliedschaft vermittelt ihm die Wertteilhabe. 14 Die Kapitalanteile bilden zusammen mit etwaigen Rücklagen das „Geschäftskapital" der Gesellschaft. Man kann die rechte Bilanzseite aber auch damit

' Vgl. Großfeld, Bilanzrecht (2. Aufl. 1990), Rdn. 362; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht (9. Aufl. 1993), S. 415; Schulze-Osterloh, Die Personengesellschaft als Bilanzierungssubjekt und Bilanzierungsobjekt, in: I D W (Hrsg.), Personengesellschaft und Bilanzierung (1990), S. 129, 132. 10 Vgl. Herrmann, WPg 1994, S. 500 mit Nachweisen der Gegenansicht. 11 Vgl. B G H Z 116, S. 86, 88 (GbR). 12 Vgl. dazu bereits Staub (5. Aufl. 1887), Art. 106 A D H G B , Rdn. 5. 13 Vgl. Schierenbeck, Grundzüge der Betriebswirtschaftslehre (11. Aufl. 1993), S. 499; Wöhe, Einführung in die Allg. Betriebswirtschaftslehre (17. Aufl. 1990), S. 983. 14 Vgl. U. Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil (1970), S. 145 ff.

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erklären, daß sie eine Rangordnung der Verbindlichkeiten aufführt, wobei das Eigenkapital in der Insolvenz oder Liquidation zurückstehen muß; vgl. § 733 B G B , § 155 H G B . Das Eigenkapital definiert sich dann als Restgröße, nämlich als Reinvermögen nach Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten. Es liegt auf der Hand, daß die „Wertanteilstheorie" mehr Aussagekraft hat für die Rechtsbeziehungen zu den Gesellschaftern, die „Liquiditätstheorie" dagegen für diejenigen zu den Gläubigern. Im Ansatz gilt für die Passiva dieselbe Grundregel wie für die Aktiva: auch auf der rechten Seite können nur Gesellschaftsschulden und keine Privatschulden der Gesellschafter verbucht werden, selbst wenn sie, wie z. B. Steuerschulden, auf der Mitgliedschaft beruhen. 15 Anders als beim Ausweis der Vermögensgüter treten aber bei der Kapitalzuweisung mannigfache Zweifelsfragen auf, und zwar sowohl bei der Abgrenzung von Eigen- zu Fremdkapital (dazu sogleich unter 2) wie bei der Darstellung der Beteiligung der einzelnen Gesellschafter am Eigenkapital (dazu anschließend unter III). 2. Jeder Gesellschafter kann seiner eigenen Gesellschaft als Drittgläubiger, also als Fremdkapitalgeber gegenübertreten. Er gewährt ihr z. B. ein Investitionsdarlehen oder läßt ausschüttungsfähige Gewinnanteile stehen. Reichen die Mittel des Aktivvermögens zur Schuldendeckung nicht mehr aus, wird die Gesellschaft also überschuldet, so muß man entscheiden, ob und unter welchen Umständen ein Gesellschafter sich mit seinen Forderungen unter die übrigen Gläubiger einreihen darf. Das ist das Problem des Eigenkapitalersatzes. Weiter kann zweifelhaft werden, ob die einzelnen Mitglieder über ihre Eigen- und Fremdkapitalanteile einseitig verfügen können, und wie derartige Veränderungen im Rechenwerk der Gesellschaft darzustellen sind. Das betrifft das Problem zutreffender Kontenführung. In beiden Richtungen bedarf es der klaren Abgrenzung von Eigen- zu Fremdkapital: - Eigenkapital setzt eine dauerhaft geplante Vermögensüberlassung voraus (Investitionsfunktion), die dem Unternehmen von den Gesellschaftern gewährt wird." Im Rahmen des Grundsatzes der realen Kapitalaufbringung wird diese Dauerhaftigkeit mit einem „endgültigen und vorbehaltlosen Vermögensopfer" beschrieben. O b eine solche dauerhafte Vermögensbindung vorliegt, entscheidet sich aus der Sicht des zur Einlage verpflichteten Gesellschafters, nicht aus derjenigen der Gesellschaft. Diese kann den Charakter des Eigenkapitals jederzeit durch

15 H F A (Hauptfachausschuß des Instituts der Wirtschaftsprüfer) 1/76, WPg 1976, S. 114; H F A 2/93, WPg 1994, S. 22. " Ebenso Karsten Schmidt, in: Festschrift für Reinhard Goerdeler (1987), S. 487, 491; abw. Lutter, DB 1993,2441, 2444.

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Liquidation oder Teilliquidation (= Kapitalherabsetzung) aufgeben, ist dabei allerdings intern an einen qualifizierten Mehrheitsbeschuß und extern an die Bekanntgabe und andere gläubigersichernde Maßnahmen gebunden; vgl. die §§ 172, 174 H G B , § 5 8 G m b H G , §§ 222 ff A k t G . Auch aus der Sicht des Gesellschafters ist der Vermögenstransfer bei einer auf unbestimmte Zeit angelegten Gesellschaft zwar notwendig unbefristet, aber nicht irreversibel ausgestaltet. Das zeigt sich besonders deutlich bei der nach § 723 Abs. 3 BGB unverzichtbaren Kündigungsmöglichkeit des Personengesellschafters. Soweit seine Einlage dinglich in das Gesamthandsvermögen übertragen wurde, ist sie gemäß § 733 Abs. 2 Satz 1 BGB wertmäßig zurückzuerstatten; soweit Gegenstände nur zur N u t z u n g überlassen wurden, sind sie nach den §§ 738 Abs. 1 Satz 2, 732 BGB zurückzuübereignen. Auch Kern(eigen)kapital kann dem Unternehmen mithin entzogen werden, wenn die Mitgliedstelle aufgelöst wird. Verkürzt bedeutet die Investitionsfunktion: Koppelung der Vermögenswidmung mit der Mitgliedschaft. - Eigenkapital setzt Verlustbeteiligung voraus (Haftungsfunktion). Eigenkapital wird aus der Sicht der Gläubiger dadurch charakterisiert, daß ihnen bei der Perioden- wie bei der Endabrechnung keine Konkurrenz erwächst (Prinzip der Nachrangigkeit). Wer Kernkapital zur Verfügung stellt, ist regelmäßig am Perioden- wie am Endverlust beteiligt. 17 Wie für das Investitions- gibt es auch für das Haftungsmerkmal Einschränkungen, die abermals bei den Personengesellschaften deutlich werden. Es steht nichts entgegen, und ist für die Kommanditgesellschaft nahezu unbestritten, daß die laufende Verlustbeteiligung eingeschränkt oder vertraglich ausgeschlossen wird. Es steht dem Eigenkapitalcharakter auch nicht entgegen, wenn im Gesellschaftsvertrag vereinbart wird, die ursprüngliche Einlage solle bei Liquidation oder Insolvenz wertmäßig unversehrt zurückerstattet werden. N u r : dieses Verlangen des Gesellschafters muß im Rang den Ansprüchen aller Drittgläubiger nachgehen; der Gesellschafter trägt also zwingend im Rahmen der § 733 Abs. 1 BGB und § 155 Abs. 2 H G B einen Anteil am Endverlust. Ebenso wie die Investitionswidmung wird freilich die Verlustgefahr mit dem Ausscheiden des Mitglieds aus der Gesellschaft endgültig aufgehoben. Verkürzt bedeutet die Haftungsfunktion: erzwungene Beteiligung am Ausfallrisiko. - Eigenkapital setzt Gewinnabhängigkeit der laufenden Vermögensausschüttungen voraus (Nutzungsfunktion). Bei fester Zinsvereinbarung handelt es sich um ein Darlehensverhältnis, also um Fremdkapi17

Allg. Ansicht; Baumbach/Hopt, §266 H G B , Rdn. 14; Grob, BB 1993, 1882 ff; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, § 16 IV 2, S. 592; Lutter, DB 1993, 2441, 2444.

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tal. Das Merkmal der Gewinnabhängigkeit hat vor allem aus der Sicht des Unternehmens Bedeutung; als feste Aufwendungen brauchen nur die Zinsen für das Fremdkapital berücksichtigt zu werden. In strenger Form ist die Gewinnabhängigkeit in § 57 AktG durchgeführt mit dem Verbot jedweder Verzinsung oder anderweitigen Vermögensausschüttung.18 Im Recht der Personengesellschaften entspricht die Gewinnabhängigkeit von Auszahlungen dem regelmäßigen Erscheinungsbild; eine nur von der Höhe des Kapitalanteils abhängige Entnahmemöglichkeit kann jedoch im Gesellschaftsvertrag vorgesehen werden und ist in der Praxis nicht unbekannt. 19 III. Das Verhältnis des einzelnen Gesellschafters zum Gesellschaftsvermögen 1. Das Gesellschaftsvermögen steht nun nicht nur zur Gesellschaftergesamtheit, sondern auch zu den einzelnen Gesellschaftern in Rechtsbeziehungen, und auch diese Rechtsverhältnisse müssen vom Gesellschaftsvertrag geordnet und im Rechenwerk dokumentiert werden. Vermittelt durch die Mitgliedschaft gehört das Reinvermögen wertmäßig den einzelnen Teilhabern - naturgemäß aber nur anteilig. Der Gesellschaftsvertrag muß deshalb festlegen, in welchem Umfang jedes Mitglied zu Einlagen in das Vermögen der Gesamtheit verpflichtet, zu Entnahmen berechtigt und an der Gewinn- oder Verlustumlage beteiligt sein soll, wobei es zweitrangig ist, ob die Teilhabe in absoluten oder relativen Ziffern oder in Bruchteilen dargestellt wird. Bei dieser Beteiligung am Gesellschaftsvermögen überlagern sich zwei Funktionen auf zwei verschiedenen Ebenen: - einmal das Rechtsverhältnis der Gesamthand zum Gesellschafter, in dem Einlagepflichten und Entnahmerechte geordnet und aufgezeichnet werden müssen, also der Transfer vom Gesellschaftsvermögen in das Privatvermögen und umgekehrt behandelt wird; - zum anderen das Rechtsverhältnis zwischen den Gesellschaftern, in dem der Verteilungsmaßstab festgelegt und aufgezeichnet wird, der für Gewinne oder Verluste und Kapitalerhöhungen oder Kapitalausschüttungen maßgebend sein soll.

" Frankreich Loi n° 66-537 Art. 348 Abs. 1: Il est interdit de stipuler un intérêt fixe ou intercalaire au profit des associés. Toute clause contraire est réputée non écrite. Großbritannien Partnership Act 1890, sec. 24 (II) (b) (4): A partner is not entitled, before the ascertainment of profits, to interest on the capital subscribed by him. " Vgl. B G H , W M 1975, S. 662, 663 (KG); B G H , W M 1979, S. 803, 804 (GmbH & Co. KG); B G H , W M 1985, S. 1343,1344 (GmbH & Co. KG).

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Auf der zuerst genannten Ebene spielt sich die Vermögenseinbringung aus Anlaß der Gründung, des Beitritts oder einer Kapitalerhöhung und die Vermögensausschüttung durch Entnahme, Gewinnauszahlung oder Kapitalherabsetzung ab. Der Gesellschaftsvertrag oder ein ihn abändernder oder ergänzender Gesellschafterbeschluß sagt den Beteiligten, wann und unter welchen Bedingungen diese Transaktionen vorgenommen werden dürfen. Sie sind alle auf einem Beteiligungskonto (Kapitalkonto) auszuweisen und in der Bilanz als Eigenkapitalposten (Kapitalanteil) einzustellen. In der zweiten Beteiligungsebene zwischen den Teilhabern muß der Gesellschaftsvertrag oder Gesellschafterbeschluß einen Verteilungsquotienten angeben, und sei es auch nur eine gleichmäßige Verteilung nach Köpfen, wie sie die §§ 722, 734 BGB vorschlagen. Die Personengesellschafter oder hilfsweise der Gesetzgeber müssen also eine zweifache Aufgabe bewältigen, nämlich intern die Doppelfunktion der absoluten und relativen Wertbeteiligung festzusetzen und extern etwaige schuldrechtliche Drittbeziehungen des Gesellschafter-Gläubigers mit seiner Gesellschaft auszuweisen und notfalls auch zu korrigieren. 2. Die Rechtsbeziehungen zwischen Gesamthand- und Privatvermögen werden in Konten der einzelnen Gesellschafter ausgewiesen. Es muß mindestens ein gesellschaftsrechtliches Konto (Kapitalkonto) eingerichtet werden, auf dem Einlagen, Entnahmen, Gewinne und Verluste verbucht werden können, und, wenn schuldrechtliche Drittbeziehungen bestehen, zusätzlich ein Forderungs-/Debitorenkonto (Privatkonto). Das Gesetz sieht in den §§ 120 ff HGB für den persönlich haftenden Gesellschafter nur ein einziges Kapitalkonto vor, das alle Veränderungen aufnimmt und in der Bilanz als Kapitalanteil erscheint. Demgegenüber ist das Kapitalkonto des Kommanditisten mit Erfüllung seiner Einlage nach oben blockiert; vgl. § 167 Abs. 2 HGB. Weitere Vorgänge im Mitgliedsverhältnis müssen also auf einem anderen Konto ausgewiesen werden. Das damit nahegelegte System gespaltener Kapitalkonten hat sich in der Praxis für alle Personengesellschafter durchgesetzt. a) Das System gespaltener Kapitalkonten und zusätzlicher Privatkonten zieht, wie jeder Differenzierung, eine Reihe von Inhalts- und Abgrenzungsprobleme nach sich. Der Kontenführung sollte nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung eine Dreiteilung zugrunde liegen, die sich idealtypisch wie folgt darstellt: - (Festes) Kapitalkonto I. Die Gesellschafter bilden in Höhe der ursprünglichen und späteren Einlagen und vermehrt durch etwaige Umbuchungen eine feste Kapitalziffer und stellen sie kontinuierlich als Kapitalanteil in die Bilanz ein. Dabei steht es den Gesellschaftern frei, ob sie die Einlage an den erbrachten Beiträgen orientieren oder auch

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offene Beitragsforderungen berücksichtigen, die dann allerdings auch auf der Aktivseite der Bilanz auszuweisen sind.20 Seinem Rechtscharakter nach ist das damit geschaffene Kapitalkonto I ein Beteiligungskonto, dessen Saldo in der Bilanz zum Eigenkapital und dort zum Geschäftskapital gehört. Seine Höhe bleibt auch dann unverändert, wenn die Einlage des Gesellschafters durch Verluste oder Entnahmen aufgebraucht und sein Kapitalkonto II negativ geworden ist. Mit dem Charakter als Beteiligungskonto ist es nicht vereinbar, die Kapitalziffer zu verzinsen; in der Praxis ist dies auch nicht üblich. Den Gesellschaftern steht mit dem Kapitalkonto I ein unveränderlicher Schlüssel der jeweiligen Beteiligungsquoten zur Verfügung, der zur Gewinn- und Verlustverteilung, zur Ausschüttung bei der Auseinandersetzung, zur Gewährung von Bezugs- oder Entnahmerechten und vor allem für das Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung eingesetzt werden kann. In dieser Funktion entspricht der feste Kapitalanteil weitgehend der Stammeinlage in der G m b H und dem Nennwert der Aktie. Allerdings wird für den Gesellschafter nur ein Kapitalanteil gebildet, während der Kapitalgesellschafter mehrere Mitgliedschaften nebeneinander besitzen kann; vgl. § 15 Abs. 2 GmbHG. 2 1 Jede Änderung des Kapitalkontos setzt eine Änderung des Gesellschaftsvertrages voraus. Es müssen also die dafür vom Statut vorgesehenen Bedingungen erfüllt werden, wobei u. U. eine jahrelange einverständliche Übung als stillschweigende Ergänzung oder Änderung des Vertrages angesehen werden kann.22 - (Variables) Kapitalkonto II. Die Gesellschafter bilden ein zweites Kapitalkonto, auf dem Gewinne und Verluste sowie Entnahmen und offene Einlagen verzeichnet werden. Das Konto wird jährlich abgeschlossen und getrennt vom Kapitalkonto I in die Bilanz eingestellt. Seinem Rechtscharakter nach handelt es sich ebenfalls um ein Beteiligungskonto 23 , der Saldo gehört mithin zum Eigenkapital, kann aber zwischen Geschäftskapital und Rücklagen aufgeteilt werden. Das Kapitalkonto II übernimmt mit anderen Worten residual die ihm vom Gesetz in den §§ 120-122 und 167 H G B zugedachten Funktionen. Da die Personengesellschaft auf ihr Eigenkapital besonders angewiesen ist, wird das EntVgl. HFA 2/1993, WPg 1994, S. 22, 24; U. Huber, ZGR 1988, S. 1,48. Vgl. BGHZ 24, S. 106, 108 (KG); BGH, WM 1989, S. 1221, 1223 (KG); abw. Esch, BB 1993, S. 664; Lüttge, NJW 1994, S. 5; Steinbeck, Betrieb 1995, S. 761. 22 Vgl. BGH, WM 1966, S. 159 (OHG) = LM Nr. 22 zu § 105 HGB; BGH, WM 1973, S. 844, 846 (KG) = Betrieb 1973, S. 1447, 1449; BGH, WM 1978, S. 300, 301 (KG); kritisch Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 383 ff; A. Hueck, Betrieb 1968, S. 1207, 1209. 23 Vgl. U. Huber, Vermögensanteil, S. 244; abw. früher GroßKomm-fisc^er (3. Aufl. 1973), § 120 HGB, Rdn. 27; A. Hueck, OHG (4. Aufl. 1971), § 16 V 3, S. 174. 20 21

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nahmerecht heute von den Verträgen weitgehend eingeschränkt oder ausgeschlossen. Dann sammeln sich, wenn die Beitragsforderungen erfüllt sind und keine Verluste eintreten, auf dem Kapitalkonto II im wesentlichen die nicht zur Ausschüttung vorgesehenen Gewinne an, weshalb das Konto durchaus zutreffend auch Rücklagenkonto oder altmodisch Reservefond genannt wird. Die Gesellschafter können Umbuchungen auf das Kapitalkonto I als Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln beschließen. Das zweite Kapitalkonto erfüllt die Aufgabe, die Veränderung der Rechtsbeziehungen zwischen Mitglied- und Gesellschaftsvermögen festzuhalten, also die jeweilige Teilhabe am Gesellschaftsvermögen zu erfassen. Da das Konto das mitgliedschaftliche Rechtsverhältnis dokumentiert, enthält es Einlage- und Gewinnzugänge sowie Entnahme- und Verlustabgänge ohne Rücksicht darauf, wie weit der Gesellschafter berechtigt sein soll, über den jeweiligen Kontostand einseitig oder mit Zustimmung der Geschäftsführung zu verfügen. Entsteht durch Verlustzuweisungen oder berechtigte Entnahmen ein Debetsaldo auf dem Kapitalkonto II, so kann die Gesellschaft ihrerseits keinen Ausgleich verlangen24; im Zweifel ist ein Soll-Saldo allerdings mit künftigen Gewinnen zu verrechnen und damit im Wege der Innenfinanzierung glatt zu stellen.25 Im Konkurs ist ein aus beiden Kapitalkonten entstehendes Guthaben nachrangig, wird also erst bedient, wenn alle Gläubiger befriedigt sind. Ebenso bemißt sich das Abfindungsguthaben eines ausscheidenden Mitglieds nach dem Saldo aus dem ersten und aus dem zweiten Beteiligungskonto. Für Änderungen in der Behandlung des Kapitalkontos II ist nicht die Geschäftsführung, sondern die Gesellschaftergesamtheit zuständig, und zwar im Zweifel unter den für Vertragsänderungen geltenden Voraussetzungen. Allerdings kann vereinbart werden, daß die Behandlung von Einlagen und Entnahmen sowie Gewinnen und Verlusten einer einfachen Mehrheit der Gesellschafterversammlung oder einem Beirat oder den Geschäftsführern in Absprache mit dem jeweils betroffenen Gesellschafter überlassen bleibt. - Privatkonto.1'' Die Gesellschafter bilden ein (drittes) Forderungs-/ Debitorenkonto, auf dem die nicht oder nicht mehr mitgliedschaftlichen Vorgänge verzeichnet werden. Diese teilen sich in zwei Gruppen: Dritt24

BGH, WM 1982, S. 1311,1312 (KG). So für den Kommanditisten MünchHdb-D. Falkenhausen (1991), § 19 KG, Rdn. 29; GroßKomm-Schilling, § 167 HGB, Rdn. 8; U. Huber, Vermögensanteil, S. 278; ders., ZGR 1988, S. 1, 59; Schlegelherger/Martens (5. Aufl. 1986), § 167 HGB, Rdn. 13. 26 Der Ausdruck Privatkonto stammt aus der Buchführung des Einzelkaufmanns, hat dort aber eine andere Bedeutung, weil innerhalb eines Rechtsträgers keine Forderungen und Schulden begründet werden können. 25

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geschäfte mit einem Vertragspartner, der gleichzeitig Gesellschafter ist (Dienstvertrag, Miete, Pacht oder Darlehen) und Abwicklungsgeschäfte im Gefolge der Mitgliedschaft, insbes. verfügbare Gewinnanteile, Vorschüsse für Auslagen oder Steuern und unberechtigte Entnahmen. Der Unterschied zwischen Beteiligungs- und Privatkonten ist also primär nicht ein solcher zwischen verschiedenen Rechtsfolgen; die einzelnen Posten wurzeln vielmehr in unterschiedlichen Rechtsverhältnissen. Für das Privatkonto ist freilich die Rechtsfolge „echter Forderungen" der einen oder anderen Seite charakteristisch. Das Konto - das als Kontokorrentverhältnis verabredet werden kann - stellt Fremdkapital dar; bei ihm und nur bei ihm kann sich die Frage nach einer erzwungenen Umqualifizierung in Ersatzkapital stellen.27 Mit dem Charakter als Forderungs-/Debitorenkonto ist es nicht vereinbar, wenn dort eine Verlustverrechnung vorgenommen wird. 28 Dagegen steht nichts entgegen, daß der Gesellschafter in seiner Entnahmebefugnis auch beim Privatkonto gesellschaftsvertraglichen Einschränkungen unterliegt, z. B. keine Verzinsung verlangen darf, bestimmte Kündigungsfristen oder Entnahmegrenzen 29 einhalten muß oder dem Treugebot des § 122 Abs. 1 H G B unterworfen wird. Die Beweislast dafür, daß Entnahmen von dem Privatkonto nicht oder nur beschränkt erlaubt sein sollen, liegt freilich bei der Gesellschaft. 30 Soweit der Gesellschaftsvertrag nichts Abweichendes vorsieht, liegt die Durchführung der nichtgesellschaftsrechtlichen Rechtsverhältnisse in Händen der Geschäftsführer. Auf dem laufenden Privatkonto werden üblicherweise auch viele Bereiche des persönlichen Zahlungsverkehrs zwischen Gesellschaft und Gesellschafter abgewickelt. Eigene Verbindlichkeiten der Gesellschafter, insbesondere private Steuerschulden dürfen auch auf diesem Konto nicht ausgewiesen werden, da sie nicht zur Vermögenssphäre der Gesellschaftergesamtheit gehören. 31 Die Darstellung beinhaltet, um es zu wiederholen, eine idealtypische Kontengliederung. Sie findet in den Bilanzierungsregeln des Gesetzes keinen Niederschlag, sollte aber im Interesse der Kontenklarheit und der Rechtssicherheit in die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung nach § 242 Abs. 1 H G B aufgenommen werden. Selbstverständlich steht nichts entgegen, innerhalb der Beteiligungs- und Debitorenkonten weitere Unterkonten zu bilden. In der Praxis sind vor allem Aufspaltungen

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Ebenso U. Huber, ZGR 1988, S. 1, 55. B G H LM Nr. 5 zu § 120 HGB. 2 ' B G H , WM 1977,1022,1025 (KG); BGH, WM 1978, S. 342,343 (KG). 30 Vgl. B G H LM Nr. 7 zu § 128 H G B /KG). 31 Ebenso Herrmann, WPg 1994, S. 500; abw. Adler/Düring/Schmaltz, legung (6. Aufl. 1995), § 246 HGB, Rdn. 209. 28

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des Kapitalkontos II verbreitet, indem ein echtes Rücklagenkonto als Vorstufe zum Kapitalkonto I, oder ein eigenes Verlustvortragskonto eingerichtet werden, so daß etwaige Verluste nicht automatisch mit stehengelassenen Gewinnen verrechnet werden. 32 Ohne weiteres ist es auch zulässig, einzelne Rücklagenkonten zu einer gemeinsamen Bilanzziffer zusammenzufassen, wobei eine Aufteilung zwischen Kapital- und Gewinnrücklagen entbehrlich ist.33 Entsprechend kann das Privatkonto jedes Gesellschafters in Unterkonten zu einzelnen Rechtsverhältnissen aufgegliedert werden. b) Rechtliche Zweifelsfragen können bereits durch irreführende Kontobezeichnungen auftauchen, wenn z. B. das Kapitalkonto II als „Privatkonto" oder als „Personalkonto" geführt wird, was in der Betriebswirtschaft vielfach üblich war. Daß das Etikett für den Charakter des Kontos ohne Belang ist, steht zwar außer Frage34; für die Geschäftsführung und für außenstehende Dritte sollten Mißverständnisse jedoch von vornherein vermieden werden. Problematisch wird es indessen, wenn die Buchführung mit den Vorgaben des Gesellschaftsvertrages nicht übereinstimmt, wenn der Vertrag keine eindeutigen Vorgaben enthält oder wenn er Mischkonten erlaubt, auf denen sowohl gesellschafts- wie schuldrechtlicher Vermögenstransfer verzeichnet werden soll. Stehen Buchungen im Widerspruch zum Gesellschaftsvertrag oder zu einem ihm gleichstehenden Gesellschafterbeschluß, so ändert die Dokumentation nichts an der Rechtslage - auch nicht etwa dadurch, daß die Geschäftsführer sie mit dem betroffenen Gesellschafter abgestimmt haben, da die Vermutung unbegrenzter Vertretungsmacht nach § 126 HGB für das Binnenverhältnis zu den Mitgliedern nicht Platz greift.35 Langjährige Buchungspraxis ist freilich nicht ohne jede rechtliche Bedeutung. Geschah sie mit Einverständnis oder Duldung der Gesellschafter, so kann sie einen Anhalt für die Vertragsauslegung geben, da Kontenführung und Bilanzaufstellung im Zweifel den Anforderungen des Statuts entsprechen. Ist dies zu verneinen, so kommt eine stillschweigende Vertragsänderung - generell oder ad hoc - in Betracht, deren Voraussetzungen dann freilich eingehalten werden müssen. Der Widerspruch eines Gesellschafters gegen die Buchführungspraxis kann schließlich treuwidrig sein, weil in der jährlichen Bilanzfeststellung ein selbständiges Schuldanerkenntnis liegt.36 Vgl. MünchHdW. Falkenhausen, § 19 KG, Rdn. 59. HFA 2/1993, WPg 1994, S. 22,24. 34 BGH, BB 1952, S. 478, 478 (OHG); GroßKomm-Fischer, § 120 HGB, Rdn. 26; Pauli, Eigenkapital der Personengesellschaften, S. 139. 35 Vgl. BGHZ 38, S. 26, 33 (OHG). 36 BGH, W M 1966, S. 448, 449 (KG) = BB 1966, S. 474. 32

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Ist der Gesellschaftsvertrag seinerseits nicht eindeutig, muß man auf Auslegungsregeln zurückgreifen. Im Zweifel sind Buchungen auf einund demselben Konto mit einheitlichen Rechtsfolgen verbunden.37 Die einzelnen Posten der Beteiligungskonten unterliegen deshalb einer etwaigen Verlustverrechnung oder einem Entnahmestopp, die einzelnen Posten des Debitorenkontos gelten als (unentziehbare) Forderung oder Schuld des Gesellschafters.38 Die Vermutung kann widerlegt werden, aber sie muß auch ggf. widerlegt werden. Bei echten Mischkonten ist eine Auslegungsregel allerdings nicht mehr angebracht, und die Rechtsfolgen müssen an jeweilige Einzelposten angeknüpft werden. IV. Vermögensaufbringung 1. Art und Umfang der Vermögensbildung ist den Personengesellschaftern grundsätzlich freigestellt. Es gibt keine Anforderungen an ein Mindestkapital, keine Regeln über die sachliche Zusammensetzung und keine Bewertungsmaßstäbe, soweit sie sich nicht aus dem Bilanz- oder Steuerrecht herleiten. Bei der Erfüllung der Beitragspflichten sind freilich die von Gesetz oder Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Formvorschriften zu beachten.39 Die Aufbringungsfreiheit betrifft vor allem den Umfang der Vermögensbildung. Die Gesellschafter haben auch in der KG freie Hand, wieweit sie sich einzeln oder gemeinschaftlich zur Bildung von Sondervermögen verpflichten wollen. Sie können sich auf gegenständlich oder wertmäßig unterschiedliche Beiträge festlegen, können ihre Einlagen durch Gewinnzuschreibungen verändern und das Eigenkapital durch Ausschüttungen wieder abschmelzen. In allen Stationen sind sie nur an ihren eigenen Vertrag gebunden. Gleiches gilt für die Art der Beiträge. Diese können bei Gründung oder späterer Kapitalerhöhung in Geld-, Sach- oder Dienstleistungen oder in immateriellen Wirtschaftsgütern40 bestehen; die Einschränkungen des § 27 Abs. 2 AktG gelten nicht. Auch hinsichtlich der Bewertung von Sach- und Dienstleistungen herrscht Liberalität.41 Abreden zur Uber- oder Unterbewertung sind zulässig, gelegentlich sogar unvermeidlich.

BGH, WM 1960, S. 187,189 (KG). Vgl. BGH, WM 1975, S. 662,663 (KG); BGH, WM 1978, S. 342, 343 (KG). " B G H BB 1955, S. 203 (PersG); O L G Hamm DNotZ 1983, S. 750, 751 (GbR). « RGZ 95, S. 147, 150 (GbR): Bezugsquelle; O L G Köln BB 1971, 1077 (KG): good will. 11 B G H Z 17, S. 130, 134 (OHG); BGH, WM 1958, S. 223, 224 (KG); BGH, WM 1959, S. 137 (OHG). 37

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2. Die Kapitalaufbringung kann wie bei allen Erwerbsgesellschaften durch gegenständliche Leistungen in das Gesellschaftsvermögen, also durch Zuordnungsänderungen erfolgen (Außenfinanzierung) oder durch wertmäßige Umschichtungen innerhalb des Gesellschaftsvermögens zugunsten des Eigenkapitals (Selbstfinanzierung). a) Bei der Außenfinanzierung geschieht die Uberführung in Gesamthandsvermögen zur Erfüllung von Beitragspflichten in den üblichen Formen des Zuordnungswechsels, also durch Übereignung, Abtretung oder beiden gleichstehende Verfügungsgeschäfte. Zur Erfüllung einer Beitragspflicht, also auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage, können auch Nutzungs-, Gebrauchs- oder Besitzrechte in das gemeinsame Vermögen eingebracht werden. Die Erfüllung der Beitragsschuld nach § 362 B G B setzt voraus, daß einerseits der Gesellschafter ein endgültiges Vermögensopfer erbringt, andererseits der Gesellschaft ein entsprechender Vermögensvorteil erwächst. 42 Der Gesellschafter tilgt seine Aufbringungsschuld nur dadurch, daß er das Geschäftskapital zuordnungsrechtlich endgültig und wertmäßig für die Dauer seiner Mitgliedschaft bereichert. Das alles gilt gleichermaßen für Gründungsbeiträge wie mitgliedschaftliche Nachschußpflichten. Die vertraglich geschuldete Leistung kann problemlos durch Dritte, grundsätzlich aber nicht an Dritte erbracht werden. Die Leistung durch einen Dritten ist nach § 267 B G B zulässig 43 ; sie muß nur eindeutig auf die Beitragsschuld erfolgen. Auch ein persönlich haftender Mitgesellschafter kann den Sozialanspruch aus seinem Privatvermögen tilgen. 44 Selbstverständlich darf die Leistung nicht - weder mittelbar noch unmittelbar - aus Mitteln der Gesellschaft selbst erfolgen. Die Leistung an einen Dritten, insbesondere an einen Gläubiger der Gesellschaft tilgt dagegen ihren Sozialanspruch grundsätzlich nicht. Der Gesellschaftsvertrag will im Zweifel eine aktive Vermehrung des Geschäftskapitals durch Bar- oder Sachleistung der Mitglieder herbeiführen, was durch den Wegfall oder die Reduzierung eines Passivpostens nicht erreicht wird. Die Zuwendung an Dritte kann freilich im Gesellschaftsvertrag gestattet, dagegen als Leistung an Erfüllungs statt nicht allein von der Geschäftsführung genehmigt werden. 45 Wird ein Gesellschafter unmittelbar und persönlich von einem Gesellschaftsgläubiger in Anspruch genommen, so befreit ihn seine Leistung zwar von der Gesellschafterhaftung

BGH, WM 1973, S. 778, 780, 781 (PublKG). BGH, WM 1983, S. 1381, 1382 (PublKG); MünchHdb-^. Falkenhausen, § 15 KG, Rdn. 10. 44 BGB, WM 1973, S. 788, 780 (PublKG); BGH, WM 1984, S. 893, 895 (PublKG). 45 BGH, WM 1983, S. 1381, 1382 (PublKG). 42

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im Außenverhältnis, im Zweifel jedoch nicht hinsichtlich der Einlageschuld gegenüber der Gesamthand.46 In allen genannten Punkten gelten mit anderen Worten die aus dem Kapitalgesellschaftsrecht bekannten Regeln der korrekten Vermögensaufbringung - hier im Interesse der auf eine vertragsmäßig durchgeführte Vermögensbildung vertrauenden Mitgesellschafter - allerdings mit dem beachtlichen Unterschied, daß es sich im Rahmen der Personengesellschaften um Auslegungsregeln handelt, von denen die Gesellschafter durch Vertrag oder Beschluß abweichen können. b) Die Personengesellschafter können ihr Eigenkapital auch im Wege der Selbstfinanzierung erhöhen. Das geschieht regelmäßig in zwei Stufen: erst durch Bilden von Rücklagen aus nicht ausgeschütteten Gewinnen, dann durch Umwandlung der Rücklagen in festes Geschäftskapital. Alle einschlägigen Entscheidungen gehören originär in die Hand der Gesellschafter und nicht der Geschäftsführer. Die Gesellschaftergesamtheit kann die Zuständigkeit dafür aber an eine Mehrheit unter ihnen, an einen Ausschuß oder Beirat oder an die Geschäftsführung abgeben. Das wird für die zweite Stufe der Änderung eines für die Quotenbeteiligung maßgebenden Kapitalkontos I selten zutreffen, weil darin eine Strukturänderung liegt, die im Zweifel einen qualifizierten Mehrheitsbeschluß voraussetzt. Dagegen werden die Feststellung des Jahresabschlusses und - wenn dies im Gesellschaftsvertrag getrennt vorgesehen ist - der Beschluß zur Gewinnverwendung vielfach im Vertrag delegiert, so daß dann andere Organe für die Rücklagenbildung zuständig sind. In einer vielzitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs 47 enthielt der Gesellschaftsvertrag eine Sonderregelung für die Gewinnverwendung, wonach ein mit einfacher Mehrheit gefaßter Gesellschafterbeschluß für die Rücklagenbildung nicht ausreichend war. Trotzdem hielt der Senat diese Mehrheit für entscheidungsbefugt, wenn die Rücklagenbildung notwendig war, um das Unternehmen für die Zukunft lebensund widerstandsfähig zu erhalten; eine solche Rücklagenbildung liege im Rahmen gesunder kaufmännischer Übung und entspreche den Forderungen des Wirtschaftslebens. Diese Begründung vermag nicht recht zu überzeugen, weil hier formelle Zuständigkeit und inhaltliche Angemessenheit eines Gesellschafterbeschlusses vermengt werden. Wenn eine Änderung des Gesellschaftsvertrages notwendig war, konnte die Zuständigkeit der einfachen Mehrheit nicht - auch nicht einmalig - durch die wirtschaftliche Notwendigkeit eines solchen Beschlusses herbeige-

46 B G H , WM 1984, S. 893, 895 (PublKG); MünchHdb-t;. Falkenhausen, Rdn. 13; Schlegelberger/Karsten Schmidt, §§ 171, 172 H G B , Rdn. 50. 47 B G H , WM 1976, S. 661 (KG) = BB 1976, S. 948 (Ulmer).

§ 15 KG,

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führt werden. Die kaufmännische Sinnhaftigkeit von Beschlüssen oder Maßnahmen kann kompetenzbeschränkend, aber nicht zuständigkeitsbegründend sein. Allenfalls hätte man an den Gesellschaftsvertrag einen stillschweigenden Vorbehalt der Delegation an die einfache Mehrheit der Gesellschafter herantragen oder die Voraussetzungen für eine Zustimmung der übrigen Gesellschafter qua Treupflicht prüfen können. 3. Wie schon hervorgehoben, sind die Gesellschafter untereinander verpflichtet, ihre Einlagepflichten korrekt zu erfüllen. Das ist für Geldleistungen unproblematisch. Bei Sacheinlagen gilt es zu bedenken, daß das Beitragsversprechen einen unterschiedlichen Inhalt haben kann: - Es kann verabredet werden, daß ein Gesellschafter einen Vermögensgegenstand einbringen soll, dessen künftiger Buchwert vertraglich festgesetzt und zum Ausgangspunkt des Kapitalanteils gemacht wird. Entspricht die eingebrachte Sache oder das übernommene Geschäft nicht dem veranschlagten Qualitätsstandard, so gelten die Regeln der Gewährleistung entsprechend und der Gesellschafter schuldet Nachbesserung oder Minderung.48 Allerdings sind Anpassungen an das Gesellschaftsrecht notwendig, weil die im Vertragsrecht geltenden Auflösungsrechte wie Rücktritt oder Kündigung nicht in Betracht kommen.49 - Wie in einer Kapitalgesellschaft kann aber auch vereinbart sein, daß jeder Gesellschafter einen wertmäßig festgesetzten Beitrag zum Eigenkapital leistet. Deckt eine Sache oder ein eingebrachter Geschäftsbetrieb diese „Wertparzelle" objektiv nicht, so gilt für den betroffenen Gesellschafter analog § 9 Abs. 1 GmbHG eine Differenzhaftung, d. h., der Fehlbetrag ist in Geld zuzuschießen.50 Dabei gibt es keinen Bewertungsoder Beurteilungsspielraum.51 Maßgebender Zeitpunkt ist im Zweifel die Erfüllung der Sach- oder Dienstleistung; Wertminderungen gehen mithin zu Lasten des Schuldners. Eine weitere Folge der selbst aufgestellten Kapitalaufbringungsregeln liegt darin, daß sie bei einer späteren Kapitalerhöhung fortzuschreiben sind: jeder Gesellschafter hat ein unentziehbares Mitgliedsrecht darauf, an dem vergrößerten Eigenkapital entsprechend seiner bisherigen Quote beteiligt zu werden (Bezugsrecht)52, um den verwaltungs- und vermö-

48 Die Verweisung auf das Gewährleistungsrecht des Kaufvertrages ist gesetzlich vorgeschrieben in Frankreich Code civile Art. 1843-3 Abs. 3 und 4; Italien Codice civile Art. 22, 54-6; Schweiz OR Art. 531 Abs. 3. 49 Vgl. Wiedemann, WM 1992, Beilage Nr. 7, S. 1, 16. 50 Abw. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 20 III 4, S. 479. s ' O L G Düsseldorf, WM 1991, S. 1669, 1671 (GmbH); Lutter/Hommelhoff (14. Aufl. 1995), § 9 GmbHG, Rdn. 3. 52 Vgl. Goette, DStR 1995, S. 615, 616.

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gensmäßigen Besitzstand aufrechtzuerhalten. Die Aufbringungsfreiheit steht mit anderen Worten nur zur Disposition sämtlicher Gesellschafter, sie verlangt wie im Gründungsstadium einen allgemeinen Konsens. O b es für die Personengesellschaften über die selbstgeschaffene Vermögensordnung hinaus objektive Regeln gibt, die das Finanzverhalten der Gesellschafter steuern sollen, ist bislang nur punktuell für Publikumsgesellschaften erörtert worden. In einer Reihe zunächst nicht grundsätzlich angelegter Urteile hat der Bundesgerichtshof 53 Darlehenseinlagen in sog. Abschreibungsgesellschaften in Gesellschafterbeiträge umgemünzt und damit auch in der Personengesellschaft das Rechtsinstitut zwingenden Haftkapitals eingeführt: die Gesellschafter sind zwar nicht verpflichtet, eine angemessene Eigenkapitalausstattung zu treffen; soweit sie der Gesellschaft aber tatsächlich Kapital zur Verfügung halten, kann dies unter bestimmten Voraussetzungen in der Liquidation und im Konkurs als Eigenkapital behandelt werden. Offene Darlehen müssen mithin wie Beiträge noch geleistet werden; zurückgezahlte Darlehen sind zu erstatten. Eine Wende zum Grundsätzlichen nahm die Rechtsprechung erst in B G H Z 104, S. 33, für den Fall einer geschlossenen G m b H & Co. K G vor. Dort war die Finanzplanung der Gesellschaft, von Anfang an auf einer Kombination von (gesellschaftsrechtlichen) Einlagen und (schuldrechtlichen) Darlehen aufgebaut. Nach dem Gesellschaftsvertrag waren die Kommanditisten verpflichtet, auf Darlehens-Festkonten ständig ein Guthaben von 80 % ihrer Kapitaleinlage zu unterhalten, das nur mit Zustimmung aller Gesellschafter verändert werden durfte. Der Senat entschied, daß lediglich formal als Fremdkapital ausgewiesene Gesellschaftermittel, die der Gesellschaft materiell als Eigenkapital zur Verfügung gestellt wurden, im Konkurs als Haftkapital zu qualifizieren sind. Die innere Rechtfertigung für die Gleichstellung liege in der Zurverfügungstellung von Leihkapital, das in seiner Behandlung durch die Gesellschafter selbst Eigenkapitalfunktion wahrnehme. In der Rechtslehre wurde dieses Urteil mit gewisser Zurückhaltung aufgenommen 54 und nur vereinzelt zu einem System des Kapitalersatzrechts weiterentwickelt. 55 Das soll hier auf der Schwelle zum Kapitalgesellschaftsrecht nicht weiter verfolgt werden.

" Vgl. B G H Z 70, S. 61, 63; 93, S. 159, 161; BGH, WM 1978, S. 898; BGH, WM 1982, S. 742, 743. 54 Vgl. Joost, ZGR 1987, S. 370, 393 ff; Harm-Peter Westermann, in: Festschrift für Hans-Joachim Fleck (1988), S. 423, 427; MünchHdb-f. Falkenbausen, § 14 KG, Rdn. 18 ff. 55 Vgl. Karsten Schmidt, GmbH-Rdsch 1986, S. 337; ders., in: Festschrift für Reinhard Goerdeler (1987), S. 487, 497; GroOKomm-Wiedemann, vor § 182 AktG, Rdn. 11 ff.

VI. Kartellrecht

Zurechnung in der Fusionskontrolle HELMUT BRANDES

Der Kartellsenat des Bundsgerichtshofes hat - unter dem Vorsitz von Walter Odersky - durch Beschluß vom 19. Januar 1993 die Untersagung eines Unternehmenszusammenschlusses bestätigt 1 und sich dabei mit Fragen des Gleichordnungskonzerns und der Zurechnung im Kartellrecht befassen müssen, denen im einzelnen nachgegangen werden soll. Die Obergesellschaft des WAZ-Konzerns, dessen Umsatz mit Tageszeitungen auf 700 Mio. DM geschätzt wurde, trat ihre Anteile am Kommanditkapital des Zeitungsverlages IKZ sowie am Stammkapital von deren Komplementär-GmbH in Höhe von jeweils 24,8 % an die GfB mbH & Co. KG ab. Diese und die übrigen Gesellschafter der IKZ änderten daraufhin KG-Vertrag und Satzung der KomplementärGmbH dahingehend ab, daß die Gesellschafter-Beschlüsse zu wesentlichen, die Grundlagen des Gesellschaftsverhältnisses und der Geschäftspolitik betreffenden Punkten einer Mehrheit von 76 % der auf das Gesellschaftskapital entfallenden Stimmen bedurften. Ebenso wie an den Gesellschaften des WAZ-Konzerns sind streng paritätisch dieselben beiden Familienstämme auch am Kapital der GfB und ihrer Komplementär-GmbH beteiligt. Der Unterschied besteht nur darin, daß die Familienmitglieder der GfB nicht mit denen identisch sind, die den Gesellschaftern der WAZ-Gruppe angehören. 1. Verbundene Unternehmen a)

Unterordnungskonzern

Es ging zunächst um die Frage, ob WAZ und GfB Konzernunternehmen i. S. von § 18 AktG waren, so daß sie gem. § 23 Abs. 1 Satz 2 GWB für die Berechnung der Umsatzerlöse in Höhe von mehr als 500 Mio. DM als einheitliches Unternehmen galten und ihr Zusammenschluß deshalb nach § 23 Abs. 1 Satz 1 GWB anzeigepflichtig war. Nach Ansicht des Kammergerichts 2 unterlagen die GfB und die Gesellschaften der WAZ-Gruppe dem gemeinsam beherrschenden Einfluß ( § 1 7 Abs. 3 1 BGHZ 121, 137; vgl. dazu: Emmerich, LM GWB §23 Nr. 19; Oehler, EWiR §23 GWB 2/93, 695; Seifert, DZWiR 1994, 196; Landsittel, BB 1994, 799; Paschke/Reuter, ZHR 158 (1994) 390. 2 AG 1992, 159,160 f.

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A k t G ) der zwei paritätisch beteiligten Familienstämme und bildeten deshalb einen Unterordnungskonzern, folglich zugleich ein einheitliches Unternehmen i. S. von § 23 Abs. 1 Satz 2 G W B . Auf die WAZ-Gruppe trifft diese Beurteilung ohne weiteres zu. Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne ist jeder Gesellschafter, der neben seiner Beteiligung an der Gesellschaft anderweitige wirtschaftliche Interessenbindungen hat, die nach Art und Intensität ernsthaft besorgen lassen, er könne wegen dieser Bindungen seinen aus der Mitgliedschaft folgenden Einfluß zum Nachteil der Gesellschaft ausüben. 3 Unternehmen in diesem Sinne kann auch eine natürliche Person sein. Hierfür ist nicht erforderlich, daß sie ein eigenes einzelkaufmännisches Unternehmen betreibt; es reicht aus, daß sich ihre anderweitige unternehmerische Betätigung in der Einflußnahme auf andere Gesellschaften erschöpft, an denen sie maßgeblich beteiligt ist. 4 Die nachteilige Einflußnahme aufgrund der anderweitigen Interessenbindung muß ernsthaft möglich sein, nicht auch tatsächlich ausgeübt werden. An anderen Gesellschaften maßgeblich beteiligt ist ein Gesellschafter regelmäßig, wenn er dort über die Mehrheit der Stimmrechte verfügt und auf diese Weise in der Gesellschafterversammlung seinen Willen durchsetzen kann. Maßgeblich beteiligt ist ein Gesellschafter aber auch dann, wenn er eine Gesellschaft zusammen mit anderen beherrscht. Nach allgemeiner Auffassung kann eine Gesellschaft auch von zwei oder mehreren gleichgeordneten Unternehmen abhängig sein. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof den Abhängigkeitsbegriff des § 17 A k t G auf die Mehrmütterherrschaft erstreckt 5 und das G W B in § 23 Abs. 1 Satz 2 für die Zusammenschlußkontrolle anerkannt, daß eine Abhängigkeit auch dann anzunehmen ist, wenn mehrere Unternehmen aufgrund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise derart zusammenwirken, daß sie gemeinsam einen beherrschenden Einfluß auf ein beteiligtes Unternehmen ausüben können; in diesem Falle gilt jedes von ihnen als herrschendes Unternehmen. Hiernach wird der Tatbestand der Beherrschungsmöglichkeit nicht schon allein dadurch erfüllt, daß im Falle einer paritätischen Beteiligung (50 : 50) und Stimmengleichheit die Gesellschafter bei der Willensbildung aufeinander angewiesen sind. Erforderlich ist vielmehr, daß die Gesellschafter ihre Einflußmöglichkeiten nicht nur einmalig oder vorübergehend koordinieren, sondern eine ausreichend sichere Grundlage für die Ausübung gemeinsamer Herrschaft geschaffen haben. 6 Eine derartige gemeinsame Grundlage kann sich aus einem BGHZ 69, 334, 336 ff; 74, 359, 365; 80, 69, 72; 95, 330, 337. BGHZ 122,123,128; BGH Urteil v. 13.12.1993 - II ZR 89/93, WM 1994, 203, 204. 5 BGHZ 62, 193,196 f. 6 Vgl. Koppensteiner im KK z. AktG, 2. Aufl., §17 Rdn. 74; Hachenburg/Ulmer, GmbHG, 8. Aufl., Anh. § 77 Rdn. 29; Häffer, AktG, 2. Aufl., § 17 Rdn. 15. 3 4

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Vertrag über die gemeinsame Stimmabgabe oder die sonstige Ausübung von Herrschaft, aus der weitgehenden Gesellschafteridentität in den Obergesellschaften 7 oder daraus ergeben, daß die Gesellschafter ohne organisatorisches oder vertragliches Band beständig zu einer gemeinsamen Willensbetätigung zusammengefunden haben. Daß die zuletzt genannte Voraussetzung auf die Gesellschafter zutrifft, die bei den Gesellschaften der WAZ-Gruppe die beiden jeweils zu 50 % beteiligten Familienstämme repräsentieren, ergab bereits der Beschluß des Kartellsenats des Bundesgerichtshofes vom 8. Mai 1979.8 Alle diese Voraussetzungen träfen auch auf die GfB zu, wenn deren Gesellschafter und die der W A Z identisch wären. Das sind sie jedoch nicht. An der GfB war für den einen Familienstamm die Ehefrau, waren für den anderen Stamm die Abkömmlinge der Gesellschafter beteiligt, die in den Gesellschaften der WAZ-Gruppe die beiden Familienstämme repräsentierten. Anders als das Kammergericht angenommen hat, lassen sich die Gesellschafter nicht mit den Familienstämmen gleichsetzen, denen sie angehören; es gibt keine Abhängigkeit i. S. von § 17 AktG von Familienstämmen. Beherrscht wird W A Z nicht von Stämmen, sondern von deren Mitgliedern. Beherrscht würde von diesen Mitgliedern auch die BfG, wenn ihnen die von ihren Familienangehörigen in dieser Gesellschaft gehaltenen Gesellschaftsanteile zuzurechnen wären. Dies hätte gem. § 16 Abs. 4 AktG zu geschehen, wenn die Gesellschafter der GfB ihre Anteile treuhänderisch für die Gesellschafter der W A Z gehalten hätten. 9 Dafür bestanden aber keine Anhaltspunkte. Die Familienverbundenheit allein läßt eine Zurechnung nicht zu. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz, daß Familienangehörige stets gleich gerichtete Interessen verfolgen 10 , vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen, die den Schluß rechtfertigen, daß die Familienangehörigen ihre Rechte aus dem jeweiligen Anteilsbesitz stets einheitlich ausüben. Eine derart sichere Grundlage gemeinsamer Herrschaft bilden nicht nur vertragliche oder organisatorische Bindungen sonstiger Art." Von ihr ist auch auszugehen, falls die Familie in der Vergangenheit stets als geschlossene Einheit aufgetreten ist, insbesondere stets mit gleicher Stimme gesprochen hat.12 ' BGHZ 62, 193, 199 ff; vgl. hierzu: Geßler, ZGR 1974, 476; Emmerich/Gansweid, JuS 1975, 294; zur Vorentscheidung Lutter, NJW 1973, 113. " BGHZ 74, 359, 365; vgl. hierzu: Karsten Schmidt, ZGR 1980, 277; Lutter, ZHR 151 (1987), 444, 450. ' Vgl. BGHZ 107, 7, 15; 122,123,126; BGH, Urteil v. 16. 12. 1991 - II ZR 294/90, ZIP 1992, 242, 244. 10 Vgl. BGHZ 77, 94, 105, 106. 11 Vgl. BGHZ 62, 193, 199; 74, 359, 367. 12 Vgl. BGHZ 80, 69, 73; BGH, Urteil v. 16. 12. 1991 - II ZR 294/90, ZIP 1992, 242.

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Diese Voraussetzungen lagen - anders als Paschke/Reuter in ihrer Kritik annehmen 13 - im Ausgangsfall ebenfalls nicht vor. Von einer gemeinsamen Unternehmenspolitik aus der Vergangenheit war nichts bekannt. Zwar hatte die GfB früher schon einmal Gesellschaftsanteile erworben, deren Erwerb das Bundeskartellamt WAZ untersagt hatte; auch entsprachen die Gründung der GfB und der Erwerb dieser Anteile einer gemeinsamen einheitlichen Wettbewerbsstrategie der Gesellschafter von WAZ und GfB. Es war aber nicht bekannt, ob die GfB von ihrem Anteilsbesitz in der Vergangenheit jemals im Interesse der WAZ Gebrauch gemacht hatte. Die Möglichkeit dazu war ihr erst durch die Sperrminorität innerhalb der IKZ und damit für die Zukunft verschafft. Unter gesellschaftsrechtlichen Gesichtspunkten war mithin für die Annahme kein Platz, die GfB sei von den Gesellschaftern der WAZ abhängig. Denn ein beherrschender Einfluß i. S. von § 17 AktG muß gesellschaftsrechtlich bedingt oder vermittelt sein; nichtgesellschaftsrechtliche Einflüsse können allenfalls in Verbindung mit der Ausübung von Beteiligungsrechten, nicht jedoch losgelöst von diesen, also allein einen beherrschenden Einfluß im Sinne von § 17 AktG begründen. 14 Für die Fusionskontrolle soll allerdings ein Abhängigkeitsbegriff gelten, der weiter ist als der des § 17 AktG. 15 Ausgehend von dem Grundsatz, daß alle, auch rein tatsächliche Umstände eine Abhängigkeit begründen können, soll nicht nur auf gesellschaftsrechtlich geprägte Beziehungen, vielmehr im Rahmen einer Gesamtwertung auf alle Instrumente abzustellen sein, die Herrschaft begründen können. 16 Dieser Ansicht ist einzuräumen, daß der Abhängigkeitsbegriff im Rahmen der Fusionskontrolle einen anderen Zweck hat als im Aktienrecht. Die aktienrechtliche Regelung schützt die (außenstehenden) Gesellschafter und Gläubiger der abhängigen Gesellschaften vor einer Schädigung zugunsten des herrschenden Unternehmens. Demgegenüber soll die Einbeziehung abhängiger und herrschender Unternehmen in die Zusammenschlußkontrolle sicherstellen, daß Unternehmensgruppen, die durch einseitig bestehende Einflußmöglichkeiten trotz rechtlicher Selbständigkeit eine wettbewerbliche Einheit bilden, auch als Einheit 15

AaO, S. 398. " Vgl. B G H Z 90, 381, 395; Ulmer, Z G R 1978, 457 ff; ders., in: Staub, H G B , 4. Aufl., Anh. § 105 Rdn. 25; ders., in: Hachenburg, G m b H G , 8. Aufl., Anh. § 77 Rdn. 28; Scholz/Emmerich, G m b H G , 8. Aufl., Anhang Konzernrecht, Rdn. 45; Karsten Schmidt, Z G R 1980, 277, 284; Koppensteiner, Festschr. für Stimpel, S. 811 ff; ders. im KK z. AktG, 2. Aufl., § 17 Rdn. 50; Schlegelberger/Martens, H G B , 5. Aufl., Anh. § 105 Rdn. 9. 15 Koppensteiner im KK z. AktG, 2. Aufl., Vorb. § 15 Rdn. 31; Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 23 Rdn. 40. 16 Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 23 Rdn. 44 f; Kleinmann/Bechtold, Kommentar zur Fusionskontrolle, 2. Aufl., § 23 Rdn. 181, 354.

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behandelt werden. 17 Abhängig kann ein Unternehmen auch allein dadurch sein, daß der Spielraum seiner wettbewerblichen Aktivitäten nicht von ihm, sondern von einem anderen Unternehmen - beispielsweise aufgrund von Austausch- oder Kreditverträgen - bestimmt wird. Eine solche nicht gesellschaftsrechtlich geprägte Unternehmensverbindung fällt jedoch nicht unter die Verbundklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 GWB. Dort knüpft das Gesetz ausschließlich an eine Abhängigkeit i. S. von § 1 7 AktG und an eine einheitliche Leitung i. S. von § 18 AktG an, schafft also keinen zusätzlichen, ausschließlich an der Erhaltung des Wettbewerbs ausgerichteten Begriff der Abhängigkeit. Hieran hat sich auch nichts geändert, als durch die 5. GWB-Novelle die Fusionskontrollbestimmungen verschärft wurden. In der Regierungsbegründung zu diesem Gesetzentwurf wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß entsprechend dem Grundsatz der Rechtsprechung 18 zur Beherrschung nach § 1 7 AktG Unternehmensverbindungen gesellschaftsrechtlich vermittelt sein müßten.19 Gleichwohl hat der Gesetzgeber am Wortlaut der Verbundklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 GWB festgehalten. Es bleibt deshalb dabei, daß die wettbewerbliche Unternehmenseinheit des § 23 Abs. 1 Satz 2 GWB gesellschaftsrechtlich bestimmt sein muß.20 Damit ist nicht gesagt, daß gesellschaftsfremde Einflußmöglichkeiten gänzlich unberücksichtigt zu bleiben hätten. Sie sind in die Gesamtbeurteilung einzubeziehen, wenn sie den gesellschaftsinternen Einfluß verstärken. Insbesondere können sie das Mittel sein, mit dem mehrere Gesellschafter, die einzeln nicht über die Stimmenmehrheit verfügen, auf Dauer einen gemeinsam beherrschenden Einfluß im Sinne der Mehrmütterklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 GWB sicherstellen.21 Im Ausgangsfall kam es auf diese Frage nicht an, weil die GfB nicht abhängig war. Denn Herrschaft setzt voraus, daß das abhängige Unternehmen sich dem Einfluß nicht entziehen kann, den ein anderes auf seine Geschäfts- und Personalpolitik auszuüben vermag.22 Diese Voraussetzung traf auf die GfB nicht zu. Da es an einer durch Anteilsbesitz vermittelten Herrschaft der Gesellschafter der WAZ über die GfB und damit an einem Unterordnungskonzern fehlte, so stellte sich die Frage, ob WAZ und GfB etwa einen Gleichordnungskonzern bildeten.

BGHZ 74, 359, 364. BGHZ 90, 381 ff. " BTDrucks 11/4610, S. 20. 20 So auch Köhler, NJW 1978, 2473; Säcker, NJW 1980, 801, 803; Karsten ZGR 1980, 277, 285 f. 21 BGHZ 99, 1, 4; 99, 126, 130. 22 Koppensteiner im KK z. AktG, 2. Aufl., § 17, Rdn. 18. 17 18

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b)

Gleichordnungskonzern

Das Gesetz sagt über den Gleichordnungskonzern nicht mehr, als daß in ihm rechtlich selbständige Unternehmen, ohne voneinander abhängig zu sein, unter einheitlicher Leitung zusammengefaßt sind (§18 Abs. 2 AktG) und der hierzu dienende Vertrag kein Beherrschungsvertrag ist (§ 291 Abs. 2 AktG). Umstritten ist, was unter einheitlicher Leitung zu verstehen ist. Im Gesetzgebungsverfahren sah man sich nicht in der Lage, die an sie zu stellenden Anforderungen gesetzlich festzulegen. 23 Weitgehend wird für erforderlich, aber auch für ausreichend gehalten, daß die Geschäftspolitik und sonstige grundsätzliche Fragen der Geschäftsführung in mindestens einem Entscheidungsbereich der Unternehmenspolitik aufeinander abgestimmt werden.24 Auch hinsichtlich der Leitungsdichte verlangt die Gesetzesbegründung kein Weisungsrecht, sondern läßt institutionalisierte Abstimmungsverfahren und personelle Verflechtungen ausreichen, sofern nur die einheitliche Leitung gewährleistet ist.25 Wieweit die Leitungsdichte gehen kann, ist angesichts der Tatsache, daß der Gleichordnungsvertrag kein Beherrschungsvertrag ist, im Schrifttum umstritten. Ihre Grenze soll sie dort finden, wo die Unabhängigkeit der Unternehmen sowohl im Verhältnis untereinander als auch im Verhältnis zum Leitungsorgan enden würde. 26 Teils werden Weisungen abgelehnt, nur Empfehlungen zugelassen27; teils sollen wenigstens nachteilige Weisungen ausgeschlossen sein.28 Auch soll die nachteilige Weisung zwar verbindlich 29 , die Unabhängigkeit aber gleichwohl nicht angetastet sein, weil der Beherrschte in Wahrheit der Herrschende sei.30 Zunehmend setzt sich aber die Erkenntnis durch, daß die These, wonach nicht das einzelne Konzernunternehmen von der Konzernleitung, sondern umgekehrt diese von jenem abhängig sei, im Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes steht, wonach sich die Unternehmen im Gleichordnungskonzern unter einheitliche Leitung stellen.31 Die

23 24 25 26

Begr.Reg.Entw. in Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 33. Vgl. Geßler, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, § 18 Rdn. 34. Kropff, wie Fn. 23. Gromann, Die Gleichordnungskonzerne im Konzern- und Wettbewerbsrecht, 1979,

S.3. 27

Rasch, Deutsches Konzernrecht, 5. Aufl., 1974, S. 109. Gromann, aaO, S. 58 ff. 29 Koppensteiner im KK z. AktG, 2. Aufl., § 291 Rdn. 77. 30 Koppensteiner, aaO, § 291 Rdn. 73, 78. 31 Vgl. Timm, Die Aktiengesellschaft als Konzernspitze, 1980, S. 149 ff; Karsten Schmidt, ZHR 155 (1991), S.417, 426 ff; ders., in: Festschr. f. Rittner, S. 561, 576; ders., ZIP 1994, 1741, 1743 f; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl., Anh. § 1 3 Rdn. 62; Drygala, Der Gläubigerschutz bei der typischen Betriebsaufspaltung, S. 116 f. 28

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Interessenlage im Gesamtkonzern muß nicht der des Konzernmitglieds entsprechen. Sind im Leitungsorgan Mehrheitsentscheidungen zulässig, dürfte das überstimmte Unternehmen abhängig sein; dasselbe dürfte gelten, wenn zwar einstimmig zu beschließen ist, persönlicher Druck, wirtschaftliches Ubergewicht und Durchsetzungsvermögen eines der Partner aber zu einer Unterordnung der anderen führt. 32 Gleichordnung im Konzern schließt deshalb die Abhängigkeit der gleichgeordneten Gesellschaften nicht aus; diese dürfen nur nicht voneinander, können aber aufgrund des Gleichordnungsvertrages vom Leitungsorgan abhängig sein.53 Neuerdings wird auch gefordert, daß sie abhängig zu sein hätten. Nach der Meinung von Paschke/Reuter** „bedarf der Gleichordnungskonzern in tatbestandlicher Hinsicht einer Präzisierung dahin, daß nicht die einheitliche Leitung allein genügt, sondern zusätzlich die Konzerninnenbeziehungen ein organisationsrechtliches Gepräge dergestalt aufweisen müssen, daß die Unternehmen sich der gemeinsamen einheitlichen Leitung nicht entziehen können." Der Gleichordnungskonzern könne nicht nur zur Abhängigkeit von der Konzernleitung führen, er müsse es sogar. Erst dann werde das Kompetenzgefüge der Konzernschwestern in einer Weise gestört, die das Eingreifen konzernrechtlicher Rechtsfolgen zu rechtfertigen vermöge. Eine allein auf Konsultationen beruhende einheitliche Leitung begründe keinen Gleichordnungskonzern. Hiernach läge ein Gleichordnungskonzern erst vor, wo er nach der früher einhellig vertretenen Ansicht enden würde. Die These, die Mitglieder eines Gleichordnungskonzerns müßten zwar nicht von einem Unternehmen, zwingend aber von einem institutionalisierten Leitungsorgan abhängig sein, widerspricht der Grundthese des Gesetzgebers, wonach es im Gleichordnungskonzern keine Herrschaft gibt, weil die Unternehmen selbst, wenn auch gemeinsam, den Willen des Leitungsorgans bestimmen. Wenn das Gesetz von verbundenen Unternehmen (§ 90 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1, § 131 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 N r . 1, § 145 Abs. 4 Satz 2 AktG) oder Konzernunternehmen (§ 134 Abs. 1 Satz 4, § 145 Abs. 3 AktG) spricht, sind deshalb die Unternehmen des Gleichordnungskonzerns auch dann angesprochen, wenn sie von der Konzernleitung unabhängig sind.35 Hat die Konzernleitung einen beherrschenden Einfluß, dem sich die Unternehmen nicht entziehen können, wird im Einzelfall zu prüfen sein, wieweit die für abhängige Unternehmen geltenden Vorschriften, beispielsweise die §§311 ff, § 16 Abs. 4, § 56 Abs. 2, § 71d Satz 2 AktG etc., entsprechend für den J2 33 34 35

Vgl. Wellkamp, DB 1993, 2517 f. Karsten Schmidt, ZIP 1994, 1741, 1744. AaO, S. 395 f. Vgl. Koppensteiner, aaO, § 18 Rdn. 10.

