Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1-2 [1-2] 3484106530, 9783484106536

Walter Haug und Burghart Wachinger: Was beide in den zurückliegenden Jahren ihres gemeinsamen Arbeitens in Tübingen ange

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Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1-2 [1-2]
 3484106530, 9783484106536

Table of contents :
Band I

Dieter Kartschoke, "Der ain was grâ, der ander was chal": Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualitätim Mittelalter 1
Gerhart von Graevenitz, Differenzierung der Differenz: Grundlagen der Autobiographie in Abaelards und Héloïses Briefen 25
Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik 47
Ursula Peters, Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur: Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion 63
Aleida Assmann, Vae Soli: Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neuzeit 87
Friedrich Wolfzettel, Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance 103
Gerhild Scholz Williams, Faust verführt: Epikur in der Frühen Neuzeit 123
Hans Fromm, Eneas der Verräter 139
Christoph Huber, Mittelalterliche Ödipus-Varianten 165
Volker Mertens, Melusinen, Undinen: Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert 201
Ingrid Kasten, "Narrheit" und "Wahnsinn": Michel Foucaults Rezeption von Sebastian Brants "Narrenschiff" 233
Hans Helmut Christmann, Leistung und Schicksal eines Philologen: Der Romanist Alfons Hilka als Erzählforscher, Mittellateiner und Textherausgeber 255
Ernst Hellgardt, "...der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen": Über Voraussetzungen und Ziele der Otfridausgabe des Matthias Flacius Illyricus (Basel 1571) 267
Richard Newhauser, "alle sunde hant vnterschidunge": Der Tugend- und Lastertraktat als literarische Gattung im Mittelalter 287
Erika Bauer, Zur Geschichte der "Hieronymus-Briefe" 305
Kurt Ruh, Fragen und Beobachtungen zu den Poetica der Hadewijch 323
Klaus Grubmüller, Sprechen und Schreiben: Das Beispiel Mechtild von Magdeburg 335
Loris Sturlese, Mystik und Philosophie in der Bildlehre Meister Eckharts: Eine Lektüre von Pred. 16 a Quint 349
Susanne Hummler, Sprache als Medium der mystischen Erfahrung: Über das Verhältnis von Aktion, Kontemplation und Sprache in Eckharts Interpretationen von Lk 10,38 363
Alois M. Haas, Civitatis Ruinae: Heinrich Seuses Kirchenkritik 389
Werner Williams-Krapp, "Nucleus totius perfectionis": Die Altväterspiritualität in der "Vita" Heinrich Seuses 405
Derk Ohlenroth, Darbietungsmuster in dominikanischen Schwesternbüchern aus der Mitte des 14. Jahrhunderts 423
Karin Schneider, Felix Fabri als Prediger 457
Hans Unterreitmeier, Paraliturgische Erinnerungen 469
Walter Roll, Der "Convertimini"-Traktat als Quelle der "Gesta Romanorum" 485
Gisela Kornrumpf, Das "Buch der Könige": Eine Exempelsammlung als Historienbibel 505

Band II

Jan-Dirk Müller, Tristans Rückkehr: Zu den Fortsetzern Gottfrieds von Straßburg 529
J. H. Winkelman, Der Ritter, das Schachspiel und die Braut: Ein Beitrag zur Interpretation des mittelniederländischen "Roman van Walewein" 549
Eberhard Nellmann, "Wilhelm von Orlens"-Handschriften 565
Joerg O. Fichte, Historia and Fabula: Arthurian Traditions and Audience Expectations in "Sir Gawain and the Green Knight" 589
Isolde Neugart, Beobachtungen zum "Gauriel von Muntabel" 603
Paul Sappier, Zufügen und Weglassen: Das Verhältnis der Redaktionen des "Friedrich von Schwaben" 617
Horst Brunner, "Gunterfai sein bek derschal": Kommentar zum Musikinstrument des Spielmanns in Heinrich Wittenwilers "Ring" 625
Daniel Rocher, Rabelais, Wittenwiler und die humanistische Anschauung des Kriegs 641
Joachim Heinzle, Vom Mittelalter zur Neuzeit?: Weiteres zum Thema "Boccaccio und die Tradition der Novelle" 661
Gisela Fischer-Heetfeld, Zur Vorrede von Heinrich Steinhöwels "Griseldis"-Übersetzung 671
Volker Honemann, Zu Augustin Tünger und seinen "Fazetien" 681
Christoph Cormeau, Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang 695
Rainer Warning, Pastourelle und Mädchenlied 709
Hans Becker, "Meie dîn liehter schîn": Überlegungen zu Funktion und Geschichte des Minnelieds HW XI, 1 ff. in den Neidhart-Liedern der Riedegger Handschrift 725
Peter Kern, "heilvlies" und "selden holz": Überlegungen zu Frauenlobs Kreuzleich 743
Karl Stackmann, "O her, du edels krut": Heinrichs von Mügeln Variation über eine Strophe Frauenlobs 759
Nigel F. Palmer, "Von den naturlichen troymen": Zur Integration griechisch-arabischer Medizin in die mittelalterliche Enzyklopädik und deren Umdeutung bei Konrad von Megenberg und Heinrich von Mügeln 769
Gerhard Hahn, "Es ruft ein wachter faste" oder "Verachtet mir die Meister nicht!": Beobachtungen zum geistlichen Tagelied des Hans Sachs 793
Kurt Gärtner, Aus Konrad Bollstatters Spruchsammlung: Die Vierzeilerreihe "Wer getaufft ist und in rechtem glauben statt" 803
Hans Ulrich Gumbrecht, Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit" 827
Frieder Schanze, Kartenspiel der Mächte: Zu einem unbekannten politischen Spiel von 1513 aus der Schweiz 849
Wilfried Barner, Vorspiele der Querelle: Neuzeitlichkeits-Bewußtsein in Nicodemus Frischlins "Julius redivivus" 873
Hans-Georg Kemper, Beglaubigung und Bekämpfung der schwarzen Magie: "Welt als Schlüssel zu den Strukturen" von Gryphius’ "Cardenio und Celinde" 893
Klaus-Detlef Müller, Hans Sachs und die "Poesie des Tages": Zu Goethes "Jahrmarktsfest in Plundersweilern" 915
Manfred Günter Scholz, Quellenkritik und Sprachkompetenz im "Buch der Natur" Konrads von Megenberg 925
Gerhard Fichtner, Reformation oder Renaissance der Medizin? 943
Thomas Cramer, Aesopi Wolf: Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und bildender Kunst im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit 955
Michael Curschmann, Markolf tanzt 967
Norbert H. Ott, Ikonographische Signale der Schriftlichkeit: Zu den Illustrationen des Urkundenbeweises in den "Belial"-Handschriften 995
Gerd Brinkhus, Ex bibliotheca Peutingeriana: Weitere Probedrucke zum "Theuerdank" Maximilians 1011
Dorothea und Peter Diemer, Minnesangs Schnitzer: Zur Verbreitung der sogenannten Minnekästchen 1021
Nachwort 1061

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Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger Band II

Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger Band II

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

herausgegeben von: Johannes Janota, Paul Sappier, Frieder Schanze, Konrad Vollmann, Gisela Vollmann-Profe, Hans-Joachim Ziegeler

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger / [hrsg. von: Johannes Janota ...] .Tübingen : Niemeyer. NE: Janota, Johannes [Hrsg.]; Haug, Walter: Festschrift Bd. 2 (1992) ISBN 3-484-10653-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Band I Dieter Kartschoke Der ain was grâ, der ander was dial. Über das Erkennen und Wieder­ erkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter ......................... Gerhart von Graevenitz Differenzierung der Differenz. Grundlagen der Autobiographie in Abaelards und Héloïses B rie fe n .........................................................

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Fritz Peter Knapp Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen P o e t i k ....................................................................................................................47 Ursula Peters Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwer­ punkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion ......................................63 Aleida Assmann Vae Soli. Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neu­ zeit ........................................................................................................................87 Friedrich Wolfzettel Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance.....................................................103 Gerhild Scholz Williams Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen N euzeit*.................................................123 Hans Fromm Eneas der V e r r ä t e r ..............................................................................................139 Christoph Huber Mittelalterliche Ö dipus-V arianten..................................................................... 165 Volker Mertens Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Ja h rh u n d e rt..........................................................................................................201

VI

Inhalt

Ingrid Kasten >Narrheit< und >WahnsinnBoccaccio und die Tradition der N ovelle< ................................................................................. 661 Gisela Fischer-Heetfeld Zur Vorrede von Heinrich Steinhöwels ‘Griseldis’-Ü bersetzung....................671 Volker Honemann Zu Augustin Tünger und seinen ‘Fazetien’

................................................. 681

Christoph Cormeau Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang

................................................. 695

Rainer Warning Pastourelle und M ädchenlied............................................................................. 709

VIII

Inhalt

Hans Becker Meie dîn liehter schin. Überlegungen zu Funktion und Geschichte des Minnelieds HW XI, 1 ff. in den Neidhart-Liedem der Riedegger H an d sch rift..........................................................................................................725 Peter Kern heilvlies und seiden holz. Überlegungen zu Frauenlobs Kreuzleich

. . . .

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Karl Stackmann O her, du edels krut. Heinrichs von Mügeln Variation über eine Strophe F ra u e n lo b s ..........................................................................................................759 Nigel F. Palmer Von den natürlichen troymen. Zur Integration griechisch-arabischer Me­ dizin in die mittelalterliche Enzyklopädik und deren Umdeutung bei Konrad von Megenberg und Heinrich vonMügeln .....................................769 Gerhard Hahn Es ruft ein wachter faste oder »Verachtet mir die Meister nicht!«. Be­ obachtungen zum geistlichen Tagelied desHansSachs ................................. 793 Kurt Gärtner Aus Konrad Bollstatters Spruchsammlung. Die Vierzeilerreihe Wer getaufft ist und in rechtem glauben s t a t t .................................................................803 Hans Ulrich Gumbrecht Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen N e u z e it............................................................................................. 827 Frieder Schanze Kartenspiel der Mächte. Zu einem unbekannten politischen Spiel von 1513 aus der S c h w e iz ......................................................................................... 849 Wilfried Barner Vorspiele der Querelle. Neuzeitlichkeits-Bewußtsein in Nicodemus Frischlins ‘Julius redivivus’ ................................................................................. 873 Hans-Georg Kemper Beglaubigung und Bekämpfung der schwarzen Magie. »Welt als Schlüssel zu den Strukturen« von Gryphius’ ‘Cardenio und Celinde’ . . . 893 Klaus-Detlef Müller Hans Sachs und die >Poesie des TagesEntstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters< von 1939 ein, deren Ergebnisse - nicht zuletzt durch ihn selbst —in die jüngeren Handbücher eingegangen9 und materialiter auch durch die jüngste Dar­ stellung von Gottfried Boehm nicht überholt sind. Es hat schon vor Keller Versuche gegeben, die mittelalterliche Vorgeschichte der individualisierenden Bildnisdarstellung der Neuzeit zu schreiben. Am umfassendsten und anspruchsvollsten war die zweibändige Darstellung der frühmittelalterlichen Porträtmalerei< und >Porträtplastik< von Max Kemmerich,10 die jedoch schnell in 4 Walter Haug, Francesco Petrarca — Nicolaus Cusanus —Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: Individuali­ tät, hg. v. Manfred Frank u. Anselm Haverkamp, München 1988 (Poetik und Hermeneutik 13), S. 291-324, hier S. 295. 5 Haug [Anm. 4], S. 323. 6 Zu dieser Kategorie der idealistischen Ästhetik vgl. Hans-Heino Ewers, Die schöne Indi­ vidualität. Zur Genesis des bürgerlichen Kunstideals, Stuttgart 1978. 7 Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985. 8 Harald Keller, Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters, Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3 (1939), S. 227-356, hier S. 229. 9 Z. B. unter dem Stichwort >Portrait< im Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, 1971, Sp. 446—455. — Vgl. Harald Keller, Das Nachleben des antiken Bildnisses von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, Freiburg/Basel/Wien 1970 (Humanistisches Lesebuch). 10 Max Kemmerich, Die frühmittelalterliche Porträtmalerei in Deutschland bis zur Mitte des

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Mißkredit der einschlägigen Forschung gekommen ist.11 Keller machte denn auch tabula rasa und formulierte den Ausgangspunkt seiner Überlegungen in radikaler Opposition zu Kemmerich: »Für die früh- und hochmittelalterliche Menschen­ darstellung von Ravenna bis zu Innozenz III. erfolgt die Identifizierung einer Per­ sönlichkeit nicht durch das Gesicht. Die Kleidung und die Geste, die Art des Thronens und die Zusammensetzung des Gefolges geben weit besser Aufschluß über die Persönlichkeit eines Herrschers als sein Antlitz.«12 Doch auch dies war nicht das letzte Wort. Einer der jüngsten Beiträge zur >allgemeinen Geschichte des Porträts< im Früh- und Hochmittelalter von Gerhart B. Ladner macht sich ausdrücklich zur Auf­ gabe, »den Nachweis zu erbringen, dass Kontinuität der Absicht, bestimmte Perso­ nen darzustellen, existierte, und dass auch die Fähigkeit dazu nie völlig oder dauernd verloren ging.«13 Verwirrend wie das allgemeine Urteil ist die jeweilige Argumentation. Ursächlich dafür ist die zentrale Kategorie der >Ähnlichkeitähnlich< emp­ funden haben kann, wird in der kunstwissenschaftlichen Literatur sehr unterschied­ lich beurteilt - oder unreflektiert vorausgesetzt, so als hätte die visuelle Wahrneh­ mung nicht ihrerseits eine Geschichte. Diese Geschichte ist sicher nicht hinreichend damit beschrieben, daß man Ähnlichkeit als quantifizierbares Phänomen bestimmt, etwa in der Feststellung, daß im Früh- und Hochmittelalter »die Anforderungen an Bildnisähnlichkeit wesen dich geringer waren als etwa im 16. oder 19. Jahrhundert«.15 Ähnlichkeit werde im Mittelalter hergestellt durch »Abweichungen vom Typus; sie allein können individuell sein«.16 Ähnlichkeit wäre danach gleichsam durch Sum­ mation von Einzelmerkmalen herstellbar: »Es gibt ja sicher viele bartlose Mönche, deshalb wird bei fortschreitender Entwicklung der Porträtierungskunst diesem ein­ zigen Merkmal etwa die große Nase, das Kinn, die Stirn, die Augenfarbe usw. hinzugefügt werden, um die Zahl der Personen, mit denen eine Verwechslung mög­ lich ist, immer mehr einzuschränken. Schließlich stempelte eine Narbe oder ein Leberfleck, der den sämtlichen vorhandenen Einzelheiten hinzutritt, den Abge­ bildeten zur völlig singulären Sonderexistenz. Damit ist das körperliche Porträt fer­ tig!«17 XIII. Jahrhunderts, München 1907. — Ders., Die frühmittelalterliche Porträtplastik in Deutschland bis zum Ende des XIII. Jahrhunderts, Leipzig 1909. 11 Isa Lohmann-Siems, Die begriffliche Bestimmung des Porträts in der kunstwissenschaft­ lichen Literatur bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Beitrag zum methodischen Problem der Bildnis-Interpretation, Diss. Hamburg, Hamburg 1972. 12 Keller, Entstehung des Bildnisses [Anm. 8], S. 229. 13 Gerhart B. Ladner, Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, Bd. 3: Addenda et Corrigenda, Anhänge und Exkurse. Schlußkapitel: Papstikonographie und allgemeine Porträtikonographie. Register, Città del Vaticano 1984 (Monumenti di antichità cristiana, Ser. 2.4), S. 321. 14 Boehm [Anm. 7], S. 28. 15 Ladner [Anm. 13], S.321. 16 Kemmerich, Porträtmalcrei [Anm. 10], S. 18. 17 Kemmerich, Porträtmalerei [Anm. 10], S. 17.

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Solch mechanistische Auffassung hat schon bald ihre Kritiker gefunden. Hermann Deckert warf in einer grundlegenden Abhandlung >Zum Begriff des PorträtsPorträts< genannt hat. Dennoch hat die zirkuläre Argumentation Deckerts - »daß wir das Porträt eines Unbekannten mit völliger Sicherheit als Porträt erkennen können« —Schule gemacht und in jüngster Zeit Widerhall gefunden. Gottfried Boehm hat die spezifische Porträt­ ähnlichkeit als »hermeneutisches Grundphänomen« bestimmt und für ihre Wahr­ nehmung im Anschluß an Emst H. Gombrich21 allein die sinnliche Anschauung zuständig erklärt: »Für die nuancenreiche Beziehung der Ausdruckswerte in einem Gesicht gibt es keinen Begriff, der ihr entspräche. Die Anschauung leistet diese Synthese dennoch mit größter Sicherheit. Das Okkasionelle einer Physiognomie, ihr Index für Individualität, ist der Anschauung allein erschließbar.«22 Es ist jedoch nicht mehr als ein bloßes Gedankenspiel, wenn er behauptet: »Im selbständigen Porträt vollziehen wir eine Wiedererkenntnis von etwas, das wir, in aller Regel, realiter nie zu Gesicht bekommen können, es auch nicht brauchen. Etwas wiederzuerkennen, was als Original unbekannt ist, erscheint paradox, definiert aber jene spezifische Ähnlichkeitserfahrung, die im Porträt eine Rolle spielt. Wir realisieren die Ähnlich­ keit des Dargestellten mit sich, ohne daß wir das Urbild kennen.«23 Vielmehr ist es wohl so, daß ein bestimmter Darstellungsmodus, der spätestens im 13. Jahrhundert wieder aufgenommen wird, unseren - nicht zuletzt durch diesen kulturellen Prozeß disponierten —Sehgewohnheiten so entspricht, daß er uns suggeriert, es müsse in solchem Fall Ähnlichkeit mit einer lebenden Person vorliegen. 18 Hermann Deckert, Zum Begriff des Porträts, Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaften 5 (1929), S. 261-282. 19 Deckert [Anm. 18], S. 273. 20 Deckert [Anm. 18], S. 274. 21 Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: Ernst H. Gombrich / Julian Hochberg / Max Black, Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1977 (edition suhrkamp 860), S. 10-60. 22 Boehm [Anm. 7], S. 25. 23 Boehm [Anm. 7], S. 28.

D er ain was grd, der ander was chal

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Die spezielle Ähnlichkeitserfahrung ist eine kognitive Leistung, die den unbe­ wußten oder bewußten Vergleich von Urbild und Abbild, von Abbild und Abbild oder —am problematischsten und unsichersten —von Beschreibung und Abbild zur Voraussetzung hat. Wo diese Möglichkeit nicht gegeben ist, kann gerade der diachrone Blick auf die Porträtdarstellung einer als Ganzes fremd gewordenen Epoche Vorstellungen generieren, die von der zeitgenössischen Ähnlichkeitserfahrung (>erkennen< und >wiedererkennenPhänomenologie< vorwegnimmt in dem Bedenken, »daß sie notgedrungen mit den Augen eines Zeit­ genossen des 20. Jahrhunderts betrieben werden muß, die zu einer anderen Bewußtseinsstcllung gehören als derjenigen der Renaissance [...]. Hat nicht auch das Sehen seine Geschichte?«24 Das ist mehr als nur eine rhetorische Frage. Vielmehr formuliert sie die notwendige Konsequenz aus dem allgemeinsten Verständnis von Kunstge­ schichte als Stilgeschichte, die Harald Keller mit dem Blick auf Porträtdarstellungen auf das je unterschiedlich typisierte >ZeitgesichtZeitgesicht< ist die wechselnde Matrix, in die das jeweils als besonders Empfundene, das Indivi­ duelle, eingeschrieben wird. Für das Renaissanceporträt macht Boehm zu Recht »rhetorische und ethische Interpretamente«26 geltend. Anderseits sondert er in histo­ rischer und systematisch-struktureller Hinsicht alle jene Bildnisdarstellungen aus, die noch »bedeutungsbezogener« und nicht schon »selbstbezogener Repräsentation« die­ nen. Gegen dieses Verständnis von »Bildnissen ohne Individuen«27 hat Hans Robert Jauss zu Recht Einspruch erhoben mit dem Argument, »daß auch unselbständigen Formen der Bildniskunst ein hohes Maß an Individualität eigen sein kann, während anderseits das selbständige Portrait der Hochrenaissance seine prätendierte Auto­ nomie um den Preis einer Idealisierung des Okkasionellen zu erkaufen pflegt, die immer noch mehr repräsentiert als nur den kontingenten Einzelnen«.28 Den Literaturhistoriker geht diese Debatte unmittelbar dort an, wo die Kunsthisto­ riker sich literarischer Texte zur Stützung ihrer Argumentation bedienen. Die »Kon­ tinuität der Absicht, bestimmte Personen darzustellen«, so heißt es programmatisch bei Ladner, sei unabweisbar schon deshalb, weil es »eine breite literarische Tradition gibt, welche die Absicht des Porträtierens schon seit dem Frühmittelalter bezeugt«.29 Ladner beruft sich vor allem auf Hubert Schrade, der in seiner leider nicht zum Abschluß gelangten Darstellung der Malerei des Mittelalters literarische Belege für die Fortdauer einer säkularen Bildnispraxis bis ins 12. Jahrhundert gesammelt hat.30 24 Boehm [Anm. 7], S. 72. 25 Keller, Entstehung des Bildnisses [Anm. 8], passim. 26 Boehm [Anm. 7], S. 71 ff. 27 Bochm [Anm. 7], S. 111 ff. 28 Hans Robert Jauss, [Kritische Nachbemerkungen.] Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei, in: Individualität [Anm. 4], S. 599-605, hier S. 600. 29 Ladner [Anm. 13], S. 321. 30 Hubert Schrade, Vor- und frühromanische Malerei. Die karolingische, ottonische und frühsalische Zeit, Köln 1958, S. 47 ff. — Ergänzungen und Fortsetzung dieser Belegreihe finden sich u. a. in den hier immer wieder zitierten Arbeiten von Harald Keller [Anm. 8 und 9]. Einzelnes auch schon in:; Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen

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Dieter Kartschoke

Die literarischen Bezeugungen von Bildniswollen und Bildniskunst sind beson­ ders dort von Interesse, wo sie das problematische Phänomen der >Ähnlichkeit< an­ sprechen. Das Wort similis (similiter, simillime, similitudo) allein gilt nicht als verläß­ licher Indikator für >Ähnlichkeit< im Sinne der Übereinstimmung von empirischer Erscheinung und Abbild und belegt schon gar nicht die Vorstellung, »das Bild eines Menschen wäre etwas Individuelles«.31 Vielmehr kann in solchen Fällen auch ledig­ lich ein antiker Wortgebrauch beibehalten worden sein, dessen ursprüngliche Be­ deutung verloren gegangen ist. »Der Begriff der Ähnlichkeit erhält sich hartnäckig dort, wo ein solches Kriterium keinen Sinn mehr hat.«32 Neben dieser rigorosen Negation des verbalen Ähnlichkeitskriteriums für die Jahrhunderte bis zur Renais­ sance gibt es aber auch den Versuch, positiv zu bestimmen, was das Mittelalter unter similis (similitudo) in bildlicher Darstellung verstanden habe. >Ähnlichkeit< »im mittel­ alterlichen Sinne wird durch Attribute hergestellt«,33 so hat Keller selbst seine ne­ gativen Aussagen ergänzt. Noch allgemeiner heißt es in einer Untersuchung über figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts< von Kurt Bauch speziell zum deutschen Sprachgebrauch: »Im Mittelalter wird [...] Ähnliches, wenn es z.B. etwas nur bedeutet, bezeichnet, es verkörpert oder abbildet, sofort gleich, identisch ge­ nannt. Dies hat in der lateinischen symbolischen Begriffssprache der Theologie seine Entsprechung. Das dem Dargestellten ähnliche Ebenbild ist - im mittelalterlichen Sinne - das Dargestellte.«34 Und weiter: Formulierungen wie ad illius similitudinem depictus (depicta), similiter sibi, ad similitudinem Regis etc. »bedeuten nur, daß die Ge­ nannten dargestellt sind, weiter nichts. Den Begriff >ähnlich< im heutigen Sinne, auf die Darstellungsweise bezogen und abgelöst von >gleichDie Anfänge der neuem Porträtmalerei< von 1885 als »Überblick der Geschichte der Ä h n l i c h k e i t , des Vermögens und des Willens, dieselbe hervorzubringen«38 verstanden hat; vielmehr wird hier eine histo­ Mittelalters. Ausgewählte Texte des vierten bis fünfzehnten Jahrhunderts. Gesammelt von Julius von Schlosser, Wien 1896 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit NF 7). 31 Percy Emst Schramm / Flora Mütherich, Denkmale der deutschen Könige und Kaiser. Ein Beitrag zur deutschen Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis zu Friedrich II., 768— 1156, München 1962; hier zitiert nach Keller, Portrait [Anm. 9], Sp. 448. 32 Keller, Portrait [Anm. 9], Sp. 448. 33 Keller, Nachleben [Anm. 9], S. 55. 34 Kurt Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhun­ derts in Europa, Berlin/New York 1976, S. 228. 35 Bauch [Anm. 34], S. 228. 36 Schrade [Anm. 30], S. 90. 37 Schrade [Anm. 30], S. 91. “ Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe, Bd. 14: Vorträge, hg. v. E. Dürr, Berlin/Leipzig 1933,

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rische Wahmehmungsweise vorausgesetzt, die nicht die unsere ist. Das wird nicht ausdrücklich reflektiert, sondern klingt immer wieder in den angeschlossenen Bild­ analysen durch, wenn mit aller Vorsicht vom »Eindruck erreichter Ähnlichkeit«39 o. ä. die Rede ist. Wort und Bild sprechen nach Schrade gleichermaßen dafür, »daß bei dem früh- und hochmittelalterlichen Bildnis die Frage nach der Ähnlichkeit wohl immer möglich, ja vielfach geradezu notwendig, daß sie aber keineswegs die einzige ist, die gestellt werden muß, wenn man sich bemüht, Art und Umfang des Bildniswillens jener Jahrhunderte zu erkennen«.40 Damit sind die Extrempositionen bezeichnet, die in der gegenwärtigen kunst­ wissenschaftlichen Diskussion mit jeweils guten Gründen bezogen werden. Paradig­ ma dieser anhaltend kontroversen Debatte ist die Deutung des Cappenberger Kopfs, jener bekannten, nach dem Muster zeitgenössischer Kopfreliquiare gestalteten Klein­ plastik, die Kaiser Friedrich I. seinem Taufpaten Otto von Cappenberg nach der Mitte des 12. Jahrhunderts zusammen mit einer Silberplatte, der sog. Taufschale, zum Geschenk gemacht hat.41 Der Empfänger sprach in einer späteren Schenkungs­ urkunde an das Prämonstratenserstift Cappenberg von dem capud argenteum ad Im­ peratoris formatum effigiem, von dem »silbernen Haupt, das nach dem Bild des Kaisers geformt ist«.42 Dieses Zeugnis hat die Phantasie in Gang gesetzt. Seit dem 19. Jahr­ hundert hat man immer wieder »höchst individuelle Züge«43 im Cappenberger Kopf entdecken wollen oder aber jede >Ähnlichkeit< vehement bestritten. Die Möglich­ keit, es könne sich um ein porträthaftes »Bildnis Kaiser Friedrichs I.«44 handeln, wur­ de endgültig erst mit dem Nachweis gesichert, daß kein Herrscherattribut es als den identifizierte, dem es ad effigiem nachgebildet sein soll.45 Die sogenannte Caesarenoder Imperatorenbinde, ein in Verlust geratener, aber einigermaßen sicher erschließ­ barer Kopfschmuck, war als Herrscherattribut im 12. Jahrhundert durchaus unge­ bräuchlich. »Die Zeitgenossen hätten daran nicht den Kaiser oder e i ne n Kaiser erkannt wie sonst an der Krone oder an anderen Insignien und Symbolen, die diesem Bildnis fehlen; Otto von Cappenberg aber, dem es geschenkt wurde, konnte und sollte daran die ihm vertrauten Züge des Mannes erkennen, dessen Pate er gewesen war: dazu wurde es geschaffen, zu nichts sonst.«46 S. 316-330, hier S. 316. — Vgl. auch ders., Das Porträt in der italienischen Malerei, in: Gesamtausgabe, Bd. 12: Beiträge zur Kunstgeschichte Italiens, hg. v. Heinrich Wölfflin, Berlin/Leipzig 1930, S. 141-291. 39 Schrade [Anm. 30], S. 95. 40 Schrade [Anm. 30], S. 95. 41 Dazu grundsätzlich: Herbert Grundmann, Der Cappenberger Barbarossakopf und die An­ fänge des Stiftes Cappenberg, Köln/Graz 1959 (Münstersche Forschungen 12). 42 Facsimile und Übersetzung der Urkunde zuletzt bei Horst Appuhn, Beobachtungen und Versuche zum Bildnis Kaiser Friedrichs I. Barbarossa in Cappenberg, Aachener Kunstblät­ ter 44 (1973), S. 186f. 43 So zuerst F. Philippi, Die Cappenberger Porträtbüste Kaiser Friedrichs I., Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 44 (1886), S. 150-161, hier S. 155. 44 So Hermann Fillitz im ersten Band des Katalogs zur Stauferausstellung, Stuttgart 1977, S. 393. 45 Dazu Grundmann [Anm. 41], S. 46 ff. 46 Grundmann [Anm. 41], S. 64.

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Dieter Kartschoke

Die »vertrauten Züge erkennen« —das setzt nun freilich ganz andere Sehgewohn­ heiten und Wahmehmungsformen voraus, als sie uns eigen sind. Ohne die Stiftungs­ notiz käme wohl niemand heutzutage spontan auf die Idee, dem Cappenberger Kopf Porträtähnlichkeit zuzuschreiben. Dennoch ist der Gedanke nicht neu. Er wurde nahegelegt durch den Vergleich mit der ungewöhnlich ausführlichen Beschreibung der Physiognomie des Kaisers durch den Freisinger Propst Rahewin:47 Sein Haar ist blond und oben an der Stirn gekräuselt, die Ohren werden kaum durch darüberfallende Haare verdeckt, da der Barbier aus Rücksicht auf die Würde des Reichs das Haupthaar und den Backenbart durch dauerndes Nachschneiden kürzt. Seine Augen sind scharf und durchdringend, die Nase ist schön, der Bart rötlich, die Lippen sind schmal und nicht durch breite Mundwinkel erweitert, und das ganze Antlitz ist fröhlich und heiter. Die in schöner Ordnung stehende Reihe der Zähne zeigt schneeige Weiße.48

Grundmann diagnostizierte, wie andere vor ihm, die Übereinstimmung dieser Be­ schreibung mit dem Cappenberger Kopf und verstieg sich zu der provozierenden Formulierung, das plastische Bildnis sei »aufmerksam beobachtend um getreue Nachbildung der Wirklichkeit bemüht«.49 Hier schlägt die Emphase der Polemik gegen Harald Keller durch, der jedwede Porträtähnlichkeit des Cappenberger Kopfs als schlechthin undenkbar und unnachvollziehbar abgelehnt hatte: »Kaum mit einer der von Otto von Freising [sic!] hervorgehobenen Eigentümlichkeiten des Kaisers stimmt die Büste überein!« Vielmehr handele es sich um »eine ganz ornamentale, noch gar nicht von Naturbeobachtung genährte Modellierung«.50 Keller hat auch in seinen späteren Publikationen an dieser Auffassung festgehalten. Die Kontroverse ist bis heute nicht beigelegt. Es klingt wie ein verlegener Vorschlag zur Güte, wenn man im Stauferkatalog über das »Bildnis Kaiser Friedrichs I.« belehrt wird: »Außer­ ordentlich ist schließlich der Versuch, das allgemein Typische durch charakteristische Eigenheiten des Antlitzes Friedrich Barbarossas zu einem Porträt des Herrschers zu machen, soweit das überhaupt dem Mittelalter möglich war.«51 Die physiognomische Wahrnehmung ist ein hochkomplexer Vorgang, dessen Ana­ lyse und Beschreibung nicht geringe Mühen bereiten. Innerhalb der Kunstwissen­ schaft hat ihr erst Ernst H. Gombrich die gehörige Aufmerksamkeit gewidmet.52 Das 47 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, übersetzt v. Adolf Schmidt, hg. v. Franz-Josef Schmale, Darmstadt 1965 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17), S. 708f. 48 Flava cesaries, paulolum a vertice frontis crispata, aures vix superiacentibus crinibus operiuntur, tonsore pro reverentia imperii pilos capitis et genarum assidua succisione curtante. Orbes oculorum acuti et perspicaces, nasus venustus, barba subrufa, labra subtilia nec dilati oris angulis ampliata totaque facies leta et hylaris. Dentium series ordinata niveum colorem représentant. 49 Grundmann [Anm. 41], S. 49. 50 Keller, Entstehung des Bildnisses [Anm. 8], S. 236 und Anm. 13. 51 Fillitz [Anm. 44], S. 394. 52 Vgl. außer dem in Anm. 21 genannten Titel noch Emst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, S. 368—397: >Das Experiment der Karikatur^ - Ders., Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Wien 1973. Wieder aufgelegt als suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 237, Frankfurt a. M. 1978, S. 90-107: >Über physiognomische WahmehmungAbbreviatur< der menschlichen Gesamterscheinung,59 zu erkennen und zu identifi­ zieren. Ähnlich hat sich wohl auch Wolfram seiner Vorlage gegenüber im ‘Willehalm’ verhalten. Als Graf Willehalm nach seiner Niederlage in der erbeuteten Rüstung des Heidenkönigs Arofel vor Orange erscheint, erkennt ihn seine Frau Gyburc, die tapfere Verteidigerin von Stadt und Burg, nicht und zwingt ihn, sich durch ent­ sprechende Heldentaten im Kampf mit den Belagerern als den legitimen Landesherm zu beweisen. Erst als dies geschehen ist, zeigt sich Gyburc bereit, ihm das Tor zu öffnen. Zuvor aber will sie sich letzte Sicherheit verschaffen. Sie bittet ihn, den Helm abzunehmen, damit sie ihn erkennen könne: Eine masen die ir empfienget do durh den bähest Leo, die lat mich ob der nasen sehen. so kan ich schiere daz gespehen, ob irz der marcrave sit. (ed. Schröder, vv. 92,1 ff.) 58 Vv. 5880 ff. Et vint a cort si atornez,/ Que reconoistre ne le porent/ Cil, qui a toz jorz veü Vorent, / As armes, que il aporta. 59 Vgl. Keller, Nachleben [Anm. 9], S. 20: »Die Büste hat die griechische Kunst nicht gekannt —erst die Römer haben sie erfunden als eine Abbreviatur der griechischen Statue.«

Der aitt was grd, der ander was chal

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So geschieht, es und jede Täuschung ist ausgeschlossen: die masen si bekante. mit vreuden si in nante: >Willelm ehkurneys, willekomen, werdet Franzeys.
Gesamteindruckphilosophisch< die Selbstverwirk­ lichung des Menschen an, entweder als das Gewordene oder als das, was werden will« (S. 97).

4 Aristoteles, Poetik, Kap. 9,1451ab, hg. u. übers, v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 28—31; vgl. dazu u.a. Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, bes. S. 22 ff.; Wolfgang Rosier, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), S. 283-319, bes. S. 309 ff. (beide mit weiterer Literatur). 5 Peter von Moos, Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan, Beitr. (Tüb.) 98 (1976), S. 93—130, hier S. 96.

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Selbstverständlich hat Aristoteles zwischen dem, was geschehen ist (τα γενόμενα) und dem, was geschehen kann (τα δυνατά) keinen absoluten Gegensatz gesehen, da es »im Falle des wirklichen Geschehens offenkundig ist, daß es möglich ist —es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre«.6 Ja, das Prinzip des Möglichen ist der freien Entfaltung der Fiktionalität in der frühen Neuzeit dann eben in der bekannten Weise zum Verhängnis geworden. Nun hatte der Philosoph den Grundsatz aber doch ein wenig eingeschränkt. Während er im Kap. 9 noch feststellt, »daß das Mög­ liche auch glaubwürdig ist,« räumt er in späteren Kapiteln einen denkbaren Konflikt zwischen den beiden Kategorien und damit der Dichtung »ein gewisses Maß von Eigengesetzlichkeit«7 ein: »Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist« (Kap. 24, ähnlich in Kap. 25). Das Wahrscheinliche öffnet sich also gleichsam ein wenig auf das Irreale hin. Dem­ selben wirkungsästhetischen Standpunkt entspringt aber auch die grundlegende Forderung der Handlungseinheit des epischen und dramatischen Kunstwerks, selbst wenn der Wortlaut der ‘Poetik’ das nicht verrät, da das Mimesisprinzip die »Einheit des Gegenstandes« (Kap. 8) eben gerade nicht verbürgt. Wir kennen aus der früh­ neuzeitlichen Literaturgeschichte die ebenso segensreichen wie verheerenden Folgen auch dieser aristotelischen Forderung zur Genüge und brauchen hier kein weiteres Wort darüber zu verlieren. Festzuhalten bleibt aber der kaum bestreitbare Umstand, daß Aristoteles hiermit eine zwar immer noch nicht absolute, aber doch beträchtliche graduelle Differenz zwischen Epos (bzw. Drama) und Geschichtsschreibung, die der bunten Vielfalt der Fakten auf jeden Fall ein ganz anderes Heimatrecht gewähren darf und soll als jene poetischen Gattungen, klar herausgestellt hat.8 Der christlichen Literaturtheorie von der Spätantike bis zum Hochmittelalter stand dieses gewichtige Votum aber nur in undeutlichen Reflexen zur Verfügung, da die ‘Poetik’ früh in Vergessenheit geraten war, während die aristotelische ‘Rhetorik’ im römischen Schulbetrieb breite Wirkung entfaltete. Hier ging es natürlich nicht um Mimesis, sondern um die Überzeugungskraft des Redners im Widerstreit von Wahr und Falsch. Daß bei der dann erfolgten teilweisen Übertragung rhetorischer Maximen auf die Dichtkunst zahllose Unstimmigkeiten auftauchen mußten, versteht sich von selbst und ist von der Forschung weitgehend registriert worden.9 Für unsere Zwecke muß es genügen, die dem Mittelalter vermittelten simplen Formeln zu zitieren, auf welche die antiken Grammatiker und Rhetoriker das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion gebracht haben. Da ist einmal diejenige, welche mit drei Kategorien arbeitet: 6 Poetik, Kap. 9,1451b; Fuhrmann [Anm. 4], S. 30f. 7 Fuhrmann [Anm. 4], S. 136 (Anm. 13 zu Kap. 24). 8 Ob Aristoteles selbst diese graduelle Differenz zu einer absoluten hypertrophiert hat, wie von Moos und andere Kritiker meinen, bleibe dabei dahingestellt. Die Widerständigkeit historischer Faktenfiille gegen die >Bändigung< im Epos hat sich jedenfalls in der dichteri­ schen Praxis oft genug bewiesen. Wenn, wie von Moos [Anm. 5], S. 97, meint, Lucan »die symbolschaffende Organisation der rohstofflichen Fülle ereignishafter Erscheinungen zu einer allgemein intelligiblen Struktur« gelungen ist, so stellt er damit gerade die Ausnahme dar. 9 Vgl. dazu Knapp, Wahrheit [Anm. 3], S. 584, 594 u. ö; ders., Similitudo, Bd. I, Wien/ Stuttgart 1975 (Philologica Germanica 2), S. 41 ff. (mit umfangreichen Literaturhinweisen).