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Gleichordnungskonzern heranzuziehen sind. Als unabdingbare Eigenschaft des Konzerns scheidet die Abhängigkeit jedenfalls aus. Als einziges Kennzeichen des Gleichordnungskonzerns bleibt die einheitliche Leitung. Das gilt auch für den faktischen Gleichordnungskonzern, bei dem mangels Vertrages und einer auf Anteilsbesitz beruhenden Abhängigkeit eine solche vom Leitungsorgan von vornherein ausscheidet. Während im Vertragskonzern regelmäßig im Gleichordnungsvertrage festgelegt ist, welche Unternehmensbereiche der einheitlichen Leitung unterliegen und nach welchen Regeln die Partner gemeinsame Leitungsentscheidungen herbeiführen, wird im faktischen Konzern ein typisches Mittel, die einheitliche Leitung herzustellen, in einer personellen Verflechtung zwischen den Geschäftsführungsorganen der Konzernmitglieder gesehen.36 Einheitliche Leitung bedeutet, daß mehrere rechtlich selbständige Unternehmen wirtschaftlich wie ein Unternehmen geleitet werden. Auch dauernde und umfassende Leitung eines Unternehmens durch ein anderes ohne diese Einheitlichkeit begründet noch keinen Konzern.37 Deshalb sind Kreditnehmer, deren finanziellen Dispositionen die Hausbank zustimmen muß, mit dieser nicht in einem Konzern verbunden. Die Frage ist nur, ob die einheitliche Leitung von beiden bzw. von allen Konzernunternehmen gemeinsam auszuüben ist38 oder ob es in Fällen, in denen die einheitliche Leitung nicht vertraglich abgesichert ist, ausreicht, daß ein Unternehmen sich rein tatsächlich der einheitlichen Leitung durch ein anderes Unternehmen unterwirft. 39 Die zuletzt genannte Ansicht verdient den Vorzug. Es kann nicht darauf ankommen, daß sich die einzelnen Unternehmen eines Gleichordnungskonzerns an der Bildung eines einheitlichen Willens gleichmäßig beteiligen; die Beiträge hierzu werden in den seltensten Fällen gleich sein. Auch innerhalb eines vertraglich geschaffenen Leitungsorgans ist nicht auszuschließen, daß sich eines der Unternehmen regelmäßig mit seinen Vorstellungen durchsetzt. Ankommen kann es im faktischen Konzern allein darauf, daß die Leitentscheidung - welches Unternehmen auch immer die bestimmenden Gedanken gehabt haben mag - vom Willen aller Mitglieder im Interesse der einheitlichen Leitung ihrer zentralen Unternehmensbereiche getragen wird.

" Vgl. Gromann, aaO, S. 14; Geßler, aaO, § 18 Rdn. 74; Koppensteiner, aaO § 18 Rdn.29; HUff er, Aktiengesetz, 2. Aufl., § 18 Rdn. 21; Krieger, in: MünchHdb. d. GesR, Band 4, § 68 Rdn. 82. 37 Vgl. Zöllner, Verhandlungen des 59. DJT, Band II, Sitzungsberichte, 1992, S. R 38. 38 So Gromann, aaO, S. 4; Geßler, aaO, § 18 Rdn. 68, 75; Koppensteiner, aaO, § 291 Rdn. 78; Paschke/Reuter, aaO, S. 394 f. 39 So Krieger, aaO, § 68 Rdn. 81.

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2. Anteilserwerb und Umgehungsklausel Der in der Praxis wichtigste Zusammenschlußtatbestand ist nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 GWB der Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen. Die erste seiner drei Stufen ist genommen, wenn die erworbenen Anteile allein oder zusammen mit sonstigen dem Unternehmen bereits gehörenden Anteilen 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des anderen Unternehmens erreichen. Wird dieser Prozentsatz - wie im Ausgangsfall mit 24,8 % - nicht erreicht, so gilt nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 GWB als Zusammenschluß auch der Erwerb von Anteilen, soweit dem Erwerber durch Vertrag, Satzung, Gesellschaftsvertrag oder Beschluß eine Rechtsstellung verschafft ist, die bei der Aktiengesellschaft ein Aktionär mit mehr als 25 % des stimmberechtigten Kapitals innehat. Verfügt ein Aktionär über mehr als 25 % der Stimmen, so kann er Beschlüsse verhindern, die eine qualifizierte Mehrheit von 75 % erfordern. Eine schematische Übertragung dieser Befugnisse auf die Rechte des Gesellschafters einer GmbH oder Kommanditgesellschaft kommt wegen der strukturellen Unterschiede der Gesellschaftsformen nicht in Betracht. Vielmehr ist wertend darauf abzustellen, ob dem Erwerber entsprechende wirtschaftliche Sperrmöglichkeiten eingeräumt sind. Dessen Rechtsstellung und die eines Aktionärs mit Sperrminorität müssen vergleichbar sein; sie brauchen nicht völlig übereinzustimmen. Die wertende Beurteilung muß sich daher notwendig auf eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung aller dem Erwerber eingeräumten Befugnisse erstrecken. Hierzu kann auch eine dem Erwerber eingeräumte Einflußmöglichkeit auf die Geschäftsführung zählen, die dem Aktionär mit Sperrminorität versagt ist.40 Diese Voraussetzungen waren im Ausgangsfall erfüllt. Innerhalb der IKZ konnten Änderungen von Satzung und Gesellschaftsvertrag, Kapitalerhöhungen, Fusionen mit anderen Unternehmen sowie Zustimmungen zu bestimmten Maßnahmen der Geschäftsführung nur mit 76 % der auf das Gesellschaftskapital entfallenden Stimmen beschlossen werden. Nach Meinung der Beteiligten soll allerdings deshalb etwas anderes gelten, weil es die Sperrminorität noch nicht gab, als die Anteile übertragen wurden, weil Satzung und Gesellschaftsvertrag erst nachträglich, und zwar mit den Stimmen der GfB als neuer Gesellschafterin geändert worden sind. Diesem Einwand wäre von vornherein nicht nachzugehen, wenn es auf den Erwerb von Anteilsrechten nicht ankäme, vielmehr allein die Änderung der Mehrheitserfordernisse bei der Willensbildung unter den Umgehungstatbestand fiele. Hierfür könnte sprechen, daß das Verwirklichen eines Zusammenschlußtatbestandes i. S. von § 23 Abs. 2 40

B G H Z 102, 180,185 ff.

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Nr. 2 GWB nicht unbedingt einen abgeleiteten oder originären Erwerb von Anteilen voraussetzt. Auch ohne daß ein Gesellschafter einen Anteil hinzuerwirbt, können seine wettbewerbsrelevanten Einflußmöglichkeiten in einem Maße wachsen, daß die Schwellenwerte des § 23 Abs. 2 Nr. 2 GWB erreicht werden. Geschehen kann das durch eine ungleiche Kapitalherabsetzung, durch die Einziehung von Geschäftsanteilen oder Aktien oder durch das ersatzlose Ausscheiden eines Gesellschafters aus einer Personengesellschaft. Der auf diese Weise wegfallende Anteil wächst den Mitgesellschaftern im Verhältnis von deren Anteilen mit der Folge zu, daß deren Prozentsätze die Schwellenwerte erreichen oder überschreiten können. Die Stellung, die der Gesellschafter hierdurch erlangt, entspricht der eines Anteilserwerbers, so daß sich die wertmäßige Aufstockung eines vorhandenen Anteils als nichts anderes darstellt41, es mithin auch insoweit einen Zusammenschluß im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 GWB ohne Anteilserwerb nicht gibt. Da § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 GWB es nicht ausreichen läßt, daß eine Sperrminorität geschaffen wird, vielmehr für die Annahme eines Zusammenschlusses den Erwerb von Anteilen fordert, kann von einer Umgehung i. S. dieser Bestimmung nicht schon dann ausgegangen werden, wenn die Satzung oder der Gesellschaftsvertrag nur dahin geändert wird, daß gegen den Willen eines mit weniger als 25 % beteiligten Gesellschafters nichts entschieden werden kann.42 Im Ausgangsfall war der Tatbestand des § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 GWB schon aus einem anderen Grunde erfüllt. Die Satzung wurde zwar erst geändert, nachdem die Anteile bereits erworben waren; beide Vorgänge beruhten aber auf einem einheitlichen Plan und waren in der Weise voneinander abhängig, daß der eine nicht ohne den anderen erfolgen durfte. 3. Zurechnung der Anteile verbundener Unternehmen Nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 GWB sind für die Frage, ob die Schwellenwerte erreicht werden, die erworbenen und die dem Unternehmen bereits gehörenden Anteile zusammenzurechnen. Diese Regelung kann für den Erwerber nachteilig sein, wenn er beispielsweise nur einen Anteil von 5 % erwirbt, aber schon einen Anteil von 20 % besitzt; er erreicht dann mit den 5 % den Schwellenwert von 25 %. Die Regelung 41 Vgl. Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 23 Rdn. 160; Pascbke, in: FK z. GWB, 3. Aufl., § 23 Tz. 49; Kuppelt, in: Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 7. Aufl., § 23 Rdn. 16; Kleinmann/Bechtold, Kommentar zur Fusionskontrolle, 2. Aufl., § 23 Rdn. 69; Wiedemann, Z H R 146 (1982), S. 296, 321. 42 Vgl. Pascbke, aaO, § 23 Tz. 55; Wiedemann, aaO, S. 315 f; Kleinmann/Bechtold, aaO, § 23 Rdn. 98.

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kann sich aber auch zugunsten des Erwerbers auswirken, weil beispielsweise ein Erwerb von 25 % nicht anzeigepflichtig ist, wenn der Erwerber schon vorher über eine Mehrheitsbeteiligung verfügt hat. Ist nämlich die Mehrheitsbeteiligung erst einmal erreicht, ist jede weitere Aufstockung kein Zusammenschluß im Sinne von § 23 Abs. 2 N r . 2 GWB. 4 3 Aus § 23 Abs. 3 Satz 1 G W B ergibt sich nichts anderes. Hierbei handelt es sich nicht um den selbständigen Tatbestand eines Zusammenschlusses. Vielmehr muß der auf der Grundlage der bestehenden Unternehmensverbindung getätigte (weitere) Zusammenschluß seinerseits den Anforderungen des § 23 Abs. 2 Nr. 2 G W B entsprechen. 44 Bei der Ermittlung der Schwellenwerte sind aber zu den erworbenen nicht nur die Anteile hinzuzuzählen, die der Erwerber schon vorher besaß. Nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 G W B rechnen zu den Anteilen, die dem Unternehmen gehören, auch die Anteile, die einem im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2 G W B (Verbundklausel) verbundenen Unternehmen gehören. Ein Zusammenschlußtatbestand ist hiernach auch dann gegeben, wenn der Erwerb den Schwellenwert erst zusammen mit den Anteilen erreicht, die ein mit dem Erwerber verbundenes Unternehmen besitzt. Erwirbt die Tochtergesellschaft 5 % der Anteile eines Unternehmens, von dem die Mutter bereits 20 % der Anteile besitzt, so ist der Erwerb nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 Buchst, a) anzeigepflichtig. Ist man sich in diesem Punkt einig, so bestehen unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Zurechnungsklausel auch zugunsten des erwerbenden Unternehmens gilt.45 Wäre das der Fall, so läge beispielsweise kein Zusammenschluß im Sinne des Gesetzes vor, wenn die Tochtergesellschaft einen Anteil von 25 % an einem Unternehmen erwirbt, an dem die Mutter bereits eine Mehrheitsbeteiligung besitzt. Aber auch innerhalb des Konzerns könnten Anteile in H ö h e der Schwellenwerte von einem Mitglied auf ein anderes übertragen werden, ohne daß diese Vorgänge anzeigepflichtig wären; denn die Anteile wären dem Erwerber jeweils schon vorher zuzurechnen. In allen diesen Fällen läge ein Zusammenschluß selbst dann nicht vor, wenn er zu einer wesentlichen Verstärkung der bereits bestehenden Unternehmensverbindung im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 1 G W B führen würde; denn diese Bestimmung griffe nicht ein, weil sie - wie schon gesagt - keinen selbständigen Zusammenschlußtatbestand bildet, sondern einen den Anforderungen des § 23 Abs. 2 Nr. 2 G W B genügenden voraussetzt.

Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 265. " Paschke, aaO, § 23 Tz. 114; Ruppelt, § 23 Rdn. 56; Sonnenschein, aaO, S. 38 ff. «Dafür: Lutter, NJW 1974, 1270 ff; Kleinmann/Bechtold, aaO, §23 Rdn. 113; Paschke, aaO, § 23 Tz. 62; Sonnenschein, ZGR 1977, 35, 58 ff; dagegen: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 177; Ruppelt, aaO, § 23 Rdn. 21; Landsittel, BB 1994, 799, 803. 41

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Daß die Zurechnungsklausel auch zugunsten des erwerbenden Unternehmens gilt, ließe sich deshalb nur rechtfertigen, wenn die von ihr erfaßten Zusammenschlüsse grundsätzlich mit keiner Verstärkung der Verbindung verbunden wären. Denn daß es nur auf Verstärkungen außerhalb schon bestehender Unternehmensverbindungen und nicht auch auf konzerninterne ankommen sollte, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Die Formulierung im Regierungsentwurf 197146, wonach bloße Umstrukturierungen innerhalb eines Konzerns nicht erfaßt werden sollten, ist nicht zwingend so zu verstehen, daß diese von vornherein nicht unter die Zusammenschlußtatbestände des § 23 Abs. 2 Nr. 2 G W B fallen; es kann auch gemeint sein, daß sie nicht von § 23 Abs. 3 Satz 1 G W B erfaßt werden, weil sie zwar unter § 23 Abs. 2 Nr. 2 G W B fallen, aber - nach Meinung der Bundesregierung - von vornherein nicht mit einer wesentlichen Verstärkung des Einflusses verbunden sind. Es heißt dort auch, daß Abs. 3 Satz 1 sicherstellen soll, daß die Kartellbehörde von jeder wesentlichen Verstärkung einer bereits bestehenden Unternehmensverbindung Kenntnis erhält. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb hiervon Verstärkungen, die auf einem Anteilserwerb beruhen, der ohne die Zurechnungsklausel einen Schwellenwert erreicht, nur deshalb ausgenommen werden sollen, weil sie dem Erwerber schon vorher zuzurechnen sind. Die Zurechnungsklausel des § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 G W B soll den Zusammenschlußbegriff erweitern und nicht einschränken. 47 Gegen eine Einschränkung ließe sich allerdings nichts einwenden, wenn von vornherein ausgeschlossen wäre, daß eine konzerninterne Anteilsübertragung einen beherrschenden Einfluß verstärkt. In dem Falle ließe sich vertreten, daß ein Zusammenschlußtatbestand nicht erst nach § 23 Abs. 3 Satz 1 G W B , sondern schon nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 G W B verneint wird. Eine Verstärkung ist jedoch bei konzerninternen Umstrukturierungen nicht von vornherein ausgeschlossen, worauf schon LutterA% hingewiesen und deshalb eine restriktive Auslegung der Verbundklausel für notwendig gehalten hat. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Tochtergesellschaft A, die innerhalb eines Konzerns eine Mehrheitsbeteiligung an der Schwestergesellschaft B erwirbt, als Gemeinschaftsunternehmen außer von der Konzernmutter von einem konzernfremden Unternehmen beherrscht wird, das auf diese Weise mittelbar einen beherrschenden Einfluß innerhalb von B erlangt. Denkbar ist auch - worauf Landsittel hinweist 49 - , daß Unternehmen vor

BTDrucks VI 2520, S. 28. Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 177. 49 NJW 1974, 1270, 1274. " BB 1994, 799, 803.

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einem beabsichtigten Anteilserwerb einen faktischen Gleichordnungskonzern in einer Weise bilden, daß keiner der Tatbestände des § 23 Abs. 2 G W B eingreift; ließe man die Zurechnungsklausel auch zu ihren Gunsten gelten, könnten sie nunmehr innerhalb des Konzerns Anteile beliebig unkontrolliert übertragen. Für solche Veränderungen den Tatbestand des § 23 Abs. 2 Nr. 2 G W B zu verneinen und sie damit von vornherein aus der Fusionskontrolle herauszunehmen, widerspräche dem Zweck dieser Vorschrift. Erreicht ein Anteilserwerb ohne die Zurechnung im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 G W B einen der Schwellenwerte, so ist der Zusammenschlußtatbestand im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 G W B verwirklicht und allenfalls unter den besonderen Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 1 G W B nicht anzeigepflichtig. Nach dieser Bestimmung ist aufgrund der Gesamtumstände des Einzelfalls zu prüfen, ob der Zweitzusammenschluß nicht zu einer wesentlichen Verstärkung der bereits bestehenden Unternehmensverbindung führt. Nur wenn das der Fall ist, entfällt die Anzeigepflicht. Auf diese Weise lösen bloße konzerninterne Umstrukturierungen, die den Zusammenschluß nicht wesentlich verstärken, nicht die Rechtsfolgen eines Zusammenschlusses aus. Im Ausgangsfall kam es auf diese Frage nicht an, weil der Erwerb der Anteile durch die GfB nicht einen Zweit-, sondern einen Erstzusammenschluß darstellte. Die Anteile waren - worauf Paschke/Reuter50 zutreffend hinweisen - vor ihrer Übertragung und der Änderung von Satzung und Gesellschaftsvertrag der GfB nicht zuzurechnen. Denn erst im Zusammenhang mit diesen Rechtsgeschäften unterstellte sich die GfB der einheitlichen Leitung durch die WAZ, entstand mithin der Gleichordnungskonzern. Mit seinen Ausführungen zum faktischen Gleichordnungskonzern und zum Anwendungsbereich der Zurechnungsklausel hat der Kartellsenat zwei Möglichkeiten aufgezeigt, wie Strategien begegnet werden kann, die §§ 23, 24 G W B zu umgehen. Für den unkontrollierten Vollzug einer Fusion, die möglicherweise zur Marktbeherrschung im Sinne von § 24 G W B führt oder eine solche verstärkt, ist kein Platz.

50

AaO, S. 400 f.

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht WILLI ERDMANN

I. Einleitung

1.

Problemstellung

Der Jubilar hat in einer Darstellung der Kartellrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 1 davon gesprochen, daß die Richter sich ihre Fälle nicht aussuchen könnten und jeweils von Fall zu Fall schrittweise vorgingen, wobei sich erst im nachhinein, wenn die einzelnen Entscheidungen eines Zeitraums zu überblicken seien, erweise, ob sie wie Steine eines Mosaiks ein geschlossenes Bild ergäben oder ob sie wenigstens geeignete Teile eines noch weiter auszubauenden und aufzubauenden Bildes ausmachten. Letzteres trifft auf das wenige Fallmaterial zum Verhältnis von Kartellrecht und Urheberrecht zu, das sich allerdings durch die jährlichen Tätigkeitsberichte des Bundeskartellamts ergänzen läßt. Der folgende Beitrag will dem Nebeneinander der beiden sich teilweise überschneidenden Rechtsgebiete und im Zusammenhang damit der Frage nachgehen, ob sich ein Vorrang des einen gegenüber dem anderen begründen läßt. Dabei soll weniger der Wertungskonflikt zwischen den - zwangsläufig mit der Einräumung einer gewissen Monopolstellung verbundenen - Ausschließlichkeitsrechten und der Wettbewerbsfreiheit erörtert werden, sondern das Spannungsverhältnis zwischen Kartellund Urhebervertragsrecht 2 . Das Urheberrecht weist gegenüber den gewerblichen Schutzrechten Besonderheiten auf. Es gehört zu dem Teil unserer Rechtsordnung, der dem Schutz des geistigen und gewerblichen Schaffens dient. Da der Schutz, den es Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gewährt (§ 1 UrhG), nicht von der gewerblichen Verwertbarkeit abhängt, ist es zwar nicht dem gewerblichen Rechtsschutz zuzuordnen 3 . Gleichwohl ist es mit seinen wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten - besonders deutlich tritt dies bei den Leistungsschutzrechten zutage - in einer Weise in das gewerbliche Geschehen eingebunden, aus der sich vielfältige Berührungspunkte mit den im Wirtschaftsverkehr geltenden Regeln

' Odersky, G R U R 1994, 756, 764. Vgl. dazu Loewenheim, U f i t a Bd. 7 9 (1977), S. 1 7 5 f f , der das Problem erstmals eingehend beleuchtet hat; zuletzt ausführlich Fikentscher, in: FS Schricker, 1 9 9 5 , S. 1 4 9 ff. ' E. Ulmer, U r h e b e r - und Verlagsrecht, 3. A u f l . , S. 2 1 . 2

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des Wettbewerbs ergeben. Dies gilt einmal für das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, vor allem im Blick auf seine den Sonderrechtsschutz - und damit auch das Urheberrecht - ergänzenden Funktionen. Sodann aber auch für das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, dessen Aufgabe die Sicherung der Freiheit und der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs ist. 2. Schutzzweck

des Urheberrechts

und des

Kartellrechts

Der Urheberrechts- und der Kartellrechtsschutz erwachsen aus verschiedenen Wurzeln. Das Urheberrecht geht von der schöpferischen Leistung aus, die sich im Wert objektiviert, und erstrebt einen Schutz der Urheberpersönlichkeit und eine bestmögliche Beteiligung des Urhebers an der Verwertung seines Werkes, das Kartellrecht von der Verhinderung des Mißbrauchs marktwirtschaftlicher Machtstellung. Die Berührungspunkte zwischen beiden erklären sich aus der Nähe der Schutzbereiche. Beide müssen unter Berücksichtigung der verschiedenen und zum Teil gegenläufigen Schutzzwecke miteinander in Einklang gebracht werden. 3. Begriff des

Urhebervertragsrechts

Beim Urhebervertragsrecht geht es um Verträge, die im Zusammenhang mit der Schöpfung und der Verwertung urheberrechtsschutzfähiger Werke und damit in Beziehung stehender Leistungen anderer Art (der sogen. Leistungsschutzrechte, z. B. der ausübenden Künstler, der Tonträger- und Filmhersteller) geschlossen werden. Die Verwertungsverträge haben in der Regel die Einräumung oder Übertragung von Nutzungsrechten zum Gegenstand. Dabei sind Verträge unmittelbar zwischen Urhebern und Werknutzern, den „Endverbrauchern", in der Praxis selten. Die Verwertung erfolgt in der Regel über mehrere Marktstufen, so daß es primär um Verwertungsverträge zwischen Urhebern und Verwertern oder Verwertungsgesellschaften einerseits sowie zwischen mehreren Verwertern untereinander andererseits geht. Von kartellrechtlicher Relevanz sind insoweit vor allem der Verlags-, Film-, Tonträger und inzwischen auch der Softwarebereich4. Im Rahmen dieser Darstellung kann aber weder näher auf die jeweiligen Eigenheiten dieser Bereiche noch auf wettbewerbsbeschränkende Klauseln im einzelnen eingegangen werden5. 4 Vgl. zu den Besonderheiten im Softwarebereich Lebmann, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, 2. Aufl., Kap. XVI; ]. Schneider, Softwarenutzungsverträge im Spannungsfeld von Urheber und Kartellrecht, 1988. 5 Näher zum „Besonderen Urhebervertragsrecht" mit einzelnen Vertragstypen und -klausein neuerdings Ftkentscher, in: FS Schricker, 1995, S. 149, 170 ff.

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht

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Das Urhebervertragsrecht hat - das Verlagsrecht ausgenommen - bislang keine zusammenfassende gesetzliche Regelung erfahren. In der Begründung 6 zu dem am 1. Januar 1965 in Kraft getretenen neuen Urheberrechtsgesetz 7 heißt es, es sei beabsichtigt, dieses Gesetz „durch ein umfassendes Urhebervertragsgesetz zu ergänzen, das für alle Vertragstypen auf dem Gebiet des Urheberrechts Vorschriften enthalten soll". Seit dieser großen Reform des Urheberrechts sind drei Jahrzehnte vergangen, in denen das Urheberrechtsgesetz mehrfach geändert 8 , das Urhebervertragsrecht aber trotz beachtlicher Vorarbeiten 9 noch keiner Regelung zugeführt worden ist. Eine Kodifizierung ist auch angesichts der Schwierigkeit und der Vielschichtigkeit der Materie nicht sobald zu erwarten. Es verbleibt daher bei der nahezu unbegrenzten Vertragsfreiheit10. Daraus ergeben sich Probleme: Einmal für den Urheber, der den Verwertern (Verlegern, Rundfunkanstalten, Tonträgerherstellern, Filmproduzenten u. a.), die mitunter sogar eine Monopolstellung haben, in der Regel jedenfalls nicht als gleichstarker Partner gegenübersteht; das Urheberrechtsgesetz enthält insoweit nur wenige Schutzbestimmungen (vgl. z. B. § 31 Abs. 4 und 5 UrhG). Außerhalb des Urheberrechtsgesetzes bietet das Kartellrecht einen gewissen Schutz (vgl. §§ 1, 22 GWB), wenngleich der Kartellrechtsschutz im ganzen auch - aufgrund der Unternehmerstellung des Urhebers und der damit verbundenen Anwendung der §§1, 15 und 18 GWB (vgl. nachfolg, unter II 1 b) - eher als nachteilig als förderlich angesehen wird". Sodann stellen sich Probleme aber auch auf der Seite der Verwerter untereinander, insbesondere wenn Kollektiwereinbarungen zu marktwirtschaftlicher Machtstellung führen. II. Kartellrechtliche Beschränkungen nach dem G W B

1. Anwendbarkeit des GWB auf Urheberrechtsverträge a) Das GWB enthält für das Urheberrecht keine Sonderregelung. Die umstrittene Frage, ob die für Lizenzverträge über gewerbliche Schutzrechte (Patente, Topographien und Sortenschutzrechte) geltende BeAmtl. Begr. zum Reg.Entwurf, BTDrucks IV/270, S. 28. Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273). ! Zuletzt durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes vom 23. Juni 1995 (BGBl. I S. 842). ' Vgl. vor allem E. Ulmer, Gutachten zum Urhebervertragsrecht, 1977; Hubmann, Ufita Bd. 74 (1975), S. 1, 13 ff; zuletzt Nordemann, G R U R 1991,1 ff. 10 Zu den damit verbundenen Problemen vgl. u. a. B G H G R U R 1984, 45, 48 Honorarbedingungen: Sendevertrag. " So Hubmann, Ufita Bd. 74 (1975), S. 1, 12. 6

7

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Stimmung des § 20 GWB, durch die die genannten Schutzrechte teils privilegiert, teils schlechtergestellt werden, auf das Urheberrecht unmittelbar oder entsprechend anwendbar ist12, ist zu verneinen. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ist zu entnehmen, daß die Nichtaufnahme des Urheberrechts kein redaktionelles Versehen war; die Behandlung sonstiger Schutzrechte ist bei den Beratungen um GWB Gegenstand breiter Erörterungen gewesen13. Es ist deshalb davon auszugehen, daß der Gesetzgeber das Problem gesehen und das Urheberrecht bewußt nicht in den Anwendungsbereich des § 20 GWB einbezogen hat. Lediglich bei gemischten Verträgen über Urheberrechte und gewerbliche Schutzrechte ist § 20 GWB auf den ganzen Vertrag anwendbar 14 . b) Es bestehen deshalb keine Bedenken, auch den einzelnen Urheber im Rahmen der Verwertung seiner Rechte, soweit er dabei wirtschaftlich selbständig tätig ist, mit der heute herrschenden Meinung als Unternehmer i. S. der §§1, 15, 18 GWB anzusehen; die Rechtsübertragung im Rahmen der gewerbsmäßigen Verwertung ist eine gewerbliche Leistung15. Der kartellrechtliche Begriff der Ware umfaßt auch nichtkörperliche Gegenstände wie Forderungen und Rechte und daher auch urheberrechtliche Nutzungsrechte 16 ; er ist damit weiter als der handelsrechtliche Warenbegriff (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 HGB). c) Für Verwertungsgesellschaften ist durch das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz von 1965 die Sonderregelung des § 102 a GWB eingefügt worden, die eine weitgehende Freistellung von den Bestimmungen der §§ 1, 15 GWB vorsieht. Ihre faktische Monopolstellung macht sie aber zu marktbeherrschenden Unternehmen, so daß sie der Mißbrauchsaufsicht gem. § 22 Abs. 5 GWB und dem Diskriminierungsverbot des § 26

12 Wie hier v. Gamm, UrhG, Einf. Rdn. 69; ders., Kartellrecht, 2. Aufl., § 20 GWB Rdn. 3 und 25; Langen/Bunte, Komm, zum Kartellgesetz, 7. Aufl., § 1 8 Rdn. 186 und §20 Rdn. 2 (anders allerdings § 1 8 Rdn. 47); Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 37 (m. w. N.), die allerdings eine Parallele zum Grundgedanken des § 20 Abs. 1 GWB befürworten; ebenso Fikentscher, in: FS Schricker, 1995, S. 149, 160 ff. " Vgl. Nachweise bei Immenga/Mestmäcker, Komm, zum GWB, 2. Aufl., § 20 Rdn. 344 ff. 14 B K a r t A m t G R U R 1965, 499. 15 B G H G R U R 1973, 331, 333 - Nahtverlegung (für den Erfindern); 1988, 782, 784 GEMA-Wertungsverfahren (für die GEMA-Berechtigten); O L G München G R U R 1981, 614 - SchallpUtten-Lizenzvertrag (für einen Sänger); vgl. auch B G H G R U R 1970, 200 Tonbandgeräte-Importeur (zur Unternehmereigenschaft der Verwertungsgesellschaften); v. Gamm, UrhG, Einf. Rdn. 69; Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 36 m. w. N.; Fikentscher, in: FS Schricker, 1995, S. 149, 160 ff m. w. N . " v. Gamm, Kartellrecht, 2. Aufl., § 1 GWB Rdn. 39; a. A. Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. Rdn. 38 und 39, die das Nutzungsrecht als „gewerbliche Leistung" ansehen.

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht

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Abs. 2 G W B unterliegen 17 . Die darüber hinaus in § 102 a Abs. 2 G W B vorgesehene Mißbrauchsaufsicht durch das Bundeskartellamt trifft mit der Fachaufsicht durch das Patentamt nach §§ 18 ff U r h W a h r n G zusammen, wobei durch § 192 a Abs. 3 G W B sichergestellt ist, daß Kompetenzkonflikte vermieden werden. Die Anpassung des § 192 a Abs. 2 G W B an die Neufassung der §§ 14 ff UrhWahrnG 1 8 steht allerdings noch aus.

2. Horizontale

Vereinbarungen (§ 1 GWB)

Vereinbarungen über die Einräumung oder Übertragung von N u t zungsrechten kommen in der Praxis in der Regel als (vertikale) Austauschverträge vor. Gleichwohl können sie im Einzelfall auch zu einer Marktabgrenzung auf horizontaler Ebene, also auf gleicher Marktstufe, führen, wenn die Parteien - über die Lizenzierung hinaus - einen „gemeinsamen Zweck" im Sinne des § 1 G W B verfolgen. Dazu gehören insbesondere Absprachen über die einheitliche Anwendung von Preisen und Geschäftsbedingungen 19 . So können z. B. gemeinsame Filmbestellungen durch Abschlußgemeinschaften mehrerer Theaterbesitzer bei weitgehender Bindung als unzulässiges Bezugskartell anzusehen sein 20 . Oder: Zwei Verlage treten sich gegenseitig zum Zwecke der Sortimentsabgrenzung die Rechte an Werken unterschiedlicher Sparten ab. In solchen Fällen stellt sich die Vereinbarung, sofern sie den Wettbewerb spürbar beeinträchtigt - und keine Ausnahme nach §§ 5 a oder 5 b G W B in Betracht kommt - als verbotene Kartellabrede dar, die grundsätzlich nach § 1 G W B unwirksam ist. § 1 G W B kann sich auch als Schutzbestimmung zugunsten des Urhebers auswirken, wenn Verwerter oder Zusammenschlüsse von Verwertern Absprachen über einheitliche Honorare oder Allgemeine Geschäftsbedingungen im Verkehr mit U r hebern treffen, wenngleich die praktische Bedeutung im Blick auf die Regelung der §§ 2, 9 Abs. 2 G W B eher gering ist 21 .

3. Vertikale

Vereinbarungen

a) Inhaltsbeschränkungen f j 15, 16 GWB): Auf Urheberrechtsverträge sind vor allem die §§ 15, 16 G W B anwendbar; denn bei der Einräumung " Vgl. B G H G R U R 1988, 782, 784 Gema-Wertungsverfahren. " Gesetz vom 24. Juni 1985 (BGBl. I S. 1137). " Vgl. die von Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 177 ff näher angeführten Beispiele. 20 Vgl. Tätigkeitsbericht des BKartA, BTDrucks IV/3752, S. 45. 21 Vgl. Hubmann, Ufita Bd. 74 (1975), S. 1, 12, der ergänzend auch auf den Schutz gegen abgestimmte Verhaltensweisen (§ 25 G W B ) und gegen Empfehlungen auf diesem Gebiet (§ 38 Abs. 1 Nr. 11 G W B ) hinweist.

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und Übertragung von Nutzungsrechten handelt es sich in der Regel um Austauscbverträge. Der Urheber unterliegt daher grundsätzlich den dort vorgesehenen Beschränkungen der Gestaltungsfreiheit für Zweitverträge; d. h., es ist ihm untersagt, seinem Vertragspartner für die im Rahmen der Weiterverwertung des Werkes abzuschließenden Verträge Inhaltsbeschränkungen aufzuerlegen. Besondere Bedeutung besitzt insoweit die Frage einer zulässigen Preisbindung. Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, daß § 20 Abs. 2 Nr. 2 GWB, der für den Patentinhaber eine Ausnahme vom Preisbindungsverbot vorsieht, entsprechend anzuwenden ist22. Dem kann nicht beigetreten werden, da § 20 G W B - wie dargelegt - keine Lücke enthält. Lediglich Verlagserzeugnisse sind aus kulturpolitischen Erwägungen traditionell privilegiert; bei ihnen ist durch § 16 G W B die Gestattung der vertikalen Preisbindung aufrechterhalten worden23. Die Privilegierung gilt allerdings nur für Zweitverwertungsverträge, also für das Verhältnis der Verleger zum Zwischenhandel, und nicht auch für das des Urhebers zum Verleger oder sonstigen Verwertern. Für Erstverträge enthält aber das Verlagsgesetz Sonderregelungen, die mit § 15 G W B in Einklang stehen. Nach § 21 S. 2 und 3 VerlG stehen dem Verfasser im Rahmen des Verlagsvertrages Mitspracherechte bei der Änderung des regelmäßig durch Preisbindung gegenüber dem Buchhandel festgelegten Ladenpreises zu. Eine Erhöhung dieses Preises bedarf stets der Zustimmung des Verfassers, während der Ladenpreis herabgesetzt werden darf, soweit nicht berechtigte Interessen des Verfassers (z. B. bei der Verramschung) entgegenstehen. Diese Sondererregelung wird - ungeachtet ihres dispositiven Charakters24 - durch § 15 G W B nicht berührt, da sie zu den von der Rechtsordnung anerkannten sogen, institutionellen Gegebenheiten25 gehört. Entgegen einer im verlagsrechtlichen Schrifttum26 vertretenen Auffassung sind weitergehende Preisvereinbarungen nach § 1 5 G W B untersagt. Die Erwägung, daß der Ladenpreis - im Falle der prozentualen Festsetzung des Honorars - den wesentlichen Bestimmungsfaktor für die Urhebervergütung darstellt, greift nicht. Denn der Verfasser kann sich eine angemessene Vergütung auch auf andere Weise

22 Hubmann, Urheber- und Verlagsrecht, bis zur 4. Aufl., S. 66; Laufke, Allgemeine Geschäftsbedingungen in der Filmwirtschaft, 1962, S. 62 f. 23 Beispiele: B G H G R U R 1979, 490 - Sammelrevers; 1985, 933 - Schulbuch-Preisbindung; 1986, 87 - Preisbindungstreuhänder-Empfehlung; ferner BVerfG AfP 1987, 478; zur Vereinbarung der Buchpreisbindung im EG-Recht vgl. E u G H Slg. 1984, 19 = G R U R Int. 1985,187. 24 Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., § 21 Rdn. 3. 2i Dazu B G H Z 51, 163, 168 - Farbumkehrfilm; B G H G R U R 1976, 101, 102 - EDVZubehör. 26 Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. Rdn. 38 und § 21 Rdn. 3.

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als durch Mitsprache bei der Preisbestimmung sichern, z. B. durch Vereinbarung eines Sockelbetrages. Eine Ausnahme vom Preisbindungsverbot läßt sich - über § 21 S. 3 VerlG hinaus - auch nicht mit dem (persönlichkeitsrechtlichen) Interesse des Urhebers an einer durch niedrige Preise eher geförderten Verbreitung seines Werkes rechtfertigen. Für den Lizenznehmer gilt im Verlagsrecht nichts anderes. Eine Vereinbarung, wonach ein Lizenzgeber zum Schutze einer lizenzierten Taschenbuchoder Buchgemeinschaftsausgabe einen bestimmten Ladenpreis (für die Hardcover-Ausgabe) nicht unterschreiten darf, ist mit § 15 G W B nicht zu vereinbaren 27 . b) Abschlußbeschränkungen (§ 18 GWB): Die Abschlußbeschränkungen nach § 18 Abs. 1 GWB, die sich auf bestimmte Ausschließlichkeitsbindungen und Kopplungsgeschäfte beziehen, sind weniger einschneidend als die Beschränkungen nach § 15 GWB. Sie sind bekanntlich nicht per se unwirksam, sondern können nur unter bestimmten Voraussetzungen von den Kartellbehörden untersagt werden. Diese Eingriffsbefugnis ist in der Vergangenheit bei Urheberrechtsverträgen ebenso wie bei anderen Verträgen kaum praktisch bedeutsam geworden. Lediglich im Zusammenhang mit der Filmverwertung waren beim Bundeskartellamt verschiedentlich Verfahren anhängig: So sind das Blind- und Blockbuchen von (noch nicht festgelegten) Filmstaffeln durch die Filmtheaterbesitzer sowie die Vereinbarung von Vorspiel- und Karenzklauseln in Filmbestellverträgen zwar zunächst unbeanstandet geblieben, später aber zunehmend als unzulässige Ausschließlichkeitsbindungen gewertet worden 28 . Die Frage, welche Verträge in den Anwendungsbereich des § 18 G W B fallen, besitzt allerdings wegen des damit verbundenen Schriftformerfordernisses nach § 34 GWB auch über die Eingriffsmöglichkeit hinaus eine erhebliche Bedeutung. Es ist im Blick auf den dahinterstehenden Kontrollzweck in vieler Hinsicht strenger als andere Formerfordernisse 29 . Einigkeit besteht darüber, daß die (dinglichen) Begrenzungen des N u t zungsrechts in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht (§ 32 U r h G ) keine Verwendungsbeschränkungen nach § 18 Abs. 1 N r . 1 G W B und das (dingliche) Verbot der Weiterverfügung über das N u t zungsrecht (§§34, 35 U r h G ) keine Vertriebsbindung nach § 18 N r . 3 G W B darstellen; denn mit diesen Beschränkungen werden nur die 27 Im Fall O L G H a m m G R U R 1978, 436 - Herz mit Paprika - hat das Bundeskartellamt deshalb mit Recht eingegriffen. 2! Tätigkeitsbericht des BKartA 1959, BTDrucks III/1975, S. 42 f; 1963, BTDrucks IV/2370, S. 58 f; 1964, BTDrucks IV/3752, S. 44; 1965, BTDrucks V/530, S. 55; 1966, BTDrucks V/1950, S. 62; 1974, BTDrucks 7/3791, S. 77. " Vgl. z. B. B G H Z 84, 322 - Laterne; H.-G. Hesse, G R U R 1984, 324.

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Grenzen des Nutzungsrechts umschrieben und dem Vertragspartner keine zusätzlichen (schuldrechtlichen) Belastungen aufgebürdet 30 . Weiter ist von dem Grundsatz auszugehen, daß Wettbewerbsbeschränkungen, die dem Verwertungsvertrag immanent sind und sich - wie die Enthaltungspflicht des § 2 VerlG - unmittelbar oder nach Treu und Glauben mittelbar31 aus dem Verwertungsvertrag ergeben, aus dem Anwendungsbereich der §§ 18,34 GWB herausfallen32. Dagegen unterliegen andere (schuldrechtliche) Verwendungsbeschränkungen, Vertriebs- und Ausschließlichkeitsbeschränkungen und Koppelungsvereinbarungen dem kartellrechtlichen Schriftformerfordernis. Dies gilt z. B. bei Exklusiwerträgen, die einen Urheber oder ausübenden Künstler - über die Verwertung eines konkreten Werkes bzw. einer bestimmten Leistung hinaus - an einen Verwerter (Verlag, Schallplattenhersteller, Filmproduzenten) binden33. 4. Mißbrauchsaufsicht (§ 22 GWB) Zu den der Mißbrauchsaufsicht der Kartellbehörden nach § 22 Abs. 5 GWB unterliegenden marktbeherrschenden Unternehmen zählen vor allem die Verwertungsgesellschaften (vgl. oben unter II 1 c), aber auch Filmproduzenten, Tonträgerhersteller, Verlage und andere Verwerter können dazu gehören. In der Vergangenheit waren Anlaß zum Einschreiten der Kartellbehörde z. B. unbillige Klauseln in den Honorarbedingungen der Rundfunkanstalten 34 . Beanstandet wurden auch Versuche von Verwertungsgesellschaften, ihre Mitglieder (Urheber) übermäßig an sich zu binden35. 5. Diskriminierungs-

und Behinderungsverbot

(§ 26 Abs. 2 GWB)

Auch das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot richtet sich an marktbeherrschende Unternehmen. Auf den Urheber selbst wird es in der Regel nicht passen. Zwar hat er am konkreten Werk eine Ausschließlichkeitsstellung, auf dem einschlägigen Markt gibt es im allgemeinen aber eine Vielzahl anderer Werke, die auch individuell gestaltet sind, aber doch der gleichen Werkgattung angehören und daher auf demselben relevanten Markt abgesetzt werden. Soweit er im Einzelfall 30

Vgl. B G H G R U R 1987, 37, 39 Videolizenzvertrag. B G H G R U R 1973, 526 Medizin-Duden. 32 B G H Z 84, 125 - Vertragszweck; O L G Frankfurt N J W - R R 1995, 684. 33 O L G München G R U R 1981, 614, 615 - Schallplattenlizenzvertrag; O L G Frankfurt NJW-RR 1990,1381. 34 Vgl. das 1971 gegen das Z D F als marktbeherrschendes Nachfrageunternehmen eingeleitete Mißbrauchsverfahren, Tätigkeitsbericht des BKartA 1974, BTDrucks 7/3791, S. 75. 35 Vgl. die von Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 187 f angeführten Beispiele. 31

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einmal dem Kontrahierungszwang unterliegen sollte, wird spätestens im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung zu berücksichtigen sein, ob eine Branchenübung besteht, nur ausschließliche Lizenzen zu vergeben. In der Geltendmachung der Ausschließlichkeitsrechte, z. B. von Abwehrrechten gegenüber einem Verletzer, ist selbstverständlich keine unbillige Behinderung und damit auch kein Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu sehen56. Wenn auch nicht auf der ersten, so spielt die Regelung des § 26 Abs. 2 GWB doch häufiger auf der nächsten Verwertungsstufe eine Rolle. Marktbeherrschend i. S. des § 22 Abs. 1 und 2 GWB oder marktstark i. S. des § 26 Abs. 2 GWB können als Anbieter vor allem Verlage, die als preisbindende Unternehmen (§16 GWB) zudem unmittelbare N o r m adressaten des § 26 Abs. 2 GWB sind, Filmproduzenten, Schallplattenhersteller oder andere Verwerter sein. In der Rechtspraxis spielt der Diskriminierungstatbestand auch bei Verwertungsgesellschaften eine Rolle37. Auch im Verhältnis des verwertenden Unternehmens zum Urheber oder sonstigen Rechtsinhaber kann § 26 Abs. 2 GWB an sich anwendbar sein, und zwar im Blick auf das Nachfrageverhalten. Dieses - z. B. die Entscheidung, ob ein bestimmtes Werk verlegt werden soll - wird aber dem Instrumentarium, das § 26 Abs. 2 GWB zur Verfügung stellt, kaum zugänglich sein. Nachfrageentscheidungen sind so vielschichtig, daß das freie Ermessen, das an sich auch dem marktbeherrschenden Nachfrager eingeräumt ist und das im Rahmen der Interessenabwägung zu beachten ist, in der Regel nicht so weit reduziert sein wird, daß sich ein Anspruch auf ein bestimmtes Nachfrageverhalten formulieren ließe38. III. EG-Kartellrecht 1. Kartellverbot des Art. 85 Abs. 1 EGV Urheberrechtliche Verträge können auch vom Kartellverbot des Art. 85 Abs. 1 EGV erfaßt werden, nicht jedoch die bloße Ausübung des Urheberrechts 39 . Das Verbot ist bekanntlich auf horizontale und auf vertikale Wettbewerbsbeschränkungen anwendbar 40 . Voraussetzung ist in beiden Fällen eine Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaat-

36

BGHZ 100, 51, 59 - Handtuchspender (zum Warenzeichenrecht). Vgl. BGH GRUR 1970, 200 - Tonbandgeräte-Importeur. 3 « Vgl. zur Anwendung des § 26 Abs. 2 GWB auf das Nachfrageverhalten BGHZ 101, 72, 81 ff-Krankentransporte; BGH GRUR 1995, 618, 620 - Importarzneimittel. M Grabitz/Hilf, EG-Vertrag, Art. 85 Rdn. 206; vgl. auch EuGH Slg. 1976, 811 = NJW 1976, 1579, 1580 - EMI-Records. n St. Rspr., vgl. u. a. EuGH Slg. 1966, 321 = GRUR Int. 1966, 580, 581 - Grundig/ Consten. 57

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liehen Handels auf dem gemeinsamen Markt. Das notwendige Korrektiv gegenüber der strikten Rechtsfolge der Nichtigkeit nach Art. 85 Abs. 2 EGV bildet die in § 85 Abs. 3 EGV vorgesehene Möglichkeit der (Gruppen-)Freistellung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen. Da der E G V keine Bereichsausnahmen und vor allem auch - anders als das deutsche Urheberrecht - keine gesonderte Regelung für die Ausschließlichkeitsrechte enthält, bei deren Verwertung durch Einräumung ausschließlicher Rechte des Wettbewerbs naturgemäß beschränkt wird, war lange ungeklärt, ob die ausschließliche Lizenz unter das EG-rechtliche Kartellverbot fällt mit der Folge, daß ihr nur im Wege der Freistellung zur Wirksamkeit hätte verholfen werden können41.

2. Mißbrauchstatbestand des Art. 86 Abs. 1 EGV Ebenso wie das GWB kennt auch das Gemeinschaftsrecht den für marktbeherrschende Unternehmen geltenden Mißbrauchstatbestand. Hier wie dort wird aber der Urheber selbst bei der Verwertung seines Werkes kaum davon berührt, da die durch das Urheberrecht gewährte Ausschließlichkeitsstellung für sich allein keine marktbeherrschende Stellung begründet42. Die kartellrechtliche Berurteilung der ausschließlichen Lizenz durch den EuGH fügt sich ohne weiteres in seine Rechtsprechung zu Art. 30 f f EGV ein. In der Maissaatgut-Entscheidung ist der EuGH der Auffassung der Kommission entgegengetreten, wonach die bereits durch die Einräumung ausschließlicher Nutzungsrechte bewirkte Wettbewerbsbeschränkung ausreiche, um eine Kartellabrede i. S. des Art. 85 Abs. 1 EGV anzunehmen43. Zu unterscheiden ist danach einerseits zwischen der vom EuGH sogen, offenen ausschließlichen Lizenz, mit der sich der Lizenzgeber lediglich verpflichtet, für dasselbe Gebiet keine weiteren Lizenzen zu vergeben und sich dort auch selbst jeder Verwertungshandlung zu enthalten; diese Lizenz ist wegen der Bedeutung des Ausschließlichkeitsrechts für die wirtschaftliche Verwertung des in Rede stehenden Sortenschutzrechts als mit Art. 85 Abs. 1 EGV vereinbar angesehen worden, was sich ohne weiteres auf andere Sonderschutzrechte (wie das Urheberrecht) übertragen läßt. Anders hat der EuGH die Vereinbarungen beurteilt, die zu einem absoluten Gebietsschutz und damit zu einer Abschottung der nationalen Märkte für rechtmäßig in Verkehr gebrachte Waren führen. Der Sache nach wendet der EuGH den Schutzrechtsvorbehalt des Art. 36 EGV auch im Rahmen des Art. 85 Abs. 1 41 So die Auffassung der Kommission im Maissaatgutfall (dort zum Sortenschutzrecht), WuW/E EV 782 (Vorinstanz zu EuGH Slg. 1982, 2015 = NJW 1982, 1929. 42 EuGH Slg. 1971, 487 = NJW 1981, 1533, 1534 - Deutsche Grammopbon. 43 EuGH Slg. 1982, 2015, 2068 f = NJW 1982,1929,1932 - Maissaatgut.

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EGV an und entzieht damit die zum spezifischen Gegenstand gehörende Ausschließlichkeitsbindung dem Kartellverbot44. Die Abgrenzung zwischen zulässiger „offener" Lizenz und unzulässigem absoluten Gebietsschutz entspricht der mit Hilfe des Erschöpfungsgrundsatzes gezogenen Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Beschränkung des freien Warenverkehrs. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH 45 kann aufgrund eines ausschließlichen Nutzungsrechts die Einfuhr von Werkstücken ohnehin wegen Art. 30 EGV nicht untersagt werden, sofern sie in einem Mitgliedstaat mit Zustimmung des Urhebers in Verkehr gebracht worden sind. Auch bei der unkörperlichen Verwertung hat der E u G H unter Anwendung des Art. 36 EGV EG-Kartellrecht und das Recht über den freien Warenverkehr im wesentlichen parallel gewertet. Im Coditel-¥ai\ hat er in dem einem Filmverleihunternehmen eingeräumten ausschließlichen Recht zur öffentlichen Wiedergabe keine verbotene Kartellabsprache gesehen und hier - weitergehend als bei der körperlichen Verwertung - grundsätzlich auch einen absoluten Gebietsschutz zugelassen46. Aus dieser und der Maissaatgut-'EmscheiAxmg läßt sich entnehmen, daß eine Rechtseinräumung, die sich an den durch Art. 30 ff EGV gezogenen Grenzen orientiert, auch mit Art. 85 Abs. 1 EGV vereinbar ist, mag der E u G H in den genannten Entscheidungen das ausschließliche Nutzungsrecht auch dem Anwendungsbereich des Art. 85 Abs. 1 EGV nicht gänzlich entzogen haben. Andere wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen in Urheberrechtsverträgen sind EG-kartellrechtlich ebenfalls als unbedenklich zu beurteilen. Das gilt sowohl für die Beschreibungen des Umfangs des eingeräumten Rechts (z. B. das Verbot, über das eingeräumte Nutzungsrecht gem. §§ 34, 35 UrhG zu verfügen) als auch für andere zeitliche, inhaltliche oder räumliche Beschränkungen (§ 32 UrhG) 47 . Beschränkungen, die über den Inhalt des Schutzrechts hinausgehen, können allerdings gegen Art. 85 Abs. 1 EGV verstoßen: Beispielsweise eine nicht nur den Inlandsmarkt betreffende Preisbindung 48 oder eine Beschränkung des Lizenznehmers oder -gebers über die gesetzliche Schutzfrist hinaus49. 44

v. Gamm, GRUR Int. 1983, 403; Grabitz/Hilf, EG-Vertrag, Art. 85 Rdn. 239. Vgl. u.a. EuGH Slg. 1974, 487, 500 = NJW 1971, 1533 - Deutsche Grammophon (zum Leistungsschutzrecht der Tonträgerhersteller); Slg. 1980, 147, 161 = NJW 1981, 1143 - Gebührendifferenz II (zum Urheberrecht); auch BGHZ 81, 282, 287 ff und BGH GRUR 1986, 668, 669 f - Gebührendifferenz III und IV. 46 EuGH Slg. 1982, 3381, 3401 f = NJW 1983, 1255, 1256 - Coditel II. 47 v. Gamm, GRUR Int. 1983, 403, 409. 48 Vgl. EuGH Slg. 1984, 19 = GRUR Int. 1985, 187; auch EuGH Slg. 1985, 1 = GRUR Int. 1985, 190. 4 ' Vgl. näher v. Gamm, GRUR Int. 1983, 403, 408. 45

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IV. Der kartellrechtsfreie Bereich bei der Verwertung urheberrechtlicher Befugnisse 1.

Lösungsansatz

Der Blick auf die dargestellte Rechtspraxis zeigt, daß es bei der Ausübung urheberrechtlicher Befugnisse kartellrechtsfreie Bereiche gibt, sagt aber noch nichts darüber, wie diese zu bestimmen sind. Dem formalen Ansatz, daß das Kartellrecht - so die herrschende Meinung 50 den Inhalt und Umfang des Urheberrechts bzw. - so die Rechtsprechung des EuGH 5 1 - den „Bestand der Schutzrechte" zu respektieren hat, wird man beitreten können. Die für den Bereich der Sonderschutzrechte getroffene gesetzgeberische Wertentscheidung, dem Werkschöpfer als Ausschließlichkeitsrechte ausgestaltete Schutzrechte zuzubilligen, ist von der Wettbewerbsordnung hinzunehmen. Die Schwierigkeit besteht darin, den dem Urheber gesetzlich zugebilligten „unantastbaren" Rechtsbestand und Schutzumfang, der einer Anwendung des Kartellrechts entzogen ist, inhaltlich zu bestimmen. Dafür müssen sachgerechte Kriterien gefunden werden, die den Schutzzwecken der beiden sich berührenden Rechtsbereiche (vgl. dazu oben I 2) zu entnehmen sind52. In ihrer Abwägung ist der Wertungskonflikt zwischen Urheberrechtsschutz und Wettbewerbsfreiheit zu lösen. 2. Urheberrechtliche und kartellrechtliche

Kriterien

a) Auf der Seite des Urheberrechts sind die ihm anhaftenden Eigenarten zu berücksichtigen: Es schützt den Urheber „in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werkes" (§11 UrhG). Der Gesetzgeber hat seiner Regelung die monistische Auffassung zugrunde gelegt; ideelle und materielle Interessen des Urhebers bilden eine untrennbare Einheit. Das Urheberrechtsgesetz geht vom Grundsatz der Unübertragbarkeit des Urheberrechts aus (§ 29 Satz 2 UrhG). Verfügungen sind nur über die einzelnen aus dem Stammrecht fließenden Berechtigungen zulässig, wobei verkehrsfähig lediglich die rein vermögensrechtlichen Berechtigungen sind, d. h. die Verwertungsrechte der §§ 15 ff UrhG. Diese sind als umfassende, ausschließliche Rechte ausgestaltet und können nach §§ 31 ff U r h G Gegenstand von Nutzungsrechten sein; dies mit der Möglichkeit, einfache oder aus50 Vgl. u. a. Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 191 f; Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 37; Fikentscher, in: FS Schricker, 1995, S. 149, 160 ff. " E u G H Slg. 1966, 321, 394 - Grundig/Consten; 1971, 69, 83 - Sirena/Novimpex; 1988, 119; 1988, 5249 - Nichtangriffsklausel im Schutzrechtsvergleich. 52 Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 174, 194 spricht von der Ordnungsaufgabe des Schutzrechts; vgl. auch Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 35 und 37.

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht

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schließliche Nutzungsrechte einzuräumen (§31 Abs. 1 UrhG), das N u t zungsrecht räumlich, zeitlich und inhaltlich zu beschränken (§ 32 U r h G ) sowie grundsätzlich die Weiterübertragung zu verbieten (§§ 34, 35 UrhG). Dagegen sind die urheberpersönlichkeitsrechtlichen Befugnisse jedenfalls in ihrem Kern - so z. B. das Recht, nach § 14 U r h G gegen Werkentstellungen vorzugehen - nicht übertragbar 53 . Die vermögensrechtliche Seite des Urheberrechts wird von dem als tragendem Leitgedanken des Urheberrechts anerkannten Beteiligungsgrundsatz beherrscht. Dieser beruht auf der Lehre vom geistigen Eigentum und besagt, daß der Urheber tunlichst angemessen an dem wirtschaftlichen N u t z e n seines Werkes zu beteiligen ist54. Dem entspricht das stark ausdifferenzierte Verwertungssystem des Urheberrechtsgesetzes. Es findet seine zusätzliche Rechtfertigung darin, daß der Urheber weit mehr als der Inhaber eines gewerblichen Schutzrechts auf die Verwertung seines Werkes durch Dritte angewiesen ist55, der - wie es in der Begründung zum Regierungsentwurf heißt 56 - „meist gerade an einer möglichst weiten Verbreitung seines Werkes, an der N u t z u n g durch möglichst viele Personen interessiert" ist und dem deshalb durch das Urheberrechtsgesetz die rechtliche Grundlage dafür gegeben werden soll, „Art und Umfang der N u t z u n g seines Werkes zu überwachen und diese von der Zahlung einer Vergütung abhängig zu machen". Für die kartellrechtliche Beurteilung kann der Unterschied zwischen dem Urheberrecht und dem Leistungsschutzrecht zu beachten sein57. Beide sind ihrem Wesen nach verschieden. Während das Urheberrecht die Ergebnisse schöpferischer Leistungen schützt, geht es beim Leistungsschutzrecht - namentlich der Tonträger- und Filmhersteller - um den Schutz wirtschaftlich-technischer Leistungen, d. h. der Schutz hat eher wettbewerbsrechtlichen Charakter. Diese Wesensverschiedenheit kann im Einzelfall dazu führen, daß die f ü r das Urheberrecht geltenden kartellrechtlichen Freiräume nicht in gleichem Umfang f ü r die genannten Leistungsschutzrechte anerkannt werden können 58 . b) Der dargestellte Schutzzweck des Urheberrechts wirkt sich auf die Anwendung des Kartellrechts, das den Mißbrauch marktwirtschaftlicher Machtstellung verhindern will, in verschiedener Weise aus.