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Fabula ist (eine Erzählung), die weder wahre ( = wirkliche) noch wahrscheinliche Ereignisse enthält, wie diejenigen sind, welche als Tragödien überliefert sind. Historia ist wirkliches Geschehen, aber eines, das der Erinnerung unserer Zeit entrückt ist. Argumentum ist ein erfundenes Geschehen, das gleichwohl hätte geschehen können wie die Handlungen der Komödien.10

Aus dieser Definition geht, zumindest oberflächlich betrachtet, eine größere Nähe von fabula und argumentum hervor, da sie beide Fiktion sind. Allerdings hat Isidor von Sevilla, der dieser Dreiteilung nahezu kanonische Geltung im Mittelalter ver­ schafft hat, auch hier die Trennungslinie stärker durchgezogen, indem er die fabula ausdrücklich auf Naturwidriges (contra naturam) festlegt.11 Dabei stützt er sich u. a. auf den Vergilkommentator Servius, der seinerseits eine Zweiteilung mit der Gleichsetzung von historia und argumentum bevorzugt: Es gilt zu wissen, daß der Unterschied zwischen fabula und argumentum, d. i. historia, darin besteht, daß fabula etwas ist, was gegen die Natur gesagt ist, mag es nun geschehen oder nicht geschehen sein, wie das über Pasiphae, und historia alles, was der Natur entsprechend gesagt wird, mag es nun geschehen sein oder nicht geschehen sein, wie das über Phaedra.12

Der christliche Bischof Isidor konnte diese Begriffsbestimmung, obwohl sie seiner andernorts gegebenen Definition »Erfunden ist, was wahrscheinlich ist« (fictum quod verisimile est: ‘Differentiae’ I 2,21) entgegenkam, wohl schon deshalb nicht überneh­ men, weil sie mit der Möglichkeit rechnete, auch naturwidrige mythologische Ge­ schehnisse könnten sich wirklich einmal so abgespielt haben. Jedenfalls wird in den folgenden Jahrhunderten die servianische Formel von der isidorischen völlig ins Ab­ seits gedrängt, und dies, obschon Isidor bei seiner Untergliederung der fabula deren eindeutige Definition wiederum verletzt, da er außer den äsopischen Fabeln und den zur Naturdeutung erfundenen Mythen auch solche fabulae hier einreiht, welche bloß zur Unterhaltung (delectandi causa) erfunden sind, wie diejenigen, »welche man im Volk erzählt oder welche Plautus und Terenz gedichtet haben« (orig. 140,3). Der spanische Kirchenvater verläßt hier die gängige rhetorische Tradition mit ihrer Zu­ teilung des argumentum verisimile an die Komödie, eine im Mittelalter durchaus le­ bendige Tradition (vgl. z. B. Bernhard von Utrecht am Ende des 11. Jh.s),13 zugun­ sten des Anschlusses an die neuplatonische Bestimmung der fabula durch den spät­ antiken lateinischen Philologen Macrobius.14

10 Rhetorica ad Herennium (Incerti auctoris de ratione dicendi ad C. Herennium libri IV, hg. V . Friedrich Marx, Leipzig 1894) 1,8,13: Fabula est, quae neque veras neque veri similes continet res, ut eae sunt, quae tragoedis traditae sunt. —Historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota. —Argumentum est ficta res, quae tamen fieri potuit velut argumenta comoediarum. 11 Isidor von Sevilla, Origines sive etymologiae (hg. v. Wallace M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1911), 1,44,5: fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt. 12 Servius, Commentarii in Vergilii carmina (hg. v. Georg Thilo / Hermann Hagen, 3 Bde., Leipzig 1881—1887), Aen. I 235: sciendum est, interfabulam et argumentum, hoc est historiam, hoc interesse, quodfabula est dicta res contra naturam, sive facta sive non facta, ut de Pasiphae, historia est quicquid secundum naturam dicitur, sive factum sive non factum, ut de Phaedra. 13 Commentum in Theodulum (hg. v. Robert B. C. Huygens, Accessus ad auctores —Ber­ nard d’Utrecht - Conrad d’Hirsau, Leiden 1970), S. 127. 14 Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis, hg. v. James Willis, Leipzig 1970.

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Macrobius kennzeichnet in seinem Kommentar zu Ciceros ‘Somnium Scipionis’ alle fabulae als »Ausdruck der Unwahrheit« (falsi professio), unterscheidet aber solche, die bloß zur Unterhaltung geschaffen werden, von solchen, die auch eine moralische Absicht verfolgen. Davon trennen möchte er schließlich die narratio fabulosa, die sich trotz ihrer fiktionalen Ausformung auf die »Festigkeit des Wahren« (veri soliditas) stützt. Damit meint er die alten Mythen, deren sich auch die Philosophen bedienen müssen, wenn sie von geistigen und übernatürlichen Phänomenen sprechen. Den beiden Arten der >echten< fabulae weist er einerseits die Komödien und die Liebes­ romane, andererseits die äsopischen Fabeln zu.15 Isidor stutzt dann dieses apologeti­ sche Element, stellt die fabula ad naturam rerum ficta mit der ad morum finem relata auf eine Ebene und beläßt beiden sogar die Gattungsgemeinschaft mit der fabula, die jeder tieferen Bedeutung entbehrt (Is. orig. 1,40). Weitet Isidor hier auf der einen Seite die fabula in den Bereich des argumentum hinein aus, so öffnet er auf der anderen Seite auch der so rigoros eingegrenzten Historie das Tor zur Dichtung: Die Aufgabe des Dichters aber liegt darin, das, was wahrhaft geschehen ist, mittels bild­ hafter Darstellungen unter Einsatz gewisser Schmuckmittel in andere Gestalt überzufiihren und umzuwandeln.16

Das stammt nahezu wörtlich aus den ‘Divinae institutiones’ (I 11,24) des römischen Kirchenvaters Lactantius, der auf diese Weise die dichterische Freiheit gegenüber dem Vorwurf der Lüge verteidigt, aber dabei unversehens den historischen Kem aller poetischen Inhalte festzuschreiben scheint.17 Bei Servius klingt dasselbe keines­ wegs apologetisch, sondern durchaus normativ: 15 Ebd., 1,2,7-13: Fabulae, quarum nomen indicatfalsi professionem, aut tantum conciliandae auribus voluptatis, aut adhortationis quoque in bonam frugem gratia repertae sunt, auditum mulcent vel comoediae, quales Menander eiusve imitatores agendas dederunt, vel argumenta fictis casibus ama­ torum referta, quibus vel multum se Arbiter exercuit vel Apuleium non numquam lusisse miramur, hoc totum fabularum genus, quod solas aurium delicias profitetur, e sacrario suo in nutricum cunas sapientiae tractatus eliminat, ex his autem quae ad quondam virtutum speciem intellectum legentis hortanturfit secunda discretio, in quibusdam enim et argumentum ex ficto locatur et per mendacia ipse relationis ordo contexitur, ut sunt illae Aesopi fabulae elegantia fictionis illustres, at in aliis argu­ mentum quidemfundatur veri soliditate sed haec ipsa veritas per quaedam composita et ficta profertur, et hoc iam vocatur narratio fabulosa, non fabula, ut sunt cerimoniarum sacra, ut Hesiodi et Orphei quae de deorum progenie actuve narrantur, ut mystica Pythagoreorum sensa referuntur, ergo ex hac secunda divisione quam diximus, a philosophiae libris prior species, quae concepta defalso per falsum narratur, aliena est. sequens in aliam rursum discretionem scissa dividitur: nam cum veritas argu­ mento subest solaque fit narratio fabulosa, non unus reperitur modus per figmentum vera referendi, aut enim contextio narrationis per turpia et indigna numinibus ac monstro similia componitur ut di adulteri, Saturnus pudenda Caeli patris abscidens et ipse rursus a filio regni potito in vincla coniectus, quod genus totum philosophi nescire malunt —aut sacrarum rerum notio sub pio figmentorum velamine honestis et tecta rebus et vestita nominibus enuntiatur: et hoc est solum figmenti genus quod cautio de divinis rebus philosophantis admittit, cum igitur nullam disputationi pariat iniuriam vel Er index vel somnians Africanus, sed rerum sacrarum enuntiatio integra sui dignitate his sit tecta nominibus, accusator tandem edoctus a fabulis fabulosa secernere conquiescat, sciendum est tamen non in omnem disputionem philosophos admittere fabulosa vel licita; sed his uti solent cum vel de anima vel de aeriis aetheriisve potestatibus vel de ceteris dis loquuntur. 16 Is. orig. [Anm. 11], 8,7,9: officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant. 17 Lactantius, Divinae institutiones (hg. v. Samuel Brandt / Georg Laubmann, Opera omnia,

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An dieser Stelle berührt er (= Vergil) vorübergehend die Geschichte, welche er gemäß dem Gesetz der Dichtkunst unverhüllt nicht darstellen kann . . . Daß, wie wir gesagt haben, er durch die Dichtkunst gehindert wird, die Geschichte unverhüllt darzustellen, steht fest. Lucanus hat es somit nicht verdient, zu den Dichtem gezählt zu werden, da er offenkundig Historie und keine Dichtung geschaffen hat.18

Bei Servius ist es also das wirkliche Geschehen, das als solches - wie bei Aristoteles nicht Gegenstand der Dichtung sein, aber ihr selbstverständlich zugrunde liegen kann. Bei Isidor wertet dagegen die historische Erzählsubstanz kraft der Divinität aller —letztlich von Gott gelenkten —Geschichte eine epische Dichtung wesentlich auf, so daß für ihn und die meisten mittelalterlichen Theoretiker der poeta historio­ graphus den poeta purus bei weitem übertrifft, wie Peter von Moos überzeugend dargestellt hat.19 Zum Anwalt Vergils macht sich im 12. Jahrhundert ein Kommentator aus der Schule von Chartres, wohl nicht Bernardus Silvestris, wie zumeist angenommen, vielleicht Bernhard von Chartres oder ein anderer.2021In diesem Aeneis-Kommentar wird die Vorgangsweise des antiken Epikers so beschrieben: Er beabsichtigt also, das Schicksal des Aeneas und die Beschwernisse der anderen gleicher­ weise herumirrenden Trojaner darzustellen; dies aber nicht durchgehend gemäß der hi­ storischen Wahrheit, die Dares Phrygius beschrieben hat; vielmehr erhöht er die Taten und die Flucht des Aeneas allenthalben mit Erfindungen, um die Huld des Augustus zu verdie­ —21 nen.

Hierauf wird Vergils Verfahren des ordo artificialis charakterisiert.22 Es folgt die Ein­ teilung der Dichter in satirici, comedi und historici nach den horazischen Kategorien der utilitas und der delectatio. Das Ziel der Satiriker sei nur der (moralische) Nutzen, das der Komödienschreiber nur die Unterhaltung, das der historici schließlich eine Kombination von beiden, die nunmehr an der ‘Aeneis’ demonstriert wird. Sowohl Form wie Inhalt können den Leser ergötzen. Am Stil kann er sich aber auch selbst schulen und zugleich die Taten der Protagonisten als exempla guten und schlechten Verhaltens zu Richtlinien des eigenen Lebens machen.23 Bd. 1, Wien 1890 [CSEL 19]) 1,11,23—24: non ergo res ipsas gestas finxerunt poetae, quod si facerent, essent uanissimi, sed rebus gestis addiderunt quendam colorem, non enim obtrectantes illa dicebant, sed ornare cupientes, hinc homines decipiuntur, maxime quod dum haec omnia ficta esse a poetis arbitrantur, colunt quod ignorant, nesciunt enim qui sit poeticae licentiae modus, quousque progredi fingendo liceat, cum officium poetae in eo sit, ut ea quae uere gesta sunt in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conuersa traducat. 18 Serv. Aen. I 382: hoc loco per transitum tangit historiam, quam per legem artis poeticae aperte non potest ponere . . . Quod autem diximus eum poetica arte prohiberi, ne aperte ponat historiam, certum est. Lucanus namque ideo in numero poetarum esse non meruit, quia videtur historiam composuisse, non poema. 19 Von Moos [Anm. 5]. 20 The commentary on the first six books o f the Aeneid o f Vergil commonly attributed to Bemardus Silvestris, hg. v. Julian Ward u. Elizabeth Frances Jones, Lincoln/London 1977. 21 Ebd., 1,8—11: Intendit itaque casus Enee aliorumque Troianorum errantium labores evolvere atque hoc non usque secundum historie veritatem, quod Frigius describit, sed ubique ut Augusti Cesaris gratiam lucraretur, Enee facta fugamque ficmentis extollit. 22 Ebd., 1,15-2,9. 23 Ebd., 2,11—3,3: Poetarum quidam scribunt causa utilitatis ut satirici, quidam causa delectationis ut

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Fallen schon diese Angaben, die Vergil als poeta definieren, etwas sprunghaft aus, so folgt nun noch ohne logische Verbindung die Charakterisierung Vergils als philo­ sophus,24 hatte doch Macrobius der ‘Aeneis’ sowohl poeticae figmentum als auch philo­ sophiae veritatem zugebilligt.25 In diesem Sinne versteht der Kommentator das Epos (im Gefolge des Fulgentius) als naturphilosophische und anthropologische Allegorie, die den moralischen Aspekt durchaus einschließt, aber übersteigt. Vergil erscheint somit zugleich als poeta purus, als poeta historiographus und als poeta philosophus,26 Dieses dreifache Ideal schwebt dann noch genauso den italienischen Frühhuma­ nisten bei ihrer heftigen Polemik gegen die scholastischen Verächter der Dichtkunst vor. Nach kräftigen Vorstößen Dante Alighieris (1265—1321)27 und Albertino Mus­ satos (1261—1329)28 sammelte Francesco Petrarca (1304—1374)29 im großen Stile Argumente zum Ruhme der Poesie und trug viele davon in seiner Rede vor, die er anläßlich seiner Krönung zum magnus poeta et historicus (!) im April 1341 hielt.30 Eine nochmals erweiterte Zusammenfassung dieser Rechtfertigungsgründe lieferte schließlich Giovanni Boccaccio (1313—1375)31 namentlich in seinem Traktat zum comedi, quidam causa utriusque ut historici; unde Oratius »Aut prodesse volunt aut delectare poete aut simul et iocunda et ydonea dicere vite.« Et in hoc opere ex ornatu verborum et figura orationis et ex variis casibus et operibus hominum enarrandis habetur quedam delectatio. Si quis vero hec omnia studeat imitari, maximam scribendi peritiam consequitur; maxima etiam exempla et excogitationes aggrediendi honesta et fugiendi illicita per ea que narrantur habentur. Itaque est lectoris gemina utilitas: una scribendi peritia que habetur ex imitatione, altera vero recte agendi prudentia que capitur exemplorum exhortatione. Verbi gratia: ex laboribus Enee tolerantie exemplum habemus, ex affectu eius in Anchisem et Ascanium pietatis, ex veneratione quam diis exibebat et ex oraculis que poscebat, ex sacrificiis que offerebat, ex votis et precibus quas fundebat quodammodo ad religionem invitamur. Per immoderatum Didonis amorem ab appetitu illicitorum revocamur. 24 Ebd., 3,8—11 Nunc vero hec eadem circa philosophicam veritatem videamus. Scribit ergo in quantum est philosophus humane vite naturam. Modus agendi talis est: in integumento describit quid agat vel quid paciatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus. 25 Macr. somn. [Anm. 14] 1,9,8; danach Bern. comm. [Anm. 13] 1,1-3. 26 Zur Intention des Vergilkommentators vgl. Earl G. Schreiber / Thomas E. Maresca, Com­ mentary on the first six books o f Virgil’s Aeneid by Bernardus Silvestris, Lincoln/London 1979, Einleitung; Christoph Huber, Höfischer Roman ais Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere, ZfdA 115 (1986), S. 79-100, hier S. 89 ff.; Fritz Peter Knapp, Integumentum und äventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere, Literaturwiss. Jahrbuch NF 28 (1987), S. 299-307. 27 Vgl. u. a. August Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 33 ff; Concetta C. Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics, 1250-1500, London/Toronto 1981, S. 56 ff. 28 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 69 ff; Greenfield [Anm. 27], S. 79 ff 29 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 72 ff.; Greenfield [Anm. 27], S. 95 ff 30 Francesco Petrarca, Collatio laureationis, hg. v. Carlo Godi, Italia Medioevale e Umanistica 13 (1970), S. 1—27. Zur Bestimmung der Aufgabe des Dichters zitiert Petrarca hier zuerst (8,4) Lactanz [s. o. Anm. 17], dann (8,5) Macrobius in somn. Scip. 2,10,11 (über eine imago fabulosa Homers), um dann den allgemeinen Grundsatz aufzustellen, poetas sub velamine figmentorum, nunc fisica, nunc moralia, nunc hystorias comprehendisse. Zwischen der Aufgabe eines Dichters und der eines Historikers oder Philosophen bestehe derselbe Unterschied wie zwischen dem bewölkten und dem klaren Himmel. Der Gegenstand bleibe derselbe, stelle sich aber für die Erfassung durch den Beschauer verschieden dar (9,7). 31 Vgl. u. a. Buck [Anm. 27], S. 77 ff.; ders., Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den ‘Genealogie deorum’, in: Boccaccio in Europe, hg. v. H. Toumoy, Leuven 1977, S. 53-65; Greenfield [Anm. 27], S. 110 ff.

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Lobe Dantes (von 1360) und im 14. Buch von ‘De genealogiis deorum gentilium’ (von 1350/60).32 In der italienischen Schrift über Leben und Werk Dantes33 rühmt Boccaccio den großen poeta vates, er habe schon früh erkannt, »daß die Dichtkunst­ werke nicht eitle oder einfache fabulae oder mirabilia sind, wie viele Toren meinen, sondern im Innern ganz süße Früchte der historischen oder philosophischen Wahr­ heiten verborgen haben.«34 In der Abhandlung über die Götter liefert er eine ganze Gattungstheorie. Er unterscheidet vier Arten der fabula: Deren erste entbehrt überhaupt der Wahrheit an der Oberfläche, wie z. B. wenn wir un­ vernünftige Tiere oder auch unbelebte Wesen im Gespräch miteinander vorfuhren. Und ihr bedeutendster Autor war Asop, ein griechischer Mann, verehrungswürdig wegen seiner Altertümlichkeit und seiner Würde. Obwohl sich ihrer nicht nur Bürger, sondern auch Bauern bedienen —, und das nicht selten —verschmähte es auch Aristoteles, ein Mann von himmlischem Genie und Führer der peripatetischen Philosophen, nicht, bisweilen seinen Büchern solche [Fabeln] einzufügen. Die zweite Art aber mischt an der Oberfläche bis­ weilen Fabulöses der Wahrheit bei, wie wenn wir sagen wollten, die Töchter des Minyas, welche webten und die Orgien des Bacchus verschmähten, seien in Fledermäuse verwandelt worden [vgl. Ovid, ‘Metamorphosen’ 4,1—54 u. 389-415]. Von Anfang an haben aber die ältesten Dichter, die Sorge trugen, Göttliches und Menschliches gleicherweise mit Erfin­ dungen zu verbergen, diese (fabulae) erfunden, und die erhabensten unter den nachfolgen­ den Dichtem haben sie zum Besseren emporgeführt, obwohl einige Komödienschreiber sie verdarben, da sie sich mehr um den Beifall des lasziven Volkes als um Ehrenhaftigkeit kümmerten. Die dritte Art aber ist eher der historia als der fabula ähnlich. Auch ihrer haben sich auf die eine oder andere Art berühmte Dichter bedient. Denn die Dichter heroischer Epen meinen, wie sehr sie auch eine historia zu schreiben scheinen, wie Vergil, wenn er schreibt, daß Aeneas vom Meeressturm umhergetrieben wurde, oder Homer, daß Odysseus am SchifFsmast angebunden war, um nicht vom Sirenengesang angelockt zu werden, doch bei weitem anderes unter der Verhüllung, als gezeigt wird. Zudem bedienten sich die ehrenhafteren Komödienschreiber, wie Plautus und Terenz, auch dieser Art des Dichtens, ohne mehr darunter zu verstehen, als der Buchstabe aussagt, aber in der Absicht, mit ihrer Kunst Sitten und Worte verschiedener Menschen zu beschreiben und mitunter die Leser zu belehren und zu warnen. Und wenn auch diese Geschehnisse nicht wirklich stattgefunden haben sollten, konnten oder könnten sie dies, da sie der allgemeinen Erfahrung entsprechen. Die vierte Art besitzt freilich gar nichts an Wahrheit an der Oberfläche oder im Verbor­ genen, da sie eine Erfindung schwachsinniger Vetteln ist.35 32 Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium libri, hg. v. Vincenzo Romano, 2 Bde., Bari 1951; Buch XIV auch hg. in der Sammelausgabe v. Pier G. Ricci [Anm. 33], nach der ich hier zitiere. 33 Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante, in: Giovanni Boccaccio, Opere in versi, Corbaccio, Trattatello in laude di Dante, prose latine, epistole, hg. v. Pier G. Ricci, Mailand/Neapel 1965 (La letteratura italiana 9), S. 565-650. 34 Ebd., S. 574: le poetiche opere non essere vane o semplici favole o maraviglie, come molti stolti estimano, ma sotto sé dolcissimi frutti di verita istoriografe o filosofiche avere nascosti. 35 Genealogie [Anm. 32/33], 14,9 (S. 958-961): quarum prima omnino veritate caret in cortice, u t­ puta - quando animalia bruta aut etiam insensata inter se loquentia inducimus. Et autor harum permaximus fuit Esopus, vir grecus antiquitate ac etiam gravitate venerabilis. Et dato his non solum civile vulgus, sed etiam agrestes utantur, ut plurimum, non fastidivit aliquando suis libris inserere Aristotiles, celestis ingenii vir et perypatheticorum princeps phylosophorum. Secunda autem species in superficie non nunquam veritati fabulosa conmiscet, ut si dicamus Minei filias nentes spernentesque orgia Bachi in vespertiliones versas. Has autem a primevo vetustissimi invenere poete, quibus cure fuit divina et humana pariter palliare figmentis; et qui poetarum sublimiores secuti sunt, in melius evexere, posito non nulli comici depravaverint eas, magis de assensu lascivientis vulgi quam de

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Boccaccio vermeidet es, exakte Termini zu prägen. Wollten wir zur besseren Ver­ ständigung welche einflihren, so böten sich etwa fabula aesopica, mythologica, historica, vana an. Während es Boccaccio natürlich nicht einfällt, die letztgenannten lAmmenmärchen< zu verteidigen, sucht er die drei anderen Arten der >echten< poetischen fabulae bereits in der Bibel nachzuweisen und damit unangreifbar zu machen. Der fabula aesopica stellt er - wie bereits Augustinus und Isidorus - die Fabel im Buch Richter 9,8-15 an die Seite,36 der fabula mythologica »beinahe das ganze heilige Buch des Alten Testaments«, insbesondere die Visionen der Propheten, der fabula historica die Gleich­ nisse (parabolae) Jesu, welche von einigen wegen ihrer exemplarischen Verwendungs­ weise exempla genannt werden. Nichtsdestoweniger verabsäumt es der Verfasser des ‘Decameron’ auch nicht, noch auf den Unterhaltungs wert der fabulae zu verweisen, die Entspannung den Mächtigen und Regierenden, Trost den Beladenen und Anreiz den Studierenden zu bringen vermögen.37 Im Kapitel 13 verteidigt Boccaccio die Dichter nochmals eindringlich gegen den Vorwurf der Lügenhaftigkeit. Wie üblich geht er dabei von Augustins Schrift ‘De mendacio’38 aus. Uns interessiert hier nur diejenige Art der Fiktion, welche aufgrund ihrer Nähe zur >Wahrheit< (d. h. Wirklichkeit) der Täuschungsabsicht verdächtigt werden könnte, nämlich die fabula historica. Diese ist nach Boccaccio »im uralten Urteil aller Völker frei vom Makel der Lüge, da es nach altem Brauche einem jeden gestattet ist, sie zum Zwecke eines Exempels zu benützen, in dem weder die einfache Wahrheit gefragt noch die Lüge verboten ist.«39 Es folgt ein Rückbezug auf die Aufgabe des Dichters nach Lactanz und Isidor. Als Hauptbeispiel einer solchen >historischen< fabula in der klassischen Antike greift Boccaccio die ‘Aeneis’ auf und gibt vier Gründe an, warum Vergil Dido nicht entsprechend der historischen Überliefehonestate curantes. Species vero tercia potius hystorie quam fabule similis est. Hac aliter et aliter usi poete celebres sunt. Nam heroyci, quantumcunque videantur hystoriam scribere, ut Virgilius, dum Eneam tempestate maris agitatum scribit, et Omerus alligatum malo navis Ulixem, ne a syrenarum cantu traheretur, longe tamen aliud sub velamine sentiunt quam monstretur. Comici insuper hones­ tiores, ut Plautus atque Terrentius, hac confabulandi specie etiam usi sunt, nil aliud prêter quod lictera sonat intelligentes, volentes tamen arte sua diversorum hominum mores et verba describere, et interim lectores docere et cautos facere. Et hec si de facto non fuerint, cum comunia sint, esse potuere vel possent. Quarta quidem species nil penitus in superficie nec in abscondito veritatis habet, cum sit delirantium vetularum inventio. Hauptquellen sind Macrobius und Isidor (s. ο). 36 Is. orig. 1,40,6; Augustinus, Contra mendacium (hg. v. Joseph Zycha, Wien [u. a.] 1900 [CSEL 41], S. 467—528) 13,28 (S. 508, Z. 22 bis S. 509, Z. 12): in quo genere fingendi humana etiam dicta uel facta inrationalibus animantibus et rebus sensu carentibus homines addiderunt, ut eius modi fictis narrationibus, sed ueracibus significationibus quod uellent commendatius intimarent, nec apud auctores tantum saecularium litterarum, ut apud Horatium, mus loquitur muri et mustela uulpecule, ut per narrationem fictam ad id, quod agitur, uerax significatio referatur: unde et Aesopi tales fabulas ad eum finem relatas nullus tam ineruditus fuit, qui putaret appellanda mendacia, sed in litteris quoque sacris, sicut in libro Iudicum, ligna sibi regem requirunt et loquuntur ad oleam et ad ficum et ad uitem et ad rubum, quod totum utique fingitur, ut ad rem, quae intenditur, ficta quidem narratione, non mendaci tamen, sed ueraci significatione ueniatur. 37 Genealogie [Anm. 32/33], 14,19 (S. 960-965). 38 Augustinus, De mendacio (Ausg. [Anm. 36], S. 411—466) 14,25. 39 [Fabula historica] antiquissimo omnium nationum consensu a labe mendacii inmunis est, cum sit consuetudine veteri concessum ea quis uti posse ratione exempli, in quo simplex non exquiritur veritas, nec prohibetur mendacium (14,13, S. 986).

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rung, sondern nur in vager Anlehnung an diese mit dichterischer Freiheit darge­ stellt habe: (1.) den ordo artificialis, den Vergil —im Gegensatz zu dem historiographus Lucan —gebraucht; (2.) die Verkörperung des Ideals der begehrenswerten Frau in Dido, um den tiefen Zwiespalt des Helden zwischen heroischer Pflicht und erotischer Neigung zu demonstrieren; (3.) die Verherrlichung des julischen Hauses durch das Lob der Standhaftigkeit des Aeneas in diesem Zwiespalt und (4.) die Verkündigung der Größe Roms in den (vergeblichen) Flüchen der sterbenden Dido (ebd., Schluß des 13. Kapitels). Es ist ebenso unübersehbar wie überraschend, daß der große Humanist des Tre­ cento über den hochmittelalterlichen Standpunkt in keinem wesentlichen Punkt hin­ ausgelangt ist, der sich natürlich nicht nur an Bernhards (?) Aeneiskommentar, son­ dern auch anderen grammatischen, rhetorischen und poetologischen Texten des 12. Jahrhunderts ablesen läßt.40 Neu ist im Grunde nur der Versuch, durchgehend die >echteRehabilitierung< des Servius gegenüber Isidor ist dem Humanisten der Chartrenser Neuplatonist des Hochmittel­ alters stillschweigend vorausgegangen. Beide begeben sich aber damit natürlich auch der Möglichkeit, den eben doch bestehenden Unterschied zwischen tatsächlichem und bloß möglichem Geschehen für ihr poetologisches System fruchtbar zu machen. Unsere Verwunderung darüber steigt noch, wenn wir sehen, daß die Rezeption der ‘Poetik’ des Aristoteles vorerst keineswegs in der Lage war, dieses Manko zu beseitigen. Die im Jahre 1278 von dem großen Aristoteles-Übersetzer Wilhelm von Moerbeke angefertigte lateinische Version der ‘Poetik’43 blieb nämlich aus bisher nicht einleuchtend geklärter Ursache unbeachtet, während sich die lateinische Fas­ sung einer arabischen Bearbeitung der ‘Poetik’ durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreute. Diese Bearbeitung, teils Übersetzung, teils Paraphrase, teils Kommentar, vorgenommen ca. 1175 von dem berühmten islamischen Philosophen Averroës (Ibn Ruschd), übersetzt 1256 in Toledo von Hermannus Alemannus, nach Ausweis der erhaltenen Handschriften über ganz Europa verbreitet,44 bot jedoch die entscheiden­ de, zu Anfang zitierte Stelle in völlig veränderter Form: 40 Vgl. Knapp, Wahrheit [Anm. 3], passim. 41 Dante Alighieri, Convivio 2,1 (Tutte le opere, hg. v. Luigi Blasucci, Florenz 1981, S. 123f.); Brief an Cangrande della Scala = Epist. XIII, 7-9 (ebd., S. 343Γ). Vgl. Buck [Anm. 27], S. 48f.; Greenfield [Anm. 27], S. 63 ff. 42 Vgl. Joachim Knape, >Historie< in Mittelalter und früher Neuzeit, Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia 10), S. 67 ff, 153 u. ö. (mit reicher Literatur). 43 Aristoteles Latinus, Bd. XXXIII: De arte poetica, hg. v. Lorenzo Minio-Paluello, Brüssel/ Paris 1968. Von Wilhelms Übersetzung haben sich nur zwei Codices erhalten (Eton, Bibi. Coli. 129, ca. 1300; Toledo, Bibi. Capit. 47.10, ca. 1280). Andere Rezeptionszeugnisse der Übersetzung sind bisher auch keine aufgetaucht. 44 Ausgabe ebd. Von dieser Fassung hat der Herausgeber 24 Handschriften in den Biblio­ theken Europas von Spanien über Italien, Frankreich, England, Deutschland bis Polen

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DIXIT. Et patet etiam ex hits que dicta sunt de intentione sermonum poeticorum, quoniam representationes que ßunt per figmenta mendosa adinventitia non sunt de opere poete. Et sunt ea que nominantur proverbia et exempla, ut ea que sunt in libro Esopi et consimilibus fabulosis conscrip­ tionibus. Ideo poete non pertinet loqui nisi in rebus que sunt aut quas possibile est esse; talia quippe sunt que appetenda sunt aut refutanda aut quarum conveniens est assimilatio secundum quod dictum est in capitulis representationum. Compositorum vero fabularum et proverbiorum opus non est opus poetarum, quamvis huiusmodi proverbio et fabulas adinventicias componant sermone metrico; quam­ vis enim in metro communicent, tamen alterius eorum completur operatio intenta per fabulas etiam si sit absque metro; et est instructio quedam prudentialis que acquiritur per tales adinventicias fabulas. Poeta vero non pertingit ad complementum propositi sui per ymaginativas commotiones nisi per metrum. Fictor ergo proverbiorum adinventiciorum et fabularum adinvenit seu fingit individua que penitus non habent existentiam in re, et ponit eis nomina. Poete vero ponunt nomina rebus existentibus, et fortassis loquuntur in universalibus; ideoque ars poetrie propinquior est philosophie quam sit ars adinventicia proverbiorum. Et hoc est quod ipse dixit secundum consuetudinem ipsorum in poetria que imitativa videtur nature et apud gentes naturaliter se habentesfi

Soweit sich diesem typischen Übersetzerlatein ein Sinn entnehmen läßt, sind die aristotelischen Positionen vertauscht. Vom Werk des Dichters ausgeschlossen wird nicht die Historie, sondern die reine Fiktion. Diese hat, heißt es da, in Form von proverbia und exempla, wie sie bei Asop und in vergleichbaren Fabeleien vorkom-4 und Rußland nachgewiesen. Italienische Humanisten wie deren Gegner haben offenbar gleicherweise argumentatives Rüstzeug aus dieser Übersetzung entnommen (vgl. Green­ field [Anm. 27], S. 88f., 132), doch muß sie auch in einigen Schulen des deutschen Sprachraums, namentlich der jungen Universitäten, zur Verfügung gestanden haben. 4S Arist. lat. XXXIII [Anm. 43], S. 51 f. — Die Vorlage der übersetzten Stelle findet sich in: Aristoteles, De poetica. E Graeco transtulit commentis auxit ac critica editione antiquae Arabicae versionis et Alfarabi, Avicennae Averroisque commentariorum ’Abdurrahman Badawi, Kairo 1953, S. 213f. Der arabische Text ist dem Sinn nach in der lat. Wiedergabe großteils erhalten geblieben. Diese Erkenntnis verdanke ich der freundlichen Hilfe von Herrn Dr. Leopold Helmuth vom Institut für Germanistik der Universität Wien, wofür ihm herzlich gedankt sei. Hier sein Übersetzungsvorschlag für die Stelle aus der arabischen Vorlage: Er sagte: Und es ist auch klar, nach dem, was über den Zweck (die Absicht) der poetischen Reden gesagt wurde, daß die Nachahmung mittels erfundener, lügnerischer Sachen nicht zur Tätigkeit des Dichters gehört. Und sie sind es, die amtäl (= Gleichnisse, Parabeln, Fabeln, Sprichwörter etc.) und Geschichten genannt werden, wie das, was im Buch ‘Kalila wa-Dimna’ steht. Der Dichter hingegen spricht von existierenden oder (zumindest) mög­ lichen Sachen, denn diese sind es, die vermieden oder angestrebt werden und mit denen Vergleiche angestellt werden (?), entsprechend dem, was in den Abschnitten über die Nach­ ahmung gesagt wurde. Und was die, welche amtäl und Geschichten verfertigen, betrifft, so ist ihre Tätigkeit nicht die Tätigkeit von Dichtern, selbst wenn sie die erfundenen amtäl und Erzählungen in Versen verfertigen. Wenn auch beide sich des Metrums bedienen, so voll­ bringt doch der eine seine Arbeit mit Hilfe (lügnerischer) Erfindung, und auch wenn diese nicht metrisch ist, zieht der Verstand doch aus den erfundenen Geschichten Nutzen. Der Dichter freilich erreicht das, was er sich in seiner Vorstellung vorgenommen hat, nur durch das Metrum völlig. Der Verfertiger erfundener amtäl und Geschichten jedoch erfindet Per­ sonen, die eigentlich keine Existenz haben und legt ihnen Namen zu. Der Dichter hingegen gibt existierenden Dingen Namen. Und manchmal haben sie (= die Dichter) über allge­ meine Dinge gesprochen, und deshalb war das Dichten der Philosophie näher als das Ver­ fertigen erfundener amtäl. —Das hat er gemäß ihrer Gewohnheit in der (über die?) Dich­ tung gesagt, die bei den natürlichen Völkern einer natürlichen Sache nahekommt (nahe­ kommen soll?).