55

Vgl. u. a. B G H G R U R 1986, 458, 459 - Oberammergauer Passionsspiele I. St. Rspr., vgl. zuletzt B G H WRP 1995, 609, 611 f - Mauer-Bilder m. w. N.; auch Begr. zum Reg.Entwurf, BTDrucks IV/270, S. 30). 55 So zu Recht Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 195 f; Bappert/Maunz/ Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 35. 56 BTDrucks IV/270, S. 28. 57 Darauf weist Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175,200 f hin. 5g Weitergehend Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 202 ff. 54

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Willi Erdmann

Soweit einem solchen Mißbrauch durch das Verbot der Bildung von Kartellen nach § 1 G W B entgegengewirkt werden soll, kann der Schutzzweck des Urheberrechts grundsätzlich keine Freiräume begründen. Die Verwertungsinteressen des Urhebers lassen sich - wie die bisherige Praxis gezeigt hat - auch ohne Kartellabsprachen hinreichend verwirklichen, zumal § 102 a G W B eine Ausnahme für Verwertungsgesellschaften vorsieht. De lege ferenda wird allerdings gefordert, § 102 a G W B dahin zu erweitern, daß künftig alle Kollektiwereinbarungen zwischen Urheber- und Künstlerverbänden einerseits und Verwertungsvereinigungen andererseits freigestellt werden59. Für Austauschverträge, die einerseits Inhaltsbeschränkungen mit der Rechtsfolge der Unwirksamkeit nach § 15 G W B und andererseits Abschlußbeschränkungen mit der Eingriffsbefugnis der Kartellbehörde nach § 18 G W B unterliegen, sind aus dem Schutzzweck des Urheberrechts Grenzen zu ziehen. Das gesetzlich zugebilligte Verwertungssystem muß jedenfalls in seinem Kern, d. h. insoweit, als es um urheberpersönlichkeitsrechtliche Befugnisse und darum geht, die Verwirklichung des Beteiligungsgrundsatzes zu gewährleisten, unangetastet bleiben. Insoweit ist Loewenheim60 darin zuzustimmen, daß solche Beschränkungen, die notwendige Folge der dem Urheber eingeräumten Verwertungsbefugnisse sind, grundsätzlich vom Schutzzweck des Urheberrechts gedeckt sind und nicht dem Kartellrecht unterliegen. Soweit es um die Bildung von Preisen und Geschäftsbedingungen geht, lassen sich mit der Interessenlage des Urhebers grundsätzlich keine über den gesetzlichen Rahmen hinausgehenden Ausnahmen begründen, insbesondere läßt sich - wie oben unter II 3 a dargestellt - eine angemessene Vergütung auch auf andere Weise als durch Mitsprache bei der Preisbestimmung sichern. Bei Abschlußbeschränkungen nach § 18 G W B ist eine differenzierte Betrachtung geboten, die insbesondere bei den Kriterien der unbilligen Beschränkung und der wesentlichen Beeinträchtigung eine eingehende Interessenabwägung erfordert. Im Grundsatz gilt, daß Wettbewerbsbeschränkungen, die dem Verwertungsvertrag immanent sind, aus dem Anwendungsbereich des § 18 G W B und damit auch des § 34 G W B herausfallen (vgl. oben unter II 3 b). Eine eingehende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der urheberrechtlichen Besonderheiten erfordern schließlich auch sowohl der Mißbrauchs- als auch der Diskriminierungstatbestand (§§ 22, 26 Abs. 2 GWB). Auch hier muß gelten, daß das Verwertungssystem jedenfalls in 59 Vgl. E. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 2. Aufl., S. 389 und Urhebervertragsrecht, S. 32 ff; Bappert/Maunz/Schricker, Verlagsrecht, 2. Aufl., Einl. 25; Nordemann, GRUR 1991,91,3,6. 60 Loewenheim, Ufita Bd. 79 (1977), S. 175, 205.

Kartellrecht und Urhebervertragsrecht

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seinem gesetzlich garantierten Kernbestand unangetastet bleiben muß. Der Urheber darf bei der Nutzung seines Werkes nicht in einer Weise beschränkt werden, die den das Urheberrecht beherrschenden Leitgedanken einer angemessenen Beteiligung an der wirtschaftlichen Verwertung seines Werkes gefährdet. Zusammenfassend ist nochmals zu betonen, daß das Kartellrecht mit seinen abschließenden per-se-Verboten (§§ 1, 15 GWB) grundsätzlich Vorrang beanspruchen kann. Dort aber, wo sich das Gesetz offener Tatbestände bedient (§§ 18, 22, 26 GWB, Art. 86 EGV), muß die kartellrechtliche Beurteilung den Bestand des Urheberrechts und die mit seiner Ausübung verbundene wirtschaftliche Macht hinnehmen. Bei Art. 85 EGV handelt es sich zwar an sich um ein absolutes Verbot; diese Bestimmung ist aber so weit gefaßt und findet so weitgehend auch auf die Schutzrechtsverwertung Anwendung, daß hier - auch nach der Rechtsprechung des E u G H - eine Eingrenzung entsprechend einem offenen Tatbestand geboten ist.

Kartellrechtliche Wirkungen von Aktienoptionen U L R I C H IMMENGA

Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofes hatte sich häufig mit Grenzfragen des Zusammenschlußtatbestandes in der Fusionskontrolle nach § 23 Abs. 2 GWB zu befassen. Zu entscheiden ist in vielen Fällen über rechtliche Konstruktionen beteiligter Unternehmen, die die kartellrechtliche Kontrolle bereits an der Feststellung eines Zusammenschlusses scheitern lassen sollen. Verträge über Optionen zum Erwerb von Beteiligungen gehören in diesen Zusammenhang. Sie sind bisher allerdings kaum Gegenstand von Entscheidungen gewesen. Die Rechtslage erscheint klar. Die Option ist lediglich ein schuldrechtliches Verpflichtungsgeschäft. Es bleibt jedoch zu beachten, daß derartige Rechtsgeschäfte in ihrem rechtlichen und wirtschaftlichen Umfeld gesehen werden müssen. Die kartellrechtliche Beurteilung hängt von diesem erweiterten Blickwinkel ab. Eine jüngere Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz macht das deutlich 1 . Eine gemeinsame Kontrolle nach Art. 3 der Fusionskontrollverordnung wurde wegen einer Kaufoption eines Beteiligten auf das gesamte Kapital des Gemeinschaftsunternehmens in Frage gestellt. Obgleich einige Umstände, wie ein Geschäftsplan (Tz. 56), eine alleinige Kontrolle des Optionsnehmers nahelegten, entschied das Gericht formal unter Berufung auf die begrenzte Wirkung der Option. Dieses Urteil ist hier nicht weiter zu verfolgen. Es zeigt jedoch, daß Sachverhalte im Zusammenhang mit Optionsverträgen über den schuldrechtlichen Verpflichtungscharakter hinaus von Bedeutung sein können. Das entspricht bei näherer Betrachtung auch der Praxis zum GWB. Ein Optionsvertrag kann fusionskontrollrechtlich unter verschiedenen Gesichtspunkten gewürdigt werden. Maßgeblicher Ausgangspunkt sind die Zusammenschlußtatbestände des § 23 Abs. 2 GWB, die abschließend geregelt sind. In Betracht kommt einmal ein Erwerb von Anteilen an einem anderen Unternehmen im Sinn der Ziff. 2 dieser Vorschrift (I.). Es kann auch an eine Zurechnung der Anteile nach § 23 Abs. 2 S. 2 GWB gedacht werden, wenn die Annahme naheliegt, daß die Anteile letztlich für Rechnung des Optionsnehmers gehalten werden (II.). Ferner ist die sog. Umgehungsvorschrift i. S. d. § 23 Abs. 2 S. 4 heranzuziehen (III.). Schließlich werden auch der Zusammenschlußtatbestand des § 23 Abs. 2 N r . 5 GWB (IV.), der auf eine Beherrschungs1

E u G Slg. II 1994 S. 323 Tz. 67 Air France/Kommission.

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möglichkeit abstellt, wie der mit der 5. GWB-Novelle eingeführte Auffangtatbestand (§ 23 Abs. 2 Nr. 6 GWB) (V.) zu prüfen sein. Die Einzeltatbestände des § 23 Abs. 2 GWB schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind nebeneinander anwendbar. Für die Interpretation im einzelnen ist zu beachten, daß die Verwendung privatrechtlicher Begriffe in § 23 Abs. 2 GWB eine an spezifisch wettbewerbsrechtlichen Kriterien orientierte Auslegung nicht ausschließt2. Über die mögliche Relevanz nach Fusionskontrollrecht hinaus sind Sachverhaltslagen denkbar, die als horizontale Vereinbarung zu qualifizieren sein können. Es ist daher auch auf das Kartellverbot nach § 1 GWB einzugehen (VI.). I. Der Optionsvertrag als Erwerb i. S. d. § 23 Abs. 2 Nr. 2 a GWB Bei dem Erwerb von Anteilen an einem anderen Unternehmen kommt es nach allgemeiner Auffassung auf den Erwerb des Vollrechtes an3. Maßgeblich für diese Auffassung ist, daß die Gesellschafterstellung als Ganzes erlangt werden soll. Die Begründung beschränkter dinglicher Rechte an Gesellschaftsanteilen, wie z. B. Pfandrechte, wird daher nicht als ausreichend angesehen. Bei dieser Ausgangslage erscheint es folgerichtig, daß das Schrifttum Optionen auf Gesellschaftsanteile im Regelfall nicht als Erwerb im Sinn der genannten Vorschrift ansieht. Dabei ist auffällig, daß die Frage auch in der Lehrbuch- und Kommentarliteratur nur selten ausdrücklich diskutiert wird. Entsprechende Stellungnahmen finden sich bei Kleinmann/Bechthold\ MöscheP und Paschke im Frankfurter Kommentar6. Canenbley/Moosecker7 berufen sich - allerdings ohne Nachweise - auf eine entsprechende ablehnende Praxis des Bundeskartellamtes. Auch in der bisher einzigen speziellen Erörterung von Optionen im Schrifttum wird grundsätzlich von einer fusionskontrollrechtlichen Unbedenklichkeit der reinen Optionen ausgegangen8. Zur Begründung wird im wesentlichen darauf hingewiesen, daß die Option ein Minus gegenüber dem Vollerwerb sei und dem Optionsnehmer keine Einflußmöglichkeit 2

Paschke, Der Zusammenschlußbegriff des Fusionskontrollrechts, 1989, S. 27; Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, Kommentar z u m G W B , 2. Aufl., § 23 Rdn. 135. J Vgl. nur Langen/Kuppelt, KartR (7. Aufl.) § 23 Rdn. 16; Mestmäcker, in: Immenga/ Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 158 m. w. N . 4 Kommentar zur Fusionskontrolle, 2. Aufl. 1989, § 23 Rdn. 19. s Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 470. 6 § 23 Rdn. 50. 7 Fusionskontrolle, 1982, S. 14. 8 Tessin/Rohling, Die Beurteilung von Optionen nach deutschem und europäischem Kartellrecht, F S Q u a c k , 1991, S. 681 f.

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auf das Unternehmen des Optionsgebers einräume. Ein dem Erwerb gleichzustellender Sachverhalt liege daher nicht vor. Die Entscheidungspraxis zu dieser Frage ist jedoch differenzierter. Der Bundesgerichtshof hatte im Hinblick auf einen Zusammenschluß von Presseunternehmen die Frage zu prüfen, ob ein Zusammenschluß bereits vor Inkrafttreten der dritten Kartellnovelle vollzogen war. Hierzu wurde auf einen bestehenden Optionsvertrag Bezug genommen. Es heißt: „Selbst wenn es aber zu dem Anteilserwerb lediglich der (einseitigen) Ausübung eines Optionsrechts bedürfte, wäre der Zusammenschluß nicht vollzogen, solange die Beschwerdeführer - wie bisher - von ihrem Recht keinen Gebrauch gemacht haben" 9 . Ahnlich urteilte der Bundesgerichtshof in einer anderen Entscheidung10. Ein Anteilseigner hatte ein Stimmrecht in Höhe von 24,9 % bei einer gleichzeitigen Kapitalbeteiligung von 30,8 %. Es bestand unter bestimmten Voraussetzungen, die in der Entscheidung nicht genannt werden, die Möglichkeit, den prozentualen Anteil der Stimmrechte an die Höhe der Kapitalbeteiligung anzugleichen. Nach Auffassung des Gerichtes kann ein Zusammenschlußtatbestand jedoch nur angenommen werden, wenn diese Voraussetzungen eintreten und der betreffende Anteilseigner von seinen Befugnissen Gebrauch macht. Der Anteilseigner hielt darüber hinaus Wandelobligationen. Auch hierzu wurde darauf hingewiesen, daß ein Zusammenschlußtatbestand erst mit deren Umwandlung eintrete. Schrifttum und Rechtsprechung läßt sich insoweit entnehmen, daß die Option auf Gesellschaftsanteile, auch wenn sie als einseitiges Gestaltungsrecht formuliert ist, nicht den Zusammenschlußtatbestand des Erwerbs von Gesellschaftsanteilen erfüllt. Es gibt jedoch auch Anhaltspunkte dafür, daß der Optionsvertrag in Verbindung mit besonderen Umständen als Zusammenschlußtatbestand angesehen werden könnte. Der Bundesgerichtshof hatte die Frage zu entscheiden, ob ein Zusammenschluß bereits dann vorliegt, wenn der Gesellschaftsvertrag festlegt, daß ein bestimmter Gesellschafter zwar mit einem Teil des auf seinen Kapitalanteil entfallenden Stimmrechts ausgeschlossen ist, über dieses Stimmrecht aber zusammen mit dem entsprechenden Kapitalanteil verfügen kann". Der betreffende Gesellschafter hielt bereits 24,9 % des Stimmrechtes. Das Gericht bezog darüber hinaus die Möglichkeit dieses Gesellschafters ein, durch die Veräußerung des Kapitalanteils an ihm genehme Dritte Stimmrechte dem Mitgesellschafter zu entziehen und im eigenen Interesse ausüben zu lassen. Diese Möglichkeit war durch den ' B G H W u W / E 2276, 2283 „Süddeutscher Verlag - D o n a u Kurier". B G H W u W / E 2211,2216 „Morris-Rothmans". 11 B G H W u W / E 1954, 1957 „Springer-az Anzeigenblatt". 10

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Gesellschaftsvertrag rechtlich abgesichert. Unter Berücksichtigung des Normzwecks des Zusammenschlußtatbestandes erschien es daher dem Gericht gerechtfertigt, den Erwerb des Kapitalanteils wegen des damit verbundenen Verfügungs- und Gestaltungsrechtes von Anfang an - und nicht erst mit der Weiterveräußerung - dem Erwerb stimmberechtigten Kapitals gleichzusetzen. Die Einbeziehung potentieller Stimmrechte beruhte in diesem Fall auf besonderen Umständen. Es war ein Kapitalanteil in Höhe von 49,5 % erworben worden, der auch in vollem Umfang Stimmrechte verlieh. Aufgrund des Gesellschaftsvertrages war nur der Erwerber selbst gehindert, das Stimmrecht über 24,9 % des Gesamtkapitals hinaus auszuüben. Er konnte jedoch über Kapitalanteile verfügen, so daß bei jedem Dritten das Stimmrecht wieder auflebte. Die Qualifizierung dieses Sachverhaltes als Zusammenschlußtatbestand beruhte daher auf zwei Umständen. Erworben war einmal bereits ein umfangreicher Kapitalanteil 12 . Außerdem konnte der Erwerber ihm faktisch zuzurechnende Stimmrechte jederzeit entstehen lassen. Damit handelt es sich im Ergebnis um einen auflösend bedingten vertraglichen Verzicht auf die Ausübung des Stimmrechtes. Eindeutig hat das Bundeskartellamt einen einfachen Optionsvertrag als hinreichenden Einfluß gedeutet, um einen Zusammenschlußtatbestand anzunehmen 13 . Als Optionsgeber trat eine Bank auf, die eine Mehrheit an einem Unternehmen erworben hatte. Die Bank übertrug 24 % der Anteile auf den Erwerber. Im Hinblick auf die noch bei der Bank verbliebenen 26 % wurde die Option vereinbart, wobei der Kaufpreis den Anschaffungskosten der Bank gleichgestellt wurde. Als entscheidend sah die Kartellbehörde es an, „daß bereits ein vom Willen des Vertragspartners unabhängiges und jederzeit ausübbares Recht auf den Erwerb stimmberechtigter Anteile schon vor Ausübung eines solchen Erwerbsrechts bedeutsame Einflußmöglichkeiten eröffnet und daher von Anfang an dem Anteilserwerb gleichzusetzen ist". Etwas einschränkend heißt es anschließend, daß zumindest in Fällen, in denen der Erwerber bereits Gesellschafter ist, umfangreiche Einflußmöglichkeiten bestehen. Der Erwerber könne jederzeit und einseitig seinen Einfluß auf Kosten des Optionsgebers verstärken 14 . Zur Bedeutung dieser Entscheidung ist allerdings zu beachten, daß sie vor den hier zunächst genannten, eine Beurteilung der Option als Zu-

12 Dieser Erwerb war vor Inkrafttreten der 5. GWB-Novelle für sich noch nicht als Zusammenschlußtatbestand anzusehen; dazu Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 155. 13 Bundeskartellamt W u W / E 2087, 2089 „Klöckner-Seitz". 14 Wiedergabe dieser Entscheidung auch im Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 1983/1984, S. 75.

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sammenschlußtatbestand ablehnenden BGH-Entscheidungen ergangen ist. Sie stützte sich daher im wesentlichen auf den Beschluß des B G H in „Springer az-Anzeigenblatt". Unter Beachtung dieser Entscheidungspraxis erscheint es ausgeschlossen, Optionen als Erwerb von Anteilen und damit als Zusammenschlußtatbestand zu würdigen. Maßgeblich ist auch nach den vorliegenden Entscheidungen, ob ein strukturell gesicherter Einfluß durch den Optionsvertrag vermittelt wird. Die Entscheidung „Springer az-Anzeigenblatt" zeigt jedoch, daß Einflußpositionen, in diesem Fall gesellschaftsrechtlich abgesichert und letztlich auf die Ausübung zusätzlicher Stimmrechte bezogen, bereits dem Erwerbstatbestand zugerechnet werden können. Das Gericht bezog sich insoweit auf den Normzweck der Vorschrift. Es hat damit die Bedingung struktureller Absicherung des von Anteilen ausgehenden Einflusses verlassen. Daraus folgt im Ergebnis, daß im Zusammenhang mit Optionsvereinbarungen zu prüfen sein wird, welche - auch indirekten - Möglichkeiten bestehen, die Ausübung der von der Option betroffenen Stimmrechte zu beeinflussen. Werden derartige Möglichkeiten erkannt, so muß jedoch nicht der Erwerbstatbestand verwirklicht sein, der nicht überdehnt werden darf. Andere Vorschriften des § 23 Abs. 2 G W B können zur Annahme eines Zusammenschlusses führen. II. Die Option als Zusammenschlußtatbestand nach § 23 Abs. 2 Satz 2 G W B Nach dieser Zurechnungsklausel zählen zu den Anteilen, die einem Unternehmen gehören, auch die für seine Rechnung von einem anderen gehaltenen Anteile. Das Bundeskartellamt hat in der bereits genannten Entscheidung „Klöckner-Seitz" 1 5 den dort behandelten Optionsvertrag in der Weise gewürdigt, daß die vom Optionsgeber gehaltenen Anteile dem Optionsnehmer zugerechnet werden. Der Beschluß der Kartellbehörde stützte sich insbesondere auf drei Argumente. Der Optionsnehmer zahlte dem Optionsgeber einen bestimmten Zins auf den bereits vereinbarten Kaufpreis. Darin wurde eine Renditegarantie gesehen. Dadurch wurde der Optionsgeber vom Ertragsrisiko freigestellt. Ferner wurde er auch nicht einer möglichen Erlösminderung bei einem Verkauf der Aktien ausgesetzt, da die Verlängerung der Option zu unveränderten Konditionen verlangt werden konnte. Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß der vereinbarte Kaufpreis den Anschaffungskosten des Optionsgebers entsprach.

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Bundeskartellamt W u W / E 2087.

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Schließlich wurde von einer Gesamtkonzeption der Vereinbarungen in dem Sinne gesprochen, daß der Optionsgeber zu seinem Engagement nur bereit war, wenn die damit verbundenen Risiken hinreichend abgesichert waren. Eine derartige Interpretation der hier herangezogenen Zurechnungsklausel wird auch vom Schrifttum geteilt. Im Grunde geht es um die Erfassung von Sachverhalten, die einem Treueverhältnis nahekommen. Ein solches Verhältnis kann angenommen werden, wenn das wirtschaftliche Risiko des Anteilseigners tatsächlich bei einem anderen liegt16. Hierfür spricht die Vereinbarung eines festen Preises sowie einer Ertragsgarantie. Das Kammergericht hat in einem derartigen Zusammenhang auch berücksichtigt, daß zusätzlich zu einer Minderheitsbeteiligung eine Option bestand, deren Ausübung ohne weiteres zu einem Zusammenschlußtatbestand geführt hätte. Ferner wurde der Gesamtzusammenhang von Erwerbsvorgängen als Absicht gewertet, ein Zusammenschlußvorhaben durchzuführen 17 . In diesem Zusammenhang wird ferner darauf hingewiesen, daß die Fusionskontrolle nicht nur die Übertragung unternehmerischer Leitungsmacht, sondern auch die Übertragung unternehmerisch genutzter Ressourcen zum Gegenstand habe. Ein Treuhandverhältnis führt daher unabhängig von vereinbarten Weisungsrechten zu einem Zusammenschluß mit dem Treugeber18. In dieser Position kann auch ein Optionsnehmer stehen. Das vertragliche Umfeld einer Option wird daraufhin zu untersuchen sein. III. Der Optionsvertrag als Umgehungstatbestand Nach § 23 Abs. 2 S. 4 GWB gilt als Zusammenschluß auch der Erwerb von Anteilen, soweit dem Erwerber durch Vertrag, Satzung, Gesellschaftsvertrag oder Beschluß eine Rechtsstellung verschafft ist, die bei der Aktiengesellschaft ein Aktionär mit mehr als 25 % des stimmberechtigten Kapitals innehat. Bei Vorliegen eines Optionsvertrages ist danach zu prüfen, ob dieser allein oder im Zusammenhang mit anderen rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen zu den rechtlichen Möglichkeiten des Inhabers einer Sperrminorität führt. In der Literatur wird im Optionsvertrag ein mögliches Element im Rahmen dieses Umgehungstatbestandes gesehen19. " Hierzu Monopolkommission Hauptgutachten 1980/1981, Tz. 549. 17 KG WuW/E OLG 2433, 2436 „Metro-Kaufhof". 18 KG WuW/OLG 3367, 3369 „Metro-Kaufhof"; Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 254; vgl. auch Kleinmann/Bechthold, 2. Aufl. 1989, Rdn. 384. " Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 470 in Fn. 64.

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Allein kann ein Optionsvertrag nicht als Verwirklichung dieses U m gehungstatbestandes angesehen werden. Das Gesetz geht ausdrücklich davon aus, daß es sich um die Rechtsstellung des Inhabers einer Sperrminorität handeln muß. Diese muß auf den genannten rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen beruhen. Der Optionsvertrag selbst verschafft diese Rechtsstellung jedoch nicht. Etwa mit ihm verbundene tatsächliche Einflußmöglichkeiten haben keinen rechtlichen Charakter. Eine Umgehung des Zusammenschlußtatbestandes ist jedoch nicht nur bei Erfüllung der ausdrücklichen Umgehungsvorschrift denkbar. Es gelten vielmehr auch die zur Gesetzesumgehung allgemein entwickelten Grundsätze 20 . Ein Umgehungsgeschäft liegt vor, wenn ein Rechtsgeschäft zwar nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, aber so konzipiert ist, daß im Ergebnis der widerrechtliche Erfolg eintritt 21 . Es geht mit anderen Worten um Rechtsgeschäfte, deren Gültigkeit an sich keinen Bedenken untersteht, wenn sie nicht den Umgehungscharakter hätten. Es läßt sich daher von einer atypischen Funktion eines an sich zulässigen Geschäftes sprechen. Die Rechtsfolge eines derartigen Geschäftes führt zu dessen Nichtigkeit. Für diese Rechtsfolge wird eine Umgehungsabsicht verlangt. Dieses subjektive Merkmal könnte in Fällen gegeben sein, in denen an sich eine Mehrheitsbeteiligung erworben werden soll, aus kartellrechtlichen Gründen jedoch eine Aufteilung in eine Minderheitsbeteiligung und eine Option auf die verbleibenden Anteile erfolgt. Dann bleibt jedoch festzustellen, ob durch diese Aufteilung eine atypische Funktion des Optionsvertrages vorliegt, die den widerrechtlichen Erfolg, nämlich den Zusammenschluß, bewirkt. Bezogen auf den Zusammenschlußtatbestand des § 23 Abs. 2 Nr. 2 a G W B läßt sich das kaum sagen. Der in dieser Vorschrift vorausgesetzte Vollerwerb der Anteile findet durch den Vertrag nicht statt. Etwas anderes kann jedoch für die Zurechnungsklausel des § 23 Abs. 2 S. 2 G W B gelten. In einer besonderen Ausgestaltung des Optionsvertrages, die zu einer weitgehenden Übertragung des wirtschaftlichen Risikos auf den Optionsnehmer führt, ist der verbotene Erfolg zu sehen. Denn es kommt auch in diesem Zusammenhang auf die bereits für die Erfüllung der Zurechnungsklausel erwähnten materiellen Gesichtspunkte an. Maßgeblich ist, daß als Folge der Ausgestaltung des Optionsvertrages im Ergebnis das wirtschaftliche Verfügungsrecht dem Optionsnehmer zugerechnet werden kann. Der Optionsvertrag hat daher unter den besonderen Umständen seines Abschlusses eine atypische Funktion, da er nicht nur den zukünfti20 Vgl. hierzu Regierungsbegründung zu dem Entwurf eines vierten Gesetzes zur Änderung des GWB, BTDrucks 8/2136, S. 19. 21 Hierzu und zum folgenden MünchKomm-Mayer-Maly, 3. Aufl., § 134 Rdn. 11 f.

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gen Erwerb der Anteile sichert, sondern bereits Einfluß vermittelt. Der Umgehungscharakter des Vertrages führt in Verbindung mit der eindeutigen Umgehungsabsicht zu seiner Nichtigkeit 22 . IV. Der Optionsvertrag als Instrument zur Beherrschungsmöglichkeit Nach § 23 Abs. 2 Nr. 5 GWB gilt auch eine sonstige Verbindung von Unternehmen als Zusammenschluß, wenn hierdurch ein beherrschender Einfluß auf ein anderes Unternehmen ausgeübt werden kann. Mit dieser Vorschrift ist auf rechtliche oder wirtschaftliche Bindungen zwischen Unternehmen verwiesen23. Es ist bereits fraglich, ob durch Optionsverträge derartige Bindungen bewirkt werden können. Dem Optionsnehmer wird nicht die rechtlich gesicherte Möglichkeit eingeräumt, auf Entscheidungen des vom Optionsgeber geführten Unternehmens einzuwirken. Allenfalls könnte an wirtschaftliche Bindungen gedacht werden. Es ist unstreitig, daß der beherrschende Einfluß zunächst im Anschluß an den Abhängigkeitsbegriff des § 17 Abs. 1 AktG zu ermitteln ist24. Die aktienrechtliche Abhängigkeit ist aus der Sicht des abhängigen Unternehmens heraus zu definieren. Die Beherrschung setzt nach allgemeiner Auffassung voraus, daß die Möglichkeit der Ausübung eines beherrschenden Einflusses sicher ist25. Der Literatur läßt sich, soweit ersichtlich, nicht entnehmen, daß Optionen einen derartigen Einfluß gewährleisten. Vielmehr heißt es: „Eine Option auf Übernahme von Aktien wirkt nicht abhängigkeitsbegründend, weil der mit ihr möglicherweise verbundene Einfluß nicht sicher ist"26. Allerdings ist zu beachten, daß der aktienrechtliche Abhängigkeitsbegriff nach überwiegender Auffassung in der Literatur nicht völlig mit dem des beherrschenden Einflusses im Fusionskontrollrecht identisch ist. Beide Normen verfolgen unterschiedliche Zwecke. Das Aktienrecht schützt das abhängige Unternehmen, seine Aktionäre und Gläubiger gegen Benachteiligungen durch ein herrschendes Unternehmen. Demgegenüber hat der hier beurteilte Zusammenschlußtatbestand die Aufgabe, die für die Fusionskontrolle maßgebliche wirtschaftliche Unterneh-

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B G H Z 5,133, 136; B G H Z 8, 23, 32; B G H N J W 1960, 524. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 227. 24 Vgl. nur Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl., S. 374 m. w. N.; aus der Rechtsprechung B G H Z 74,359, 364. 25 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar, 2. Aufl., § 17 Rdn. 18 m. w. N . auch aus der Rechtsprechung. 26 Koppensteiner, aaO; ferner Möhring, FS Westermann 1974, S. 427, 436. 23

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menseinheit zu ermitteln27. Im Ergebnis wird daraus geschlossen, daß der Fusionskontrolle ein weiter gefaßter Verbundbegriff zugrundeliegt28. Wettbewerbsrechtlich ist daher für die Annahme eines beherrschenden Einflusses entscheidend, daß ein Unternehmen gegenüber einem anderen seine eigenen unternehmerischen Interessen durchsetzen und damit dessen Wirtschaftsplanung bestimmen kann. D a es bei der Fusionskontrolle um die Beurteilung struktureller Marktveränderungen geht, muß die qualifizierte Einflußnahme - auch als Möglichkeit gesichert sein. Es geht um einen bestimmenden Zugang zu der unternehmerischen Entscheidungssphäre des anderen 29 . Dieser wird durch einen Optionsvertrag grundsätzlich nicht vermittelt. V. Begründung wettbewerblich erheblichen Einflusses durch den Optionsvertrag? Aufgrund der 5. GWB-Novelle von 1990 ist ein Zusammenschlußtatbestand auch gegeben, wenn eine Verbindung zwischen Unternehmen dazu führt, daß ein Unternehmen auf ein anderes einen wettbewerblich erheblichen Einfluß ausüben kann (§ 23 Abs. 2 Nr. 6 GWB). Es handelt sich hier um einen Auffangtatbestand, der im Verhältnis zu den in Bezug genommenen Zusammenschlußtatbeständen subsidiär ist30. Es muß sich daher zunächst um eine Unternehmensverbindung der in den Nrn. 2, 3 und 5 des § 23 Abs. 2 genannten Art handeln, die aber die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Zusammenschlußtatbestände nicht erfüllt. Aus der Regierungsbegründung geht hervor, daß mit diesem Bezug auf andere Zusammenschlußtatbestände sichergestellt sein soll, daß nur Fälle gesellschaftsrechtlich vermittelter Unternehmensverbindungen erfaßt werden. Außerdem wird hier auf die Rechtsprechung des B G H zum aktienrechtlichen Abhängigkeitsbegriff hingewiesen, die ebenfalls eine gesellschaftsrechtliche Grundlage jeglicher Beherrschung voraussetzt31. Bereits diese tatbestandliche Voraussetzung des neuen Auffangtatbestandes ist nicht gegeben, da die Option als bloß schuldrechtlicher Anspruch auf die Ausübung eines Rechtes keinen gesellschaftsrechtlich

27 Diese Fragen werden in der Literatur insbesondere anhand der sog. Verbundklausel des § 23 Abs. 1 G W B erörtert. 28 Hierzu Langen!Kuppelt, KartR (7. Aufl.), § 23 Rdn. 42; Mestmäcker, in: Immenga/ Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 40 mit Nachw. auch zu einschränkenden Auffassungen. 29 Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., S. 427. 30 Unstreitig vgl.Jickeli, WuW 1990, 481, 482; Bechtold, B B 1990, 357, 360. 31 Begründung zum Regierungsentwurf von 1989, B T D r u c k s 11/4610, S. 20 unter Verweis auf B G H Z 90, 381 f.

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vermittelten Einfluß gewährt32. Insbesondere ist auch nicht der in der Regierungsbegründung 33 erwähnte Fall gegeben, daß zu einer bloßen Minderheitsbeteiligung Informations-, Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten hinzukommen. Außerdem ist der für den Zusammenschlußtatbestand erforderliche Wettbewerbsbezug nicht erkennbar. Er kann nur durch die Möglichkeit begründet werden, „die interne Willensbildung des anderen Unternehmens so zu beeinflussen, daß es den im einzelnen nicht vorhersehbaren, durch die Struktur der beteiligten Unternehmen jedoch erkennbaren Wettbewerbsinteressen des beteiligten Unternehmens Rechnung trägt" 34 . Diese Voraussetzungen liegen bei einem Optionsverhältnis nicht vor. Es läßt sich jedoch nicht ausschließen, daß es in Verbindung mit einer substantiellen Minderheitsbeteiligung und anderen Vereinbarungen im oben dargestellten Sinne zu einer wettbewerblich erheblichen Einflußnahme kommen kann. VI. Optionsvertrag und Kartellverbot Im Schrifttum ist untersucht worden, ob der Optionsvertrag als Kartellverbot i. S. d. § 1 GWB qualifiziert werden kann35. Rechtsfolge wäre die Unwirksamkeit des Vertrages. Anlaß für die Fragestellung war eine Entscheidung des Bundeskartellamtes, die auf einen Sachverhalt nebeneinander die §§ 23 ff sowie § 1 GWB anwandte 36 . Im Ergebnis wird die gleichzeitige Anwendbarkeit des Kartellverbotes neben der Fusionskontrolle abgelehnt. Dazu wird auf anerkannte Unterscheidungen zwischen Fusionskontrolle und Kartellverbot zurückgegriffen 37 . Daher müsse auch die Einräumung einer Option als einer auf einen zukünftigen Zusammenschluß gerichteten Maßnahme, als Vorstufe zu einem Zusammenschluß zulässig bleiben38. Damit bleibt allerdings unbeachtet, daß ein Optionsvertrag mit Wirkung auf ein konkurrierendes Unternehmen als Vertragspartner ebenso wie eine Minderheitsbeteiligung an einem konkurrierenden Unternehmen unter Umständen das Kartellverbot erfüllen kann. In beiden Fällen liegt die Annahme nicht fern, daß allein

32 So ausdrücklich auch Tessin/Rohling, Die Beurteilung von Optionen nach deutschem und europäischem Kartellrecht, FS Quack 1991, S. 681, 684. 33 AaO. 34 Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 23 Rdn. 243. 33 Tessin/Rohling, in: FS Quack, aaO, S. 681 f. 36 Bundeskartellamt WuW/E BKartA 2087 „Heidelberger Zement/Malik". Diese Entscheidung ist vereinzelt geblieben und systematisch bedenklich; vgl. auch Klaue, in: Schwerpunkte des Kartellrechts 1987/88, 1989, S. 53. 37 Vgl. hierzu Immenga, in: Immenga/Mestmäcker, aaO, § 1 Rdn. 25. 38 Tessin/Rohling, aaO, S. 690.

Kartellrechtliche Wirkungen von Aktienoptionen

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aufgrund dieser rechtsgeschäftlichen Beziehungen gegenüber dem Optionsnehmer bzw. gegenüber dem Inhaber einer Minderheitsbeteiligung bei unternehmerischen Entscheidungen Rücksichten auf unternehmerische Interessen genommen werden, wodurch auch wettbewerbliche Auswirkungen denkbar sind. Die hiermit verbundenen Fragen sind im einzelnen für eine Minderheitsbeteiligung erörtert worden 39 . Zunächst ist zu prüfen, ob ein von einem gemeinsamen Interesse getragener Vertrag vorliegt. Das wird unter Umständen auch für den Optionsvertrag zu bejahen sein, da es nach neuerer Rechtsprechung allein darauf ankommt, ob die Vereinbarung aktuellen oder potentiellen Wettbewerb zwischen den Vertragsbeteiligten betreffen kann 40 . Das ist der Fall, auch wenn die Option sich auf einen künftigen Kaufvertrag bezieht. Maßgeblich ist, daß er gleichzeitig Wettbewerbsinteressen berührt. N u r für den Einzelfall ist zu entscheiden, ob eine Verbindung zwischen der Vereinbarung und möglichen Wettbewerbsbeschränkungen hergestellt werden kann. Die Rechtsprechung stellt darauf ab, ob eine bestimmte Verhaltensweise der Beteiligten oder die Ausübung ihrer Handlungsfreiheit in einer bestimmten Richtung von den gemeinsamen Zielvorstellungen der vertraglichen Vereinbarung her gesehen als kaufmännisch vernünftig zu erwarten ist41. Insoweit wäre im einzelnen zu prüfen, ob aufgrund der besonderen Umstände eines Optionsvertrages zu erwarten ist, daß wechselseitige Rücksichtnahmen der Vertragspartner erfolgen. Dann kommt es auf die unternehmerischen Interessen der Beteiligten an. Kartellverhalten läge nahe, wenn von einer engen Zusammenarbeit gesprochen wird. Insbesondere kann auch eine weitgehende Zuweisung des wirtschaftlichen Risikos an den Optionsnehmer dafür sprechen, daß der Optionsgeber sich im Wettbewerb tatsächlich zurückhält. Ein derartiges Verhalten wäre somit im Sinne der Rechtsprechung als kaufmännisch vernünftig zu erwarten. In diesem Zusammenhang können auch Informationsmöglichkeiten über die den Vertragspartnern verbundenen Unternehmen eine Rolle spielen. Die Wahrscheinlichkeit einer wettbewerbsrelevanten Zusammenarbeit der Beteiligten könnte sich auch ohne ausdrückliche Nebenabreden aus den Umständen ergeben. In diesem Sinne hat der E u G H auf eine konzentrierte Marktstruktur, personelle Verflechtungen, Möglichkeiten des Informationsaustausches sowie auf den sonstigen Tätigkeitsbereich und die Eigenart der beteiligten Unternehmen hingewiesen 42 . " Vgl. hierzu und zum folgenden Immenga, in: FS Benisch 1989, S. 327, insbes. 331 ff. , 0 Vgl. nur W u W / E B G H 2285, 2287 „Spielkarten". " B G H Z 65, 30, 40 = WuW/E B G H 1367, 1372 „Zementverkaufsstelle Niedersachsen". « E u G H Rs. 142 und 186/84, Slg. 1987,4566,4577 „B.A.T. & Reynolds/Kommission", dazu Immenga/Fucbs, N J W 1988, S. 3052 f.

Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB Zu den Abwägungsgrundsätzen der Rechtsprechung

JOACHIM V. UNGERN-STERNBERG

I. Unter den Verfahren des Kartellsenats des Bundesgerichtshofs, dessen Rechtsprechung der Jubilar als Vorsitzender maßgeblich mitgeprägt hat, bilden die Anwendungsfälle des § 26 Abs. 2 G W B die weitaus größte Gruppe. Diese Verfahren, in denen es um den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht durch Behinderung oder Diskriminierung anderer Unternehmen geht, werden fast durchweg von den Betroffenen unter Berufung auf die zivilrechtlichen Ansprüche aus § 35 G W B eingeleitet, nur selten von den Kartellbehörden (§ 37a Abs. 2 G W B ) oder den nach § 35 Abs. 3 G W B prozeßführungsbefugten Verbänden. Die nach § 26 Abs. 2 G W B zu entscheidenden Interessengegensätze werden daher im Prozeß meist unmittelbar zwischen den Betroffenen selbst ausgetragen. Immer aber geht es nicht nur um das Verhältnis der Prozeßparteien zueinander, sondern auch um die großen Themen des Kartellrechts: Freiheit des Wettbewerbs und Schutz gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht. Der Kampfplatz, auf dem die Entscheidung regelmäßig fällt, ist das Feld der Interessenabwägung, durch die bestimmt wird, ob eine Behinderung unbillig ist und einer Ungleichbehandlung ein sachlich gerechtfertigter Grund fehlt. II. Die stetig erneuerte Vielfalt der Formen und Bedingungen des Wettbewerbs erschwert die Grenzziehung zwischen kartellrechtlich erlaubtem und unerlaubtem Wettbewerb. Eine genaue Analyse der Besonderheiten des Einzelfalles ist daher Grundlage für eine gerechte Entscheidung. Dies bedeutet aber nicht, daß das Ergebnis der Rechtsprechung zum Behinderungs- und Diskriminierungsverbot nur ein unübersichtliches Fallrecht sein kann, das allenfalls die Bildung typologischer Fallgruppen erlaubt. Von der Rechtslehre und der Rechtsprechung sind vielmehr allgemeine Rechtsgrundsätze für die Interessenabwägung erarbeitet worden, die deren Ergebnis für die Beteiligten vorhersehbar machen sollen. Als Richtschnur für die Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 G W B wird vom Kartellsenat des Bundesgerichtshofs in ständiger Rechtspre-

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chung - zurückgehend auf das Urteil vom 27. 9.1962 (BGHZ 38, 90, 102 - Grote Revers) - schon geradezu formelhaft ein Grundsatz vorgegeben: Nach diesem ist die Frage, ob eine Behinderung unbillig oder eine Ungleichbehandlung ohne sachlich gerechtfertigten Grund ist, zu beurteilen aufgrund einer Gesamtwürdigung und Abwägung der wirtschaftlichen Individualinteressen der Beteiligten unter Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes.1 Diese Wendungen sind so allgemein gehalten, daß der Erkenntnisgewinn auf den ersten Blick gering zu sein scheint. Es wird nichts Näheres darüber gesagt, wessen wirtschaftliche Individualinteressen abwägungsfähig sind, ob dies für alle derartigen Interessen gilt und in welcher Weise die auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichtete Zielsetzung des Gesetzes zu berücksichtigen ist. Andererseits trifft aber auch die Kritik von Carlhoff2 nicht zu, die Standardformulierung der Rechtsprechung habe Leerformelcharakter und gebe nur einen allgemein anerkannten Grundsatz der Gesetzesauslegung wieder. Denn die Formel beinhaltet mehr als den Verweis auf den Gesetzeszweck. Sie besagt auch, daß das Verhalten des Normadressaten bei der - in Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden - Prüfung nicht anhand der guten Sitten (§ 138 BGB) oder von Grundsätzen des lauteren Wettbewerbs (§ 1 UWG) zu beurteilen ist, sondern nach eigenen kartellrechtlichen Maßstäben und deshalb maßgeblich unter dem Gesichtspunkt der Freiheit des Wettbewerbs. 3 Diese kartellrechtliche Ausrichtung der Interessenabwägung ist im Urteil des Kartellsenats „Abwehrblatt II" 4 verdeutlicht: Dort wird ausgeführt, für die Frage, ob eine objektiv vorliegende Behinderung unbillig sei, komme es darauf an, ob unter mißbräuchlicher Ausnutzung der Wettbewerbsfreiheit - die Handlungsfreiheit des betroffenen Unternehmens unangemessen eingeschränkt und dadurch eigene Interessen in rechtlich zu mißbilligender Weise auf Kosten des betroffenen Unternehmens verwirklicht werden sollen. Es überrascht nicht, daß die sehr allgemein gefaßten Abwägungsgrundsätze der Rechtsprechung in der Literatur nicht nur auf Zustimmung gestoßen sind. So hat insbesondere Lukes5 kritisiert, es sei dem Bundesgerichtshof mit der von ihm verwendeten Formel nicht gelun-

1 Vgl. B G H Z 107, 273, 280 - Staatslotterie; B G H WuW/E 2479, 2482 - Reparaturbetrieb m. w. N . Vgl. Frankfurter Kommentar zum GWB, § 26 Rdn. 244, 257. 3 Vgl. dazu auch B G H WuW/E 2977. 2980 f - Hitlisten-Platten. 1 B G H Z 96, 337, 347; v. Gamm, Kartellrecht, 2. Aufl. 1990, § 26 Rdn. 40 m. w. N . 5 BB 1986, 2074, 2076.

Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB

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gen, den Instanzgerichten eine von diesen verwendbare Richtlinie zur Interessenabwägung zur Verfügung zu stellen; dies belege bereits die ständige Aufhebung oberlandesgerichtlicher Urteile wegen fehlerhafter Interessenabwägung. Andererseits hat sich aber auch in der Literatur kein Gegenkonzept durchgesetzt. Die Versuche, die Interessenabwägung im Rahmen des § 26 Abs. 2 G W B vor allem danach vorzunehmen, ob ein Verhalten des Normadressaten dem Leistungs- oder dem Nichtleistungswettbewerb zuzuordnen ist6, werden überwiegend zu Recht abgelehnt.7 Als Maßstab ist dieses Kriterium schon deshalb ungeeignet, weil der Versuch, eine klare Grenzlinie zwischen dem Leistungs- und dem Nichtleistungswettbewerb zu ziehen, aussichtslos erscheint. Den Begriffen fehlt zudem - wie zu Recht geltend gemacht worden ist8 - der erforderliche strikte Bezug zur Freiheit des Wettbewerbs, der letztlich für die Auslegung des § 26 Abs. 2 G W B maßgeblich sein muß. Trotz aller Unschärfe in ihrem Begriffshof haben die Begriffe des Leistungswettbewerbs und des Nichtleistungswettbewerbs jedoch einen harten Kern, der auch eine Aussage darüber enthält, welche Art von Wettbewerb das G W B in jedem Fall verhindern will.9 Deshalb hat der Kartellsenat in manchen Entscheidungen zu § 26 Abs. 2 G W B auch darauf abgestellt, ob eine Maßnahme selbst leistungsgerecht ist oder Leistungswettbewerb verhindert.10 Eine weitergehende Tendenz wird den Entscheidungen aber nicht entnommen werden können. Wenn die Standardformel der Rechtsprechung zur Auslegung der Begriffe „unbillig" und „ohne sachlich gerechtfertigten Grund" trotz ihrer Unbestimmtheit weithin als Grundlage für die Rechtsanwendung anerkannt wird, so hat dies teilweise wohl weniger mit überzeugter Zustimmung als mit einer gewissen Resignation, etwas Besseres werde sich nicht finden lassen, zu tun.11 Eine Erklärung liegt aber auch darin, daß die umfangreiche Rechtsprechung zu § 26 Abs. 2 G W B zahlreiche Einzelfragen geklärt hat. Der damit verbundene Gewinn an Rechtssicherheit, der das Bedürfnis nach einer Änderung der Standardformel sicher vermindert hat, wird bei einer Durchsicht der abschließenden Revisions6 Vgl. insb. P. Ulmer GRUR 1977, 565, 576 f und in: Festschrift für v. Gamm, 1990, S. 677, 684; Carlhoff (Fn. 2) § 26 Rdn. 257 ff m. w. N. 7 Vgl. Möschel, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rdn. 101 ff; Marken ebenda § 26 Rdn. 206 ff, jeweils m. w. N. 8 Vgl. insb. Möschel (Fn. 7) m. w. N. ' Vgl. dazu auch Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 5. Aufl. 1995, § 1 Rdn. 24 und § 2 Rdn. 18 ff (zur Bedeutung des Begriffs des Leistungswettbewerbs bei der Anwendung des UWG); § 11 Rdn. 8 ff (zum Merkmal „Wirksamkeit eines leistungsgerechten Wettbewerbs" in § 28 Abs. 2 GWB). 10 BGH WuW/E 1238, 1243 - Registrierkassen; BGHZ 96, 337, 346 f - Abwehrblatt II; 107, 273, 278 f - Staatslotterie; 114, 218, 234 f - Einzelkostenerstattung. 11 Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, § 19, 6 b aa; Carlhoff (Fn. 2) § 26 Rdn. 259.

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entscheidungen des Kartellsenats des Bundesgerichtshofs (Urteile und Nichtannahmeentscheidungen) der Jahre 1989 bis 1995 erkennbar: Danach sind Fälle, in denen die Interessenabwägung der Oberlandesgerichte vom Kartellsenat des Bundesgerichtshofs im Ergebnis als rechtsfehlerhaft angesehen wird, nicht häufig. In 46 Revisionsverfahren, bei denen die Frage der Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB entscheidungserheblich war, entschied der Kartellsenat nur in 6 Fällen anders als die Vorinstanz, davon in 2 Fällen selbst abschließend in der Sache und in 4 Fällen durch Aufhebung und Zurückverweisung. Für die Zeit davor hat Carlhoffn aufgrund einer eingehenden Analyse festgestellt, daß sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Form eines exakten Auslegungsmusters Gründe zur Bewertung der jeweiligen Interessen herauskristallisiert hätten, die im einzelnen eine durchaus einheitliche Linie bei der Bewertung gleicher Sachverhalte und hier wiederum vergleichbarer sich gegenüberstehender Interessen erkennen ließen. III. Auch wenn die Abwägungsformel der Rechtsprechung als Auslegungsgrundlage kaum durch eine andere mit neuer Grundkonzeption ersetzbar ist, so weist sie doch in ihrer konkreten Ausgestaltung unverkennbar Schwächen auf. 1. Die zentrale Bedeutung der Freiheit des Wettbewerbs für die Interessenabwägung wird mit der Abwägungsformel nur wenig deutlich zum Ausdruck gebracht. a) Wird die Formel wörtlich verstanden, so handelt es sich bei der Beurteilung, ob ein Verhalten des Normadressaten unbillig oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund ist, im wesentlichen um eine Abwägung von Individualinteressen der Beteiligten; die Freiheit des Wettbewerbs wäre dabei als Zielsetzung des GWB lediglich - irgendwie - „zu berücksichtigen". Es geht jedoch bei § 26 Abs. 2 GWB nicht einfach um den Ausgleich irgendwelcher Interessen zweier Marktteilnehmer. Die Vorschrift ist vielmehr Grundlage für Eingriffe in die Wettbewerbsfreiheit des Normadressaten, um auf diese Weise die Wettbewerbsfreiheit anderer Marktteilnehmer und damit die Freiheit des Wettbewerbs als Institution zu sichern.13 Dementsprechend geht es bei der Anwendung des § 26 Abs. 2 GWB maßgeblich - wenn auch nicht ausschließlich - darum, die 12 Das Diskriminierungsverbot nach § 26 Abs. 2 GWB in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 1988, S. 221 f. 13 Vgl. B G H W u W / E 2855, 2857 - Flaschenkästen.

Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB

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Interessen der Beteiligten an wirtschaftlicher Entfaltungsfreiheit und das Interesse der Allgemeinheit an einem freien Wettbewerb, das je nach Fallgestaltung zugunsten der einen oder der anderen Seite sprechen kann, gegeneinander abzuwägen. Dabei müssen sich die geltend gemachten Interessen der Beteiligten auch an der Zielsetzung des GWB, die Freiheit des Wettbewerbs zu erhalten, messen lassen.14 b) Die Rechtsprechung hat stets betont, daß auch der Normadressat die Freiheit des Wettbewerbs für sich in Anspruch nehmen kann. Einschränkungen seiner Betätigungsfreiheit muß er grundsätzlich nur hinnehmen, wenn dies im Interesse der Freiheit des Wettbewerbs erforderlich ist. Andernfalls würde die Vorschrift des § 26 Abs. 2 G W B zum Hebel für eine Verwaltung des Wettbewerbs werden. Der Gedanke, daß bei der Anwendung des § 26 Abs. 2 G W B die Betätigungsfreiheit des Normadressaten grundsätzlich zu achten ist, findet sich in der Rechtsprechung in verschiedenen Ausprägungen wieder. Immer wieder wird in den Entscheidungen des Kartellsenats darauf hingewiesen, daß dem Normadressaten ein unternehmerischer Freiraum bei der Pflege und Gestaltung seines Absatzsystems und Verteilernetzes zuzubilligen ist.15 Normadressaten dürfen und sollen wie andere als Unternehmer handeln und haben deshalb auch bei der Entscheidung über ihre Preise und Konditionen einen unternehmerischen Freiraum.16 Sie dürfen zwar auch bei den Preisen und Konditionen nicht unbillig behindern oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund diskriminieren, dies bedeutet aber nicht, daß die Gewichtung der für Preise und Konditionen maßgeblichen Faktoren der vollen Nachprüfung durch die Gerichte unterliegt. Einschränkungen dieses grundsätzlich notwendigen unternehmerischen Gestaltungsspielraums bei Preisen und Konditionen bedürfen einer besonderen Begründung. Eine solche Beschränkung findet sich z. B. in § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 GWB. Diese Vorschrift, die auch bei der Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 G W B zu beachten ist17, hindert lokale Energieversorgungsunternehmen mit örtlicher Monopolstellung daran, den von regionalen Stromversorgern bezogenen Strom ohne weiteres 14 Vgl. B G H Z 81, 322, 339 - Original-VW-Ersatzteile II; B G H W u W / E 2535, 2540 Lüsterbehangsteine. 15 Vgl. B G H W u W / E 2755, 2758 - Aktionsbeträge; W u W / E 2983, 2988 - Kfz-Vertragshändler. 16 Vgl. B G H W u W / E 1429, 1435 - Asbach-Fachgroßhändlervertrag; W u W / E 1405, 1409 f - Grenzmengenabkommen; vgl. weiter Carlhoff (Fn. 2) § 26 Rdn. 320 m. w. N.; Schultz, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, § 26 Rdn. 197. Auch marktbeherrschende Verwertungsgesellschaften haben im Hinblick auf ihre Funktion und Struktur bei der Gestaltung ihrer Verteilungspläne einen gewissen Beurteilungsspielraum (BGH W u W / E 2497, 2503 - GEMA-Wertungsverfahren). 17 Vgl. dazu auch B G H Z 119, 335, 341 - Stromeinspeisung.

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nach eigenem Ermessen zu Preisen und Geschäftsbedingungen an die eigenen Abnehmer weiterzugeben, die ungünstiger sind als die Preise und Geschäftsbedingungen des regionalen Stromversorgers für gleichartige Abnehmer. Diese Entscheidung des Gesetzgebers rechtfertigt sich durch den Zweck der Mißbrauchsaufsicht nach § 103 Abs. 5 GWB, ein Korrektiv für das Fehlen von Wettbewerb bei der leistungsgebundenen Energieversorgung zu sein.18 Zur anzuerkennenden unternehmerischen Freiheit gehört auch, daß ein Unternehmen grundsätzlich nicht verpflichtet ist, im Interesse eines anderen Unternehmens tätig zu werden. Eine Kontrahierungspflicht, die eine solche Pflicht zum Tätigwerden für ein anderes Unternehmen mit sich bringen würde, kann dementsprechend auch bei Anwendung des § 26 Abs. 2 G W B nur ausnahmsweise und nur dann angenommen werden, wenn „mildere", d. h. die rechtliche und wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit des Normadressaten weniger beschränkende Verhaltenspflichten nicht ausreichen.19 Ebenso ist auch ein Normadressat grundsätzlich nicht verpflichtet, im Drittinteresse auf einen legalen Gewinn zu verzichten oder höhere Aufwendungen als notwendig auf sich zu nehmen.20 Ihn trifft grundsätzlich auch keine Pflicht, einen Wettbewerber zum eigenen Schaden zu fördern.21 Der Gedanke, daß ein Unternehmer grundsätzlich nicht gehalten ist, bei seiner Geschäftstätigkeit gesamtwirtschaftliche Belange wahrzunehmen, findet seinen Ausdruck darin, daß gesamtwirtschaftliche Interessen im Rahmen des § 26 Abs. 2 G W B als nicht abwägungsfähig angesehen werden.22 Der unternehmerische Freiraum eines Normadressaten darf gemäß § 26 Abs. 2 G W B auch nur insoweit beschränkt werden, als dies die Freiheit des Wettbewerbs erfordert. Aus diesem Grund treffen einen Unternehmer besondere Unterlassungspflichten nicht schon deshalb, weil er Normadressat ist, auch wenn er sich nicht anders als andere Marktteilnehmer auch verhält, sondern nur dann, wenn ein innerer (normativer) Zusammenhang zwischen seiner Marktstärke und der von seinem Verhalten ausgehenden Gefahr für die Freiheit des Wettbewerbs

18 Vgl. B G H ZIP 1995, 776, 780 - Weiterverteiler = W u W / E 2967, 2974 - Strompreis Schwäbisch-Hall. " Vgl. B G H W u W / E 2683, 2686 f - Zuckerrübenanlieferungsrecht. 20 Zu Ausnahmefällen vgl. B G H W u W / E 2707, 2716 - Krankentransportunternehmen II; W u W / E 2990, 2997 - Importarzneimittel. 21 Vgl. B G H W u W / E 2755, 2759 - Aktionsbeträge m. w. N.; vgl. aber auch - zu § 22 Abs. 4, § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 GWB - B G H Z 128,17, 36 ff - Gasdurchleitung. Kritisch hinsichtlich der Anerkennung des genannten Grundsatzes Marken W u W 1995, 560, 568 ff. 22 Vgl. B G H W u W / E 2707, 2715 - Krankentransportunternehmen II m. w. N.

Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB

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besteht.23 Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die konkrete Marktstärke des Normadressaten im Rahmen der Interessenabwägung von wesentlicher Bedeutung.24 c) Entsprechend der zentralen Bedeutung der Freiheit des Wettbewerbs bei der Anwendung des § 26 Abs. 2 G W B wird ein behindertes oder ungleich behandeltes Unternehmen nach dieser Vorschrift grundsätzlich nur um der Freiheit des Wettbewerbs willen geschützt. Die Zielsetzung des § 26 Abs. 2 G W B erlaubt insoweit keine Sonderrechte für bestimmte Arten von Unternehmen. Dies gilt auch für die in § 26 Abs. 2 und 4 G W B ausdrücklich genannten kleinen und mittleren Wettbewerber. Der Gesetzgeber hat allerdings dadurch, daß er durch die 5. GWB-Novelle § 26 Abs. 4 G W B in das Gesetz eingefügt hat, in besonderer Weise den Beitrag, den kleine und mittlere Unternehmen zu einem wirksamen Wettbewerb leisten, betont.25 Er hat damit auch das Allgemeininteresse daran hervorgehoben, diesen Beitrag nicht durch den Mißbrauch von Marktmacht seitens überlegener Wettbewerber gefährden zu lassen. Dieser Gedanke gilt nicht nur für die Auslegung der Verhaltenspflichten (lediglich) überlegener Wettbewerber nach § 26 Abs. 4 GWB, sondern auch bei der Anwendung des § 26 Abs. 2 GWB, der an die Normadressateneigenschaft strengere Anforderungen stellt. Eine - dem G W B fremde - strukturpolitische Zielsetzung kann aus der Gesetzesänderung aber nicht abgeleitet werden, erst recht kein Bestandsschutz für kleine und mittlere Wettbewerber. Das Gewicht der Interessen von Unternehmen, die behindert oder ungleich behandelt werden, ist im allgemeinen um so größer, je stärker in ihre wettbewerbliche Betätigungsfreiheit eingegriffen wird. Sehr weitgehende Verhaltenspflichten können ein marktmächtiges Unternehmen treffen, wenn sich die Verfolgung seiner Interessen durch Behinderung oder Ungleichbehandlung anderer Unternehmen für diese als Marktzutrittssperre auswirken würde.26 Es würde aber zu weit gehen, einen allgemeinen Grundsatz aufzustellen, wonach Maßnahmen eines Normadressaten immer dann unbillig wären, wenn sie für Wettbewerber zu einer Marktzutrittssperre führen. So könnte auch ein marktbeherrschender Großhändler nicht ohne weiteres gezwungen werden, Waren, die er mit guten Gründen nicht für genügend absetzbar hält, in sein Sortiment aufzunehmen. 23 Vgl. B G H G R U R 1989, 142, 146 - Sonderungsverfahren, mit Anmerkung Immenga; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rdn. 650; Carlhoff (Fn. 2) § 2 6 Rdn. 268. 2" Vgl. B G H W u W / E 2360, 2363 - Freundschaftswerbung. 25 Vgl. dazu B G H W u W / E 2977, 2981 - Hitlisten-Platten. 24 Vgl. B G H W u W / E 2707, 2716 - Krankentransportunternehmen II; B G H W u W / E 2990, 2997 - Importarzneimittel.

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In manchen Fällen hat der Gesetzgeber durch besondere Vorschriften zumindest verdeutlicht, daß der Entscheidungsspielraum des Normadressaten im Interesse der Öffnung der Märkte beschränkt sein soll. So kann ein Energieversorgungsunternehmen nach § 26 Abs. 2 i. V. mit § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 GWB verpflichtet sein, Elektrizität oder Gas für ein anderes Versorgungsunternehmen durch sein eigenes Leitungsnetz durchzuleiten und dies auch dann, wenn ein früherer eigener Abnehmer auf diese Weise durch einen Wettbewerber beliefert werden soll.27 Da auch sog. Importarzneimittel (Parallel- oder Reimporte) in den Apotheken verfügbar sein sollen, wie der Gesetzgeber in § 129 SGB V zum Ausdruck gebracht hat, können gemeinsam marktbeherrschende Pharmagroßhändler nach § 26 Abs. 2 GWB verpflichtet sein, solche Importarzneimittel zu führen, selbst wenn dies auf längere Sicht zu Lasten ihrer Gewinne gehen muß.28 Geschützt wird aber nur die wettbewerbliche Handlungsfreiheit des behinderten oder diskriminierten Unternehmens. Der rauhe Wind des Wettbewerbs kann und soll durch § 26 Abs. 2 GWB nicht von ihm abgehalten werden. Wie jedes andere Unternehmen auch muß der Begünstigte in erster Linie die eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, bevor er den Normadressaten in Anspruch nehmen kann.29 Wer falsch disponiert hat, kann den Folgen seiner Fehlentscheidungen nicht dadurch entgehen, daß er andere für seine Zwecke in die Pflicht nimmt.30 Ebensowenig darf ein abhängiges Unternehmen sein Investitionsrisiko mit Hilfe von § 26 Abs. 2 GWB auf das marktstarke Unternehmen verlagern oder aus der Vorschrift einen Anspruch auf Sozialschutz ableiten, auch wenn dies - wie bei den Beziehungen zwischen Kfz-Herstellern und ihren Vertragshändlern nicht selten der Fall sein wird - zu Härten führen kann.31 Erst recht darf nicht Geschäftsbeziehungen mit sich erzwingen, wer genügend Grund dafür gegeben hat, solche zu beenden oder zu vermeiden.32 2. Eine weitere Schwäche der Abwägungsformel der Rechtsprechung liegt darin, daß offenbleibt, wer als Beteiligter und damit als Träger mit abzuwägender Interessen anzusehen ist. Die Abwägungsformel läßt nicht erkennen, daß auch in diesem Punkt in der Rechtsprechung eine Klärung erreicht wurde. In der Ausgangsentscheidung „Grote Revers" Vgl. BGHZ 128, 17, 36 ff - Gasdurchleitung. Vgl. BGH WuW/E 2990, 2997 f - Importarzneimittel. 29 Vgl. dazu KG WuW/E OLG 4951, 4973. 30 Vgl. BGH WuW/E 2855, 2857 - Flaschenkästen; Benisch, in: GK zum GWB, 4. Aufl., § 26 Abs. 2 und 3 Rdn. 23. 31 Vgl. BGH WuW/E 2491,2495 - Opel-Blitz. 32 Vgl. BGH WuW/E 2491, 2496 - Opel-Blitz; WuW/E 2535, 2541 - Lüsterbehangsteine. 11

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Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 GWB

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(BGHZ 38, 90, 102) wurde noch von einer Abwägung der „beiderseitigen" Interessen gesprochen. Diese Formulierung trifft zwar den Regelfall, in dem nur Individualinteressen der an dem konkreten Verfahren Beteiligten abzuwägen sind, berücksichtigt aber nicht, daß auch Interessen Dritter abwägungsfähig sein können. Die Vorschrift des § 26 Abs. 2 GWB schützt nicht nur die von einer Maßnahme des Normadressaten unmittelbar - z. B. als abhängige Unternehmen - Betroffenen, sondern auch mittelbar behinderte oder unterschiedlich behandelte Unternehmen.33 Dementsprechend können - abhängig vom Verfahrensgegenstand - auch Interessen anderer durch § 26 Abs. 2 GWB geschützter Unternehmen mit abzuwägen sein.34 Darauf, ob diese auch selbst nach § 35, § 26 Abs. 2 GWB anspruchsberechtigt sind, was hinsichtlich der nur mittelbar betroffenen Unternehmen teilweise umstritten ist35, kommt es dabei nicht an. Die Interessen Dritter, die nicht zu dem Kreis der durch § 26 Abs. 2 GWB geschützten Unternehmen gehören, sind als solche grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig. 36 Mittelbar können sie jedoch bedeutsam werden, nämlich dann, wenn ihre Wahrung einem eigenen Interesse des Normadressaten oder eines durch § 26 Abs. 2 GWB geschützten Unternehmens entspricht.37 Unmittelbar abwägungsfähig werden Interessen 33

Vgl. B G H Z 81, 322, 328 - Original-VW-Ersatzteile II; B G H W u W / E 2875, 2880 Herstellerleasing. 34 Vgl. Marken (Fn. 7) § 26 Rdn. 197; Carlhoff (Fn. 2) § 26 Rdn. 252; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rdn. 651. 55 Nach dem Urteil B G H G R U R 1989, 142, 146 - Sonderungsverfahren (mit insoweit ablehnender Anmerkung von Immenga) kann ein mittelbar behindertes (kleines oder mittleres) Unternehmen, wenn es selbst nicht abhängig oder auf dem beherrschten Markt tätig ist, keine eigenen Ansprüche nach § 35, § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB geltend machen (ebenso v. Gamm [Fn. 4] § 26 Rdn. 22; a. A. Markert [Fn. 7] § 26 Rdn. 81 m. w. N.). Diese Entscheidung läßt sich in Einklang bringen mit dem Beschluß B G H Z 81, 322, 328 f - Original-VW-Ersatzteile II, weil dieser lediglich die Frage betraf, ob eine Untersagungsverfügung nach § 37a GWB außer auf die Behinderung abhängiger Unternehmen auch auf die mittelbare Behinderung von - selbst nicht unternehmensbedingt abhängigen - Wettbewerbern eines relativ marktstarken Unternehmens gestützt werden kann. Eine andere Frage ist es, ob es sinnvoll ist, den Kreis der nach § 35, § 26 Abs. 2 GWB Anspruchsberechtigten enger zu ziehen als den Kreis der durch § 26 Abs. 2 GWB geschützten Unternehmen. 36 Im Fall B G H Z 81, 322, 340 - Original-VW-Ersatzteile II - wurden auch die Interessen der VW-Vertragshändler berücksichtigt, aber wohl nicht allein deshalb, weil sie von der angegriffenen Maßnahme von VW betroffen waren, sondern weil diese Maßnahme sie gerade als abhängige Unternehmen i. S. des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB betraf (vgl. zu dieser Frage auch Lukes BB 1986, 2074,2078; a. A. Markert [Fn. 7] § 26 Rdn. 197). 37 Vgl. dazu B G H Z 52, 65, 72 f - Sportartikelmesse (Berücksichtigung der Interessen und Wünsche der Facheinzelhändler und Besucher einer Fachmesse bei der Beurteilung, ob der Messeveranstalter bei der Zulassung von Unternehmen als Aussteller mißbräuchlich i. S. des § 26 Abs. 2 GWB handelt); vgl. weiter B G H Z 81, 322, 342 - Original-VWErsatzteile II; Markert (Fn. 7) § 26 Rdn. 197 m. w. N .

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unbeteiligter Dritter weiterhin, wenn sich dies aus gesetzlichen Vorschriften ergibt, so z. B. das durch Zubilligung eines entsprechenden Rechts anerkannte Interesse Sozialversicherter, sich grundsätzlich den Lieferanten von Heil- und Hilfsmitteln selbst wählen zu können.38 Interessen der Allgemeinheit sind - abgesehen natürlich von dem durch § 26 Abs. 2 G W B gerade geschützten Interesse an der Freiheit des Wettbewerbs - bei der Interessenabwägung ähnlich zu behandeln wie die Interessen unbeteiligter Dritter. Die nach § 26 Abs. 2 G W B Beteiligten können, wenn es um die Abwägung ihrer Interessen geht, nicht ohne weiteres als Sachwalter öffentlicher Interessen auftreten (z. B. gesamtwirtschaftlicher, struktur-, gesundheits- oder kulturpolitischer Belange).39 Interessen der Allgemeinheit können aber zu ihren Gunsten oder zu ihren Lasten ins Gewicht fallen, wenn die Wahrnehmung dieser Interessen einem eigenen - berücksichtigungsfähigen - Interesse entspricht40 oder ihnen - wie insbesondere Unternehmen der öffentlichen Hand - besonders zur Aufgabe gemacht ist.41 Für die öffentlichen Aufgaben eines Trägers der öffentlichen Verwaltung besteht aber auch bei der Interessenabwägung nach § 26 Abs. 2 G W B kein Vorrang; sie sind lediglich mit abzuwägen. Die Anwendung dieser Vorschrift kann demgemäß auch zu Eingriffen in das öffentlichrechtliche Handeln der öffentlichen Verwaltung führen.42 Darüber hinaus kann sich aus gesetzlichen Vorschriften ergeben, daß bestimmte Allgemeininteressen bei der Abwägung zu beachten sind, so z. B. die der Vorschrift des § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 G W B zugrunde liegende energiewirtschaftliche Zielsetzung eines sparsamen Umgangs mit den endlichen Primärenergiequellen.43 3. Die Abwägungsformel der Rechtsprechung ist noch in einem weiteren Punkt unvollständig: Sie erweckt den Eindruck, als seien in die Beurteilung nach § 26 Abs. 2 G W B nur Individualinteressen - unter Berücksichtigung der Freiheit des Wettbewerbs - einzubeziehen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die zur Ausfüllung der Generalklausel durchzuführende Gesamtwürdigung muß auch Gesetzesbefehle und Wertungen anderer Rechtsnormen beachten. Vgl. B G H Z 101, 72, 83 - Krankentransporte. Vgl. B G H Z 114, 218, 232 f - Einzelkostenerstattung m. w. N. 40 Vgl. B G H W u W / E 1995, 1998 - Modellbauartikel III; vgl. dazu auch Möschel J Z 1992,216. 41 Vgl. B G H W u W / E 1805, 1808 - Privatgleisanschluß; W u W / E 1851, 1853 - Bundeswehrheime II; W u W / E 2370, 2374 - Importierte Fertigarzneimittel; Odersky, in: Festschrift für Lerche, 1993, 949, 956; Carlboff (Fn. 11) S. 208 f. 42 Vgl. B G H Z 119, 93, 101 - Selbstzahler; Odersky, in: Festschrift für Lerche, 1993, S. 949, 957, jeweils m. w. N. 43 Vgl. B G H Z 119, 335, 341 - Stromeinspeisung. 18

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Dies gilt zunächst für die Frage, ob und ggf. mit welchem Gewicht bestimmte Interessen berücksichtigt werden können. Interessen, deren Wahrnehmung gegen geltendes Recht verstößt, sind auch im Rahmen des § 26 Abs. 2 GWB nicht abwägungsfähig. 44 Ein Interesse, das sich nur durch eine vom Gesetzgeber mißbilligte vertikale Preisbindung wahren läßt, ist demgemäß bei der Beurteilung nach § 26 Abs. 2 GWB unbeachtlich.45 Ebenso ist die Behinderung eines anderen Unternehmens in jedem Fall unbillig, wenn sie gegen die Wettbewerbsvorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts verstößt. 46 Andererseits kann den Interessen Beteiligter, insbesondere an ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, durch andere Normen ein besonderes Gewicht gegeben werden. In diesem Sinn können die Grundrechte (hier vor allem aus Art. 12 und 14 GG) mit ihrer Ausstrahlung auch in § 26 Abs. 2 GWB als Generalklausel des Zivilrechts wirken 47 , aber auch besondere Regelungen innerhalb und außerhalb des GWB. So kann ein Energieversorgungsunternehmen, das sich gegen eine unbillige Behinderung oder Diskriminierung durch ein anderes Energieversorgungsunternehmen wehren will, geltend machen, daß das nach § 26 Abs. 2 GWB angegriffene Vorgehen mit § 103 Abs. 5 GWB nicht vereinbar ist.48 Andererseits muß sich ein früherer Handelsvertreter des Normadressaten u. U. entgegenhalten lassen, daß der Gesetzgeber seine Interessen nach Beendigung des Handelsvertreterverhältnisses auch durch den Ausgleichsanspruch nach § 89b H G B wahren wollte.49 Darüber hinaus muß die Gesamtwürdigung nach § 26 Abs. 2 GWB schon mit Rücksicht auf die Einheit der Rechtsordnung Wertungen anderer gesetzlicher Vorschriften einbeziehen. Dies kann jedoch nicht bedeuten, daß die Beurteilung nach § 26 Abs. 2 GWB ohne weiteres auch durch Zielsetzungen anderer Gesetze - wie z. B. die verfassungsrechtlich geschützte Pressefreiheit - bestimmt wird.50 Entscheidend für den Umfang der Verhaltenspflichten des Normadressaten ist die auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichtete Zielsetzung der Vorschrift. Es geht grundsätzlich nur um die Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht, nicht darum, den Normadressaten für die Erreichung anderer 44

Vgl. B G H W u W / E 2990, 2996 - Importarzneimittel. Vgl. B G H W u W / E 2647, 2652 - Nora-Kunden-Rückvergütung. 46 Vgl. B G H W u W / E 2875, 2880 - Herstellerleasing; vgl. dazu auch E u G H W u W / E E W G / M U V 1023 - VW-Herstellerleasing. 47 Pfeiffer, in: Schwerpunkte des Kartellrechts 1981/82, 1983, S. 73, 75 f. 4! Vgl. B G H Z 119, 335, 341 - Stromeinspeisung; vgl. auch B G H Z 128, 17, 40 - Gasdurchleitung. " Vgl. B G H W u W / E 2589, 2591 f - Frankiermaschinen; Mees, in: Festschrift für v. Gamm, 1990, S. 615 ff, 623. 50 Vgl. auch Carlhoff (Fn. 2) § 26 Rdn. 244. 45

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wünschenswerter Ziele einzuspannen. 51 Die Wertungen anderer Gesetze sind deshalb im Rahmen des § 26 Abs. 2 GWB grundsätzlich nur dann zu berücksichtigen, wenn diese nach ihrem Sinn und Zweck auf das Verhalten der Marktteilnehmer als solcher Einfluß nehmen wollen 52 oder Umstände bewerten, die im Verhältnis zwischen dem Normadressaten und dem Begünstigten für die Würdigung nach § 26 Abs. 2 GWB bedeutsam sind.53 Die neuere Rechtsprechung bietet eine Reihe von Beispielen, in denen Wertungen anderer Gesetze in die Gesamtwürdigung nach § 26 Abs. 2 GWB einbezogen wurden: Wird die öffentliche Hand als Nachfrager in Anspruch genommen, ist es danach im Sinne einer Verschärfung der Anforderungen an sie zu berücksichtigen, wenn sie umfangreiche Aufträge nur aufgrund einer Ausschreibung nach den Grundsätzen des öffentlichen Auftragswesens vergeben darf.54 Hält ein Hersteller gegenüber dem von ihm abhängigen Vertragshändler bei einer ordentlichen Kündigung die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist ein, die dem Vertragshändler eine ausreichende Umstellungszeit gewährt, kann die Kündigung ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht als unbillige Behinderung des Vertragshändlers gewertet werden 55 ; die gesetzliche Wertung, daß die Einhaltung einer vertraglichen und (jedenfalls noch angemessenen) Kündigungsfrist grundsätzlich keinen Mißbrauch von Marktmacht darstellt, wirkt auch in die Abwägung nach § 26 Abs. 2 GWB hinein. Die Zielsetzung einer möglichst sicheren und preiswürdigen Energieversorgung ist nach der ausdrücklichen Regelung des § 103 Abs. 5 Satz 1 GWB ein maßgeblicher Gesichtspunkt für die kartellrechtliche Beurteilung des Verhaltens von Energieversorgungsunternehmen und damit auch für die Würdigung nach § 26 Abs. 2 GWB.56 Nach der in § 129 SGB V verankerten Wertung des Gesetzgebers sollen sog. Importarzneimittel grundsätzlich für den Verbraucher zugänglich sein, um ihm die Wahl zwischen teureren oder preiswerteren Medikamenten gleicher Herkunft und Wirkstoffzusammensetzung zu ermöglichen. Diese Wertung beeinflußt maßgeblich die Beurteilung, ob Pharmagroßhändler verpflichtet sind, Importarzneimittel in ihr Sortiment aufzunehmen. 57 Das 51

Vgl. dazu auch Marken (Fn. 7) § 26 Rdn. 215. Vgl. z. B. BGHZ 119, 335, 341 - Stromeinspeisung. 53 Vgl. BGH WuW/E 1423, 1425 - Sehhilfen (Nichtbelieferung eines Augenoptikers, dessen gegen den Normadressaten gerichtete Handlungen sogar strafbar waren); WuW/E 1629, 1632 - Modellbauartikel II (Rabattverstöße des Anspruchsstellers im fraglichen Geschäftsverkehr); WuW/E 2535, 2540 f - Lüsterbehangsteine (wettbewerbswidriges Verhalten des Anspruchsstellers gegenüber dem NormadresSaten). 54 BGHZ 101, 72, 82 f - Krankentransporte. 55 Vgl. BGH WuW/E 2983, 2989 - Kfz-Vertragshändler. 56 Vgl. BGHZ 119, 335, 341 - Stromeinspeisung; BGHZ 128, 17, 40 - Gasdurchleitung. 57 Vgl. BGH WuW/E 2990, 2997 f - Importarzneimittel. 52

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gesetzliche Wahlrecht des Sozialversicherten bei der Inanspruchnahme von Krankentransportleistungen ist bei der Abwägung, ob ein Krankenhausträger als ein marktbeherrschender Nachfrager solcher Leistungen einen Anbieter unbillig behindert, zu berücksichtigen. 58 Das Kartellrecht hat weiterhin gewerbliche Schutzrechte wie das Markenrecht als Rechtsinstitut unberührt gelassen.59 Die rechtmäßige Ausübung eines solchen Rechts ist deshalb grundsätzlich nicht als unbillige Behinderung zu werten und dementsprechend von den betroffenen Mitbewerbern hinzunehmen. 60

IV. Auch wenn die Abwägungsformel der Rechtsprechung inzwischen schon ein fast ehrwürdiges Alter erreicht hat, sollten ihre Schwächen doch Anlaß geben, an eine Neufassung mit Blick auf die von der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung für die Gesamtwürdigung nach § 26 Abs. 2 GWB erarbeiteten Grundsätze zu denken. Eine solche Neufassung könnte etwa wie folgt lauten: Die Frage, ob ein Normadressat ein durch § 26 Abs. 2 GWB geschütztes Unternehmen unbillig behindert oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund ungleich behandelt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung unter Vornahme einer Interessenabwägung zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem die wirtschaftlichen, insbesondere die auf freie wettbewerbliche Betätigung gerichteten Individualinteressen des Normadressaten und der durch § 26 Abs. 2 GWB geschützten, von dem angegriffenen Verhalten betroffenen Unternehmen sowie das Interesse der Allgemeinheit an der Freiheit des Wettbewerbs. Die Individualinteressen sind - wenn sie nicht im Einzelfall geltendem Recht widersprechen und deshalb nicht abwägungsfähig sind - unter besonderer Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes zu gewichten.

5 « Vgl. B G H Z 101, 72, 73 - Krankentransporte; vgl. auch B G H Z 107, 40, 43 f - Krankentransportbestellung. 59 Vgl. B G H Z 114, 40, 47 - Verbandszeichen. 40 Vgl. B G H Z 100, 51, 59 - Handtuchspender.

VII. Anwaltsrecht und anwaltliche Tätigkeit

Sog. Rechtspflegeentlastung, ein Angriff auf den Rechtsstaat? Eine Betrachtung aus anwaltlicher Sicht

FELIX BUSSE

Das Bild der deutschen Anwaltschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt 1 . Die seit 1950 auf das siebenfache 2 angestiegene Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte wirft für die Anwaltschaft mancherlei Fragen auf. Walter Odersky hat sich mit vielen davon als Vorsitzender des Anwaltssenates des B G H befassen müssen. Dazu gehörten auch neue Fragestellungen zum anwaltlichen Berufsrecht 3 , die sich ergaben, nachdem das BVerfG die Standesrichtlinien der B R A K nicht mehr als verbindlich anerkannt hat4. Die tiefgreifenden Veränderungen des anwaltlichen Berufsbildes mußten dazu führen, daß auch das anwaltliche Berufsrecht in einen tiefgreifenden Umbruch geraten ist5. Der Gesetzgeber hat darauf mit einer Reform des anwaltlichen Berufsrechts reagiert 6 , das die Anwaltschaft in nächster Zeit durch eine demokratisch gewählte Satzungsversammlung weiter konkretisieren wird. Alle Beschäftigung mit den eigenen Belangen und Nöten darf die deutsche Anwaltschaft aber nicht veranlassen, ihre primäre Aufgabe aus den Augen zu verlieren, der „berufene Berater und Vertreter der Rechtssuchenden" in allen Lebensfragen zu sein 7 . Der Anwalt muß sich nach besten Kräften bemühen, daß der Bürger wie jeder Rechtssuchende vor unzulässigen Eingriffen geschützt wird und die ihm von der Rechtsordnung eingeräumten Rechte wahrnehmen und notfalls auch durchsetzen kann. Ein wichtiges Werkzeug dazu sind die Verfahrensordnungen. Ihre Regeln bestimmen darüber, ob der Bürger das nötige rechtliche Gehör findet, daß und wie der Sachverhalt aufzuklären und nach welchen Verfahrensregeln über ihn zu urteilen ist und wie der Spruchkörper beschaffen sein muß, dem dieses Urteil überantwortet wird. Verfahrens1 2 J 4

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Busse, AnwBl. 1994,482. Nachweise bei Busse, Fn. 1. Vgl. dazu Odersky, AnwBl. 1991, 238 ff. BVerfGE 76, S. 171 ff, 196 ff. Odersky (Fn. 3), S. 238. Gesetz v. 2. 6. 1994, BGBl. I S. 2278. B V e r f G E 76, 171, 192.

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rechte sind elementare Bürgerrechte, auch soweit sie als Rechte des Rechtsanwalts formuliert werden. Als „Organ der Rechtspflege" hat die Anwaltschaft auch darüber zu wachen und darum zu kämpfen, daß die in den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland erreichte Rechtsschutzgewährung nicht Schaden nimmt, daß ohne Not bewährte Rechte nicht eingeschränkt werden. 1. Die Justizentlastungsgesetze der letzten Jahre Die Rechtspolitik der letzten Jahre wurde und wird bestimmt durch ständige, insbesondere von den Ländern initiierte Versuche, die Verfahrensrechte - vornehmlich im Zivil- und Strafprozeß - mit dem Ziel zu verändern, die Rechtspflege zu entlasten, sie schlanker zu machen. Dem Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz von 19908, das u. a. die Erhöhung der Berufungssumme von 700 DM auf 1200 DM gebracht hat, folgte das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege von 19939, das auf eine parteiübergreifende Bundesratsinitiative zurückging. Das hauptsächlichste Ziel dieses Gesetzes, so wenigstens die offizielle Begründung, war die Gewinnung personeller Ressourcen für den Aufbau einer funktionierenden rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Bundesländern 10 . Tatsächlich ging es den Ländern nach einem von vielen geteilten Eindruck wohl in erster Linie darum, Änderungen in der Gerichtsorganisation und im Verfahrensrecht, die seit mehr als einem Jahrzehnt immer wieder zur Diskussion gestellt worden sind und stets verworfen worden waren, unter dem erwähnten Vorwand nun endgültig durchzusetzen". In den Bereichen Zivil- und Strafverfahren, die hier nur betrachtet werden sollen, hat das erste Rechtspflegeentlastungsgesetz die folgenden wesentlichen Veränderungen gebracht: Die Zuständigkeitsgrenze zwischen Amts- und Landgericht wurde von 6000 DM auf 10 000 DM angehoben. Das Ziel war durchsichtig: Mehr als ein Viertel der bis dahin bei den Landgerichten anhängigen erstinstanzlichen Verfahren sollten zukünftig die Amtsrichter bearbeiten, die es gewohnt sind, mit Eingangszahlen fertig zu werden, die etwa viermal so hoch sind wie die Eingangszahlen bei einem Richter am Landgericht12. Eine zweite wesentliche Änderung war die Ausweitung der Möglichkeiten einzelrichterlicher Tätigkeit bei den Landgerichten. Nach § 348 Abs. 1 ZPO war der Rechtsstreit nunmehr in der Regel von der KamVom 1 7 . 1 2 . 1 9 9 0 , BGBl. I S. 2847. Vom 1 1 . 1 . 1 9 9 3 , BGBl. I S . 50. 10 Vgl. dazu BTDrucks 12/1217, S. 17 f sowie DRiZ 1991, 223 ff. 11 Vgl. hierzu die gemeinsame Erklärung von D A V und B R A K sowie die Stellungnahme der DAV-Fachausschüsse, AnwBl. 1991, 309 ff. 12 Seitz-Bücbel, Beck'sches Richterhandbuch (1995), S. 1248. 8

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Sog. Rechtspflegeentlastung, ein Angriff auf den Rechtsstaat?

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mer auf den Einzelrichter zu übertragen, weg vom Sechs-Augen-Prinzip mit der Begründung, zwei Augen würden reichen. Die Wertgrenze für die Berufung wurde erneut, diesmal von 1200 DM auf 1500 DM, heraufgesetzt. Im Strafverfahren modifizierte man die Vorschriften bezüglich der Einstellung von Verfahren wegen Geringfügigkeit und führte die Annahmeberufung für Bagatellverfahren ein. Eine Änderung des § 113 StPO ermöglichte es, daß Strafbefehle auf eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe lauten können. Weiter änderte man die Zuständigkeitsregelung zwischen Strafrichter, Schöffengericht und Strafkammer und griff in die Besetzung der Strafkammern durch die Möglichkeit einer Besetzungsreduktion in der Hauptverhandlung ein. Was hat nun dieses Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege gebracht? Nach einem Bericht des Bundesjustizministeriums der Justiz vom 26.4.1995 für den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages13 ist es weder zu dem mit der Anhebung der Zuständigkeitsgrenze zwischen Amts- und Landgericht und der Erhöhung der Berufungssumme im Zivilprozeß erwarteten Freisetzungseffekt noch zu einem signifikanten Anstieg der Abordnungen von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern von den alten in die neuen Bundesländer gekommen. Einen Grund sieht die Ministerin darin, daß sich in den alten Bundesländern die Eingangszahlen in Zivilverfahren stark erhöht haben14. Dies entspricht der allseits erwarteten Entwicklung seit Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse im Beitrittsgebiet. Als Fazit stellt sie fest, daß die im Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege beschlossenen Maßnahmen eher der Bewältigung dieser erhöhten Eingangszahlen gedient haben, nicht aber einer Freisetzung weiterer personeller Ressourcen für die Aufbauhilfe in den neuen Ländern15. Das ohnehin unglaubwürdige Hauptziel des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege ist damit nicht erreicht worden. Pluspunkte konnten nicht gesammelt werden. Geblieben ist die Verschiebung der Zuständigkeitsgrenze zwischen Amts- und Landgericht, die Erhöhung der Berufungssumme und die Verstärkung des Einzelrichterprinzips bei den Landgerichten sowie die im Strafverfahren geschilderten Veränderungen. Das bedeutet: weniger Rechtsschutz für den Bürger und Abstriche für die Qualität dieses Rechtsschutzes. Ein „Erfolg", der jedem wehtun muß, der auf den hohen Standard des Rechtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland mit Recht stolz gewesen ist. 13

Bericht über die Auswirkungen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes, nicht veröffent-

licht. M 15

Von 48 980 im Jahre 1990 auf 3 1 7 590 im Jahre 1994, Bericht, Fn. 13, Anlage 4. Protokoll der 15. Sitzung des Rechtsausschusses v. 10. 5. 1995, S. 25 f.

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2. Neue Pläne zur „Rechtspflegeentlastung" Noch bevor erste Auswirkungen des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege festgestellt werden konnten, gab es und gibt es, insbesondere in den Ländern, gesetzgeberische Überlegungen und Planungen für ein zweites Rechtspflegeentlastungsgesetz. Dieses Mal wird das nicht mit in den neuen Bundesländern benötigten und in den alten Bundesländern durch Verschlankungsmaßnahmen freizusetzendem Justizpersonal begründet. Heute werden der seit 1991 zu beobachtende Anstieg der Eingangszahlen sowie die durch neue gesetzgeberische Maßnahmen bedingten neuen Aufgaben der Rechtspflege angeführt, wie sie sich z. B. aus dem Betreuungsgesetz ergäben bzw. aus der 1999 in Kraft tretenden Insolvenzrechtsreform ergeben würden16. Beides kann die geplanten Einschnitte nicht rechtfertigen. Zwar sind die Eingangs zahlen in erstinstanzlichen Zivilsachen seit 1991 gestiegen. Der Anstieg in den neuen Bundesländern ist allerdings nur ein Schritt auf dem Wege zur rechtsstaatlichen Normalität, die sich alle wünschen. Der Aufbau des Rechtsstaats im Osten darf niemals mit dem Abbau des Rechtsstaats im Westen erkauft werden. Der Anstieg der Eingangszahlen in den alten Bundesländern von 1,559 Mio. auf 1,831 Mio. Zivilverfahren von 1991 bis 199317 darf nicht isoliert betrachtet werden. Er ist wahrscheinlich konjunkturell bedingt, leitet also keine auf Dauer angelegte Mehrbelastung der Justiz ein. Die Dramatik der Steigerungsrate relativiert sich, wenn in Erinnerung gerufen wird, daß die Eingangszahlen schon 1986 bei 1,682 Mio. gelegen haben. Das bedeutet von 1986 bis 1993 eine Steigerung von nur 7,8 % in acht Jahren und rechtfertigt keinerlei Aufregung. 1994 hat sich schon wieder ein leichter Rückgang abgezeichnet18? Schließlich ist in Erinnerung zu rufen, daß die Prozeßhäufigkeit in Zeiten der Weimarer Republik deutlich höher lag als heute und von einer wesentlich geringeren Zahl von Richtern gleichwohl bewältigt worden ist19. Nach Schaich20 waren sogar schon 1903 2,48 Mio. Zivilprozesse, also 500 000 mehr anhängig als heute. Die angeführte Steigerung der benötigten Kapazität durch neue oder erweiterte Verfahren (Betreuung, Insolvenz) kann als Begründung für Rechtsschutzeinschränkungen nicht hingenommen werden. Der Ge" Schäuble, Die Justiz 1995, 241 ff. Bericht B J M , Fn. 13, dort Anlage 4. " Bericht B J M , Fn. 13, dort Anlage 4. " Wollschläger, in: Blankenburg, Prozeßflut? (1988), S. 104; vgl. auch Schäfer, Kein Geld für die Justiz - Was ist uns der Rechtsfrieden wert?, Vortrag Deutscher Richtertag vom 26. 9. 1995, S. 5. 20 AnwBl. 1984, 482. 17

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setzgeber hat diese Gesetze nicht unter der Prämisse verabschiedet, daß das, was man dem Bürger hier zusätzlich gibt, ihm an anderer Stelle genommen wird. Damit tritt der eigentliche Grund für die angeblich notwendige weitere Rechtspflegeentlastung zutage: die angeblich leeren Kassen der Länder in den nächsten Jahren, die zu einem geringeren Personalbestand in der Justiz führen würden 21 , in keinem Fall jedoch zu einer Ausweitung. Ohne eine deutliche Entlastung könne - so sagt man - die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht aufrechterhalten werden. Der Justiz stehe das Wasser bis zum Hals22. Notwendig seien rechtspolitische Maßnahmen, die den strukturellen Hindernissen und übertriebenen Verfahrensanforderungen wirksam begegnen, so z. B. der baden-württembergische Justizminister 23 . Und was ist geplant? Im zivilrechtlichen Bereich - erstens - die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters beim Landgericht. Der Einzelrichter soll nur die besonders schwierigen oder grundsätzlich bedeutsamen Sachen auf die Zivilkammer übertragen. Die Berufungssumme soll erneut angehoben werden, und zwar von derzeit 1500 DM auf 2000 DM. Der Zugang zur Rechtsmittelinstanz soll damit auf Fälle beschränkt werden, „bei denen die anfallenden Kosten in einem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis zum Streitwert stehen. Die zumutbare Beschränkung auf eine Instanz bei Sachen, die unter diesem Streitwert liegen, soll den Gedanken der raschen Wiederherstellung des Rechtsfriedens fördern und der sachgerechten Zuteilung richterlicher Arbeitskraft auf berufungswürdige Fälle dienen"24. Die Annahmeberufung soll kommen. Schließlich will man die außergerichtliche Streitschlichtung dadurch fördern, daß mit Hilfe einer in das Einführungsgesetz der ZPO aufzunehmenden Offnungsklausel ein obligatorisches Vorverfahren vorgeschaltet wird. Im Strafverfahren stehen im Mittelpunkt der Vorschläge zur Verfahrensbeschleunigung die Stärkung der Position des Gerichtes in der Hauptverhandlung, eine sogenannte effektive Beweisaufnahme, die Bekämpfung von Verfahrensmißbrauch, die Verminderung unnötigen Verfahrensaufwandes 25 . Im Klartext heißt das: Antrags- und Erklärungsrechte werden eingeschränkt. Das formelle Beweisantragsrecht wird begrenzt. Rechtsmittel werden durch Erweiterung der Annahmeberufung, 21 22 23 24 25

Schäuble, Fn. 16, S. 241. So zuletzt Wassermann, N J W 1995, 1943. Schäuble, Fn. 16, S. 241. Schäuble, Fn. 16, S. 241. Schäuble, Fn. 16, S. 242.

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durch Einführung des Wahlrechtsmittels in das Erwachsenenstrafrecht sowie durch Vereinfachung des Ordnungswidrigkeitsverfahrens beschränkt. 3. Kritik an den geplanten Maßnahmen im zivilrechtlichen Bereich Wenn das alles Gesetz werden sollte, würde dies zu einer Rechtspflege von erheblich minderer Qualität führen, als wir sie bisher kennen, schätzen und auch dringend benötigen. a ) Die Länderinitiative ist schon deswegen nicht legitim, weil sie nicht abwartet, bis Erfahrungen mit dem Rechtspflegeentlastungsgesetz 1993 vorliegen. Der Gesetzgeber soll auf rechtstatsächliche Umstände reagieren, die er gar nicht ermittelt hat. Das wäre unprofessionell. Es liegen auch keinerlei rechtstatsächliche Untersuchungen über die Ursachen des neuerlichen Anstiegs der Eingänge vor, dafür aber die Erkenntnis, daß 1994 die Eingangszahlen im Durchschnitt nicht weiter angestiegen sind26. In dieser Situation muß der Gesetzgeber abwarten, wie die Entwicklung weitergeht und bis sichere Prognosen möglich werden. Nur das kann „Stetigkeit in der Normsetzung" bedeuten, die auch Odersky in anderem Zusammenhang in einem Rechtsstaat im Interesse der Rechtssicherheit für unverzichtbar hält27. Man versucht hier, den mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege eingeschlagenen Weg fortzusetzen, obwohl dessen Untauglichkeit längst deutlich geworden ist. b) Die sogenannte Stärkung des Einzelrichterprinzips, die den Einzelrichter zum Regelrichter macht und damit das Mehraugenprinzip im landgerichtlichen Verfahren aufgibt, ist problematisch. Sie gefährdet die Qualität der Rechtspflege. Sie reduziert die Qualität auf Kosten der Quantität. Rottleuthner hat zwar durch statistische Untersuchungen und Bewertungen den Nachweis zu führen versucht, daß die Entscheidungen des Einzelrichters gleiche Qualität haben wie die Entscheidungen einer Kammer 28 . Doch können diese Berechnungen nicht die Lebenserfahrung widerlegen, daß sechs Augen mehr sehen als zwei. Außerdem eröffnet das Kollegium, der Spruchkörper, dem Berichterstatter den fachlichen Diskurs. Der Vortrag des Berichterstatters im Kollegium wird geprüft

Fn. 18. DNotZ 1994, 11. 21 Vgl. dazu: Rottleuthner, Böhm, Gasterstädt: Rechtstatsächliche Untersuchung zum Einsatz des Einzelrichters (§ 348 ZPO); Rottleuthner, Einzelrichter und Kammer, ZfRSoz 1991, 232-247; Mattik, Verstärkter Einsatz des Einzelrichters? DRiZ 1989, 348. 26

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und damit kontrolliert. Jedes Mitglied des Spruchkörpers weiß, daß es seine Entscheidung nicht nur vor den Parteien und der nächsten Instanz, sondern insbesondere auch vor den Mitgliedern des Spruchkörpers zu vertreten hat, vor Kollegen, die die Entscheidung mitvertreten und -unterzeichnen müssen. Es gibt zwar Konstellationen, wo dieses Prinzip aufgrund des Persönlichkeitsbildes der beteiligten Richter nicht funktioniert, vielleicht pervertiert wird. Das Mannheimer Beispiel hat da traurige Berühmtheit erfahren29. Doch ist dies eine unrühmliche Ausnahme. Das Kammerprinzip spricht für bessere Qualität. Durch das Kammerprinzip besteht die bessere Chance, schon in der Instanz richterliche Fehler zu korrigieren. Derjenige, der dem durchgängigen Einzelrichterprinzip das Wort redet, nimmt eine Herabsetzung der Qualität der Rechtsprechung in Kauf. Ein Qualitätsverlust der Rechtsprechung muß aber zwangsläufig zu mehr Rechtsstreiten, insbesondere zu mehr Rechtsmitteln führen. Das Ziel der Entlastung würde in sein Gegenteil verkehrt. c) Sicherlich kann abgewogen werden, ob es wirklich sinnvoll und auch nötig ist, daß jeder Zivilrechtsstreit über einem bestimmten Berufungsstreitwert über mehrere Instanzen geführt werden kann. Kein Argument dagegen kann allerdings sein, daß die Menschenrechtskonvention nur mindestens eine Instanz vorschreibt. Dies sollte und darf nicht der Maßstab sein. Der Standard eines hochgelobten Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland kann und darf sich nicht daran orientieren, wie weit wir unsere Rechtspflege äußerstenfalls ohne Verletzung von Menschenrechten „herunterfahren" könnten. Die Rechtspflege des demokratischen Rechtsstaats Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts darf nicht auf einen Standard zurückfallen, der vielleicht schon vor dem Ersten Weltkrieg besser war. Es ist auch verfehlt, von einer Instanzenseligkeit der Bürger und/oder ihrer Anwälte zu sprechen30. Dagegen spricht schon, daß die Gesamtzahl der Berufungen 1994 mit ca. 147 000 absolut niedriger lag als 1986 mit 148 117 und daß im Jahr 1994 auf 1000 erstinstanzliche Prozesse nur 81 Berufungen entfielen, während es im Jahr 1986 88 und z. B. im Jahr 1990 noch 98 waren31. Woraus also soll der Handlungsbedarf des Gesetzgebers abgeleitet werden? Rechtsmittel sind nötig im Interesse der Rechtssuchenden an einer richtigen Entscheidung. Sie dienen damit dem Postulat des Rechtsstaates nach bestmöglicher Vermittlung von Gerechtigkeit. Rechtsmittel wer" „Deckert-Urteil" vom 22. 6. 1994, vgl. hierzu Herr, DRiZ 1994, 405 ff. 30 Sendler, DVB1. 1992, 17 ff; zuletzt Wassermann, N J W 1995, 1994. 31 Bericht BJM, Fn. 13, Anlage 6.

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den deswegen frühestens dann entbehrlich und überflüssig, wenn die Abänderungsquote in den Rechtsmittelinstanzen so gering ist, daß man sie vernachlässigen oder tolerieren kann. Gerade dies ist aber nicht der Fall. In Bayern z. B.32 - die bayerischen Zahlen sind die aktuellsten und da sie sich in der Vergangenheit von den Zahlen der übrigen Bundesländer nur marginal unterschieden haben, soll hier auf sie abgestellt werden - sind 1994 etwa 36 % der amtsgerichtlichen Urteile, die in die Berufungsinstanz gelangt sind, vom Berufungsgericht korrigiert, d. h. aufgehoben und zurückverwiesen oder abgeändert worden. Bei den erstinstanzlichen landgerichtlichen Urteilen, die in der Berufungsinstanz beim Oberlandesgericht überprüft werden, sind es etwa 43 %. Bei den mit der Berufung angefochtenen Urteilen ist also eine Fehlerquote von etwa 36-43 % festzustellen. Von den amtsgerichtlichen Entscheidungen I. Instanz sind im Hinblick auf die heute geltende Berufungssumme von 1500 DM ohnehin nur etwa 60 % aller Entscheidungen überhaupt anfechtbar". Uber dem Rest wölbt sich der berühmte blaue Juristenhimmel. Dieser sorgt dafür, daß die im Bewußtsein fehlender Uberprüfbarkeit ergangenen Entscheidungen wahrscheinlich noch sehr viel häufiger fehlerhaft sind als Entscheidungen, die überprüft werden können, und häufig weniger überzeugend. Eine weitere Anhebung der Berufungssumme, und damit eine Vergrößerung des Anteils unanfechtbarer Entscheidungen, ist angesichts dieser Fehlerquote nicht akzeptabel. Die damit verbundene erhebliche Ausweitung des Bestands formell unanfechtbarer, materiell aber falscher Entscheidungen ist intolerabel. Hier ist schon jetzt die Grenze des Hinnehmbaren erreicht. Die Konfrontation mit unrichtigen Entscheidungen hat sich insbesondere durch die Wertgrenzenanhebung von 6000 DM auf 10 000 DM, also durch die Verlagerung einer Vielzahl landgerichtlicher Verfahren auf den Amtsrichter, verschärft. Natürlich kann auch der qualifizierte und erfahrene Amtsrichter - der nicht selten ist - diese Verfahren entscheiden, zumal diese ganz überwiegend beiderseits anwaltlich betreut werden. Aber es ist doch nicht zu leugnen: Prozesse mit höherem Streitwert sind häufiger komplexer, bergen häufiger ein größeres Streitpotential als Sachen mit niedrigerem Streitwert. Sie verursachen deswegen häufiger, zumindest zeitlich, einen höheren Aufwand. Gerade diesen können aber die Amtsrichter am wenigsten leisten, wie schon ein 12 Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz v o m 2. 8. 1995, Bayerisches Justizministerialblatt 1995, S. 113 ff (S. 122, 125). " Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Fn. 32, S. 116.

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Blick in den Pensenschlüssel 34 zeigt. Dieser sieht vor, daß auf einen erstinstanzlichen Richter am Landgericht ein Eingangspensum von 140 Sachen pro Jahr entfällt, das von ihm bearbeitet werden muß, auf einen Amtsrichter aber mehr als das vierfache, nämlich 570. Das Problem ist also, daß der Amtsrichter für diese bisher in die Zuständigkeit des Landgerichts fallenden, in der Regel schwierigeren und komplexeren Streitigkeiten häufig nicht die Zeit aufbringen kann, die notwendig wäre, um diese Verfahren so abzuschließen, daß die Rechtssuchenden die Entscheidung akzeptieren können. Auch bei noch so guter anwaltlicher Aufbereitung des streitigen Sachverhalts und der rechtlichen Probleme kostet eine vertiefte Prüfung oftmals viel Zeit. U m Rechtsfrieden zu stiften, muß der Richter den Parteien und ihren Anwälten den Eindruck vermitteln, daß sie mit ihren Auffassungen tatsächlicher und rechtlicher Art Gehör gefunden haben, daß sie verstanden worden sind, daß eine sorgfältige Abwägung der gegenteiligen Standpunkte im Verfahren und im Urteil stattgefunden hat. Diese Erwartung wird nach der Wertgrenzenverschiebung weniger aufgehen als bisher. Die Verlagerung von Streitigkeiten vom Land- zum Amtsgericht, ohne beim Amtsgericht Arbeitsbedingungen zu schaffen, die mit denen beim Landgericht vergleichbar sind, muß dazu führen, daß die Qualität der richterlichen Entscheidung beim Amtsgericht in diesen Sachen sinkt und die Gefahr steigt, daß immer mehr dieser Entscheidungen angefochten werden. Statt Entlastung ist also eher eine Belastung der Gerichte zu erwarten. Daß mit einer weiteren Heraufsetzung der Streitwertgrenze noch eine ganz andere Entwicklung in Gang gesetzt würde, und zwar hin zur faktischen Dreistufigkeit mit all ihren Problemen, sei hier nur am Rande erwähnt. d) Auch die von der 66. Konferenz der Justizministerinnen und -minister 1995 in Dessau 35 befürwortete Einführung der Annahmeberufung führt nicht weiter. Sie schafft insbesondere nicht die gewünschte Entlastung. Sie entlastet nicht, weil der Richter die Schriftsätze auch im Annahmeverfahren lesen und gewissenhaft prüfen muß. Die Ersparnis der mündlichen Verhandlung fällt kaum ins Gewicht. Die Annahmeberufung wird vielmehr zu einer Zunahme der Berufungen führen. Denn der Anwalt kann im Annahmeverfahren mit viel geringerem Kostenrisiko die Haltung des Gerichts ausloten.

34 Vgl. zum Pensenschlüssel: Seitz-Büchel S. 1248 f. 35 Beschlüsse der 66. JumiKo T O P 1.15.

(Hrsg.),

Beck'sches

Richterhandbuch,

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Nach der Lebenserfahrung ist außerdem zu befürchten, daß über die Annahme weniger nach der Annahmewürdigkeit entschieden wird, sondern - dies ist zwar menschlich, gleichwohl aber nicht hinnehmbar - daß die erfahrungsgemäß höchst unterschiedliche Arbeitsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Richter einen nicht unwesentlichen Einfluß haben wird. e) Eine weitere für die gesamte Rechtspflege schädliche Folge der Einschränkung von Rechtsmitteln besteht darin, daß die Möglichkeit für das Berufungsgericht sinkt, zu allen wichtigen Fragen Rechtsprechung zu entwickeln, die, wenn auch nur in einem begrenzten Bereich, so doch höchst willkommen zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung führt, eine Rechtsprechung, an der der Anwalt z. B. sowohl die Klage- als auch die Berufungsaussichten messen kann. Auch dies führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Klagen und Rechtsmitteln, ist also kontraproduktiv. f ) Und schließlich: Es ist schon paradox, daß die Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeiten gerichtlicher Entscheidungen gerade in einer Zeit gefordert wird, wo eine fortschreitende Erosion der juristischen Leistungsfähigkeit der Justiz, vor der die Richterschaft ebensowenig wie die Anwaltschaft verschont geblieben ist, zusammenkommt mit einer fortschreitenden Komplizierung der rechtlichen Verhältnisse durch zu viele, zu schlechte, zu widersprüchliche, oft unklare Gesetze, die es von der materiellen Seite her immer schwerer werden läßt, Recht richtig zu sprechen36. Die Aufhebungsquote erstinstanzlicher Urteile ist ein Beleg dafür. Steigende Fehleranfälligkeit der Rechtsprechung erfordert in einem Rechtsstaat jedoch bessere Vorsorge und nicht etwa eine Senkung der Standards und Einschränkung der Möglichkeiten, sich gegen für unrichtig gehaltene Urteile zur Wehr zu setzen. 4. Kritik an den geplanten Maßnahmen im strafrechtlichen Bereich Die im strafrechtlichen Bereich vorgesehenen Entlastungsmaßnahmen haben in der Vergangenheit bei den deutschen Strafverteidigern einhellig heftige Ablehnung ausgelöst. Hieran hat sich auch nach zum Teil befürwortenden Beschlüssen des Deutschen Juristentages 37 nichts geändert38. 36

Weiß, D Ö V 1978, 601 ff; Hill, Z G 1993, 5; Böhert, „Gesetzgebung - Programmatische Ordnung oder tagespolitische Reaktion", in Hill: Zustand und Perspektive in der Gesetzgebung, 1989, S. 55 ff; Holtschneider, „Normenflut und Rechtsversagen", 1991; Krasney, D R i Z 1992, 165; vgl. auch Schlußveranstaltung des 53. D J T 1980, Verh. des 53. D J T , Bd. II, Teil Q . J7 Verh. 60. D J T (1994) Band II 1 S.; vgl. auch Gössel, Gutachten 60. DJT, Verh. 60. D J T Band I C 1 ff. " Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des D A V (1995) und der B R A K (1995).

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Die Verfahrensrechte des Beschuldigten und seines Verteidigers haben die Aufgabe, „die Kräfte im Strafverfahren gebührend auszubalancieren" 39 . Dem werden die vorgesehenen Einschränkungen nicht gerecht. Ich will an dieser Stelle hierauf nicht näher eingehen, sondern den vermeintlichen Grund der Notwendigkeit der Neuregelungen näher untersuchen. Zur Rechtfertigung von Verfahrensänderungen und Einschränkungen von Beschuldigten- und Verteidigerbefugnissen wird immer wieder die Verfahrensdauer angeführt. Es wird behauptet, die Verfahrensdauer sei unerträglich. Es würden in zu vielen Verfahren zu viele Verhandlungstage benötigt, und zwar besonders deswegen, weil Verteidigerrechte extensiv - manche sagen mißbräuchlich - wahrgenommen werden würden. Diese Verallgemeinerungen sind wenig hilfreich und taugen nicht als Argument in der notwendig zu führenden Sachdiskussion. Sie haben, auch wenn sie aus richterlichem Munde kommen, selten einen seriös ermittelten Hintergrund. Die Justizstatistiken belegen, daß von einem nicht haltbaren Vorurteil die Rede ist: 1990 - jüngere Zahlen liegen nicht vor, und schon damals wurde wie heute argumentiert - wurden in der Bundesrepublik vor den Amtsgerichten insgesamt fast 477 000 Hauptverhandlungen in Strafsachen durchgeführt, von denen die Hauptverhandlung in 465 000 Fällen, d. h., in 98 % aller Fälle, nur einen Tag benötigte. N u r in insgesamt 27 von 477 000 Verfahren waren 11 Verhandlungstage oder mehr erforderlich. Die Statistik gibt daher die durchschnittliche Zahl der Hauptverhandlungstage beim Amtsgericht mit 1,0 an40. Im gleichen Jahr 1990 wurden bei den Landgerichten bundesweit an insgesamt 27 459 Verhandlungstagen 9577 Hauptverhandlungen durchgeführt. 5200 Verfahren dauerten einen Tag, 1894 zwei Tage, 1660 drei bis fünf Tage. Die durchschnittliche Dauer betrug bei den Landgerichten 2,96, also nicht einmal drei Tage. N u r 122 Verfahren, d. h., 0,025 % aller amts- und landgerichtlichen Hauptverhandlungen benötigten mehr als 20, insgesamt 22 Verfahren, d. h., 0,0045 %, mehr als 50 Hauptverhandlungstage 41 . Angesichts dieser Zahlen nimmt es schon Wunder, wie die Verfahrensdauer begründen soll, in gewachsene und durch lange Jahre, ja jahrzehnte bewährte Regelungen eines Verfahrens einzugreifen, in dem die Schuld eines als unschuldig geltenden Angeklagten bewiesen werden soll, in dem es also um elementare Grund- und Bürgerrechte geht. 39

Odersky, DRiZ 1990, 365. Zahlen lt. Mitteilung des Bundesjustizministeriums vom 7. 12. 1993 (nicht veröffentlicht). 41 Mitteilung BJM, Fn. 39. 40

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Sicherlich: Welcher Anwalt, welcher Vertreter der Anwaltschaft könnte leugnen, daß es Verteidiger gibt, die - generell oder im Einzelfall - ihre Rechte in einer nicht mehr vertretbaren Weise ausüben. Aber gibt es nicht auch schwarze Schafe unter den Richtern? Hat man jemals einen Richtervertreter gehört, der gefordert hat, Richter wegen ihres unvertretbaren Verhaltens im Gerichtssaal, wie dies in bezug auf Strafverteidiger geschieht, mit Kosten zu belegen? Hat man schon Forderungen vernommen, die Möglichkeiten zu erweitern, Richter, die ihre Voreingenommenheit erkennen lassen, leichter als bisher als befangen ablehnen zu können und dadurch viel Streit aus dem Gerichtssaal herauszuhalten? Hat schon jemand die vielen Hauptverhandlungstage gezählt, die durch einseitige oder jedenfalls lückenhafte Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, durch mangelhafte Vorbereitung der Hauptverhandlung durch den Richter notwendig geworden sind? Hat schon jemand die Verfahrensrechte der Richter einschränken wollen, weil, wie viele erfolgreiche Revisionen - besonders in Großverfahren - ergeben haben, die zuständigen Richter dem Verfahren nicht gewachsen waren und Fehler begangen haben? Sind nicht viele extensive oder gar exzessive Attacken des Verteidigers nur das Spiegelbild dessen, was zuvor der Staatsanwalt und die Strafrichter geboten haben? Fällt nicht endlich auf, daß erfahrene souveräne Strafrichter schon heute vorhandene „Zuchtmittel" gegen die Verteidigung nicht einsetzen, weil dadurch die Verfahren schneller und besser zu Ende gehen? Warum erfährt man auch von Richtern hinter vorgehaltener Hand so häufig das Eingeständnis, daß ein Großteil der Probleme in sogenannten schwierigen Strafprozessen Probleme der beteiligten Richter sind, schlägt nach außen aber auf den Anwalt? Dabei ist mangels einer rechtstatsächlichen Absicherung völlig offen - und wohl eher unwahrscheinlich - ob denn nun in erster Linie Verteidigerverhalten oder aber nicht ebenso das Verhalten der Richter und/oder der Ermittlungsbehörden ausschlaggebend für die Dauer des Verfahrens sind, ob nicht außerdem die Ursache der Dauer vieler Verfahren darin zu suchen und zu finden ist, daß die Beteiligungsrechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren nach wie vor zu unzureichend sind, daß notwendige Korrekturen eben erst in der Hauptverhandlung durch die Stellung von aus der Hauptverhandlung sich ergebenden Beweisanträgen angebracht werden können oder weil eine korrekte Vernehmung am sichersten in der Hauptverhandlung erreicht werden kann? Alle diese Fragen sind bis heute offen. Das Bundesjustizministerium will ihnen 1996 in einer rechtstatsächlichen Untersuchung nachgehen, die die Anwaltschaft seit Jahren gefordert hat. Bevor diese Ergebnisse nicht vorliegen, fehlt für gesetzgeberische Überlegungen jede Grundlage.

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5. Q u a l i t ä t der Rechtsprechung ein Gebot des Rechtsstaats Die Maßnahmen der bisherigen Rechtspflegeentlastungsgesetze haben zwar nicht zu einer Entlastung der Rechtspflege geführt, aber dazu, daß in die Qualität der Rechtsprechung zu ihrem Nachteil, zum Nachteil der Bürger eingegriffen worden ist. Dabei kann gar nicht genug betont werden, wie wichtig die Qualität der Rechtsprechung für die Rechtspflege ist. Es ist schon auffallend, wie wenig in der ganzen Rechtspflegeentlastungsdiskussion von Qualität, wie viel von Erledigung und Quantität geredet wird. Die Qualität der Rechtsprechung gerät zur quantité négliable. Es liegt auf der Hand, das qualifizierte Rechtsprechung für die Inanspruchnahme der Gerichte durch Rechtsmittelkläger von entscheidender Bedeutung ist. Rechtsmittel werden immer dann eingelegt, wenn die Rechtssuchenden und ihre Prozeß Vertreter den Eindruck haben, daß der Streitstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht richtig aufgearbeitet worden ist, daß die Parteien nicht zu Wort gekommen sind, daß also die Befriedungsfunktion, die jedes Urteil in erster Linie haben sollte, nicht gegriffen hat. Immer dann, wenn Parteien und Anwälte das Gefühl haben, sie haben den Streitstoff dem Richter so unterbreiten können, wie sie ihn verstehen, der Richter habe genügend Zeit gehabt, mit ihnen rechtlich und tatsächlich den Streitstoff zu erörtern, immer dann sind die Parteien eher geneigt, sich mit dieser Entscheidung des Richters zufrieden zu geben. Der „Frieden" durch richterlichen Urteilsspruch ist zwar „von außen auferlegt". Insofern ist er gegenüber dem Unterlegenen ein „staatliches Diktat" 42 . Aber ein gut erläutertes Urteil sollte dem Unterlegenen niemals so erscheinen, sondern auch gegenüber dem Unterlegenen Uberzeugungskraft entwickeln. Qualität der Rechtsprechung heißt auch Vorausberechenbarkeit der Rechtsprechung 43 . Die Voraussehbarkeit einer richterlichen Entscheidung ist insbesondere für die prozessuale Rechtsberatung durch den Anwalt von erheblicher Bedeutung. Nur dann, wenn man mit einiger Sicherheit die richterliche Entscheidung prognostizieren kann, sicher sein kann, daß der Richter bei bestimmtem Tatsachenvortrag und richtiger Rechtsanwendung zu einem bestimmten Ergebnis kommt - eine richtige Beurteilung des Anwalts vorausgesetzt - , nur dann kann dem Mandanten bei negativer Prognose verantwortungsvoll davon abgeraten werden, den Rechtsweg zu beschreiten bzw. ihm zugeraten werden, nach Lösungswegen zu suchen, die ohne Einschaltung des Gerichts möglich sind. Kann man die gerichtliche Entscheidung nicht annähernd

« Odersky, " Odersky,

D N o t Z 1994, 11. Fn. 42, S. 10.

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sicher prognostizieren, muß man dem Mandanten sagen: Vor Gericht weiß niemand, wie es ausgeht. Der verantwortungsvolle Anwalt wird deswegen bei seriöser Einschätzung der Chancen auch bei einem offenen Rennen oft zum Prozeß raten müssen, um die Frage zu klären, insbesondere, wenn sie sich für den Mandanten wiederholt. Mangelnde Voraussehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen bestärkt zwar die Möglichkeiten der Anwaltschaft, unter Hinweis darauf außergerichtlich zu Einigungen zu kommen. Auf der anderen Seite muß jeder verantwortungsbewußte Anwalt nicht nur das Risiko-, sondern auch das Chancenpotential darstellen, das in einer ungeklärten Rechtssituation besteht, und wird sehr häufig erfahren, daß der Rechtsweg in dieser Situation nicht gemieden, sondern gesucht, daß die Justiz also nicht ent-, sondern belastet wird. Wer wirklich Entlastung der Rechtspflege will, muß hier ansetzen44. Er muß die Voraussetzungen für eine Streitschlichtung durch die Anwaltschaft optimieren. Schon heute steht aufgrund rechtstatsächlicher Untersuchungen fest, daß die Anwaltschaft durch ihre beratende Tätigkeit etwa 75 % aller Konfliktfälle, die an sie herangetragen werden, ohne Einschaltung des Gerichts löst45. Die verbleibenden 25 % sind die Fälle, die die Gerichte beschäftigen. Wenn es gelingt, diesen Prozentsatz auch nur um 5 % zu mindern, und zwar u. a. dadurch, daß es dem beratenden Anwalt möglich ist, überzeugend darzulegen, mit welcher Entscheidung man voraussichtlich im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung rechnen müßte, dann würde dies bei den Gerichten zu 20 % Entlastung führen, zu einer viel größeren, als sich selbst Optimisten unter den Verfechtern von Justizentlastungsgesetzen erhoffen. 6. Was muß uns der Rechtsstaat wert sein? Welche Begründung wird nun für die Notwendigkeit für erneute Rechtspflegeentlastungsmaßnahmen angeführt? Antriebskraft und Beweggrund für die Pläne der Landesjustizminister sind offenbar die angeblich zukünftig leeren Kassen der Länder und des Bundes, leer wenigstens, soweit die Rechtspflege betroffen ist. Es werden in Zukunft nicht etwa keine Mittel mehr dasein, um Rechtspflegeaufgaben zu erledigen. Vielmehr geht es um die Auffassung, ja Uberzeugung, zukünftig, und zwar auch wenn die Rechtspflegeaufgaben durch gesetzlichen Auftrag zunehmen sollten, könnten nicht mehr Mittel als bisher für die Rechtspflege aufgewandt werden. Man meint, mit den Mitteln in der vorhandenen Höhe auskommen zu müssen, keine weitere Steigerung in diesem 44 45

Leatheusser-Schnarrenberger, N J W 1995, 2444. Wasilewski, Streitverhütung durch Rechtsanwälte (1990).

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Bereich mehr zulassen zu können. Die Justizpolitiker scheinen der Meinung zu sein, für die Rechtspflege sei eine Ausgabenhöhe erreicht, die nun wirklich nicht mehr überschritten werden dürfte und könne46. Schon dieser Ausgangspunkt ist falsch. Ein solcher Blick macht vor dem Tellerrand halt. Die Frage nach den notwendigen Aufwendungen für die Rechtspflege wird nicht - wie es notwendig wäre - von der Sache her, d. h. von der Aufgabe und Funktion der Rechtspflege in der Gesellschaftsordnung her gestellt, sondern von der vermeintlichen Realität des Zustandes der öffentlichen Kassen. Man rechnet mit geringen Einnahmen, daher zukünftig mit weniger Justizpersonal und eingeschränkten Leistungen, ohne auch nur die Frage nach dem Rang der Aufgabe, der Notwendigkeit oder dem Wert ihrer Erfüllung für unsere Gesellschaft zu stellen. Ich brauche nicht weiter auszuführen, welche Bedeutung das Element Rechtsstaat für und in unserer Gesellschaft hat; ein Rechtsstaat, der sich für den Bürger insbesondere in der Rechtspflege augenfällig verwirklicht. Verfolgt man die Diskussion über die Rechtspflegeentlastung, so ist zweifelhaft, ob die Rolle der Rechtspflege unter diesem Aspekt überhaupt noch reflektiert wird. Dahin kommt man, wenn die entscheidenden Weichenstellungen der Rechtspolitik den Finanzpolitikern übertragen werden. Justizpolitiker scheinen die von den Finanzressorts vorgegebene Notwendigkeit von Einsparungen am ehesten hinzunehmen. Sie versuchen nicht genügend, die Bedeutung und den Rang der Rechtspflege im Bereich der Daseinsvorsorge in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat - mit dem Willen zur Durchsetzung - einzubringen und einen Vorrang der Aufgabe der Rechtspflege schon wegen ihres Verfassungsranges zu begründen und durchzusetzen. Die tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland für die Rechtspflege aufgewandten Kosten sind so gering, daß auch nicht im Ansatz eine Begründung zu finden ist für diese „Bis hierher und nicht weiter" Haltung. In allen Bundesländern wurden im Jahre 1992 - so die jüngsten verfügbaren Zahlen47 - für die Rechtspflege insgesamt 14,103 Mrd. ausgegeben, bei Einnahmen in Höhe von 6,078 Mrd. Nimmt man die Kosten des Strafvollzuges mit 2,226 Mrd. einmal heraus, was zulässig ist, da es sich bei diesen Kosten nicht um eigentliche Rechtspflegekosten handelt, so werden durchschnittlich für die gesamte Rechtspflege insgesamt 5,799 Mrd. ausgegeben. Das sind 0,55 % der Ausgaben aller öffentlichen Haushalte. Pro Kopf der Bevölkerung wurden für die Rechtspflege nur etwa 75 DM/Jahr aufgewandt. Im Vergleich: Im Jahr 1991 - und für 1992 gilt ähnliches - waren die wirtschaftspolitisch höchst Schäuble, Fn. 16, S. 241 f; Krumsiek, ZRP 1995,173. " So eine Auskunft des Statistischen Bundesamtes vom 12. 9. 1995. 46

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fragwürdigen Subventionen allein für den Kohlebergbau fast genauso hoch wie die Kosten der Rechtspflege 48 . In den Justizhaushalten der Länder für 1995 waren Ausgaben von 15,972 Mrd. DM bei Einnahmen von 7,798 DM budgetiert49. Das Zahlenbild hat sich also seit 1992 nicht nenneswert verändert. Angesichts dieser Zahlen erweist sich: Wer heute sagt, die Ausgaben für die Rechtspflege seien nicht mehr steigerungsfähig, der räumt indirekt ein, daß sein Bekenntnis zu unserem Rechtsstaat ohne wirkliches Gewicht, daß für ihn die Gewährleistung des Rechtsschutzes von relativer Bedeutung ist. Es muß die Frage gestellt werden: Was ist unserer Gesellschaft ein Rechtsstaat eigentlich wert? Wie kommt es, daß ein Anwalt von eben den Politikern, die ständig am Rechtsstaat herumbasteln, wenn sie selbst einmal Betroffene sind, heftige Klagen über die Unzulänglichkeit unseres Rechtsschutzes hört, gleichzeitig aber so wenig Verständnis für den Rechtsschutz, den andere begehren? Hängt das vielleicht auch damit zusammen, daß in unseren Parlamenten, insbesondere in manchen Landtagen, selbst im Rechtsausschuß kaum noch Juristen sitzen? Ich erwähne nur, daß die SPD als Mehrheitskoalition im größten Bundesland N R W keinen einzigen Juristen aufbieten konnte für den Rechtsausschuß des Landtages. Erinnern sich die Amtsträger des Jahres 1995 noch daran, unter welchen Schwierigkeiten, auch ökonomischer Natur, in den vierziger und fünfziger Jahren mutige deutsche Juristen Recht für die Bürger eingefordert haben, auch um den Preis von weniger Sicherheit, aber mehr Schutz der Integrität des einzelnen Bürgers? Ist die Sicherheitsdiskussion nicht, zumindest außerhalb der Großstädte, der Streit um Verhältnisse, die man vornehmlich in der Zeitung liest, aber nicht erlebt, eine Diskussion, die nur deswegen soviel Zustimmung findet, weil die Zustimmenden sich niemals der Situation aussetzen, die so gefährlich sein soll? Welchen Rang wollen wir der Rechtspflege also geben? Doch zumindest denjenigen, den sie in den letzten Jahren, der jüngsten Vergangenheit, gehabt hat. Als Minimum ist der Standard zu erhalten, den wir jetzt haben. Das heißt aber auch: Wenn neue Aufgaben hinzutreten, müssen für deren Erfüllung Mittel bereit stehen. Warum wird dies für die Rechtspflege in Frage gestellt, während es - etwa im Bereich der öffentlichen Sicherheit - selbstverständlich ist, daß beim Aufkommen neuer Wagnisse auch neue Sicherungspotentiale vorgehalten werden?