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men, ihren Platz in der Weisheitslehre (instructio quedam prudentialis). Ein solcher Erfinder (fictor) erfindet »Individuen, die gar kein reales Sein besitzen und gibt ihnen Namen.« Das meint sprechende Tiere und dergleichen, während Aristoteles gerade die historischen Personen im Auge gehabt hatte, die als solche nicht in die Dichtung gehörten. Aus dem von Aristoteles gegen das Faktisch-Wirkliche abgehobenen Wahrscheinlich-Möglichen ist nun aber das Real-Natürliche geworden. Wahre Dichter verwenden nur res existentes in re (bzw. in natura, wie es weiter unten heißt). Damit ist grundsätzlich dieselbe Abgrenzung des Fiktiven erreicht wie bei Servius: historia und verisimile fallen in eins zusammen, auch wenn noch der hilflose Zusatz »und vielleicht sprechen sie (die Dichter) von allgemeinen (Wesen)« folgt, um der aristotelischen Forderung Genüge zu tun. Etliche Humanisten haben dieses Buch nachweislich gekannt, während die ‘Poe­ tik’ selbst weder im Original noch in lateinischer Übersetzung vor dem Ende des 15. Jahrhunderts in ihren Gesichtskreis trat. Boccaccio dürfte, wenngleich er sich der Nachahmung griechischer Dichtung rühmt,44*6 dem griechischen Werk in keiner wie immer gearteten Fassung begegnet sein. Hätte er die von Averroës und Hermann eingesehen, so hätte er sich aber ohnehin in seinem Standpunkt nur bestätigt fühlen können. Dieser war, wie wir gesehen haben, bereits in der Renaissance des 12. Jahrhun­ derts vertreten worden, der hier wie in vielen anderen Fragen die Renaissance des 14. Jahrhunderts die Hand reichte. Davon gelöst hat sich hingegen ausgerechnet ein Scholastiker, der steirische Abt Engelbert von Admont (um 1250-1331) in seinem ‘Speculum virtutum’. In diesem ca. 1309 (also etwa gleichzeitig mit Dantes ‘Con­ vivio’!) abgefaßten Fürstenspiegel dienen aristotelische Schriften, insbesondere die ‘Nikomachische Ethik’, als Hauptquelle. Im Buch X stellt Engelbert im Rahmen einer Konversationstheorie die Mittel der gefälligen Rede nach der ‘Rhetorik’ des Aristoteles und der pseudo-ciceronianischen ‘Rhetorica ad Herennium’ dar. Auf diese Weise liefert er unter der Hand auch eine Poetik der (klein)epischen Gattungen, worüber ich an anderer Stelle ausführlich gehandelt habe.47 Hier nur das Nötigste. Die historia definiert Engelbert als »die geordnete Erzählung eines vergangenen Geschehens, so wie es geschehen ist«,48 und setzt sie gleich mit dem exemplum, das in der Rede als Beweismittel verwendet wird. Die parabola ist nach Engelbert »nicht die Erzählung einer Tat, die von bestimmten Personen ausgeführt worden ist, sondern die von irgendwelchen Personen ausgeführt werden konnte. Daher sind die para­ bolae, obwohl sie an sich nicht wahr sind, soweit es die Erzählung einer ausgeführten Tat betrifft, doch wahr, soweit es die Bedeutung eines Geschehens für ein damit vergleichbares vergangenes oder zukünftiges Geschehen betrifft.«49 Als Beispiele wer­ 44 Vgl. Buck [Anm. 27], S. 85f. 47 Fritz Peter Knapp, Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. v. Walter Haug / Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 1-22. 46 Engelbert von Admont, Speculum virtutum (hg. v. Bernhard Pez, Regensburg 1724 [Bibliotheca ascetica III], S. 1—498), X ,17 (S. 343): Historia .. . est rei gestae, prout gesta est, ordinata narratio. 49 Ebd., X, 19 (S. 348): parabola non est narratio rei gestae a certis personis, sed quae geri potuit a

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den u. a. die Gleichnisse Jesu und eine allegorische Erzählung aus den ‘Gesta Ro­ manorum’ angeführt. Völlig unmißverständlich kommen hier trotz einer gewissen quellenbedingten Formulierungsnot der bildhafte und der unhistorische Charakter der parabola zum Ausdruck. Diese nimmt damit eine Mittelstellung zwischen historia und fabula, ein, welche als »eine erfundene und ausgearbeitete Rede nicht über Er­ eignisse, die geschehen, sondern die fingiert sind,«50 gekennzeichnet wird. Die drei Typen dieser Gattung bestimmt Engelbert zwar nach Isidor, doch wertet er die rein unterhaltende fabula gegenüber dem naturphilosophischen Mythos und der moral­ philosophischen Fabel keineswegs ab. Vielmehr erklärt er die aus jenen Geschichten zu gewinnende delectatio so: Deshalb aber ergötzen die fabulae, da sie aus Wunderbarem und Ungewohntem zusam­ mengestellt sind. Es ist aber ergötzlich, was das Denkvermögen ausweitet und aus Unge­ wohntem und Fremdem, jedoch mit Ähnlichem und vorher Unbemerktem, auf das Ver­ ständnis von Gewohntem und Vertrautem hinfiihrt.51

Das aus der ‘Metaphysik’ des Aristoteles gewonnene admiratio-Prinzip, das weiter unten im Text ausdrücklich als solches benannt wird,52 vermag hier die Eigengesetz­ lichkeit dichterischen Erzählens auf eine ganz unkomplizierte, nichtsdestoweniger einleuchtendere Art zu begründen, als es Aristoteles in der ‘Poetik’ selbst gelungen war. Keine Richtlinie des Möglichen schottet mehr das Irreale ab. Die Sagen des Volkes - Engelbert nennt romanische und deutsche Heldensagen, die zu seiner Zeit lebendig waren —brauchen daher auch nicht mehr aus den Kreisen der Gebildeten verbannt zu werden, sondern dürfen hier ihren legitimen Platz behaupten. Engelbert stand ja auch nicht wie die Humanisten unter dem Zwang, den hohen, theologiegleichen Rang der Dichtung zu behaupten. Dazu hätte er sich auch gar nicht bereitgefunden. Wie andere Scholastiker sprach er ihr nur einen recht niedri­ gen Stellenwert in der Hierarchie der Wissenschaften zu, den jedoch die Geschichts­ schreibung mit ihr teilte, hatte doch Aristoteles seinen Wissenschaftsbegriff, der ihn zur Abwertung der Geschichtsschreibung veranlaßte, in mehreren Schriften begrün­ det und der Scholastik vermacht. Nach Aussagen der ‘Metaphysik’ und der ‘Zweiten Analytika’ gelangt die Erfahrung nur zur Kenntnis des Einzelnen, zu einem Wissen um das bloße Daß, die Wissenschaft hingegen zur Kenntnis des Allgemeinen, zu einem Wissen um das Warum.53 In der Hochscholastik galt das Axiom scientia non est quibuscunque personis. Unde parabolae, licet non sint in se verae quantum ad narrationem rei gestae, sunt tamen verae quantum ad significationem rei ad earum similitudinem gestae vel gerendae. 50 Ebd., X, 18 (S. 345): Fabula vero est sermo de rebus non factis, sed fictis inventus et compositus. 51 Ebd., X, 18 (S. 346): Ideo autem delectant fabulae, quia componuntur ex miris et insolitis. Talia autem sunt delectabilia, quia dilatant mentem, et deducunt ad intelligenda solita et consueta ex insolitis et inconsuetis, sed cum similibus et prius non animadversis. Diese außergewöhnliche Aussage hat nichts mit der von Renaissancepoetikern öfter aufgestellten, durch Über­ tragung aus der Bibelexegese auf die Poetik gewonnenen Behauptung zu tun, daß gerade der zur Durchdringung der poetischen Umhüllung nötige Aufwand den Genuß an der Dichtung erhöhe (vgl. z. B. Petrarca, Collatio [Anm. 30], 9,8 Eo tamen dulcior fit poesis, quo laboriosius quesita veritas magis atque magis inventa dulcescit). 52 Ebd., X, 18 (S. 347). 53 Vgl. Renate Zoepfel, Historia und Geschichte bei Aristoteles, Heidelberg 1975 (Abh. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Jg. 1975, 2. Abh.), S. 18 ff.

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singularium uneingeschränkt.54 Dadurch war man sogar genötigt, die Theologie, die sich ja auf die in der Heiligen Schrift überlieferten Einzelereignisse stützte, vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu schützen. So schreibt etwa Thomas von Aquin: Singularien werden in der heiligen Wissenschaft überliefert, nicht weil über sie in erster Linie gehandelt werden soll, sondern sie werden eingeführt sowohl als Vorbild für die Lebensführung, wie in den moralischen Wissenschaften, als auch zur Begründung der Au­ torität der Männer, durch welche die göttliche Offenbarung an uns ergangen ist, worauf sich die Heilige Schrift oder die Theologie gründet.55

Gehören also sogar die Singularien der Bibel sozusagen nur in den Vorhof der Wissenschaft, so umso mehr die von der profanen Geschichtsschreibung überliefer­ ten Einzelereignisse. Daß die historia zur Erkenntnis von Universalien vorstoßen könnte, traute ihr die Scholastik ebensowenig zu wie Aristoteles. Als Hilfsmittel für >echte< Wissenschaften wie Rhetorik und Ethik behauptete die historia aber natürlich ihren Platz - zusammen mit der Dichtung. Als solche fungieren sie beide denn auch in Engelberts ‘Speculum virtutum’. Hier kann ihre Behandlung von theologischen Implikationen fast ganz frei bleiben, findet dann aber auch fast zwangsläufig in der poetologischen Debatte keine weitere Beachtung mehr, obwohl das ‘Speculum vir­ tutum’ in immerhin 14 mittelalterlichen Handschriften erhalten ist (darunter aller­ dings keiner in einer italienischen Bibliothek).56578 Wenn in der Mitte des 14. Jahrhunderts Boccaccio in seinem epochalen Erzähl­ werk ‘II decameron’ dessen hundert Novellen als fabulae, parabolae oder historiae (ο favole o parabole o istorie che dire le vogliamo)sl bezeichnet, so ist die Übereinstimmung mit Engelberts Terminologie gewiß zufällig. Die Begriffe begegnen ja auch in ‘De genealogiis deorum gentilium’, werden hier allerdings in einer Weise festgelegt, die dem Anliegen des ‘Decameron’ wenig entgegenkommt. Mit Engelberts aristoteli­ schem Instrumentarium täte sich der Autor wesentlich leichter. So zieht er sich einfach auf die horazische Formel von delectatio und utilitas (diletto ... e utile consigliof8 zurück und gesteht offen ein, vom Parnaß der hohen Dichtkunst herabge­ stiegen zu sein.59 Wie ernst das gemeint ist, bleibe dahingestellt, und dasselbe gilt auch für des Erzählers Verteidigung gegenüber jenen, »welche behaupten, diese Ge­

54 Vgl. Arno Seifert, Historia im Mittelalter, Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 226­ 284, hier S. 269 ff. 55 Thomas Aquinas, Summa theologica I, Madrid 1951, Nachdruck 1978 (Biblioteca de Au­ tores Cristianos 77), q. 1, a. 2 ad 2: singularia traduntur in sacra doctrina, non quia de eis principaliter tractetur; sed introducuntur tum in exemplum vitae, sicut in scientiis moralibus; tum etiam ad declarandum auctoritatem virorum per quos ad nos relevatio divina processit, super quam fundatur sacra Scriptura seu doctrina. 56 Vgl. George B. Fowler, Manuscripts o f Engelbert o f Admont, Osiris 11 (1954), S. 455-485; ders., Additional Notes on Manuscripts o f Engelbert o f Admont, Recherches de Théologie ancienne et médiévale 28 (1961), S. 269-282. 57 Giovanni Boccaccio, Il decamerone (hg. v. Enrico Bianchi, 2 Bde., Florenz 1976), Proemio, Bd. I, S. 20. 58 Ebd. 59 Ebd., Giornata quarta, Introduzione, Bd. 1, S. 361.

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schichten hätten sich nicht auf die erzählte Weise zugetragen«.60 In jedem Falle läßt sich daraus entnehmen, daß der toposartige Vorwurf so aktuell ist wie eh und je. Zumindest in der poetischen Theorie - deren genaue Bestimmung freilich erst gestattet, ihren Einfluß auf die Praxis zu ermessen —bleibt im Frühhumanismus die mittelalterliche Forderung nach veritas historica vel philosophica — dies Boccaccios eigene Formel (s. o.) —unangefochten, und dabei steht die historische Wahrheit der philosophischen nicht nach. Es ist eben kein bloßes Kuriosum, daß Petrarca, Boccac­ cios bewunderter älterer Freund, ausgerechnet in seinem historischen Epos ‘Africa’ den Gipfelpunkt seines Schaffens erblickt, mit dem er die einst mit Daedalus nach Ita­ lien gekommenen, aber wieder entflohenen Musen hierher zurückzurufen glaubt.61 Nur eine intensive Aristotelesrezeption hätte vermutlich eine andere Sicht der Dinge erlaubt, doch sie war den führenden Literaturtheoretikern der Zeit durch ihre antischolastische Haltung verbaut. Diese mochte auch Schuld daran tragen, daß sie sich nicht viel mehr als ihre antipoetischen Gegner um die ‘Poetik’ kümmerten. Engelbert von Admont hätte diese dagegen gewiß aufgegriffen, hätte er sie gekannt. Ob er sie in derselben, eher einseitigen Weise wie dann die Poetiker der Hoch­ renaissance verstanden hätte, ist keineswegs gewiß. Daß diese, »was die Bindung des Fiktionalen an das Wahrscheinliche anbelangt, noch einmal hinter die mittelalterliche Position zurückgefallen« sind,62 wie Walter Haug mit Recht konstatiert, ist vermut­ lich nicht allein auf den Wortlaut der ‘Poetik’, sondern auch auf das Fortwirken der hier skizzierten platonisch-christlichen Literaturtheorie zurückzuführen. Die Kennt­ nis einer insgesamt stärker aristotelisch geprägten Position wie der Engelberts hätte da ein etwas anderes Ergebnis zeitigen können. Aber die Worte dieses einsamen Rufers, am falschen Ort an die falsche Adresse gerichtet, verhallten ungehört.

60 Ebd., S. 362: Quegli che queste cose cost non essere state dicono, avrei molto caro che essi recassero gli originali, li quali, se a quel che io scrivo discordanti fossero, giusta direi la loro riprensione, e d’amendar me stesso m’ingegnerei; ma infino che altro che parole non apparisce, io gli lascero con la loro opinione, seguitando la mia, di loro dicendo quello ehe essi di me dicono. 61 Vgl. Buck [Anm. 27], S. 75. 62 Haug, Literaturtheorie [Anm. 1], S. 106.

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Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion

Während bis in die frühen 80er Jahre die Erforschung der gesellschaftsgeschicht­ lichen Einbindung der mittelalterlichen Literatur im Zentrum eines kulturhistori­ schen Forschungsinteresses stand und der Hinweis auf textbestimmende überhisto­ rische Themen, Verhaltensweisen und Einstellungen mit dem Verdikt einer Suche nach sogenannten anthropologischen Konstanten belegt wurde, hat sich die Diskus­ sion seit einigen Jahren grundlegend geändert. Nun bestimmen nicht mehr die gro­ ßen zeitspezifischen gesellschaftsgeschichtlichen Problembereiche der mittelalter­ lichen Dichtung die literarhistorische Argumentation, etwa die Frage nach dem so­ zialen Status der Autoren und ihres Publikums, die Auseinandersetzung um ministerialisches bzw. adeliges Bewußtsein, die sog. Territorialisierung und ihre Bedeu­ tung für die Entstehung einer höfischen Literatur,1 sondern eher Fragen nach der literarischen Verarbeitung genereller Lebenssituationen, unbewußter Verhaltens­ weisen und unartikulierter Einstellungen: die literarisch vermittelten Vorstellungen von Geschlechterrollen und Weiblichkeit, literarische Utopien von Eltem-KindBeziehungen und Familienbindungen, literarische Bilder der Angst und Abgren­ zung, Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen, Phantasmen der Sexualität und Aggression, der freien Liebe und gesellschaftlichen Normenüberschreitung.2 1 Vgl. etwa die Gemeinschaftsarbeiten und Sammelbände: Dieter Richter (Hg.), Literatur im Feudalismus, Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 5); Winfried Frey u. a. (Hgg.), Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, 3 Bde., Opladen 1979-1981; Horst Wenzel (Hg.), Adelsherrschaft und Literatur, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1980 (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 6). 2 Vgl. etwa die neueren Sammelbände: Xcnja von Ertzdorff / Marianne Wynn (Hgg.), Liebe —Ehe —Ehebruch in der Literatur des Mittelalters. Vorträge des Symposiums vom 13. bis 16. Juni 1983 am Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur der Justus Liebig-Universität Gießen, Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 58); Danielle Buschinger / André Crépin (Hgg.), Amour, mariage et transgressions au moyen âge. Actes du colloque des 24, 25, 26 et 27 mars 1983, Université de Picardie, Centre d’Etudes Mé­ diévales, Göppingen 1984 (GAG 420); Ulrich Müller (Hg.), Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göp­ pingen 1986 (GAG 440); Jeffrey Ashcroft u.a. (Hgg.), Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985, Tübingen 1987; Maria E. Müller (Hg.), Ehe­ glück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. und 16. Jh.s, Weinheim/Basel 1988 (Ergebnisse der Frauenforschung 14) und neuerdings HansJürgen Bachorski (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spät­ mittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991 (Literatur —Imagination - Realität 1).

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Diese Verlagerung der mediävistischen Forschungsdiskussion von einer mehr oder weniger konkreten sozialgeschichtlichen Entzifferung der literarischen Texte auf die Rekonstruktion der ihnen zugrundeliegenden und sie implizit bestimmenden epochenspezifischen, aber eher langfristigen, weil vorbewußten affektiven Disposi­ tionen der Menschen gegenüber Grundsituationen und -problemen des Lebens er­ folgte in engem Kontakt mit einem speziellen Zweig der Geschichtswissenschaft: der in Frankreich seit 1945 erfolgreichen Nouvelle Histoire, die sich programmatisch von den singulären Ereignissen der politischen Fakten- und intellektuellen bzw. li­ terarischen Geistesgeschichte löst und zunächst unter den Schlagworten histoire des mentalités, neuerdings eher anthropologie bzw. ethnologie historique eine histoire totale der alltäglichen Gewohnheiten, der kollektiven Verhaltensweisen und Lebenshaltun­ gen sozialer Gruppen wie auch der gruppenübergreifenden, vorbewußten und überdauernden Vorstellungsgeflechte und Einstellungen der Menschen anstrebt.3 Bestimmend für dieses anspruchsvolle Konzept einer histoire totale ist eine dezi­ dierte Interdisziplinarität: vornehmlich aufgrund der erweiterten Materialbasis, da neben den traditionellen historischen Quellen auch archäologische Funde, Alltags­ gegenstände, Werke der Bildenden Kunst und literarischen Fiktion und damit auch die entsprechenden Disziplinen der Archäologie, der Volkskunde, der Kunst-, Sprach- und Literaturwissenschaft einbezogen werden; aber auch in methodischer Hinsicht, da eine Erforschung der kollektiven, langfristigen und unbewußten Orien­ tierungen und Verhaltensweisen notwendigerweise eine Annäherung an Fragestel­ lungen, Themenbereiche und Arbeitstechniken der Psychologie, Psychoanalyse und Ethnologie bzw. Anthropologie impliziert. Da es dieser historischen Richtung we­ niger um die Einzelpersönlichkeit als die kollektiven Dispositionen und gruppen­ spezifischen Vorstellungsgeflechte geht und mit den attitudes mentales nicht, zumin­ dest nicht nur situationsspezifische Emotionen und Reaktionen, sondern eher ge­ nerelle Haltungen und Reaktionsmechanismen der Menschen angesichts grund­ legender Lebenssituationen gemeint sind, sind die Methoden und Forschungsergeb­ nisse der Psychologie und Psychoanalyse nur sehr zurückhaltend, bestenfalls im Sin­ ne einer vergleichbaren Suche nach dem verborgenen Unformulierbaren oder im Hinblick auf punktuelle Verhaltenserklärungen, aber nie grundsätzlich und auf brei­ ter Basis rezipiert worden. Um so intensiver hat sich die Nouvelle Histoire jedoch um einen Dialog mit der Ethnologie bemüht, von deren Erfahrungen bei der Er­ forschung oraler Gesellschaften in ihrer sozialen Organisation, körpersprachlichen 3 Zur Programmatik dieser historischen Schule vgl. aus der Vielzahl der Darstellungen und Sammelbände: Claudia Honegger u. a. (Hgg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vor­ schläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977 (edition suhrkamp 814); Michael Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die Annales, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 110); Robert Deutsch, »La Nouvelle Histoire« - die Geschichte eines Erfolgs, HZ 233 (1981), S. 107-129; Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987 (Wagenbachs Taschenbücherei 152) und vor allem die Selbstdarstellung: La Nouvelle Histoire. Sous la direction de Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revel, Paris 1978 (Les encyclopédies du savoir moderne). Teilübersetzung: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1990.

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Kommunikation und Mythenbildung sich das neue mediävistische Interesse an den kollektiven Einstellungen, archaischen Verhaltensweisen und magisch-rituellen Prak­ tiken entscheidende methodische und sachliche Einsichten verspricht. Die wichtig­ sten >Gesprächspartner< waren Marcel Mauss mit seinen Arbeiten zum >totalen so­ zialen Phänomene zur Anthropologie von Gabentausch und Körpertechniken und Claude Lévi-Strauss mit seinen weitausgreifenden Untersuchungen der elementaren Strukturen von Verwandtschaft und Familie, die - auch nach den Selbstaussagen der französischen Historiker —ganz entscheidend die historisch-anthropologisch orien­ tierten Studien der Nouvelle Histoire mitgeprägt haben.45 Am explizitesten und produktivsten haben in den letzten 20 Jahren die im Um­ kreis von Jacques Le Goff und Georges Duby entstandenen Arbeiten die Möglich­ keiten einer an ethnologischen Fragestellungen und Arbeitsmethoden orientierten historischen Anthropologie des Mittelalters erprobt und dabei in zahlreichen Detail­ untersuchungen die Konturen eines >anderen< Mittelalters mit seinen alltäglichen Gewohnheiten, archaisch-paganen Glaubenspraktiken, vorbewußten Einstellungen und kollektiven Reaktionen der Menschen herausgearbeitet. Allerdings auf metho­ disch und thematisch sehr unterschiedliche Weise: Jacques Le Goff verfolgt seit seinen im Jahre 1977 unter dem programmatischen Titel >Pour un autre Moyen Age< zu­ sammengefaßten Studien bis zu der nicht weniger programmatisch gemeinten Auf­ satzsammlung >L’imaginaire médiéval· von 1985s konsequent und in den verschie­ densten thematischen Konstellationen dieses >anderevolkstümlichen< Vorstellungsbereichen, seinen magischen Praktiken und geheimen Kulten. Georges Duby hingegen entwirft - unter dem vieldiskutierten Stichwort histoire des mentalités —Perspektiven einer historischen Re­ konstruktion und Durchdringung des komplexen Zusammenhangs und Wechsel­ spiels von politischem Handeln, gesellschaftlichen Verhaltensweisen, expliziten Ideo­ logemen und affektiven Dispositionen, die er in programmatischen Studien zu be­ rühmten Szenarien der faktischen wie intellektuellen Ereignisgeschichte des Mittel­ alters entfaltet: dem Gesellschaftsmodell der drei Ordnungen, der Schlacht von Bou­ vines, den aufsehenerregenden Eheskandalen französischer Königs- und Fürsten­ häuser, der Ritterbiographie Wilhelm Marschalls.6 Das Ergebnis dieser im weitesten Sinne anthropologisch orientierten Bemühun­ gen der mediävistischen Nouvelle Histoire ist eine deutliche Zentrierung des histori­ schen Interesses auf bestimmte Themenbereiche und Fragestellungen. Dabei zeichnen sich drei große Schwerpunkte ab: die Geschichte des Körpers, der familialen Or­ ganisation des Lebens und der Volkskultur, die in einem weitgespannten, die Alltäg­ lichkeit der Gewohnheiten, aber auch die Spezifität ideologischer Konzepte umfas­ senden Umkreis erforscht werden.7 Da diese Themenkreise auch in der literar­ historischen Diskussion der letzten Jahre eine zunehmende Rolle spielen, lassen sich an ihnen die literarhistorische Bedeutung, die möglichen Perspektiven und metho­ dischen Probleme dieses neuen historisch-anthropologischen Forschungsinteresses er­ örtern. Im Umkreis des Themenbereichs Körper/Körperlichkeit hat die Nouvelle Hi­ stoire entsprechend ihrer Nähe zur Historischen Demographie bislang die intensiv­ sten Forschungsaktivitäten entfaltet, die ein thematisch weit ausdifferenziertes Feld abdecken: mit ganz unterschiedlichen Arbeiten zur Ernährung, zu den Eßgewohn­ heiten, Hungersnöten und Mortalitätsraten mittelalterlicher Bevölkerungsgruppen, zu ihrem Verhalten angesichts der grundlegenden Lebenssituationen von Geburt, Krankheit und Tod, zu den Ausdruckssystemen von Gestikulation, Gebärdensprache und körperlicher Repräsentation, zu dem Wandel von Körpergefühl und Sexual­ verhalten, zur Rolle kirchlicher Sexualitätsverbote und gesellschaftlicher Körper­ tabus im Mittelalter. Dieser thematischen Vielfalt entspricht auch in methodischer Hinsicht ein breites Spektrum: von demographischen Untersuchungen zu den Verbindungen von Klimaschwankungen, Anbaumethoden, Bevölkerungswachstum und Eßgewohnheiten,8 über zivilisationstheoretische Überlegungen zu Veränderun­ 6 Georges Duby, Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme (1978). Dt.: Die drei Ord­ nungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a. M. 1981; ders., Le dimanche de Bou­ vines. 27 juillet 1214 (1973). Dt.: Der Sonntag von Bouvines. 27. Juli 1214, Berlin 1988; ders., Le chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale (1981). Dt.: Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, Frankfurt a. M. 1988 (suhrkamp taschenbuch 735); ders., Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde (1984). Dt.: Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter, Frankfurt a. M. 1986. 7 Zu diesen Themenschwerpunkten einer historischen Anthropologie vgl. die Darstellungen von Burguière (Anm. 4], Le Goff, L’Histoire et l’homme quotidien [Anm. 4] und Erbe, Historisch-anthropologische Fragestellungen [Anm. 4], 8 Vgl. vor allem die bei Burguière [Anm. 4], S. 75—80, aufgefuhrten Arbeiten aus dem U m ­ kreis der Annales.

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gen des Verhaltens im Bereich von körperlicher Hygiene, Körperkontakten und Schamschwellen,9 mentalitätshistorische Untersuchungen der sich wandelnden Ein­ stellungen zu Sexualität, Liebe und Ehe101und diskursanalytische Überlegungen zum quantitativen und qualitativen Wandel des Sprechens über Sexualität und Körper­ lichkeit" bis zu dem Versuch einer an Marcel Mauss’ Arbeit über die Körpertech­ niken anknüpfenden systematischen Erschließung der verschiedenen Repräsenta­ tionssysteme des Körperlichen, der differenzierten Zeichensysteme von Gestikulation und Körpersprache, auf die sich neuerdings eine spezielle Arbeitsgruppe der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, die Groupe d’anthropologie historique de l’Occident médiéval, konzentriert.12 Für die Literaturgeschichte ist diese Erforschung der Geschichte des Körpers von unterschiedlicher Relevanz. Während die demographisch orientierten Arbeiten zu den materiellen Lebensbedingungen und -Situationen im Mittelalter dem Literar­ historiker zwar wertvolle Informationen bieten, aber nur sehr vermittelt entschei­ dende Probleme des Textverständnisses betreffen, zielt die historische Diskussion um Schamgrenzen, Sexualität und Körpersprachc auf einen zentralen Themenbereich der mittelalterlichen Literatur: die literarische Signifikanz des Körpers, die lange Zeit in der literarhistorischen Diskussion wenig beachtet worden ist, in den letzten Jahren jedoch —in den Fragekomplexen Sexualität, weiblicher Körper und Repräsenta­ tionssysteme des Körpers - ganz neue Dimensionen gewonnen hat. 9 Grundlegend ist hier natürlich die 1939 erstmals publizierte Arbeit von Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Frankfurt a. M. 21976, die in Frankreich erst im Jahre 1973 unter dem Titel >La civilisation des moeurs< erschienen ist, dann - vornehmlich im Umkreis der Annales vehement rezipiert und in die verschiedensten Richtungen weitergefuhrt wurde. Ergebnis dieses zivilisationstheoretischen Interesses ist u. a. die Arbeit von Georges Vigarello, Le propre et le sale (1985). Dt.: Wasser und Seife, Puder und Parfum. Geschichte der Körper­ hygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt a. M ./N ew York 1988. 10 Vgl. etwa Jean-Louis Flandrin, L’Eglise et le contrôle des naissances, Paris 1970 (Questions d’Histoire 23); ders., Mariage tardif et vie sexuelle: Discussions et hypothèses de recherche, Annales E. S. C. 27 (1972), S. 1351-78; ders., Repression and Change in the Sexual Life o f Young People in Medieval and Early Modern Times, Journal o f Family History 2 (1977), S. 196-210; ders., Le sexe et l’Occident. Evolution des attitudes et comportements, Paris 1981 (Univers Historique); Duby, Ritter, Frau und Priester [Anm. 6]; Philippe Aries / André Béjin (Hgg.), Sexualités occidentales (1982). Dt.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt a. M. 1984; Jean-Louis Flandrin, Un temps pour embrasser. Aux origines de la morale sexuelle occidentale (VI'—XI* siècle), Paris 1983; L’amour et la sexualité, Paris 1984 (L’Hi­ stoire 63); Danielle Jacquart / Claude Thomasset, Sexualité et savoir médical au moyen âge, Paris 1985 (Les chemins de l’Histoire); Jacques Rossiaud, La prostitution médiévale (1988). Dt.: Dame Venus. Prostitution im Mittelalter, München 1989; Georges Duby, Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, Berlin 1989. 11 Vor allem Michel Foucault, Histoire de la sexualité (1976—1984). Dt.: Sexualität und Wahr­ heit, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1977—1986, und in Anlehnung an Foucault Marie-Claude Derouet-Besson, >Inter duos scopulosNiederschrift< ist ein den sechs Sitzungen folgendes, in Großkapiteln und zahlreichen Unterabteilungen, in Sentenzen und Kommentaren gegliedertes Lehr­ buch von >Frauenwissen< aus dem Umkreis von Ehe, Familie und Haus, ein Kon­ glomerat aus Sprichwörtern, Lebens- und Verhaltensregeln, Liebeszaubern, Wetter­ prognostik und Rezepten, in einem merkwürdigen Nebeneinander von doku­ mentarischer Wiedergabe, ironischer Zuspitzung und komischer Verkehrung. Seit Robert Muchembled66 ist dieser Text in die historische Diskussion um die Dicho­ tomie culture des élites —culture populaire eingebunden und gilt als eine Fundgrube populären Wissens, als ein - wie Madeleine Jeay in einer eindrucksvollen Studie67 zu 64 So liest Le GofF, Melusine [Anm. 58], die wirtschaftliche Expansion und das soziale Auf­ stiegsstreben der Ritter des 12. Jahrhunderts als die gesellschaftlichen Antriebskräfte der Ausbildung der >feudalen< Melusinengeschichte vornehmlich an den Texten des 14. Jahr­ hunderts ab (S. 163f.); ähnlich auch Claude Lecouteux, Zur Entstehung der Melusinensage, ZfdPh 98 (1979), S. 73-84; ders., Mélusine et le chevalier au Cygne, Paris 1982, S. 45 ff. 65 Les Evangiles des Quenouilles, Edition critique, introduction et notes par Madeleine Jeay, Paris/Montréal 1985. 66 Muchembled, Kultur des Volks [Anm. 50], S. 69 ff., der allerdings keinen Blick fur die komisch-parodistische Schicht des Textes hat, sowie ders., Le corps, la culture populaire et la culture des élites en France (XVe—XVIII' siècle), in: Arthur E. Imhof (Hg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. L’homme et son corps dans l’histoire moderne. Vorträge eines internationalen Colloquiums. Berlin 1.-3.12.1981, Berlin 1983 (Berliner Historische Studien 9), S. 141-153. 67 Madeleine Jeay, Savoir faire. Une analyse des croyances des >Evangiles des Quenouilles
Evangeliums< alter Frauen eingebundenen Systems populären Wissens durch einen gebildeten Autor des 15. Jahrhunderts. Und das ist eine für die literarhistorische Volkskultur-Diskussion typische Konstellation, die sich auch an an­ deren Texten erweisen ließe.68 Dieser Forschungsüberblick über Themen und Fragestellungen einer von historisch­ anthropologischen Interessen geleiteten literarhistorischen Mediävistik bietet kein ausgewogenes Bild von ihren Möglichkeiten. Durch seine Orientierung an den the­ matischen und methodischen Vorgaben der französischen Nouvelle Histoire sind bestimmte Schwerpunkte einer historischen Anthropologie —etwa der Themenkreis Familie—Verwandtschaft oder Volkskultur - Elitekultur —überrepräsentiert, während andere, nicht weniger zentrale Themenbereiche einer historisch-anthropologischen Interpretation, Überlegungen etwa zum Menschenbild, zu den Individualitätsvor­ stellungen, zur Geschlechterthematik literarischer Texte, unberücksichtigt geblieben sind. Aber selbst dieser eingeschränkte und unvollständige Forschungsbericht ver­ deutlicht die vielfältigen Möglichkeiten einer historisch-anthropologisch fundierten Literaturbetrachtung, die Gefahren wie Chancen, die sich der Literaturgeschichte beim Ausgreifen auf Themen und Methoden einer historischen Anthropologie er­ geben. Die Probleme sind offensichtlich: Wie im Falle der sozialgeschichtlichen Inter­ pretation droht die Literatur mit ihren spezifischen Informationen zum puren Dokument zu werden: etwa für die sich wandelnden mentalen und affektiven Dis­ positionen der mittelalterlichen Menschen, ihre Einstellungen und Reaktionen an­ gesichts grundlegender Lebenssituationen, für die verhaltensprägende Wirkung ele­ mentarer Verwandtschaftsstrukturen, die subliterarische Existenz und Wirkungs­ mächtigkeit paganer Glaubensvorstellungen und geheimer Alltagspraktiken. Und im Gegenzug gegen die immer wieder inkriminierte unvermittelte sozialhistorische An­ bindung literarischer Texte an konkrete soziale Konflikte, spezifische gesellschaftliche (XVe siècle), Montreal 1982 (Le moyen français 10); ähnlich Anne Paupert, Les fileuses et le clerc. Une étude des Evangiles des Quenouilles, Paris/Genève 1950 (Bibliothèque du XVI siècle 52) und Werner Röcke, Zur Literarisierung populären Wissens im deutschen ‘Rokken-Evangelium’, in: Bachorski, Ordnung und Lust [Anm. 2], S. 447—475, am Beispiel der 1537 in Köln gedruckten, bislang noch unedierten deutschen Übersetzung. 68 Werner Röcke verweist in seiner Anm. 67 genannten Studie zum ‘Rocken-Evangelium’ auf Hans Vintlers ‘Blumen der Tugend’ und Johann Hartliebs ‘Buch der verpoten Kunst’, S. 455.

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Ursula Peters

Erfahrungen und aktuelle Legitimationsbedürfnisse von Autor wie Publikum besteht bei einer historisch-anthropologischen Lektüre der Texte die Gefahr, daß diese aus ihrem historisch-gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang herausgelöst und abgehoben von ihrer literarischen Konstruktion —zu überhistorischen Gliederungs­ marken in der longue durée sich langsam verändernder Haltungen und Einstellungen werden. Dennoch überwiegen für die Literaturgeschichte die Vorteile einer Anknüpfung an historisch-anthropologische Themen und Fragestellungen bei weitem. Denn sie bietet die Möglichkeit, die aporetischen Diskussionen um die Vermittlung von ge­ sellschaftlichem Leben und literarischer Produktion zu überwinden, die immer wie­ der beklagte Kluft zwischen ökonomisch-sozialen Strukturen der Gesellschaft und den Einzeltexten im Rückgriff auf den Bereich elementarer Lebenssituationen und Kollektiverfahrung, auf die vorbewußten Haltungen, affektiven Dispositionen und ideologischen Ausdrucksformen der Menschen zu überbrücken und sich damit um die zentralen, von der sozialgeschichtlichen Interpretation aufgeworfenen, aber nur unzureichend beantworteten Fragen der >Funktion< mittelalterlicher Literatur zu be­ mühen. Nun allerdings nicht mehr ausschließlich unter den Stichworten soziale Sinnangebote, gesellschaftliche Selbstdeutung, ständisches Bewußtsein oder gesell­ schaftliche Legitimierung, sondern erweitert um den historisch-anthropologischen Bereich der literarischen Thematisierung und Verarbeitung bestimmter Grund- und Grenzerfahrungen im thematischen Umfeld von Körperkommunikation und Sexua­ lität, Individualitätsproblematik, Liebe, Ehe, Krankheit, Jugend, Alter und Tod, Ver­ wandtschaftssysteme und Glaubensvorstellungen. Und das sind Themen, die zumin­ dest bei bestimmten literarischen Texten und Typen ins Zentrum der literarischen Darstellung fuhren und deren literarhistorische Erforschung neue Einsichten in die Ausgestaltung, Wirkungsintention und Funktionsbestimmung mittelalterlicher Tex­ te versprechen.

Aleida Assmann

Vae Soli Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen Neuzeit

1.

Melancholie und Konversation (Cesare Ripa)

Im Jahre 1593 erschien in Rom das letzte einer erfolgreichen Serie von Emblem­ Handbüchern, in denen die Weisheit der Antike gesammelt und für gelehrte und künstlerische Praxis aufbereitet war. Es handelt sich um Cesare Ripas ‘Iconologia’, ein Werk, das keinen Anspruch auf Originalität erhebt, uns dafür aber einen zuver­ lässigen Eindruck von dem gehobenen Allgemeinwissen der Zeit vermittelt. Die Sammlung besteht aus einer Serie durchnumerierter und alphabetisch angeordneter Allegorien, wobei jedem Bild eine erläuternde Beschreibung beigefügt ist. Greifen wir zwei von ihnen heraus.

Abb. 1: ‘Malinconico’ aus: Iconologia di C. Ripa, Siena 1613

Abb. 2: ‘Conversazione’ aus: Dalla piu che novissima Iconologia di C. Ripa, amplia dal Sig. Cav. G. Zarantino Castelli, Padua 1630

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Aleida Assmann

Das erste ist die Nr. 59, ‘Malenconico’ oder Melancholie. Die Beischrift dechiffriert die zeichenhaften Attribute, die der Gestalt zugeordnet sind: der Kubus unter dem Fuß konnotiert Beständigkeit, das offene Buch in der Linken Studium, der ver­ bundene Mund Schweigen, der Geldsack Geiz. Der Sperling auf dem Haupte steht für Einsamkeit, da dieser Vogel dafür bekannt ist, daß er jeden Umgang mit Art­ genossen meidet.1 Stellen wir dieser Figur eine weitere gegenüber. Es ist die Nr. 70 mit dem Titel ‘Conversatione’. Dargestellt ist ein fröhlicher junger Mann von gewinnendem Äu­ ßeren mit Lorbeerkranz auf dem Haupt. In der Rechten hält er einen Stab, um den sich Myrte und Granatapfel schlingen zum Zeichen »gegenseitiger Verbundenheit in Konversation«; gekrönt wird der Stab durch eine Zunge, die auf Gesprächsbereit­ schaft hindeutet. In ihrer Linken hält die Gestalt ein Schriftband mit der Aufschrift VAE SOLI bzw. in der englischen Fassung spiegelschriftlich: WOE TO HIM T H A T IS A[LONE].2

Wir dürfen vermuten, daß diese beiden Gestalten komplementär aufeinander be­ zogen sind und ein Begriffspaar abbilden. Melancholie ist die Negation der Kon­ versation, Konversation die Therapie der Melancholie. Unsere These ist, daß mit diesem Begriffspaar in der Renaissance der Komplex Einsamkeit—Geselligkeit the­ matisiert wird. Überspringt man diese Begrifflichkeit, dann bleiben bestimmte Zu­ sammenhänge und für dieses Thema einschlägige Quellen verborgen.3 Diese These ist gewagt angesichts der weitausgreifenden und hochspezialisierten Melancholie­ Literatur, die sich in medizinische, ikonographische, literarische und soziologische Studien auffächert und deren eindrucksvolle Resultate hier auch nicht in Frage ge­ stellt werden. Es soll im folgenden lediglich der Versuch unternommen werden, einen bislang übersehenen begrifflichen Kontext der Melancholie-Diskussion im 16. Jahrhundert zu rekonstruieren. Das Motto VAE SOLI wollen wir als Leitsatz der Konversationskultur reklamie­ ren. Was es einmal mit dem Begriff >Konversation< auf sich hatte, ist heute so gut wie vergessen. Im Wörterbuch philosophischer Grundbegriffe findet sich kein Eintrag zu 1 Der Sperling als Vogel der Melancholie stammt aus dem Psalm: »Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache« (Ps. 102,7-8). Walter Magaß, der mich auf den Psalm hingewiesen hat, fugt hinzu, daß Schlaflosigkeit und Klagen zu den bestimmenden Tätig­ keiten des weltlosen Anachoreten gehören. Die Assoziation von Wiedehopf und Melan­ cholie findet sich auch bei dem Paracelsisten Oswald Crollius, Von den Signatum oder Wahren und lebendigen Anatomia der großen und kleinen Welt, Frankfurt 1629, S. 53. Eine enge Parallele zu dieser Melancholie-Darstellung findet sich bei Peacham (1612, S. 126). 2 Das Motto geht auf einen Bibelvers zurück (Prediger 4,9—10; für den Hinweis danke ich Walter Magaß): Zweie sind besser dran als nur einer; Denn fallen sie, so hilft der eine dem andern auf. Doch wehe dem Einzelnen, wenn er fällt und kein andrer da ist, ihm aufzuhelfen! 3 Das gilt auch für das brillante Melancholie-Buch von W olf Lepenies (1981), der den wech­ selnden sozialgeschichtlichen Horizont des Melancholie-Syndroms sehr genau rekonstruiert hat, dabei aber gänzlich ohne den komplementären Schlüssel-Begriff der >Konversation< auskommt.

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diesem Lemma, obwohl damit einmal ein philosophisches Programm verbunden gewesen ist. Konversation hat heute ihre Würde verloren; sie wird von denjenigen gemacht, die sich nichts zu sagen haben. Für Kant, der den Begriff noch kannte, schwang weniger der bürgerliche Affekt gegen aristokratische Umgangsformen als das Element der Unverbindlichkeit mit. Er definierte Konversation als »zweckfreies Spiel der Gedanken und der Einbildungskraft«.4 Im >Konversations-Lexikon< ist noch etwas vom Ideal polyhistorischer Bildung zu spüren. Impliziert ist ein Wissen, das in Umlauf gebracht wird und dem zwischenmenschlichen Umgang zugute kommt, im Gegensatz zu einem Wissen, das auf das Abstellgleis pedantischer Gelehrsamkeit gerät. Um an den ursprünglichen Bedeutungsumfang des Begriffs heranzukommen, müssen wir über den Buckel der Sattelzeit klettern. Dann werden wir eines Begriffs gewahr, der in nuce ein ganzes Programm sozialer und literarischer, sprachlicher und pragmatischer, ethischer und ästhetischer Erziehung einschließt. Wiederzugeben ist er am ehesten mit Worten wie >UmgangKrankheit< ein Heilmittel parat haben. Das gilt auch für Augustin, der der Unbeständigkeit und Vergänglichkeit des Menschen Gott als den sicheren Halt und konstanten Bezugs­ punkt gegenüberstellt. Die schadhafte menschliche Natur gilt es nicht zu bessern mit den Mitteln der Kultur, wie Cicero es wollte, sondern radikal zu überwinden mit dem Mittel der Religion. Diese Einstellung hat für unsere Frage nach Einsamkeit oder Geselligkeit Konsequenzen. Denn Geselligkeit, Umgang mit anderen, Pflege menschlicher Gemeinschaft ist für Augustin das falsche Heilmittel der condicio hu­ mana. Seine Suche nach etwas wirklich Sicherem, nach einem enttäuschungsfesten Halt, kann sich mit nichts weniger als Gott zufrieden geben, den er als den einzig sicheren Partner in einer Welt der Unsicherheit ausmacht. Die enge Beziehung zu Gott, auf die hin die augustinische Anthropologie ausgerichtet ist, entwertet radikal 5 Thomas von Aquin, De regimine principum; Über die Herrschaft der Fürsten 1,1; zit. nach Borst (1979), S. 335 f. 6 Augustin, De Civitate Dei xix, 4, 5 u. 7.

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Über die Entdeckung sozialer Tugenden in der frühen N euzeit

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alle zwischenmenschlichen Bindungen. Sie entwickelt dagegen mit der Ausformung des inneren Menschen die Möglichkeit sozialer Isolierung und der Unabhängigkeit von umgebenden Gruppen, eine Fähigkeit, die unter widrigen Umständen —Au­ gustin schrieb als historischer Zeuge des Untergangs Roms - zur Uberlebenstechnik wird. Mit einer solchen radikalen Einstellung ließ es sich nicht nur überleben, sondern unter geschützten Bedingungen —auch leben. Davon zeugt die mönchische Lebens­ form, die der negativen augustinischen Anthropologie viel verdankt. Machen wir einen Sprung von tausend Jahren, dann gelangen wir zur Bewegung der Devotio modema, die wichtige Elemente mönchischer Lebensformen zu demokratisieren und unter alltäglichen Bedingungen zu sichern half. Dazu gehört an erster Stelle wieder­ um die Vorrangigkeit der Beziehung des Menschen zu Gott vor den Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Ein Kapitel des berühmtesten Buchs zwischen Mittelalter und Neuzeit, die um 1420 verfaßte ‘Imitatio Christi’ des Thomas von Kempen, enthält ein Kapitel mit der Überschrift: >Von der Liebe zur Einsamkeit und StilleDraußen< steht hier für so harmlose Beschäfti­ gungen wie Spaziergänge, Gespräche, Zerstreuungen, Geselligkeiten. Sie alle stehen im Zeichen des Müßiggangs, der Unbeständigkeit, der vergeudeten Zeit. Der Leit­ spruch für den Eintritt der Mönche in den Konvent der Augustiner lautete: »Du mußt wissen, daß du berufen bist zum Dulden und Arbeiten, nicht zum Müßiggang und Plaudern.«8 Das Äquivalent zur geschlossenen Kammer ist das Schweigen. Es ist leichter, ganz zu schweigen, als im Reden nicht zu weit zu gehen. [...] Im Schweigen und in der Stille macht die fromme Seele Fortschritte und lernt die Geheimnisse der Bibel begreifen.9

Die räumliche Abgeschiedenheit der Zelle, das Schweigen und die konzentrierte Andacht sind Formen produktiver Einsamkeit, die die mönchische Lebensform be­ stimmen. Mit der Frömmigkeitsbewegung der Devotio modema jedoch hören sie auf, Privileg religiöser Virtuosen zu sein, und werden zu verallgemeinerbaren Nor­ men methodischer Lebensführung. »Verborgen leben und für sich besorgt sein, ist 7 De Imitatione Christi 1,20; zit. nach Borst (1979), S. 249. 8 Borst (1979), S. 250. 9 De Imitatione Christi 1,20; zit. nach Borst (1979), S. 248.

Aleida Assmann

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besser als Wunder wirken und sich vernachlässigen.« In diesem Satz hat ein altes Ethos einen neuen Platz gefunden. Die cura sui, die Sorge um sich selbst, die einst im Mittelpunkt heidnisch antiker Lebenskunst stand,10 ist zu einem Bestandteil christ­ licher Askese geworden. 2.3

Profane Einsamkeit (Justus Lipsius und der Neostoizismus)

Die andere Einsamkeits-Tradition, die in der humanistischen Renaissance zu Ehren kam, stammt aus der stoischen Philosophie. »Die Einsamkeit ist ja heilig, einfach, unverdorben, und sie ist wirklich das Reinste von allem Menschlichen«, schrieb Petrarca in seinem Werk ‘De Vita solitaria’.11 Petrarcas Lob der Einsamkeit tritt kontrafaktisch an die Stelle des paulinischen Lobpreises der Liebe: »Sie will nieman­ den täuschen, sie heuchelt nicht und verbirgt nichts, sie gibt nichts vor.« Hinter dem Ideal der Autarkie, das mit der Einsamkeit verbunden ist, steht die Suche nach einem festen Halt in einer von Unsicherheit und Schwankungen gezeichneten Welt. Ruhe, Sicherheit, Beständigkeit sind Werte, die auf dem Erfahrungsboden tiefgreifender Umbrüche und Wandlungen wachsen. 1584 verfaßte Justus Lipsius einen Dialog mit dem Titel ‘De constantia’. Darin definierte er die Grundhaltung der Beständigkeit als »aufrechte und feste Geistesstärke«. Stärke sage ich und meine damit eine dem Geiste innewohnende Festigkeit, die nicht aus dem bloßen Meinen zu gewinnen ist, sondern allein aus dem Urteil und der ungebeugten Vernunft. (1,4)

Arno Borst hat den Zusammenhang von existentieller Unsicherheit und dem Ideal der Beständigkeit klar herausgearbeitet, als er (mit Blick auf Augustin) schrieb: In geschichtlichen Krisenlagen, beim Untergang der römischen Republik oder beim Be­ ginn der germanischen Völkerwanderung, schwankt so viel von dem, was ist, daß stattdessen das, was sein soll, zum archimedischen Punkt wird.12

Dieser archimedische Punkt muß >enttäuschungsfest< sein. Er wird gegen die bestän­ dige Unbeständigkeit der Welt, der Gesellschaft, des Menschen aufgerichtet und hat verschiedene Namen erhalten: Gott, Gewissen, Geist, Vernunft, Selbst. Es handelt sich dabei grundsätzlich um Schutzburgen, Bastionen gegen den Wandel, Petrarca spricht vom »Hafen vor allen Stürmen«. Die biedere Tugend der Beständigkeit wird im Späthumanismus zur hochaktuellen Strategie der Selbstbehauptung. Man hat den Neostoizismus treffend als »Philosophie der Krise« bezeichnet.13 Die Innerlichkeit des Subjekts wird zum letzten O rt der Freiheit und moralischen In­ 10 »Die Mittel und Wege dieser Arbeit bezeichnet Foucault als >SelbsttechnikenPöbelKonversation< wurde zum Leitbegriff einer Lebensform, die die Differenzen zwischen Aristokratie und Bürgertum nivellierte und dem Selbst­ bewußtsein und Selbstdarstellungsbedürfnis einer neuen staatstragenden Schicht zum Ausdruck verhalf.17 Das erste von vier Büchern dieser Konversationslehre ist dem Thema Einsamkeit gewidmet.18 Es wird, wie in einem Werk über Konversation nicht anders zu erwar­ ten, in Dialogform erörtert. Das Plädoyer für die Einsamkeit übernimmt Guglielmo Guazzo, der Bruder des Autors, der sich als akuter Melancholiker zu erkennen gibt; das Plädoyer für Konversation verkörpert sein Freund und Mentor, ein gewisser Annibal Magnoconvalli. So stehen sich in diesem Gespräch zugleich Patient und Therapeut gegenüber, womit die zwischen ihnen geführte Unterhaltung nicht nur Lehrgespräch ist, sondern auch eine >talking curePolitica< wird in der letzt­ genannten Schrift definiert als »eine Kunst / sich klüglich in seinem Stande aufzufuhren/ das ist so zu leben/ daß man den äuserlichen Schaden/ so viel möglich/ von sich abwendet/ andere Menschen sich zu Freunden macht / und auf honette Weise sein äuserlich Glücke befördert.« (zit. nach Sinemus [1978], S. 158). Knigge [s. u. Anm. 26] hatte ursprünglich als Titel für sein Werk im Sinn: »Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glückÜch und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen« (zit. nach Pittrof [1989], S. 72f.). 18 Das zweite und dritte Buch behandeln zwischenmenschliche Beziehungen außerhalb und innerhalb des Haushalts, das vierte Buch schildert ein modellhaftes Festbankett.

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es ist Schwerarbeit für meinen Geist, der Rede anderer Menschen zu folgen, mir passende Antworten einfallen zu lassen und auf all die Umstände zu achten, die die Rangordnung und meine Ehre mir abverlangen: all das ist nichts als Mühe und Unterwerfung. Wenn ich mich aber in mein Haus zurückziehe, sei’s um zu lesen, zu schreiben oder mich auszuruhen, dann gewinne ich meine Freiheit zurück und lasse die Zügel schießen. Dann bin ich nie­ mandem mehr etwas schuldig und widme mich ganz meinem Vergnügen und Wohl­ ergehen. (S. 17)

Der erste wichtige Therapieschritt besteht darin, daß der Patient lernt, die Einsam­ keit, die er als Erleichterung empfindet, als eigentliche Wurzel des Übels zu er­ kennen. Einsamkeit ist die Droge der Melancholie, nicht ihre Linderung, geschweige denn ihr Heilmittel. Die Lehre des Therapeuten lautet: Deine Krankheit beruht auf einer falschen Vorstellung, nach der du, wie die Motte das Licht, mit Lust dein Verderben suchst, und statt das Übel auszumerzen, ihm immer neue Nahrung gibst. Während du glaubst, durch Einsamkeit Linderung zu erfahren, gibst du den zersetzenden Körperflüssigkeiten (ill/corrupt humours) Nahrung, die von dir Besitz er­ greifen [...] und schließlich den edlen Palast deines Geistes zerstören. Deshalb rate ich dir, diese lebensgefährliche Haltung aufzugeben und den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Du mußt die Einsamkeit als das erkennen, was sie ist, nämlich als Gift, und Gesellschaft (companie) als Gegengift und Lebens-Grundlage. Verjage die Konkubine der Einsamkeit und nimm Gesellschaft zu dir als deine rechtmäßige Gemahlin. (S. 18)

Diese Rezeptur steht am Anfang, nicht am Ende der Auseinandersetzung um die Einsamkeit. Der Patient ist weit davon entfernt, sich von diesen Ermahnungen schnell überzeugen, geschweige denn heilen zu lassen. Es ist erst der Rahmen gesetzt, in dem alle folgenden Argumente für und wider die Einsamkeit ihren Platz finden können. 3.2

Plädoyer für Einsamkeit: die christliche und die stoische Option

Der Melancholiker widersetzt sich einer Geselligkeits-Therapie, die möglicherweise dem Körper nützen, mit Sicherheit aber der Seele oder seinem Geist schaden muß. Er, der aus der Tradition heraus argumentiert, kann in aller Breite die wohlbekann­ ten Einsamkeits-Argumente zur Sprache bringen. Für die fromme Seele, die sich auf der Leiter der Kontemplation zu Gott erheben will, ist die Menschenwelt nichts anderes als ein widriges Gemenge von Haken und Zangen, die uns mit Macht aus der Bahn unserer heilsamen Gedanken ziehen und auf den Weg des Untergangs setzen. Denn das gesellschaftliche Leben ist voller Ver­ dächtigungen, Täuschungen, schnöder Lust, Meineide, Zerstreuungen, Neid, Bedrückung, Gewalt und unzähliger anderer Unbilden. [...] Der Einsame dagegen, der sich fern hält von allen Verlockungen, Verstrickungen und Überwältigungen, der der Welt entschlossen den Rücken gekehrt hat, kommt seinem ursprünglichen Glückszustand wieder nahe. (S. 24)

Die Stadt gilt als Ort der Lüge und des Lasters für diejenigen, die ihrem Gewissen und ihrem Geist leben wollen. Die großen Philosophen haben den Umgang mit ihren Mitmenschen geflohen wie Scylla und Charybdis; nicht nur haben sie sich von der Masse femgehalten, sondern auch von allen Ämtern und Ehren, nach denen die Ehrgeizigen so sehr verlangen. Der Stoiker, das wird aus dieser Argumentation deutlich, distinguiert sich als Individuum vor dem Hintergrund einer verachtungs­

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würdigen Menge, die ununterscheidbar, ungebildet und auf puren Zeitvertreib aus ist. Das Lob der Einsamkeit gipfelt in dem Satz: »Die Stadt ist mir ein Gefängnis, die Einsamkeit ein Paradies« (S. 27). Die Antwort darauf ist zuerst ein Kompliment für die Form der Konversation; Guazzo wird gelobt, weil er die wohlbekannten Argumente von Petrarca und Vida auf so gesellige Weise einzustreuen weiß. Sachlich stellt der Therapeut in Rechnung, daß das Christentum ursprünglich eine Religion der Gemeinde und nicht der Ein­ samkeit gewesen ist und daß die christlichen Tugenden mehr wert sind, wenn sie sich im Leben bewähren. Ähnliches gilt für die Philosophie, die sich vom Leben und der Erfahrung abkehrt und aus der menschlichen Gemeinschaft ausschert: sie wird ab­ strakt und abstrus. 3.3

Die Erziehung des Menschen zur Gesellschaft

Die Position des Therapeuten ist anthropologisch und pragmatisch. Er geht von einer Definition des Menschen als Gemeinschaftswesen aus. Wenn die Geselligkeit zur Natur des Menschen gehört, dann muß die Einsamkeit als Perversion gelten. Man darf also mit Recht sagen, daß der, der die menschliche Gemeinschaft verläßt, um in der Wüste zu leben, gewissermaßen zum Tier wird und eine animalische Natur annimmt. So kennt auch der Volksmund nur zwei treffende Namen für den Einsamen: Tier oder Tyrann. (S. 30)

Einsamkeit wird als pathologisch eingestuft, wo Geselligkeit und Gesellschaft zur Norm werden. Die stoische cura sui oder die exklusive Sorge um das eigene Seelen­ heil sind nichts anderes als Hochmut und Geiz, d. h. Formen eines Egoismus, der den Zusammenhalt des Gemeinwesens in Frage stellt. Der antisoziale Impuls verstößt gegen das erste Gebot der Gesellschaft, das die Zirkulation der Güter und des Wis­ sens fordert. Das Horten von Sachwerten und Erfahrungen erweist sich dann als ebenso subversiv wie die selbstbezüglichen Tugenden: Darum sollte dieser Satz in goldenen Lettern geschrieben werden: daß der seine eigene Schande sucht, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. (S. 32)

Das zentrale Paradigma sozialer Beziehungen ist die Sprache. Sie überschreitet das Individuum auf den anderen hin, kolonisiert den zwischenmenschlichen Raum und bildet den unverzichtbaren Zement sozialen Zusammenlebens. Durch das Medium der Sprache sind wir in der Lage zu lehren, zu fordern, zu vermitteln, zu verhandeln, zu beraten, zu korrigieren, zu argumentieren, zu richten und den Regungen unseres Herzens Ausdruck zu verleihen. Sie ist das Band, durch das Menschen einander lieben und sich aneinander gliedern. (S. 35)

Sie ist freilich, das gehört zu den Prämissen der Konversationskultur, auch das Gegenteil: Medium der Zwietracht und Bosheit, der Verleumdung und des Klat­ sches. Deshalb ist der größte Teil des ersten Buches den verschiedenen Formen des Mißbrauchs von Sprache gewidmet. Das Im-Zaum-Halten böser Zungen und die Immunisierung gegen bestimmte Redeweisen gehört mit zur Kunst der rechten Konversation wie das Schweigen zum Reden.

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Der antike Leitsatz vom Menschen als Maß aller Dinge wird von Annibal signi­ fikant abgewandelt in: der Mitmensch ist das Maß aller Dinge. Deshalb sind In­ tegration und Kommunikation nicht nur die vorzüglichsten menschlichen Tugen­ den, es sind auch die förderlichen Lebensbedingungen in einer Zeit expandierender Stadtkulturen, prosperierenden Handels, entstehender neuer Öffentlichkeiten und der Vermischung bislang geschiedener Lebenskreise.19 Gegen die Stadt als emblematischen Ort der Korruption und des Lasters stellt Annibal eine konkrete Alltags­ erfahrung, die zeigt, daß es in der modernen Stadt keine Alternative mehr gibt zum obligatorisch gewordenen Sozialverkehr. Sein Beispiel ist eine Schiffsreise von Padua nach Venedig, die »Männer und Frauen, fromme und profane Menschen, Soldaten, Höflinge, Deutsche, Franzosen, Spanier, Juden und andere Menschen verschiedener Nationen und Arten« zusammenwürfelt. Eine solche Gesellschaft sucht man sich nicht aus, aber das Leben verlangt täglich, daß man sich in sie einfugt. Annibal gesteht offen, daß er sich zuerst nicht gerade wohl fühlte, doch hinterher war ich ganz zufrieden und fröhlich. Ich habe mich nämlich auf die Eigen­ heiten der anderen sehr gut einzustellen vermocht, bin mit Anstand aus der Sache heraus­ gekommen und habe in der Gruppe sogar noch einen guten Eindruck hinterlassen. (S. 22)

Die Episode fuhrt die unspektakulären Tugenden des sozialen Lebens vor Augen. Die Überfahrt auf dem Schiff ist nichts anderes als der Regelfall städtischen Lebens. Soll dieses Leben erträglich sein, so müssen in erster Linie die sozialen Tugenden kultiviert werden: Rücksicht, Toleranz, Heiterkeit, Bescheidenheit, Nachgiebigkeit; verbannt werden Tiefsinn und schroffer Ernst, Eigensinn, Unbelehrbarkeit sowie alles, was brüskiert, geniert, isoliert.20 >Konversation< meint nichts anderes als die Summe dieser sozialen Tugenden. >Zivil< wird definiert als eine universalistische Haltung, die Stadt und Land ebenso wie die unterschiedlichen Stände übergreift: Du siehst also, daß wir dem Wort >zivil< einen denkbar weiten Bedeutungsumfang geben. [...] Um es kurz zu sagen: zivile Konversation bedeutet eine ehrliche, angenehme und tugendhafte Art, in der Welt zu leben. (S. 55)

Der Akzent fällt auf das »in«. In der Welt soll man sich zurechtfmden, in die Welt soll man investieren, und zwar gemeinsam. Das erfordert keine radikale Umwertung aller Werte, wohl aber eine Herabstimmung aller radikalen Werte. Was Laster,21 19 In Deutschland steht die Sprache als Medium sei’s der Urbanisierung, Demokratisierung oder Nationalisierung der Kultur im Mittelpunkt der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhun­ derts. Diese Gesellschaften, die nicht an Höfe, sondern Städte gebunden waren, boten jedenfalls in der Tendenz einen progressiv sozialen Kontext, in dem zwar noch keine neue Öffentlichkeit ihren Ausdruck fand, wohl aber ein kritischer, die Standesgrenzen überstei­ gender Tugendbegriff entwickelt werden konnte. Vgl. van Ingen (1978). 20 In der ‘Ars aulica’ des Lorenzo Ducci heißt es (in einer frühen englischen Übersetzung): »Society is nothing else but a mutual & a reciprocal exchange o f gentlenes, o f kindnesse, o f affabilitie, o f famiharitie, and o f courtesie among men.« Zit. nach W. Lee Ustick, Advice to a son: A type of seventeenth century conduct book, Studies in Philology 29 (1932), S. 409­ 441, hier S. 430. Zum pejorativen Begriff des >Singularisten< vgl. Sinemus (1978), S. 157, 159. Dazu Kant: »Das einige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privatus)*·, zit. nach Lepenies (1981), S. 107. 21 Ein großer Teil des Dialogs kann unter die Überschrift >Einübung in Toleranz< gestellt

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Ehre, Tugend, ja sogar was Wahrheit ist, soll fortan durch das Forum der anderen bestimmt werden.22 Absolute Instanzen jenseits des menschlichen Verkehrs werden nicht mehr zugelassen; weder im Namen Gottes noch des Selbst haben sie Ein­ spruchsrecht. Alles wird in die soziale Zirkulation einbezogen, selbst die Wahrheit, die erst aus Disput und Konsens menschlicher Meinungen hervorgeht (S. 41). 3.4

Schriftgestützte Einsamkeit

Die Schrift ermöglicht interaktionsfreie Kommunikation. Damit ist sie ein macht­ volles Inzentiv für Einsamkeit. Im 16. Jahrhundert gewinnt dieses Potential unter den neuen medialen Bedingungen des gedruckten Buches neue Aktualität. Man muß nicht mehr ein religiöser Virtuose oder ein großer Philosoph sein, um sich den Freuden der Einsamkeit hinzugeben. Es genügt schon, daß man ein leidenschaftlicher Leser ist. Diese Art von Einsamkeit droht im Zeitalter des Buchdrucks epidemisch zu werden. Ripas Melancholie ist mit einem Buch ausgerüstet. Auch bei Guazzo spielen Lesen und Schreiben als Inzentiv für Einsamkeit eine besondere Rolle. Für die stoizistische Lebenform sind, wie wir gesehen haben, Schreiben und Lesen existentiell. Man wird von seiner unmittelbaren Umgebung in dem Maße unabhängig, wie man literarisch sozialisiert ist.23 Für Seneca, Petrarca und Lipsius spielt der Brief eine hervorragende Rolle, für Marc Aurel und Montaigne die schriftliche Selbstkom­ munikation.24 werden. Rigide Normen werden ersetzt durch flexible Akzeptanz. Was im Begriff ist, sich durchzusetzen (wie öffentliches Kartenspiel), soll nicht mehr unter moralische Sanktion gestellt werden. 22 Guazzo spielt hier auf die Akademien an, von denen er selbst eine mitbegründet hat (die Accademia degli Illustrati von 1566, vgl. Auemheimer 1973, S. 5). Die Beziehungen zwi­ schen Konversationskultur und Sozietätenbewegung sind so eng, daß man von unterschied­ lichen Erscheinungsformen desselben Phänomens sprechen muß. Ihre gemeinsamen Leit­ ideen sind: Kommunikation, Kompetition, Progressivität, Praxisbezug und Gemeinnützig­ keit. Dazu die instruktive Arbeit von Im H of (1982, S. 226 ff), der beschreibt, daß in den italienischen Akademien Wissenschaft, Spiel, Musik, Tanz und Galanterie ungeschiedene Elemente waren. 23 In den stoizistischen Gedichten des 17. Jahrhunderts in England spielen die Bücher eine wichtige Rolle (zit. nach Grierson/Bullough 1968): Let plots and news embroil the State, Pray what’s that to my books and me? (Norris, S. 949) Books should, not business, entertain the Light And sleep, as undisturb’d as Death, the Night. (Cowley, S. 716) Ah, yet, e’er I descend to th’Grave May I a small house, and large Garden have! And a few Friends, and many Books, both true, Both wise, and both delightful too! (Cowley, S. 694) 24 1563 starb Etienne de la Boétie, ein Freund, mit dem Montaigne vier Jahre lang das Prinzip vom Dialog als Lebensform verwirklicht hatte. Die Essays sind nicht zuletzt der Versuch, den unterbrochenen Dialog auf dem Papier Weiterzufuhren. An die Stelle des Freundes, der ihm sein Spiegelbild zurückwirft, tritt das Buch, in dem er sich selbst zu konturiercn und enträtseln unternimmt. Die schriftliche Introspektion tritt an die Stelle der geselligen Kon­ versation. Zum Kommunikationswandel unter den Bedingungen der Schrift gehört, daß

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Daran schließt sich die grundsätzliche Frage an: Ist in der Ära des Buchdrucks das Ideal der Konversation nicht längst überholt? Kann Geselligkeit - verstanden als überschaubare direkte Interaktion, persönlicher Kontakt, wechselseitige Wahrneh­ mung und Beeinflussung im Meinungsaustausch, kurz: als Prinzip der Anwesenheit -, kann diese Form der Geselligkeit wirklich zur sozialen Norm erhoben werden in einer Zeit, deren Öffentlichkeitsmodus bereits wesentlich an Schrift, und das bedeu­ tet: Feme-Kommunikation, Generalisierung und Anonymisierung, gekoppelt ist? Ist nicht, mit anderen Worten, der Kampf gegen die Einsamkeit im Schatten des her­ aufziehenden Buchzeitalters bereits verloren? In der Tat klingt in Guazzos Erziehungsbuch die Befürchtung an, daß sich im Rückzugsverhalten des Lesens eine neue Legierung von frommer Weltflucht und stoischem Selbstgenuß ankündigt. Der Therapeut reagiert auf diesen Trend mit einer ganzen Sammlung schriftkritischer Gemeinplätze. Nachdem des längeren das erfah­ rungsarme Bücherwissen gegeißelt wurde, nimmt das Gespräch eine Wendung, die man unter das Motto >Meister versus Büchen oder >geselliger Dialog vor schrift­ lichem Monolog< stellen könnte: Es ist ein großer Fehler anzunehmen, daß Wissen eher im einsamen Umgang mit Büchern zu erwerben ist, als im Umgang mit kundigen Menschen. Es ist ein Leitsatz der Philo­ sophie, den die Erfahrung bestätigt, daß Wissen leichter durch die Ohren als durch die Augen aufgenommen wird. Deshalb sollte sich keiner die Augen verderben oder seine Finger mit Umblättern strapazieren, wenn er doch lebendige Menschen um sich haben und auf deren natürliche Stimme hören kann, die sich mit wunderbarer Kraft seinem Geiste einprägt. Übrigens, wenn du auf eine schwierige und unverständliche Stelle stößt, dann kannst du das Buch nicht bitten, sich zu erklären. Du mußt unbefriedigt aufgeben und zum Buche sagen: wenn du dich durchaus nicht verstehen lassen willst, dann werd ich dich halt nicht verstehen! Daraus ergibt sich, daß es weit besser ist, sich mit Lebenden als mit Toten zu unterhalten. Hinzu kommt, daß der Geist eines einsamen Menschen stumpf und träge wird, wenn er niemanden hat, der ihn stimuliert, herausfordert und mit ihm diskutiert. Oder aber er wird überheblich und aufgeblasen, weil er aufgehört hat, sich mit anderen zu messen. (S. 40f.)

Wir dürfen zusammenfassen: die ‘Zivile Konversation’ ist das Erziehungsbuch einer neuen Schicht, die sich nicht mehr durch Wappen, Genealogien oder andere Privi­ legien definiert. Der Kern des neuen Standesethos ist eine Kultur der Sprache und des geselligen Umgangs, der sich den veränderten Lebensverhältnissen in den pro­ sperierenden freien Städten anpaßt. Hier entsteht mit der Durchsetzung des Geld­ verkehrs ein dichtes Netz sozialer Beziehungen und Interdependenzen, in dem die älteren ständischen Distinktionsprinzipien an Bedeutung verlieren. Mit der sich aus­ weitenden Vergesellschaftung des Individuums wird ein neues Sozialethos erforder­ lich. Guazzos Werk, das den engen Rahmen traditioneller Tugenden überwindet und die mächtige Option der Einsamkeit dialogisch außer Kraft setzt, ist gleichsam ein Fokus, in dem der allgemeinere soziale Umwandlungsprozeß an der Schwelle der Neuzeit in aller Schärfe faßbar wird. der Schreiber umso expliziter und öffentlicher sprechen kann, je impliziter und anonymer der Adressat ist.

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Zugleich wird im Rückblick sowohl die Schwäche wie die Bedeutung dieses Werks sichtbar. Die Schwäche liegt in der Ausrichtung der sozialen Semantik am Modell der persönlichen Interaktion. Im Zeitalter des Buchdrucks und des Geld­ verkehrs setzen sich dagegen Formen einer generalisierten Kommunikation durch, die es ermöglichen, »sich aus Interaktionssystemen zurückzuziehen und trotzdem mit weitreichenden Folgen gesellschaftlich zu kommunizieren«.25 Die Anpassung an die mit diesem Evolutionsschritt gesteigerte Komplexität des Sozialen kann nicht mehr mit Hilfe eines Erziehungsbuches geleistet werden, das ausschließlich an dem Modell der Nähe-Kommunikation persönlicher Beziehungen geeicht ist. Die Bedeutung von Guazzos Werks liegt in der Erhebung des Dialogs zu einem generalisierten Paradigma gesellschaftlicher Beziehungen. Die Nobilitierung des So­ zialen, verbunden mit einem Postulat von Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, die es zu erlernen gilt, um das Miteinander-Leben erträglich zu machen —das ist eine Denktradition, die zumindest im deutschsprachigen Kontext, von wenigen Ausnah­ men abgesehen,26 stark unterentwickelt ist. Die großen Theoretiker des Sozialen sind bezeichnenderweise auch Theoretiker des Dialogs gewesen. Shaftesbury und George Herbert Mead setzen die Regeln direkter Interaktion in solche einer generalisierten Kommunikation situationsnah um und damit jene Linie fort, die in der Konversa­ tionstheorie des 16. Jahrhunderts ihren Anfang und ersten Höhepunkt hatte. In Deutschland dagegen hatte die soziale Tugend der Geselligkeit es schwer, an die obere Spitze der Wertordnung vorzudringen. Hier blieb der antisoziale Affekt unbestritten in Geltung. Im bürgerlichen Wertekosmos herrschte die Melancholie in ihren verschiedenen Metamorphosen als Einsamkeit, Innerlichkeit, Genialität, als Verehrung des Sublimen, der Authentizität, und schließlich: als Größe. >Gesellschaft< wurde hier selten als ein dem Individuum forderliches Milieu erfahren. Rückzugs­ verhalten wurde nobilitiert und Anpassungsverhalten diskreditiert. In einem Klima heroischer oder gemeinsam genossener Einsamkeiten blieb der Sinn für lockeren und anmutigen Umgang, für Spielregeln und Gewohnheiten, für Konventionen und Konsens unterentwickelt. Kein Wunder, daß der Begriff >Konversation< so gründlich in Vergessenheit geriet.

25 Luhmann (1984), S. 581. 26 Vgl. Anm. 17. Zu erwähnen ist hier vor allen der Freiherr Adolph von Knigge, Über den Umgang mit Menschen (1788). Während Pittrof (1989, S. 78, 80 ff.) im Sinne des Verfas­ sers vor allem die Originalität des Werkes hervorhebt in seiner eigentümlichen Mischung von Universalismus und Kasuistik, überständischem Ethos und Mikrologie des Sozialen, reiht Bonfatti (1979) das Umgangsbuch in die Tradition der Konversationskultur ein. Der andere Name, der hier zu nennen ist, ist der Schleiermachers.

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Gattungstradition und Wertwandel: Zur Entdeckung der Arbeit in der französischen Literatur der Frührenaissance

»Aus alter Form zu neuem Leben« ist ein früher Beitrag Manfred Bambecks1 über­ schrieben: Darin zeigt der Verfasser, wie der frühhumanistische Hofdichter Jean Le­ maire de Beiges die ausklingende Tradition der sog. Rhétoriqueurs im Rahmen eines optimistischen frühhumanistischen Dichtungsideals neu funktionalisiert. Das mittelalterliche Memento mori weicht in den scheinbar noch ganz traditionellen Totenklagen um fürstliche Gönner dem neuen Topos der Unsterblichkeit der Dich­ tung, die primär den Sänger, nicht den Toten adelt; und im allegorisch geprägten Naturmotiv wird eine dynamisch-kosmische Verankerung sichtbar, welche in der Vorstellung des Schöpferischen gründet. Der Autor aber partizipiert an dieser schöp­ ferischen Energie. Mit Bambeck: Der Dichter vollzieht die eigene, willentliche Zustimmung zu einer mit dem Blick des Künstlers geschauten biologischen Gegebenheit. Die Natur ist ihm selbst die erste, die schöpferische Künstlerin schlechthin. (S. 35)

Der burgundische Frühhumanist, Hofdichter Margaretes von Österreich, initiiert mithin in Frankreich jenen folgenreichen Paradigmenwechsel der Dichtungskonzep­ tion von einem handwerklich-rhetorischen Verständnis2 zu den - neuplatonisch be­ einflußten —Inspirations- und Schöpfungstheorien, die um die Mitte des 16. Jahr­ hunderts in Theorie und Praxis der Pléiade am Hofe Heinrichs II. gipfeln werden. Indessen bezeichnet rückblickend gerade die Durchsetzung der Inspirationslehre, die ja bekanntlich in der Romantik erneut vorherrschend wird, einen entscheiden­ den Schritt zur Irrationalität, ja zum Gnadencharakter eines Dichtens, das im Um­ kreis der Verhofung des Dichters auch dessen Grundlagen als bloßes Geschenk be­ greifen läßt. Zunächst aber scheint es, daß die Selbstaufwertung des sich schöpferisch verstehenden Künstlers, Dichters und Gelehrten jener allgemein als Frührenaissance bezeichneten Übergangsphase zwischen den Italienfeldzügen Karls VIII. und dem frühabsolutistischen Hofstaat Franz I. an eine Vorstellung gebunden ist, die man mit dem neuzeitlichen Arbeitsbegriff umschreiben könnte und die überhaupt die Voraus­ setzung für eine neue Einschätzung menschlicher Aktivität bietet, wie sie das Mittel1 Manfred Bambeck, Aus alter Form zu neuem Leben. Versuch einer Deutung der Dichtung des Jean Lemaire de Beiges, Zs. f. frz. Sprache und Literatur 68 (1958), S. 1—42. 2 Hierzu Paul Zumthor, Le Masque et la Lumière. La poétique des grands rhétoriqueurs, Paris 1978 (collection Poétique).