48 49

Schäfer, Fn. 19, S. 5. Auskunft des J M Sachsen-Anhalt vom 15. 11. 1995.

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7. Rechtspflegeentlastung durch Modernisierung des Justizmanagements Es soll damit nicht davon abgelenkt werden, daß der Bereich der Rechtspflege, wie alle gesellschaftlichen Bereiche, der ständigen Erneuerung und Modernisierung bedarf. Das gilt für den Bereich der technischen Ausstattung und der organisatorischen Abläufe. Modellversuche in Baden-Württemberg sollen ergeben haben 50 , daß bis zu 30 % Kapazität hierdurch freigesetzt und neu genutzt werden könnte. Hier gilt es anzusetzen. Warum ist dies nicht längst geschehen? Im übrigen gilt es, alle Maßnahmen am Stellenwert zu messen, den die Rechtspflege für unsere Gesellschaft hat. In einer Zeit, in der rundherum in der Gesellschaft die Konflikte zunehmen, um nicht zu sagen, eskalieren, gilt es, die Anwaltschaft zu stärken, die mehr als dreiviertel aller potentiell streitigen Sachverhalte ohne Inanspruchnahme des Gerichtes erledigt, aber auch die Gerichte, die sich mit dem außergerichtlich nicht lösbaren Streitpotential zu beschäftigen haben. Eine Gesellschaft lebt vom Frieden. Kernbereich des inneren Friedens jeder Gesellschaft ist der Frieden im Recht. Deswegen gilt es hier zu verstärken und nicht zu verschlanken. Wer hier einer Verschlankung, einer Ausdünnung das Wort redet, will weniger Rechtsschutz, weniger Rechtsstaat. Es ist auch kein Beispiel von Rechtskultur, sondern eher ein Angriff auf unseren Rechtsstaat, wenn viele die Bürger kritisieren, die ihre Rechte wahrzunehmen versuchen. Alle Parteien haben in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland laut gerufen, unsere Bürger müßten mündiger werden". Nun sind sie es. Wird nun der geforderte Erfolg zur Qual? Zum Rechtsstaat gehört nicht nur aus der Sicht der Anwälte, sondern aller Juristen, daß wir nicht tadeln, sondern belobigen, daß Recht gewahrt wird, Rechte wahrgenommen und in Anspruch genommen werden und daß Recht umkämpft werden darf. Ich meine damit nicht die Auswüchse, die allerdings nicht nur Bürger und Anwälte, sondern auch Richter mit phantasievoller Akribie auf vielen Urteilsseiten ausbreiten, die aber im gesellschaftlichen Leben keine Bedeutung haben, etwa so wichtige Rechtsstreite wie die um die Zulässigkeit der Aufstellung von Gartenzwergen im Vorgarten einer Wohnungseigentumsanlage52. Wir müssen aber annehmen, daß unabhängig von der Höhe der Streitwerte vielen Bürgern mit ihren Sorgen der Schuh drückt. Sie bedürfen der Sicherheit, daß es Gerichte gibt, die in solchen Fällen hin-

50 51 52

Schäuble, Fn. 16, S. 243 f. Vogel, Recht und Politik 1981, 49. O L G Hamburg, Urteil vom 20. 4. 1988, N J W 1988, 2052.

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hören, und Anwälte, die den Sachverhalt so aufbereiten, daß sie einen leider außergerichtlich nicht beilegbaren Streit sachverständig jedenfalls vor Gericht beenden können. 8. Die Verfahrensdauer, ein ernstes Problem? Was ist schließlich von dem Argument zu halten, Eingriffe in unsere seit Jahrzehnten bewährten Verfahrensordnungen seien notwendig, weil die Verfahren insgesamt zu lange dauerten? Auch für diese Behauptung finden sich viele Medien. Der Bürger glaubt es. Tatsächlich geht es um Schwarzmalerei ohne tatsächliche Grundlage. Unbestreitbar gibt es immer wieder einzelne Zivil-, insbesondere Verwaltungsgerichtsverfahren, die sich völlig unzumutbar in die Länge ziehen. Vieles deutet jedoch darauf hin, daß da, wo solche Mängel auftreten, oft die fehlende Leistungsfähigkeit des gerichtlichen Spruchkörpers die Ursache ist. Wie anders ist sonst das Phänomen zu erklären, daß bei ein- und demselben Gericht bei gleichen Pensenzahlen eine Kammer im Durchschnitt etwa nach 4 bis 5 Monaten eine Sache erledigt, eine andere aber vor 10 Monaten nicht einmal einen ersten Termin anberaumt? Die durchschnittliche Erledigungsdauer sieht entgegen allen Unkenrufen zudem nicht schlecht aus: 1994 wurden 60 % aller Zivilsachen beim Amtsgericht innerhalb von drei Monaten erledigt, weitere 25 % in sechs Monaten, insgesamt 97,5 % innerhalb von einem Jahr. Beim Landgericht dauerten 45 % der erstinstanzlichen Prozesse nur drei Monate, 70 % waren nach sechs Monaten erledigt, 88 % nach zwölf Monaten 53 . Was gibt es da zu reformieren? Auch für Berufungsverfahren beim Landgericht gilt nichts anderes. 79 % sind innerhalb von sechs Monaten, 97 % innerhalb von zwölf Monaten erledigt worden 54 , ein geradezu phantastisches Ergebnis. Für Berufungsverfahren beim Oberlandesgericht gilt Vergleichbares. Auch bei den Strafgerichten liegt die Erledigungsdauer im Durchschnitt bei den Amtsgerichten bei drei Monaten, bei den Landgerichten I. Instanz bei knapp sechs Monaten, bei Berufungsverfahren etwa bei drei Monaten 55 . Das sind Zahlen, mit denen die Rechtssuchenden und ihre anwaltlichen Vertreter leben können. Sie geben keinen Anlaß für ein Einschreiten des Gesetzgebers.

53 Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 3. 8. 1995, Bayerisches Justizministerialblatt 1995, S. 113 ff (S. 115, 118). 54 V g l . F n . 53, S. 121. 55 Vgl. Fn. 53, S. 140, 147,151.

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9. Zusammenfassung Als Ergebnis kann demnach festgehalten werden: Die Verfahrenszahlen haben keine Entwicklung genommen, die eine weitere Rechtspflegeentlastung notwendig erscheinen lassen. Das gilt für die Eingangsgerichte ebenso für die Rechtsmittelgerichte. Die Verfahrensdauer steht nach wie vor in einem vernünftigen Verhältnis zur Erwartung des rechtssuchenden Bürgers. Sie legt jedenfalls keine weiteren Entlastungsmaßnahmen nahe. Das gilt auch für Strafverfahren. Die zunehmende Zahl strafrechtlicher Großverfahren kann auch durch die erwogenen weiteren Entlastungsmaßnahmen nicht bekämpft werden, solange immer mehr umfängliche Sachverhalte angeklagt werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen weiterer Rechtspflegeentlastung dienen nicht der Verbesserung der Effektivität der Verfahren, sondern der Einsparung von Stellen und Haushaltsmitteln. Sie werden damit nicht für eine Verbesserung, sondern für eine Verminderung des Rechtsschutzes des Bürgers gefordert. Auch bei der gegenwärtigen Haushaltslage erscheint eine Beschneidung der Justizetats nicht vertretbar. Der Rechtsstaat hat Verfassungsrang. Unser Gemeinwesen ist daher verpflichtet, für die Rechtspflege ausreichende Mittel bereitzustellen. Tatsächlich wendet es schon heute deutlich weniger als 1 % aller öffentlichen Haushalte für diese Aufgabe auf. Die geforderte Sparpolitik setzt die Gewichte anders als das Grundgesetz. Sie greift den Rechtsstaat an. Die Uberschrift zu diesem Beitrag „Rechtspflegeentlastung, ein Angriff auf den Rechtsstaat?" mag dem einen oder anderen überzeichnet erscheinen. Sie ist provokativ formuliert. Die unter dem Stichwort „Rechtspflegeentlastung" vorgeschlagenen Änderungen des bestehenden Rechtspflegesystem sind jedoch Eingriffe in bewährte Rechtstraditionen durch den Staat und unsere Parteien, ohne daß dafür eine wirkliche Veranlassung vorliegt. Es gehört zu den Aufgaben einer freien, vom Staat unabhängigen Anwaltschaft, die dem Recht und dem Rechtssuchenden verpflichtet ist, dem entgegenzutreten.

Zum Kausalitätsbeweis in der Anwaltshaftung G E R O FISCHER

Die anwaltliche Pflichtverletzung löst häufig nicht unmittelbar einen Schaden aus. Oftmals tritt dieser erst als Folge einer Ursachenkette ein, zu der auch Maßnahmen und Entscheidungen Dritter oder eigene Handlungen des Mandanten gehören. In vielen Haftpflichtprozessen bildet daher die Frage, ob der dem Anwalt anzulastende Vertragsverstoß für den geltend gemachten Schaden ursächlich geworden ist, einen wesentlichen Streitpunkt, der beträchtliche Schwierigkeiten bereitet. 1 Dabei ist der rechtliche Ansatzpunkt der dem Richter in diesem Bereich obliegenden Prüfung nicht umstritten. Bestand die Pflichtverletzung in einem positiven Tun, so ist zu fragen, wie sich das Vermögen des Verletzten ohne die pflichtwidrige Handlung entwickelt hätte. Ist dem Anwalt dagegen eine Unterlassung vorzuwerfen, muß untersucht werden, wie die Dinge bei pflichtgemäßem positiven Tun gelaufen wären. 2 Der Beweis für den Ursachenzusammenhang zwischen der Pflichtwidrigkeit und dem Schaden obliegt nach allgemeinen Regeln demjenigen, der Schadensersatz verlangt; denn es handelt sich dabei um eine anspruchsbegründende Voraussetzung. Daran hat die Rechtsprechung im Grundsatz bis heute festgehalten. 3 D a Regreßprozessen gegen den Anwalt oftmals ein sehr komplexer Sachverhalt zugrunde liegt und die Entscheidung dieses Punktes von Wertungsfragen vielfältiger Art beeinflußt sein kann, bedeutet dies für den Mandanten in der Praxis eine hohe Hürde, an der sein Ersatzanspruch nicht selten zu scheitern droht. Daher drängt sich die Frage auf, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen aus dem Zweck der dem Anwalt obliegenden Pflichten und der Abwägung der beiderseitigen Interessen 4 eine Verlagerung der Beweislast auf den Anwalt oder zumindest eine Beweiserleichterung für den Mandanten geboten ist.

' Dieser Beitrag befaßt sich nur mit der Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie, weil die behandelten Beweisprobleme hauptsächlich dort auftreten. Auf Fragen der Adäquanz des Verhaltens und des Zurechnungszusammenhangs sowie des Schutzzwecks der Norm wird daher nicht im einzelnen eingegangen. 2 B G H WM 1988, 1454, 1457. 3 B G H Z 123, 311, 313; B G H NJW 1988, 200, 203; 1992, 2694,2695. * Zur besonderen Bedeutung der Interessenjurisprudenz in der Berufshaftung vgl. Deutsch, VersR 1974, 301; Odersky, NJW 1989, 1, 2.

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I. Umkehr der Beweislast 1. Im Arzthaftungsrecht gilt nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz, daß der Arzt, der einen groben Fehler begangen hat, das Risiko der nicht vollen Aufklärbarkeit des ursächlichen Verlaufs zu tragen hat, sofern die ihm zur Last fallende Pflichtwidrigkeit geeignet war, den eingetretenen Schaden herbeizuführen. 5 Diese Rechtsprechung wurde auf die grobe Verletzung anderer Berufspflichten übertragen, soweit der Betroffene dadurch Schäden an Körper und Gesundheit erlitten hatte.6 Daraus leiten manche die Forderung ab, auch der Anwalt müsse bei groben Vertragsverletzungen das Beweisrisiko tragen. Eine entsprechende Verlagerung sei zur Herstellung der „Waffengleichheit im Prozeß" geboten; denn die Probleme bei der Aufklärung des Ursachenzusammenhangs beruhten gerade wesentlich auf der vom Anwalt zu vertretenden Pflichtwidrigkeit. 7 Der Bundesgerichtshof befaßte sich mit dieser Frage erstmals im Urteil vom 1. Oktober 1987 8 , ohne sie dort jedoch definitiv zu entscheiden. Im konkreten Fall wurde eine Umkehr der Beweislast abgelehnt, weil die verletzte Berufspflicht nicht dem Schutz vor Gefahren für Körper und Gesundheit, sondern lediglich der Wahrung vermögensrechtlicher Interessen diente und die eingetretene Schadensfolge nicht auf einem typischen Geschehensablauf beruhte. 9 Schon diese Entscheidung ließ eine zurückhaltende Einstellung gegenüber den Bestrebungen erkennen, die zum Arzthaftungsrecht entwickelten Beweisgrundsätze auf den Anwaltsvertrag zu übertragen. Inzwischen hat der I X . Zivilsenat des B G H in einem Grundsatzurteil vom 9. Juni 1994 10 eine Beweislastumkehr generell abgelehnt. Der Mandant hat auch im Falle eines groben anwaltlichen Pflichtverstoßes dessen Kausalität für den geltend gemachten Schaden zu beweisen. Zwei Erwägungen waren dafür von maßgeblicher Bedeutung: Einmal betrifft der ärztliche Kunstfehler den Patienten unmittelbar in seiner Person, während der Fehler des Anwalts in der Regel „nur" vermögensrechtliche Nachteile zur Folge hat. Vor allem aber sind die Beweisschwierigkeiten des Mandanten nicht mit denen des geschädigten Patienten vergleichbar. In Arzthaftpflichtfällen läuft die Kausalkette regelmäßig in

5 BGHZ 85, 212, 216 f; 107, 222, 228; BGH NJW 1959, 1583; 1968, 1185; VersR 1974, 804, 807; NJW 1988,2949,2950. 6 BGH NJW 1962, 959 (Schwimmeister); 1971, 241, 243 (Pflegepersonal).

7

Giesen, JZ 1988, 660; Heinemann,

tungsrecht, Rdn. 525; Palandt/Heinrichs, 8 NJW 1988, 200. 9 AaO, S. 203. 10 BGHZ 126,217.

NJW 1990, 2345, 2353; Vollkommen BGB 55. Aufl., § 282 Rdn. 14.

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einem Bereich ab, der der besonderen Verantwortung des Arztes unterliegt." Bei anwaltlichen Vertragsverletzungen wird die Schadensentstehung dagegen häufig entscheidend beeinflußt von Umständen aus der Sphäre des Mandanten, die der Anwalt nicht kennt oder auf die er jedenfalls keinen Einfluß nehmen kann.12 Bezüglich dessen, was sich im Körper des Patienten abspielt, hat der Arzt einen erheblichen Wissensvorsprung. Weil die Aufklärung des Sachverhalts besondere medizinische Kenntnisse voraussetzt, ist der Patient dem Arzt insoweit als Prozeßpartei deutlich unterlegen. Das Gebot der „Waffengleichheit" 13 , zu dem insbesondere dort eine faire Balance zwischen den Parteien gehört, wo es um die Möglichkeiten zum Nachweis des entscheidungserheblichen Tatsachenablaufs geht, erfordert in jenem Bereich die Beweisumkehr zugunsten des Geschädigten. Im Anwaltshaftungsrecht geht es dagegen häufig um tatsächliche Fragen, zu deren Klärung der Mandant ebensogut beitragen kann wie der Anwalt, denen er vielfach sogar näher steht, weil sie sich in seiner Lebenssphäre abgespielt haben. Da es dem Anwalt in diesen Bereichen praktisch unmöglich ist, den Gegenbeweis zu führen, würde er durch eine Umkehr der Beweislast zum Garanten der enttäuschten Erwartungen des Mandanten. Die Rechtsfolge, die im Arztrecht zur Wahrung der Belange des Verletzten unabweisbar erscheint, würde daher im Anwaltsvertragsrecht deutlich über das Ziel hinausschießen. Deshalb ist zu prüfen, ob das notwendige Gleichgewicht in diesem Bereich nicht bereits durch Beweiserleichterungen für den Mandanten zu erreichen ist.14 Leugnet der Anwalt den Ursachenzusammenhang allerdings mit der Behauptung, der Mandant habe später eine vom ursprünglichen Auftrag abweichende Weisung erteilt, so behauptet er eine nachträgliche Vertragsänderung, die immer derjenige zu beweisen hat, der daraus Rechtsfolgen herleiten will. Dies gilt jedoch unabhängig davon, ob die Pflichtverletzung als eine grobe anzusehen ist. Gelingt dem Anwalt der Nachweis, daß der Auftrag später geändert wurde, ist der Kausalzusammenhang im übrigen wiederum vom Mandanten nachzuweisen. 15 2. Wird das Schadensersatzbegehren auf die Behauptung gegründet, der Anwalt habe die ihm obliegenden Aufklärungs-, Hinweis- oder BeVgl. BGHZ 85,212, 216. BGHZ 126, 217, 224; im wesentlichen ebenso Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, 2. Aufl., § 282 BGB Rdn. 36, 42; der neuen Rechtsprechung zustimmend Borgmann/Haug, Anwaltshaftungsrecht, 3. Aufl., Kap. IX Rdn. 24; Ehricke, LM BGB § 675 Nr. 205. " Zu diesem Prinzip vgl. neuerdings EGMR NJW 1995, 1413 mit Besprechung Schlosser, NJW 1995,1404. 14 Dazu unten II. 15 BGHZ 126,217,221. 11

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ratungspflichten verletzt, erhebt sich in jedem Falle die Frage, wie der Mandant gehandelt hätte, wäre er ordnungsgemäß ins Bild gesetzt worden. Da es sich insoweit um einen gedachten, „hypothetischen" Sachverhalt handelt, begründet dieser Punkt besondere Beweisschwierigkeiten, die zudem bei pflichtgemäßem Handeln des rechtlichen Beraters nicht aufgetreten wären. Daher sind sich Lehre und Praxis im Ansatz einig, daß dem Mandanten das Uberwinden dieser Hürde erleichtert werden muß. a) Nach einer vom Bundesgerichtshof im Kauf- und Werkvertragsrecht entwickelten Rechtsprechung trifft denjenigen, der vertragliche Hinweis- oder Beratungspflichten verletzt, das Risiko der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs, soweit es um die Frage geht, wie der Kunde gehandelt hätte, wenn ihm die gebotene Aufklärung erteilt worden wäre.16 Zu seinen Gunsten gilt also die Vermutung, er hätte sich so entschieden, daß ihm kein finanzieller Nachteil entstanden wäre. Der Vertragsgegner kann eine entsprechende richterliche Wertung nur dadurch vermeiden, daß er den vollen Gegenbeweis führt. Diese Rechtsfolge wird für notwendig gehalten, weil die Hinweispflicht gerade dem Zweck diene, den Käufer bzw. Besteller über das mit der Sache oder Leistung verbundene besondere Risiko zu belehren. Erst durch die Aufklärung erhalte der Kunde die notwendige Grundlage für eine sachgerechte Entscheidung, ob er den Vertrag mit dem vorgesehenen Inhalt abschließt. b) Diese Beweislastverteilung wurde in der Folgezeit auch auf andere Vertragstypen ausgedehnt, insbesondere das Arztrecht17 und das Bankrecht18. Der VII. Zivilsenat das B G H wendet diese Regelung an beim Bauherrenmodell für Ansprüche aus Prospekthaftung sowie wegen Beratungspflichtverletzung gegen Mittelverwendungstreuhänder - häufig Steuerberater oder Rechtsanwälte.19 Nicht übernommen wurde diese Rechtsprechung dagegen vom II. Zivilsenat für Ansprüche aus Prospekthaftung im Zusammenhang mit dem Beitritt zu einer PublikumsKG. Der Anspruchsteller habe die Behauptung zu beweisen, er wäre der Gesellschaft ohne die Pflichtverletzung des Gegners nicht beigetreten.20 Allerdings spreche die Lebenserfahrung dafür, daß ein in wesentlichen " B G H Z 61, 118, 121; 64, 46, 51. " B G H Z 89, 95,103; B G H NJW 1994, 2414, 2415 und viele andere Entscheidungen. " B G H Z 72, 92, 106 (Finanzierungsvertrag); WM 1988, 1031 (Aktienkauf); ZIP 1992, 612, 615 (Warentermindirektgeschäfte); B G H Z 124, 151, 159 f (Terminoptionsgeschäfte). " B G H NJW 1990, 2461, 2463 (insoweit nicht in B G H Z 111, 314 abgedruckt); WM 1989, 1286, 1288. 20 Vgl. B G H Z 79, 337, 346; 84, 141, 148; B G H WM 1991, 1543, 1545; ZIP 1992, 1561, 1562.

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Punkten unrichtiger Prospekt für den auf seiner Grundlage erklärten Beitritt kausal gewesen ist. Es bleibe jedoch Sache des Tatrichters, im Rahmen der Gesamtabwägung nach Erhebung der angetretenen Beweise zu entscheiden, ob er von der Ursächlichkeit des Aufklärungsmangels für den Beitrittsentschluß überzeugt sei. Dabei seien sowohl die vom Kläger vorgetragenen Gründe als auch die objektive Bedeutung, die die ihm verschwiegenen Tatsachen für die Werthaltigkeit des Anlageobjekts hatten, zu berücksichtigen. 21 In gleicher Weise entscheidet dieser Senat bei Ersatzansprüchen gegen eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft wegen fehlerhafter Beratung betreffend die Beteiligung an einer GmbH. 22 c) Die Rechtsprechung nahm zunächst auch bei Regreßprozessen gegen rechtliche Berater eine entsprechende Beweislastumkehr an. Danach hatte der Rechtsanwalt, der seinen Auftraggeber nicht ordnungsgemäß belehrt oder beraten hat, zu beweisen, daß der Mandant sich über die gebotenen Hinweise hinweggesetzt hätte, die Vertragsverletzung also nicht schadensursächlich geworden ist.23 Zugunsten des Mandanten gelte die tatsächliche Vermutung, daß derjenige, der einen anderen wegen seiner besonderen Sachkunde um Rat frage, sich beratungsgemäß verhalten hätte.24 Diese Rechtsprechung beruft sich auf eine aus der Lebenserfahrung aufgrund der Typizität eines bestimmten Geschehensablaufs gezogene Schlußfolgerung. 25 Sie gilt nur, wenn im Hinblick auf die Interessenlage oder andere objektive Umstände eine bestimmte Entschließung des zutreffend informierten Mandanten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten wäre, also nicht ausnahmslos, sondern nur im Regelfall. Erforderlich sind Tatsachen, die es nahelegen, daß ein vernünftig urteilender Mandant den Ratschlägen seines rechtlichen Beraters gefolgt wäre.26 d) Eine auf die Lebenserfahrung gestützte tatsächliche Vermutung rechtfertigt aber keine volle Beweislastumkehr; denn sie beruht auf Erfahrungssätzen, die erschüttert werden, sobald feststeht, daß infolge bestimmter Indizien ein atypischer Kausalverlauf konkret möglich erscheint. Lebenserfahrung und Wahrscheinlichkeit gehören nicht zum Bereich der grundsätzlich normbezogenen Beweislast, sondern sind Ele-

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BGH WM 1991, 1543, 1545; ZIP 1992,1561,1562. BGH ZIP 1993, 363, 365. 23 BGH VersR 1981, 982, 985; NJW 1983, 1665,1666; 1990, 2127, 2128. Für den Steuerberater vgl. BGH ZIP 1981, 1213, 1215; WM 1985, 319; NJW 1990, 827, 828. 24 BGH NJW 1983, 1665, 1666; VersR 1985, 83, 85; NJW 1990, 2127, 2128; 1992, 240, 241; 1159, 1160; NJW-RR 1992, 1110. 25 BGH VersR 1985, 83? 85; NJW 1992, 1159, 1160. 26 BGH NJW 1988,200, 203; BGHZ 123,311, 314 f. 22

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mente der Beweiswürdigung. 27 Es waren jedoch nicht allein diese dogmatisch-konstruktiven Bedenken, die den IX. Zivilsenat des B G H veranlaßt haben, mit Urteil vom 30. September 199328 die bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr aufzugeben. Vorrangig war vielmehr die Erkenntnis, daß die Verlagerung der Beweislast bei Verträgen, die die rechtliche Beratung und Betreuung zum Gegenstand haben, nicht zu einer angemessenen Risikoverteilung zwischen den Parteien führt. Gerade im Kauf- und Werkvertragsrecht, wo die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr begonnen hat, geht es fast ausschließlich darum, den Kunden davor zu schützen, einen Gegenstand zu erwerben, dessen Risiko er nicht kennt. Die Gefahr, über die der Kunde zu belehren ist, rührt in aller Regel aus einem der Sphäre des Verkäufers bzw. Unternehmers zuzuordnenden Umstand her.29 Dagegen ist bei Verträgen mit rechtlichen Beratern das Feld der Aufklärung und Belehrung erfordernden Ursachen praktisch unübersehbar; es wird wesentlich mitbestimmt von den spezifischen Wünschen, Anliegen und Belastungen des Mandanten, den bei ihm anzutreffenden individuellen Lebensumständen. Diese Tatsachen können für die Beurteilung, wie er bei korrekter Beratung reagiert hätte, bedeutsam werden und im konkreten Fall hinreichende Indizien dafür liefern, daß von einer tatsächlichen Vermutung für beratungsgemäßes Verhalten nicht ausgegangen werden darf. Müßte der rechtliche Berater trotzdem den vollen Gegenbeweis führen und demgemäß Tatsachen aus dem Einflußbereich seines Auftraggebers beweisen oder widerlegen, stände er vor einer praktisch nicht überwindbaren Hürde. Dies belegt schon die Tatsache, daß, soweit ersichtlich, in keinem der den höchstrichterlichen Entscheidungen zugrunde liegenden Fälle das Gelingen des Gegenbeweises ernsthaft in Betracht kam. Die Beweislastumkehr würde folglich im praktischen Ergebnis den Mandanten immer so stellen, als hätte dieser die Hinweise, die zu erteilen versäumt wurden, tatsächlich befolgt. Seinen individuellen Umständen und Verhaltensweisen würde so jede entscheidungserhebliche Bedeutung entzogen. Eine derartig strenge und pauschale Haftung gäbe dem Ratsuchenden mehr, als es seine schutzwürdigen Interessen erfor-

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B G H Z 123, 311, 315 in Übereinstimmung mit einer im Schrifttum zunehmend vertretenen Auffassung: Baumgärtel/Laumen, aaO, § 675 BGB Rdn. 21 f; MünchKommZPO/Prutting, § 292 Rdn. 23; Rinsche, Die Haftung des Rechtsanwalts und des Notars, 5. Aufl., Rdn. I 309; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., S. 663, 673; Vollkommer, aaO, Rdn. 510, 517, 527; Baumgärtel, Festschrift für Schwab, 1990, S. 43, 46 ff; Heinemann, N J W 1990, 2345, 2352; Lauda, LM BGB § 249 (Ba) N r . 33; Prutting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 55; Stodolkowitz, VersR 1994, 11, 13; Vollkommer, Festschrift für Baumgärtel, 1990, 585, 592 ff; Walter, Z Z P 90, 274, 277. 2 » B G H Z 123, 311; dieser Linie folgend B G H N J W 1994, 1472, 1475; 1995, 449, 451. 29 Vgl. die Ausgangsentscheidungen B G H Z 61, IIB; 64, 46.

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dem.30 Daher ist auch hier zu prüfen, ob den anzuerkennenden Belangen des Mandanten nicht auf andere Weise Rechnung getragen werden kann. II. Beweiserleichterungen 1. Die tatsächliche Vermutung, der Mandant hätte sich beratungsgemäß verhalten, wenn der Anwalt ihm die vertraglich geschuldeten Hinweise erteilt hätte, bildet einen aus der Lebenserfahrung gewonnenen Grundsatz. Damit drängt sich die Frage auf, ob wir es mit einem Anwendungsfall des Anscheinsbeweises zu tun haben.31 Nach ständiger Rechtsprechung greift der Beweis des ersten Anscheins nur bei typischen Geschehensabläufen ein: Es muß ein Sachverhalt feststehen, der entsprechend der allgemeinen Lebenserfahrung auf einen bestimmten Geschehensablauf als maßgeblich für den Eintritt des Erfolges hinweist.32 Kommt zwischen einem anwaltlichen Rat und der Reaktion des Mandanten darauf überhaupt eine solche typische Verknüpfung in Betracht, obwohl es hier um den individuellen Willensentschluß einer Person, also ein notwendigerweise subjektives Element, geht? a) Wer sich an einen rechtlichen Berater wendet, tut dies gewöhnlich in der Absicht, in einer Angelegenheit, die er selbst rechtlich nicht hinreichend überblickt oder die er allein nicht zu regeln vermag, die günstigste Lösung zu finden. Er erwartet daher von der Person, die er aufgesucht hat, besondere Sachkunde und ist in der Regel auch bereit, ihr Vertrauen entgegenzubringen. In solchen Fällen hat der Anwalt seinen Auftraggeber mit allen Informationen zu versorgen, die er für die zu treffende Entscheidung benötigt, und ihm vielfach in dieser Hinsicht einen Vorschlag zu unterbreiten. Ist die geschuldete Leistung in solcher Weise auf eine persönliche Entschließung des Auftraggebers ausgerichtet und erweist sich aus der Sicht eines vernünftigen Mandanten - bezogen auf den Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung - nur eine bestimmte Entscheidung als sachgerecht, so darf vermutet werden, daß er diesen Weg auch gewählt hätte. Nach der Lebenserfahrung ist derjenige, der sich zur Durchsetzung eigener Interessen der überlegenen Kenntnisse eines Beraters bedient, bereit, die von diesem aufgezeigte vorteilhaftere Lösung zur Erreichung des angestrebten Ziels zu wählen. Damit ist unter den 30 51

B G H Z 123, 311, 315 f; Stodolkowitz, VersR 1994, 11, 13. Bejahend B G H Z 123, 311 und die in Fn. 28 zitierten Urteile; aus der Literatur Baum-

gärtel/Laumen, aaO; Borgmann/Haug, aaO, Kap. IX Rdn. 25 ff; Rinsche, aaO; Vollkommer, Festschrift für Baumgärtel, aaO; Grunewald, ZIP 1994, 1162, 1165; Walter, aaO, S. 274 ff. 32 Vgl. B G H Z 100, 31, 33; 114, 2 8 4 , 2 9 0 f.

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genannten Voraussetzungen ein für die Bejahung des Anscheinsbeweises geeigneter typischer Sachverhalt gegeben.33 Diese Lösung scheint dem in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher geltenden Grundsatz zu widersprechen, einen Anscheinsbeweis für individuelle Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen könne es nicht geben.34 Diese Ansicht mag einleuchten, wenn ein Vorgang zu beweisen ist, der sich tatsächlich ereignet hat. Hier dagegen muß sich der Richter die Uberzeugung davon bilden, wie ein nur gedachtes Geschehen voraussichtlich abgelaufen wäre. Dafür stehen keine unmittelbaren Beweise zur Verfügung. Der Richter ist folglich weitgehend auf Indizien, auf Vermutungen und seine Lebenserfahrung angewiesen, aus denen er die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen hat. Dann aber muß es rechtlich zulässig sein, aus Sachverhalten, die eine bestimmte Reaktion nahelegen, prima facie das Beweisergebnis abzuleiten.35 Tatsächlich ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in einer Reihe entsprechender Fälle so verfahren, insbesondere wenn es darum ging, ob der Getäuschte auch ohne die Täuschung die Willenserklärung abgegeben hätte36, und wie sich der Geschädigte verhalten hätte, wenn ihm die gebotene Aufklärung und Unterrichtung zuteil geworden wäre.37 Im Recht der unerlaubten Handlung und der Amtshaftung lassen sich ebenfalls Beispiele finden. So besteht - bei prinzipieller Beweislast des Verletzten - eine tatsächliche Vermutung dafür, daß derjenige, den der Produkthersteller hätte warnen müssen, die Warnung auch beachtet hätte, wenn auf die Gefahr deutlich und plausibel hingewiesen worden wäre; diese Vermutung kann der Warnpflichtige entkräften.38 Der III. Zivilsenat des B G H gesteht dem Geschädigten eine Beweiserleichterung - unterhalb der Schwelle einer Beweislastumkehr - zu, wenn nach der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder Wahrscheinlichkeit für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Amtspflichtverletzung und Schaden besteht; dabei kann auch eine individuelle Entschließung das maßgebliche Bindeglied ausmachen.39

B G H Z 123, 311, 317; vgl. auch B G H VersR 1985, 83, 85; N J W 1992, 1159, 1160. B G H Z 31, 351, 357; 100, 214, 216; B G H LM Z P O § 286 (C) Nr. 11 und 42 a; N J W 1968, 2139; 1983, 1548, 1551. Diese Auffassung wird im Schrifttum angegriffen: vgl. Baumgärtel, Festschrift für Schwab, S. 42, 46, 50; Lepa, Festschrift für F. Merz, S. 387, 399; Prutting, Karlsruher Forum 1989, S. 13; Vollkommer, Festschrift für Baumgärtel, S. 585, 592 ff. 35 Vgl. auch Greger, VersR 1980, 1091, 1103. 36 B G H N J W 1958, 177; 1967, 1222, 1223; WM 1976, 111, 113. Diese Rechtsprechung hat der V. Zivilsenat jüngst durch Urteil vom 12. Mai 1995, WM 1995, 1540, bestätigt. 37 B G H N J W 1974, 795, 796; VersR 1985, 83, 85; N J W 1992, 1159, 1160. 3» B G H Z 116, 60, 73. 3 ' B G H N J W 1986, 2829, 2831; 1989, 2945, 2946; WM 1995, 64, 66; 1244, 1246. 33

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b) Danach ist im Regelfall prima facie anzunehmen, daß der Mandant die vom Anwalt versäumten, jedoch rechtlich gebotenen Empfehlungen und Ratschläge befolgt hätte. Dies gilt nicht, wenn schon das eigene Vorbringen des Klägers konkrete Zweifel rechtfertigt. Der rechtliche Berater kann den Anscheinsbeweis zudem nach den allgemeinen Regeln entkräften. Er muß also Tatsachen beweisen, aus denen sich die konkrete Möglichkeit eines atypischen Ursachenablaufs ergibt.40 Das ist auf verschiedene Weise möglich. Der Anwalt kann Gründe aufzeigen, die es aus der Sicht des Mandanten rechtfertigten, der Empfehlung nicht zu folgen, oder in der Persönlichkeit oder den Lebensumständen seines Auftraggebers wurzelnde Ursachen nachweisen, die ein von der Norm abweichendes Verhalten ernsthaft in Betracht kommen lassen.41 c) Der Anscheinsbeweis kann dem Mandanten die Beweisführung nicht nur bei der Frage erleichtern, ob er den Rat befolgt hätte, den ihm der Anwalt hätte geben müssen. Der Anscheinsbeweis gewinnt vielmehr überall dort Bedeutung, wo ein hinreichend typischer Sachverhalt vorliegt, der eine entsprechende, auf die Lebenserfahrung gegründete Folgerung rechtfertigt. So hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, daß prima facie davon auszugehen ist, der Mandant hätte dem Anwalt rechtzeitig die notwendige Information erteilt, wenn dieser in der gebotenen Weise beraten und den Sachverhalt aufgeklärt hätte.42 Beschränkte sich die Aufgabe des rechtlichen Beraters darauf, die notwendigen rechtlichen Hinweise zu liefern und kamen für den Auftraggeber bei zutreffender Information mehrere vernünftige, aber mit unterschiedlichen Folgen verbundene Möglichkeiten in Betracht, bleibt in der Regel kein Raum für eine tatsächliche Vermutung. Anders ist der Sachverhalt dann zu beurteilen, wenn im Falle einer zutreffenden rechtlichen Auskunft vom Standpunkt eines vernünftigen Betrachters aus - der sich in der Situation des Mandanten befindet - von Anfang an lediglich eine Entscheidung sachgerecht war. Es ist kein Grund ersichtlich, den Geschädigten unter solchen Voraussetzungen, die er allerdings darlegen und beweisen muß, schlechter zu stellen als in den Ratschlagsfällen. 43 Auch hier kann der Anwalt Tatsachen nachweisen, die konkrete Zweifel daran begründen, ob der Kläger sich für die objektiv vorteilhafteste Variante entschieden hätte. 40 Zu den Voraussetzungen an die Entkräftung des Anscheinsbeweises allgemein vgl. B G H Z 8, 239; B G H N J W 1994, 945, 946; 1995, 449, 451. 11 Vgl. B G H Z 123, 311, 318 f. « B G H N J W 1 9 9 4 , 1 4 7 2 ; 1992, 240. " B G H Z 123, 311, 318; vgl. auch B G H N J W 1992, 1159, 1160; zustimmend Baumgärtel/Laumen, aaO, § 675 BGB Rdn. 21 f; Borgmann/Haug, aaO, Kap. IX Rdn. 25; a. A . Lauda, LM BGB § 249 (Ba) Nr. 33.

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d) Über den Weg des Anscheinsbeweises gelangt man zu einer angemessenen und ausgewogenen Risikoverteilung zwischen dem Regreß verlangenden Mandanten und seinem rechtlichen Berater. Diesem verbleibt im Bereich des Kausalzusammenhangs eine faire Abwehrchance. Auf der anderen Seite ist es aber erforderlich, zum Schutz der Interessen des Mandanten die Grundsätze des Anscheinsbeweises heranzuziehen. Wird die tatsächliche Vermutung, der Geschädigte hätte beratungsgemäß gehandelt, lediglich als ein Indiz gewertet, dessen Gewichtung im Einzelfall vollkommen dem tatrichterlichen Ermessen überlassen bleibt44, ist die Wirkung zugunsten des Geschädigten nur schwer faßbar und voraussehbar. Es erscheint mir fraglich, ob mit einer solchen „Gesamtabwägungsmethode" das Prozeßrisiko für den Mandanten spürbar herabgesetzt wird; jedenfalls leidet die Rechtssicherheit. 2. Eine weitere Beweiserleichterung für den Anspruchsteller in diesem Bereich ergibt sich aus § 287 ZPO. Nach ständiger Rechtsprechung gehört bei Ersatzansprüchen aus Vertragsverletzung der Eintritt des Vermögensschadens im allgemeinen nicht zum Haftungsgrund. Deshalb wird bereits für den Beweis, daß die Vertragsverletzung zum Schaden geführt hat, die Vorschrift des § 287 Abs. 1 ZPO herangezogen.45 Bei Vertragsverletzungen bildet das der übernommenen Pflicht entsprechende Interesse des Vertragspartners das geschützte Rechtsgut. Der Verstoß gegen die vertraglich vereinbarte Pflicht, durch den der Partner so betroffen wird, daß für ihn nachteilige Folgen eintreten können, ist der nach § 286 Z P O zu beweisende Haftungsgrund. Alle weiteren Tatsachen, insbesondere die Feststellung, daß infolge der Pflichtverletzung ein Schaden entstanden ist, gehören zur haftungsausfüllenden Kausalität und damit zum Bereich des § 287 ZPO. 4 6 Dazu zählt auch die Frage, wie sich der Mandant bei vertragsgerechter Beratung verhalten hätte. Dies ist schon deshalb berechtigt, weil die Handlung des Mandanten - etwa mit Abgabe einer rechtlich ungünstigen Willenserklärung - bereits unmittelbar den Schaden herbeiführen kann. Selbst wenn sie jedoch lediglich Glied einer längeren Ursachenkette ist, darf nichts anderes gelten. Abgesehen davon, daß andernfalls schwierige Abgrenzungsprobleme

Vgl. die in Fn. 20 und 21 zitierten Urteile. BGHZ 4, 192, 196; 58, 343, 349; 84, 244, 253; BGH NJW 1983, 998; 1993, 3073, 3076. 46 Im Schrifttum ist die Frage sehr umstritten. Der Rechtsprechung folgen: Borgmann/Haug, aaO, Kap. IX Rdn. 23; Baumgärtel/Laumen, aaO, § 6 7 5 Rdn. 18; Rinsche, aaO, Rdn. I 308; Stodolkowitz, VersR 1994, 11, 14; Vollkommer, Anwaltshaftungsrecht, Rdn. 514. Ein Teil der Literatur vertritt dagegen die Auffassung, auch der Zusammenhang zwischen der Vertragsverletzung und der Beeinträchtigung des Rechtsguts sei nach § 286 ZPO zu beweisen: so namentlich MünchKomm-ZPOIPrutting, § 287 Rdn. 10; SteinJonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 287 Rdn. 15; Zöller/Greger, ZPO, 19. Aufl., § 287 Rdn. 3. 44

45

Z u m K a u s a l i t ä t s b e w e i s in der A n w a l t s h a f t u n g

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entständen, läßt sich für die Zuordnung zu § 287 Z P O zusätzlich ins Feld führen, daß allein die tatsächlichen Geschehnisse exakter Feststellung zugänglich sind, bei Würdigung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Verstoß gegen die Aufklärungspflicht und dem eingetretenen Schaden dagegen hypothetische Erwägungen notwendig sind. Diesen aus der Art des Schadens herrührenden Beweisschwierigkeiten wird nur ein Verfahren, wie es in § 287 Abs. 1 Z P O vorgesehen ist, gerecht.47 Die Anwendung dieser Vorschrift ermöglicht es zudem - was in der Praxis viel zu wenig genutzt wird - , den Regreßkläger zur Frage, was er bei korrekter Beratung getan hätte, als Partei zu vernehmen, ohne daß die Voraussetzungen des § 448 Z P O gegeben sind. Die Vorschrift des § 287 Z P O spielt daher im Haftungsrecht der Rechtsanwälte und Steuerberater bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs eine wesentliche Rolle. 48

III. Folgerungen Der IX. Zivilsenat des B G H hat bei Verträgen mit rechtlichen Beratern eine Beweislastumkehr in erster Linie aus Gründen abgelehnt, die das spezifische Interessengefüge solcher Verträge kennzeichnen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Gründe, die dafür sprechen, im Bereich der Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Schaden dem Geschädigten statt mit einer Umkehr der Beweislast durch die Anwendung des Anscheinsbeweises entgegenzukommen, auch bei anderen Ansprüchen - seien sie vertraglicher oder gesetzlicher Art - Bedeutung gewinnen. Die Frage erscheint schon deshalb berechtigt, weil die Rechtsprechung dieses Beweisproblem in den einzelnen Rechtsgebieten auf durchaus verschiedene Weise angegangen ist und sich so ein bunter Teppich von Lösungsansätzen gebildet hat, der für den Praktiker in der Tatsacheninstanz nur schwer überschaubar ist.49 Abschließend soll daher noch erörtert werden, wo eine Ausdehnung der im Anwalts- und Steuerberaterrecht entwickelten Grundsätze der Beweislastlösung vorzuziehen sein dürfte.

, 7 B G H N J W 1983, 998; 1993, 3073, 3076. D a g e g e n rechnen die in letzter Zeit v o m II. Zivilsenat z u r P r o s p e k t h a f t u n g u n d V e r l e t z u n g eines B e r a t u n g s v e r t r a g e s im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Beitritt z u einer P u b l i k u m s g e s e l l s c h a f t erlassenen U r t e i l e (vgl. F n . 19 u n d 2 0 ) d a s Verhalten des A n l e g e r s z u den nach § 286 Z P O zu w ü r d i g e n d e n T a t s a c h e n .

V g l . B G H N J W 1988, 200, 204; 1992, 2694, 2695; 1995, 449, 451; 2108, 2111. " G e r a d e im Bereich der V e r l e t z u n g vertraglicher A u f k l ä r u n g s p f l i c h t e n hat - entgegen B G H Z 124, 151, 159 f - eine einheitliche R e c h t s p r e c h u n g nie b e s t a n d e n (vgl. die in F n . 16 bis 25 zitierten E n t s c h e i d u n g e n ) ; z u t r e f f e n d Goette, D S t R 1994, 332. 48

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1. Nach Auffassung des IX. Zivilsenats gilt der Anscheinsbeweis, daß der Verletzte den ihm geschuldeten Rat befolgt hätte, außer bei Verträgen mit rechtlichen Beratern auch im Notarhaftungsrecht 50 , obwohl es hier um Ansprüche aus Amtspflichtverletzung geht. Es deutet nichts darauf hin, daß der Betroffene den Hinweisen, die der mit amtlicher Autorität ausgestattete Notar ihm nach §§ 17 Abs. 1 BeurkG, 14 Abs. 1 S. 1 BNotO hätte erteilen müssen, geringere Beachtung geschenkt hätte als eine Partei ihrem rechtlichen Berater. Auch die Möglichkeiten der Beweisführung und die Bedeutung der gegensätzlichen Interessen sind nicht anders als in Regreßprozessen gegen Anwälte zu bewerten. Unter vergleichbaren Voraussetzungen räumt der III. Zivilsenat bei Amtshaftungsansprüchen allgemein dem Kläger entsprechende Beweiserleichterungen ein, wenn es darum geht, wie eine persönliche Entscheidung bei Beachtung der Amtspflichten ausgegangen wäre.51 2. Die Tätigkeit des Steuerberaters erstreckt sich häufig auf das Gebiet der Anlageberatung, weil der Mandant nach einer Geldanlage sucht, die es ihm ermöglicht, Steuern zu sparen. Die erbetene Beratung betrifft dann sowohl das Gebiet des Steuerrechts als auch die mit der Geldanlage verbundenen wirtschaftlichen Vorteile und Risiken. Dabei handelt es sich häufig um eine einheitliche Tätigkeit. Auch unter Interessengesichtspunkten spricht nichts dafür, bei der Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Schaden jeweils danach zu unterscheiden, ob der Beratungsfehler das Steuerrecht oder die Geldanlage betrifft. Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater sind häufig in die Erstellung von Prospekten einbezogen, mit denen für den Beitritt zu einer Publikumsgesellschaft oder zu einem Bauherrenmodell geworben wird. Ihre dort abgedruckte Stellungnahme soll beim angesprochenen Interessenkreis Vertrauen in die Seriosität des Projekts begründen. Deshalb können sie für von ihnen mitzuverantwortende Fehlinformationen der Werbebroschüre im Wege der Prospekthaftung in Anspruch genommen werden. 52 Die Tätigkeit, für die sie hier zur Verantwortung gezogen werden, unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich von dem, was sie im Rahmen ihrer üblichen beruflichen Tätigkeit an Beratung zu leisten haben. Das Schutzbedürfnis der potentiellen Anleger ist ebenfalls nicht nennenswert höher oder niedriger einzustufen als dasjenige eines Mandanten, der für eine rechtliche Entscheidung oder eine Investition sachkundigen Rat benötigt. Daher liegt es nahe, auch hier die Grundsätze

50 51 52

B G H N J W 1993, 2744, 2746; 1995, 330, 332. Vgl. die in Fn. 39 zitierten Entscheidungen. B G H Z 7 7 , 172; 1 1 1 , 3 1 4 .

Zum Kausalitätsbeweis in der Anwaltshaftung

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des Anscheinsbeweises für die Frage heranzuziehen, ob der Beitritt bei sachgerechter Information nicht erklärt worden wäre, also einerseits von einer Beweislastumkehr 53 abzusehen, andererseits einen entsprechenden Erfahrungssatz nicht nur als bloßes Indiz 54 zu werten.

3. Bei Verträgen, die den Erwerb eines Gegenstandes oder einer Leistung betreffen - dazu zählen auch alle Arten der Vermittlung einer Geldanlage - dient die gebotene Aufklärung des Kunden dazu, ihn darüber zu informieren, welches Risiko für ihn mit dem in Aussicht genommenen Geschäft verbunden ist. Der Kunde soll so die Möglichkeit erhalten zu prüfen, welche Gefahren den Vorteilen des in Aussicht genommenen Rechtsgeschäfts gegenüberstehen. Die Aufklärungspflicht hat somit in erster Linie Warnfunktion; sie soll davor schützen, einen Vertrag zu schließen, dessen Risiko der Kunde nicht kennt. Mit diesem besonderen Zweck der Schutzpflicht wird die Notwendigkeit einer Beweislastumkehr begründet. 55 Dieser Auffassung ist einzuräumen, daß die Hinweispflicht hier - anders als bei Verträgen mit rechtlichen Beratern dazu dienen soll, den Abschluß von Verträgen zu verhindern, deren nachteilige Folgen der Kunde mangels hinreichender Aufklärung nicht übersehen konnte. Wäre dieses fraglos berechtigte Schutzbedürfnis aber nicht schon dann angemessen berücksichtigt, wenn prima facie vermutet würde, der Kunde hätte im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung den Vertrag nicht geschlossen? Die einschlägigen Entscheidungen befassen sich mit dieser Frage nicht, möglicherweise aus der Erwägung heraus, daß es für individuelle Willensentschlüsse keinen Anscheinsbeweis geben könne. Dies wäre jedoch aus den oben II. 1. a) dargelegten Gründen nicht stichhaltig. Mit dem Anscheinsbeweis zu arbeiten, läge schon deshalb nahe, weil die Rechtsprechung die Beweislast nicht für den gesamten Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden umkehrt, sondern allein für die Frage, welche Entscheidung der Geschädigte bei vertragsgerechtem Verhalten des Aufklärungspflichtigen getroffen hätte, also nur für ein Glied der Ursachenkette. Gerade daraus wird deutlich, daß es sich hier um ein Beweiswürdigungs- und kein normbezogenes Rechtsproblem handelt. Davon abgesehen dürfte die Anwendung des Anscheinsbeweises auch in diesem Bereich zu einer gerechteren Interessenabwägung führen. Bekanntlich sind manche Kunden - insbesondere bei steuersparenden Geldanlagegeschäften - bereit, nahezu jedes Risiko einzugehen, wenn die Chance eines hohen Gewinns besteht. Diese „risikofreudigen Lottospieler" bedürfen keines Schutzes,

53 54 55

So aber: BGH NJW 1990, 2461, 2463; W M 1989, 1286, 1288. So aber: BGH W M 1991, 1543, 1545; ZIP 1992, 1561, 1563; 1993, 363, 365. Vgl. B G H Z 6 1 , 118, 121 f; 64, 46, 51 f; 124, 151, 160.

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wie ihn die gegenwärtige Rechtsprechung gewährt. Indem der Aufklärungspflichtige Tatsachen beweisen muß, die auf die konkrete Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs hindeuten, wird der Schutzzaun für den angesprochenen Kundenkreis hoch genug gezogen. Er sollte nicht unübersteigbar sein. Auch bei Verletzung gesetzlicher Warnpflichten hat der Geschädigte den Kausalzusammenhang zu beweisen. Diese Last wird ihm nur mit der tatsächlichen Vermutung erleichtert, daß er die Gefahr beachtet hätte, wenn er auf sie plausibel hingewiesen worden wäre.56 Es ist nicht einzusehen, warum für die Feststellung dieser Tatsachen bei Verletzung vertraglicher Aufklärungspflichten etwas anderes gelten soll. 4. Ein anderer rechtlicher Ansatzpunkt ergibt sich hauptsächlich im Arzthaftungsrecht. Der ärztliche Heileingriff ist grundsätzlich nur mit Einwilligung des Kranken zulässig. Die wirksame Einwilligung setzt eine ordnungsgemäße Aufklärung voraus; ohne diese ist der Eingriff rechtswidrig. 57 Da der Arzt die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund zu beweisen hat, obliegt ihm der Nachweis dafür, daß der Geschädigte bei ordnungsgemäßer Aufklärung sich mit dem geschehenen Eingriff einverstanden erklärt hätte.58 Entsprechendes gilt wegen des besonderen Informationsvorsprungs des Arztes, wenn ihm ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist und die Parteien darüber streiten, ob der geltend gemachte Schaden darauf beruht. 59 Im Bereich der Produkthaftung kommt eine vergleichbare Wertung dort in Betracht, wo das in Verkehr gebrachte Produkt für den Verbraucher besondere Risiken in sich trägt und der Hersteller eine deshalb gebotene zusätzliche Kontrolle versäumt hat.60

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B G H Z 116, 60, 73; B G H JZ 1989,249,251. B G H Z 29, 176, 179 f; vgl. auch B G H Z 90, 103, 111. 58 Grunewald, JZ 1994, 1162, 1163; Stodolkowitz, VersR 1994, 11, 12 f. 59 Vgl. B G H Z 85, 212, 216; 104, 323, 332; 126, 217, 223. Auch den Entscheidungen, die diese Rechtsprechung auf Gesundheitsschäden durch grobe Verletzung anderer Berufspflichten ausgedehnt haben (BGH N J W 1962, 959; 1971, 241), ist zuzustimmen. 60 Vgl. B G H Z 104, 323; B G H N J W 1993, 528. Eine nähere Darstellung der in diesem Bereich auftretenden Beweisproblematik würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 57

Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft Ein Rechtsvergleich

EBERHARD H A A S / HEIKE LÖRCHER

„Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege." So lautet die einleitende Vorschrift der Bundesrechtsanwaltsordnung. Als Organ der Rechtspflege muß der Rechtsanwalt nicht nur die Rechte seines Mandanten sorgfältig wahren; er hat zugleich auch die Aufgabe, das Recht zu pflegen und tritt in dieser Funktion an die Stelle der Gerichte und der Staatsanwaltschaften als eigenständiges gleichgeordnetes Organ der Rechtspflege. 1 Der Gesetzgeber stellt ausdrücklich fest, daß es sich bei dem Rechtsanwalt um ein unabhängiges Organ der Rechtspflege handelt, unabhängig insbesondere vom Staat und von den von ihm vertretenen Parteien oder sonstigen Auftraggebern. 2 Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegt die durch den Grundsatz der Freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen. 3 Im Hinblick darauf, daß sowohl der Gesetzgeber als auch das Verfassungsgericht die Staatsferne des Anwalts betonen, ohne allerdings dabei die Bedeutung der Tätigkeit des Anwalts für die Allgemeinheit in Frage zu stellen, erstaunt es, daß nur sieben Vorschriften nach der Postulierung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts zu lesen ist, daß nicht die gesetzliche Vertretung der Anwaltschaft selbst, sondern die Landesjustizverwaltung und damit der Staat über den Antrag auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entscheidet, wenn auch nach gutachterlicher Äußerung der zuständigen Kammer. Ebenso ist es auch die Landesjustizverwaltung, die über Rücknahme und Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft befindet. 4 Es erscheint anachronistisch und dem Selbstverständnis und der Eigenverantwortlichkeit der Anwaltschaft abträglich, daß diese sich zwar aus unabhängigen Organen der Rechtspflege zusammensetzt, gleichwohl aber nicht die Befugnis hat, eigenmächtig zu bestimmen, wer zum Berufsstand zugelassen wird und wer nicht. Eine Entscheidung, bei der es sich im übrigen nicht um eine Ermessensent1 2 3 4

Jessnitzer, Kurt / Blumberg, Hanno, BRAO, 7. Aufl. 1995, § 1 Rdn. 1. Feuerich, Wilhelm E. / Braun, Anton, BRAO, 3. Aufl. 1995, § 1 Rdn. 1. BVerfG BRAK-Mitt. 1988, 54, 56. Vgl. §§ 14,16 BRAO.

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Scheidung handelt. Der Bewerber hat bei Vorliegen aller gesetzlichen Voraussetzungen einen Anspruch auf Zulassung, der beim Anwaltsgerichtshof eingeklagt werden kann.5 Der Gesetzgeber hat sich 1959 beim Erlaß der Bundesrechtsanwaltsordnung dafür entschieden, die Zuständigkeit für die Zulassung bzw. deren Rücknahme und Widerruf den Justizverwaltungen zu übertragen. Ihm lagen damals zwei Gesetzesentwürfe vor: Der sog. Kammerentwurf, erarbeitet von der Arbeitsgemeinschaft der Anwaltskammern im Bundesgebiet, der die Zulassung und die Ausschließung des Anwalts als Selbstverwaltungsaufgabe der Kammer vorsah6, sowie der Entwurf aus dem Bundesministerium für Justiz, der entsprechend der Regelung in der Rechtsanwaltsordnung von 1878 es bei der Zulassung/Zulassungsrücknahme durch die Justizverwaltung beließ.7 Die Begründung für die Übertragung der Zuständigkeit für Zulassungsfragen auf die Justizverwaltungen lautete, daß die Zulassung und Ausschließung des Anwalts nicht zum inneren Aufgabenbereich der Kammer gehöre. Die Kammer übe mit ihr kein „Hausrecht" aus. Vielmehr diene die Zulassung der personellen Abgrenzung dieses Bereichs mit der Folge, daß diesbezügliche Entscheidungen der Kammer hoheitliche Wirkungen außerhalb ihres eigenen Bereichs entfalten würden. Im Falle der Abweisung eines Zulassungsantrages beschränke die Kammer die in Art. 12 G G garantierte Berufswahl Außenstehender hoheitlich. Im Falle der Zulassung Außenstehender unterwerfe sie diese einem besonderen Gewaltverhältnis und statte sie mit besonderen Mitwirkungsrechten an der hoheitlichen Rechtspflege aus. Insofern greife die Zulassung in ihren Auswirkungen über den originären Aufgabenbereich der Kammer hinaus auf die Gebiete sowohl des Individualrechts einzelner Außenstehender als auch des allgemeinen staatlichen Hoheitsrechts der Rechtspflege über. Bei einer Übertragung dieser Aufgaben auf die Rechtsanwaltskammer würden ihr folglich für die Selbstverwaltung wesensfremde Akte übertragen. Sie würde dann staatliche Aufgaben erfüllen, die einer Selbstverwaltungskörperschaft nicht überlassen werden könnten.8 Diese Argumentation mag zwar dem ersten Anschein nach in sich schlüssig und insofern überzeugend erscheinen. Es stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, ob sich die Selbstverwaltungsaufgaben einer Kams Vgl. § 11 Abs. 2 BRAO. ' In der Nachkriegszeit war dies unter anderem im Bereich der französischen Besatzungszone und dem früheren Saargebiet der Fall; vgl. Ostler, Fritz, Die deutschen Rechtsanwälte 1871-1971, 2. Aufl. 1982, S. 322. 7 Ostler, aaO (Fn. 6), S. 343 f. 8 Vgl. Begründung zum Entwurf einer Bundesrechtsanwaltsordnung des Bundesjustizministeriums, unveröffentlicht, Einleitung IV, Ziff. 5).

Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft

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mer tatsächlich nur auf die Berufsausübung ihrer Mitglieder und die Überwachung der Standespflichten beschränken dürfen und ob die Aufnahme in die Anwaltschaft sowie die Ausschließung außerhalb des Wirkungskreises der Körperschaft liegen müssen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts hätte die Rechtsanwaltskammer einen Anspruch auf Innehabung der Zulassungskompetenz, wenn diese ein wesentliches Strukturmerkmal wäre, wenn also die Zulassung zur Anwaltschaft zu den das Berufsbild prägenden Faktoren gehört. Bei Körperschaften des öffentlichen Rechts wird dieses insbesondere dann bejaht, wenn es sich um obrigkeitliche Verwaltungsfunktionen handelt, die traditionell von der Körperschaft ausgeführt werden. 9 Da, wie bereits erwähnt, nach der Rechtsanwaltsordnung von 1878 die Zulassung bei dem Staat und nicht bei der Anwaltschaft selbst angesiedelt war, wurde bei der Verabschiedung der Bundesrechtsanwaltsordnung 1959 die Zulassung sowie Ausschließung der Rechtsanwälte aus der Anwaltschaft nicht als originäre Selbstverwaltungsaufgabe der Kammern angesehen. Es wurde damals - jedenfalls im Regierungsentwurf überhaupt nicht die Befugnis des Staates in Erwägung gezogen, durch gesetzliche Regelung neue Selbstverwaltungs- oder Auftragsverwaltungsaufgaben (so in den noch darzustellenden Rechtssystemen der anderen europäischen Staaten) zu delegieren.10 Auch wenn es in Deutschland nicht traditionell zum Kern der Selbstverwaltungsaufgaben der Rechtsanwaltskammer gehört, über die Zulassung zu entscheiden, so muß es dennoch als Beschneidung des Selbstverwaltungsrechts dieser Körperschaft angesehen werden, daß sie über Verbleib oder Ausscheiden ihres Mitglieds bei Vorliegen gesetzlicher Rücknahme- oder Widerrufsgründe nicht selbst befinden kann. Da die Zulassung zum Rechtsanwaltsberuf gemäß § 60 B R A O die Pflichtmitgliedschaft zu einer Rechtsanwaltskammer begründet, handelt es sich aus Sicht der Körperschaft und ihrer Mitglieder insoweit um eine staatlich verordnete, also fremdbestimmte Mitgliedschaft. Es ist atypisch, daß eine Körperschaft, der ein Bewerber nach Maßgabe gesetzlicher Bestimmungen beitreten will, nicht eigenverantwortlich über die Aufnahme entscheiden darf. Dieser Zustand muß als Defizit der institutionellen Freiheit bezeichnet werden." Im übrigen sprechen auch praktische Gründe für eine Übertragung der Kompetenz bei Zulassung und Rücknahme bzw. Widerruf auf die 9 Erler, Georg, Rechtsstaat und Rechtsanwaltsordnung, Eine Untersuchung über die Verfassungsmäßigkeit der Entwürfe zur BRAO, unveröffentlicht, S. 36 f. ,0 Redeker, Konrad, N J W 1987, 2610, 2612. 11 Redeker, Konrad, N J W 1987, 2610, 2612.