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alter noch nicht und auch der italienische Humanismus nur in Ansätzen entwickelt haben.3 Das schöpferische Moment äußert sich in dem Ideal einer selbstbewußten Fülle, die Terence Cave —mit einer Entlehnung aus dem ‘Tiers Livre’ von Rabelais — the »cornucopian text«4 genannt hat. Ist dies richtig, so stünden Dichtungstheorie und Epochenbewußtsein in engem Zusammenhang, und darüber hinaus könnte so die Eigentümlichkeit und Eigenwertigkeit einer Epoche hervortreten, deren Anfang nach dem Hundertjährigen Krieg der französische Historiker Georges Duby mit der Formel »trois générations de reconstructeurs«5 umschrieben hat. Wir wollen dies an einigen Beispielen zeigen, die aus unterschiedlichen Gattungstraditionen stammen und für die sog. Frührenaissance charakteristisch erscheinen. Kehren wir zunächst zu unserem Autor zurück und zwar zu dessen dichtungs­ theoretischer Schrift ‘La Concorde des deux langaiges’,6 die - 1513 erschienen - das Selbstbewußtsein des jungen französischen Humanismus dokumentiert.7 Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst des Hauses Österreich und der Übernahme des Amtes eines »judiciaire de la reine« deutet der Schüler des burgundischen Rhétoriqueur Jean Molinet programmatisch die Versöhnung und Gleichwertigkeit der italienischen und der französischen Tradition an. In den fast gleichzeitigen ‘Illustrations de Gaule et singularités de Troyes’ (1511—12), einer phantastischen Gründungssage und Genea­ logie des französischen Königshauses, geschieht dies durch bewußten Rückgriff auf Inhalte und Formen der nationalen Überlieferung im Zusammenhang mit der anglonormannischen Trojasage des 12. Jahrhunderts. Das dem Rhétoriqueur Guil­ laume Crétin gewidmete dritte Buch verbindet ausdrücklich die eigene Berufung zum Dichter (l’art oratoire) mit dem Gebrauch von ceste nostre langue françoise et gallicane. In der ‘Concorde’ ist die national-humanistische Bewußtwerdung in die Form der allegorischen Traumreise gekleidet, die den angestrebten Einklang der beiden Sprachen und Kulturen als Ergebnis eines Erkenntnisweges ausweist. Da 3 Vgl. hierzu Karl Bosl, Armut, Arbeit, Emanzipation. Zu den Hintergründen der geistigen und literarischen Bewegung vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, in: Beiträge zur Wirtschafts­ und Sozialgeschichte des Mittelalters (Fs. Herbert Helbig), hg. v. Knut Schulz, Köln 1976, S. 128-146. Der Beitrag bleibt freilich skizzenhaft und geht auf den literarischen Aspekt nicht ein. Zur >Geistesgeschichte< der Arbeit siehe Paul Münch (Hg.), Ordnung. Fleiß und Sparsamkeit: Texte und Dokumente zur Entstehung der bürgerlichen TugendenIdeologie< im kritischen Wortsinn. Die demütige Geste des Neulings hat den gegenteiligen Effekt. Er wird zurückgestoßen, und aus dem traditionellen Normenhorizont entlassen. Oder anders: Der Versuch, an die eigene, höfische Tra­ dition anzuknüpfen, ist ebenso verfehlt wie sinnlos. Nun könnte man angesichts der Inschrift an dem Steilfelsen, die von Jean de Meung, orateurJranfois stammt, folgern, die allegorische Reise sei eine Reise durch die beiden Teile des altfranzösischen ‘Rosenromans’ und schließe mit der Parteinahme für die nichthöfische, klerikale Fortsetzung durch Jean de Meung. Die Auseinandersetzung bezöge sich dann auf zwei eher schichtspezifische Aspekte, die beide der mittelalterlichen Literatur zuzu­ rechnen sind. Und tatsächlich sprechen ja Giraud/Jung von einer »conception tra­ ditionnelle s’il en fut«.12 Das psychologische Argument Frappiers, daß sich an die erste, mißglückte Wanderung eine zweite anschließt, die dann offensichtlich nicht damit erklärt wird, daß eine angeblich heitere Sinnlichkeit der Ergänzung durch Reife bedarf, wirkt in jedem Fall einseitig; und auch Frappiers Vergleich der Per­ sonen des Venustempels mit den gentils compagnons in der Rabelais’schen Abtei Thélème (S. XLVIII) erscheint außerordentlich fragwürdig. Entscheidend dürfte die innere Dialektik beider Reise- und Erkenntnisstufen sein. So ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß der Dichter seine Anwesenheit im Temple de Vénus auch dazu benützt, um Jugend und Natur hymnisch zu besingen, und so das eingangs angesprochene schöpferische Verständnis der Dichtkunst the­ matisiert. Das herrliche Konzert demonstriert die Überlegenheit der n e u e n Musik (nouveaux monocordes) über alte Instrumente und läßt erstmals die neuplatonisch­ pythagoreische Vorstellung der Sphärenharmonie anklingen. Wenn es aber möglich ist, in dieser Weise den Triumph des Neuen von der dazugehörigen höfischen Tra­ dition zu trennen, so müßte ähnliches auch für die zweite, >klerikale< Stufe gelten, die im Zeichen Jean de Meungs steht. Die Modernität, die der Dichter im Venustempel lediglich erfährt, aber zu der er keinen Zugang findet, wäre mithin im Tempel der Minerva zu suchen, der das Paradiesmotiv mit humanistischen Konnotationen um­ wertet. Denn es geht ja gerade darum, eine andere Form des Paradieses zu finden, zu dem man zugelassen ist und in dem die eigene industrie etwas gilt. Damit wird aus der bloßen Sukzessivität der Wege und Paradiese ein Verhältnis der wechselseitigen Ausschließlichkeit, welches die biblische Alternative zwischen dem bequemen Weg, der ins Verderben führt, und dem steilen Weg zum Himmelreich nahelegt. Der steile Weg ist aber auch der lange Weg voller Irrungen und Gefahren, und das Ziel steht nur dem neugierig Suchenden - die Rede ist von curiosité (S. 38) - offen. Die damit verknüpften Begriffe wie cueur noble oder cueur loyal erscheinen von ständischen 12 Giraud/Jung [Anm. 10], S. 202.

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Konnotationen abgekoppelt und verweisen nur mehr auf eine individuelle Tüchtig­ keit, die durch die Tugenden estude, labeur und soucy, d. h. mühseliges Lernen, Fleiß und Arbeit sowie Sorge ausgewiesen wird. Dahinter steht offensichtlich das neue Ideal einer Elite, das auf seine Weise Lust und ewiges Leben verheißt. Ewiges Leben als Lohn für individuelle Leistung, für >Arbeit< —nicht nur im alten Wortsinn von Mühsal und Dulden, sondern bereits auch im heutigen Verständnis. Entscheidend ist so z. B. nicht, daß der hohe Felsen den bis in die Antike zurückzuverfolgenden Topos des Tugendberges (Frappier, S. XXXV) variiert, sondern gerade die Tatsache, daß die eigentliche Bedeutung nicht mehr mit der herkömmlichen moralischen Interpretation des Topos identisch ist und der Berg zum Symbol von Leistung - im humanistischen Sinn - wird. Der aus der höfischen Ordnung entlassene bürgerliche Humanist, Dichter und Gelehrte, dem der Zutritt zu dem höfischen Paradies verwehrt wurde, schafft sich durch ei­ gene Anstrengung ein Paradies neuer Art und ersetzt zugleich den adligen Ehrbegriff durch eine berufsständische Ehrvorstellung, die man mit Max Weber13 »als spezifisch bürgerliches Berufsethos« bezeichnen könnte. Die industrie, die vordem nichts galt, wird nun zum höheren Zweck und zum Ausweis des Selbstwertes aufgewertet; Arbeit ist nicht mehr nur instrumental im Sinn der mittelalterlichen Sündenfalltheo­ logie und der scholastischen Tradition bis Thomas von Aquin; sie ist vielmehr Da­ seinsform, ja Telos und Erfüllung eines Lebensentwurfs, der den höfischen program­ matisch ersetzt. Von einer Versöhnung der Gegensätze im oben genannten Sinn kann dann nur unter der Bedingung die Rede sein, daß man diese Versöhnung auf einer dialektisch höheren, fortgeschrittenen historischen Stufe ansiedelt. Der französische Humanist orientiert sich an der Wertwelt des italienischen Humanismus und ver­ sucht, aus dieser Position heraus das eigene Erbe zu retten —gleichsam auf eine neue Stufe zu heben, so wie das neue humanistische Paradies h ö h e r liegt als das alte höfische. Der humanistische Dichter reiht sich nicht in einen gegebenen Normen­ horizont ein; er schafft im Gegenteil die Utopie einer neuen Ordnung, welche auf die Kategorie der —intellektuellen —Arbeit gegründet ist. Nicht zufällig erscheint am Ende der Traumreise die Vision von Labeur Hystorien in Gestalt eines einsamen Ere­ miten. Dessen hermitaige, très solitaire, mais bien garny de librairie ancienne et nouvelle (S. 45), verweist ja nicht nur auf das neue Ideal des gelehrten Dichters, sondern zuallererst auf ein Verfügen über die Tradition: geistige Macht, die durch geistige Arbeit legimitiert ist. Und diese Neudefinition des Traditionsbezugs wird durch die Neufunktionalisierung der älteren Gattungstradition zum Ausdruck gebracht. Der Optimismus, der hier sichtbar wird, scheint freilich das besondere Merkmal jener frühhumanistischen Epoche zu sein, die zugleich - wie unser Beispiel ebenfalls zeigt —unter präreformatorischen Kennzeichen steht und die andere Seite der Arbeit, das bürgerliche Erwerbsstreben, noch weitgehend ausklammem kann. Schließlich geht es ja um die Selbstadelung der neuen Humanistenklasse, die sich ihrer kultu­ rellen und politischen Bedeutung für den erstarkenden zentralistischen Nationalstaat durchaus bewußt war. Der ideologische >Fallstrick< dürfte in der implizit angedeu­ 13 Max Weber, Die protestantische Ethik, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1920 (Nachdruck 1965), S. 184.

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teten, kulturellen und politischen Translatio-Theorie zu sehen sein. Zur gleichen Zeit nämlich, da Ludwig XII. den durch Karl XIII. wieder eingefiihrten Ämterkauf kodi­ fiziert und der später berühmte Gräzist Guillaume Budé als Leiter des Bureau des parties casuelles für Ämterkauf fungiert, projiziert Jean Lemaire die Abhängigkeit von Geld und Reichtum auf die überlebte höfische Idylle und weist so das neu gefundene Humanistenparadies als Bereich eines gleichsam interesselosen Strebens und Wirkens aus. Er hat damit nicht nur, wie ein älterer Kritiker meint, »compris la grandeur du travail intellectuel et cru à sa profonde moralité«;14 er hat die Arbeit vor allem als Instrument der Wahrheitssuche moralisiert und von ihren realen Voraus­ setzungen abgekoppelt. Der Hofdichter steht am Anfang eines ideologischen Para­ digmas, dessen Echo wir auch bei Erasmus, Thomas Morus, Guillaume Budé, Etienne Pasquier u. a. finden. Der amerikanische Soziologe George Huppert hat diesbezüglich von einer Generation von »Bourgeois Gentilshommes«15 gesprochen. Daß im Zuge bewußter Übernahme und Aneignung ursprünglich adliger Codes auch der eben gewonnene Arbeitsbegriff —selbst in seiner geistigen Variante —bald wieder in den Hintergrund tritt, hat z. B. Gilbert Gadoffre16 in einer Fallstudie zu Budé gezeigt. Höfisierung und Aristokratisierung des Dichter-Gelehrten gehen offensichtlich Hand in Hand. Doch auch aus anderer Richtung droht Gefahr. Der labeur hystorien, bei Jean Lemaire noch Inbegriff positiver Weltaneignung und Wahrheitsgewinnung, konnte sich dem Einfluß der reformatorischen Auseinandersetzungen um Wahrheit und Tra­ dition nicht ganz entziehen. Die Fragwürdigkeit eines solchen labeur war schon Zeitgenossen offenkundig und dürfte mit zur Entstehung pagan-hedonistischer Strö­ mungen gerade auch in humanistischen Kreisen —man denke nur an Etienne Dolet und Rabelais —beigetragen haben. Daß dabei die spätmittelalterliche Tradition der lachenden Satire, von Narrenspiel und Karneval, eine wichtige Rolle spielt, ist sicherlich kein Zufall; denn der neuzeitliche Geltungsanspruch des neuen Ethos wird so im Rückgriff auf eine scheinbar überwundene Geisteshaltung in Frage gestellt. Und zugleich eröffnet nun diese karnevaleske Infragestellung17 des humanistischen Arbeit-Wahrheit-Ideologems die Möglichkeit, das bisher ausgesparte tätige Leben selbst zumindest in den Blick zu rücken. Dies scheint jedenfalls der eigentliche Sinn einer Stelle aus dem noch immer nicht völlig geklärten und erklärten ‘Cymbalum 14 Paul Spaak, Jean Lemaire de Belges. Sa vie, son œuvre et ses meilleures pages, Paris 1926, S. 107. 15 George Huppert, Les Bourgeois Gentilshommes. An Essay on the Definition o f Elite in Renaissance France, Chicago 1977, bes. Kap. V, IX und X. 16 Gilbert Gadoffre, Culpabilisation sociale et déculpabilisation culturelle chez Guillaume Bu­ dé, in: Klaus W. Hempfer u. Gerhard Regn (Hgg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissanceliteratur (Fs. Alfred Noyer-Weidner), Wiesbaden 1983, S. 191—

200. 17 Zu dem gelehrten, nicht-volkstümlichen Charakter des »karnevalesken« Paradigmas und der damit verbundenen Kritik an den Thesen Bachtins siehe Richard M. Berrong, Rabelais and Bakhtin. Popular Culture in »Gargantua and Pantagruel«, Lincoln/London 1986. Zur Funktion der Narrheit in der Humanistensatire siehe Barbara Könneker; Wesen und Wand­ lung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Brant —Murner —Erasmus, Wiesbaden 1966.

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Mundi’ zu sein, das 1537 anonym in Lyon erschien. Als wahrscheinlicher Verfasser gilt Bonaventure des Périers, der als Mitarbeiter an der protestantischen Bibelüber­ setzung von Olivétan und Korrektor des berühmten Lyoner Buchdruckers Etienne Dolet zunächst proreformatorischen Strömungen des französischen Humanismus nahegestanden haben dürfte; um 1536, also kurz vor Erscheinen des ‘Cymbalum’, muß er in die Hofhaltung Margaretes von Navarra eingetreten sein. Das ‘Cymba­ lum’, die Weltschellentrommel —vielleicht auch in Anspielung an das Pauluswort vom »tönenden Erz« und von der »klingenden Schelle«, einer Wahrheitssuche ohne die Liebe —ist zweifelsohne zumindest in einzelnen Teilen eine Reformatorensatire,18 die mittelalterliche Karnevaleske und lukianische Tradition19 miteinander verbindet. Ohne dabei im Rahmen der sogenannten Rationalismusdebatte in die Forschungs­ diskussion einzugreifen, die vor allem durch Lucien Febvre20 1942 in eine neue Phase trat, gehen wir mit Jan R. Morrison von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer weniger antichristlichen und strikt theologischen als moralischen Satire aus.21 Offensichtlich geht es ja, wie vor allem die hier nicht relevanten späteren Dialoge des ‘Cymbalum’ zeigen, um den Status und das Selbstverständnis der humanistischreformatorischen >IntelligenzLebensqualität< aller auf der Überwindung der >faulen< Ständegesellschaft und der Arbeitspflicht für alle aufbaut. Die Ablösung des monastischen Modells durch innerweltliche Disziplin —gegen­ über ‘Pantagruel’ das wohl entscheidende Thema des ‘Gargantua’ —kristallisiert sich bekanntlich in der Gestalt des Klosterbruders Jean des Entommeurs (Kap. XXVII ff), der angesichts der Bedrohung der Mönche durch den ungerechten König Picrochole sein Kloster verläßt und sich im Kampf auf die Seite Grandgousiers und seines Sohnes Gargantua stellt, um nach dem Sieg das neue weltliche Kloster des freien Willens, die Abtei Thélème, unter erasmischen Vorzeichen zu gründen. Das von ihm vertretene Ideal fröhlicher, auf den Glauben gegründeter Aktivität wäre mit dem berühmten Gebet Pantagruels in Kap. XXIX des ‘Pantagruel’ zusammenzusehen. Menschliche Freiheit (liberté totalle, S. 354), Handlungsbereitschaft und Gottver­ trauen entsprechen, wie Screech30 gezeigt hat, dem zentralen reformatorischen Satz Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein [Anm. 25], S. 381-428, bes. S. 390 ff. 27 Weber [Anm. 13], S. 135. Vgl. auch Bosl [Anm. 3], 28 Heinrich Brockhaus, Die Utopia-Schrift des Thomas Morus, Leipzig 1929. Dazu Emst Bloch, Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 58 ff. 29 Klaus J. Heinrich (Hg.), Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 54 (= Kap. V). 30 Michael A. Screech, L’évangélisme de Rabelais. Aspects de la satire religieuse au 16' siècle,

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der foi besognant par charité. Nun steht diese s y n e r g e t i s c h e Haltung —nach dem Motto »hilf dir selbst, so hilft dir Gott« —keineswegs isoliert in dem burlesk-epischen Geschehen. Da sind zunächst die fünf Pilger, die Gargantua versehentlich mit dem Salat verspeist, wieder ausspuckt und in einem Strom von Urin wegschwemmt; Bruder Jean liest sie auf und führt sie vor Grandgousier, der sie mit folgenden Worten anredet: Allez vous en, pauvres gens, au nom de Dieu le créateur, lequel vous soit en guide perpétuel, et dorénavant ne soyez faciles à ces otieux et inutilles voyages. Entretenez vos familles, travaillez, chacun en sa vocation, instruez vos enfans, et vivez comme vous enseigne le bon apostre sainct Paoul. (XLV, S. 169)

Die Pilgerfahrt —auch dies bekanntlich eine geläufige reformatorische Vorstellung — repräsentiert eine überholte Haltung, die im Gegensatz zum praktischen Handeln steht. Der kaschierte Müßiggang des Pilgerwesens bildet den Gegenpol eines Arbeitsethos, das auf die Familie bezogen ist und die Pflicht zur Bildung mit ein­ schließt, aber sich nicht in ihr erschöpft. Während der Begriff der vocation, d. h. der Berufung zur Arbeit an den Platz, an den Gott den einzelnen gestellt hat, unmittel­ bar an die ‘Institutio religionis christianae’ (1536) Calvins erinnert - in der franzö­ sischen Fassung31 spricht Calvin nicht von travailler, sondern von labourer —, bleibt das vorgestellte Ideal insgesamt im Rahmen der bewunderten ‘Utopia’. Damit kommt aber ein Aspekt ins Spiel, durch den die gesamte epische Tradition überholt wird. Das »mock-heroische« Element (mit dem angelsächsischen Terminus) dient zur karnevalesken Subversion der alten Ordnung und bereitet das durchaus ernsthafte Gegenmodell konstruktiver gesellschaftlicher Arbeit vor. Die Epenparodie des­ avouiert die mit der Gattung transportierte heroisch-feudale Ethik. Sie tut dies ein­ mal mit moralischen Argumenten: ce que les Sarazins et Barbares jadis appelloient prouesses, maintenant nous appelions briguanderies et mechansetez (Garg. XLVI, S. 171). Und sie tut dies zum anderen mit dem entlarvenden Hinweis auf das reale Bündnis zwischen Monarchie und Finanzbürgertum: Les nerfs des batailles sont les pecunes (S. 171). Von der Rolle des Geldes wird noch zu sprechen sein. Zunächst aber ist der Weg frei für die positive Utopie: im ‘Pantagruel’ durch die Eroberung der Stadt der Amauroten (einer Anspielung auf die Hauptstadt Utopias bei Thomas Morus), im ‘Gargantua’ durch die Einsetzung von Ponocrates als Gouverneur der neuen Provinz und durch die Gründung des neuen weltlichen Klosters auf Wunsch des Mönches Jean, der requist à Gargantua qu’il instituast sa religion au contraire de toutes aultres (S. 189). Das Ideal der freien Gemeinschaft von Thélème in Kap. VII des ‘Gargantua’ paßt zunächst scheinbar kaum zu dem Gesagten, denn es liegt auf der Hand, daß das entworfene Modell einer von jeglichen Alltagszwängen entlasteten Gesellschaft edler Männer und Frauen nicht unmittelbar auf den Arbeitsbegriff bezogen werden kann. Genève 1959 (Travaux d’Humanisme et Renaissance 32) und ders., Some Stoic Thoughts in Rabelais’s Religious Thought (the Will —Destiny —Active Virtue), Etudes rabelaisiennes I (1956), S. 73-97. 31 Jean Calvin, Institution de la religion chrétienne, hg. v. Jean-Daniel Benoit, Paris 1957—63, 5 Bde., Buch III, 10.

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Nach Erich Köhler32 wäre das Auswahlprinzip sogar in Analogie zu Calvins Prä­ destinationslehre als säkularisierte Gnadenwahl zu verstehen, welche die auf Ar­ beit und Aktivität gegründete Vorstellung des Verdienstes wieder zurücknimmt. Offensichtlich ist die Anbindung dieser weltlichen Utopie an das Gesamtwerk schwierig. Die Sonderstellung der Abtei Thélème wird ja schon im Bruch mit dem bisherigen burlesken Register deutlich. Wichtig scheint indessen, das Prinzip der Verinnerlichung und der Ersetzung der Außenkontrolle durch Selbstkontrolle im Auge zu behalten, auf denen die Utopie des Zusammenklingens der Einzel willen in einem großen gemeinschaftlichen Wollen überhaupt erst beruht. Die religion au contraire de toutes aultres macht also den mentalitätsgeschichtlichen Nexus mit dem neuen Schub der Affektmodellierung sichtbar, den Norbert Elias33 aus zivilisations­ geschichtlicher Sicht in genau dieser Epoche ansiedelt. Wenn es Narrheit war, wie Gargantua meint, soy gouverner au son d’une cloche, et non au dicté de bon sens et entendement (S. 189), so gilt dies eben erst aus der neuen Sicht verinnerlichter Ratio­ nalität. In vieler Hinsicht ähnelt dann die Abtei Thélème dem humanistischen Traum eines Jean Lemaire de Beiges. Als Neuauflage des Palasts von Honneur, als Bildungs­ und Bücherparadies im Sinne von Labeur Hystorien, und als Utopie der Identität von Wissen, Bildung und Tugend gibt sie ein letztes Mal dem humanistischen Ideal der universellen Einheit Gestalt, das in den folgenden Büchern nicht durchgehalten wer­ den kann - oder womöglich überholt erscheint. Denn vom ‘Tiers Livre’ an ist die Auseinandersetzung mit der vergangenen Tra­ dition im Medium der epischen Heldenbiographie offensichtlich abgeschlossen; an ihre Stelle tritt die Suchfahrt Pantagruels und seiner Gefährten, und diese steht ihrer­ seits in der ganz anderen Tradition der wunderbaren Reise und der Entdeckung neuer Welten. So wenig nun letztere wieder mit unserem Thema zu tun hat, gerade hier scheint das Lob der Arbeit, gesteigert zu einem Hymnus auf menschliche Pro­ duktivität, zum zentralen Wertkriterium aufzurücken. Nicht allein, daß Pantagruel ein von Ponocrates mustergültig verwaltetes, auf Arbeit und Fruchtbarkeit gegrün­ detes Gemeinwesen zurückläßt, auch die phantastische Seereise selbst, in der antike und mittelalterliche Reminiszenzen vermischt sind, steht im Zeichen dessen, was Pantagruel mon livre de vie nennt. Es scheint, daß das burleske Ausgangsproblem: die Frage, ob Panurge heiraten soll, oder nicht und damit die Frage nach der Vorher­ sehbarkeit des menschlichen Schicksals, in tieferer Weise mit der Dimension der Offenheit, der Neugier und der Unverfügbarkeit der Zukunft verbunden ist und daß wiederum diese Unverfügbarkeit auf den produktiven Charakter der menschlichen Arbeit verweist. Die satirische Weltreise, die man mit den Phantasmagorien eines Hieronymus Bosch verglichen hat, gipfelt daher gegen Ende von Buch IV (Bd. II, Kap. LXI ff.) in dem Besuch auf der Insel des Messer Gaster und seiner Dame 32 Konstitutiv ist nach Erich Köhler die erasmische Vorstellung einer natürlichen Neigung zur Tugend und die daraus abgeleitete Kongruenz von Pflicht und Neigung: Die Abtei Thélème und die Einheit des Rabelais’schen Werks, GRM NF 9 (1959), S. 105-118, wieder­ abgedruckt in: E. K., Esprit und arkadische Freiheit, Frankfurt a. M. 1966, S. 142-157. 33 Norbert Elias, Der Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Unter­ suchungen [1969], Frankfurt a. M. 1976, Bd. 1, S. 89 ff. »Das Problem der Verhaltens­ änderung in der Renaissance«.

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Soufrete: Nach der satirischen Darstellung der diables Gastrolates wendet sich Pan­ tagruel a l'estude de Gaster, le noble maistre des arts (Bd. II, Kap. LXI, S. 224). Die dem Genus des komischen Elogium zuzuordnende Lobrede auf Gaster ist von R. Marichal34 ausschließlich als Satire auf die Ficinisten und die neuplatonische Liebestheorie verstanden worden. Doch der Text, »apparemment Tun des plus clairs du Quart Livre« (Bd. II, S. 183) scheint keineswegs so klar zu sein, wie Marichal in polemi­ scher Wendung gegen Plattard und Lote behauptet. Der pervertierte Kult, der als »faul« bezeichneten Gastrolatres, die Tatsache, daß Gaster selbst confessoit estre, non dieu, mais paouvre, vile, chetifve creature (Bd. II, S. 223) und - in bezug auf die Erfin­ dung der Feuerwaffen — sogar diabolische Züge trägt, sprechen kaum gegen die Annahme, daß Rabelais mit der —deutlich von Lukrez inspirierten —Satire auf den neuplatonischen Idealismus auch eine positive Aussage verbindet, deren einseitig übertreibende Darstellung zugleich —wie in vielen anderen Modelltheorien des Ro­ mans — das ironische Korrektiv enthält. Man muß nicht mit Plattard35 von der Andeutung eines »matérialisme historique« sprechen, um die Bedeutung der in der Folge entwickelten Kulturentstehungstheorie »von unten« zu sehen. Für die allen materiellen Sorgen enthobenen humanistisch-höfischen Reisenden wird die Begeg­ nung mit Gaster zur lehrhaften Initiation in die Ursprünge der Produktivität. Als premier mestre es arts de ce monde steht Messer Gaster am Anfang aller Künste und Fähigkeiten: II inventa les moulins à eau, à vent, à bras, à aultres mille engins, pour grain mouldre et réduire en farine; le levain pour fermenter la paste; le sel pour lui donner saveur ..., le feu pour le cuire, les horloges et cadrans pour entendre le temps de la cuyste de pain, creature de grain. (Bd. II, S. 224)

Aber es bleibt nicht bei diesem symbolisch elementaren Register, das man der These Bachtins36 entsprechend der entmystifizierenden Funktion des volkstümlichen Re­ gisters des Körpers zuordnen könnte. Meister Gaster erfand auch Waffen zur Ver­ teidigung des Brotes, Medizin zur Heilung von Krankheiten, die Baukunst zum Schutz des Leibes usw. Arbeit und Erfindung sind hier die Ursprungskategorien eines unmittelbaren Weltbezugs, dessen Perversion der Leser zuvor bei den schola­ stischen Windessern, den Papimanen und den obszönen Bewohnern der Insel Ennasin kennengelemt hat. Wenn sogar davon die Rede ist, d’anéantir la gresle, sup34 R[obert] Marichal, Commentaires du »Quart Livre«, Etudes rabelaisiennes 1 (1956), S. 151-202, hier S. 183 ff. 35 Jean Plattard, François Rabelais, Paris 1932, S. 304. 36 Nach der frz. Übersetzung von Mikhaïl Bakhtine, L’œuvre de François Rabelais et la culture populaire au moyen âge et sous le renaissance, Paris 1970, Kap. VI, S. 366 ff. »Le >bas< populaire et corporel chez Rabelais«. Hierzu jetzt in einem breiteren epistemologischen Kontext Bernhard Teuber, Sprache —Körper —Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989 (Mimesis 4). Mit der Evidenz des Körperlichen hängt zusammen, daß Gaster, ohne Ohren erschaffen, »ne parle que par signes« (Bd. II, Kap. LVII, S. 210). Michael A. Screech, Rabelais, London 1979, reiht die Episode daher - ohne auf andere Interpretationen einzugehen - in die Leitthematik der Gestik in dem Romanzyklus ein: »Signs, gestures and actions are diverse facets o f the same complex notion« (S. 440). Gaster wäre so nicht nur ein Pendant zu dem Stummen Nazdecabre im ‘Tiers Livre’, sondern vor allem das Gegenbeispiel zu dem >Sophisten< Panurge, der redet, statt zu handeln.

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primer les vents, destourner la tempeste (Bd. II, S. 225), so wird das Moment aktiver Veränderung als Funktion menschlicher Arbeit deutlich. Die »nouveaux horizons de la Renaissance française«, von denen Geoffrey Atkinson37 im Hinblick auf die frühen Entdeckungsreisen gesprochen hat, setzen die Aufwertung der technischen inventio voraus, die wiederum auf die dichterische inventio zu verweisen scheint und so noch zuletzt den humanistischen Dichter adelt. So ist Dame Soufrete nicht zufällig die Mutter der neun Musen, die von der nachfolgenden Generation der Pléiade so stür­ misch aufgewertet werden sollten. Kunst und Wissenschaft haben mithin denselben Ursprung im Arbeitsbegriff; sie werden versöhnt durch Amour, le noble enfant mé­ diateur du Ciel et de la Terre (Bd. II, S. 209), wie es mit einem ironischen Seitenblick auf Piatos ‘Symposium’ heißt. Der Verbindung von Not und Fülle (abondance) ent­ sprungen, vermittelt er zwischen Erde und Himmel, Materie und Geist. Die leitmotivische Aufforderung zum Trinken, die im 5. Buch in dem Lobpreis der Dive Bouteille gipfelt, scheint die Identität von Lebensgenuß, geistiger Aneig­ nung und materieller Anverwandlung der Welt zusammenzufassen. Damit sind la­ beur hystorien im frühhumanistischen Sinn und materielle Aneignung der Welt im Zeichen frühneuzeitlicher Technik - man denkt unwillkürlich an das Beispiel eines Leonardo da Vinci - miteinander versöhnt. Die Arbeit als produktiv schöpferische Kategorie kann überdies unschwer auch noch mit mittelalterlichen Vorstellungen der Fruchtbarkeit nach dem Vorbild von Dame Nature verbunden werden. Nun beruht dieses harmonische Modell aber —wir sahen es schon bei Jean Lemaire —auf der Ausklammerung des Geldes, welches ja bekanntlich auch aus der ‘Utopia’ des Tho­ mas Morus verbannt wird. In dem oben angeführten Zitat, wo das Geld als Seele des Krieges apostrophiert wird, ist es sogar eine negative und kontraproduktive Kate­ gorie. Nicht zufällig ist daher am Anfang von Buch III das produktive Staatsmodell Pantagruels, das in dem berühmten Satz Je ne bastis que pierres vives, ce sont hommes (Bd. II, S. 427) kulminiert, zugleich die Antwort auf die Spiegelfechtereien des Wortverdrehers Panurge,38 der ein geschicktes Loblied auf das Schuldenmachen ge­ sungen hatte. Und in Buch IV wird erst die masochistische Jagd der Chicquanous nach Geld, Gold und Reichtum gezeigt (Kap. XII ff), bevor die positive Vision greifen kann. Offensichtlich liegt hier genau das Problem, dem etwa das utopische Modell eines Thomas Morus mit der konsequenten Abschaffung des Eigentums be­ gegnen möchte. Dem daraus resultierenden Problem von »Freiheit und Ordnung« ist Emst Bloch39 in seinem gleichnamigen Buch nachgegangen. Die humanistischen Utopien zeichnen sich alle durch die Tendenz aus, die Geldfrage symbolisch oder organisatorisch aus der Welt zu schaffen und die Positivierung von Erfindungsgeist und Leistung mit der Negierung der historischen Voraussetzungen zu erkaufen. Wir sind so erneut bei dem eingangs angesprochenen Syndrom angelangt. Dabei scheint es nicht allein um einen Adelskomplex der neuen Funktionselite zu gehen, so sehr dieser Aspekt Beachtung verdient. Mindestens ebenso wichtig dürfte ein anderer 37 Geoffrey Aktinson, Les nouveaux horizons de la Renaissance française, Paris 1935 (Nach­ druck 1969). 38 Vgl. Defaux, Pantagruel et les sophistes [Anm. 24], S. 170 ff.: »Panurge diabolologique«. 39 Vgl. Bloch [Anm. 28], S. 62 ff.

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Gesichtspunkt sein, den man als »Homologie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit« definieren könnte. Sie entspricht, wie es bereits die Ständemoralistik der Grands Rhétoriqueurs4041erkennen läßt, dem Leitbild einer vertikal gegliederten, aber produktiven Gesellschaft. Das Geld, von dem auch die Humanisten abhängig waren und auf dessen Anhäufung über Generationen hinweg häufig auch ihre Karriere beruhte, stellt sich als vermittelnde Kategorie par excellence einem solchen Ideal produktiver Unmittelbarkeit entgegen. Die Mechanismen seiner Verdrängung haben die frühneuzeitliche Utopie und abgeleitete Formen durchweg mit moderneren, ja noch heutigen Varianten eines intellektuellen Paradigmas der Unmittelbarkeit ge­ mein. In diesem problemorientierten Sinn möchte man von der >Modernität< der Epoche sprechen. Die noch nicht höfisch gewordene Elite bedarf des Leistungs­ denkens zur Legitimation ihrer eigenen gesellschaftlichen Funktion, verdrängt aber andererseits jede Erwerbsvorstellung im engeren oder gar kaufmännischen Sinn und huldigt in bezug auf die materiellen Grundlagen der Gesellschaft einem eher kon­ servativ-idyllischen Bild produktiver Ordnung. Der Abstand vom Geld, d. h. vom Erwerbsleben, konstituiert dann ein — im frühhöfischen Kontext eher paradoxes, aber nicht irreales —Ideal der Freiheit, das letztlich auch die Kategorie der Arbeit tangiert. So gibt sich humanistische Weisheit in der erasmischen ‘Laus stultitiae’ (1509) in karnevalesker Verkehrung als Narrheit zu erkennen, denn als solche erweist sich der Widerstand gegen die Allmacht des Geldes: En un mot, allez partout ou vous voudrez [...], chez les grands, chez les petits, partout vous verrez qu’on n’a rien sans argent comptant; et comme les sages méprisent l’argent, il n’est pas étonnant que tout le monde les évite.*1

Die närrische Gegenutopie der Insel der Seligen, von der die Torheit kommt, ist dann der Ort einer mythischen Fruchtbarkeit, die auch noch die Kategorie der Arbeit ausschließt. Und einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß schon das Felsenparadies des Jean Lemaire auch als Bild des Widerstands interpretiert werden kann und daß dieser Turm das Turmzimmer Montaignes symbolisch vorwegnimmt. 40 So heißt es z. B. in ‘Les Lunettes des Princes’ von Jean Meschinot: Mais quant ung prince fait devoir D ’ouvrer en sa vacation, Selon sa puissance et sçavoir, Laissant toute vacation Et maulvaise application, On ne peult trop honnorer. Le prince est faict pour labourer. Nompas du labeur corporel Ainsi que les gens du village, Mais gouvernant son temporel Justement, sans aulcun pillage. (hg. v. Charles Martineau, Genève 1972, S. 57f., V. 816 ff.). 41 Zitiert nach der frz. Ausgabe Eloge de la folie, hg. v. Armand Hoog, Paris 1959 (Biblio­ thèque de Cluny), S. 130. Vgl. Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Übers, der amerik. Ausgabe von 1965, Frankfurt a. M. 1987, Kap. 4: Die Narrenherrschaft, sowie Könneker [Anm. 17].