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Kammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Mit dem Fortfall des staatlichen Mitwirkungsrechts würde ein Stück Verwaltungsvereinfachung erreicht. Neben dem Argument, eine Kompetenzübertragung würde die Grenzen der Selbstverwaltungsaufgaben einer Kammer sprengen, wird zur Rechtfertigung für ein staatlich gelenktes Zulassungsverfahren und gegen die Übertragung auf die autonome Anwaltschaft weiterhin ausgeführt, eine Verlagerung der Zulassungskompetenz von den Landesjustizbehörden auf die Kammer könne die Gefahr nach sich ziehen, daß die Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege beeinträchtigt werde. Ferner sei nach dem jetzigen Zulassungsverfahren der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege vom Staat anerkannt und durch diesen legitimiert. Dies sei auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit verankert. Erfolge die Zulassung durch die Kammer, könnte das insbesondere für den forensisch tätigen Anwalt dazu führen, daß er in den Augen der Öffentlichkeit und auch im Verkehr mit den Gerichten diese Anerkennung verlöre, jedenfalls die Anerkennung geschwächt werde, weil er dann nicht mehr Bestandteil der Rechtspflege sei. Weiterhin treffe den Staat als Korrelat für den gesetzlich begründeten Anwaltszwang die Verpflichtung gegenüber dem rechtsuchenden Bürger, dafür zu sorgen, daß nur geeignete Kräfte als Rechtsanwälte zur Verfügung stehen.12 Auch diese Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Sie unterstellen eine gegenüber der Landesjustizverwaltung unpräzisere Handhabung von Zulassungs- und Rücknahmeverfahren durch die Kammer, oder sind gar bedingt von der Furcht, daß größere Unabhängigkeit der Kammer zur Zulassung und zum Verbleib dem Staat unliebsamer Personen in der Anwaltschaft führen könne. Eine auch und gerade in Krisenzeiten notwendige Eigenständigkeit der Anwaltschaft erfordert eine Selbstverwaltung, die so weitgehend wie möglich vom staatlichen Einfluß unabhängig ist. Von einer solchen Unabhängigkeit kann jedoch keine Rede sein, wenn der Staat und nicht die Anwaltschaft selbst über die Zulassung zur Anwaltschaft und deren Entziehung entscheidet. So ist im Rahmen des Verfahrens des Widerrufs und der Rücknahme der Zulassung die zuständige Kammer zwar neben dem betroffenen Rechtsanwalt gutachterlich zu hören, ein Antragsrecht steht ihr jedoch nicht zu. Dem Argument, der Anwalt erhalte seine Legitimation gerade durch die Anerkennung vom Staat (die konkludent durch die Zulassung zum Ausdruck kommen soll), ist entgegenzuhalten, daß der Anwalt trotz seiner Tätigkeit vor staatlichen Gerichten und seiner Mitwirkung bei der Verwirklichung der Rechtsordnung gerade kein öffentliches Amt wahr12

Feuerich/Braun,

aaO (Fn. 2), § 8 Rdn. 2.

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nimmt. Er übt vielmehr einen privaten Beruf aus, dessen wesentlicher Inhalt die parteiliche Vertretung der Interessen seiner Mandanten auch gegenüber dem Staat ist. Die staatlichen Stellen hingegen sind gerade durch die Verpflichtung zur Objektivität gekennzeichnet. 13 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 14 genießt der Rechtsanwalt politisch die gleiche Freiheit wie jeder Bürger. Als Freiberufler handelt der Anwalt nicht nur unabhängig und weisungsfrei; seine Tätigkeit steht auch in keinem besonderen Rechtsverhältnis zum Staat, er ist nicht durch beamtenähnliche Treuepflichten gebunden und unterliegt keiner staatlichen Kontrolle. Auch damit unterscheidet er sich grundsätzlich von allen staatlich gebundenen Berufen, die über die Stellung jedes Bürgers hinaus zur staatlichen Ordnung in einem besonderen Dienst- oder Treueverhältnis stehen.15 Durch eine Zulassung durch die Anwaltschaft wäre mehr Staatsferne gewährleistet; die unabhängige Stellung des Rechtsanwalts wäre gestärkt. D a die Zulassung nicht auf einer Ermessensentscheidung, sondern auf einem Anspruch des Bewerbers beruht, und die Entscheidung gerichtlicher Überprüfung unterliegt, wäre bei einer Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf die Kammern die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in gleichem Maße gewährleistet, wie es nach der jetzigen Rechtslage der Fall ist. Zur Stärkung der Einwirkungsmöglichkeit des Staates könnte ihm darüber hinaus ein Antragsrecht für anwaltsgerichtliche Verfahren in Verwaltungssachen eingeräumt werden. 16 D a mithin die Zulassung der Rechtsanwälte durch die Landesjustizverwaltungen letztlich lediglich auf traditionellen, auf hoheitliches Denken zurückzuführenden Erwägungen beruht, stehen einer Zulassung durch die Rechtsanwaltschaft selber rechtliche Hindernisse nicht im Wege. Der folgende Vergleich mit den Rechtssystemen Belgiens, Frankreichs, Österreichs, Englands und Wales' sowie Spaniens wird zeigen, daß es sich bei der Forderung nach der Zulassungskompetenz um eine Minimalforderung handelt. In diesen Ländern, die nur exemplarisch herangezogen werden, gehört die Zulassung sowie deren Entziehung ganz selbstverständlich zum Kernbereich der Selbstverwaltungsaufgaben. Das Ansehen und die Stellung der Anwaltschaften in den Justizorganisationen dieser Länder stehen dem Ansehen und der Stellung des deutschen Anwalts nicht nach. Mit Ausnahme der skandinavischen Ländern liegt in allen Staaten der Europäischen Union und, soweit ersichtlich, in allen traditionell demokratischen Staaten das Zulassungsverfah11

Redeker, Konrad, DVB1. 1987, 200, 203. BVerfGE 63,266 ff. 15 Redeker, Konrad, DVB1. 1987, 200, 200; Feuerich/Braun, aaO (Fn. 2), § 1 Rdn. 1. " Der Anwaltschaft steht zur Zeit nicht einmal ein solches Antragsrecht zu. 14

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ren in den Händen der Anwaltschaft selbst. An diesem Prinzip haben sich auch die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa orientiert. Belgien Wie in Deutschland ist auch in Belgien der Beruf des Rechtsanwalts ein freier und unabhängiger Beruf 17 , und es gilt der Grundsatz, daß die Anwälte ihre beruflichen Fähigkeiten zur Verteidigung und Sicherung von Gerechtigkeit und Wahrheit einsetzen (Art. 444 Code Judiciaire). Aus dem Grundsatz der Unabhängigkeit des Anwalts folgt für die Belgier, daß ein Anwalt nicht bei einem anderen Anwalt angestellt sein darf. Dies wäre nach belgischen Vorstellungen standesrechtlich nicht vertretbar.18 Der Aufbau der belgischen Anwaltsorganisationen entspricht im wesentlichen der deutschen. Es gibt 28 regionale Kammern, die auf nationaler Ebene zur nationalen belgischen Anwaltskammer (Ordre National des Avocats de Belgique) mit Sitz in Brüssel zusammengeschlossen sind. Jede Kammer hat einen Vorstand (Art. 448 Code Judiciaire), dessen Größe sich nach der Zahl der Kammermitglieder richtet (Art. 449 Code Judiciaire) und einen Präsidenten, den Bâtonnier (auf deutsch: „Stabhalter" - Art. 447 ff. Code Judiciaire), die jedes Jahr gewählt werden. Die Aufgaben und Befugnisse der belgischen Kammern gehen weit über die der deutschen Rechtsanwaltskammern hinaus. Gemäß Art. 432 Code Judiciaire entscheidet der Vorstand der Kammer über die Zulassung sowohl der Anwälte als auch der Stagiaires, den noch in der Ausbildung befindlichen angehenden Anwälten. Gegen diese Entscheidung gibt es kein Rechtsmittel. Allerdings ist auch in Belgien die Entscheidung über die Zulassung keine Ermessensentscheidung, sondern richtet sich danach, ob der Bewerber die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Zu den Aufgaben der Kammer gehört es weiterhin, darüber zu wachen, daß die Prinzipien des Anstands, der Integrität sowie der Sorgfältigkeit des Berufsstandes gewahrt werden ebenso wie die Ausübung der Disziplinargewalt. 19 Ein wichtiger Bestandteil der Aufgaben der Kammer ist im übrigen die Ausbildung der Anwälte. Nachdem die zukünftigen Anwälte einen Abschluß in Rechtswissenschaften an der Universität erworben haben, müssen sie ein mindestens dreijähriges „Referendariat" (Stage) absolvie-

17 Eitelberg, Oliver, in Henssler, Martin / Neriich, Jörg, Anwaltliche Tätigkeit in Europa, S. 109, 121 f. *» Hoffmann, Elisabeth, BRAK-Mitt. 1984, 52, 54. " CCBE - Cross Border Practice Compendium, Belgien, S. 39, Nr. 9.

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ren. Anders als in der Bundesrepublik ist dieses eine rein anwaltliche Ausbildung, die unter Aufsicht der zuständigen Kammer erfolgt. 20 Darüber hinaus organisiert die Anwaltskammer praktische und theoretische Übungen, die etwa 60 Stunden umfassen und im Regelfall während des ersten Jahres von dem Stagiaire absolviert werden müssen. Diese umfassende Verantwortung der Anwaltskammer führt dazu, daß dem Anwärter im Rahmen seiner Ausbildung Standesregeln und Berufsethos nahe gebracht werden, was wiederum das Selbstverständnis des Berufsstandes stärkt. Ein weiterer Ausfluß des Selbstverständnisses der Anwaltschaft ist, daß bei Streitigkeiten über Honorarfragen die Anwälte die Angelegenheit zunächst dem Bâtonnier vortragen müssen. Es ist ihnen nicht erlaubt, Honoraransprüche gegenüber Mandanten einzuklagen, ohne die Angelegenheit vorher dem Präsidenten vorgelegt zu haben.21 Frankreich Das französische Kammersystem unterscheidet sich insofern von dem belgischen und dem deutschen, als es erst seit der Reform von 1990/91 ein übergeordnetes nationales Kammerorgan kennt, den Conseil National des Barreaux ( C N B ) . Vorher war dies von den ca. 180 lokalen Kammern außerhalb von Paris, die der mächtigen und zahlenmäßig fast die Hälfte der französischen Anwaltschaft erfassenden Pariser Kammer gegenüberstehen, aus Furcht um ihre Autonomie verhindert worden, auch wenn dies letztlich nur zur Zersplitterung der Standesvertretung geführt hatte.22 Zu den Aufgaben des Conseil National des Barreaux gehört die Harmonisierung des Standesrechts, die Führung der Liste der in Frankreich niedergelassenen ausländischen Anwälte sowie die Mitverantwortlichkeit für die Ausbildung der Anwälte. 23 Die Zulassung zur Anwaltschaft wird beim Bâtonnier der zuständigen regionalen Kammer beantragt. Dies kann nur aus standesrechtlichen Gründen oder aufgrund mangelnder fachlicher Qualifikation verweigert werden (Art. 102 f. des Dekrets Nr. 91-1197). Die regionale Kammer ist für alle Fragen der Berufsausübung zuständig. Sie beaufsichtigt die Einhaltung der anwaltlichen Pflichten und vertritt nach außen die Interessen ihrer Mitglieder. Weiterhin gehört zu ihren Aufgaben die Überwachung des standesgemäßen Verhaltens der Anwälte. Die Disziplinargewalt ist Bestandteil der Selbstverwaltungsangelegenheiten und wird vom Präsidium, welches sich aus erfahrenen Eitelberg, aaO (Fn. 17), S. 115, Hoffmann, aaO (Fn. 18), S. 54. " Eitelberg, aaO (Fn. 17), S. 125. 22 Mengel, Anja, in Henssler/Neriich, aaO (Fn. 17), S. 170. 23 Mengel, aaO (Fn. 22), S. 170. 20

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Mitgliedern der Kammer jeweils für einen Zeitraum von drei Jahren zusammensetzt, ausgeübt. Die sehr weitgehenden Kontroll- und Disziplinarbefugnisse der französischen Anwaltskammern führen dazu, daß sie einen sehr viel besseren Uberblick über das berufliche Verhalten ihrer Mitglieder haben. Österreich

Auch in Osterreich zählen die Rechtsanwälte zu den verkammerten Freien Berufen.24 Insgesamt gibt es neun Rechtsanwaltskammern (je Bundesland jeweils eine), die zusammen den Osterreichischen Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) bilden. Gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 R A O sind die Rechtsanwaltskammern autonome Körperschaften des öffentlichen Rechts und damit Selbstverwaltungsträger. 25 Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft gehört zu den Selbstverwaltungsaufgaben der Kammer. Die Übertragung der Zulassung der Anwälte auf die Anwaltschaft selber erfolgte bereits im Jahr 1868. Vor diesem Zeitpunkt bedurfte es obrigkeitlicher Ernennung und der Advocat, wie er damals noch hieß, galt als „Beamter des Gerichts".26 Heute entscheidet über den Antrag eines Anwalts, in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen zu werden - Voraussetzung für die Zulassung - der Ausschuß der Rechtsanwaltskammer. Neben der Zulassung unterliegt weiterhin der Zugang zum Beruf der Kontrolle durch die Kammern. So gehört es zu ihren Aufgaben, die Ausbildungsveranstaltungen für die Rechtsanwaltsanwärter in der sogenannten praktischen Verwendungszeit zu organisieren und zu kontrollieren.27 Das Bundesministerium für Justiz hat auf die Tätigkeit der Rechtsanwaltskammern keinen unmittelbaren Einfluß.28 Seine Kompetenz ist auf die Aufsicht über das Disziplinarverfahren, die Einrichtung neuer (autonomer) Rechtsanwaltskammern, sowie die Genehmigung der Geschäftsordnungen der Kammern und des Disziplinarrates beschränkt.29 England

und Wales

In England und Wales besteht die Besonderheit, daß der Berufsstand in Solicitors und Barristers aufgeteilt ist. Zu den Aufgaben der Solicitors gehört es, den Mandanten in direktem Kontakt Rechtsrat zu erteilen, Heidemann, Andrea, in Henssler/Nerlich, aaO (Fn. 17), S. 280. Prunbauer, Walter, Österr. AnwBl. 1991, 7. 26 Schuppich, Walter, FS für Rudolph Wassermann, 1985, S. 217, 218. 27 Heidemann, aaO (Fn. 24), S. 289 f. 28 Heidemann, aaO (Fn. 24), S. 290; Schuppich, aaO (Fn. 26), S. 219. 2' Heidemann, aaO (Fn. 24), S. 290; Schuppich, aaO (Fn. 26), S. 219. 24 25

Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft

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den Schriftverkehr mit ihm zu führen und den Prozeß vorzubereiten. Die Barristers präsentieren den vom Solicitor aufbereiteten Fall vor Gericht. Außerdem erstellen sie im Einzelfall auch Gutachten zu komplizierten Rechtsfragen für die Solicitors. 30 Die berufsständische Vertretung der Solicitors ist die Law Society. Bei der Law Society handelt es sich um ein sehr viel mächtigeres und einflußreicheres Gebilde als das deutsche Kammersystem. Dieses erklärt sich schon aus der Geschichte der Law Society. Der Vorgänger der Law Society, das Law Institute, wurde 1823 gegründet, allerdings noch in der Funktion eines Clubs mit gutbestückter Bibliothek. 31 Doch schon 1845 erhielt die Law Society durch eine Royal Charter die ersten Befugnisse, eigenverantwortlich die Angelegenheiten des Berufsstands zu regeln. 1890 war sie bereits für die Durchführung von Prüfungen zuständig und erteilte dem Gericht Nachricht von Vorwürfen wegen Fehlverhaltens gegen Anwälte. 32 Seit 1907 steht es in ihrer Macht, Konten zu überprüfen und vor allem sogenannte „practicing certificates" zu erstellen, die bis heute die Zulassung zum Solicitor darstellen. Im Jahre 1933 wurde sie damit betraut, Berufsregeln zu erstellen. Sämtliche dieser Aufgaben beruhten nicht auf kodifiziertem Recht. Sie wurden vielmehr aus dem ungeschriebenen Recht einer berufsständischen Vereinigung, die Rechtsverhältnisse ihrer eigenen Mitglieder zu regulieren, abgeleitet. 33 Erst seit 1974 gibt es eine Solicitors Act sowie weitere Regelwerke, aufgrund derer die Law Society noch sehr viel weitreichendere Befugnisse für sich in Anspruch nehmen kann. So steht es ihr aufgrund der Administration of Justice Act 1985 zu, eine anwaltliche Kostennote zu reduzieren. Weiterhin kann sie verlangen, daß der Anwalt seine fehlerhafte Arbeit ohne Honorar in dem erforderlichen Maße nachbessert. 34 Wie bereits erwähnt, ist die Law Society seit 1907 f ü r die Zulassung zum Berufsstand zuständig, ohne daß sie durch ein formelles Gesetz hierzu ermächtigt worden wäre. In den Augen der Engländer war eine gesetzliche Ermächtigung nicht erforderlich, da die Regulierung der eigenen Mitglieder als ureigenstes Recht einer berufsständischen Vereinigung angesehen wurde und wird. Darüber hinaus hat die Law Society auch die Disziplinargewalt über sämtliche Solicitors, unabhängig davon, ob diese nun Mitglieder der

30 31

C C B E - Cross Border Practice Compendiura, England und Wales, S. 9, Nr. 2.1. Hayes, John, Vortrag an der Manchester University am 14. 5. 1995, unveröffentlicht,

S. 2. " Hayes, aaO (Fn. 31), S. 2. 33 C C B E - Cross Border Practice Compendium, England und Wales, S. 25, Nr. 2.8. " Hayes, aaO (Fn. 31), S. 3.

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Eberhard Haas / Heike Lörcher

Law Society sind oder nicht. Eine Pflichtmitgliedschaft besteht nämlich nicht.35 Spanien Auch in Spanien ist der Berufsstand im forensischen Bereich zweigeteilt. Der „procurador del tribunal" nimmt die formellen Prozeßhandlungen vor und ist für die Durchführung der Korrespondenz der Partei mit dem Gericht zuständig. Nur durch seine Beauftragung sowohl im Zivil- als auch im Strafprozeß ist eine Partei postulationsfähig. Der eigentliche Rechtsberater der Partei ist der „abogado". Im Falle eines Prozesses ist er es, der die inhaltlichen Entscheidungen trifft. Insofern entspricht das Berufsbild des Abogado dem des deutschen Rechtsanwalts. Nach spanischem Verständnis ist es für den Anwaltsberuf charakteristisch, daß er eine der Gerechtigkeit gewidmete Institution darstellt. Als solcher gehört der Abogado den Freien Berufen an und nimmt, ähnlich wie in Deutschland, an der öffentlichen Funktion der Justizverwaltung teil, bei gleichzeitiger Wahrung seiner Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit darf nur durch gesetzliche Vorschriften, Moral und Berufsethik beschränkt werden.36 Sowohl Verfassungsrecht als auch Gesetz bestimmen, daß die spanische Anwaltschaft als freier Berufstand verkammert ist. Dementsprechend gibt es in jeder Provinz eine örtliche Anwaltskammer (Colegio de Abogados). Diese wiederum sind zur spanischen Anwaltskammer (Consejo General de la Abogacía Española [CGA]) in Madrid zusammengeschlossen. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit stehen ihnen u. a. das Haushaltsrecht und für ihren Verantwortungsbereich die Satzungsbefugnis zu.37 In den Aufgabenbereich der örtlichen Anwaltskammer fällt nicht nur die Zulassung zur Anwaltschaft, sondern auch die eigenmächtige Regelung des Aufnahmeverfahrens.38 Allerdings darf die Aufnahme bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen durch den Antragsteller grundsätzlich nicht verweigert werden. Etwas anderes gilt lediglich bei Vorliegen eines gesetzlichen Versagungsgrunds. Weiterhin gehört zu den Aufgaben der örtlichen Anwaltskammern insbesondere die Interessenvertretung der Anwaltschaft ihres Bezirks sowie die Überwachung der Einhaltung des Berufs- und Standesrechts und die Disziplinargewalt.39 Wie in Paris fungiert das Präsidium bei CCBE Mikoleit, 37 Mikoleit, 38 Mikoleit, 3' C C B E 15

36

Cross Border Practice Compendium, S. 69, Nr. 9. Annette in Henssler/Nerlich, aaO (Fn. 17), S. 335. aaO (Fn. 36), S. 336. aaO (Fn. 36), S. 336 f. Cross Border Practice Compendium, Spain, S. 14 Nr. 28.

Die berufliche Selbstverwaltung der Anwaltschaft

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Streitigkeiten zwischen Anwälten als Schiedsgericht. Außerdem darf die Kammer Honorarempfehlungen aufstellen, die einen unverbindlichen Rahmen für die Rechtsanwaltsvergütung darstellen. 40 Zusammenfassung Bereits dieser nur kurze Vergleich mit den Anwaltsorganisationen in Belgien, Frankreich, Osterreich, England und Wales sowie Spanien zeigt, daß die Forderung nach der alleinigen Befugnis der Zulassung dem Anwaltsstand nicht wesensfremd sind, sondern seinem Selbstverständnis entspricht. Dort, wo die Freiheit der Anwaltschaft zurückgedrängt wird, also in totalitären Systemen, behält sich der Staat das Zulassungs- und Rücknahmeverfahren vor. Es erstaunt deshalb, daß in der Bundesrepublik die Diskussion über das System des Zulassungs- und Ausschluß Verfahrens fast völlig verstummt ist. Zu erklären ist dies allein durch die bisherige Geschichte der Bundesrepublik, in der es nur in Ausnahmefällen zu Kontroversen zwischen Kammern und Justizverwaltungen im Zulassungsverfahren gekommen ist. Es zeigt sich allerdings auch, daß die Betreuung der Anwaltschaft mit der Beaufsichtigung und Regulierung ihres Berufsstandes oftmals zu einem strengeren Regime führen kann, da diese das größte Interesse daran hat, den guten Ruf ihres Berufsstandes zu wahren. D e r Vergleich mit den exemplarisch herausgegriffenen Zulassungsund Organisationsregelungen in anderen Ländern verdeutlicht jedenfalls, daß eine Übertragung des Zulassungs- und Rücknahmeverfahrens auf die Kammern weder die Interessen des Staates und der Rechtsuchenden beeinträchtigen, noch die Stellung oder das Ansehen der Anwaltschaft schwächen, im übrigen aber einen weiteren wesentlichen Schritt zur Harmonisierung des europäischen Anwaltsrechts darstellen würde.

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Mikoleit, aaO (Fn. 36), S. 337.

Bewältigung von S E D - und Stasi-Vergangenheit im Anwaltsrecht KLAUS KUTZER

I. Die Wiedervereinigung hat die Rechtsprechung vor schwierige Aufgaben gestellt. Die Hauptlast trug der Bundesgerichtshof. Er war und ist zuständig für den Ubergang vom Rechtssystem der D D R zu dem der Bundesrepublik auf den Gebieten des Zivil- und des Strafrechts. O b wohl der Einigungsvertrag die dafür geltenden Maßstäbe grundsätzlich festlegt, ergeben sich diffizile und mit der herkömmlichen Dogmatik nicht oder nur unzureichend lösbare Probleme. Beispielhaft sei die erst durch das Bundesverfassungsgericht am 15. Mai 19951 abschließend beantwortete Frage genannt, ob Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der D D R (MfS) wegen ihrer Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland auch noch nach der Wiedervereinigung bestraft werden können. Das Bundesverfassungsgericht fand die Antwort weder in den Vorschriften der Straf- oder Strafprozeßgesetze noch in den Regelungen des Einigungsvertrages. Es mußte auf den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückgreifen, um eine Lösung zu finden. Ganz so verworren war die rechtliche Ausgangslage nicht, die sich dem beim Bundesgerichtshof gebildeten Senat für Anwaltssachen stellte, als er mit den Problemen konfrontiert wurde, die sich aus dem Untergang der D D R für das ihm zugewiesene Gebiet des Zulassungsrechts ergaben. Hierbei ging es im wesentlichen um zwei Fragen-Komplexe: einmal darum, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen und für wie lange Zeit DDR-Bürgern, die an sich die Zulassungsbedingungen erfüllen, allein deswegen die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verweigert werden darf, weil sie in das Herrschaftssystem der D D R vertrickt waren und sich an dem S E D - und Stasi-Unrecht beteiligt haben; zum anderen darum, wann aus diesem Grund Rechtsanwälten, die schon von den Behörden der D D R zugelassen worden waren, die Zulassung nach der Wiedervereinigung entzogen werden durfte. Der Jubilar ist der „geborene" Vorsitzende des mit drei Mitgliedern des Bundesgerichtshofes und drei Rechtsanwälten besetzten Senats für

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BVerfGE 92, 277.

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Klaus Kutzer

Anwaltssachen (§ 106 B R A O ) . U m die Bedeutung der Anwaltschaft für ein rechtsstaatliches Gemeinwesen und ihre Gleichberechtigung mit den anderen Organen der Rechtspflege herauszuheben, soll der ranghöchste Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Spruchkörper leiten, dem das Gesetz die letztinstanzliche Entscheidung über Zulassungsfragen und die anwaltsgerichtliche Ahndung von Pflichtverletzungen zuweist. Bei seiner Ernennung zum Präsidenten des Bundesgerichtshofes im Jahre 1988 hat sich der Jubilar sicherlich nicht vorstellen können, daß die Bewältigung von S E D - und Stasi-Vergangenheit im Anwaltsrecht einmal maßgeblich mit in seine Hände gelegt sein würde. Der Verfasser konnte als Mitglied des Anwaltssenats selbst erfahren, welche auch persönliche Verantwortungslast die damit befaßten Richter und ihr Präsident empfunden und wie schwer sie sich damit getan haben. Denn einerseits war es notwendig, das Grundrecht der Berufsfreiheit auch für diejenigen DDR-Bürger durchzusetzen, die sich dem damals herrschenden DDR-Regime verpflichtet gefühlt haben; andererseits sollte der Anwaltsstand im Interesse der Glaubwürdigkeit der neu aufzubauenden rechtsstaatlichen Justiz von den Komplizen des Terrors und der Unterdrückung freigehalten werden. II. 1. Als rechtliche Grundlage kam zunächst das Rechtsanwaltsgesetz der D D R vom 13. September 19902 ( R A G ) in Betracht. Es ist auch nach der Wiedervereinigung für die neuen Bundesländer mit den im Einigungsvertrag näher bezeichneten Maßgaben in Kraft geblieben 3 und erst durch das Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. September 1994" aufgehoben worden. Nach § 7 N r . 2 R A G war die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu versagen, wenn der Bewerber sich eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben. Diese Vorschrift stimmt im Wortlaut mit § 7 N r . 5 B R A O überein. Es bestanden daher keine Bedenken, die in der Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen zum Tatbestandsmerkmal „unwürdig" entwickelten Maßstäbe auch der Anwendung des § 7 N r . 2 R A G zugrunde zu legen. Der Senat für Anwaltssachen hat den Versagungsgrund des § 7 N r . 5 B R A O in ständiger Rechtsprechung dahin umschrieben, daß der Bewerber im Zeitpunkt der Entscheidung über das Zulassungs-

GBl. D D R 1990 S. 1504. EV v. 31.8.1990, BGBl. 1990 II S. 885, 889, 1156, Anlg. II Kap. III Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1. 4 BGBl. I S. 2278, Art. 21 Abs. 1. 2

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Bewältigung von SED- und Stasi-Vergangenheit im Anwaltsrecht

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begehren bei Abwägung seines schuldhaften Verhaltens und aller erheblichen Umstände - wie Zeitablauf und zwischenzeitliche Führung nach seiner Gesamtpersönlichkeit für den Anwaltsberuf (noch) nicht tragbar ist5. Schon in dem Beschluß vom 29. November 19936 - dem ersten, der die Zulassung einer früheren DDR-Richterin zur Rechtsanwaltschaft betraf - hat der Senat für Anwaltssachen auf diese bewährte Formel zurückgegriffen und sie durch einen Hinweis auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. März 19836a ergänzt. Dieser Beschluß betraf die Versagung der Rechtsanwaltszulassung wegen Mitgliedschaft des Bewerbers in dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands. Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, daß die Zulassungsregelung der BRAO es ausschließt, ein aktives Eintreten für eine als verfassungsfeindlich angesehene Partei nachteilig mitzuberücksichtigen, wenn der Bewerber die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht in strafbarer Weise im Sinne des § 7 Nr. 6 BRAO bekämpft. Unter Anknüpfung an Ausführungen in dieser Entscheidung hat der Senat für Anwaltssachen in dem oben erwähnten Beschluß vom 29. November 1993 die Notwendigkeit hervorgehoben, bei der Einschränkung des Grundrechts auf freie Berufswahl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu wahren, die Gesamtpersönlichkeit des Bewerbers im Zeitpunkt der Entscheidung zu würdigen und dabei neben seinem Fehlverhalten auch sein früheres und späteres Wohlverhalten sowie seine Lebensverhältnisse im ganzen zu berücksichtigen. Bei der Entwicklung typisierender Versagungsgründe durch die Rechtsprechung sei Zurückhaltung geboten 7 . Jede Form von Automatismus zwischen Fehlverhalten und Berufsversagung widerspreche dem Gebot einer einzelfallbezogenen Gewichtung aller für und gegen den Zulassungsbewerber sprechenden Umstände 8 . Von einem solchen unzulässigen Automatismus zwischen Fehlverhalten und Berufsversagung war der Ehrengerichtshof in der mit der Beschwerde zum Bundesgerichtshof angefochtenen Entscheidung ausgegangen. Denn er hatte die Unwürdigkeit der Bewerberin auf die von ihr wegen vorbereiteten oder versuchten ungesetzlichen

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Zuletzt Beschl. v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 12/95, BRAK-Mitt. 1995, 255. AnwZ (B) 47/93, BRAK-Mitt. 1994, 40 = NJ 1994, 281. " BVerfGE 63, 266. 7 BVerfGE 87, 287, 322. 8 Darauf ist bei den Beratungen zu dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter vom 24.7. 1992 (BGBl. I S. 1386) mit Nachdruck hingewiesen worden, z. B. durch die Abgeordneten Dr. de With und Dr. Scholz, Protokoll der 40. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags 12. W P 40/40 ff., 46 f.; Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 12/2670 S. 10. 6

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Grenzübertritts erlassenen Haftbefehle gestützt und sich darauf beschränkt, die Anzahl der Haftbefehle und den Zeitraum anzugeben, in dem sie ergangen sind. Eine Auseinandersetzung mit den von der Richterin zugrunde gelegten Sachverhalten und eine Gesamtwürdigung in dem oben beschriebenen Sinn fehlte, so daß die Sache an den Ehrengerichtshof zurückverwiesen wurde. Dabei gab der Bundesgerichtshof den Hinweis, daß die frühere Tätigkeit der Bewerberin als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS bei der Bewertung außer Betracht zu bleiben habe, weil sie die im jugendlichen Alter aufgenommene Mitarbeit vor 13 Jahren beendet und nach der Übernahme des Richteramts nicht fortgesetzt habe. An den in dem Beschluß vom 29. November 1993 herausgearbeiteten Beurteilungskriterien hat der Senat für Anwaltssachen in der Folgezeit festgehalten 9 . Somit reicht auch die Mitwirkung an der DDR-Rechtsprechung in politischen Strafsachen, für sich allein genommen, nicht aus, um die Unwürdigkeit für den Beruf eines Rechtsanwalts zu begründen10. Denn eine andere Beurteilung würde dazu führen, daß ein Strafrichter der früheren DDR schon wegen der Wahrnehmung seines Richteramts von der Rechtsanwaltschaft im vereinigten Deutschland ferngehalten werden könnte. Dies widerspräche den Regelungen des § 7 Nr. 2 RAG und des § 7 Nr. 5 BRAO, die eine Einzelfallprüfung erfordern. Deswegen hat der Senat die Bedenken der Landesjustizverwaltung gegen die Zulassung einer Bezirks- und Schulungsstaatsanwältin zurückgewiesen und hierzu ausgeführt 11 : „Mag auch die Antragstellerin aufgrund innerer Uberzeugung in ausgeprägter Weise um eine Verwirklichung der sozialistischen Gesetzlichkeit' in ihrer Tätigkeit als Staatsanwältin, als Mitglied der SED und in politischen Organisationen bemüht gewesen sein, so lassen doch die in der angefochtenen Entscheidung näher dargelegten und erörterten dienstlichen Beurteilungen und sonstige Urkunden einschließlich der ihr verliehenen Auszeichnungen nicht den Schluß zu, daß die Antragstellerin in besonderer Weise in das Unrechtssystem verstrickt oder in Unterdrückungsmaßnahmen verwickelt war. Insbesondere die Leistungsbeurteilungen der Antragstellerin enthalten nicht mehr als die üblichen floskelhaften Wendungen; auf konkrete Unrechtsmaßnahmen, welche über die bloße Bestätigung der - hier nicht näher ' Z. B. Beschl. v. 21. 2. 1994 - A n w Z (B) 57/93, BRAK-Mitt. 1994,106 = AnwBl. 1994, 294 = NJ 1994, 282 = DtZ 1995, 175; v. 24. 1 0 . 1 9 9 4 - AnwZ (B) 28/94, BRAK-Mitt. 1995, 166 = AnwBl. 1995, 143 = NJ 1995, 165; v. 24. 10. 1994 - AnwZ (B) 30/94, BRAK-Mitt. 1995, 76; v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 6/95, BRAK-Mitt. 1995, 208. 10 Z. B. Beschl. v. 24. 10. 1994 - AnwZ (B) 30/94, BRAK-Mitt. 1995, 76; v. 21. 11. 1994 - AnwZ (B) 54/94, BRAK-Mitt. 1995, 71 = NJ 1995, 332 = DtZ 1995, 294 = NJW 1995, 1957 (nur Leitsatz); so auch Beschl. des Senats für Notarsachen v. 5. 2. 1996 - NotZ 42/94. " Beschl. v. 21. 2. 1994 - AnwZ (B) 57/93, Nachw. in Fn. 9; ähnlich Beschl. v. 20. 1. 1995 - AnwZ (B) 16/94, BRAK-Mitt. 1995,162 = NJ 1995,390 = DtZ 1995,441.

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zu würdigenden - Gesinnung der Antragstellerin hinausgehen, weisen sie nicht hin." Ahnliche Ausführungen finden sich in einem anderen Beschluß des Senats, der allein darin, daß der Bewerber Militärstaatsanwalt war, keinen Hinderungsgrund für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft sah12. In einem weiteren Beschluß13 hat es der Senat für zulassungsrechtlich unerheblich angesehen, daß der Antragsteller in seiner Eigenschaft als Direktor des Kreisgerichts entsprechend der ihn bindenden damaligen Gesetzeslage (z. B. § 88 Abs. 2 Nr. 2 StPO-DDR, §§ 18, 26 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GVG-DDR) und den einschlägigen Verwaltungsvorschriften mit dem MfS dienstlich und offiziell zusammengearbeitet hat. Den Versagungsgrund der Unwürdigkeit hat der Senat für Anwaltssachen dagegen dann bejaht, wenn der Bewerber bei der Bearbeitung politischer Strafsachen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschlichkeit verstoßen hat. Dies wurde angenommen, wenn er die in Betracht kommenden Vorschriften des StGB-DDR oder der StPO-DDR exzessiv zum Nachteil der Angeklagten ausgelegt und angewendet hat oder die von ihm angeordneten oder beantragten Rechtsfolgen auch auf der Grundlage des damals geltenden Strafrechts der D D R im groben Mißverhältnis zu der abzuurteilenden Tat standen14. Der Annahme eines solchen groben Mißverhältnisses stand nicht entgegen, daß andere DDR-Gerichte in vergleichbaren Fällen ähnlich hohe unverhältnismäßige Strafen verhängt haben mögen. Wenn der Senat einen in dieser Weise begründeten Versagungsgrund bejaht hat, lagen dem jeweils eine ins Einzelne gehende Wertung des vom früheren Richter und jetzigen Bewerber abgeurteilten Sachverhalts und eine Nachprüfung der von ihm vorgenommenen rechtlichen Subsumtion unter den angewendeten Straftatbestand zugrunde. So hat es der Anwaltssenat für erheblich angesehen, daß der Bewerber die Vorschrift des §214 StGB-DDR (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit) über die Tatbestandsgrenzen exzessiv zum Nachteil des damaligen Angeklagten ausgelegt hat, um ausreisewillige DDR-Bürger einzuschüchtern und von der Wahrnehmung ihres Menschenrechts auf Ausreisefreiheit mit den Mitteln des politischen Strafrechts abzuschrecken. Dies lag beispielsweise vor, wenn der Bewerber hohe zu vollstreckende Freiheitsstrafe verhängt hat, u. a. weil er die bloße Ankündigung eines Ausreisewilligen, das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen von seinem Aus-

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Besohl, v. 13. 2. 1995 - AnwZ (B) 59/94. Beschl. v. 24. 10. 1994 - AnwZ (B) 28/94, Nachw. in Fn. 9. " Beschl. v. 29. 11. 1993 - AnwZ (B) 47/93, Nachw. in Fn. 6; v. 21. 2. 1994 - AnwZ (B) 57/93, Nachw. in Fn. 9. 13

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reisewunsch zu informieren, als eine vollendete Beeinträchtigung der staatlichen Tätigkeit im Sinne des § 214 StGB-DDR gewertet hat15. Der Vorwurf, unverhältnismäßig hohe Strafen verhängt zu haben, war trotz vertretbarer Bejahung des Staftatbestands des ungesetzlichen Grenzübertritts begründet, wenn der Anwaltsbewerber gegen einen unbescholtenen Bürger wegen einer im Anfangsstadium steckengebliebenen Vorbereitungshandlung eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr verhängt hatte, obwohl § 213 StGB-DDR für die Vollendung der nicht qualifizierten Straftat neben Geldstrafe oder Verurteilung auf Bewährung nur Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorsah16. Der Senat ging dabei davon aus, daß die rechtsstaatswidrige Bestrafung nach § 213 StGB-DDR wegen ungesetzlichen Grenzüberschritts (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst, e StrRehaG), für sich allein genommen, keinen zulassungsrechtlich erheblichen Schuldvorwurf rechtfertigt. Er stimmt damit im Ergebnis mit den Bewertungen überein, die der 3. Strafsenat17 bei der Beurteilung einer Strafanzeige wegen ungesetzlichen Grenzübertritts und der 6. Zivilsenat18 bei der Beurteilung eines Schadensersatzanspruchs wegen einer solchen Anzeige vorgenommen haben. Als unnachsichtige Härte und daher als erhebliches schuldhaftes Fehlverhalten hat es der Senat dagegen gewertet, wenn der Richter Freiheitsstrafen von drei Jahren und zehn Monaten oder von vier Jahren für aussichtslose und gescheiterte Versuche, die Grenze mit einem Pkw oder Lkw zu durchbrechen, verhängt hatte19. 2. Denkbar wäre es gewesen, generell in der Anwendung der Vorschriften des politischen Strafrechts auf vermeintliche oder wirkliche Gegner des DDR-Regimes einen Unwürdigkeitsgrund gegen die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu sehen, weil sich die Mitwirkung an der Unterdrückung und Terrorisierung der DDR-Bevölkerung mit der Stellung eines Rechtsanwalts in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht verträgt. Denn die Aufrechterhaltung der SED-Diktatur wäre ohne die Inhaftierung der politischen Gegner und ohne die Erstickung jedes politischen Widerstands durch die allgegenwärtige Furcht vor hohen Freiheitsstra15 Vgl. dazu auch Beschl. des Senats für Notarsachen v. 5. 2. 1996 - N o t Z 42/94; das Urteil des 4. Strafsenats v. 3 0 . 1 1 . 1995 - 4 StR 777/94 - scheint dagegen in ähnlichen Fällen die Annahme eines vollendeten Delikts nach § 2 1 4 S t G B - D D R f ü r noch vertretbar anzusehen; darauf kommt es hier jedoch nicht an, weil der 4. Strafsenat über die Straftat der Rechtsbeugung zu urteilen hatte. " Beschl. V. 24. 10. 1994 - A n w Z (B) 30/94, Nachw. in Fn. 10. 17 Urt. v. 29. 4. 1994 - 3 StR 528/93, BGHSt. 40, 125, zustimmend B G H , Urt. v. 15. 9. 1995 - 5 StR 713/94, zur Veröffentlichung in BGHSt. vorgesehen, N J W 1995, 3324 = N J 1995, 653 = M D R 1995, 1246. 18 Urt. v. 11. 10. 1994 - VI ZR 234/93, B G H Z 1 2 7 , 1 9 5 . " Beschl. v. 21. 1 1 . 1 9 9 4 - A n w Z (B) 54/94, B R A K - M i t t . 1995, 71.

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fen nicht möglich gewesen. Eine solche Betrachtungsweise hätte jedoch den Vorgaben des Einigungsvertrages widersprochen, der, wie eingangs dargelegt, nur einen Versagungsgrund aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls gemäß § 7 N r . 2 R A G zuließ. Selbst für den Bereich des öffentlichen Dienstes sah der Einigungsvertrag eine Auflösung von Arbeitsverhältnissen nicht schon wegen der Funktionen oder Positionen vor, die ein Arbeitnehmer in der D D R ausgeübt oder innegehabt hat; auch die früheren Richter der D D R sind übernommen worden, soweit sie sich nicht durch ihr Verhalten als ungeeignet für eine richterliche Tätigkeit in einem Rechtsstaat erwiesen haben 20 . Deshalb hat der Senat für Anwaltssachen zu Recht auch bei den durch ihre Mitwirkung bei der Bearbeitung politischer Strafverfahren belasteten Bewerbern eine strenge Einzelprüfung nach den oben genannten Kriterien für erforderlich gehalten. Dabei fällt auf, daß er sich nicht zu der Frage geäußert hat, ob ein die Unwürdigkeit des Bewerbers begründendes Vorverhalten auch dann aus seiner Mitwirkung an einem Strafurteil hergeleitet werden kann, wenn ihm insoweit nicht der Vorwurf der Rechtsbeugung gemacht werden kann. Der Straftatbestand der Rechtsbeugung entfaltet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eine sog. Sperrwirkung des Inhalts, daß ein Richter wegen seiner Mitwirkung an einer Rechtssache nur dann wegen eines allgemeinen Delikts, etwa wegen Freiheitsberaubung, verurteilt werden darf, wenn ihm zugleich eine Rechtsbeugung nachgewiesen werden kann 21 . Dies ist die Folge der strafrechtlichen Sonderregelung, durch die die Unabhängigkeit des Richters gesichert werden soll. Entsprechend begrenzt § 839 Abs. 2 B G B die zivilrechtliche Haftung des Spruchrichters wegen Verletzung seiner Amtspflicht auf den Fall, daß die Pflichtverletzung in einer Straftat, z. B. einer Rechtsbeugung, besteht. Die Sperrwirkung der Rechtsbeugung gilt auch für die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines DDR-Richters 2 2 . Die straf- und zivilrechtliche Beschränkung der Haftung eines Richters ist jedoch nicht notwendig auf die Einzelfallprüfung im Rahmen des anwaltlichen Zulassungsverfahrens zu übertragen. Denn eine zulassungshindernde Unwürdigkeit im Sinne des § 7 N r . 5 B R A O kann sich auch aus einem nicht strafbaren Vorverhalten ergeben. Auch der Rechtsgedanke des § 839 Abs. 2 B G B ist nicht einschlägig; denn die deliktsrechtliche Privilegierung des Spruchrichters dient insbesondere der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden 23 , welcher nicht durch einen

20 BVerfGE 92, 140, 154; Einigungsvertrag Anlg. I Kap. X I X Sachgeb. A Abschn. III Ziff. 1, Kap. III Sachgeb. A Abschn. III Nr. 8 und die amtl. Erläuterung. 21 BGHSt. 10,294,298; 32, 357, 364; 40,125,136. 22 BGHSt. 40, 125, 136; B G H , Urt. v. 15. 9. 1995 - 5 StR 713/94, Nachw. in Fn. 17. 23 B G H Z 57,33, 45.

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nachträglichen Amtshaftungsprozeß soll wieder in Frage gestellt werden können. Bei dem Versagungsgrund der Unwürdigkeit im Sinne des § 7 Nr. 5 BRAO geht es dagegen darum, solche Bewerber von der Rechtsanwaltschaft fernzuhalten, die wegen früherer Verfehlungen nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie ihre Berufspflichten als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§§ 1 ff BRAO) glaubwürdig wahrnehmen, oder deren Zulassung das für die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege konstituierende Vertrauen der Rechtsuchenden in die Integrität des Anwaltsstandes erschüttern würde 24 . Diese Zielsetzung deckt sich nicht mit den der Privilegierung des Richters durch die §§ 336 StGB, 839 Abs. 2 BGB zugrundeliegenden Erwägungen. Dennoch wird es im allgemeinen rechtlichen Bedenken unterliegen, einem Strafrichter wegen bestimmter von ihm zu vertretender und zu beanstandender Urteile den Zugang zur Rechtsanwaltschaft zu versagen, ohne ihn der Rechtsbeugung überführen zu können. Der Senat für Anwaltssachen brauchte dieser Frage wegen der besonderen durch die Wiedervereinigung geschaffenen Situation jedoch nicht nachzugehen. Denn unabhängig davon, ob der Einigungsvertrag auch einen grundsätzlichen Ausschluß von Richtern und Staatsanwälten, die durch die Anwendung des politischen DDR-Strafrechts belastet waren, von der Rechtsanwaltschaft in den neuen Bundesländern hätte vorsehen können, war es den Parteien des Einigungsvertrages jedenfalls möglich, einen Ausschluß nur bei im Einzelfall festgestellten Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit zuzulassen und dies nicht von der strafrechtlichen Bewertung des zugrundeliegenden justitiellen Verhaltens abhängig zu machen. Im übrigen stimmen die der Uberprüfung von DDR-Urteilen zugrunde gelegten Kriterien, die die Strafsenate des Bundesgerichtshofes bei der Beurteilung von Rechtsbeugung früherer DDR-Richter für maßgeblich ansehen, weitgehend mit denjenigen überein, die der Senat für Anwaltssachen bei der Beurteilung der Unwürdigkeit früherer DDRRichter angewandt hat25. 3. Eine andere Gruppe von Bewerbern, die wegen ihrer Verstrickung in SED-Unrecht abgelehnt worden sind, war die der hauptamtlichen oder inoffiziellen Mitarbeiter des MfS. Diese wurden nicht schon wegen ihrer Einbindung in den Unterdrückungsapparat des MfS für unwürdig befunden, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen zu werden 26 . Es mußten viel24 Vgl. zu letzterem: Beschl. v. 2 1 . 2 . 1994 - AnwZ (B) 59/93, NJW 1994, 1732 = BRAK-Mitt. 1994, 111 = AnwBl. 1994, 293 = NJ 1994, 283; v. 11. 7. 1994 - AnwZ (B) 9/94, BRAK-Mitt. 1994, 241 = NJ 1994, 598 = AnwBl. 1995,37. 25 Vgl. zuletzt Urt. v. 15. 9. 1995 - 5 StR 642/94 sowie 23 und 68/95; Urt. v. 15. 11. 1995 - 3 StR 527/94; Urt. v. 3 0 . 1 1 . 1995 - 4 StR 714 und 777/94. 26 Beschl. v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 14/94, BRAK-Mitt. 1995, 257.

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mehr auch bei ihnen bestimmte Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschlichkeit festgestellt werden. Nach der Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen hat gegen sie verstoßen, wer zur Unterstützung des repressiven Systems der ehemaligen D D R freiwillig und gezielt, insbesondere durch Eindringen in die Privatsphäre anderer und Mißbrauch persönlichen Vertrauens, Informationen über Mitbürger gesammelt, an das in der D D R für seine repressive und menschenverachtende Tätigkeit bekannte MfS weitergegeben und dabei jedenfalls in Kauf genommen hat, daß diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen benutzt wurden 27 . Gleiches gilt grundsätzlich für diejenigen, die als Führungsoffiziere eine solche Tätigkeit Dritter zur Bespitzelung von Mitbürgern veranlaßt, überwacht oder ausgewertet oder auf der Grundlage von in dieser Weise erlangten Informationen weitere rechtsverletzende Maßnahmen gegen die Denunzierten eingeleitet oder sich die Erkenntnisse von Informanten sonst zu eigen gemacht haben 28 . Gerade die flächendeckende Bespitzelung von D D R - B ü r g e r n in deren beruflichem und privatem Bereich durch verdeckt auftretende inoffizielle Mitarbeiter des MfS, das eigenmächtige Eindringen in die Intimsphäre, etwa durch systematische Ausforschung außerehelicher Beziehungen, der unkontrollierte Eingriff in den Postverkehr und das willkürliche Abhören von Wohnungen ohne Uberprüfung durch Gerichte oder andere Gremien und ohne die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs des Betroffenen kennzeichnen das MfS als menschenverachtendes, verabscheuungswürdiges Machtinstrument eines totalitären Staates, dem die rücksichtslose Unterdrückung Andersdenkender wichtiger war als die Achtung elementarer, jedermann einsichtiger Menschenrechte. Wer sich als inoffizieller Mitarbeiter zu solchem Tun bereitgefunden und dabei die Bespitzelten in schwerer Weise geschädigt oder eine solche Schädigung in Kauf genommen hat, erscheint unwürdig, den Beruf eines Rechtsanwalts in einem Rechtsstaat auszuüben. Der grundsätzliche Unterschied zu verdeckten Ermittlern und zu Agenten der Geheimdienste in der Bundesrepublik liegt insbesondere darin, daß diese nur innerhalb eng begrenzter Aufträge tätig werden dürfen, daß sie, von gesetzlich umschriebenen besonderen Ausnahmefällen abgesehen, zu Eingriffen in die Grundrechte der Bürger nicht befugt sind und daß deren Erkenntnisse zum Nachteil der Betroffenen nur dann verwertet werden dürfen, wenn sie förmlich in ein

27 Beschl. V. 14. 3 . 1 9 9 4 - AnwZ (B) 6/93, NJW 1994, 1730 = BRAK-Mitt. 1994, 108 = AnwBl. 1994, 295 = NJ 1994, 284; v. 11. 7. 1994 - AnwZ B) 9/94, Nachw. in Fn. 24; v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 12/95, Nachw. in Fn. 5. 28 Beschl. v. 14. 3. 1994 - AnwZ (B) 78/93, BRAK-Mitt. 1994, 179 = AnwBl. 1994, 422 = DtZ 1995, 57; v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 14 und 15/94, BRAK-Mitt. 1995,257, 258.

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gesetzlich geregeltes und gerichtlich überprüfbares Verfahren eingeführt worden sind und die Betroffenen sich zu ihnen äußern konnten. Auch bei dieser Fallgruppe der MfS-Mitarbeiter hat der Senat für Anwaltssachen nur in gravierenden Fällen ein Zulassungshindernis angenommen. Der persönliche Schuldvorwurf verliert je nach der Bedeutung und dem Umfang der gelieferten Informationen mit wachsendem Abstand zur Beendigung der Spitzeldienste an Gewicht29. Der Zeitpunkt, von dem an eine Zeitspanne zu berechnen ist, die vor der (Wieder-)Zulassung liegen muß, läßt sich nicht schematisch festsetzen30. Als zulassungsrechtlich unerheblich hat der Senat den Einsatz von inoffiziellen oder hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS angesehen, wenn gegen die DDR gerichtete Spionage abgewehrt 31 oder wirtschaftliche und preispolitische Fragen im Zusammenhang mit Importen aufgeklärt oder gewöhnliche Straftaten ermittelt32 werden sollten. Ob die am 28. Dezember 1995 veröffentlichte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. August 199532a Anlaß zu einer noch großzügigeren Behandlung ehemaliger Mitarbeiter des MfS gibt, erscheint zweifelhaft. Zwar hat es das Bundesverfassungsgericht als Grund für den Widerruf einer Anwaltszulassung nicht ausreichen lassen, daß der Rechtsanwalt als inoffizieller Mitarbeiter (IM) durch Eindringen in die Privatsphäre anderer und Mißbrauch persönlichen Vertrauens Informationen über Anwaltskollegen und Mitbürger gesammelt und dabei in Kauf genommen hat, daß das MfS diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen nutze. Denn dies seien allgemeine Kennzeichen von Zuträgerei und Spitzeldiensten. Eine solche „normale" IMTätigkeit rechtfertige jedoch den Widerruf der Zulassung nicht; es müßten weitere erschwerende Umstände hinzukommen. Diese Auslegung entspricht dem Grundsatz nach den vom Senat für Anwaltssachen schon bisher angewandten Kriterien bei der Prüfung des § 7 Nr. 2 RAG und des § 7 Nr. 5 BRAO. Sie stellt allerdings besonders strenge Anforderungen an die Feststellung und Gewichtung der dem MfS gelieferten Informationen, insbesondere im Hinblick auf ihre Eignung zu Verfolgungsmaßnahmen sowie der Art und Weise, in der die Informationen für das MfS beschafft worden sind. So greife heimliches Ausspähen (Belau29 Beschl. v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 6/95, BRAK-Mitt. 1995, 208, und AnwZ (B) 12/95, Nachw. in Fn. 5; v. 24. 10. 1994 - AnwZ (B) 28/94, Nachw. in Fn. 9. 30 Beschl. v. 20. 1. 1995 - AnwZ (B) 16/94, BRAK-Mitt. 1995, 162 = NJ 1995, 390 = DtZ 1995, 441. 31 Beschl. v. 14. 3. 1994 - AnwZ (B) 78/93, Nachw. in Fn. 28; v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 6/95, Nachw. in Fn. 29. 32 Beschl. v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 14/94, BRAK-Mitt. 1995, 257. 321 1 BvR 2263/94, 1 BvR 229/95, 1 BvR 534/95, NJW 1996, 709 = BRAK-Mitt. 1996, 37 = AnwBl. 1996, 104.

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sehen, Zugriff auf fremde Unterlagen) des Privatbereichs, den die bespitzelte Person auch gegen den IM abschirme oder vor ihm verbergen wolle, tiefer in die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen ein als die Weitergabe von Informationen, die zwar privat erlangt, aber nicht mit dem Siegel der Verschwiegenheit versehen seien. Personenbezogene Berichte, die öffentliche oder aus sonstigen Gründen offen zutage liegende Verhaltensweisen oder Äußerungen betreffen, wiegen weniger schwer als psychologisierende Beobachtungen, Mutmaßungen und Rückschlüsse. Die Offenlegung durch den IM fällt um so mehr ins Gewicht, je intimer und je weniger überprüfbar der angesprochene Sachverhalt ist. 4. Da auch Rechtsanwälte in das Bespitzelungssystem des MfS einbezogen waren, hat das Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter vom 24. Juli 1992 (BGBl. I S. 1386) die Möglichkeit geschaffen, vor dem 3. Oktober 1990 in der D D R ausgesprochene Rechtsanwaltszulassungen zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn sich der Rechtsanwalt eines Verhaltens schuldig gemacht hatte, das ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben, weil er gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit insbesondere im Zusammenhang mit einer Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verstoßen hatte. Die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit ergeben sich aus dem Sittengesetz und den jeder Rechtsordnung vorgegebenen natürlichen Rechten der Einzelperson, die auch unter der Herrschaft des SEDRegimes in Geltung geblieben waren". Ein Verstoß gegen diese Grundsätze setzt ein persönlich schuldhaftes Verhalten von einer gewissen Erheblichkeit voraus. Der Senat für Anwaltssachen hat die gegen dieses Gesetz erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt34. Dieser Auffassung hat sich das Bundesverfassungsgericht angeschlossen 34 '. Im folgenden sollen zwei Fälle geschildert werden, deren tatsächliche Umstände die Notwendigkeit eines solchen in die Berufsfreiheit eingreifenden Widerrufs augenscheinlich machen. In dem einen Fall35 betraf der Widerruf einen Antragsteller, der seit 1970 als Rechtsanwalt in der D D R tätig war und seit 1982 als inoffizieller Mitarbeiter mit dem MfS zusammengearbeitet hatte. Der Rechtsan" Beschl. v. 19. 6. 1995 - AnwZ (B) 6/95, Nachw. in Fn. 29, und AnwZ (B) 14/94 - , Nachw. in Fn. 32; so auch Beschluß des Senats für Notarsachen v. 5. 2. 1996 - N o t Z 42/94. " Beschl. v. 21. 2. 1994 - AnwZ (B) 59/93, NJW 1994, 1732 = AnwBl. 1994, 293 = NJ 1994, 283 = BRAK-Mitt. 1994, 111; v. 11. 7. 1 9 9 4 - A n w Z (B) 9/94, Nachw. in Fn. 24. >4' Am 28. 12. 1995 veröffentlichter Beschl. v. 9. 8. 1995, vgl. Fn. 32 a. 35 Beschl. v. 21.11.1994 - AnwZ (B) 49/94, BRAK-Mitt. 1995, 78; Verfassungsbeschwerde verworfen, vgl. Fn. 32 a und 34 a.

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walt berichtete über Probleme und Lebensgeschichten seiner Mandanten, über Rechtsanwaltskollegen, deren Lebensweise, Eheprobleme, politische Anschauungen, mögliche „Republikflucht"-Absichten und -Vorbereitungen, über Sitzungen des Rechtsanwaltskollegiums und ähnliches. Absprachegemäß erzielte der Rechtsanwalt mit Hilfe des MfS bestimmte Erfolge für seine Mandanten, um deren Vertrauen zu gewinnen. Er wurde auch auf oppositionelle Kreise angesetzt, denen er sozialdemokratische, abweichlerische Denkweisen vortäuschen sollte. Im einzelnen belegt ist u. a. folgendes Verhalten des Rechtsanwalts gegenüber einem befreundeten Rechtsanwalt. Er charakterisierte diesen beim MfS als eine der D D R gegenüber feindlich eingestellte Persönlichkeit, die sich mit dem Gedanken trage, die D D R zu verlassen. Der Rechtsanwalt wußte, daß er damit den Kollegen der Ausforschung und Überwachung durch das MfS aussetzte. Dessen Mitarbeiter drangen heimlich in die Wohnung des Denunzierten ein, observierten ihn rund um die Uhr und hörten seine Privaträume ab. Das MfS ließ ihm, um ihm eine Falle zu stellen, eine Touristenreise nach Finnland anbieten, die er antrat. Vor Erreichen des Flughafens wurde er wegen des Verdachts verhaftet, von Finnland aus nicht mehr in die D D R zurückkehren zu wollen. Er wählte sich gerade den Rechtsanwalt, der ihn für das MfS ausgeforscht hatte, zum Verteidiger, weil er ihm besonders vertraute. Ihm erläuterte er, mit welcher unrichtigen Einlassung er der Beweisführung des MfS entgegentreten wollte. Der Rechtsanwalt verriet umgehend das Verteidigungskonzept an das MfS. Diesem gelang es infolge des Bruchs des Anwaltsgeheimnisses, den Mandanten des Rechtsanwalts zu überführen. Der Mandant und seine Lebensgefährtin wurden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, sein wertvolles Vermögen wurde eingezogen. Ein anderer Fall 56 betraf einen Rechtsanwalt, der seit seiner Aufnahme in das Rechtsanwaltskollegium im Jahre 1973 alles, was seine Mandanten ihm anvertraut hatten und für das MfS von Interesse war, umgehend und minutiös berichtete. Die von ihm oder seinen Führungsoffizieren gefertigten Berichte füllten 21 Aktenbände mit 5937 Blatt. Zu den Mandanten des Rechtsanwalts gehörten viele Bürgerrechtler, Ausreisewillige und Wehrdienstverweigerer. D a der Rechtsanwalt es verstanden hatte, auch das Vertrauen kirchlicher Stellen zu gewinnen, verwiesen diese viele Hilfesuchenden, die mit der Obrigkeit in Konflikt geraten waren, an ihn. Sie erhofften sich von ihm Beistand gegenüber dem Staat und offenbarten sich ihm. Durch seinen Verrat ermöglichte er dem MfS eine nahezu perfekte Kontrolle über diese Bevölkerungsgruppen. Der Rechtsanwalt hat in hunderten von Fällen ohne N o t über geplante Ausreiseversuche, Wehrdienstverweigerungen und sonstige Vorgänge aus 36

Beschl. v. 11. 7. 1994 - AnwZ (B) 9/94, Nachw. in Fn. 24.

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dem Privatbereich der Betroffenen an das MfS berichtet. Sein schweres Verschulden wurde nicht dadurch wesentlich gemindert, daß das MfS als Gegenleistung für den ständigen Informationsfluß in einigen Fällen einer Bitte des Rechtsanwalts um schonende Behandlung seiner Mandanten entsprochen hat.

III. Der Senat für Anwaltssachen hat es in keinem Fall bei der Feststellung bewenden lassen, daß sich der Betroffene durch seine Mitwirkung an bestimmten Unrechtsakten eines Rechtsanwalts unwürdig gezeigt hat. Er hat stets gefordert, die eingangs unter II Ziff. 1 näher umschriebene Gesamtwürdigung vorzunehmen, und der Dauer des beanstandungsfreien Verhaltens nach Beendigung der Verfehlung Bedeutung dafür beigemessen, ob der Antragsteller noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für den Anwaltsberuf nicht tragbar erscheint. Daß der Senat nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts diesen Anforderungen in der schriftlichen Begründung zweier Entscheidungen nicht ausreichend Rechnung getragen hat37, ändert an der vorliegenden Bewertung nichts. Die vom Senat für Anwaltssachen und vom Bundesverfassungsgericht übereinstimmend als erforderlich angesehene fallbezogene Verfahrensweise beeinträchtigt die Voraussehbarkeit der letztinstanzlichen Entscheidung sowohl für den Betroffenen wie auch für die handelnden Organe des Staates und der Rechtsanwaltschaft. Sie läßt sich jedoch nicht vermeiden, wenn das Gesetz - wie bei dem Tatbestandsmerkmal der Unwürdigkeit - den staatlichen Eingriff nicht an eindeutige Maßstäbe, sondern an wertungsabhängige unbestimmte Rechtsbegriffe bindet, die erst durch die richterliche Ausfüllung justitiable Konturen erhalten. Eine solche Gesetzeslage stellt den Richter vor hohe Anforderungen. Soll fünf Jahre nach der Wiedervereinigung und zwei Jahre nach Beginn der anwaltsgerichtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Unwürdigkeit durch Mitwirkung am SED-Unrecht ein erster Bilanzierungsversuch gewagt werden, so erscheint die Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß der Senat für Anwaltssachen unter Leitung des Jubilars sich jeder pauschalen Verurteilung von Funktionsträgern der D D R , der S E D und des MfS enthalten hat, andererseits aber auch nicht der Versuchung erlegen ist, die unmenschliche Härte des SED-Regimes gegenüber Andersdenkenden und die Entmündigung der DDR-Bürger durch eine totalitäre Diktatur deshalb zu relativieren, weil diese sich den täuschenden Anschein gab, durch Gesetze der Volkskammer legitimiert zu sein. Der Senat hat sich bemüht, auf einzelne dem juristischen Beweis 37

Beschl. v. 9. 8. 1995, vgl. Fn. 34 a und 32 a.