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Bei Montaigne steht dem Essay gegen das Nichtstun und den Müßiggang (De la fainéantise, Essais 11,21) gleichsam seitenverkehrt die Aufwertung der freien Muße in ‘De l’oisiveté’ (1,8) gegenüber. Arbeit und geistige Freiheit treten in einen proble­ matischen Bedingungszusammenhang, der nicht erst seit Montaigne für humanisti­ sches Denken charakteristisch erscheint. Es sei daran erinnert, daß schon Thomas Morus zwischen Fleiß und »sklavischer Schinderei« unterscheidet und in seiner ‘Uto­ pia’ nicht mehr als sechs Stunden echte Arbeit am Tag vorsieht, während der Rest für »nützliche Beschäftigungen«, z. B. »literarische Studien« verwendet werden solle; wobei einer Gelehrtenschicht dauernde Arbeitsbefreiung zum Studium der Wissen­ schaften zuteil wird. Damit ist aber auch die Arbeit selbst tendenziell als Entfremdung gekennzeichnet und der alte Gegensatz von otium und negotium kann neu bestimmt werden. Wir wollen dies an einem letzten signifikanten Beispiel verdeutlichen. Es handelt sich um das wenig bekannte Dialoggedicht Saulsaye, églogue de la vie solitaire (1547) von Maurice Scève. Der 1564 verstorbene Petrarkist und Neuplatoniker, der die sog. Lyoner Renaissance maßgeblich geprägt hat, verbindet hier die mittelalterliche Tra­ dition des Streitgedichts mit der der antiken und humanistischen Ekloge und deutet zugleich den lebensweltlichen Charakter des argumentum durch die Verlegung der topischen Idylle in die heimatliche Flußlandschaft zwischen Rhone und Saône an. Thema ist —wenige Jahre nach dem europäischen Erfolg von Antonio de Guevaras Lob des Landlebens, Menosprecio de corte y alabanza de aldea (1539) —die Suche nach selbstbestimmter Muße. Betrachten wir zunächst den Handlungsrahmen. Antire trifft im Wald den ver­ störten, von der Liebe und der Welt enttäuschten Philermc und zeigt sich darüber verwundert, daß ein Mensch im scheinbaren N i c h t s t u n und in der Wildheit der Natur sein Genügen finden kann. Philerme fühlt sich getroffen und sucht anfangs nach Entschuldigungen, im Laufe der Diskussion aber gelangt er zum vollen Be­ wußtsein seiner Haltung und verteidigt diese gegen das Nützlichkeitsargument seines Freundes. Wir haben es also mit einer inneren Dynamik des Gesprächs zu tun, die anders als im mittelalterlichen débat über den Austausch der Argumente hinausführt. Gleichzeitig erinnert der Ausgangspunkt: Gegensatz Weltleben —Natureinsamkeit deutlich an den alten Gegensatz zwischen vita activa und vita contemplativa, wobei letztere - ganz unmittelalterlich - einer spontanen Abwertung unterliegt. Ziel ist dann die erneute Aufwertung und Behauptung der älteren Position mit neuen Ar­ gumenten und auf höherem Bewußtseinsstand. Sehen wir, wie dies geschieht. Antire urteilt zunächst ganz aus der Position des bürgerlichen Erwerbs- und Nützlichkeitsdenkens, dem Phileme vorerst nur das mo­ ralische Argument der Versklavung durch Reichtum entgegensetzen kann. Aus der Sicht Andres wenig überzeugend, denn es zeigt sich, daß auch er implizit moralische Kriterien anlegt: Der Erwerb von Hab und Gut, d. h. Arbeit und Gewinnstreben, erscheinen nämlich nicht als Ziel an sich, sondern als eine Strategie zur Vermeidung des Lasters, das durch den Müßiggang begünstigt werde. In dieser negativen Bestim­ mung - als Heilmittel gegen Müßiggang und Zügelung von Begehrlichkeit —trifft sich ja die scholastische Definition der Arbeit mit reformatorischem Denken: Arbeit zur »planmäßigen Reglementierung des eigenen Lebens«, mit Max Webers bereits

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genannter Formel und als Form der Selbstkontrolle. Doch Antire bringt darüber hinaus auch den Ehrbegriff ein; ein ursprünglich aristokratischer Begriff wird auf diese Weise mit bürgerlichem Erwerbsleben in Beziehung gesetzt. Et tu en vois, que, nonobstant qu’ilz ayent Du bien assez, toutesfois Hz essayent De travailler, non pour plus acquérir, Mais seulement pour se voir davantage Avoir gaigné ce renom devant aage, Que Ion acquiert pour celle vertu suyvre, Qui nous fera apres la mort revivre42 Da Antire zuvor die Arbeit als die Qualität definiert hat, die den Menschen vom Tier unterscheidet, ist es nur folgerichtig, wenn Antire dann den Rückzug aus dem bürgerlichen Erwerbsleben als moralisch fragwürdig und als eine Art freiwilligen Tod definiert. Als ob er jedem Gegenargument seines Freundes zuvorkommen woll­ te, beweist er ihm, daß das Land keine Alternative, sondern immer nur ein Ort der Erholung sein könne, ja daß erst der Kontrast von Stadt und Land den Reiz des letzteren ausmache: Or tout plaisir, qui le voudra chercher,/ N ’est jamais bon, sinon qu’il couste cher (S. 184). Erst die Anspannung sorgt mithin fur den Zauber der Entspan­ nung. Dies erscheint so unmittelbar modern, daß die Antwort nur ebenso >modern< ausfallcn kann: indem sie den Sinn des eben erst entdeckten und aufgewerteten Arbeitsbegriffs wieder in Frage stellt. Der Rückzug aus dem Zwangsbereich bürger­ licher Ehre wird als Rückzug in eine ursprüngliche simplicité und vie innocente fern von vaine gloire, biens transitoires und honneurs begriffen und als höhere Form der joyeuseté, einer an Rabelais erinnernden Fröhlichkeit, definiert. Das heißt aber nichts anderes, als daß die scheinbar wiedergefundene vita contemplativa wenig mit mittel­ alterlicher Askese zu tun hat und stattdessen auf eine neue Aneignung des Kosmos hinzielt, die gerade durch die arbeitsteilige Aneignung im bürgerlichen Leben ver­ hindert wird. Nicht zufällig stellen sich ja auch die Anspielungen auf die arkadisch­ bukolische Tradition mit ihrem Hof-Land-Gegensatz ebenfalls als trügerisch heraus. Das Ideal einer rurale science im Zyklus der Jahreszeiten und im Eingehen auf die konkrete Welt ist gebunden an eine anstrengungs- und absichtslose Haltung, die allein die innere Autonomie des Ich zu verbürgen scheint: Il vit à soy sans témoing, qui le juge./ Il pend de soy, comme qui est son juge (S. 186). Dies scheint bereits Montaigne vorwegzunehmen und zeigt den Abstand zu dem humanistischen Optimismus der Frührenaissance. Fassen wir zusammen: Im Zeichen kosmischer Ganzheit und eines universalen Bildungsideals hatte die humanistische Frührenaissance - bei Lemaire de Beiges — den Arbeitsbegriff als Funktion schöpferischer Produktivität entdeckt. Aber in dem Maße, wie jener zugleich als Funktion von Bereicherung und Entfremdung avant la lettre begriffen wird, setzt das Ideal des Wissens und der Selbstgewinnung schon wieder die Infragestellung der Arbeit voraus oder doch deren Problematisierung. 42 Œuvres poétiques complètes de Maurice Scève, hg. v. Bertrand Guégan, Paris 1927 (Nach­ druck 1967), S. 181. Vgl. auch Verdun-L. Saulnier, Maurice Scève (ca. 1500-1560), Paris 1948—49 (Nachdruck 1981), 2 Bde., S. 312 ff.: »La retraite bucolique«.

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Vielleicht gilt dies sogar schon fiir den späten Rabelais, denn es ist zumindest auf­ fällig, daß der Verehrer der ‘Utopia’ des Freundes Thomas Morus auf eine genauere Beschreibung seiner eigenen Utopia - mit Ausnahme der Abtei Thélème - weit­ gehend verzichtet und stattdessen seine Helden lieber auf eine - nicht weiter be­ gründbare - Suchfahrt schickt. Sie wäre dann zu interpretieren als Audruck des bewußten Verzichts auf die traditionell humanistische Verbindung von Arbeit und Wissen. Und vielleicht wäre dann die freiheitlich lustvolle Lebensführung der gentils compagnons in der Abtei Thclème doch als Gegenentwurf zu einem auf Arbeit ge­ gründeten Lebenskonzept zu verstehen. Wir hätten es also schon bei Rabelais mit zwei konfligierenden Haltungen zu tun, um deren Harmonisierung sich der schalk­ haft lachende Autor erst gar nicht bemüht. Offensichtlich ist die aufgebrochene Widersprüchlichkeit vorerst nur im Lachen, in der karnevalesken Subversion, wie Bachtin gezeigt hat, zu ertragen. Die nachfolgende Generation der Pléiade, anders als die Humanisten der Reformation eine »höfische Generation«, schiebt die genuin bürgerlich intellektuelle Problematik beiseite und schafft sich mit der neuen Inspira­ tionstheorie platonischer Herkunft ein ideologisches Instrument, das Auserwäh­ lung von Gnade und Begabung, nicht mehr von Arbeit und Fleiß abhängig er­ scheinen läßt. In nur wenigen Jahrzehnten durchmißt die französische Frührenais­ sance so das ganze Spektrum der Problematik, die inhaltlich neu, im Rückgriff auf alte Gattungen und Traditionen reflektiert, demonstriert, relativiert und schließlich bewußt ignoriert wird.

Gerhild Scholz Williams

Faust verfuhrt: Epikur in der Frühen Neuzeit

Der glücklichen Natur ist es zu verdanken, daß sie das Notwendige leicht erreichbar und das schwer Erreichbare nicht notwendig gemacht hat. (Epikur)

In einer kürzlich in Amerika veröffentlichten dreibändigen Aufsatzsammlung zum Renaissance-Humanismus erscheint das Wort >Epikur< in den Variationen >EpicureanismEpicurians< und >Epicurus< als Stichwort ganze fünfzehnmal. Im dritten Band verweist Paul Oskar Kristeller außerdem kurz auf die positive Rezeption von Epi­ kurs Lehre bei Valla, Raimondi und Ficino.1 Im wesentlichen scheint die Wirkung Epikurs in der Frühen Neuzeit auf diese Humanisten beschränkt zu sein. Demgegen­ über stellt Gerald Strauss unter Hinweis auf den Gebrauch des Namens Epikur und seiner Variationen bei Luther, Calvin und Melanchthon fest, daß mit dem sechzehn­ ten Jahrhundert das Wort >Epikureer< ein Schlagwort (»buzzword«) geworden war und als solches benutzt wurde.2 Howard Jones begeht in seiner Studie zur epikure­ ischen Tradition den Mittelweg zwischen beiden Fronten, indem er nachweist, daß sich die Erwähnung des Namens Epikur im fünfzehnten und im sechzehnten Jahr­ hundert zwar häuft, ein tieferes Verständnis seiner Philosophie jedoch ausbleibt. Er verfolgt den Gang der Philosophie Epikurs durch die Zeitalter bis ins achtzehnte Jahrhundert.3 1 Paul Oskar Kristeller, Humanism and Moral Philosophy, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy, Vol. 3: Humanism and the Disciples, hg. v. Albert Rabil, Jr., Philadelphia 1988, S. 271-309. 2 Brief vom 21. Januar 1990. Hiermit sei Prof. Strauss fur seine hilfreichen Hinweise gedankt. 3 Howard Jones, The Epicurean Tradition, London/New York 1989. Das Buch beschreibt zuerst in Kürze die Grundzüge der Philosophie Epikurs, verfolgt ihre Verbreitung von Griechenland nach Italien, ihre Aufnahme und Kommentierung bei den Kirchenvätern, ihr »mittelalterliches Zwischenspiel« und, für uns besonders wichtig, ihre Aufnahme und Dis­ kussion unter den Humanisten, erst in Italien und dann in Nordeuropa. Jones stellt fest, daß Epikurs Lehre als emstzunehmende Philosophie oder kritisierter Hedonismus im Mittelalter kaum eine Rolle spielt, im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eine sehr geringe verglichen mit den viel bekannteren Stoikern, Neoplatonikern und den Peripatetikem. Jones untersucht die Druckgeschichte der Hauptwerke, die Epikurs Lehre vermitteln. Lukrez’ ‘De rerum natura’, Diogenes Laertius’ ‘Leben berühmter Philosophen’ und der Schriften Ciceros, in denen epikureisches Gedankengut im allgemeinen nicht positiv kom-

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Meine Arbeit gilt der Untersuchung der vielfältigen, oft widersprüchlichen We­ ge, auf denen Epikur das späte fünfzehnte und ganz besonders das sechzehnte Jahr­ hundert begleitete und inspirierte; mein Interesse gilt der Wirkungsgeschichte dieses Konzepts und, notwendigerweise kurzgefaßt, dem Zusammenhang von Sozialdiszi­ plinierung und der Polemik gegen epikureische Transgressionen in der ‘Historia von D. Johann Fausten’.4 Es wird zum Schluß zumindestens in aller Kürze zu fragen sein, inwieweit sich der Begriff des Epikureismus als brauchbar erweist in der Artikulation religiöser, philosophischer und politischer Orthodoxien und Heterodoxien und inwieweit die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts virulent werdende Hexenverfolgung in Ver­ bindung zu bringen ist mit der Unfähigkeit der angeklagten Frauen, eine adäquate Sprache religiöser Dissidenz zu entwickeln. I

Epikur, dem neben Sokrates, Plato und Aristoteles sicher bekanntesten griechischen Philosophen aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, erging es in der Frühen Neuzeit nicht anders als immer schon. Der Name >Epikur< war ein Schlagwort mit vielfältigen positiven und negativen Bedeutungsvarianten, aber vor allem ein Signal der Häresie und der Verdammung, seit seine Philosophie von den Kirchenvätern und im Mittelalter rezipiert wurde. Mit ganz besonderer Eindringlichkeit reflektiert ihre Rezeption die religiöse und politische Zerrissenheit des reformatorischen Jahrhun­ derts. Leidenschaftlich verteidigt, aber auch vielfach mißverstanden und geschmäht, war Epikurs Philosophie, wie Jungkuntz meint, »ein guter Knüppel, mit dem man alle möglichen Häretiker schlagen konnte«.5Jemanden einen >Epikureer< zu schimp­ fen, ob moralisch, politisch oder religiös verstanden, bedeutete immer auch den Versuch, den so Bezeichneten außer Gefecht zu setzen, ihn an den Rand der Dis­ kussion zu drängen, zu marginalisieren.6 Die Philosophie, die Epikur im privaten Bereich seines Hauses und Gartens im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts einer ausgewählten Gruppe von An­ mentiert wird. Wiederholt stellt er fest, daß selbst Humanisten, die Lukrez hoch schätzten, noch lange nicht Epikur in diese Hochschätzung einbezogen, »embracing Lucretius the poet while rejecting the Epicurean message« (S. 162). Er konstatiert, daß spätestens mit dem Mittelalter zwei Epikur-Inkarnationen die Vorstellung von der Lehre dieses Philosophen beherrschten, die des Hedonisten und Erzhäretikers und die des Philosophen, der sich in der Weltabgeschiedenheit seines Gartens im Kreise seiner Freunde der Naturbetrachtung und den geistigen Freuden eines maßvollen Lebens hingab. Erst Mitte des siebzehnten Jahrhun­ derts, mit den Arbeiten des Franzosen Gassendi, rückt Epikur mehr ins Zentrum philo­ sophischer Diskussionen. —Die Aufsatzsammlung von Margaret Osler lag bei Drucklegung leider noch nicht vor: M. O. (Hg.), Atoms, Pneuma and Tranquillity. Epicurean and Stoic themes in European thought, Cambridge u. a. 1991. 4 Historia von D. Johann Fausten. Text des Drucks von 1587. Kritische Ausgabe, hg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988. 5 R. P. Jungkuntz, Fathers, Heretics, and Epicureans, The Journal o f Ecclesiastical History 1966, S. 3. 6John Yoders Kommentar zu Marc Lienhard in: Croyants et sceptiques [Anm. 29], S. 51—53, hier S. 51.

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hängern, darunter auch Frauen, vortrug, gab seit jeher Anlaß zur Kritik. Seine Göt­ ter lebten in ewiger Indifferenz und unberührter Glückseligkeit in ihrem Himmel, sie trugen keine Verantwortung für das Leiden der Welt, ihre Unsterblichkeit war keine Auszeichnung, ihre Haltung den Menschen gegenüber von undurchdringlicher Gleichgültigkeit. Der Mensch Epikurs fürchtete nicht den Tod, hatte deshalb auch keine Furcht vor den Göttern.7 Er strebte weder nach Ruhm noch nach politischer Macht. Das höchste Gut war das Leben in der Harmonie mit der Natur und mit sich selbst. Lernen und Lehren bedienten sich sanfter Überzeugung, nicht scharfer Drill­ methoden. Das gemeinsame Lernen war ein lebenslanger Prozeß, der unter dem wachsamen Auge des weisen Lehrers ablief. Da nach dem Tode keine Unterwelt drohte, entfiel für die Anhänger Epikurs die Furcht vor Strafe als Mittel der Sozial­ disziplinierung.8 Die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit, eine ausgeprägte Leidens­ scheu9 und eine sanft entschiedene Weigerung, sich den Problemen des Lebens zu stellen und in Arbeit und Mühe sein Leben hinzubringen, machten die Haltung der Epikureer Generationen von Christen, aber ganz besonders den Reformatoren noch verdächtiger als ihre Philosophie.10 Das Universum Epikurs bestand aus Atomen und leerem Raum. Die Atome formten eine Vielzahl von Welten; die Menschen, die Seele, die Götter; alles, was nicht Leere war, setzte sich zusammen aus Atomen von unterschiedlicher Feinheit. Die Schöpfung war das Resultat einer momentanen Unordnung in der Bahn der Atome, wonach die neu etablierte kosmische Ordnung nicht mehr unterbrochen wurde. Epikurs Atome sind von unendlicher Zahl. Sein Kosmos erschließt sich nicht dem bewundernden und forschenden Blick des Menschen, denn der Mensch steht dieser Welt distanziert und leidenschaftslos gegenüber. Epikurs Mensch ist kein Stür­ mer und Dränger, kein Entdecker und Forscher; die Betrachung der Natur befreit ihn von der Furcht vor dem Tode, sie spornt ihn nicht zu Höhenflügen unerlaubten Wissenwollens an.11 Im Zentrum der Philosophie Epikurs stand immer und nach­ drücklich die Glücksmöglichkeit des Menschen.12 Fragen über die Natur des Uni­ versums sollten ihn nicht beunruhigen, denn das Ziel des menschlichen Lebens war allein die gleichmütig-glückselige Anschauung der Schöpfung, deren Ursprung un­ bekannt bleiben mußte.

7 Benjamin Farrington, The Faith o f Epicurus, London 1967; A. Festugière, Epicurus and his Gods, Oxford 1955; weiterflihrcnd die Bibliographie von Howard Jones [Anm. 3]. 8 »Death, the most horrifying of evils, is nothing to us, since, for the time that we are alive, it is not present, and, whenever it comes, we no longer exist. Therefore, death concerns neither the living nor the dead« (Jones [Anm. 3], S. 61). 9 »Every animate thing, the moment it is bom, reaches out for pleasure and shrinks from pain« (Norman Wentworth de Witt, Epicurus and his Philosophy, N ew York 1954, S. 129). 10 Gottfried Maron, Martin Luther und Epikur. Ein Beitrag zum Verständnis des alten Luther, Hamburg 1988, S. 30 u. 31. Jones konnte Marons Studien nicht mehr berücksichtigen, was seine Diskussion von Luthers Haltung zu Epikur sehr kurz ausfallen läßt. 11 Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 21973, S. 65. 12 Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarb. Neu­ ausgabe der Legitimität der NeuzeitCuriositas< und >erfarung< der Welt im frühen deutschen Prosaroman, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation, hg. v. Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien Berichtsbände 5), S. 253-271. 16 Eleonore Belowski, Lukrez in der französischen Literatur der Renaissance, Nendeln 1934 (Romanische Studien 35). Jones [Anm. 3] meint zur Rezeptionsgeschichte von Lukrez’ ‘De rerum natura’, daß die Rezeption wesentlich zögernder vonstatten ging als angenommen und daß sie sich auf einen kleinen Kreis von Humanisten beschränkte, der die Bewunde­ rung des Dichters Lukrez von der Übernahme der epikureischen Naturlehre durchaus zu trennen wußte (S. 142-165).

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kungsmöglichkeiten gleichermaßen unergründlich und unbegrenzt. Die Schöpfung einer Vielzahl von Welten ist in dieser Unbegrenztheit göttlicher Handlungsmög­ lichkeiten nicht nur denkbar, sondern sie wird zur Voraussetzung göttlicher Macht und unergründlicher kosmischer caprice} Ί Weitergedacht bedeutet diese Unbegrenzt­ heit aber auch, daß die Vorstellung von atomistischer Unendlichkeit und göttlicher Allmacht zur Zerstörung des aristotelischen Kosmos fuhren mußte (Blumenberg, S. 180). Die Trennung in sub- und supralunare Sphären entfiel, und damit wurden die durch den aristotelischen Kosmos der astronomischen Spekulation gesetzten Grenzen hinfällig; der Kosmos begann, sich ins Unendliche zu erweitern. In diesem Kontext büßten die aristotelische Kosmosarchitektur und der platonische Ideen­ kosmos in dem Maße an wissenschaftlicher Autorität ein, wie die kopernikanische Astronomie an potentieller rationalistischer Überzeugungskraft gewann.1718 II

Wie weit war die Lehre Epikurs im sechzehnten Jahrhundert verbreitet? Selbst die bei weitem nicht erschöpfende Aufstellung von F. Joukovsky zeigt, daß die Lehre sich de facto einiger Bekanntheit erfreute.19 Diogenes Laertios’ Biographiensamm­ lung berühmter Philosophen wurde 1533 zum ersten Mal in Basel gedruckt. Schon 1475 war eine lateinische Übersetzung in Italien erschienen. Die Basler Edition ent­ hielt drei Briefe Epikurs, die als Zusammenfassung seiner Lehre gelten können: Ein Brief an Herodot beschreibt seine Naturlehre, ein weiterer Brief die Himmels­ erscheinungen, und ein dritter kommentiert Epikurs Morallehre. Außerdem enthielt die Edition vierzig Sentenzen, die entweder von Epikur selbst oder von einem seiner Schüler stammen. Das heißt, dem Leser des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhun­ derts war über die Polemik hinaus die originäre Lehre Epikurs durchaus zugänglich. Als ebenso wichtig für die Wirkungsgeschichte Epikurs in der Frühen Neuzeit er­ wies sich die sekundäre Epikurrezeption, d. h. die Vermittlung epikureischen Ge­ dankenguts durch die Schriften Ciceros, besonders die Traktate ‘De fato’, ‘De natura deorum’ und ‘De fmibus Tusculanes’. Auch Plutarch widmete Epikurs Philosophie einige Aufmerksamkeit, die erste griechische Edition seiner ‘Moralia’ erschien im Jahr 1509 in Italien, Übersetzungen ins Lateinische und ins Französische folgten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Von entscheidender Wichtigkeit für die Ver­ breitung epikureischen Gedankenguts vor und nach 1500 war außerdem die schon erwähnte Schrift ‘De rerum natura’ des Lukrez, die 1471 in Brescia zum ersten Mal 17 Nikolaus von Cues verweist darauf, daß Epikur eine Vielheit und eine Äquivalenz der Welten postuliert hatte. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwclle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe der »Legitimität der Neuzein, Vierter Teil, Frankfurt a. M. 21976, S. 66. 18 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopemikanischen Welt, Frankfurt a. M. 21989; vgl. auch Owen Gingerich, Copernicus »De revolutionibusrichtig< oder >falsch< verstanden, beeinflußte die Morallehren ver­ schiedenster Philosophen und Theologen; zweitens fand sie Eingang in die Ethik der Frühen Neuzeit, und sie beinflußte drittens die Kosmologie, das Naturverständnis und die Soziallehre bis hin in die Zeit der Aufklärung. Die Rezeptionsstränge blie­ ben selten säuberlich getrennt; meistens vermischte sich das Rationalistisch-Kosmologische mit der Morallehre, z. B. bei Pomponazzi und den Humanisten an der Akademie von Padua, etwa bei Henri Estienne und Jacques Gruet oder am Ende des Jahrhunderts bei Giordano Bruno. Diese Humanisten akzeptierten die Möglichkeit einer Vielzahl von Welten in einem unendlichen Kosmos, sie äußerten Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele, an der Gottessohnschaft Christi und an der Dreieinig­ keit. Giordano Bruno lehnte gar die Realität der Hölle ab. Diese Heterodoxien hatten ihrerseits schwerwiegende Konsequenzen im mangelnden Sündenbewußtsein dieser >Epikureerwahren< Lehre näherzukommen.23 Ob Valla sich mit den Worten des Christen Ni­ colaus oder des Epikureers Antonius identifiziert, ist jedoch weniger wichtig als die Tatsache, daß Epikurs Lehre hier eine positive Rezension erfährt. Diese positive Meinung teilen vor Valla Boccaccio und Petrarca, nach ihm Landino und Ficino. Sein Zeitgenosse Poggio jedoch greift seine Ehrenrettung Epikurs leidenschaftlich an, und auch Salutati äußert sich negativ zum Thema.24 Erasmus’ Vertrautheit mit Vallas Schriften und seine Verehrung für ihn sind bekannt, seine Interpretation von epikureischer Freude als geistliche Hingabe läßt auf Vallas Einfluß schließen. Luther dagegen, in einem für den heutigen Leser eher amüsanten logischen Kurzschluß, schalt Erasmus nicht nur einen Epikureer im traditionell-negativen Sinne, sondern er ging einen Schritt weiter und nannte ihn >atheosEpikur< und seiner Derivate in Luthers ‘Tischreden’ auf 85 negative Bedeutungen, ein guter Teil davon gegen Erasmus gerichtet.26 Marons Stu­ die über den alten Luther fügt dem bekannten Invektivenkatalog noch einige weitere Variationen hinzu; Maron verweist besonders auf die Verbindung von »atheus et Epicureus« in den Tischgesprächen.27 Selbst nach Erasmus’ Tod beschimpfte Luther diesen noch als Epicurissimus,28 Es wird klar, daß die Häufigkeit dieser Invektiven, der Nachdruck, mit dem sie immer wieder polemisierend in bedeutungsvollen Debatten erscheinen, weniger auf Sinnentleerung als auf durch allgemeine Bekanntheit ent­ scheidend erhöhte Schlagkraft des wie vieldeutig auch immer interpretierten Kon­ zepts schließen läßt. Die Polemik verschärfte sich mit der zunehmenden Angst der Protestanten vor der Zersplitterung der Gemeinde und der Lehre (Boyle, S. 69). Auch der Reformator Bucer, erst Freund, später Antagonist von Luther, bezeichnete seine Gegner im Streit um die protestantische Reform von Straßburg als >EpikureerLibertiner< und manchmal als >Atheisten< und versuchte, sie damit zum Schweigen zu bringen.29 Schwerer zu identifizieren sind mögliche positive Einflüsse der epikureischen Päd­ agogik auf Erasmus und auf den vermutlich von Erasmus beeinflußten Wickram wie auch auf die Kosmologie des Nikolaus von Kues und des Kopernikus.30 Doch die Invektiven überwogen bei weitem, und man tat sich im allgemeinen keinen Zwang an. So oft wie Luther Erasmus einen Epikureer schimpfte, attackierte Bucer mit demselben Begriff und allen seinen Synonymen seine Straßburger Mitbürger. Die Reformatoren hetzten gegeneinander, die Katholiken gegen die Reformatoren. Zwischen diesen Extremen, diesen polaren Gegensätzen der Bewunderung und Idealisierung der Lehre Epikurs als Beispiel für geistliche Freude und Bescheidenheit einerseits und der Benutzung als bitteres Schimpfwort und somit der schließlichen Abnutzung durch überhäufigen Gebrauch andererseits präsentiert sich die Wir­ kungsgeschichte des wie ungenau auch immer definierten Epikureismus im sech­ zehnten Jahrhundert.31 Eine weitere sicher auch von Lukrez und Horaz beeinflußte Form der Epikur­ rezeption, die des sinnenfreudigen, gefährlich unorthodoxen, jedoch noch nicht he26 Roland Crahay in: Croyants et sceptiques [Anm. 29], S. 53f. 27 Maron [Anm. 10], S. 28. Der Vorwurf des Atheismus wurde Epikur und seinen Anhängern schon zu dessen Lebzeiten gemacht (De Witt [Anm. 9], S. 279). 28 Boyle [Anm. 25], S. 70: »Epicurissimus: In his manner o f life he was without God, lived with a great sense o f security, and died in the same way«. 29 Siehe Marc Lienhard, Les épicuriens à Strasbourg entre 1530 et 1550 et le problème de l’Épicurisme au XVI' siècle, in: Croyants et sceptiques au XVI' siècle. Le dossier des »Epi­ curiens«. Actes du colloque organisé par le GRENEP, Strasbourg, 9-10 juin 1978, hg. v. M. L., Strasbourg 1981, S. 15-45, hier S. 34 u. 36. 30 Zu Wickram und Erasmus siehe die Dissertation von Elisabeth Waghall, Washington Uni­ versity in St. Louis 1992; zu Kopernikus und Epikur die genannten Arbeiten von Blumen­ berg. 31 Im >Frühneuhochdeutschen Glossan von Alfred Götze, Berlin 71967, S. 66 erscheint »epi­ kureisch« als mngläubig, materialistisch, schlemmerhaftMaterialistEpikureismenepikureischem< Wohlleben und tugendhafter Stand­ festigkeit gegenüber einem unberechenbaren Schicksal löst Massimi problemlos. Tu­ gend besiegt selbst die Götter und den Einfluß der Sterne: »Tugend besiegt die Götter und die Sterne,/ Tugend knüpft von neuem die von den Parzen zerrissenen Fäden/ ... Wenn das Schicksal droht, / dem Weisen kann es nichts anhaben. / Am Ende liegt die Ruhe nach den Mühen«.37 Der Mensch, der sein Glück im Himmel sucht, findet dort nichts als unbeteiligte Götter.38 Massimi mischt Aristotelisches mit Epikure­ ischem, wenn er von den vier Elementen spricht, aus denen alles geformt ist, und von der ganz leichten Materie, der quinta essentia, die die obersten Räume des Kosmos füllt. Das epikureische Universum ist unendlich und leer: »Man findet nie den Grund noch das Ende ... keine einzige Stimme ertönt in der Leere«.39 Dieser Kosmos er­ schließt sich dem Verstand, - die Welt ist erschaffen um des Menschen willen, damit er diesen Himmel mit Göttern füllt, die ihn in seiner Welteinsamkeit trösten sollen. Massimis zeitweilig an Zynismus grenzende Skepsis wird sich im sechzehnten Jahrhundert in den Soziallehren einiger scharf verurteilter und verdammter Refor­ mer wiederfinden.40 Einige von diesen, so etwa der schon erwähnte Henri Estienne, wagten Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Festellung, daß alle Religionen le­ diglich Produkte des Menschenhirns seien. Der Franzose Jacques Tahureau ging noch einen Schritt weiter mit der Behauptung, daß alle Institutionen, auch die Kirche, nur dazu dienten, den Menschen das Fürchten zu lehren.41 Das Echo Pomponazzis ist nicht zu überhören. In seiner Schrift ‘De immortalitate animae’ (1516) meint auch er, daß die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele eine Erfindung der Theologen sei, um die einfachen Menschen zum tugendhaften Leben anzuhalten. Pomponazzi po­ stuliert Tugend um ihrer selbst willen als das höchste Gut des Menschen und vor­ nehmste Aufgabe menschlicher Erziehung.42 Massimi starb, hundertjährig, am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Obwohl seine ‘Elegien’ noch gelesen wurden —man lobte das dichterische Talent des Autors, kritisierte jedoch seine Themenwahl und seine Offenheit —, geriet er allmählich in Vergessenheit. Erst in den Jahrhunderten nach der Reformation wird er hier und dort wieder erwähnt, hauptsächlich als Dichter der freien, sorglosen Muse in der Art der Vagantenlyrik. IV

Nach der teilweisen Aneignung und Umformung des moralischen, ethischen und kosmologisch-naturphilosophischen Gedankenguts Epikurs im Laufe der Jahr­ hunderte kam mit der Reformation die politische Wirkung. Über bisherige Inter­ 37 Vincuntur uirtute dei superantur et astra/ Parcarum rursus truncaque fila ligati ... sifata minantur ... posse nocere negat. / Aeternos uideo tandemfinisse labores (S. 314). 38 Nil praeter nudos inuenit esse deos (S. 404). 39 Insanit: cantus illic qui sperat amoenos:/ Nam uox: si tollas aera: nulla sonat (S. 406). 40 Margolin [Anm. 14], S. 1-33. 41 Gerhard Schneider, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 18. 42 Kristeller [Anm. 22], S. 83.

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pretationsvarianten hinausgehend, wandelten die Reformatoren Epikurs Philosophie in ein machtvolles Instrument politisch-kirchlicher Propaganda um. Die Lehren Epi­ kurs, in Italien schon hundert Jahre zuvor von den Humanisten vielfach und unter­ schiedlich interpretiert, trugen im reformatorischen Deutschland erheblich zur Schärfe der schismatischen Rhetorik bei. Die frühneuzeitliche Rezeption unter­ scheidet sich von der mittelalterlichen u. a. in ihrer politisch-religiösen Virulenz und in ihrer Wirkung auf die Wissenschaft. In raschen Metamorphosen brachte die Lu­ therische Reformation nicht nur viele rivalisierende Konfessionen und aggressiv fundamentalistische Glaubensgruppen hervor, sondern in ihrer Mitte entstanden auch heterodoxe Glaubenshaltungen, deren Hauptmerkmal eine zunehmende Skep­ sis gegenüber jedweder Religion überhaupt zu sein schien. In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts treten uns die Heterodoxien in einer Vielzahl von Neo­ logismen entgegen. Worte wie Atheist, Deist, Libertin und Nikodemiker erscheinen in der Mitte des Jahrhunderts im Sprachgebrauch neben >EpikureerEpikureer< Giordano Bruno und Vanini noch 43 Jean Wirth, »Libertins« et »Epicuriens«: aspects de l’irréligion au XVIe siede, Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 39 (1977), S. 601-627. >Nikodemiker< ist heute ungebräuch­ lich. Es handelt sich dabei um Menschen, die ihre wahre Religion hinter den Ritualen der jeweils akzeptierten Mehrheitsgläubigkeit verbergen. Carlo Ginzburg, Il nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell’Europa del 1500, Torino 1970. 44 Busson [Anm. 21], S. 156f. 45 Blumenberg berichtet, daß in einer der letzten Schriften des Kusaners ein »erstaunliches Lob für Epikur« auftaucht, und zwar im Zusammenhang mit dem oft zitierten Satz von Prot­ agoras, »aller Dinge Maß ist der Mensch, vom Seienden (urteilt er), daß es ist, vom Nicht­ seienden, daß es nicht ist« (Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung, hg. v. Hans Blumenberg, Bremen 1957, S. 23, 36).

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am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts den Flammentod, der eine, weil er nicht von der Vielheit der Welten lassen wollte (1600), der andere, weil er die Unsterb­ lichkeit der Seele bezweifelte (1619). Vanini hatte in einigen seiner Schriften die häretischen Lehren im Detail geschildert, ohne sie jedoch entsprechend zu verdam­ men. Im ‘Amphitheatrum’ widmete er der Philosophie Epikurs mehr als sieben Seiten.46 Die Reformatoren waren sich in diesem einen Punkt mit der Universal­ kirche einig: Luthers, Zwinglis, Calvins, Melanchthons und Bucers Ablehnung hatte ihren Hauptgrund darin, daß sie Epikurs Philosophie als eine Gefährdung der christ­ lich-protestantischen Gemeinschaft mißverstehen mußten. Selbst wenn man von der Vielzahl der Welten, von der Feme der Götter und der Polemik gegen Trinken, Essen und unmoralischen Lebenswandel einmal absieht, so blieben von der Lehre Epikurs weitere, den neuen Staats- und Religionsgebilden potentiell gefährliche Maximen. So zum Beispiel die Forderung nach der Freiheit des Individuums, die mangelnde Anteilnahme am politischen Gemeinwesen und die mit dem Tod der Seele unnötig werdende Furcht vor dem Letzten Gericht. Kurz gesagt, Epikur ver­ körperte die Wegwendung von allem, was in einem orthodox-protestantischen Staatswesen Gesetz und Ordnung garantierte. Epikurs Jünger eigneten sich nicht zu Machtspielen. In der Tat entnehmen wir der tabellarischen Aufstellung der Ord­ nungsstatuten der Stadt Straßburg aus den Jahren 1440 bis 1599, daß in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Klagen Bucers über die religiöse Indifferenz Zunahmen. Seine unermüdliche Polemik gegen die >Epikureer< und die >Libertiner< reflektierte seine Unfähigkeit, das Verhalten der Stadtbürger schärfer zu reglementieren. Wie die Stadtordnungen Straßburgs zwischen den Jahren 1521 und 1559 zeigen, hatten die Maßnahmen gegen das Glücksspiel, gegen Festlichkeiten, Prostitution, Fluchen er­ heblich zugenommen.47 Diese Entwicklung führte zu einem zunehmenden Exodus der radikalen Protestanten aus der Stadt; Männer wie Engelbrecht, Schultheiss und Ziegler suchten in anderen Städten Glaubensgenossen, die willens waren, sie aufzu­ nehmen. Bucers Versuch, kirchliche und weltliche Autorität unter seine Kontrolle zu bringen, indem er unermüdlich gegen seine Gegner, die >Ungläubigen< und die >EpikureerNikodemikerunorthodox< verurteilt wurden, >Epikureer< die bevorzugte Bezeichnung und Verurteilung bleibt. 4’ Jean Calvin, Les Scandales. Edition critique par Olivier Fatio, Génève 1984. 50 Calvin [Anm. 49], S. 137f„ S. 142 Anm. 257. 51 Calvin [Anm. 49], S. 157 Anm. 280. Michel Servet hatte mit Calvin über die Gotteskind­ schaft Jesu korrespondiert. Siehe auch Roland Bainton, Hunted Heretic. The Life and Death o f Michael Servetus. 1511-1553, Boston 1960 (1953).