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zugängliche und von den Betroffenen zu verantwortende Unrechtsakte abzustellen, um besonders belastete DDR-Juristen für eine bestimmte Zeit vom Anwaltsberuf im wiedervereinigten Deutschland fernzuhalten. Auch wenn die hierbei auftretenden Probleme sich durch Zeitablauf erledigen und dann nur noch von historischem Interesse sein werden, so kommt doch der anwaltsgerichtlichen Behandlung von SED-Unrecht eine exemplarische Bedeutung dafür zu, wie ein Ausgleich zwischen dem Interesse der Rechtsuchenden und der Allgemeinheit an einem integren und zuverlässigen Anwaltsstand und dem Interesse des Einzelnen an der Freiheit der Berufswahl gefunden werden kann. Der maßvolle rechtsstaatliche Umgang mit denjenigen, die in der D D R ungeachtet der von ihnen nicht zu vertretenden Nachkriegsverhältnisse schwere persönliche Schuld auf sich geladen haben, kann das Vertrauen in eine dem Recht und dem Gesetz verpflichtete Justiz weiter festigen.

Die GmbH als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung HENNING PIPER

I. Vorbemerkung 1. Berufsrecht und Berufsbild des Rechtsanwalts befinden sich seit Jahren in einem tiefgreifenden Wandel. Das Bild des Kanzlei- und Prozeßanwalts, das die Bundesrechtsanwaltsordnung' von ihren Vorgängerinnen, den Rechtsanwaltsordnungen von 1878 2 und 1936 3 übernommen hat, entspricht in dieser Form nicht mehr der Wirklichkeit 4 . Die außerforensische Prozeßvorsorge, Beratung, insbesondere die Wirtschaftsberatung, und Rechtsgestaltung haben neben der Prozeß- und Kanzleitätigkeit eine große, vielfach zentrale Bedeutung für die anwaltliche Arbeit erlangt. Auch die Wahrnehmung der Aufgaben von Konkursverwaltern, Beiräten, Treuhändern, Testamentsvollstreckern oder Vormündern durch Rechtsanwälte spielt keineswegs nur eine untergeordnete Rolle mehr. Eine erhebliche Zahl von Rechtsanwälten arbeitet als Syndikusanwalt oder im Angestelltenverhältnis bei Berufskollegen. Hinzu kommt, daß an die Stelle des Einzelanwalts mehr und mehr die Sozietät getreten ist. Uber zwei Fünftel aller Rechtsanwälte sind in Gesellschaften bürgerlichen Rechts zusammengeschlossen 5 . Die Gründe dafür sind vielgestaltig und vielschichtig. Eine immer weiter greifende Verrechtlichung aller Lebensbereiche, die Europäisierung des nationalen Rechts, die damit komplexer und schwieriger werdende Beurteilung von Rechtsfragen und Lebenssachverhalten, die Notwendigkeit der Spezialisierung und eine steigende Arbeitsbelastung zwingen zu Kooperation und Arbeitsteilung. Aber auch der Wettbewerb mit Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern und anderen Leistungsträgern wie Banken und Versicherungen und die Konkurrenz im Binnenmarkt als Folge des wirtschaftlichen Zusammenwachsens der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie ein vermehrter Kapitalbedarf, der von Einzelanwälten oder

' B R A O vom 1. 8. 1959 (BGBl. I S. 565) mit den späteren Änderungen. RGBl. S. 177. J RGBl. I S. 107. * Vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte, BT-Drucks. 12/4993, S. 93. 5 Gesetzesbegründung Fn. 4. 2

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in den tradierten Formen anwaltlicher Betätigung nicht mehr befriedigend gedeckt werden kann, verändern die Anforderungen an die anwaltliche Berufsausübung. Daneben besteht seit langem ein starker Anstieg der Zahl der Rechtsanwälte. Während sich im Jahre 1961 die Zahl der berufstätigen Rechtsanwälte auf 18 720 belief, lag diese Zahl im Jahre 1991 bereits bei 59 4466. Sie ist im Februar 1996 auf über 80 000 zugelassene Rechtsanwälte angestiegen611. Auch das verstärkt - auch aus Kostengründen und Gründen der Arbeitserleichterung - die Tendenz zu beruflicher Kooperation. 2. Die anwaltliche Sozietät, die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts - abgesehen von dem lediglich organisatorischen Verbund im Rahmen von Bürogemeinschaften - bis zum Inkrafttreten des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes am 1.7.1995 7 die einzige allgemein anerkannte Rechtsform beruflicher Zusammenarbeit auf nationaler Ebene war, vermag aber schon seit längerem den Bedürfnissen vor allem größerer Anwaltspraxen nicht immer gerecht zu werden. Uberörtliche und intraurbane Sozietäten haben zwar rechtliche Anerkennung gefunden 8 und erlauben ebenso wie die übernationalen Zusammenschlüsse im Rahmen einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) 9 ein kanzleiübergreifendes Angebot anwaltlicher Dienstleistungen im nationalen wie im internationalen Bereich, und auch in Zukunft wird die herkömmliche Sozietät für viele Anwälte eine sinnvolle Form der Zusammenarbeit bilden. Für andere Kanzleien wird sie sich aber nach Größe, Kapitalbedarf und Aufgabenstellung nicht mehr als ausreichend erweisen. Grund dafür ist die zu wenig verfestigte Innenstruktur der BGBGesellschaft, die als solche nicht rechtsfähig und auch nicht voll namensfähig ist. Aktiv- und Passivprozesse kann sie nur namens sämtlicher Gesellschafter führen, grundbuchfähig ist sie ebensowenig wie konkurs-

6 Bereich der alten Bundesländer, einschließlich Anwaltsnotare. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970, Abschn. VI. A. 3, S. 97; Statistisches Jahrbuch 1994, Abschn. 15.3, S. 382. 61 Pressemitteilung der Bundesrechtsanwaltskammer vom 23.2.1996, N J W 1996, S. XVI. 7 Gesetz über Partnerschaftsgesellschaften Angehöriger Freier Berufe (PartGG) vom 25. 7. 1994 (BGBl. I S. 1744). 8 § 59a Abs. 2 BRAO; B G H Z 108, 290, 293 ff. = N J W 1989, 2890, 2891; BGHSt 37, 220, 222 = N J W 1991, 49, 50; B G H N J W 1991, 2780, 2781; B G H Z 119, 225, 227 ff. = G R U R 1993, 399, 400 f. = N J W 1993, 196, 197 f. - Überörtliche Anwaltssozietät; B G H G R U R 1994, 736, 737 = W R P 1994, 613, 614 = N J W 1994, 2288 - Intraurbane Sozietät. 9 V O (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. 7. 1985 (ABlEG Nr. L 199, S. 1); EWIVAusführungsgesetz vom 14. 4. 1988 (BGBl. I S. 514); s. dazu auch Klein-Blenkers, DB 1994, 2224.

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und deliktsfähig10. Haftungsbeschränkungen sind zwar auch bei ihr möglich, begegnen aber in praxi erheblichen Schwierigkeiten". Auch der Gesetzgeber hat dies erkannt und dem mit der Novellierung des anwaltlichen Berufsrechts12 und dem Erlaß des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes13 Rechnung zu tragen gesucht, um Dienstleistungen der Anwälte und anderer freier Berufe eine modernen Anforderungen gerecht werdende Organisationsform zu bieten14. Zu einer Einführung der Kapitalgesellschaft als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung hat er sich freilich nicht entschließen können. Geschaffen hat er mit der Partnerschaftsgesellschaft als einer „Schwesterfigur" zur OHG 1 5 eine rechtsfähige Gesamthand, die - soweit nicht gesetzliche oder berufsrechtliche Regelungen entgegenstehen - allen freien Berufen offensteht und einen Organisationsrahmen auch für interprofessionelle Zusammenschlüsse bietet. Vertragspartner des Auftraggebers ist bei ihr als einer Berufsausübungsgesellschaft stets die Partnerschaft, für deren Verbindlichkeiten außer dieser selbst die Partner als Gesamtschuldner haften, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen der Person und der Höhe nach beschränkt16. 3. Es ist abzusehen, daß die Partnerschaft die Auseinandersetzung um Zulässigkeit und Einführung der GmbH als einer neuen Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung nicht beenden wird. Die Diskussion darum wird - was allein schon für das Vorliegen eines Bedürfnisses und für die sachliche Berechtigung des Anliegens spricht, anwaltliche Leistungserbringung auch in Form einer Kapitalgesellschaft anbieten zu können außerordentlich kontrovers geführt17. Der Bundesgerichtshof hat - ganz 10 S. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung von Partnerschaftsgesellschaften und zur Änderung anderer Gesetze, BT-Drucks. 12/6152, S. 7. 11 Vgl. BGH GRUR 1993, 834, 835 f. = NJW 1992, 3037, 3093 - Haftungsbeschränkung bei Anwälten. Zur vertraglichen Begrenzung der anwaltlichen Haftung siehe jetzt auch § 51 a BRAO. 12 Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. 9. 1994 (BGBl. I S. 2278), § 59 a BRAO. 13 S. Fn. 7. 14 S. Fn. 10. 15 So die Begründung zum PartGG (Fn. 10), S. 8. 16 Zum PartGG im einzelnen s. Michalski/Römermann, Kommentar zum Partnerschaftsgesellschaftsgesetz, 1995; Gail/Overlack, Anwalts-GmbH oder Partnerschaftsgesellschaft?, 1995; Bösert, DStR 1993, 1332; ders., ZAP 1994, Fach 15, S. 137; Kempter, BRAK-Mitt. 1994, 122; Lenz, MDR 1994, 741; Stuber, WiB 1994, 705; Karsten Schmidt, NJW 1995, 1; Henssler, DB 1995, 1549, 1552. 17 Für die Möglichkeit einer Rechtsanwalts-GmbH: Senninger, AnwBl 1989, 301 f.; Kewenig, JZ 1990, 782, 788 f.; DAV-Vorstand, AnwBl 4/1990 Beilage; Ahlers, AnwBl 1991, 226 ff.; ders. in FS Rowedder, 1994, S. 1, 3, 7 ff.; ders., AnwBl 1995, 3; ders., AnwBl 1995, 121; Heinemann, AnwBl 1991, 233, 238; Deutscher Richterbund, DRiZ 1992, 29; Grüber, WRP 1992, 115; Henssler, JZ 1992, 697 ff.; ders., NJW 1993, 2137 ff.; ders., ZIP

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im Sinne der Befürworter einer RechtsanwaltsGmbH - für die Berufsausübung der Zahnärzte, was aber entsprechend auch für die der Arzte gilt, entschieden, daß § 1 ZHG 1 8 dem Angebot einer G m b H , ambulante Zahnbehandlungen als eigene vertragliche Leistungen anzubieten und zu erbringen, nicht grundsätzlich entgegensteht 19 . Schon vorher hatte der B G H das Angebot und den Abschluß von Behandlungsverträgen durch eine GmbH, die die heilkundliche Beratung und Behandlung von Patienten durch Heilpraktiker erbringen ließ, auf der Grundlage der Vorschriften des Heilpraktikergesetzes für zulässig gehalten20, wie er auch in anderen Entscheidungen die Erbringung ärztlicher Leistungen im Rahmen von Gesellschaften mit beschränkter Haftung nicht beanstandet hat21. Für die Frage der Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH kommt es allerdings auf andere rechtliche Vorschriften an, als sie für Arzte und Zahnärzte gelten. Jedoch hat das Bayerische Oberste Landesgericht auch bei Zugrundelegung der für die Rechtsanwalts-GmbH in Betracht zu ziehenden Regelungen den Zusammenschluß von Rechtsanwälten zu gemeinsamer Berufsausübung in der Rechtsform der G m b H bei Beachtung bestimmter, gesellschaftsvertraglich zu regelnder Voraussetzungen prinzipiell für zulässig erklärt22. Das nun steht freilich in Widerspruch 1994, 844, 848; ders., ZIP 1994, 1871; ders., DB 1995, 1549; Koch, AnwBl 1993, 157 ff.; ders., M D R 1995, 446; Bakker, AnwBl 1993, 245, 246; v. Falkenhausen, AnwBl 1993, 479, 481; Ring, EWiR 1994, 773; Kleine-Cosack, EWiR 1995, 151; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115 ff.; Sommer, G m b H R 1995, 249; Dauner-Lieb, G m b H R 1995, 259; Redeker, N J W 1995, 1241, 1245; Schlosser, JZ 1995, 345; Mayen, N J W 1995, 2317. Zur ÄrzteG m b H s. a. Taupitz, N J W 1992, 2317 ff.; Laufs, MedR 1995, 11; ders., N J W 1995, 1590, 1595. Dagegen: Kalsbach, Standesrecht des Rechtsanwalts, 1956, S. 618; Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 2. Aufl. 1988, §28 Rdn. 49, 50; Jessnitzer/Blumberg, Bundesrechtsanwaltsordnung, 7. Aufl. 1995, § 59 a Rdn. 2; Feuerich/Braun, Bundesrechtsanwaltsordnung, 3. Aufl. 1995, § 59 a Rdn. 16; Kremer, G m b H R 1983, 259 ff.; Zuck, AnwBl 1988, 21 f.; Schumacher, AnwBl 1990, 383 f.; Düwell, AnwBl 1990, 388 f.; Donath, Z H R 156 (1992), 134, 166; Weigel, BRAKMitt. 1992, 183 f.; Haas, BRAK-Mitt. 1994, 1; Stucken, WiB 1994, 744; Taupitz, JZ 1994, 1100; ders., N J W 1995, 369; Kempter, BRAK-Mitt. 1995, 4; Braun, M D R 1995, 447. " Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde (ZHG) vom 31.3. 1952 i. d. F. der Bekanntmachung vom 16. 4. 1987 (BGBl. I S. 1225) mit den späteren Änderungen. " B G H Z 124, 224 = WRP 1994, 172 = N J W 1994, 786 - GmbH-Zahnbehandlungsangebot. 20 B G H G R U R 1992, 175 = NJW-RR 1992, 430 - Ausübung der Heilkunde. 21 B G H G R U R 1989, 601 = WRP 1989, 585 = N J W 1989 2324 - Institutswerbung; W R P 1994, 859 - GmbH-Werbung für ambulante ärztliche Leistungen. 22 B a y O b L G Z 1994, 353 = N J W 1995, 199 m. Anm. Taupitz, S. 369, und Boin, S. 371 = M D R 1995, 95 m. Anm .Koch = ZIP 1994, 1868 m. Anm. Henssler = AnwBl 1995, 35 m. Krim. Ahlers = BRAK-Mitt. 1995, 34 m. Kam. Kempter = WiB 1995, 115 m. Anm. Hommelhoff/M. Schwab = DZWir 1995, 110 m. Anm. Michalski = G m b H R 1995, 42 m. Anm. Dauner-Lieb = Rpfleger 1995, 215 m. Anm. Gerken; s. a. Kleine-Cosak, EWiR 1995, 151; Hartstang, Z A P Fach 23, S. 193; Emmerich JuS 1995, 261.

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zu der lange Zeit herrschenden Auffassung, daß die von Eigenverantwortlichkeit, Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit, von einem besonderen Vertrauensverhältnis zu den Mandanten und vom Grundsatz persönlicher Haftung geprägte anwaltliche Berufsausübung mit dem Wesen der GmbH als einer Kapitalgesellschaft, die eigene Rechtspersönlichkeit besitzt und den Gläubigern nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftet, nicht zu vereinbaren sei23. In Ubereinstimmung damit heißt es auch im Regierungsentwurf des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes, daß die Leistungserbringung innerhalb einer Kapitalgesellschaft mit dem Wesen freiberuflicher Tätigkeiten nur schwer zu vereinbaren sei24. Jedoch vermag dies nicht ohne weiteres zu belegen, daß von der geltenden Rechtslage her - anders als das Bayerische Oberste Landesgericht geurteilt hat - gegen die rechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH zu entscheiden ist. Auch tradierte, in Jahrzehnten gewachsene Rechtsüberzeugungen können der Weiterentwicklung bedürftig sein. In der hier behandelten Frage der Zulässigkeit der Anwalts-GmbH wären sie es, wenn die traditionelle restriktive Betrachtungsweise der Rechtsformwahl einer gesetzlichen (oder gewohnheitsrechtlichen) Grundlage entbehrte und sie nicht befriedigend erklären könnte, warum Rechtsanwälten die GmbH als Rechtsform der Berufsausübung vorenthalten werden sollte, wenn sie Steuerberatern 25 und Wirtschaftsprüfern 26 , nach allgemeiner Auffassung aber auch Architekten und Ingenieuren 27 und - nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 28 - nunmehr auch Ärzten und Zahnärzten offensteht. II. Rechtsanwalts-GmbH und GmbH-Gesetz Aus der Sicht des Gesellschaftsrechts bestehen gegen die Verwendung der Rechtsform der GmbH für die Ausübung freiberuflicher Tätigkeit wie die des Rechtsanwalts keine Bedenken. Als ein Hinderungsgrund für die anwaltliche Berufsausübung im Rahmen der GmbH ist es nicht anzusehen, daß der Rechtsanwalt einen freien Beruf und kein Gewerbe 23

Hachenburg/Ulmer, GmbH-Gesetz, 8. Aufl. 1992, § 1 Rdn. 20; Scholz-Emmerich, GmbH-Gesetz, 8. Aufl. 1993, § 1 Rdn. 13; Rowedder/Rittner, GmbH-Gesetz, 2. Aufl. 1990, § 1 Rdn. 12; Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 14. Aufl. 1995, § 1 Rdn. 7; Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbH-Gesetz, 1987, § 1 Rdn. 5; Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 15. Aufl. 1988, § 1 Rdn. 9; Roth, GmbH-Gesetz, 2. Aufl. 1987, § 1 Anm. 3.1. b a.E. S. a. die Zitate Fn. 17. 24 BT-Drucks. 12/6152, S. 1. 25 §§ 49 ff. StBerG. 26 §§ 27 ff. WPO. 27 Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 20; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 7 m. w. N. 2! S. Fn. 19,20.

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ausübt. Im Gegensatz zu O H G und KG29 - aber ebenso wie bei der BGB-Gesellschaft (§ 705 BGB) und der Aktiengesellschaft (§ 3 AktG) kann Unternehmensgegenstand der G m b H auch ein anderer als der Betrieb eines Handelsgewerbes sein. Die G m b H kann nach Maßgabe des GmbH-Gesetzes zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck gegründet werden (§ 1 GmbHG). Damit steht sie grundsätzlich auch freiberuflichen Zusammenschlüssen als Organisationsform zur Verfügung. Soweit die gesellschaftsrechtliche Kommentarliteratur die Rechtsanwalts-GmbH bislang für nicht zulässig gehalten hat, beruht dies nicht auf genuin gesellschaftrechtlichen Gründen, sondern auf der Annahme, daß die anwaltliche Betätigung in der Rechtsform der GmbH gegen Gesetz (§ 134 BGB) oder Standesrecht verstoße30. Dies jedoch ist eine Frage, die sich aus anderen Regelungen als denen des Gesellschaftsrechts beantworten muß. III. Rechtsanwalts-GmbH und BRAO 1. Prüft man die Frage der (Un-)Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH anhand der BRAO, sucht man darin vergebens nach einer ausdrücklichen Antwort. § 59 a BRAO 31 erlaubt es, daß sich Rechtsanwälte untereinander oder mit Angehörigen bestimmter anderer freier Berufe unter den in § 59 a BRAO genannten Voraussetzungen zu gemeinsamer Ausübung in einer Sozietät (oder zu einer Bürogemeinschaft) zusammenschließen. Das besagt aber nicht, daß ausschließlich die Sozietät, d. h. allein eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, für die berufliche Kooperation von Rechtsanwälten zur Verfügung stünde. § 59 a BRAO enthält keinen numerus clausus. Dies folgt zwingend aus der Möglichkeit einer anderweiten anwaltlichen Zusammenarbeit im Rahmen einer Partnerschaft im Sinne des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes32 oder einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung33. Aber auch sonst gibt § 59 a BRAO ein positives Verbot der Anwalts-GmbH nicht her, jedenfalls nicht mit einer Bestimmtheit, die - auch aus verfassungsrechtlicher Sicht (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) - für ein die Berufsausbildung einschränkendes Verbot erforderlich wäre. Die Begründung des Entwurfs der Berufsrechtsnovelle von 1994 läßt es im Gegenteil ausdrück29

§§ 105,161 HGB. Hachenburg/Ulmer, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 20; Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 13; Rowedder/Rittner, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 12; Baumbach/Hueck, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 9. " I. d. F. des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 2. 9.1994, Fn. 12. 12 S. Fn. 8. " S. Fn. 10. 30

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lieh offen, in welcher Rechtsform eine gemeinsame Berufsausübung von Rechtsanwälten zulässigerweise möglich ist. Sie interpretiert die gesetzliche Regelung dahin, daß diese Raum für eine weitere Entwicklung lasse, ohne die dabei geäußerten Zweifel, ob die Form einer Kapitalgesellschaft den besonderen Strukturen der anwaltlichen Tätigkeit gerecht werden könne, gegen die Zulässigkeit der Anwalts-GmbH durchschlagen zu lassen34. Da aber die Auseinandersetzung in dieser Frage schon zur Zeit der Entstehung des Gesetzes 35 voll eingesetzt hatte 36 , kann nach den Motiven an der Absicht des Gesetzgebers, kein Verbot der Rechtsanwalts-GmbH zu statuieren, nicht gezweifelt werden. Damit stimmt überein, daß nach der Regierungsbegründung des Entwurfs des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes - das ebenfalls keine Festlegung auf die Rechtsform der Partnerschaft enthält und lediglich die Möglichkeit zu beruflicher Zusammenarbeit im Rahmen dieser Rechtsform schafft37 die Kapitalgesellschaften als weitere Rechtsformen für die Zusammenarbeit freier Berufe grundsätzlich zur Verfügung stehen sollen38. Dem Bayerischen Obersten Landesgericht muß daher zugestimmt werden in der Auffassung, daß § 59 a B R A O kein Verbot für den Zusammenschluß von Rechtsanwälten in Form einer G m b H enthält39. 2. Eine andere Frage ist es, ob sich das Verbot der RechtsanwaltsG m b H de lege lata - wie auch schon vor der Einfügung des § 59 a in die B R A O geltend gemacht wurde - aus Wesen und Struktur des anwaltlichen Berufsbildes und den Grundpflichten des Rechtsanwalts ergibt. Verwiesen wird insoweit auf die vom Gesetz geforderte Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit des Rechtsanwalts (§§ 1, 3 Abs. 1, § 43 a Abs. 1 B R A O ) , auf den Charakter des Anwaltsberufs als den eines freien Berufs (§ 2 Abs. 1 B R A O ) , auf das dafür typische Fehlen der Gewerblichkeit sowie auf das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant als Grundvoraussetzung der anwaltlichen Berufsausübung (§§ 1, 3 Abs. 1 und 3, § 43 a Abs. 2 BRAO) 4 0 . Diese Postulate S. Fn. 4. Vgl. Entwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte und zur Änderung anderer Gesetze vom 1 2 . 1 1 . 1 9 9 2 (BMJ 3170/15). 36 Vgl. BayObLGZ 1994, 353, 358 = N J W 1995, 199, 200 - Anwalts-GmbH; Henssler, JZ 1992, 667; s. a. die Zitate Fn. 17. 37 Fn. 11, BT-Drucks. 12/6152, S. 8 (linke Sp., 3. Abs.); BayObLGZ 1994, 353, 357 = NJW 1995, 199, 200 - Anwalts-GmbH; Michalski/Römermann, Partnerschaftsgesellschaftsgesetz, Einf. Rdn. 44; Karsten Schmidt, NJW 1995, 1, 2. 38 Fn. 11, BT-Drucks. 12/6152, S. 8 (rechte Sp., 2. Abs.). 39 BayObLGZ 1994, 353, 356 f. = N J W 1995, 199, 200 - Anwalts-GmbH; ebenso Ahlers, AnwBl 1995, 3; Henssler, DB 1995, 1549; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115; Dauner-Lieh, GmbHR 1995, 259, 261. 40 Vgl. dazu Ahlers, AnwBl 1991, 226, 228 f.; Henssler, JZ 1992, 697, 698 m. w. N. 34

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seien unvereinbar mit der Forderung, den Anwaltsberuf auch im Rahmen der Rechtsform der G m b H ausüben zu können. a) Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit anwaltlicher Berufsausübung sind indessen bei einer Tätigkeit im Rahmen einer Rechtsanwalts-GmbH nicht zwangsläufig gefährdet. Sie sind es nicht, wenn die G m b H verantwortlich von Rechtsanwälten geführt wird und der Gesellschaftsvertrag Vorsorge dafür trifft, daß der Rechtsanwalt entsprechend den Anforderungen des Berufsrechts seine Tätigkeit ausüben kann. Wird die Weisungsbefugnis der Gesellschafter 41 und das Widerspruchsrecht der (Mit-)Geschäftsführer 42 - was rechtlich ohne weiteres möglich ist - in einer Weise beschränkt, die die berufliche und persönliche Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als eines Organs der Rechtspflege bei Erfüllung seiner anwaltlichen Aufgaben sowie gegenüber der GmbH, den Mitgesellschaftern und -geschäftsführern und den Mandanten wahrt, bestehen insoweit gegen die Rechtsanwalts-GmbH keine Bedenken. Es überzeugt auch nicht, wenn gegen die Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit anwaltlicher Berufsausübung eingewandt wird, daß die Tätigkeit des Rechtsanwalts als Angehörigen eines freien Berufs mit einer Berufsausübung in einer Kapitalgesellschaft wie der G m b H nicht zu vereinbaren sei. Die Tätigkeit der Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Architekten und Ingenieure in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft belegt, daß diese Art der Berufsausübung freien Berufen keineswegs verschlossen ist. Rechtsanwälten ist sie es auch nicht im Hinblick darauf, daß die anwaltliche Berufsausübung keine Gewerbe ist. Die Eigenschaft als Handelsgesellschaft wird vom Gesetz bei einer G m b H , die wie die AnwaltsG m b H keines der Geschäfte des § 1 Abs. 2 H G B betreibt, lediglich fingiert (§ 6 Abs. 1 HGB), und die selbstverständlich auch erwerbswirtschaftliche Tätigkeit der Berufsausübung in der G m b H macht den Anwaltsberuf nicht zum Gewerbe im Sinne des § 2 Abs. 2 BRAO. b) Das besondere Vertrauensverhältnis, das Charakteristikum der Beziehungen von Anwalt und Mandant ist, wird ebenfalls nicht notwendigerweise von der Wahl der G m b H als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung betroffen. Auch bei ihr bleibt der Rechtsanwalt unabhängiger und persönlicher Berater der Partei und deren Vertreter vor Gericht. So wie bei der Partnerschaftsgesellschaft Vertragspartner des Auftraggebers die Gesellschaft und nicht der einzelne Gesellschafter wird 43 und entsprechend dem für die Sozietät geltenden Grundsatz der Auftragsannahme 41

S. § 37 Abs. 1 GmbHG. « Vgl. §115 Abs. 1 HGB. 43 Vgl. z. B. MichalskURömermann, aaO (Fn. 37), § 7 Rdn. 15 m. w. N.

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für und gegen alle Sozien44, wird zwar auch bei der Anwalts-GmbH Vertragspartner die Gesellschaft, aber ohne daß darunter - ebensowenig wie bei der Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, bei der Partnerschaftsgesellschaft und der Sozietät - das Vertrauensverhältnis leiden muß, das Anwalt und Mandant verbindet. Prozeßvollmacht wird allein den anwaltlichen Mitgliedern der GmbH erteilt, nicht der GmbH. Diese selber ist unfähig, vor Gericht aufzutreten. § 4 BRAO setzt für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und damit für Postulationsfähigkeit und Prozeßvertretung die Befähigung zum Richteramt voraus, die nur von natürlichen Personen erworben werden kann. c) Aus dem Umstand, daß die GmbH als solche unfähig ist, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen zu werden, folgt nicht, daß die Zulässigkeit anwaltlicher Betätigung in der Rechtsform der GmbH von der geltenden Rechtslage nicht getragen und deshalb einer besonderen gesetzlichen Legitimation bedürfte. Die Rechtsanwalts-GmbH schließt zwar den Anwaltsvertrag mit den Mandanten (und erfüllt diesen durch die ihr angehörenden Rechtsanwälte). Sie schafft damit für deren anwaltliche Tätigkeit aber lediglich die organisatorischen Voraussetzungen. Die Rechtsberatung selbst wird jedoch nicht von ihr geleistet, sondern von den ihr angehörenden Rechtsanwälten, so daß sie auch nicht Normadressat der öffentlich-rechtlichen Berufszulassungsregelung des § 4 BRAO ist. Das ist allein der Rechtsanwalt, der Beratung und Prozeßvertretung unmittelbar wahrnimmt. Der Normzweck der Regelung wird erreicht, wenn die in der GmbH tätigen Rechtsanwälte den Anforderungen des § 4 BRAO entsprechen45. d) Auch aus der Beschränkung der Haftung der GmbH auf das Gesellschaftsvermögen (§13 Abs. 2 GmbHG) kann die Unzulässigkeit der Anwalts-GmbH nicht mit stichhaltiger Begründung hergeleitet werden. Haftungsbeschränkungen sind freien Berufen nicht grundsätzlich fremd. Aus Eigenverantwortlichkeit und Selbstverständnis des Freiberuflers kann das Postulat seiner persönlichen Haftung46 nicht - jedenfalls nicht mehr - hergeleitet werden47. Zwar hat das Partnerschaftsgesellschaftsge44 BGHSt 37, 220, 222 = NJW 1991, 49, 50 = AnwBl 1991, 97, 98 - Zur Zulässigkeit überörtlicher Anwaltssozietäten; BGHZ 119, 225, 233 = GRUR 1993, 399, 401 - Überörtliche Anwaltssozietät. 45 BayObLGZ 1994, 353, 359 = NJW 1995, 199, 201 - Anwalts-GmbH. Vgl. zur Zulässigkeit der (Zahn-) Ärzte- und Heilpraktiker-GmbH: BGH Fn. 20 und 21; Henssler, NJW 1993, 2137, 2140; ders., ZIP 1994, 844, 848; Koch, AnwBl 1993, 157, 159; Hommelhoff/ M. Schwab, WiB 1995, 115; Dauner-Lieb, GmbHR 1995, 259, 260; Mayen, NJW 1995, 2317,2322. « S. dazu Kremer, GmbHR 1983, 259, 263 f.; Karsten Schmidt, ZIP 1993, 633, 648 f.; Kempter, BRAK-Mitt. 1994, 122, 124. 47 Vgl. z. B. Michalski/Römermann, aaO (Fn. 37), § 8 Rdn. 9.

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setz für seinen Bereich am Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung der Partner (die neben der Haftung der Gesellschaft mit dem Partnerschaftsvermögen steht) festgehalten48. Aber Rechtsanwälten waren Haftungsbeschränkungen prinzipiell auch bislang schon möglich49, und § 51 a BRAO 50 läßt unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmtem Umfang für den Rechtsanwalt auch als Angehörigen einer Sozietät eine vertragliche Begrenzung der Haftung zu. Auch mit Blick auf die Zulässigkeit der Berufsausübung von Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Architekten und Ingenieuren in der Rechtsform der GmbH51 kann die Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG jedenfalls dann kein prinzipieller Hinderungsgrund sein, wenn die GmbH-Satzung eine ausreichende Berufshaftpflichtversicherung für alle in der GmbH tätigen Rechtsanwälte verbindlich vorschreibt52. Das Risiko des Vermögensverfalls und des Konkurses der GmbH kann freilich auch durch eine Haftpflichtversicherung nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Die prinzipielle Zulässigkeit der Öffnung der GmbH für Rechtsanwälte schon de lege lata kann aber auch aus diesem Grunde, dem im übrigen bereits der Zahl der Fälle nach kein besonderes Gewicht beizumesen ist, nicht verneint werden. Auch der Einzelanwalt ist dem Insolvenzrisiko ausgesetzt, ebenso die in einer Sozietät zusammengeschlossenen Rechtsanwälte. Allerdings kann ein als Rechtsanwalt tätiger Gesellschafter im Falle des Gesellschaftskonkurses seine Anwaltstätigkeit fortsetzen. Soweit er das als Einzelanwalt tut, erscheint das aber mit Blick auf den Schutz der Vermögensinteressen seiner Mandanten deshalb nicht als ein durchschlagendes Bedenken, weil der Konkurs der GmbH sein Vermögen unberührt gelassen hat. Gründet er aber eine neue Rechtsanwalts-GmbH, kann einer daraus resultierenden Gefahr für die seine Dienste in Anspruch nehmenden Mandanten durch Statuierung geeigneter berufsrechtlicher Vorschriften entgegengewirkt werden 53 . 3. Schränkt danach die GmbH Wesen und Struktur des Berufsbildes des Rechtsanwalts, wie es der BRAO zugrunde liegt, nicht grundsätzlich ein, steht sie als Organisationsform für die gemeinsame Berufsausübung § 8 Abs. 1 PartGG. " BGH GRUR 1993, 834, 836 = NJW 1992, 3037, 3039 - Haftungsbeschränkung bei Anwälten. 50 I. d. F. des Gesetzes vom 2. 9. 1994, Fn. 13. 51 S. o. Ziff. 1.3. a. E. und Fn. 26, 27. 52 Kremer, GmbHR 1983, 259, 264; Ahlers, AnwBl 1991, 226, 229 f.; Henssler, JZ 1992, 697, 707 f.; ders., AnwBl 1993, 541, 545; ders., DB 1995, 1549, 1551; Stuber, WiB 1994, 705, 710; Dauner-Lieb, GmbHR 1995, 259, 262; Mayen, NJW 1995, 2317, 2322. 53 Vgl. Ahlers, AnwBl 1991, 226, 228; Henssler, JZ 1992, 697, 706; Mayen, NJW 1995, 2317,2322. 48

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von Rechtsanwälten auch schon de lege lata ebenso zur Verfügung, wie dies für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer gesetzlich ausdrücklich normiert ist. Soweit daher die G m b H in der Funktion einer Berufsorganisationsgesellschaft lediglich die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die Ausübung der Rechtsberatung und Prozeßvertretung durch Rechtsanwälte schafft, übt sie selber eine der Zulassung bedürfende Rechtsberatungstätigkeit nicht aus54. Betroffen wird durch ihr Tätigwerden grundsätzlich weder die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts noch sonst der Normzweck des Gesetzes, das das rechtsuchende Publikum zum Schutz vor unqualifizierter Beratung durch Personen bewahren will, die nicht zur Anwaltschaft zugelassen sind55. Zwar schließt - entsprechend den Regelungen, wie sie für Steuerberatungs-, Wirtschaftsprüfungs- und Partnerschaftsgesellschaften gelten - die GmbH, nicht der Rechtsanwalt, den Anwaltsvertrag mit dem Mandanten. Entscheidend ist aber auch hier nicht die Auftragsakquisition, sondern - die dem Normzweck der BRAO genügende - tatsächliche, unmittelbare Beratung durch den zugelassenen Rechtsanwalt. Daß die BRAO die Anwalts-GmbH nicht ausdrücklich für zulässig erklärt, bedeutet nicht, daß sie deshalb verboten ist. Da die BRAO ein Verbot nicht normiert56, kommt es auf eine besondere gesetzliche Legitimation der AnwaltsG m b H nicht an. Eine solche zu fordern, wäre mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 G G nicht zu vereinbaren57. IV. Rechtsanwalts-GmbH und Standesrecht Die berufsrechtlichen Regelungen der BRAO, denen somit ein positives Verbot der Rechtsanwalts-GmbH nicht entnommen werden kann, schließen freilich ein Verbot kraft Gewohnheitsrechts auf der Grundlage einer dauerhaften und gefestigten Rechtsüberzeugung der beteiligten Standesgenossen, mit der Einhaltung der ÜbuRg geltendem Recht zu genügen, nicht aus. Verfassungsrechtlich könnte allerdings ein solches Verbot keine Geltung beanspruchen, wenn sich die ihm zugrunde liegende Rechtsüberzeugung erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes eingestellt hätte, weil Einschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG nur kraft Gesetzes, d.h. allein aufgrund ge-

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BayObLGZ 1994, 353, 359 = NJW 1995, 199, 201 - Anwalts-GmbH. Zu der insoim wesentlichen gleichgelagerten Problematik der Ausübung von Heilkunde im Rahder GmbH s. BGH Fn. 20: (Zahn-) Ärzte-GmbH, und Fn. 21: Heilpraktiker-GmbH. Vgl. § 4 BRAO. S. o. Ziff. III. 1. und 2. 57 Vgl. BGHZ 124, 224, 225 = WRP 1994, 172, 173 = NJW 1994, 786, 787 - GmbHZahnbehandlungsangebot. weit men " "

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schriebenen Rechts, möglich sind 58 . Vorkonstitutionell gebildetes Gewohnheitsrecht könnte indessen das Verbot der Berufsausübung von Rechtsanwälten in der G m b H tragen 59 , wenn dieses durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wäre und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügte 60 . Eine Bildung vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts erscheint allerdings nicht zweifelsfrei. Nicht in Frage zu stellen ist zwar, daß die Rechtsanwaltsordnungen aus vorkonstitutioneller Zeit 61 auf der Annahme beruhten, daß Kapitalgesellschaften wie A G oder G m b H für die Berufsausübung von Rechtsanwälten nicht in Betracht kämen 62 . Lange Zeit wurde, wenn auch ohne nähere Begründung, wegen standesrechtlicher Bedenken und wegen der ohne weiteres vorausgesetzten Unvereinbarkeit berufsständischer Grundsätze mit der GmbH-Struktur die Anwalts-GmbH für unzulässig gehalten, weil durch sie die Unabhängigkeit der anwaltlichen Berufsausübung gefährdet und der Kommerzialisierung des Anwaltsberufs Vorschub geleistet werde und berufsethische Gesichtspunkte vernachlässigt würden 63 . Auch die Standesrichtlinien der Bundesrechtsanwaltskammer für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs, die Erfahrungssätze darüber enthalten, was nach der Auffassung angesehener und erfahrener Standesgenossn der Meinung aller anständig und gerecht denkenden Berufsausübenden und der Würde des Standes entspricht 64 , könnten als Beweisanzeichen auf die Bildung von Gewohnheitsrecht in diesem Punkt hindeuten 65 . Gleichwohl kann daraus nicht ohne weiteres hergeleitet werden, daß sich mit der für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderlichen Dauer eine Rechtsüberzeugung der Standesgenossen als der beteiligten Verkehrskreise von der Unzuläs58 B G H G R U R 1989, 827 = WRP 1990, 246, 247 = NJW-RR 1989, 1385, 1386 - Werbeverbot für Heilpraktiker, B G H Z 124, 224, 229 = WRP 1994, 172, 175 = NJW 1994, 786, 788 - GmbH-Zahnbehandlungsangebot. 59 Vgl. BVerfGE 22, 114, 121 = NJW 1967, 2051, 2052; BVerfGE 28, 21, 28 = NJW 1970, 851; BVerGE 34, 293, 303 = NJW 1973, 696, 697; BVerfGE 76, 171, 189 = NJW 1988, 191, 192 - Anwaltliches Standesrecht; BGHSt 27, 34, 36 = NJW 1977, 398 L; B G H Z 119, 225, 227 = G R U R 1993, 399, 401 = NJW 1993, 196, 197 f. - Überörtliche Anwaltssozietät; Odersky, AnwBl 1991, 238, 240. 60 Vgl. BVerGE 71, 162, 171 ff. = G R U R 1986, 382, 384 = NJW 1986, 1533, 1534 Arztwerbung; BVerfGE 71, 183, 198 ff. = G R U R 1986, 387, 390 = NJW 1986, 1536, 1537Sanatoriumswerbung; BVerfGE 76, 171, 187 f. = NJW 1988, 191, 193 - Anwaltliches Standesrecht. " R A O von 1878, RGBl. S. 177; von 1936, RGBl. I S. 107. 62 Henssler, J Z 1992, 697, 700. Vgl. auch E G H E 28, 174, 175 = JW 1934, 3134. 63 Fn. 24; B a y O b L G Z 1994, 353, 355 = NJW 1995,199 m. w. N. 64 BGHSt 18, 77, 78 = NJW 1963, 167 = AnwBl 1963, 51; Unnenberg/Hummel/Zuck/ Eich, aaO (Fn. 18), § 28 Rdn. 49, 50. 65 Vgl. Noack, Kommentar zur Reichs-Rechtsanwaltsordnung, 2. Aufl. 1937, S. 261; Henssler, J Z 1992, 697, 700.

Die G m b H als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung

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sigkeit der Anwalts-GmbH positiv gebildet hatte. Hätte für die Rechtsanwalts-GmbH unter den Anforderungen und Gegebenheiten der damaligen Zeit kein Bedürfnis bestanden, und wäre es aus diesem Grunde unterblieben, die Anwaltskanzlei in Form einer Kapitalgesellschaft zu organisieren, hätte sich schon deshalb nicht nur die gesetzliche Statuierung eines Verbots erübrigt, sondern auch eine dahingehende Uberzeugungsbildung der beteiligten Verkehrskreise als Grundlage eines Verbots gewohnheitsrechtlicher Art. Letztlich bedarf aber die Frage keiner Klärung. Vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht könnte das Verbot der Rechtsanwalts-GmbH nur tragen, wenn dieses auch heute noch der einheitlichen Rechtsüberzeugung der Berufsangehörigen entspräche. Das kann jedoch nicht mehr vorausgesetzt werden. Die Frage der Zulässigkeit der G m b H als Rechtsform anwaltlicher Berufsausübung ist seit Jahren Gegenstand kontroverser Diskussion 66 . Diese hat gezeigt, daß erhebliche Teile der Rechtsanwaltschaft die G m b H als eine weitere mögliche Alternative zu Sozietät, Partnerschaft und Europäischer wirtschaftlicher Interessenvereinigung bejahen67, und das Bayerische Oberste Landesgericht hat entschieden, daß der Zusammenschluß von Rechtsanwälten zur gemeinsamen Berufsausübung in einer G m b H grundsätzlich zulässig ist68. Eine allgemeine Rechtsüberzeugung der beteiligten Verkehrskreise von der Unzulässigkeit anwaltlicher Berufsausübung im Rahmen einer G m b H , die für ein Verbot auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage Voraussetzung wäre, wäre daher - sollte sich vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht gebildet haben - wieder entfallen69. V. Rechtsanwalts-GmbH und typisches Berufsbild An die Unzulässigkeit einer Rechtsanwalts-GmbH wäre allerdings auch dann zu denken, wenn die G m b H als Form anwaltlicher Berufsausübung zwar nicht unmittelbar - durch Gesetz oder (vorkonstitutionelles) Gewohnheitsrecht - untersagt wäre, aber das Verbot dieser Rechtsform mittelbar daraus folgte, daß der Anwaltsberuf der Form seiS. die Zitate Fn. 18. Nach Schardey, B R A K - M i t t . 1990, 76 sprachen sich auf der Hauptversammlung der B R A K am 18. 5. 1990 von 23 Kammern acht (bei zwei Enthaltungen) für die Bildung der A n w a l t s - G m b H aus, darunter die von Stuttgart, Hamburg, Berlin und Düsseldorf. Vgl. ferner die Begründung des DAV-Entwurfs zum Berufsrecht der Rechtsanwälte in AnwBl 4/90, Beilage S. 6 ff. 6 ! B a y O b L G a a O (Fn. 23). 69 Vgl. B G H Z 37, 219, 225 = G R U R 1962, 642, 644 = N J W 1962, 2054, 2056 - Drahtseilverbindung, B G H Z 44, 346, 349 = G R U R 1966, 251, 252 = N J W 1966, 833, 834 - Batterie. 66

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ner Ausübung nach auf bestimmte typische Erscheinungsformen beschränkt wäre, denen die GmbH nicht zugerechnet werden könnte. Dem rechtsuchenden Publikum begegnet das anwaltliche Leistungsangebot im wesentlichen als Angebot von Einzelanwälten und Anwaltssozietäten. Diese beiden Formen der Leistungserbringung sind für die anwaltliche Berufsausübung fraglos typisch70 und Gestaltungen von eigenem sozialen und charakteristischen Gewicht und Gepräge und als solche im Bewußtsein der Allgemeinheit verankert. In beiden Tätigkeitsformen hat der Rechtsanwalt die für die Berufsausübung geforderte und erwartete fachliche Kompetenz durch den rechtsförmlichen Abschluß der vorgeschriebenen Ausbildungsgänge und durch die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nachgewiesen (§ 4 BRAO). Er ist - als Einzelanwalt ebenso wie als Mitglied der Sozietät - unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten in Ausübung eines freien, nicht gewerblichen Berufs (§§ 1, 2, 3 BRAO). Die Beziehungen zu seinen Mandanten sind von einem unmittelbaren, besonderen Vertrauensverhältnis geprägt. Sein Beruf ist daher - sei es als Einzelanwalt, sei es in der Sozietät - ein im Bewußtsein der Bevölkerung ruhender, durch Rechtstradition geprägter typischer Beruf. Freilich schließt dies weitere anwaltliche Berufsbilder, die neben Einzelanwalt und Sozietät (und neuerdings auch neben den Partner der Partnerschaftsgesellschaft) treten, nicht aus. Für eine Beschränkung der Rechtsform anwaltlicher Leistungserbringung auf Einzelanwalt und Sozieät fehlt es an einer - nach Art. 12 Abs. 1 G G erforderlichen - gesetzlichen oder vorkonstitutionell gewohnheitsrechtlichen Festlegung ausschließlich auf jene Berufsbilder. Diesen eignet keine normative Qualität. Seit langem existiert vielmehr neben dem Einzelanwalt (einschließlich des in Bürogemeinschaft tätigen Anwalts) und der Sozietät eine weitere Kooperation von Anwälten, die sich, wie es § 28 RiliRA formuliert, in anderer Weise zu gemeinschaftlicher Berufsausübung verbunden haben, so insbesondere die Zusammenarbeit im Rahmen von Anstellungsverhältnissen. Die Erscheinungsformen anwaltlicher Berufsausübung sind aber auch damit keineswegs erschöpft. Hinzu kommen der arbeitnehmerähnliche Rechtsanwalt71, der Syndikusanwalt72, Rechtsanwälte, die als Konkursverwalter, Beiräte, Treuhänder, Vormünder oder Testamentsvollstrecker tätig sind73. Auch haben sich Rechtsanwälte neben der Zusammenarbeit in Sozietäten in überkommener Form in 70 Vgl. zur Frage des typischen/untypischen Berufsbildes BVerfGE 17, 232, 241 f. = N J W 1964, 1067, 1069; BVerfGE 54, 301, 325 = N J W 1981, 33, 36. 71 Vgl. BAG A P Nr. 12 zu § 5 ArbGG 1979 m. Anm. Henssler. 72 § 4 6 BRAO. 73 Vgl. BayObLGZ 1994, 353, 357, 360 = N J W 1995, 199, 200 f. - Anwalts-GmbH; Micbalski/Römermann, aaO (Fn. 37), § 1 Rdn. 55.

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intraurbanen 74 , überörtlichen 75 und internationalen Sozietäten und in Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigungen 76 oder in anderen grenzüberschreitenden Kooperationen 77 zusammengeschlossen, zu denen am 1. 7. 1995 mit dem Inkrafttreten des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes die Partnerschaft hinzugetreten ist78. Wird aber die berufliche Tätigkeit des Rechtsanwalts von einem gleichberechtigten Nebeneinander einer ganzen Reihe verschiedener Betätigungsformen gekennzeichnet, kann von einer rechtlichen Fixierung des anwaltlichen Berufsbildes ausschließlich auf die überkommenen Formen anwaltlicher Berufsausübung (Einzelanwalt, Sozietät) keine Rede sein79. VI. Rechtsanwalts-GmbH und Rechtsberatungsgesetz Der Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH wird des weiteren das Bedenken entgegenhalten, daß - abgesehen von den in den §§ 2, 3, 5 bis 7 RBerG genannten Tätigkeiten - die geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten ohne Erlaubnis verboten sei80, eine Erlaubnis im übrigen auch nur für bestimmte Sachgebiete erteilt werde 81 , was für ein Unternehmen, das wie die Anwalts-GmbH Rechtsberatung unbeschränkt ausüben wolle, ohnehin von vornherein ausscheide82. 1. Dieses Bedenken wird der gebotenen teleologischen Interpretation des Gesetzes nicht gerecht. Der Erlaubniszwang des Rechtsberatungsgesetzes steht der Berufsausübung von Rechtsanwälten in einer GmbH nicht grundsätzlich entgegen. Richtig ist zwar, daß die GmbH die Anwaltsverträge mit den Mandanten schließt und deren Vertragspartner wird. Richtig ist auch, daß es die GmbH ist, die durch Rechtsanwälte BGH GRUR 1994, 736 = WRP 1994, 613 = NJW 1994, 2288 - Intraurbane Sozietät. BGHZ 119, 225 = GRUR 1993, 399 = NJW 1993, 196 - Überörtliche Sozietät. 76 S. Fn. 10. 77 BGH GRUR 1993, 675 = WRP 1993, 703 = NJW 1993, 1331 - Kooperationspartner. 7» PartGG, Fn. 7. 79 BayObLGZ 1994, 353, 357, 359 f. = NJW 1995, 199, 200 f. - Anwalts-GmbH; s. a. BGHZ 124, 224, 229 = WRP 1994, 172, 175 = NJW 1994, 786, 788 - GmbH-Zahnbehandlungsangebot. Vgl. auch die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte, BT-Drucks. 12/4993, S. 22 f.; Ahlers, AnwBl 1991, 226, 229; Henssler, ZIP 1994, 844, 848; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115; Dauner-Lieh, GmbHR 1995, 259, 262. 80 Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 1 RBerG. 81 Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 2 RBerG. Die Tätigkeit eines Voll-Rechtsbeistandes ist seit dem Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 18. 8. 1980 (BGBl. I S. 1503) nicht mehr zulassungsfähig. 82 Weigel, BRAK-Mitt. 1992, 983, 984; Donath, ZHR 156 (1992), 134, 136 ff.; Taupitz, JZ 1994, 1100, 1104 ff.; ders., NJW 1995, 369, 370 f.; Zuck, ZRP 1995, 68, 69; Braun, MDR 1995, 447; Stucken, WiB 1994, 744; Feuerich/Braun, aaO (Fn. 17), § 59 a Rdn. 16. 74

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ihre anwaltlichen Geschäftsführer, Gesellschafter und angestellten Rechtsanwälte - den Anwaltsvertrag erfüllt 83 . Jedoch ist sie dem Erlaubniszwang des Rechtsberatungsgesetzes deshalb nicht grundsätzlich und generell unterworfen 84 . Die GmbH bildet lediglich die Rechtsform, in der sich Rechtsanwälte zu gemeinsamer beruflicher Tätigkeit verbunden haben. Wird im Gesellschaftsvertrag - was keinen rechtlichen Bedenken begegnet - festgelegt, daß allein Rechtsanwälte und Angehörige der anderen in § 59 a BRAO genannten Berufe Gesellschafter sein dürfen und daß in jedem Falle die anwaltlichen Gesellschafter über die Kapital- und Stimmenmehrheit verfügen und die Mehrheit der Geschäftsführer stellen müssen, und ist ferner der Unternehmensgegenstand auf den Abschluß der Anwaltsverträge allein durch anwaltliche Geschäftsführer und auf die sonstige Förderung der gemeinschaftlichen Berufsausübung mit der Maßgabe beschränkt, daß Rechtsberatung im Sinne eines konkreten persönlichen Tätigwerdens gegenüber den Mandanten ausschließlich den anwaltlichen Geschäftsführern und Gesellschaftern sowie der angestellten Rechtsanwälten obliegt, ohne daß insoweit Weisungsbefugnisse oder Widerspruchsrechte bestehen, die die anwaltliche Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit im Sinne der BRAO einschränken85, ist sowohl für den Abschluß des Anwaltsvertrages durch Rechtsanwälte als auch für die Rechtsberatung selbst ausschließlich durch Rechtsanwälte Sorge getragen und einer Tätigkeit fachlich nicht qualifizierter Personen vorgebeugt. 2. Wird eine Rechtsanwalts-GmbH ausschließlich in dieser Weise tätig, überläßt sie die Ausübung der Rechtsberatung in vollem Umfang Rechtsanwälten. Folge ist, daß das Rechtsberatungsgesetz und seine Ausführungsverordnungen auf die Rechtsanwalts-GmbH keine Anwendung findet. Rechtsanwälte sind hinsichtlich ihrer Berufstätigkeit aus dem Anwendungsbereich des Rechtsberatungsgesetzes herausgenommen. Dies gilt schlechthin und unabhängig von der Rechtsform, in der sie sich betätigen. Sinn und Zweck des Gesetzes ist es, den Rechtsuchenden vor Gefahren zu schützen, wie sie bei einer Erledigung von Rechtsangelegenheiten durch fachlich ungeeignete und unzuverlässige Personen erfahrungsgemäß bestehen86. Darüber hinaus wird zu den GesetzesS. o. Ziff. III. 2. c), 3. S. o. Ziff. III. 2. c). 85 Vgl. Ziff. III. 2. a), 3. 86 S. die Begründung zum RBerG, RStBl. 1935, 1528; BVerfG NJW 1976, 1349; BGHZ 15, 315, 317 = NJW 1954, 422, 423; BGH NJW 1974, 50 (in BGHZ 61, 317 insoweit nicht abgedruckt); Jonas DJ 1935, 1817; Schorn, Die Rechtsberatung, 2. Aufl. 1967, S. 49; Altenhoff/Busch/Chemnitz, Rechtsberatungsgesetz, 10. Aufl. 1993, §1 Rdn. 18, 214; Rennen/ Caliebe, Rechtsberatungsgesetz, 2. Aufl. 1992, Art. 1 § 1 Rdn. 9; Taupitz, JZ 1994, 1100, 1104; Henssler, DB 1995, 1549. 8J

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zwecken auch der Schutz des Anwaltsstandes vor dem Wettbewerb solcher Personen gezählt, die den berufs- und gebührenrechtlichen Schranken, die Rechtsanwälten gezogen sind, nicht unterliegen87. Mit diesen Zielsetzungen hat die Rechtsform, in der Rechtsanwälte ihren Beruf ausüben, nichts zu tun. Sie kollidieren mit der Tätigkeit einer Rechtsanwalts-GmbH - bei Beachtung bestimmter, gesellschaftsvertraglich zu treffender Festlegungen - grundsätzlich ebensowenig wie mit der einer Anwalts-Sozietät, Partnerschaftsgesellschaft oder Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung. Sie stehen daher der Tätigkeit der Rechtsanwalts-GmbH nicht entgegen, solange die Rechtsberatung insgesamt und unmittelbar von Rechtsanwälten ausgeübt wird88. 3. Der Entgegenhaltung von Taupitz89, die im Kern darauf fußt, daß es bei der Rechtsanwalts-GmbH nicht auf die konkrete, tatsächliche Beratungstätigkeit durch Rechtsanwälte, sondern auf die rechtliche Verpflichtung der GmbH dazu nach außen ankomme, so daß auch eine Rechtsanwalts-GmbH der Erlaubnis bedürfe, kann nicht beigetreten werden. Dieses Gesetzesverständnis berücksichtigt nicht hinreichend, daß die GmbH nur die Organisationsform ist, in der sich Rechtsanwälte zur gemeinsamen Berufsausübung zusammengeschlossen haben, und daß es dem Normzweck entspricht, die Rechtsanwalts-GmbH dem Anwendungsbereich des Rechtsberatungsgesetzes nicht grundsätzlich unterfallen zu lassen. Im Einzelfall kann es zwar anders liegen, so wenn die GmbH-Satzung nicht dafür vorsorgt, daß die konkrete Rechtsberatung von unabhängigen und weisungsfreien Rechtsanwälten ausgeübt wird. Auch sind Personen, die weder Rechtsanwälte noch zur Rechtsberatung zugelassen sind und - im Gegensatz zur Rechtsanwalts-GmbH, die auch insoweit durch Rechtsanwälte handelt - Anwaltsaufträge entgegennehmen, von den Vorschriften des Rechtsberatungsgesetzes nicht freigestellt90. Auf die Rechtsanwalts-GmbH kann aber deshalb der Erlaubniszwang des Gesetzes nicht generell ausgedehnt werden. 87 So die Begründung zum RBerG, aaO (Fn. 86); BGHZ 15, 315, 317 = NJW 1954, 422, 423; BGH NJW 1967, 1558, 1559 f. (in BGHZ 48, 12 insoweit nicht abgedruckt); NJW 1974, 50 (Fn. 86); vgl. auch BGHZ 125, 1, 6 = GRUR 1994, 383, 384 f. = NJW 1994, 1658, 1659 - Genossenschaftsprivileg; BayObLGZ 1994, 353, 359 = NJW 1995, 199, 201 - Anwalts-GmbH; Schorn, aaO (Fn. 86), S. 50; AltenhofjlBusch/Chemnitz, aaO (Fn. 86), § 1 Rdn. 19, 216; Rennen/Caliehe, aaO (Fn. 86); Henssler, JZ 1992, 697, 703; ders., DB 1995, 1549; Taupitz, JZ 1994,1100,1108; den., NJW 1995, 369,370. 88 Henssler, JZ 1992, 697, 703; ders., NJW 1993, 2137, 2140; ders., ZIP 1994, 844, 848 f.; ders., DB 1995, 1549, 1550; Koch, AnwBl 1993, 157, 158; Ahlers, AnwBl 1995, 121, 124; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115; Dauner-Lieh, GmbHR 1995, 259, 261. " JZ 1994, 1100,1105; NJW 1995, 369, 370 f. 90 BGHZ 98, 330, 335 = GRUR 1987, 172, 175 f. = NJW 1987, 1323, 1326 - Unternehmensberatungsgesellschaft I; BGH GRUR 1987, 714, 715 = WRP 1987, 726, 727 = NJW 1987, 3003, 3004 - Schuldenregulierung.

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Für die Sozietät als Gesellschaft bürgerlichen Rechts galt im übrigen auch nie etwas anderes, obwohl die G b R hinsichtlich der nach dem Rechtsberatungsgesetz erforderlichen Erlaubnis juristischen Personen immer gleichgestellt war91 und die rechtliche Verschiedenheit von GbR und GmbH deshalb keine unterschiedliche Beurteilung nach dem Rechtsberatungsgesetz zuläßt92.

VII. Zur Ausgestaltung der Rechtsanwalts-GmbH de lege lata Kann danach die gemeinschaftliche Berufsausübung durch Rechtsanwälte im Rahmen einer Rechtsanwalts-GmbH von Rechts wegen nicht als positiv untersagt angesehen werden, ist deren prinzipielle Zulässigkeit nicht zu bezweifeln. Eine andere Auffassung würde die verfassungsrechtlichen Vorgaben verkennen, die sich aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 G G ) ergeben93. Die Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH hängt nicht davon ab, ob es gesetzliche Bestimmungen gibt, die deren Tätigkeit ausdrücklich oder konkludent gestatten. Vielmehr ist umgekehrt entscheidend, ob es - wie hier nicht - rechtliche Regelungen gibt, die eine solche Berufsausübung verbieten94. Jedoch bedarf es - solange der Gesetzgeber die Anforderungen an die Gestaltungsform der Rechtsanwalts-GmbH nicht normiert hat - im Interesse einer geordneten Rechtspflege der Beachtung bestimmter Voraussetzungen, die sicherstellen, daß „der Anwalt nicht voll ins Gewerbe entlassen wird" 95 und daß die gemeinschaftliche Berufsausübung im Rahmen einer GmbH als einer mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten juristischen Person nicht zur Vernachlässigung berufsrechtlicher Vorschriften und Pflichten der ihr angehörenden Rechtsanwälte führt96. Der Gesellschaftsvertrag der Rechtsanwalts-GmbH muß daher so gestaltet sein, daß Wesensmerkmale und Berufsbild des eigenverantwortlichen, unabhängigen und weisungsfreien Rechtsanwalts gewahrt bleiben97. " Vgl. §§ 3 und 10 der 1. AVO zum RBerG; Altenhoff/Busch/Chemnitz, aaO (Fn. 86), Rdn. 927 zu § 3 der 1. AVO; Rennen/Caliehe, aaO (Fn. 86), 1. A V O § 3 Rdn. 1. 92 A. A. Taupitz, JZ 1994,1100,1106. 93 S. o. Ziff. III. 3. 94 B G H Z 124, 224, 225 = W R P 1994, 172,173 = N J W 1994, 786, 787 - GmbH-Zahnbehandlungsangebot; BayObLGZ 1994, 353, 356 = N J W 1995, 199, 200 - Anwalts-GmbH; O L G Düsseldorf G R U R 1992, 178, 179 = AnwBl 1992, 133 - Zahnheilkunde-GmbH; Henssler, N J W 1993, 2137, 2140; Scholz/Emmerich, aaO (Fn. 23), § 1 Rdn. 13. 95 Zuck, AnwBl 1988, 19, 22. 96 BayObLGZ 1994, 353, 361 = N J W 1995, 199, 201 - Anwalts-GmbH. Kritisch zur richterlichen Rechtsgestaltung insoweit Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115, 116. 97 Ahlers in FS Rowedder 1994, 1, 15 ff.; den., AnwBl 1995, 3 ff.; Henssler, DB 1995, 1549, 1550; s.a. Gail/Overlack, aaO (Fn. 16), S. 10 ff. und die Mustersatzungen bei Senninger, ZAP 1995, Fach 23, S. 195 ff.; Ahlers, AnwBl 1995, 3, 6 ff.; Knoll, WiB 1995, 130 ff., vgl. auch Schlosser, JZ 1995, 345, 346 ff.