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Menschen feind zuseyn, das heißt, antigesellschaftlich und gottlos zu leben (S. 28). Es ist einer der schwersten Vorwürfe Luthers und der Reformatoren gegen die Epi­ kureer, daß sie »Gottes und aller Menschen Feinde« seien.52 Die Unerschütterlichkeit und gleichmütige Distanz des epikureischen Menschen interpretierte Luther als ge­ sellschaftsfeindlich bzw. der Gemeinschaft gefährlich. In seinen Augen scheute der Epikureer Arbeit und Mühe, weshalb er sich bewußt von der Ehe und dem Dienst in öffentlichen Ämtern fernhielt. Am Anfang des Faust-Buchs wird wiederholt und warnend darauf verwiesen, daß Faust unermüdlich nach Verbotenem forscht, daß er aber andererseits auch melancholisch untätig seinen gefährlichen Gedanken nach­ hängt. Fausts Verdammnis besteht zum anderen Teil darin, daß sein Abfall in die »säuisch epikurische« Lebensweise erzwungen wird, weil er, als Punkt drei seines Paktes, geschworen hatte, Gott und der Welt feind zu sein (S. 20). Ich habe an anderer Stelle auf Fausts Leidensunfähigkeit hingewiesen.53 Dieser Charakterzug ist ein weiteres Zeichen, daß Faust dem Leser als Portrait eines Epikureers glaubhaft gemacht werden sollte. Faustus’ curiositas, diese frühneuzeitliche Falschinterpretation epikureischen Natur­ interesses, führt ihn in alle Lande, in den Kosmos und in die Hölle. Bisher hat man diese wissenschaftliche Neugierde, »zu wissen, was nicht zu wissen ist«, meistens als superbia, als Verstoß gegen den göttlichen Anspruch des alleinigen Wissens oder auch als Symptom der manisch-depressiven Melancholie verstanden.54 Für alle diese Inter­ pretationsmöglichkeiten gibt es im Text überzeugende Belege. Wenn wir jedoch davon ausgehen, daß in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts die Natur­ lehre und Kosmologie Epikurs wiederauflebten, etwa in der Astronomie des Ko­ pernikus, in der Rezeption kopernikanischer Postulate bei Digges und Giordano Bruno, und wenn wir weiter feststellen, daß das geozentrische Weltbild erschüttert wird und die Möglichkeit einer Vielzahl von Welten unwiderstehlich in das Be­ wußtsein der Gelehrten eindringt, dann ist das Volksbuch nicht nur eine Warnung vor Wissensdurst und Teufelspakt, sondern auch ein beredtes Zeugnis für das Be­ mühen um die Aufrechterhaltung des traditionellen Weltbildes, das nun unweiger­ lich ins Wanken zu geraten schien. In der Forschung zum Faust-Buch ist wiederholt bemerkt worden, daß Faust auf seinen Reisen in den Kosmos und in die Hölle nichts sieht, was nicht schon lange bekannt war. Sein Tod wird hauptsächlich seiner persön­ lichen Schuld angelastet. Man muß jedoch weiter gehen: Fausts Verdammnis bürgt für die Orthodoxie einer Kosmologie, die kurz vor dem intellektuellen Zusammen­ bruch steht. Er legt aber auch Zeugnis ab für das neue Gemeinwesen, in dem man heiratet und der Gemeinschaft dient. Faust ist von beidem ausgeschlossen. Der Text wird vom Autor und vom Leser dergestalt manipuliert, daß er auf mehreren Ebenen verdammt und gleichzeitig affirmiert. Der Pakt und damit die Magie liefern die Handlungsmotivierung, die die konservative Kosmologie bestätigt und die nicht, 52 Maron [Anm. 10], S. 59. 53 The Death o f Love: Melusine (1392) and Dr. Faustus (1587), in: Kenneth R. Bartlett (Hg.), Love and Death in the Renaissance, Toronto 1991, S. 183-197. 54 Maria Müller, Der andere Faust. Melancholie und Individualität in der >Historia von D. Johann Faustenanderen< Prote­ stanten zeigen, ln der sich über das Jahrhundert hinziehenden öffentlichen Diskussion wurde eine Sprache politischer und religiöser Auseinandersetzung geformt, die manchmal gefährlich, ja sogar tödlich werden konnte, wie die vielen Hinrichtungen zeigen. An der Vielfalt der Diskurse, mit deren Hilfe das sechzehnte Jahrhundert seine religiöse Schizophrenie artikuliert, wird die systembildcnde Kreativität dieses Jahr­ hunderts erkennbar. Die theologischen Kämpfe um die Hauptglaubensartikel der christlichen Religion erzwingen eine sprachliche Kreativität, die zunehmend Raum für religiöse Dissidenz verschafft. Diese Sprache über Glaubensfragen war Männer­ sprache. Frauen waren von ihr zum größten Teil ausgeschlossen. Im Chaos der Auseinandersetzungen um die Reformation im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts in Nordeuropa entwickelten die Reformatoren zunehmend die Fähigkeit, religiöse Dispute in der Volkssprache zu bewältigen, religiöse Opposition zu artikulieren, dogmatische Streitpunkte gegeneinander abzugrenzen. Bis auf wenige dramatische Ausnahmen, die auch hier die Regeln bestätigen, redeten sich die Männer in Glau­ bensstreitigkeiten am Scheiterhaufen vorbei. Den Frauen war weder Aristoteles, Pla­ to noch Epikur zugänglich. Sie waren, wie Johann Weyer ihnen bescheinigt hatte, zu dumm selbst für die Häresie. Sie waren damit auch lange unfähig, diesen dogmatisierenden Lernprozeß, der in erster Linie ein linguistischer war, mitzumachen. Auch Weyer setzt in seinen ‘Praestigiis daemonum’ »atheism, l’epicurism, l’impiete« gleich.55 Frauen, mit ihrer »Weichköpfigkeit« (»mollesse de tête«) hatten kaum Zu­ gang zu den Diskussionen der Männer, und die wenigen, die am Anfang der pro­ testantischen Bewegung diesen Zugang forderten, verschwanden schnell wieder von der Bildfläche. In den unzähligen Faustinterpretationen ist, soweit ich weiß, nie die Frage berührt worden, warum Faust nicht verbrannt worden ist, ja, warum ihm nicht einmal mit der Strafe irdischer Richter gedroht wurde. Für sein Vergehen und seine Lebensweise wäre das völlig passend gewesen. Passend in der Tat, aber im Rahmen der Auseinandersetzungen mit den religiösen Heterodoxien des ausgehen­ den sechzehnten Jahrhunderts keinesfalls wirkungsvoll: sein Sterben als verführter, >verkehrter< (Sebastian Franck) Gelehrter, als unersättlicher Genußmensch, ist nicht nur Zeugnis für die gerechte Strafe Gottes, sondern auch für ein Weltbild, das nicht zuletzt durch die Glaubenssätze Epikurs ins Wanken geraten sollte. 55 Joan Wier, Histoires, disputes et discours des illusions et impostures des diables, Paris 1885 (1579), Buch 1, Kapitel XLIV.

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Gerhild Scholz Williams

Es ist kein Zufall, daß >Epikureer< ein Modewort des sechzehnten Jahrhunderts wurde. Epikurs Lehre lieferte Denkschemata und Sprachformen für die religiösen, moralischen und politischen Auseinandersetzungen der Reformation und zur Arti­ kulation gesellschaftlichen Außenseitertums. Auch wenn über Jahrhunderte hinweg im wesentlichen mißverstanden, fand man in seiner Lehre das andere Griechenland, die heterodoxe Tradition, die notwendig war, um nebem dem Erlaubten auch das Unerlaubte zu denken. Auch wenn letztendlich ein besseres Verständnis seiner Lehre sich durchsetzen konnte, hat dieser Triumph der geschichtlichen Wahrheit wenig zu tun mit der Rolle Epikurs als Vertreter eines Denkens, das versuchte, die Grenzen des Erlaubten und des Möglichen ein bißchen weiter hinauszuschieben. Darin gleicht er dem mythischen Hermes Trismegistus. Dessen magisches Weltbild und Epikurs Ra­ tionalismus machten neues, radikal anderes Denken möglich, ja sie inspirierten es sogar.

Hans Fromm

Eneas der Verräter

Bald zweitausend Jahre - etwa vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 17. Jahrhundert n. Chr. — haben über den antiken Sagenhelden Aeneas mehrere Überlieferungen nebeneinander gelebt, deren Symbiose nach unserem Verständnis rätselhaft ist: Ae­ neas das Urbild der Sohncstreue und Aeneas der Verräter, pius et impius, Aeneas der glanzvolle Auftakt einer frührömischen Herrscherfolge und Aeneas der Gewaltherr­ scher. Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach, wo und in welcher Weise sich die Traditionen im lateinischen und deutschen Mittelalter berührt haben und welches die Merkmale ihrer Existenz waren.1 i

Erste Hinweise gibt schon Homer: Aineias steht im Kampf gegen Achilleus vor der Niederlage, doch Poseidon hat sein ferneres Schicksal im Auge, denn das Schicksal gönnt ihm Errettung, daß nicht samenlos das Geschlecht hinschwind und der Name Dardanos’, den der Kronid aus allen Söhnen sich auskor, welche von ihm aufwuchsen und sterblichen Menschentöchtern. Denn des Priamos Stamm ist schon verhaßt dem Kronion; jetzo soll Aeneias’ Gewalt obherrschen den Troern, und die Söhne der Söhn’, in künftigen Tagen erzeuget. (Übers, v. Johann Heinrich Voss, Ilias XX, 302-308)

Das verweist auf den vergilischen Helden, der einen Rest des trojanischen Volkes aus der brennenden Stadt mit sich fuhren und dereinst im fernen Latium zum Stamm­ vater eines neuen trojanischen Geschlechtes werden wird. Auf diesen mythischen Stammbaum werden sich später viele Herrscherhäuser, Stämme und Völker für die 1 Franz-Josef Schmale (Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darm­ stadt 1985) stellte die distanzlose Übernahme der Quellen, die Ketten des Abgeschriebenen unter den Begriff des »ungeheueren Vertrauens«. »Was man geschrieben fand, war wahr, war richtig ... Dieses Vertrauen ... war ein Grundbestandteil von mittelalterlicher Wissen­ schaft und Gelehrsamkeit.« Eine einzige Ausnahme ließ er explizit zu: »Erst bei zwei oder mehr Aussagen zu e i n e r Person oder zu Sachverhalten, die nicht übereinstimmten, traten Zweifel auf« (S. 74 u. 88).

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legale Verankerung ihrer Herrschaft berufen - Britannier, Franzosen, Franken, Bayern und zahllose andere.2 Die mittelalterliche Vergildichtung des ‘Roman d’Eneas’ und Heinrichs von Veldeke fuhrt ihn von Eneas bis zu Romulus und Au­ gustus, und mit dieser Verbindung ist zugleich die translatio des trojanischen Ritter­ tums bis ins europäische Mittelalter gegeben.3 Außerdem ist in den Versen vom Haß des Poseidon auf das Geschlecht der Priamiden die Rede. Über seine göttliche Herkunft berichtet Aineias selbst in der ‘Ilias’ im gleichen Zusammenhang. Er ist der Sohn des Anchises und der Aphrodite in einer Geschlechter­ kette, die letztlich bei Zeus und Dardanos begann (Ilias X X ,215—40), doch er gehört einer jüngeren Linie an; die ältere, in Troja herrschende, vertritt das Ge­ schlecht der Priamiden, deren Vorkämpfer Hektor ist. Auch da wird eine Spannung sichtbar, die so weit sich auswirken kann, daß Aineias hinter den Schlachtreihen zu finden ist und dort von Deiphobos gesucht werden muß, denn immerdar dem göttlichen Priamos zürnt’ er [Aineias], weil er [Priamos] ihn nicht ehrte, den tapferen Streiter des Volkes. (Ilias XIII, 460f.)

Die Aeneidcn sind nach der Überlieferung Zugewanderte. Aineias kommt aus thrakisch-illyrischem Gebiet.4 Seine Sippe ist an den Hängen des Ida-Gebirges heimisch geworden, und der dort ansässige Kult der Großen Muttergöttin mag das Mythologem von der Vereinigung des Anchises mit Aphrodite befördert haben. Das Überleben des Aineias ist zugleich der Übergang von den Priamiden zu den Aenea­ den. Im II. Gesang werden die Stämme vorgestellt: Drauf vor den Dardanem ging Aineias einher, des Anchises starker Sohn, den ihm Aphrodite gebar auf des Idas waldigen Höhn, die Göttin zum sterblichen Manne gelagert. Nicht er allein; zugleich ihm die beiden Söhn’ Antenors, Akamas und Archilochos, beid’ allkundig des Streites. (Ilias 11,819-823)

Hier ist der Name genannt, mit dem zusammen Aeneas in seiner zweiten Existenz, als Hoch- und Landesverräter, seine Wanderung durch das europäische Mittelalter antritt. Antenor ist trotz der Zuordnung nicht aus dardanischem Geschlecht, sondern 2 Vgl. dazu Anneliese Grau, Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschrei­ bung des Mittelalters. Trojasage und Verwandtes, Würzburg 1938; reiches Material ist gesammelt von Helene Homeyer, Beobachtungen zum Weiterleben der trojanischen Abstammungs- und Gründungssage im Mittelalter, Res publica litterarum (Univ. o f Kansas) 5,2 (1982), S. 93-123; Gert Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genea­ logien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter J. Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, S. 203—309, hier S. 233 ff.; vgl. auch Reg. s. v. Troja. 3 Vgl. Franz Josef Worstbrock, Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, AfK 47 (1965), S. 1-22. 4 Hierzu mit umfassendem Material Ludolf Malten, Aineias, Archiv f. Religionswiss. 29 (1931), S. 33-59.

Eneas der Verräter

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vornehmer troischer Herkunft. Seine Frau ist Athene-Priesterin, die das Stadtheilig­ tum hütet. Gegenüber den Griechen ist er ganz anders aufgeschlossen als die Pria­ miden; vor dem Ausbruch der Kämpfe vor Troja hatte Antenor den Menelaos und den Odysseus gastlich in seinem Hause empfangen. Als Gesandte waren sie gekom­ men, um über eine freiwillige Rückgabe Helenas und damit über eine Vermeidung des Kampfes zu verhandeln (II. 111,200-208). Antenor ist älter als Aineias; er wird von Homer schon γεραιός genannt (II. 111,191). Später, in hellenistischer Zeit, genauer: im 2. vorchristlichen Jahrhundert spann der Dichter Lykophron in einem Gedicht, das die Weissagungen Kassandras zum Anlaß nimmt, um von den Leiden der Troer und der heimkehrenden Griechen zu berichten, die zwischen den Priamiden und dem konkurrierenden Geschlecht des Antenor sichtbaren Spannungen zu einem Verrat Antenors an der trojanischen Sache aus.5 Auch Antenor wurde, wie sein Mitverschwörer Aeneas, zum Westwanderer und Städtegründer. Er soll Padua gestiftet haben6 und dort auch begraben sein. Auf der rotfigurigen attischen Vase des sogenannten Altamuramalers in Boston ist Antenor abgebildet, wie er dem Aeneas voranschreitet.7 Der Mythos des pius Aeneas ist schon viel früher nach Westen gedrungen.8 Aus Etrurien sind rund 60 Münzen und Vasenbilder erhalten geblieben, die das berühmte Motiv des Aeneas zeigen, der den Vater Anchises auf seinen Schultern aus dem zerstörten Troja trägt und auch das Palladium, die sacra oder Stadtpenaten, mit sich fuhrt. Die ältesten dieser Zeugnisse stammen schon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Auf dem Motiv gründet der Ruhm des Aeneas, seiner pietas gegenüber dem Vater, der gens und den Stadtgöttern. Aeneas hat in Etrurien und in Latium kultische Verehrung genossen. Ovid (Metam. XIV, 584 ff.) hat von seiner Apotheose berich­ tet: tempestivus erat caelo Cythereius heros »der cythereische Held war reif für den 5 Lycophronis Alexandra, ed. Lorenzo Mascalino, Leipzig 1964 (Bibi. Teubneriana); mit engl. Übersetzung in der Ausg. v. George W. Momey, London 1921. Das Gedicht wurde 197 v. Chr. von den Pergamenern in Auftrag gegeben und sollte erklären helfen, warum sie sich in den Kämpfen zwischen den hellenistischen Diadochenstaaten und R om auf die römische Seite geschlagen hatten. Die Zerstörung Trojas steht symbolisch und warnend für die drohende Zerstörung des pergamenischen Staates. 6 Die Gründung bei Livius, Ab urbe condita, 1,1; vgl. auch Vergil, Aeneis 1,242 ff. Die lautliche Nähe hat im Mittelalter auch Passau zu entsprechendem Ruhm gebracht. Darüber fabeln mehrere Redaktionen der Kaiserchronik und die Chronik des Jans Enikel (v. 16889), nach welchem Antenor auch Mantua gegründet haben soll, sowie Ulrich Fuetrer im ‘Buch der Abenteuer’ (v. 549) (vgl. Peter Kesting, Hectors Erbe. Beobachtungen zu Ulrich Fuetrers ‘Trojanerkrieg’, in: Horst Brunner [Hg.], Die deutsche Trojaliteratur des Mittel­ alters und der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990, S. 469—490, hier S. 489). Brunners Kom­ pendium habe ich noch für den vorliegenden Aufsatz nutzen können. Ich glaube mich daraufhin in manchem kürzer fassen zu können, als es zuerst von mir geplant war. 7 Abb. bei Andreas Alföldi, Das frühe Rom und die Latiner, Darmstadt 1977, Tafel XXIII, Abb. 1. 8 Der Forschungsstand wird vorzüglich zusammengefaßt von Alföldi [Anm. 7], S. 228 ff., 249 ff; vgl. auch Franz Börner, Rom und Troja. Untersuchungen zur Frühgeschichte Roms, Baden-Baden 1951, S. 14 ff., 39 ff.; Andreas Alföldi, Die trojanischen Urahnen der Römer, Basel 1957; Konrad Schauenburg, Aneas und Rom , Gymnasium 67 (1960), S. 176-191, mit Zusammenstellung der archäologischen Zeugnisse.

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Himmel«. Von den Etruskern gelangten schließlich Sage und Mythos nach Rom und mündeten letztlich in Vergils Epos. Man hat vermutet, daß Griechen die Brücke vom Osten nach Etrurien gebildet hätten.9 Das Wohlwollen der Griechen gegenüber Aeneas bezeugte zu Vergils und Oktavians Zeit auch Livius, der dem Mittelalter fast ganz unbekannt blieb. Mit dem ersten Satz seines Geschichtswerkes spannte er Aeneas und Antenor wieder zu dem ominösen Paar zusammen und erzählte - zwar explizit nicht von einem Verrat der beiden an Troja, wohl aber davon, daß die Griechen nach der Niederlage Antenor und Aeneas gegenüber auf das Kriegsrecht verzichtet hätten, weil sie für einen Frie­ densschluß und die Rückgabe Helenas eingetreten seien.10 Das ist in der Spätantike wie auch im Ausgang des Mittelalters als Zeugnis für den Verrat gewertet worden. 9 Es gibt seltsamerweise im späten Mittelalter ein Denkmal, das Eneas auf seinem Weg in die Toskana in Griechenland kämpfend zeigt. Er unterliegt hier dem Sohn des Agamemnon. Das ist der ‘Göttweiger Trojanerkrieg’ (v. 25079 ff.), in welchem Eneas —Antenor fehlt hier —der alleinige Verräter ist und seine Flucht nach Westen, die zur Gründung Roms fuhrt, praktischerweise gleich zusammen mit Romulus und Remus antritt. Ein Griechenland­ Aufenthalt des Aeneas ist schon in der Antike bezeugt (Vergil, Aeneis 3,73 ff.; Ovid, Me­ tam. XIII, 630 if.; vgl. auch Karl Bartsch, Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittel­ alter, Quedlinburg/Leipzig 1861 [Bibi. d. ges. dt. Nat.lit. 38], p. CLIX).

10 lam primum omnium satis constat Troia capta in ceteros saevitum esse Troianos; duobus, Aeneae Antenorique, et vetusti iure hospitii et quia pacis reddendaeque Helenae semper auctores fuerunt, omne ius belli Achivos abstinuisse. Die Klassischen Philologen sind nicht durchweg bereit, die Liviusstelle (1,1) im Sinne der Verrätertradition zu deuten. Diese wird. z. B. bestritten von Arnaldo Momigliano, Some observations on the O rigo gentis Romanae’, JRS 48 (1958), S. 56-73, hier S. 69; vgl. auch R. M. Ogilvie, A commentary on Livy, 2. ed., Oxford 1978, S. 37. Ich sehe indes keine andere Möglichkeit der Interpretation. Daß Livius sich explizit auf Verrat nicht einlassen will, hat natürlich nach dem Erscheinen der ‘Aeneis’ gute Gründe, aber schon Servius hat die Stelle im Sinne des Verrats verstanden (zu Aen. 1,242). Die O rigo gentis Romanae’ ist eine anonyme Schrift des 4. Jh. n. Chr. und geht höchstens auf eine kaiserzeitliche Quelle zurück. Sie ist dadurch im Zusammenhang des Themas von besonderem Interesse, daß sie das Problem der Symbiose der beiden Traditionen auf eine elegante Weise löst: Antenor hat Troja verraten, und Aeneas hat mit dem Vater auf den Schultern die Stadt verlassen: Post Faunum Latino, eius filio, in Italia regnante, Aeneas, Ilio

Achivis prodito ab Antenore aliisque principibus, cum prae se deos penates patremque Anchisen humeris gestans nec non et parvulum filium manu trahens noctu excederet ... (in: S. Aurelius Victor, Liber de caesaribus, ree. Fr. Pichlmayr, 2. Aufl., Leipzig 1970, S. 10f.). Ein paar Zeilen später wird dann dem Geschichtsschreiber und Rhetor C. Lutatius Catulus (2. Hälfte 2. Jh. n. Chr.) zugeschrieben, Aeneas ebenfalls zum Verräter gemacht zu haben, und —zu ergänzen: daher —sei ihm von Agamemnon gestattet worden, die Stadt zu verlassen. Nach dem volkstümlichen Wandermotiv durfte er das ihm Liebste auf seinen Schultern mitneh­ men, und durch diese pietas seien die Fürsten der Achäer bewogen worden, ihn freizulassen (9,3-5). Vgl. dazu den Kommentar von Jean-Claude Richard, Ps.-Aurelius Victor, Les Origines du peuple romain’, Paris 1983, S. 136f. mit weiterer Lit. Eine weitere Variante steuerte ein Zeitgenosse Vergils bei, der in Rom lebende, griechisch schreibende Historiograph Dionysios von Halikarnassos. Er bezeugt (46,1) das Nebenein­ ander von zwei Überlieferungen, die des hölzernen Pferdes und die des Verrats durch die Antenoriden. Er schildert, wie Aeneas mit seinen dardanidischen Streitkräften den Einbruch der Griechen in die untere Stadt zeitig bemerkt, sich mit einem Teil der Bevölkerung in der oberen Burg festsetzt und diese lange erfolgreich verteidigt. Unbemerkt vom Feinde kann er Frauen und Kinder ins Ida-Gebirge schicken, bis er sich selbst schließlich mit dem Rest der Flüchtigen den Griechen ergibt. Er öffnet die Burgtore und verläßt in Streitwagen mit seinem Vater, Frau und Kindern sowie dem wertvollsten Besitztum die Burg. Ihm gelingt

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Es besitzt also auch die Tradition, die im Mittelalter die weithin gültige war und die ich im folgenden kurz die Verräter-Tradition nenne, ihre antiken, hinter die spätantiken berühmt-obsoleten Vermittler Dares und Dictys zurückreichenden an­ tiken Wurzeln. Dares und Dictys ersetzten dem Mittelalter, zusammen mit der ‘Ilias Latina’, den Homer.11 Dieser lebte allein als Name und stand, oft mit dem des Vergil verbunden, für das Urbild des Dichters überhaupt. Der Phrygier >Dares< in seiner Schrift ‘De excidio Troiae historia’ und der Kreter >Dictys< in seinen ‘Ephemeridos belli Troiani libri sex’12 verfolgen mit ihren Dar­ stellungen des trojanischen Krieges explizit das Ziel, der Lügendichtung Homers die durch Augenzeugenschaft als authentisch erwiesene, historisch wahre Geschichte der Ereignisse entgegenzustellen.13 Beide >Historiographen< haben auf trojanischer bzw. griechischer Seite an den Kämpfen teilgenommen. Das Mittelalter wird später konkretisieren: Was Dares am Tage erlebte, hat er des Nachts aufgeschrieben. Griechisch-hellenistischer Ursprung ist durch zwei Papyrusfunde für Dictys erwiesen und damit auch fur Dares wahrscheinlicher, als früher angenommen. Alles - Ver­ fassernamen, Anspruch und Werkinhalte - sind Fälschungen. Ob die Fabeleien einem Unterhaltungszweck dienen oder in ernster Absicht auf einen entmythologisicrten Homer zielen oder sogar in einer rationalistisch sich gebenden Epoche parodistisch verstanden werden sollten, muß offen bleiben.14 Die beiden >Augenzeugen< vermitteles, die Griechen zum Frieden zu bewegen, und mit seinem Vater, seinen Söhnen und den Götterbildern verläßt er die eroberte Stadt und segelt über den Hellespont. — Dies, sagt Dionysius (48,1), sei die wahrscheinlichste Überlieferung. Unter den anderen, weniger glaubwürdigen, erwähnt er (48,3) die von Menecrates von Xanthus tradierte Nachricht, wonach Aeneas die Stadt gegen griechische Zusicherungen verraten habe und danach auf die griechische Seite gewechselt sei. Vgl. Dionysius o f Halicarnassus, The Roman antiqui­ ties ..., (ed.) on the basis o f the version o f Edward Spelman, Bd. 1, London/Cambridge, Mass. 1960, 1,46—48 (vgl. auch neuerdings dazu den Kommentar von Valérie Fro­ mentin u. Jacques Schnäbele, Paris 1990). Die Hinweise auf die vorstehend in dieser Anmerkung genannte Literatur verdanke ich der liebenswürdigen Aufmerksamkeit von Anette Syndicus, München. 11 Zum mittelalterlichen Zitieren des Homer vgl. Wolfgang Kullmann, Einige Bemerkungen zum Homer-Bild des Mittelalters, in: Litterae medii aevi (Fs. Johanne Autenrieth), hg. V. Michael Borgolte u. Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 1— 15, und Worstbrock [Anm. 3], S. 248 ff. 12 Dares Phrygius, De excidio Troiae historia, rec. Ferd. Meister, Leipzig 1873 [unzureichende Ausg.] u. Dictys Cretensis, Ephemeridos belli Troiani libri ..., ed. Werner Eisenhut, 2. Aufl., Leipzig 1973. — Die lange umstrittenen Datierungen: Dictys: 4.-5. Jh. n. Chr. mit einem durch Papyri gesicherten griechischen Original ca. 66—200 n. Chr., Dares: 5.-6. Jh. n. Chr. (Vgl. Werner Eisenhut, Spätantikc Trojacrzählungen —mit einem Ausblick auf die mittelalterliche Trojaliteratur, Mlat. Jb. 18 (1983), S. 1-28, hier S. 26-28; Stefan Merkle, Troiani belli verior textus. Die Trojaberichte des Dictys und Dares, in: Brunner [Anm. 6], S. 491—522, hier S. 505, 522). Noch nicht zugänglich war mir Andreas Beschomer, Unter­ suchungen zu Dares Phrygius, Tübingen 1991. 13 Die Augenzeugenschaft als Grundlage aller historischen Authentizität legte Isidor von Se­ villa fest: Dicta autem historia άπό τοϋ ίστορεΐν, id est a videre vel cognoscere. Apud veteres enim nemo conscribebat historiam, nisi is qui interfuisset (Origines, 1,41,1). Unbefriedigend zu diesem Thema bleibt Jeanette M. A. Beer, Narrative conventions o f truth in the Middle-Ages, Genève 1981 (cap. 2: Truth and eye-witness). 14 Einen griechisch schreibenden Dares setzen, ohne daß daraus Überlieferungsschlüsse ge-

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ten ihren mittelalterlichen Lesern den Eindruck historischer Faktentreue durch die trocken addierende, fast annalistische Berichtsform und die vollständige Eliminie­ rung mit- und einwirkender Götter. Zwischen den beiden Berichten bestehen größere und kleinere sachliche Dif­ ferenzen. Ich versuche, diese um der gebotenen Kürze willen im folgenden weit­ gehend zu ignorieren, und folge damit mittelalterlichem Vorbild; denn schon die ‘Historia destructionis Troiae’ des Guido de Columnis (1287), eine für das späte Mittelalter vielfach benutzte Quelle, hat die beiden Darstellungen zu einer ver­ schmolzen (quasi una uocis consonantia). Erzählt wird von Dares, dem im Mittelalter wirkungsmächtigeren Autor, wie nach dem Fall Hectors und der Amazonenherrscherin Penthesilea sich in Troja gegenüber Priamus und seinen >Durchhalteparolen< eine Opposition bildet, welche die Rückgabe Helenas an die Griechen und den baldigen Friedensschluß zum Pro­ gramm erhebt. Sie wird von Antenor und Polydamas, seinem nichtehelichen Sohn, und Aeneas mit seinem Vater Anchises angeführt. Antenor ist zum Verrat bereit (patriam prodendam esse). Priamus fürchtet einen solchen Verrat nach einem längeren Consilium, auf dem Aeneas den vorpreschenden Antenor lenibus mitibusque dictis unterstützt hat, mit Recht und beauftragt seinen Sohn, die >Viererbande< bei der nächsten Versammlung hinterrücks zu übermannen und zu ermorden. Aber die Vier bekommen Wind davon, erscheinen bewaffnet, und der Anschlag unterbleibt. Die Führer der >Friedenspartei< begeben sich heimlich ins Griechenlager. Trotz einzelnen Äußerungen des Mißtrauens, besonders von seiten des Ulixes und Nestor, wird die Auslieferung der Stadt für die nächste Nacht vereinbart. Den Verrätern - so werden sie in beiden Texten übereinstimmend durchweg genannt - wird dabei von den Griechen die Immunität ihres Besitzes und auch des Eigentums ihrer Angehörigen ebenso zugesichert wie versprochen, daß sie bei dem zu erwartenden Blutbad ge­ schont werden würden. Sinon prüft an der trojanischen Mauer die Stimmen von Aeneas, Anchises und Antenor, und diese erwarten dann auch die Griechen nachts an dem mit einem skulpierten Pferdekopf geschmückten skäischen Tor und lassen sie eindringen.*13*5 In dem sich anschließenden Gemetzel versteckt Aeneas auf Bitten der Hecuba die Priamustochter Polyxena. Auch nach dem Sieg sind die Griechen über­ einstimmend der Meinung, daß gegenüber denen, qui una patriam prodiderint, ßdes zu bewahren sei. Allerdings wird Polyxena entdeckt, ermordet, und der empörte Aga­ memnon befiehlt Aeneas, außer Landes zu gehen. Dieser verläßt mit den 22 Schiffen zogen werden dürften, später Benoît de Sainte-Maure (v. 109 ff.) und nach ihm Konrad von Würzburg im ‘Trojanerkrieg’ an (v. 296 ff. Däres, ein ritter üz erwelt, der selber vil vor Troye streit, swaz der in kriechisch hät geseit ...). Auch ‘Moriz von Craün’ nahm den Topos auf (v. 37-40). Jean-Pierre Callu, >Impius Aenease échos virgiliens du Bas-Empire, in: R. Che­ vallier (Hg.), Présence de Virgile. Actes du Colloque ... 1976, Paris 1978 (Caesarodunum 13 bis), Santivergilischen< Tradition —»la désacralisation du pius Aeneas« —in dem anti-mythologi­ schen, rationalistischen Geist des 4.-5. Jh. n. Chr. gesucht. Ohne ihn in Frage stellen zu wollen, so bleibt die Schwierigkeit der Verratszeugnisse vor dieser Zeit, darunter die Dictys-Papyri. 15 Das Detail, welches das hölzerne Pferd >ersetztFriedenspartei< fahren mit ihm ins Exil. Auch Dares selbst bekennt, zur Opposition gehört zu haben, deren Vorgehen er gleichwohl als Verrat bezeichnet. Der in allem ausführlichere und Dares auch in der literarischen Qualität über­ legene Dictys führt noch einige markante Einzelheiten dazu an: Die Friedensbündler sind die proceres. Sie stehen gegen Priamus und seine reguli. Dem Aeneas wird von den Griechen nicht nur die Immunität, sondern auch ein Beuteanteil versprochen. Dem eigentlichen Verrat gehen, teilweise mit Billigung des Priamus, von Antenor und Aeneas eingeleitete Friedensverhandlungen voraus, bei denen beschlossen wird, das Vaterland freizukaufen. Bei harten Verhandlungen im trojanischen Palast, ge­ prägt von einer Durchhaltercde des Parissohnes Idaeus und der trojanischen Dro­ hung, eher selbst die Stadt anzuzünden, als sich den harten griechischen Forderungen zu beugen, wird die proditio perfekt gemacht. Antenor erbeutet heimlich mithilfe der Priesterin das Palladium und händigt es den Griechen aus. Es wird ein riesiges höl­ zernes Pferd gebaut, aber es ist ein Opferpferd, das Minerva mit der Zerstörung ihrer Stadt versöhnen soll.16 Nach dem Zusammenbruch versucht sich Aeneas der Herr­ schaft über Troja zu bemächtigen, aber Antenor gelingt es, dies abzuwehren —das Verhältnis zwischen beiden war feindlich geworden. Aeneas muß Troja verlassen, segelt zum Adriatischen Meer und gründet dort die Stadt Corcyra nigra (d. i. die Insel Corcula an der dalmatinischen Küste). Weder Dares noch Dictys bewerten das Berichtete, es fehlt jede Interpretation. Der Leser kann nur erschließen, daß Aeneas bis zum kritischen Zeitpunkt der ab­ sehbaren Niederlage sich völlig loyal verhalten und auch danach mit seiner Friedens­ politik das Wohl des Gemeinwesens im Auge gehabt hat. Er sucht sie mit Antenor durchzusetzen, getragen offenbar von einem großen, wenn nicht überwiegenden Teil des Volkes. Der Mordplan des Priamus, der andererseits bei Dictys kein unzu­ gänglicher Verhandlungspartner ist, könnte so etwas wie eine moralische Recht­ fertigung für den Verrat bieten. Aber es kann nach den ersten Verhandlungen mit den Griechen für Aeneas nicht zweifelhaft sein, daß der von den Griechen in hinter­ listiger Absicht propagierte Friede gleichbedeutend sein wird mit Zerstörung, Mord und Untergang und daß die wenigen Überlebenden ein Dasein in Ruinen fristen werden. Und widerspricht nicht den edlen Zielen der Führer der >Friedenspartei< der Lohn, den sie von den Griechen annehmen und mit dem sie ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen dürfen? Man sieht, was schon Homer hatte anklingen lassen. Aufschlußreich ist die Zu­ sammensetzung der oppositionellen Gruppe. Es sind Antenor mit seinem Sohn und Aeneas mit seinem Vater —die prominenten Vertreter zweier mit den Priamiden rivalisierenden gentes und im Falle des Aeneas einer gens zudem, die nicht so eng mit Troja verbunden war wie das Geschlecht des Priamus. Es geht hier, wie schon aus Homer herauszulesen, in internen Auseinandersetzungen zwischen den großen gentes um die Macht in Troja und die Herrschaft von morgen. Aufschlußreich ist die 16 Daß Dictys für das Motiv des hölzernen Pferdes wie auch für anderes Vergil benutzt hat, ist seit Hermann Dünger, Die Sage vom trojanischen Kriege in den Bearbeitungen des Mittel­ alters und ihre antiken Quellen, Leipzig 1869, S. 46, bekannt.

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Nachricht, daß nach dem Fall der Stadt und Priamus’ Tod Aeneas dem neuen Herr­ scher Antenor die Macht wieder zu entreißen sucht und die trojanische Bevölkerung, die nicht Stadtvolk ist, zu einer Herrschaft der Aeneaden überreden will: Aeneas apud Troiam manet: qui post Graecorum perfectionem cunctos ex Dardano atque ex proxima paeneinsula adit, orat, uti secum Antenorem regno exagèrent (Dictys, cap. XII).17 II Das Mittelalter übernahm von Antike und Spätantike beide Überlieferungen, die vergilische und den Verräter. Otto von Freising ist einer der ganz wenigen, der sie mit seiner bekannten Formel des alii dicunt nebeneinander stellt: Quod [i. e. Troiae excidium] qui scire desiderat, legat Homerum eiusque imitatorem Pindarum seu Vergilium. Hinc Romanorum gentem duxisse originem ab Enea profugo et, ut ipse adulatur, viro forti —ut vero ab aliis traditur, patriae proditore nicromantico, utpote qui etiam uxorem suam diis suis immolaverit, scribit Vergi­ lius.18 Mit dem »Homer« ist natürlich die ‘Ilias Latina’, eine im 1. Jahrhundert n. Chr. entstandene, rd. 1000 Hexameter lange und mit dem Namen des Pindarus Thebanus verknüpfte, kunstlose lateinische Epitome der homerischen ‘Ilias’ gemeint, die über Jahrhunderte im Mittelalter als Schulbuch genutzt wurde.19 Bemerkenswert ist, daß die Tapferkeit des latinischen Kämpfers als eine dichterische Aufhöhung Vergils ge­ deutet ist. Die unklare Weise, wie bei Vergil dem Aeneas auf der Flucht die Gattin Creusa abhanden kam (Aeneis 11,738 ff.), mußte in dem Augenblick, wo göttliche Fügung nicht mehr gelten darf, ebenso zur Verdächtigung fuhren, wie die Unter­ weltsfahrt zur Nigromanzie wird.20 Auf Vergil, dem zugleich Empfohlenen, lastete seit Dares und Dictys der gleiche Vorwurf wie auf Homer: Die agierenden Götter können die Wahrheit nicht sein, aus dem Geschehen dort und damals muß sie un­ mittelbar hervorgehen. Nagt hier schon an der Größe des latinischen Herrschers ein Zweifel, so wird er ein gutes Jahrhundert später, um 1250, volkssprachig bestätigt in der ‘Weltchronik’ des Rudolf von Ems. Dieser berichtet von der Überfahrt des Eneas von Troja nach Italien in den Tagen der biblischen Richter in zweinzig schiffin, der Besiegung des 17 Das Wissen um die Rivalität zwischen beiden hat sich zäh gehalten. Im 2. Jh. n. Chr. berichtete Chrysostomus, der Freund Trajans, daß Troja zwar belagert, aber nicht gefallen sei. Vielmehr seien die Griechen unverrichteter Dinge abgezogen und Hector habe Aeneas außer Landes zu gehen geraten, weil es für zwei Könige in Troja keinen Platz gebe (Dion Cocceianus von Prusa, gen. Chrysostomus, ed. H. L. Crosby, XI, 140f., besprochen v. G. A. Highet, The classical tradition. Greek and Roman influences on western literature, N ew York 1957, S. 51-53, sowie von Callu [Anm. 14], S. 163, 171. Vgl. auch Jean Perret, Les origines de la légende troyenne de Rome, Paris 1942, S. 159—166, 172—177). 18 Ottonis episcopi Frisingensis Chronica, hg. v. Walther Lammers, Darmstadt 1960 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 16), S. 90, Z. 14—19. 19 Ausg.: Italici Ilias latina, ed. ... Fridericus Plessis, Paris 1885. Vgl. auch Elisabeth Heyse im Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, 1991, Sp. 379. 20 Zum Zauberer Vergil vgl. John Webster Spargo, Virgil the necromancer. Studies in Virgilian legends, Cambridge, Mass. 1934 und Lily Weiser-Aall im HDA VIII, 1665—1672. Magische Sagen werden seit dem 12. Jh. mit Vergil in Verbindung gebracht. Anlaß dazu war wohl sein neuer R u f als philosophus (s.u. S. 151 Anm. 33).