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Der Gegenstand des Unternehmens kann sich daher ausschließlich auf den Tätigkeitsbereich von Rechtsanwälten beziehen, d.h. auf Anwaltsaufträge, bei deren Übernahme und Ausführung die anwaltlichen Geschäftsführer und Gesellschafter sowie die sonstigen im Dienste der Gesellschaft stehenden Rechtsanwälte - bei satzungsgemäßem Ausschluß des Weisungsrechts der Gesellschafter aus § 37 GmbHG - keinen Beschränkungen unterworfen sind98. Daß die Satzung die Übernahme und Ausführung von Mandaten durch bestimmte Rechtsanwälte im Hinblick auf deren Fachkenntnisse und Erfahrung vorsieht, steht dazu nicht in Widerspruch. Vorsorge zu treffen ist für die Beachtung der berufsrechtlichen Ge- und Verbote, so des Lokalisierungsgebots des § 18 B R A O , der Residenzpflicht des § 27 und des Zweigstellenverbots des § 28 B R A O . Mitgliedschaften in anderen Rechtsanwaltsgesellschaften oder Sozietäten sind ausgeschlossen". Gesellschafter können nur Rechtsanwälte und Angehörige solcher anderen Berufe sein, die sich mit Rechtsanwälten zu gemeinschaftlicher Berufsausübung im Rahmen der eigenen beruflichen Befugnisse verbinden dürfen, Anwaltsnotare nur hinsichtlich ihrer anwaltlichen Berufsausübung100. Das Postulat anwaltlicher Unabhängigkeit verlangt, daß ausschließlich diesem Personenkreis der Erwerb von Geschäftsanteilen der GmbH möglich ist und der Einfluß berufsfremder Kapitaleigner ausgeschlossen wird. Dementsprechend sind Abtretung und Vererbung von Gesellschaftsanteilen zu regeln. Die Kapital- und Stimmenmehrheit muß in der Hand von Rechtsanwälten liegen, die ihren Beruf in der Gesellschaft aktiv ausüben101. Struktur- und Wesensmerkmale des anwaltlichen Berufsbildes102 erfordern es ferner, daß zu Geschäftsführern und Prokuristen der Rechtsanwalts-GmbH nur solche Personen bestellt werden, die Gesellschafter sein können, und daß die Mehrheit der Geschäftsführer bei den anwaltlichen Mitgliedern der Gesellschaft liegt103. Nach § 13 Abs. 2 GmbHG haftet den Gläubigern für Verbindlichkeiten der Gesellschaft allein das Gesellschaftsvermögen. Auch für die Anwalts-GmbH ist das prinzipiell hinnehmbar, wenn der Gesellschaftsver" S. o. Ziff. III. 2 a), 3; Ziff. IV. 2. " Vgl. Ahlers in FS Rowedder, 1994, 1, 16; den., AnwBl 1995, 3 f. m Vgl. § 59 a BRAO, ferner § 50 a Abs. 1 Nr. 1 StBerG; § 28 Abs. 4 Nr. 1 WPO. "" BayObLGZ 1994, 353, 361 = NJW 1995, 199, 201 - Anwalts-GmbH. S. a. § 50 a Abs. 1 Nr. 5 StBerG, § 28 Abs. 1 Nr. 5 WPO; Koch, AnwBl 1993, 157, 160; Ahlers in FS Rowedder, 1994, S. 1, 16 f.; ders., AnwBl 1995, 3 , 4 ; Henssler, ZIP 1994, 844, 849; ders., DB 1995,1549,1550; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115, 116. 102 S. o. Ziff. III. 2. 103 Vgl. § 50 Abs. 1 StBerG, § 28 Abs. 1 WPO; BayObLG aaO (Fn. 101); Ahlers in FS Rowedder, 1994, S. 1, 3, 17; ders., AnwBl 1995, 3, 5; Henssler, ZIP 1994, 844, 845; ders., DB 1995,1549, 1550; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995,115,116.

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trag eine ausreichende Berufshaftpflichtversicherung für die in der Gesellschaft rechtsberatend Tätigen verbindlich vorschreibt104. Im Hinblick auf die Regelung der Begrenzung der Haftung des Einzelanwalts nach §51 Abs. 4 BRAO erscheint es gerechtfertigt, eine Versicherungssumme für jeden Versicherungsfall mit mindestens zwei Mio. DM zugrunde zu legen, um den Auftraggeber nicht schlechter zu stellen, als er im Verhältnis zum Einzelanwalt stünde105.

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S. o. Ziff. III. 2. d).

Henssler, NJW 1993, 2137, 2141; ders., ZIP 1994, 844, 849; den., ZIP 1994, 1871, 1872; den., DB 1995,1549, 1550; Hommelhoff/M. Schwab, WiB 1995, 115,116. ,05

Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof H E R B E R T SCHIMANSKY

I. Das Verfahren für die Zulassung als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof ist in §§ 164 ff. B R A O geregelt. Voraussetzung für die Zulassung ist die Vollendung des fünfunddreißigsten Lebensjahres und eine mindestens fünfjährige ununterbrochene Anwaltstätigkeit (§ 166 Abs. 3 B R A O ) sowie die Benennung durch den Wahlausschuß für Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof (§ 164 B R A O ) . Dieser Wahlausschuß besteht aus dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes als Vorsitzenden, den Vorsitzenden der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes (z. Zt. 12), den fünf Mitgliedern des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer (§ 174 B R A O ) sowie den fünf Mitgliedern des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof, verfügt derzeit also über 23 Mitglieder. Das zahlenmäßige Ubergewicht der Richterschaft ist nicht beabsichtigt, sondern hat sich im Laufe der Zeit durch die Bildung neuer Zivilsenate beim Bundesgerichtshof von selbst ergeben; bei Inkrafttreten der B R A O im Jahre 1959 bestanden beim Bundesgerichtshof nur acht Zivilsenate, die Anwaltschaft verfügte also über die Mehrheit von einer Stimme. O b das ein wesentlicher gesetzgeberischer Gesichtspunkt war, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls spielen nach meinen über zehn Jahre langen Erfahrungen Interessengegensätze zwischen Richtern und Anwälten im Wahlausschuß keine Rolle 1 , deshalb ist die Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse bisher von den Beteiligten auch nie beanstandet worden. Eine Wiederherstellung des früheren Zustandes durch gesetzliche Begrenzung der Zahl der Richter stieße - falls man die gegenwärtige Situation als Mißstand ansehen wollte - beim Bundesgerichtshof auf keine Bedenken. Der Wahlausschuß wird nach § 165 Abs. 2 Satz 2 B R A O vom Präsidenten des Bundesgerichtshofes einberufen. Dies geschieht in der Praxis etwa alle drei Jahre, was größere Abstände - wie etwa wegen der organisatorischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Wiedervereini-

1 Dazu, daß das auch in der Vergangenheit nicht anders war, vgl. Schneider, Die Anwaltschaft beim Reichsgericht und beim Bundesgerichtshof in: Ehrengabe für Bruno Heusinger S. 106; Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871-1971, S. 352.

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gung - nicht ausschließt. Anlaß ist jeweils der Bedarf an neuen Anwälten beim Bundesgerichtshof, der sich aus der Verminderung der Zahl der aktiven Anwälte oder aus einem gestiegenen Geschäftsanfall ergeben kann. Einer allzu häufigen Einberufung steht schon die Tatsache entgegen, daß der Einladung ein Verfahren vorausgeht, das umständlicher kaum gestaltet werden konnte. Grundlage der Wahl sind Vorschlagslisten, die von der Bundesrechtsanwaltskammer sowie der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof auf eine entsprechende Anregung des Präsidenten des Bundesgerichtshofes eingereicht werden (§ 166 Abs. 2 BRAO), wobei die Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof von eigenen Vorschlägen im allgemeinen absieht. Die Bundesrechtsanwaltskammer fordert ihrerseits die örtlichen Rechtsanwaltskammern auf, Vorschlagslisten einzureichen; die Rechtsanwaltskammern wiederum weisen in ihren Verbandsblättern ihre Mitglieder auf die Möglichkeit der Bewerbung hin. Bewerben kann sich jeder, der das erforderliche Mindestlebensalter und eine fünfjährige Berufspraxis hat. Die Anwaltskammern und die Bundesrechtsanwaltskammer treffen in aller Regel2 keine Vorauswahl, sondern beschränken sich auf die Prüfung der formellen Voraussetzungen. Wenn die Vorschlagslisten dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes vorliegen, müssen für jeden Vorgeschlagenen zwei Wahlausschußmitglieder zu Berichterstattern bestellt werden. Diese Aufgabe obliegt nicht etwa dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes; auch darüber entscheidet der gesamte Ausschuß. Praktisch läuft das Verfahren so ab, daß der Präsident in einer umfangreichen Liste jedem Vorgeschlagenen je einen Zivilsenatsvorsitzenden und eines der anwaltlichen Ausschußmitglieder als Berichterstatter zuordnet, diese Liste an alle Ausschußmitglieder versendet, die - offenbar unvermeidlichen - Änderungswünsche einarbeitet und dann die endgültige Liste billigen läßt. Zugleich werden Stellungnahmen der für die einzelnen Bewerber zuständigen Präsidenten der Oberlandesgerichte zur fachlichen und persönlichen Eignung eingeholt, die bei nicht oder nicht ausschließlich bei einem Oberlandesgericht zugelassenen Bewerbern eine Anfrage bei dem zuständigen Landgerichtspräsidenten voraussetzen. Die Berichterstatter erhalten sodann - selbstverständlich nacheinander - die Personalakten, mindestens der Erstberichterstatter lädt den Bewerber zu einem ausführlichen Gespräch ein, beide Berichterstatter erstatten schließlich - jeder für sich, teilweise sogar unter ausdrücklichem Verzicht auf eine Kenntnisnahme von der Stellungnahme des Mitberichterstatters - ein mehrere Schreibmaschinenseiten umfassendes Votum

2

Eine Ausnahme betrifft B G H BRAK-Mitt. 1983, 135.

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über die Eignung des Vorgeschlagenen, das - wie alle sonstigen schriftlichen Unterlagen - dem Akteneinsichtsrecht des Vorgeschlagenen unterliegt (§ 167 a BRAO). Erst wenn alle Voten vorliegen und sämtlichen Mitgliedern des Ausschusses übersandt worden sind, kann die eigentliche Wahlsitzung stattfinden. Zwischen der Bitte des Präsidenten des Bundesgerichtshofes um Wahlvorschläge und dem Wahlgang liegen deshalb mindestens 18 Monate. Nach § 168 Abs. 2 B R A O benennt der Wahlausschuß aus den Vorschlagslisten die doppelte Zahl von Rechtsanwälten, die er für die Zulassung bei dem Bundesgerichtshof für angemessen hält. Er hat also zunächst Einigkeit darüber zu erzielen, wieviele Rechtsanwälte benötigt werden. In der Praxis wird dies nach einer eingehenden Aussprache, die naturgemäß auch die Anzahl der ernsthaft in Betracht kommenden Bewerber nicht aus dem Blick verliert, durch eine geheime Abstimmung in der Weise ermittelt, daß jedes Ausschußmitglied die von ihm für erforderlich gehaltene Zahl auf einem Stimmzettel niederlegt und die höchste Zahl dann jeweils den nächst niedrigeren hinzugerechnet wird, bis eine Mehrheit von Stimmen erreicht ist. Sodann wird nacheinander für jeden einzelnen Listenplatz gewählt, wobei jeweils mehrere Wahlgänge notwendig werden können, bis einer der Vorgeschlagenen die Mehrheit der Stimmen für diesen Platz auf sich vereinigt. Will man die Anzahl der Wahlgänge auf ein vertretbares Maß begrenzen, setzt das für jeden einzelnen Listenplatz eine Aussprache über die hierfür in die engere Wahl zu ziehenden Bewerber voraus. Es versteht sich fast von selbst, daß man eine so zeitraubende Veranstaltung nur an einem Samstag stattfinden lassen kann. Das Wahlergebnis wird dem Bundesminsiter der Justiz mitgeteilt (§ 169 BRAO); es ist in entsprechender Anwendung des § 223 B R A O gerichtlich nachprüfbar.3 Der Vorsitzende des Wahlausschusses übermittelt - obwohl das nicht vorgeschrieben ist - zusammen mit dem Wahlergebnis auch die vom Ausschuß durch die Vergabe von Listenplätzen zum Ausdruck gebrachte qualitative Rangfolge unter den Gewählten, ohne damit das über die Zulassung entscheidende Ministerium zu binden. In der Praxis hält sich das Ministerium an diese Reihenfolge, da ihm bessere Erkenntnisquellen als dem Wahlausschuß nicht zur Verfügung stehen. Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof ist ausschließlich, d. h. eine Simultanzulassung bei einem anderen Gericht ist unzulässig (§ 171 BRAO). Der beim Bundesgerichtshof zugelassene 3 B G H , Beschlüsse vom 14. 5. 1975 - AnwZ(B) 7/75 - S. 5 und vom 10. 5. 1978 AnwZ(B) 11/78 - S. 31; BVerfG (Dreier-)Beschluß vom 24. 3. 1982 - 1 BvR 278/75, 1 BvR 9 1 3 , 1 BvR 8 9 7 / 8 0 - S . 6.

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Rechtsanwalt darf nach § 172 B R A O nur bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und beim Bundesverfassungsgericht auftreten - bis zur Entscheidung über die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Revision auch beim Bayerischen Obersten Landesgericht (§ 8 Abs. 1 EGZPO). II. Die Festlegung der Zahl der Anwälte beim Bundesgerichtshof und ihre Auswahl durch ein Gremium, dessen überlegener Sachverstand und dessen Ausgewogenheit sich nicht bestreiten läßt, ist in jüngster Zeit Gegenstand mehr oder weniger heftiger Kritik gewesen. 4 Das ist nicht neu. Die Institution einer eigenen, zahlenmäßig begrenzten Anwaltschaft beim obersten Gerichtshof für Zivilsachen wurde bereits zur Zeit der Geltung der alten Rechtsanwaltsordnung von 1878 wiederholt angegriffen. 5 Neu an der nach fast 45jährigem Bestehen des Bundesgerichtshofes wieder aufgeflammten Diskussion ist lediglich die Benutzung des Grundgesetzes als Instrument zur Verfechtung höchst egoistischer Interessen. Man könnte dies als Ausdruck des Zeitgeistes abtun und zur Tagesordnung übergehen, hätten die Angriffe von Härtung nicht bei Mitgliedern des Bundestagsrechtsausschusses ein erschreckend emotionales Echo gefunden. Kein Geringerer als der Vorsitzende dieses Ausschusses hat im Bundestag die Auffassung vertreten, die geltende Regelung diene nicht in erster Linie den Interessen des rechtsuchenden Publikums, sondern der Wahrung von Besitzständen dieser besonderen Anwaltschaft, der sozialen Errungenschaft der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte. 6 Von der Mitberichterstatterin des Ausschusses wurde die Bundesregierung zu einer Untersuchung über notwendige Maßnahmen aufgefordert, „um Monopole, denen immer wieder der Verdacht der Verfassungswidrigkeit anhaftet und die sich immer mehr durch Sitte, Brauch, Gewohn-

4 Härtung, Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft bei dem Bundesgerichtshof, JZ 1994, 117 ff. und 403; ihm folgend Kleine-Cosack, Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts, NJW 1994, 2249, 2257 unter IX. 1; dagegen Krämer, Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, JZ 1994, 400 ff., Nirk, Berechtigung und Bewährung einer besonderen Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof, in: Festgabe für Hans-Jürgen Rabe (1995), S. 113 ff. sowie Tilmann, Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, BRAK-Mitt. 1994,118 ff. 5 Vgl. die Nachweise bei Krämer, aaO (Fn. 4), Fn. 2, bei Härtung, JZ 1994, 118 und bei Birnkraut, Freiheit der Advokatur auch durch freie Zulassung beim BGH?, BRAK-Mitt. 1994, 194 f.; ferner Axhausen, Die Rechtsanwaltscahft beim Reichsgericht, in: 50 Jahre Reichsgericht S. 206, 213 f. ' BT-Protokoll 230/94 vom 26. Mai 1994, S. 20009.

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heit und Tradition einnisten, zu vermeiden". 7 An die Anwälte beim Bundesgerichtshof richtete sie die Mahnung, das Erhaltenbleiben der gegenwärtigen Regelung „im Sinne einer Gnadenfrist oder Galgenfrist wie man will - " zu verstehen. 8 Der sich in diesen Äußerungen zeigende irrationale Eifer, vermeintliche Mißstände ohne Rücksicht auf die Folgen zu bekämpfen, stellt eine ernste Gefahr für die Arbeitsfähigkeit des Bundesgerichtshofes dar. Unabhängig davon, ob es tatsächlich zu übereilten gesetzgeberischen Maßnahmen kommt, beseitigt er das Vertrauen in den Bestand der geltenden Regelung und verunsichert jeden an einer Zulassung beim Bundesgerichtshof interessierten Rechtsanwalt. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird neuerdings teilweise unter Hinweis auf das Protokoll über die genannte Bundestagssitzung lapidar von der „verfassungsrechtlich wie rechtspolitisch unhaltbaren Beschränkung des Zugangs zum B G H " gesprochen 9 - ein aufschlußreicher Bedeutungswandel des Begriffs „Zugang zum B G H " . Den so für vogelfrei erklärten Mitgliedern der angeprangerten kleinen Gruppe von Anwälten bleibt kaum eine Möglichkeit, sich selbst glaubwürdig zur Wehr zu setzen. Gegen den unverhohlenen Appell an den Neid ist wenig auszurichten. 10 Vielleicht nützt es ein wenig, wenn Sinn und Zweck der geltenden Regelung von einem Mitglied des Gerichts in Erinnerung gerufen werden, zu dessen Nutzen die als alter Zopf abgetane Einrichtung einer eigenen Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof geschaffen worden ist. 1. Wesentliche Teile der heutigen Gesetzeslage gehen auf die aus Anlaß der Gründung des Reichsgerichts nach langem Hin und H e r " schließlich gefundene Regelung zurück: Die für das Reichsoberhandelsgericht geltende allgemeine Postulationsfähigkeit aller in den Bundesstaaten zugelassenen Anwälte hatte sich nicht bewährt. Das Reichsoberhandelsgericht selbst hatte sich - in einem fortgeschrittenen Stadium der Gesetzgebungsarbeiten zur neuen Rechtsanwaltsordnung um ein Gutachten gebeten - „mit Entschiedenheit" gegen eine Beibehaltung ausgesprochen und für das Reichsgericht eine eigene, höheren Anforderungen entsprechende Anwaltschaft geforAaOS. 20011. » AaOS. 20012. 9 Kleine-Cosack aaO (Fn. 4). 10 Den Hinweis darauf, daß Neid ein schlechter Ratgeber ist, hat bereits Redeker (Freiheit der Advokatur - heute, NJW 1987, 2610, 2616 Ii. Sp.) in diesem Zusammenhang für notwendig gehalten. " Vgl. im einzelnen z.B. Schneider, Die Anwaltschaft ... (Fn. 2), S. 101 ff. m. w. Nachw.; ders., Einfluß und Aufgaben der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof S. 325 ff.; zur Entstehungsgeschichte vgl. ferner Nirk, aaO (Fn. 4), S. 116 ff. 7

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dert.12 Auch die Justizkommission des Reichstages hielt in ihrem Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes eine Singularzulassung von „besonders befähigten, aber nicht übermäßig beschäftigten" Anwälten für notwendig, „welche aus der Praxis beim Reichsgericht einen ausschließlichen Beruf zu machen gewillt und geeignet sind".13 Uber die Zulassung sollte der Präsident des Reichsgerichts entscheiden.14 Nachdem der Bundesrat eine Regelung im Gerichtsverfassungsgesetz abgelehnt und ein einheitliches Gesetz über die Rechtsanwaltschaft gefordert hatte, legte Reichskanzler von Bismarck im Jahre 1878 einen Entwurf für diese Rechtsanwaltsordnung vor, in dem eine besondere Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht vorgesehen war, deren Mitglieder „durch den Reichskanzler nach freiem Ermessen" zugelassen werden sollten und nur beim Reichsgericht auftreten durften.15 Nach den amtlichen Motiven16 sollte beim Reichsgericht eine Anwaltschaft bestehen, deren Mitglieder tunlichst auf gleich hoher Stufe juristischer Tüchtigkeit wie die Mitglieder des Reichsgerichts selbst stünden. Gegen den Gedanken, die rechtsuchende Bevölkerung in der Revisionsinstanz an die „vom Reichskanzler Allerhöchst ernannten Personen" zu verweisen, erhob sich im Reichstag entschiedener Widerstand. 17 Schließlich wurde in dem am 1. Juli 1878 in Kraft getretenenen § 99 der Rechtsanwaltsordnung (RAO) 18 die Auswahl dem Präsidium des Reichsgerichts übertragen, das über den Antrag auf Zulassung „nach freiem Ermessen" zu entscheiden hatte. Nach § 100 R A O war die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht mit der Zulassung bei einem anderen Gericht unvereinbar; die beim Reichsgericht zugelassenen Anwälte durften auch bei keinem anderen Gericht auftreten. Das Präsidium des Reichsgerichts war damit zwar nicht ausdrücklich - wie der gegenwärtige Wahlausschuß - aufgerufen, die Zahl der zuzulassenden Rechtsanwälte festzulegen. Einer entsprechenden Aufgabenzuweisung bedurfte es indes nicht, denn das Präsidium nahm die Zulassung - anders als der heutige Wahlausschuß - selbst vor. Mit der Zulassung oder ihrer Ablehnung entschied es zugleich, wieviele Anwälte es als notwendig ansah. Ob das vom Gesetzgeber so beabsichtigt war und ob man als Gegenbeweis Passagen aus Reden einzelner Reichstagsabge12 Protokoll über die Reichstagssitzung vom 13. Mai 1878, S. 1271, abgedruckt bei Siegel, Die gesammten Materialien zu der Rechtsanwaltordnung vom 1. Juli 1878, S. 541. 13 Bericht der Justizkommission, S. 65, abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 135. 14 Titel IX a § c Abs. 1 des Entwurfs der Justizkommission, abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 115. 15 §§ 94 des Entwurfs, abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 207 f. 16 Abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 289. 17 So der Abgeordnete Windhorst, vgl. Siegel, aaO (Fn. 12), S. 384. " Abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 674.

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ordneter ausreichen lassen will19, ist von untergeordneter Bedeutung. Die etwaige Ablehnung eines numerus clausus durch namentlich hervorgetretene Abgeordnete hat jedenfalls in dem klaren Gesetzeswortlaut, der auf das „freie" Ermessen des Präsidiums abstellte und damit einen Anspruch auf Zulassung ausschloß20, keinen Ausdruck gefunden. Tatsächlich schwankte denn auch die Zahl der beim Reichsgericht zugelassenen Rechtsanwälte nach Hartungn zwischen 21 und 24. Die abweichende Regelung des heutigen § 168 Abs. 2 BRAO gewinnt ihren Sinn allein aus der Tatsache, daß die Zulassung nicht dem Wahlausschuß, sondern dem Bundesminister der Justiz übertragen ist und diesem die doppelte Zahl der vom Ausschuß für erforderlich gehaltenen neu zuzulassenden Anwälte vorzuschlagen ist. Eine sachliche Änderung ist also nicht eingetreten. Die Regelung von 1878 wurde in die Rechtsanwaltsordnung vom 31. Dezember 1935 übernommen.22 Auch nach dem Ende des II. Weltkrieges wurde bei der Errichtung des Obersten Gerichtshofes für die britische Zone am 1. Januar 1948 die rund 70 Jahre lang bewährte23 Institution einer eigenen Anwaltschaft beibehalten. Als der Bundesgerichtshof am 8. Oktober 1950 die Aufgabe des Revisionsgerichts für die gesamte Bundesrepublik übernahm, gab es keine Meinungsverschiedenheiten über die Notwendigkeit, auch ihm eine besondere Anwaltschaft zuzuordnen. Dies war auch bei Schaffung der seit dem 1. August 1959 geltenden Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) nicht umstritten. Lediglich das Zulassungsverfahren ist den durch zunehmenden Perfektionismus geprägten modernen Rechtsvorstellungen angepaßt worden. An die Stelle der Zulassung durch das Präsidium des Bundesgerichtshofs trat das heutige zweigleisige Verfahren mit der Vorschaltung des aus den Vertretern der allgemeinen Anwaltschaft, aus den Vertretern der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof und aus den Zivilsenatsvorsitzenden dieses Gerichts besetzten Wahlausschusses, der dem Richterwahlausschuß nach Art. 95 Abs. 3, 96 Abs. 2 GG nachempfunden war.24 Die unmittelbare Einbindung der Anwaltschaft entsprang dem Bestreben, alle Kräfte zu beteiligen, die ein berechtigtes Interesse an der Auswahl haben.25 Die - zumindest indirekte - maßgebliche Beteiligung der Anwaltskammer des Reichsgerichts und der örtlichen An" So Friedlaender, Kommentar zur RAO, 3. Aufl. 1930, Rdn. 5 f. vor § 98; vgl. ferner Härtung JZ 1994,118. 20 Friedlaender, aaO (Fn. 19) § 99 Rdn. 4. 21 JZ 1994,118 m. w. Nachw. 22 Schneider, Die Anwaltschaft..., (Fn. 2) S. 105. 23 Ostler, aaO (Fn. 2), S. 352. " BT-Drucks. 3/120 S. 110 zu § 178. 2S AaO (Fn. 24).

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waltskammern war übrigens bereits seit 1929 durch eine interne Verwaltungsmaßnahme des Präsidiums des Reichsgerichts geregelt. 26 Der mit der Bundesrechtsanwaltsordnung vollzogene Ubergang zur direkten Beteiligung lag also durchaus im Trend. 2. Die Institution einer besonderen Anwaltschaft bei einem obersten Gerichtshof ist keine deutsche Erfindung. In Frankreich existiert eine solche Einrichtung für den Conseil d'Etat und die Cour de Cassation bereits seit 1817. 27 Ahnlich ist die Situation in Belgien; dort besteht eine besondere Anwaltschaft beim Kassationshof. Die Postulationsfähigkeit beim italienischen Kassationshof ist an die Eintragung in ein Spezialregister geknüpft, die eine gewisse - in ihrer Länge an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpfte - Berufserfahrung und das Bestehen einer besonderen Prüfung voraussetzt; die einmal jährlich stattfindenden Prüfungen werden von einer Kommission abgenommen, die aus dem Präsidenten einer Sektion des Kassationshofs, zwei Richtern des Kassationshofs und zwei bereits in das Spezialregister eingetragenen Anwälten besteht. 28 In der Schweiz prüft eine Expertenkommission, ob bei einer Reform der Rechtspflege eine entsprechende Regelung ins Auge gefaßt werden sollte. 3. Schließlich trifft es auch keineswegs zu, daß die Verfassungsmäßigkeit einer besonderen Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof bisher ungeprüft geblieben wäre. Allerdings ist dies - wie den Verfechtern der Verfassungswidrigkeit zugutezuhalten ist - in Entscheidungen geschehen, die alle Beteiligten für mehr oder weniger selbstverständlich und deshalb nicht für veröffentlichungswürdig hielten. Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes hat in mehreren Entscheidungen 29 den Standpunkt vertreten, daß die Regelung der §§ 164 ff. B R A O keinen Eingriff in die Berufswahl, sondern nur eine Regelung der Berufsausübung darstellt. D e m ist das Bundesverfassungsgericht in einem ebenfalls unveröffentlichten Beschluß eines Dreierausschusses vom 24. März 1982 30 gefolgt. Es hat insbesondere auch die in der Notwendigkeit einer Wahl liegende Zulassungsbeschränkung für unbedenklich gehalten und die Zusammensetzung des Wahlausschusses mit der Erwägung gebilligt, daß das

Axhausen, aaO (Fn. 5), S. 214. Gross, Die Anwaltschaft beim französischen Kassationshof, in: Festschrift für Rudolf Nirk, S. 405 ff., 410. 28 Luther, Neuregelung der Zulassung zur Anwaltschaft in Italien, J R 1986, 97. 29 Beschlüsse vom 14. 5. 1975 - AnwZ(B) 7/75 - S. 10 ff., vom 10. 5. 1978 - AnwZ(B) 11/78 - S. 12 und vom 28. 2. 1983 - AnwZ(B) 37/82, BRAK-Mitt. 1983, 135, 136. 30 1 BvR 278/75, 1 BvR 913/78, 1 BvR 897/80, auszugsweise zitiert in: BGH BRAKMitt. 1983, 135, 136 sowie bei Krämer, aaO (Fn. 4), S. 401 f., bei Härtung, JZ 1994, 403 und bei Tilmann aaO (Fn. 4), S. 118. 26 27

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Zusammenwirken aller Kräfte, die ein berechtigtes Interesse an der Wahl haben, am ehesten Sachverstand und Objektivität gewährleiste und hinlänglich geeignet sei, unterschiedliche Motivationen auszugleichen. Entgegen der von HartungiX vertretenen Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht auch die dem Wahlausschuß nach § 168 Abs. 2 B R A O übertragene Festlegung der Zahl der neu zuzulassenden Anwälte in die verfassungsrechtliche Prüfung einbezogen. Es führt dazu wörtlich aus:32 Der Umstand, daß das Gesetz keine Kriterien für die Bemessung der Neuzulassungen vorsieht, wird dadurch ausgeglichen, daß darüber ein sachkundiges und gemischt zusammengesetztes Gremium entscheidet (vgl. BVerfGE 33, 303 [341]).

Die von Härtung33 zum Beweis des Gegenteils zitierte Einschränkung, es sei im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, „ob die konkreten Entscheidungen dieses Gremiums über die jeweils erforderlichen Neuzulassungen aus den vom Beschwerdeführer genannten Gründen ... zu Bedenken Anlaß geben könnten", bezieht sich nicht auf die - zuvor als verfassungsmäßig angesehene - Vorschrift des § 168 Abs. 2 BRAO, sondern nach der unmißverständlichen Formulierung auf die im konkreten Fall beschlossene Zahl der neu zuzulassenden Anwälte, die als zu niedrig angegriffen worden war. Sein 12 Jahre nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung erhobener Anspruch, „das verfassungsrechtliche Problem der in § 168 Abs. 2 BRAO geregelten Bedürfnisprüfung ... rund 35 Jahre nach Inkrafttreten der BRAO erstmalig zur Diskussion gestellt" zu haben34, kann deshalb nur mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen werden. Daß die Regelung der besonderen Zulassung beim Bundesgerichtshof auch europarechtlich unbedenklich ist, sei nur am Rande vermerkt. 35 Die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, daß die Richtlinie 77/249 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte auf die besondere Situation spezialisierter Rechtsanwaltschaften wie der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof nicht anwendbar sei, widerlegt im übrigen die neuerdings von BirnkrautSb aufgestellte These von der untrennbaren Verknüpfung der Anwaltszulassung beim Bundesgerichtshof mit der Problematik von Zulassungsbeschränkungen beim Oberlandesgericht (Singular- oder Simultanzulassung). 31

JZ 1994, 403 unter 2. S. 3 Abs. 2. 33 JZ 1994, 403 re. Spalte oben. " JZ 1994,403 unter 5. 55 Urteil des E u G H vom 25. 2. 1988 in der Rechtssache 427/85, E u G H E 1988, 1155, 1166 unter Nr. 44. 36 A a O (Fn. 5), S. 196. 32

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4. Soweit die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit nicht rein emotional artikuliert, sondern juristisch begründet werden 37 , wird die Zweckmäßigkeit einer besonderen Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof ebensowenig bestritten wie die Notwendigkeit einer Singularzulassung und der Beschränkung des Auftretens auf die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das Bundesverfassungsgericht. 38 Die Bedenken richten sich allein gegen die „Bedürfnisprüfung", die in der Festlegung der Zahl der neu zuzulassenden Anwälte durch den Wahlausschuß gesehen wird. Sie werden darauf gestützt, daß der Wahlausschuß beim Bundesgerichtshof - ebenso wie vorher das Präsidium des Reichsgerichts - „immer argwöhnisch darüber gewacht" habe, „daß der Kreis der zugelassenen Anwälte klein blieb" 39 , und diese Praxis „den qualifiziertesten Rechtsanwalt" nur deshalb von der Zulassung ausschließe, weil bereits genügend zugelassene Berufskollegen vorhanden seien.40 Damit wird eine seit über 100 Jahren unverändert bewährte Regelung ohne Rücksicht auf die Realität diskrediert. Es kann keine Rede davon sein, daß der Wahlausschuß die Zahl der zugelassenen Anwälte in der Vergangenheit künstlich klein gehalten habe und deshalb tüchtige Anwälte mit ihrer Bewerbung gescheitert wären. Das Gegenteil ist der Fall. Wer mehrere Anwaltswahlen miterlebt hat, weiß, daß die Zahl der ernsthaft für eine Zulassung beim Bundesgerichtshof in Betracht kommenden Bewerber im allgemeinen zu gering ist. Für die letzte - infolge der Wiedervereinigung erst nach fünfjähriger Pause durchgeführte - Wahl haben sich weniger als 20 nicht in Karlsruhe ansässige Anwälte beworben. Die kontraproduktiven Äußerungen von Mitgliedern des Bundestagsrechtsausschusses sind dafür wenn man sich die Bewerberzahlen früherer Wahlen ansieht - keine hinreichende Erklärung. Der Wahlausschuß hatte vielmehr mitunter sogar Mühe, wenigstens die für unerläßlich erachtete Mindestanzahl der zugelassenen Anwälte zu erhalten. Die dadurch erzwungene Senkung der Anforderungen führt zu unerwünschten Qualitätsunterschieden, die den Instanzanwälten naturgemäß nicht verborgen bleiben und die Konzentration der Mandate auf eine Reihe von BGH-Kanzleien begünstigen. Diese Sogwirkung der etablierten Kanzleien macht es auch gut qualifizierten „Anfängern" zu Beginn schwer, sich eine florierende Praxis Diesen Versuch unternimmt - soweit ersichtlich - lediglich Härtung (oben Fn. 4). Härtung, JZ 1994, 122; Redeker (aaO - Fn. 10) vermerkt für das Jahr 1987 sogar, es bestehe wegen der Besonderheiten des Revisionsverfahrens im Grunde Einigkeit über die Notwendigkeit einer besonderen Anwaltszulassung bei allen obersten Gerichtshöfen des Bundes - also nicht nur beim Bundesgerichtshof - , nur habe der Gesetzgeber bis heute nicht die Kraft gefunden, dieses Postulat zu verwirklichen. 39 Härtung, JZ 1994, 118/119. 37

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aufzubauen. Das relativ geringe Interesse geeigneter Amwälte an einer Zulassung beim Bundesgerichtshof mag mit darauf beruhen, daß Voraussetzung eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung ist. Die mit dieser Hürde verbundene Gefahr hat bereits im Jahre 1878 den Gesetzgeber bewogen, auf sie zu verzichten. In den Motiven des Entwurfs der Rechtsanwaltsordnung heißt es dazu wörtlich: 41 Je tüchtiger der Anwalt ist, desto größer wird seine Praxis in den ersten fünf Jahren werden, und desto mehr wird er Bedenken tragen, sie aufzugeben, um an dem Sitz des Reichsgerichts von vorne anzufangen. Der weniger tüchtige und darum weniger beschäftigte Anwalt dagegen wird diesen Entschluß leichter fassen; damit wird aber dem Anwaltsstande bei dem höchsten Gericht und der Rechtspflege bei diesem wenig gedient sein.

Es ist beeindruckend, wie weitblickend der Gesetzgeber vor fast 120 Jahren war. Die Anwaltskammern versuchen teilweise in intensiven Gesprächen, aber mit mäßigem Erfolg, von ihnen für geeignet gehaltene Anwälte zu einer Bewerbung zu ermuntern, um wenigstens den eigenen Oberlandesgerichtsbezirk angemessen unter den BGH-Anwälten vertreten zu sehen.42 Wie hoch die Hemmschwelle für einen Neuanfang in Karlsruhe tatsächlich ist, zeigt im übrigen die bedauerliche Tatsache, daß immer wieder besonders vielversprechende Kandidaten ihre Bewerbung im Laufe des Vorbereitungsverfahrens oder nach ihrer Wahl aus persönlichen Gründen zurücknehmen. Wer dennoch an das Gespenst des bei der Wahl durchgefallenen besonders qualifizierten Anwalts glauben möchte, verschließt die Augen vor der Realität. Wie ernst verfassunsgrechtliche Bedenken zu nehmen sind, zeigt sich häufig an den Vorschlägen zu ihrer Behebung. Im vorliegenden Fall soll die Antwort auf die Frage nach einer dem Grundgesetz entsprechenden Regelung „sehr einfach" sein:43 Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof soll jeder Rechtsanwalt erhalten, der über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet des Zivilrechts und insbesondere im Revisionsrecht verfügt - was immer darunter zu verstehen sein mag. D a bei Vorliegen dieser Voraussetzung ein Anspruch auf Zulassung besteht, soll der „Wahlausschuß abgeschafft werden, an seine Stelle könnte der Vorstand der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof treten - eben jener Institution, die am ehesten ein Interesse an der Begrenzung der Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte haben könnte. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 44 , daß die in der N o t wendigkeit einer Wahl liegende Zulassungsbeschränkung ebensowenig S. 95/96 zu § 95, abgedruckt bei Siegel, aaO (Fn. 12), S. 289. " Ähnlich erfolglos waren, wie Axhausen aaO (Fn. 5) S. 214 berichtet, früher die Bemühungen des Vorstands der Anwaltskammer beim Reichsgericht. " Härtung, J Z 1994, 122. 44 S. o. Fn. 29. 41

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verfassungswidrig ist wie die gegenwärtige Zusammensetzung des Wahlausschusses, wird schlicht ignoriert und statt dessen die Auswahl durch ein Gremium propagiert, dessen Mitwirkung bei der Wahl vom Bundesverfassungsgericht nur deshalb gutgeheißen worden ist, weil die Interessen der von ihm mit großer Sachkunde Vertretenen ja nicht den Ausschlag geben, da sie nur über fünf von - damals - 21 Stimmen verfügten. Warum die Richter des Bundesgerichtshofes, in dessen Interesse diese besondere Anwaltschaft geschaffen worden ist, von jeder Mitsprache ausgeschlossen werden sollen, wird nicht einmal ansatzweise begründet, es sei denn, man begnügte sich mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß die Anerkennung als Fachanwalt auch ohne richterliche Beteiligung funktioniere. 45 Damit wird die Zulassung beim Bundesgerichtshof entgegen ihrem eindeutigen Sinn und Zweck 46 zu einer reinen Anwaltsangelegenheit degradiert, die man besser unter sich ausmacht. In der Erkenntnis, daß allein mit einem Anspruch auf Zulassung das geringe Interesse an einer Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof nicht belebt werden kann, wird dann der entscheidende „Reform"vorschlag eingeflochten: die Abschaffung der Kanzlei- und Residenzpflicht für BGH-Anwälte. Es wird also allen Ernstes der - ausschließlich - beim Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwalt in Flensburg oder in Frankfurt/Oder propagiert, der den Briefkopf seiner Sozietät ziert und sich mit Revisionsrecht und der Rechtsprechung der einzelnen Senate des Bundesgerichtshofes nur dann befaßt, wenn diese Sozietät den von ihr bereits durch zwei Instanzen betreuten Rechtsstreit auch noch zum Bundesgerichtshof bringen kann. Daß dieser Anwalt beim B G H , um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, in der Zwischenzeit voll in die Sozietät integriert ist und dort natürlich tatkräftig mitwirken muß, versteht sich von selbst. Dem Etikettenschwindel wird auf Kosten der Arbeitsfähigkeit des Bundesgerichtshofes Tür und T o r geöffnet: Jeder einigermaßen renommierten Anwaltskanzlei ein Anwalt mit Zeichnungsbefugnis für Revisionen!

III. Die Diskussion um die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof kann keine sachgerechten Ergebnisse hervorbringen, wenn sie allein aus der Sicht nicht zugelassener Anwälte mit dem Ziel betrieben wird, an den vermeintlichen Vorteilen der Angehörigen dieser Einrichtung teilhaben zu dürfen, ohne die mit dieser Tätigkeit verbundenen Pflichten uneingeschränkt zu übernehmen. Sie kann sinnvoll nur geführt werden, wenn ,s 46

Härtung aaO (Fn. 43). Vgl. dazu unten Abschnitt III.

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man sich darüber klar ist, daß die Regelung weder bei ihrer Einführung noch im Laufe ihrer Entwicklung den Interessen der Anwaltschaft zu dienen bestimmt war, insbesondere nicht die Schaffung und Sicherung von Privilegien einer auserwählten kleinen Gruppe bezweckte. Aus der oben dargestellten Entstehungsgeschichte ergibt sich vielmehr ohne jeden Zweifel, daß die Heraushebung einer Gruppe besonders qualifizierter Anwälte - mit Recht - stets als wichtige Voraussetzung für eine effektive Arbeit des Revisionsgerichts angesehen wurde und damit zugleich die wohlverstandenen - nicht mit den Wünschen einer Reihe von Anwälten zu verwechselnden - Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung zu wahren suchte. 1. Die Anwälte beim Bundesgerichtshof genießen - das haben sie mit ihren Vorgängern beim Reichsgericht gemeinsam - in der Anwaltschaft hohes Ansehen. Daran werden auch schrille Töne aus dem politischen Raum nichts ändern. Dieser Ruf beruht nicht auf irgendeiner durch die bloße Zulassung begründeten Sonderstellung, sondern auf Sachkompetenz. Die Zahl der eingelegten, dann aber nicht durchgeführten Revisionen zeigt, daß das negative Ergebnis einer Prüfung der Erfolgsaussichten durch den BGH-Anwalt von den Instanzanwälten akzeptiert wird. Entfiele diese Filterwirkung, müßten auch über diese Rechtsmittel die Zivilsenate entscheiden und dafür entsprechende neue Richterstellen geschaffen werden. Die Siebfunktion würde weitgehend eliminiert, wenn die Qualität der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof verwässert und damit das Gewicht ihrer Einschätzung der Erfolgsaussichten gemindert würde. Es liegt weiter auf der Hand, daß die kritische Einstellung gegenüber dem von einem Mandanten oder dessen Instanzanwalt gewünschten Rechtsmittel nicht wächst, wenn der prüfende Anwalt auf dieses konkrete und eventuelle Folgemandate finanziell dringend angewiesen ist. Die für die Ausübung einer Filterfunktion notwendige innere und äußere Unabhängigkeit vom Auftraggeber wird erheblich beeinträchtigt, wenn der Anwalt wirtschaftlich (etwa durch Bürogemeinschaft oder gar Sozietät) an Instanzanwälte gebunden ist. Sie geht vollends verloren, wenn er - wie dies vielerorts bei Gemeinschaftspraxen zwischen erst- und zweitinstanzlichen Anwälten oder bei Simultanzulassungen leider der Fall ist - den Rechtsstreit bereits in der Vorinstanz geführt oder beratend begleitet hat. Daß die beispielhaft genannten Formen der Zusammenarbeit durch eine Beseitigung der Kanzleipflicht am Sitz des Bundesgerichtshofs begünstigt werden, bedarf keiner besonderen Begründung. Man mag das zahlenmäßige Ergebnis der Filterfunktion der B G H Anwälte für unzureichend halten und auf die hohe Zahl von Nichtannahmebeschlüssen verweisen.47 Wer die von Krämer48 für das Jahr 1993

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genannten 910 Revisionsrücknahmen 49 als quantité négligeable abtut, übersieht, daß diese Zahl dem Pensum von drei vollbesetzten ausgelasteten Zivilsenaten, also der Arbeitskraft von rund 20 BGH-Richtern entspricht, die allein dadurch dem Steuerzahler erspart bleiben. Gewiß könnte die Zahl der Rücknahmen deutlich größer sein. Ein Zurückbleiben hinter dem Optimum wäre indes kein Grund, das immerhin noch recht effektive Leitbild preiszugeben, sondern dürfte allenfalls Anlaß sein, nach den Ursachen zu forschen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder zusätzliche Anreize zu schaffen. Daß die Beseitigung der besonderen Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof den gegenteiligen Effekt hätte, liegt auf der Hand. Es ist im übrigen vom Ansatz her verfehlt, jede Nichtannahmeentscheidung als Beleg für ein Versagen des den Revisionskläger vertretenden Anwalts zu sehen. Eine große Zahl der Fälle, in denen der Bundesgerichtshof mit der Nichtannahme sowohl die grundsätzliche Bedeutung als auch die Erfolgsaussicht verneint, stellt sich als durchaus legitimer Versuch dar, das Berufungsurteil einer rechtlichen Uberprüfung zuzuführen. Jeder Leser von Fachzeitschriften weiß, daß die juristische Phantasie der Autoren nahezu unerschöpflich ist und man ohne langes Suchen fast zu jedem Rechtsproblem eine der eigenen Position nützliche Rechtsauffassung finden kann. Wer wollte es einem Revisionsanwalt verübeln, wenn er im Interesse seines Mandanten diese Auffassung dem Bundesgerichtshof als Lösung anbietet? Derartige Rechtsmittel versorgen, auch wenn sie nicht zum Erfolg führen, den Bundesgerichtshof zudem mit dem für die Rechtsfortbildung und für die Uberprüfung der Auswirkungen der bisherigen Rechtsprechung unverzichtbaren Fallmaterial. Bedauerliche Verstöße gegen das Idealbild eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Revisionsanwalts sind lediglich die offensichtlich völlig aussichtslosen und demgemäß häufig auch recht „lustlos" begründeten Rechtsmittel, die unverständlich bleiben, solange man den Streitwert unberücksichtigt läßt. Ihre Zahl ist jedoch weit geringer, als die Zahl der Nichtannahmebeschlüsse dem Außenstehenden vielleicht nahelegt.

47 Härtung, ]Z 1994, 403, der allerdings anzunehmen scheint, die nicht angenommenen Revisionen brauchten nicht durch den Bundesgerichtshof entschieden zu werden. Daß jede nicht angenommene Revision ein gründliches Aktenstudium, ein eingehendes - auf die Argumente in der Revisionsbegründung eingehendes - Votum des Berichterstatters und eine nach Beratung ergehende Entscheidung der intern zuständigen fünf Senatsmitglieder voraussetzt, habe ich in NJW 1994, 1774, 1775 darzulegen versucht. 41 AaO (Fn. 4), S. 400. Die Zahl schließt allerdings auch die Rücknahmen wegen nicht gezahlter Honorarvorschüsse ein. 49 Nirk, aaO (Fn. 4), S. 122 geht unter Einbeziehung der von vornherein durch den Revisionsanwalt verweigerten Revisionseinlegungen von einer 25% igen Vorab-Aussonderung aus.

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2. Wenn von der Filterfunktion einer eigenständigen Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof die Rede ist, wird im übrigen stets einseitig auf die Zahl der Rechtsmittelrücknahmen abgestellt. Aus der Sicht des Revisionsrichters liegt der besondere Wert der auf diese Tätigkeit spezialisierten Anwälte in der Aussonderung unerheblichen Vorbringens und in der Konzentration auf das für die Revisionsentscheidung Wesentliche. Wer kennt nicht die sich in endlosen Wiederholungen austobende Schreibwut einer großen Zahl von Instanzanwälten, die häufig Ausdruck ihrer Hilflosigkeit bei der Bewertung des rechtlich Relevanten ist und nicht nur dem Revisionsrichter wertvolle Arbeitszeit stiehlt? Den Wert der gedanklichen Disziplin unserer Revisionsanwälte macht eindrucksvoll die Lektüre von Schriftsätzen in Fällen bewußt, in denen eine Vertretung durch beim Bundesgerichtshof zugelassene Anwälte nicht geboten ist (PKH-Gesuche, sofortige Beschwerden). Es ist eine nicht zu unterschätzende Arbeitserleichterung, daß das Gros der BGH-Anwälte auf den Versuch verzichtet, den zuständigen Senat zu „überreden", vielmehr auf die Kraft der Argumente setzt und dabei berücksichtigt, daß deren Zahl notwendigerweise begrenzt wird. Die dafür erforderliche Selbstzucht führt zudem dazu, daß in der Revisionsinstanz nur in seltenen Ausnahmefällen mehr als zwei Schriftsätze gewechselt werden; Revisionsbegründung und Revisionserwiderung werden mit Recht als hinreichend zur Darlegung der beiderseitigen Standpunkte angesehen. Auch dies setzt eine beachtliche Unabhängigkeit vom Mandanten voraus. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß die begrenzte Zahl der Anwälte beim Bundesgerichtshof im Laufe ihrer langen Geschichte ein Selbstverständnis entwickelt hat, das es, von Ausnahmen abgesehen, verbietet, den vom Revisionsgericht seiner Beurteilung zugrundezulegenden Sachverhalt - und sei es nur durch „Ubersehen" unbequemer Aktenteile - zu verfälschen. Alle diese zusätzlichen, für eine effektive revisionsrichterliche Arbeit wesentlichen Vorteile gingen verloren, wenn die gegenwärtige zahlenmäßig beschränkte Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof abgeschafft würde. 3. Die Qualifikation für eine Tätigkeit beim Bundesgerichtshof kann man nicht in (Fern-)Kursen erwerben wie das Wissen für eine Anerkennung als Fachanwalt; selbst eine langjährige Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem BGH-Anwalt reicht dafür nach einhelliger Auffassung im Wahlausschuß nicht aus. Wenn man - trotz der wenig segensreichen Tätigkeit des i?¿c¿íerwahlausschusses - davon ausgeht, daß die Richter des Bundesgerichtshofes außergewöhnlich tüchtig sind und die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof ein Pendant dazu bieten soll, muß man auch für sie etwas mehr als die auf einer bloßen Willensentscheidung beruhende Spezialisierung auf das Zivil- und das Revisions-

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recht verlangen. Das spricht ungeachtet der damit verbundenen Nachteile50 für die Aufrechterhaltung der Voraussetzung einer mindestens fünfjährigen Berufserfahrung, weil dieser Zeitraum eine unerläßliche Beurteilungsgrundlage bietet. Von einem Revisionsanwalt, der im Wortsinne „anregender" Gesprächspartner für die ausnahmslos auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Zivilsenate des Bundesgerichtshofes sein soll, ist u. a. zu erwarten, daß er als „Generalist"51 die verallgemeinerungsfähigen Ideen der Spezialsenate an anderer Senate weitergibt. Das mag für den Außenstehenden weit hergeholt klingen, ist jedoch von nicht zu unterschätzender praktischer Bedeutung. Als einleuchtendes Beispiel seien die unterschiedlichen Versuche der einzelnen Senate genannt, typischen Beweisschwierigkeiten einer Partei durch Beweiserleichterungen, Aufstellung von Erfahrungssätzen oder aber durch eine Beweislastumkehr abzuhelfen. Ein weiteres Beispiel ist das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, das naturgemäß alle Senate - für ganz unterschiedliche Wirtschaftszweige - beschäftigt; auch hier lassen sich Denkansätze von einem Rechtsgebiet auf das andere übertragen. Bisher viel zu wenig erkannt ist im übrigen die Notwendigkeit, die einzelnen Senate mit dem zum Verständnis der wirtschaftlichen Hintergründe erforderlichen nichtjuristischen Material zu versorgen; Rechtsfragen lassen sich praxis- und interessengerecht nur lösen, wenn man den technischen Ablauf, die tatsächlichen Risiken und die Interessenlage verstanden hat, die für die jeweiligen sich ständig neu entwickelten Formen des Wirtschaftsverkehrs charakteristisch sind. Wer diesen Anforderungen gerecht werden will, kann sich nicht darauf beschränken, sich die für den konkreten Fall anstehenden Rechtsprobleme „anzulesen". Der „Stand der Rechtsprechung" ist nichts Statisches, er ist ein dynamischer Prozeß, den man miterleben und mitgestalten muß, um die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels beurteilen zu können. Der Beobachter aus der Ferne, der nur sporadisch in Karlsruhe erscheint, ist kein Gesprächspartner. Ihm fehlt der Kontakt zu den Senaten, das Gespür für neue Entwicklungen, die hervorragende Bibliothek des Bundesgerichtshofes und die - durch die notwendige Reisetätigkeit beschnittene - Zeit zu der erforderlichen intensiven Durcharbeitung der wöchentlich verteilten neuen Entscheidungen. Die Beschäftigung des Revisionsanwalts mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist ein Ganztagsberuf. Wie ernst die hier zugelassenen Rechtsanwälte den rund 120 Jahre alten Auftrag nehmen, aus der Praxis beim Bundesgerichtshof „einen ausschließlichen Beruf zu machen"52, zeigt die Tatsache, 50 51 52

S. o. S. 1093. Näher zu diesem Gesichtspunkt Nirk, aaO (Fn. 4), S. 123 f. S. o. S. 1088.

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daß sie die rechtliche Möglichkeit, bei den anderen obersten Gerichtshöfen aufzutreten, so gut wie nie wahrnehmen. In der Geschichte des Bundesgerichtshofes hat es auch nur einen - inzwischen verstorbenen B G H - A n w a l t gegeben, der vordisponiert durch eine frühere Strafverteidigertätigkeit, auch vor den Strafsenaten auftrat. Die BGH-Anwälte setzen damit übrigens eine freiwillige Selbstbeschränkung der Rechtsanwälte beim Reichsgericht fort. 53 Die Abschaffung der Residenz- und Kanzleipflicht hätte im übrigen weitere - offenbar nicht bedachte - unangenehme Nebeneffekte: Beim Bundesgerichtshof wird keine Revisionsbegründung und keine Revisionserwiderung ohne Einsichtnahme in die Gerichtsakten abgegeben. Auch die Revisionsrücknahme beruht ganz überwiegend auf einem Studium der Gerichtsakten. 54 Auswärtige Anwälte müßten also, wenn sie ihre Pflichten ernst nehmen, zu diesem Zweck nach Karlsruhe reisen, denn es kann kaum verantwortet werden, die - noch dazu häufig von den Instanzgerichten zur Erledigung von Tatbestandsberichtigungs-, Kostenfestsetzungs- und ähnlichen eiligen Anträgen kurzfristig nochmals benötigten - Akten und Beiakten im ganzen Bundesgebiet hin und her zu schicken. Es gibt Revisionsverfahren, deren Streitwert so gering ist, daß der Anwalt für seine Tätigkeit nicht angemessen honoriert wird; das gilt vor allem für die zugelassenen oder ohne Rücksicht auf den Streitwert statthaften Revisionen. Für die ortsansässigen Anwälte wird das durch die Masse der Sachen ausgeglichen. Für den seltener auftretenden Revisionsanwalt mit einem weit entfernten Kanzleisitz verschärft sich das Problem durch den mit einer Anreise verbundenen Zeit- und Kostenaufwand. Das birgt die Gefahr in sich, daß die wirtschaftlich uninteressanten Fälle abgelehnt werde. Probleme bereitet das in besonderem Maße für die Beiordnung als Anwalt im Prozeßkostenhilfeverfahren; die Übernahme ist für die hier tätigen Anwälte bisher Ehrenpflicht. O b es dabei etwa für den oben bereits bemühten Anwalt aus Frankfurt/Oder bleiben würde, erscheint in hohem Maße fraglich.

IV. Wie immer, wenn die Angriffe gegen eine geltende Regelung nicht nur in Gefühlsausbrüchen, sondern in konkreten Einwänden bestehen, denkt man darüber nach, ob es nicht an der Zeit wäre, ihnen ohne Rücksicht auf rechtliche Überlegungen Rechnung zu tragen. Daß die Abschaffung der Kanzlei- und Residenzpflicht nicht in Be" Vgl. Axhausen, aaO (Fn. 5), S. 207. 54 Vgl. dazu auch Nirk, aaO (Fn. 4), S. 122.

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tracht kommen kann, glaube ich mit der Darlegung der Mißbrauchsmöglichkeiten 55 und der Unvereinbarkeit mit den Anforderungen an das Tätigkeitsbild eines Revisionsanwalts gezeigt zu haben. Ernsthaft diskutieren kann man nur über eine Beseitigung oder Entschärfung der zahlenmäßigen Begrenzung der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof, also über eine Reform des § 168 Abs. 2 B R A O . 1. Es liegt nahe, darauf zu verweisen, daß die freie Advokatur keine Garantie für den wirtschaftlichen Erfolg zuläßt und die gesamte Anwaltschaft mit diesem Risiko leben muß. Diese Argumentation übersieht jedoch einen wichtigen Gesichtspunkt: Der nicht beim Bundesgerichtshof zugelassene Anwalt ist in seiner Betätigung relativ frei. Er kann den Ort seiner Tätigkeit wählen und bei Bedarf ändern, „Marktlücken" nutzen und das Schwergewicht seiner anwaltlichen Tätigkeit den wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Das alles ist dem B G H - A n w a l t verwehrt. Er ist auf den Kanzleisitz Karlsruhe und die Tätigkeit als Revisionsanwalt bei diesem Gericht fixiert. Die Entscheidung über den Wechsel nach Karlsruhe kann er frühestens nach fünfjähriger Tätigkeit als Anwalt treffen. D a er Aussichten auf eine Wahl nur dann hat, wenn er sich in dieser Zeit als besonders qualifiziert erwiesen hat, gibt er eine vielversprechende Karriere als Instanzanwalt auf, um beim Bundesgerichtshof eine neue Existenz aufzubauen. Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, daß diese Perspektive auch für herausragende Anwälte trotz der mit einem Ortswechsel ohnehin verbundenen familiären Probleme einen Anreiz bietet, der in einer Leistungsgesellschaft natürlich auch wirtschaftlicher Art sein muß.56 Ein solcher Anreiz fehlt, wenn man sie einerseits in den Möglichkeiten der Berufsausübung so sehr einschränkt, wie dies bei Revisionsanwälten aus wohlerwogenen Gründen notwendig ist, sie andererseits aber der Konkurrenz mit einer unbegrenzten Zahl von Kollegen auf diesem in der Gesamtzahl der Mandate streng limitierten Sektor aussetzt. Es gibt zwei mögliche, für den Bundesgerichtshof gleichermaßen verhängnisvolle, Konsequenzen einer Freigabe der Zahl der Anwälte: Entweder würde wegen des wirtschaftlichen Risikos das Interesse des qualifizierten Nachwuchses gemindert, die Bewerberzahl aus diesem Grunde weiter schrumpfen und die Qualifikation der Gewählten notgedrungen abnehmen, oder aber eine größere Zahl von Anwälten müßte sich die begrenzt angebotenen Mandate teilen und wäre damit ohne ausreichende finanzielle Unabhängigkeit allenfalls ein sehr grobes Sieb.

S. o. S. 1094. Zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vgl. die eingehende Darstellung bei Nirk, aaO (Fn. 4), S. 129. 55

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2. Eine andere Möglichkeit wäre die Festlegung der Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte durch Gesetz (eine höchst unflexible Lösung) oder aber durch den Justizminister. Damit würde der Wahlausschuß in die unerfreuliche Lage versetzt, die festgelegte Sollzahl unter allen Umständen erhalten zu müssen. Nach den bisherigen Erfahrungen besteht keine Gewähr dafür, daß sich unter den wenigen Bewerbern stets genügend ernsthaft für eine Tätigkeit beim Bundesgerichtshof in Betracht zu ziehende Persönlichkeiten befinden. Das wird sich durch die unberechtigten Angriffe gegen die Sonderstellung dieser Anwaltschaft sicher nicht bessern. Es müßten also notfalls auch ungeeignete Anwälte gewählt werden. Diese würden dann für den Rest ihrer aktiven Berufstätigkeit die Stellen blockieren und den Ausschuß daran hindern, unter glücklicheren Bedingungen die festgelegte Zahl zu überschreiten und zusätzliche Anwälte zu wählen, um den Qualitätsstandard wieder aufzubessern. Er könnte auch mit Rücksicht auf eine unerwünschte Altersstruktur (Uberalterung) und geminderter Aktivität älterer Kollegen nicht etwa das zufällige Uberangebot an tüchtigen jüngeren Kollegen nutzen, um diese gleichsam „auf Vorrat" zu wählen. Wenn man dem begegnen wollte, indem man auf eine strenge Bindung des Wahlausschusses an die festgesetzte Zahl verzichtet, würde sich im Ergebnis an dem bisherigen Zustand nichts ändern. Im Gegenteil: Die Zahl der Anwälte würde im Sinne einer bloßen Empfehlung an ein Gremium festgelegt, dessen man sich wegen des Mangels an eigenen Erkenntnissen beim Zustandekommen eben dieser Empfehlung bedienen müßte. Dem läßt sich kaum entgegenhalten, daß der Gesetzgeber ja unverständlicherweise den Ausschuß auch verpflichtet, ohne Rücksicht auf Qualität der Bewerber die doppelte Anzahl 57 der tatsächlich benötigten Anwälte zu wählen, um dem Bundesministerium eine - sehr theoretische - Auswahlmöglichkeit zu geben.58

57 Es würde sicher genügen, wenn der Ausschuß - soweit geeignete Bewerber vorhanden sind - zwei oder drei Ersatzmitglieder zu benennen hätte. 58 Daß die vom Wahlausschuß für angemessen gehaltene Zahl neu zuzulassender Anwälte den Bundesminister der Justiz nicht binde - wie Tilmann, aaO (Fn. 4), S. 120 annimmt - , läßt sich mit dem Sinn der Regelung des § 168 Abs. 2 BRAO kaum vereinbaren. Die Vorschrift würde dann in einem Satz zwei Entscheidungen unterschiedlicher Qualität regeln: die bindende über den Kreis der für eine Zulassung in Betracht kommenden Bewerber und eine unverbindliche über die Zahl der Zuzulassenden. Der gegenteiligen h. M. (vgl. die Nachw. bei Feuerich/Braun, BRAO 3. Aufl. § 168 Rdn. 4; ferner Jessnitzer/Blumberg, BRAO 7. Aufl. § 168 Rdn. 1 sowie Härtung JZ 1994, 118) ist deshalb der Vorzug zu geben. Für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist die Frage der Bindungswirkung freilich ohne Belang, denn es wäre ersichtlich gleichgültig, wem eine etwa grundgesetzwidrige Bedürfnisprüfung übertragen ist.