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Turnus und wie der wise degin ellenthaft mit der Gewinnung Lavinias die Herrschaft übernimmt. Dann wird vom Ursprung der Franzosen durch den Bruder des Eneas, Frigias, erzählt und schließlich von der Herrschaft des Eneas über Latium. Diese aber war eine harte und grausame Gewaltherrschaft. Gott selber rächt des Eneas vrevelliche gir an ihm, indem er ihn durch einen Blitz erschlägt —ze rache über sine site. Es ist das Ende eines rex iniustus, wie wir es viele Male aus der ‘Kaiserchronik’ kennen.21 Rudolf hat hier nicht seine beiden Hauptgewährsleute, sondern eine etwas ältere Quelle herangezogen. Auf Petrus Comestor scheint sich der Terminus biwege (ent­ spricht incidentia) zu berufen, mit dem der größere Abschnitt eröffnet wird (v. 26380). Aber die ‘Historia scholastica’ beschränkt sich im Liber Judicum allein auf das Faktum von Aeneas’ Herrschaft, samt ihrer Dauer und den Vorgängern (MPL 198,1285 CD). Auch die zweite Hauptquelle, Gottfrieds von Viterbo ‘Speculum regum’ kann nichts beitragen; denn dieses Mitglied der Hofkapelle Barbarossas hat den Jupiter-Abkömmling Aeneas als staufischen Ahnherrn hoch gewürdigt.22 R u­ dolf hat vielmehr für die negative Darstellung die Chronik des Frutolf von Michels­ berg (letztes Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts) beigezogen, wo es kurz und knapp geheißen hatte: Qui [= Aeneas) dum sevissimus esset ac crudelissimus belligerator et nulli parceret, ob tantam impietatem a Deo ictu fulminis percussus interiit.23 Woher das stammt, wußte schon der Herausgeber Waitz seinerzeit nicht anzugeben (ebd., Anm. 16). Eine frühchristliche Quelle ist wahrscheinlich, aber die für Frutolf allerwichtigste, die Weltchronik des Eusebius in der Fortsetzung des Hieronymus, kommt nicht in Frage, denn sie begnügt sich mit der formalen Angabe, wie sie noch bei Petrus Comestor (s. o.) zu lesen ist. Die Verteufelung des Aeneas von christlicher Seite hat indes ein noch höheres Alter. Sie ist mit Tertullian Bestandteil frühchristlicher Apologetik, und Angriffs­ punkt ist der kultisch verehrte Aeneas (s. o. S. 141). In seiner Schrift ‘Ad nationes’ (11,9,12-18) stellt Tertullian an den Pranger, wem hier eigentlich unter der Bezeich­ nung des Pater Indiges Aeneas Altäre errichtet wurden:24 einem miles numquam glorio21 Rudolf von Ems, Wcltchronik, hg. v. Gustav Ehrismann, Berlin 1915, v. 26396-26551. — Recht unwahrscheinlich ist, daß auf die Überlieferung die in der zum troischen sogen. Epischen Zyklus gehörenden ‘Iliupersis’ aufbewahrte Sage einen Einfluß ausgeübt hat, w o­ nach der Vater des Aeneas, Anchises, vom Blitzstrahl getroffen worden sei (vgl. Malten [Anm. 4], S. 35). Entrückungssagen hat es für Aeneas früh gegeben. So berichtet Servius (zu Aen. IV, 260), daß Aeneas nach gewonnener Schlacht beim Opfer am Fluß Numicus ausgeglitten, in den Fluß gestürzt und nie mehr daraus gefunden worden sei. Das geht klar auf Ovids Bericht über die Apotheose des Aeneas zurück (Metam. XIV, 581, vgl. auch Servius zu 1,259). 22 Dazu jetzt Heinz Thomas, Matière de Rome — matière de Bretagne. Zu den politischen Implikationen von Veldekes ‘Eineide’ und Hartmanns ‘Erec’, ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 65-104, hier S. 76f. 23 Ekkehardi Uraugiensis Chronica [vielm. Frutolf, Ekkehard von Aura u. die sogen. Kaiser­ chronik], ed. Georg Waitz, Hannover 1844 (MGH SS VI), S. 33-210, hier S. 44, Z. 42f. Den Frutolf-Nachwcis verdanke ich der Freundlichkeit Hubert Herkommers, Bern. Der Blitztod ist außer bei Konrad von Hirsau (unten S. 150) noch bewahrt als Beischrift in der Göttinger Hs. des Lampert von Hersfeld (Annales, ed. Oswald Holder-Egger / Wolfgang Dietrich Fritz, Darmstadt 1957 [Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13], S. 6, Z. 4 mit der Randnotiz hie [i. e. in Italia] fulmine periit). 24 Tertullianus, Opera, Bd. 1, Tumhout 1954 (CC Ser. lat.), S. 55f.

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sus, lapide debilitatus. Er kennt die Verräter-Tradition (Sed et proditor patriae Aeneas inuenitur, tam Aeneas quam Antenor), muß aber zugestehen, daß sie nicht überall Glauben gefunden hat {Ac si hoc uerum nolunt), und richtet seinen Angriff dann gegen den Flüchtling Aeneas: Schmählich habe er seine Genossen bei der Flucht aus der brennenden Stadt im Stich gelassen. Nach Erwähnung des karthagischen Abenteuers bricht er in den R u f aus: »Heißt er pius Aeneas wegen eines einzigen Sohnes und eines abgelebten Greises, nachdem er Priamus und Astyanax getäuscht (destitutis >im Stich gelassem?) hat?« In unrömischer Weise habe er, fährt er fort, das persönliche Wohl höher als das allgemeine gestellt. Der Abschnitt läßt mit dem Ausfall gegen den pius Aeneas die Wirkung erkennen, die von Vergils rund 200 Jahre altem Epos ausstrahlte. Es hat der Verräter-Tradition die allgemeine Anerkennung als des wahren Fundaments entzogen, die vielleicht auch erst Dares und Dictys für sie eroberten. Neu aber und effektiv war hier das Verfahren, die vergilische Version selbst moralisch negativ dadurch zu akzentuieren, daß man den profugus mit der >Feigheit vor dem Feind< belastete. Der Flüchtling spielt auch später bei Augustins Argumentation gegen die heidnischen Götter eine Rolle.25 Noch in den beiden Eneas-Romanen des 12. Jahrhunderts wird Feigheit zur Herabsetzung des Helden von seiten der Mutter Lavinias angeführt, und noch im Frühhumanismus werden wir der Umwertung wieder begegnen (s. u. S. 158). Übri­ gens, in der Dares-Tradition war es gerade umgekehrt: Hier führte die Tatsache, daß Aeneas die Polyxena höchst ritterlich dem griechischen Zugriff zu entziehen sucht, zu seiner Ausweisung aus Troja. Sollte hier im Frühchristentum, mit der Diskreditierung der ganzen Persönlich­ keit, die Wurzel für Rudolfs von Ems seltsam zwiespältige Aufpfropfung einer rex· iniustus-Topik auf das Bild des tüchtigen Streiters um Braut und Herrschaft zu su­ chen sein? Könnte der Kontext des Alten Testaments bei Rudolf der Anlaß gewesen sein zu zeigen, wie die strafende Überlegenheit des einen Gottes über die machtlosen römischen Götterwesen das Bild bestimmt? Aber die Wege der Überlieferung sind bis auf weiteres dunkel. Von der vergilischen Überlieferung jedenfalls war Rudolf im Schluß seines Eneastcils weit entfernt. In ihr konnte die Fortsetzung der troja­ nischen Herrschaft in Italien, auch wenn sie niemals dargestellt wurde,26 nicht anders als durch eine lange Reihe idealer Könige garantiert werden, wie sie Anchises im Elysium geweissagt hatte. 25 Augustinus, De civitate Dei, 111,14,3. Im übrigen war das Bild des Aeneas bei Augustin durchaus vergilisch geprägt. Von einer Gewaltherrschaft des latinischen Königs weiß er nichts (vgl. XVIII, 19,1). - Zur Feigheit des Aeneas vgl. z. B. ‘Roman d’Eneas’ v. 8610f. ceste amistié uoil que tu lais, del sodomite, del coart und entsprechend bei Veldeke zu gleichem Anlaß, der Verleumdung des Eneas durch Amata, 282,31 want dû ne weist niht rehte, wie ez

umbe den zagen stêt. 26 Wie präsent der Herrscher Aeneas gleichwohl war, erweist z. B. das ‘Carmen de gestis Frederici I. Imperatoris in Lombardia’ (ca. 3300 Hexameter; nach 1162), in welchem der anonyme Verfasser —auch er ein Augenzeuge —sich nicht nur sprachlich eng an Vergil hält, sondern auch Barbarossa auf der Folie des Aeneas darstellt. »Das Idealbild des nicht nur in Waffen starken, sondern vor allem des durch sein hohes Ethos sich auszeichnenden pius Aeneas ist auf den Helden des Carmen übertragen« (hg. v. Irene Schmale-Ott, Hannover 1965 (MGH SSRG 62], p. XXVII sq.).

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III

Das 12. Jahrhundert ist dasjenige Jahrhundert, in dem die beiden Aeneas-Bilder durch literarische —lateinische und volkssprachliche - Großwerke befestigt wurden.27 Es ist zugleich das Jahrhundert, zu dessen Beginn in der ‘Chanson de Roland’ das Bild des Landesverräters seine weithin sichtbare literarische Ausprägung erhielt.28 Wer die Eneas-Texte las oder hörte, konnte die Assoziation sicher nicht leicht ab­ schütteln. Zu Ganelon - und seit 1170 zum deutschen Genelün - gab es manche Übereinstimmungen. Auch hier begann es damit, daß Ganelon/Genelun im Rate Karls sitzt, für den Frieden plädiert und sich dadurch gegen Roland stellt, der sich für eine militärische Operation (das >WeitermachenFriedenspartei< gebildet [v. 232 ff.], die das heidnische Angebot ernst nimmt, Karl zu überzeugen vermag und nicht begreift, daß der Friede faul ist.) Die Unterschiede sind ebenso deutlich: Ganelon strebt nach Befriedigung persön­ licher Rache. (Für Konrads ‘Rolandslied’ hat man freilich auch erwogen, daß Genelüns isolierte Stellung im Rat daher rührt, daß er außerhalb der Ideologie der militia Dei steht, also eine abweichende politisch-weltanschauliche Position behaup­ tet.) Vor allem aber: Beide Erzähler zögern nicht, den Hochverrat gegenüber Herr­ scher und Reich als Judastat zu kennzeichnen. Der neue Judas ist dem Heidengold verfallen, das die dreißig Silberlinge wiederholt. Um Geschichte geht es bei Eneas und bei Genelün, bei Eneas aber nicht um eine im Heilszusammenhang stehende Exemplarik. Nicht nur die Götter sind, wie bei Dares und Dictys, vom Schauplatz ferngehalten, sondern auch Gott. Ich habe von assoziativer Nähe gesprochen. Dabei wird man es belassen. Die Belege sind zu knapp an Zahl, um von einem wiederverwendbaren >Handlungsmuster< sprechen zu können. Zudem stehen die Chansons de geste in der Tradition einer heldenepischen Gattung, in der das politische Problem von Loyalität und Il­ loyalität des Vasallen gegenüber dem Thron zentral war.

27 Die früheste Erwähnung der Verrätertradition in deutscher Gcschichtsdichtung scheint (nach 1077) das Annolied (23,9f.) zu belegen: Antenor was gevam dannin êr, dûr irchôs, daz Troie solti cigên »Antenor hatte Troja schon früher verlassen, als er beschlossen hatte (?), daß Troja zerstört werden mußte«. Gemeint sein kann damit nur der Aufbruch Antenors zur Gründung Paduas; denn die Übersetzung von Michael Curschmann und Ingeborg Glier (Deutsche Dichtung des Mittelalters, München 1980, Bd. I, S. 115) »als er merkte, daß Troja untergehen würde« stimmt nicht zur Überlieferung. Antenor war in der Nacht der Zerstörung in Troja. Das geht aus Dictys V, 17. 23 ff. und Dares cap. XLIV hervor. 28 Vgl. Karl Stackmann, Karl und Genelün. Das Thema des Verrats im Rolandslied ... und seinen Bearbeitungen, Poetica 8 (1976), S. 258-280; Eberhard Neilmann, in: 2VL Bd. 5, 1985, Sp. 115-131.

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IV

Mit dem ‘Roman de Troie’ des Benoît de Sainte-Maure um 1160-1165 und dem ihm nur um wenige Jahre vorangehenden anonymen ‘Roman d’Eneas’ wird in der Volkssprache der Übertritt von der >historischen< Darstellung der res factae zum — modern gesprochen - historischen Roman vollzogen.29 In seinem Prolog läßt Benoît erkennen, wie er die neue amplifizierende Darstellungsweise (bis zu einem Umfang von rd. 30000 Versen!) verstanden wissen wolle. Er folge der verte (v. 44, 90f., 110-112), die durch Dares gegeben sei, und von diesem komme die matire.30 Nul autre rien n’i voudrai metre, S’ensi non comjol truis escrit. (v. 140f.) Dann fährt er fort: Ne di mie qu’aucun bon dit N’i mete, se faire le sai, Mais la matire en ensivrai. (v. 142-144). Er werde sich dabei aber durchaus bon dit, gute Geschichten, erlauben, die, kann man hinzufugen, die Wahrheit der Geschichte nicht einschränken, sondern ihrer Vermitt­ lung an ein des Lateinischen nicht kundiges Publikum dienen. Homer hat sich zwar der folie, das Übernatürliche einzufiihren, schuldig gemacht, aber trotzdem stehe er in großem Ansehen (mais tant fu Omers de grand pris ...) und seine Bücher besäßen Autorität (que sis livres fu receuz e eu autorité tenuz, v. 45 ff., 71-74). Eine Verurteilung des Vergil, wie sie seit Dares üblich war, fehlt dem Prolog. Das war schon deswegen unumgänglich, weil am gleichen Hof der Eleonore zu gleicher Zeit der ‘Roman d’Eneas’ entstand, der seine Wahrheit aus Vergil schöpfte, und zudem die integumentale Deutungstechnik der Chartreser neben der verte der matire die Erschließung des Sinnes im dichterischen Werk zu lesen gelehrt hatte. (Ps.-)Bcrnardus Silvestris hatte selbst die poetischen Überhöhungen seines Dichters mit dem Rang verteidigt und Homer in diese Argumentation einbezogen. Die veri­ tas des Dares wird dabei nicht in Frage gestellt: Intendit itaque casus Enee ... labores evolvere atque hoc non usque secundum historié veritatem, quod Frigius describit; sed ubique ut Augusti Cesaris gratiam lucraretur, Enee facta fugamque fiementis extollit. Scribit autem Virgilius, Latinorum poetarum maximus, imitando Homerum, Grecorum poetarum maxi­ mum-31

29 Benoît de Ste-Maure, Le Roman de Troie, éd. Léopold Constans, 6 Bde., Paris 1904—1912 (SATF 77.84.85.89.92.93). - Lit. im GRLMA IV, 2, 1984, Nr. 70 u. Reg. - Der Prolog ist auch behandelt von Fritz Peter Knapp, Historische Wahrheit und poetische Lüge, DVjs 54 (1980), S. 581-635, hier S. 585f., u. Erich Köhler, Zur Selbstauffassung des höfischen Dich­ ters, in: ders., Trobadorlyrik und höfischer Roman, Berlin 1962, S. 9-20, hier S. 10 ff. 30 Dares ist Augenzeuge; er schrieb des Nachts auf, was er am Tage erlebt hatte (v. 107 ff.), später (v. 689) wird auch Dictys genannt, der dann der Gewährsmann für die Passage des Verrats wird. 31 Bernardus Silvestris, Commentum quod dicitur . . . super sex libros Eneidos Virgilii, nunc denuo ediderunt Julianus Jones et Elizabetha Jones, Lincoln/London 1977, S. 1, 8-12. Das Zitat auch bei Knapp [Anm. 29], S. 621 f.

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Gerade gegenüber dem Rang Vergils wird die alte, einfache Gleichung >der Hi­ storiker schreibt facta, der poeta aber ßcta (=Lügcn)< als interpretationswürdig an­ erkannt. So äußert sich Konrad von Hirsau in der ersten Jahrhunderthälfte in seinem ‘Dialogus super auctores’, in dem bekanntlich mit weltlich-antiker Dichtung nicht besonders gnädig verfahren wird: . .. profugus Eneas Italiam petit, urbem condidit, Tur­ num devicit, Romanis a se quandam originem et virtutis et generis dedit sicque magna in Italia grassando in omnes crudelitate tandem fulmine caelitus extinctus est (s. o. S. 146-148, die schon bekannte Frutolf-Rudolf-Tradition!). De hac igitur historia materiam et inten­ tionem Virgilius accepit, quo nullus in metro vel latinitate auctor maior inventus est, nullus, ubi veritati cedere coactus est, officialius et curiatius mentitus est (Z. 1558—64).32 Ins Positive wendet das der Prolog der ‘Gesta Frederici’, wo Vergil zusammen mit Lucan für diejenigen scriptores steht, die geschichtliche Ereignisse mit sagenhaften mischen und in einem Stil schreiben, mit dem sie »an tiefste Geheimnisse der Philosophie rühren«: Sic enim non solum hi, quibus rerum gestarum audiendi seriem inest voluptas, sed et illi, quos rationum amplius delectat subtilitatis sublimitas, ad eiusmodi legenda seu cognoscenda tra­ huntur (120,11-14).33 Angesichts solcher Vorgaben wird zu erwägen sein, daß eine eklatante Motiv­ kontamination, die sich Benoît von Sainte-Maure gegen seine Quelle Dictys leistete, nicht auf einem Versehen beruht, sondern absichtlich vorgenommen wurde. Fast alle Späteren sind ihm darin gefolgt. Bei Dares gab es kein hölzernes Pferd. Am Tor, das mit dem Pferdekopf geschmückt war, warteten die Verschwörer auf die Griechen, um sie einzulassen. Bei Dictys hatte das hölzerne Pferd die Funktion eines Sühne­ geschenks für Minerva, die Schutzgöttin der Stadt, und den militärischen Neben­ zweck, die Trojaner zum Einreißen ihrer Mauer zu veranlassen, womit erst das Pferd in die Stadt gebracht werden konnte. Das Pferd war unbemannt; denn der Mauerdurchbruch genügte zur Erstürmung. Benoît aber bedient sich der vergilischen Tradition und füllt den Bauch mit Kriegern. Dem folgten sowohl sein deut­ scher Bearbeiter Herbort von Fritslar (nach 1190), der 30 Ritter einsteigen läßt, und der Fortsetzer von Konrads von Würzburg ‘Trojanerkrieg’ (v. 48100 ff.). Bei Guido de Columnis sind es schon 1000 Mann; unter ihnen ist Sinon, der den Griechen von drinnen das Feuersignal gibt (S. 230-232). In allen Fällen wird dabei die Sühnefunk­ tion aufrechterhalten. Sehr unwahrscheinlich ist, daß Benoît bei seiner Änderung dem mittelalterlichen ‘Excidium Troiae’ folgte,34 das seinerseits zwar Vergil nachschrieb, aber nicht mit 32 Konrad von Hirsau, Accessus ad auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores. Édition critique ... par Robert B. C. Huygens, Leiden 1970, S. 121 f.; vgl. auch Knapp [Anm. 29], S. 593f. Peter Ganz übersetzt officialius et curialius mit »pflicht­ getreuer und eleganter«, Christoph Huber schlägt im Hinblick auf den Mäzen Augustus »offiziöser und höfischer« vor (beide brieflich). Damit sind die Abweichungen von der historischen Wahrheit nicht Willkür; sie werden als Zwang verstanden, an den Vergil gebunden sei. Seine >Lügen< sind ästhetisch wie politisch exkulpiert. 33 Ottonis et Rahewini Gesta Frederici seu rectius Cronica, ed. Franz-Josef Schmale, Darm­ stadt 1965 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17). Zur philosophica veritas Vergils vgl. noch (Ps.-)Bemardus Silvestris [Anm. 31] im Zusammenhang des integumentum: Nunc vero

hec eadem circa philosophicam veritatem videamus. Scribit ergo [Virgilius] in quantum est philo­ sophus humane vite naturam ... (3,8f.). 34 Zu den lateinische Quellen, die für das Spätmittelalter von Bedeutung geworden sind,

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dem poehi-Vorwurf belastet war. Die Umstände der Entstehung des Trojaromans am Eleonorenhof und die sonstige Resistenz Benoîts gegen typische ‘Excidium’-Motive legen indes die unmittelbare Beiziehung des Vergil näher. Auch fur den ‘Roman d’Eneas’ und Heinrich von Veldeke läßt sich zeigen, daß ihnen beim Erzählen der einen Tradition die andere präsent war. Freilich sind es geringe Spuren. V. 3139—41 berichtet der Franzose, daß der Becher, den Eneas dem König Latinus nach seiner Ankunft in Latium um Wohlwollen ersuchend übersen­ det, ein Geschenk des Menelaus an Eneas darstellte, als jener seinerzeit zu Verhand­ lungen nach Troja geschickt wurde. Vergil weiß nichts davon, Dictys aber berichtet (1,4.5; 11,20) von zwei solchen Botenfahrten des Menelaus.35 Veldeke unterläuft einmal (40,80) der zweite Name des Paris, Alexander, den Paris allein bei Dares, Dictys und der ‘Ilias latina’ führte. Ebenso erwähnt er anläßlich der Heldenschau auf der Unterweltsfahrt (100,20) den wtsen Antenor - entgegen der Quelle. Damit pas­ siert ihm freilich der Schnitzer, daß er Antenor zu den in Troja Gefallenen zählt.36 In die späten achtziger Jahre des 12. Jahrhunderts gehört auch die literarisch be­ deutendste Fassung der Verrätertradition, das hochrhetorische lateinische Hexameter­

gehört auch die mittellateinische Prosa des wohl in Frankreich entstandenen ‘Excidium Troiae’ (ed. by Elmer B. Atwood u. Virgil K. Whitaker, Cambridge, Mass. 1946). Es ist wahrscheinlich zwischen dem 4. und 6.Jh. entstanden. Antike Vorläufer, auch vielleicht hellenistisch-griechische, werden für das Werk angenommen. Der hier relevante Hand­ lungsabschnitt, der Fall der Stadt und die Abenteuer des Eneas, beruht auf Vergil. Doch haben die Herausgeber auch Ovid, Statius, die ‘Ilias latina’, Hyginus, Servius und die Vatikanischen Mythographen für einzelnes namhaft gemacht (vgl. p. XXI sqq.). Zu Dares und Dictys besteht keine Verbindung. Auch hellenistische, später mittelalterliche Spiel­ mannsmotive scheinen eingeflossen zu sein. So bedient sich Paris-Alexander beim Raub der Helena der Kaufmannslist. Den Germanisten wird interessieren, daß Polyxena, die unglück­ liche, von Achill geliebte Priamustochter, die verwundbare Ferse des Achilles verrät. Die Quellenlage erlaubt, im folgenden die im Spätmittelalter nicht selten herangezogene ‘Excidium’-Prosa aus dem Spiel zu lassen. 35 Im ‘Roman d’Eneas’ nennt Amata, die Gattin des Latinus, zweimal den Eneas einen traitor >Verräter< (éd. par Jacques Salverda de Grave, Halle 1891, v. 8618. 8583). Es ist aber un­ sicher, ob sie sich damit auf den Landesverräter bezieht; denn im gleichen Argumentations­ zusammenhang wird erwähnt, daß Enéas Dido verlassen habe. Es dürfte also eher an Liebesverrat gedacht sein. 36 Gleichsinnig verhält es sich mit Herbort von Fritslar, der wohl bald nach 1190 im Auftrag Hermanns von Thüringen die Geschichte des trojanischen Krieges nach Benoît geschrieben hat. Er hat die vergilische Tradition mit Sicherheit gekannt. Dem Auftrag des Gönners lag allem Anschein nach die Absicht zugrunde, mit der Vorgeschichte zum Eneasroman Veldckes, der für den gleichen Mäzen gearbeitet hatte, die ganze Geschehniskette darstellen zu lassen. Herbort verweist ausdrücklich auf das wenige Jahre zuvor fertiggestelltc Werk Veldekes als die Fortsetzung (v. 17381—85). Otto Behaghel, Heinrichs von Veldeke Eneide, Heilbronn 1882, S. 206—208, hat die Reminiszenzen Herborts an Veldeke zusammengestellt. Anlaß, seine Inhalte einigermaßen auf die Veldekes abzustimmen, sah Herbort nicht. Er erzählte mit der Tendenz zur Raffung nach seiner französischen Quelle. Dares ist wieder das Traditionssignal: Tares der aller beste Den sturm von Troygen weste Wen er da mit was gewesen (v. 53-55; vgl. v. 14945 Ytis vnd dares). Für die Verräterrolle des Aeneas ergibt sich keine konzeptuelle Änderung gegenüber der Quelle; über das eigenwillige Gesamtkonzept Her­ borts vgl. Hans Fromm, Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer (erscheint voraussichtlich Beitr. 115).

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epos des Joseph von Exeter (Iscanus), der zeitweilig in Reims als Magister tätig war und den englischen Bischof Balduin von Canterbury 1190 auf dem Kreuzzug be­ gleitete. Seine ‘Ylias’ wurde im Mittelalter gewöhnlich unter dem Namen und Tra­ ditionssignal Dares überliefert. Sie ist heute in vier Handschriften und einem Druck (1541) zugänglich, auf den dann Editionen bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen.37 Hier wird mit den differenzierteren Ausdrucksmitteln des Lateinischen zum ersten Mal der Versuch eines psychologischen Verstehens gemacht. Joseph möchte begreif­ lich machen, wie aus dem consiliis pius (IV, 74) und dem formidandus in armis Eneas (V,300f.) der impius Eneas (VI, 711) sich entwickelt. Joseph schildert die aussichtslose Kriegslage und den wachsenden Friedenswillen der Bevölkerung, und wie sich An­ tenor, Polydamas und Eneas zu Sprechern dieser Stimmung machen, Eneas wie immer folgend und nicht führend, weil von Haus aus auf Ausgleich bedacht (suadet idem Anthenor, suadet facundior illo Polidamas, suadet leni mitissimis ore dux Anchisiades, VI,675—677). Priamus und sein Sohn denken an Durchhalten (in sene non marcet princeps, in principe vernat miles »im Greis erschlafft nicht der Herrscher, im Herrscher erwacht der Kämpfer«) und, wenn es sein muß, an den ehrenvollen Tod vor dem Feind; gerade wegen seines Alters furchtet Priamus den Wankelmut seiner Ratgeber. Sein Mordplan, der das Gewissen der Friedenswilligen entlastet, ist Ausdruck solcher Furcht. Polydamas wird der Bote zu den Griechen. Diese, von ihrem anfänglichen Mißtrauen durch eine geheime Mission Sinons zu Antenor abgekommen, beeiden nun das >GeschäftUrzeugen< eine >Harmoniein reichbeladener, überfrachteter Ausdrucksweise< (oder nach anderer Hs.: prodigioso stilo >mit unnatürlicher ErzählweiseRomanform< sie war ja zuerst in der Volkssprache erfolgt - wird mit einer allzu knappen Dar­ stellung durch die Quellen (nimia breuitate) erklärt und entschuldigt. Guido bezieht sich dabei auf die particularia que magis possunt allicere animos auditorum. 1287 hat Guido sein Buch abgeschlossen. Damit war er Zeitgenosse von Wemher dem Gärtner, der im ‘Helmbrecht’ das Fortleben der vergilischen Tradition be­ zeugt.42 Auf der berühmten hübe des jungen Helmbrecht sind bedeutungsvolle Er­ eignisse und Gestalten der Geschichte eingestickt: als Heldensagenexempel die Kin­ der der Frau Helche, die ihren Ungehorsam mit dem Tode bezahlen, dann Kaiser Karl als Hüter der Ordnung und schließlich die Flucht des Aeneas aus Troja (v. 45 ff.) —nicht ausgeführt, weil sofort von allen verstanden: Eneas als das Vorbild echter Sohnesliebe, der den Vater auf den Schultern davonträgt. Die deutsche, auf die Dichtung beschränkte Tradition dieses Bildes führt von Heinrich von Veldeke —wo Anchises in Feudalmanier von einem ungenannten Die­ ner getragen wird! - über Albrecht von Halberstadt (XXXII, 1-9) und Thomasin (v. 3403-3406). Niemals wird in diesem Bereich auf den Verrat Bezug genommen, auch dort nicht, wo Dares als Gewährsmann genannt wird wie in der Einleitung des ‘Moriz von Craün’, wo die Translatio der Ritterschaft erzählt wird (v. 14 ff.), und bei Hugo von Trimberg (v. 15863-78), wo meister Dares zur leeren Nennung ver­ blaßt zu sein scheint; denn im gleichen Atemzug wird gesagt, daß Venus dem Eneas zur Rettung verholfen habe.43 Mit der gleichen Konstanz, mit der das vergilische Aeneasthema in der V er­ dichtung - wenn auch oft nur anzitiert - präsent bleibt, behauptet sich die Verräter­ tradition in den Troja-Prosen.44 Guido folgen um 1391 Hans Mair, mittelbar um 1400 (über das ‘Buch von Troja P) auch Jacob Twinger45 und im 15. Jahrhundert noch eine ganze Anzahl weiterer Prosafassungen. Die von Konrad ausgehen, wechseln für die Textstrecke nach dem Abbrechen Konrads zur Guido-Überlieferung über, unter ihnen eben auch Twinger. Zu den Stereotypen beider Traditionen gehört, daß dem Verrat des Eneas und Antenor niemals die Schuld am Untergang Trojas zugespro­ chen wird, obwohl aus den Ereignissen, die erzählt werden, eben dies hervorging. Sie wird im Paris-Urteil, in der geradezu zwingenden Kraft des Traumes der Hecuba oder im Raub der Helena gesucht. Elisabeth Lienert folgert: »Anscheinend wird das >Fremdewahrer< ge­ macht werden können, scheint ihm nicht bewußt gewesen zu sein. Ein paar Beispiele indes lassen sich anfiihren. Priamus werden gegen seine Quelle Dictys Züge eines Tyrannen und sogar auch eines Verwandtenfeindes eingezeichnet (v. 46875 ff). Er übt Mchvart und unmäze und unterdrückt den Antenor, der hier dem Dardanidengeschlecht zugerechnet wird. Der schlagartigen Wandlung des Antenor von einem, der des landes bezzerunge im Auge gehabt hat, zum Verschwörer, der, wie auch Eneas, den Judaslohn der Griechen ohne weiteres akzeptiert, scheint ihm Schwierig­ keiten gemacht zu haben; er fugt einen kleinen Gewissenskonflikt ein: Antênor zwîveln began sô sêre in sînem muote nâch den êren, nâch dem guote und nâch der grôzen rîcheit, die sie im hâten für geleit, daz im in den gedenken der muot begunde wenken. 46 Elisabeth Lienert, Antikenroman als Geschichtswissen, in: Brunner [Anm. 6], S. 407—456, hier S. 452. 47 Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg, hg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44). 48 Klemens Alfen / Petra Fochler / Elisabeth Lienert, Deutsche Trojatexte des 12. bis 16. Jh., in: Brunner [Anm. 6], S. 25. Es scheint (nach Wilhelm Greif, Die mittelalterlichen Be­ arbeitungen der Trojasage, Marburg 1886, S. 173, u. Gustav Klitschet, Die Fortsetzung von Konrads v. W. Trojanerkrieg und ihr Verhältnis zum Original, Phil. Diss. Breslau 1891, S. 5), daß der Fortsetzer Benoît gar nicht kannte. 49 Christoph Cormeau, Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg ‘Trojanerkrieg’, in: Klaus Grubmüller u. a. (Hgg.), Befund und Deutung, Tübingen 1979, S. 303—319.

Eneas der Verräter

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alse des die wîsen Kriechen gar genàmen an sinen siten war, mit bete lägen sie im an, biz daz er volgen began ... (v. 46140 ff.) Daran schließt sich dann eine lange Reflexion des Erzählers (v. 46213—311) über die menschliche Schwachheit seit Adams Zeiten gegenüber den Versuchungen der êren und des guotes und besonders auch den Verlockungen der Macht. Weder Dictys noch, vielleicht, Benoît hatten zu solchen Bemerkungen Anlaß gesehen. Jetzt erst heißt hinfort Antenor der (wandelbàre) Verräter, Eneas behält, da er ja schon von Dictys als >Mitläufer< geschont worden war, seine positiven Attribute bis zum Schluß. Die Trojaner, macht der Fortsetzer gegen seine Quellen klar, waren nicht ganz ohne Mitschuld an ihrem Schicksal - durch ihre einvaltikeit (v. 47136, 48145f.), mit der sie den Griechen auf den Leim gegangen sind. Aber das sind Ausnahmen. Viele andere Möglichkeiten verspielt er. So wird der Mordplan des Priamus nicht genutzt, sondern einfach vergessen. Priamus beauftragt seinen Sohn, der zeigt sich willfährig, aber es gibt keine Fortsetzung (v. 46783 ff.). Genauso bleibt das blinde Motiv des Dictys von der einstürzenden und die Kinder des Paris und der Helena erschlagenden Wand kommentarlos und blind auch beim Fortsetzer (v. 47144 ff.). Vom Palladium hat er sich offensichtlich keine Vorstellung machen können; denn auch das große hölzerne Pferd vor der Stadt gilt ihm dafür, und die daraus sich ergebenden Widersprüche (v. 47462 ff, 47650 ff.) löst er nicht auf. Daß der Bauch des Pferdes mit Gewaffneten gefüllt wird, geht wohl unmittel­ bar auf Vergil hier zurück (oben S. 151) und wird lange nach der Beschreibung des Bauvorgangs nachtragsweise und verlegen angefügt (v. 48100 ff). Man kann nur ahnen, wie sich Konrad, mit seiner Kenntnis der im ‘Excidium Troiae’ bewahrten vergilischen Tradition, des Statius und des Ovid, mit seinem Material auseinandergesetzt hätte. VII

Ich überspringe nun die von Guido und Konrad abhängigen spätmittelalterlichen Texte. Sie sind durch Horst Brunners und seiner Mitarbeiter neues Übersichtswerk, über Karin Schneiders ältere Gesamtdarstellung hinaus,50 gut zugänglich geworden, zumal die mustergültige Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung auch in den Fällen den Zugriff erleichtert, in denen eine Edition bisher fehlt. Das Bild, das vorstehend zu gewinnen war, ändern die Texte indes nicht mehr wesentlich. Ich beschließe daher die Übersicht mit einer Chronik, die zeitlich in den spätmittelalter­ lichen Rahmen gehört und auch auf den bekannten Autoritäten und Quellen basiert, diesen aber in einem schon vom Frühhumanismus geprägten Geist gegenübersteht. Die ‘Cronographia Augustensium’ des Benediktiners Sigismund Meisterlin,51 der aus dem Kreis um Sigismund Gossembrot und Hermann Schedel kam, wurde 1456 7,0 Karin Schneider, Der ‘Trojanische Krieg’ im späten Mittelalter. Deutsche Trojaromane des 15. Jh„ Berlin 1968. 51 Dazu Katharina Colberg, in: 2VL Bd. 6, 1987, Sp. 356-366. Der Text ist bisher nur auszugs­ weise bekannt gemacht. Annemarie Bartl, München, bereitet eine Edition vor. Ihr verdan­

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lateinisch abgeschlossen und umgehend in die Volkssprache übersetzt. Diese Über­ setzung, ein Jahr später schon fertig, liegt neben anderen Augsburger Codices im Codex 2° Aug. 60 der Staats- u. Stadtbibliothek Augsburg vor. Die Stadtgeschichte hatte sich mit der Überlieferung auseinanderzusetzen, die Augsburg als eine Grün­ dung des Eneas ansah. Meisterlin machte sich in vielen Quellenwerken kundig, von denen er eine Reihe auch namentlich bezeichnete (der poet Virgilius, Ouidius, Titus Livius, Horacius, Tullius, Lucanus, Suetonius, Eusebius, Otto frisingensis u. a.), und stell­ te im 3. Kap. des 1. Teils die Überlieferung vor: [Bl. 4r] MJch trügt auch nicht daz ettlich sprechent- es seyent Troyer auch jn Gallias komen und daz für sich nement das da sprechent ist der haydnisch poet Virgilius | Anthenor mocht entrinnen durch mittel der kriechen etc. und her nach \ der Anthenor hat gepawt die stat Patauis [Aen. 1,242—49] | und das verstand ettlich von der statt Gallie genant Patauis alz sy auch den spruch des Cronitisten Lucani verstand \ da er spricht patauique truces [die wilden Pataver] | Die andern verstand es von der bayrischen stat Passaw [vgl. Anm. 6] Auch die weisem mit den ichs halt \ sprechen es sey zu verstan von Padua der welschen stat\ die auch Patauium wirt genant | Da zaigt man auch das grab Anthenoris \ vnd von der rett Lucanus [adnot. VII, 194] vnd auch Virgilius- [s. o.] |5253So dem nun also ist \ so schwanckelt aber die vrsach von den Troyern | wie wol das ist das es gar ain klaine ere wär der stat Augspurg vnd den bürgern ob man spräch sy hetten iren Ursprung oder gepurd \ her von Enea oder seiner gesellschafft \ der da auss Frigia ist auff schiffen in welsche land gefürt worden | Oder von Anthenor So doch Eneas ein ßüchtigir man ist gewesen- wie wol jn Virgilius starck nänt durch zu smaychens willen \ wenn er maint Octauianum von seinem geschlecht geporn sein \ Aber die andern sprechent er sey ain verrätter seines Vaterlands \ vnd ein böser Zauberer \ vnd der auch sein aignü frawen Creusam seinen göttern geoppfert hat | Titus Livius spricht | Eneas vnd Anthenor habent Troijen verratten- [s. o. S. 142] Vnd das du auch wissest wie groß sein ere oder lob sey \ So merck die wort der herrlichen edlen frawen vnd künigin Heccube die ain ee weib was Priami | wenn also sy luttend sind \ O du schalck \ O du verrätter \ von wannen kompt dir so vil vngüttikait deiner wietrichait \ Das du den edlen künig [Bl. 4V] Priamum der dir so vil guttes hatt getan und so vil groß ere gegeben \ seinen veinden verratten hast | den du billicher soltest mit deiner hilff beschirmet haben \ Du hast verratten dein vatterland \ Du hast übergeben die staff3 dar jn du so vil zeit herrlichen bist gehalten worden \ Du furchst nicht anzesechen jrer väll vnd verprinnung etc Ob nun Virgilius ain anders sagt des ist nit zu achten | Wenn das puch Eneidos gedieht mer send \ A lz auch die veriechent· die da haydnische pücher geren lesend \ Wie groß aber die ere Anthenoris sey der da palladium ke ich einen Mikrofilm der Augsburger Hs. für die trojanischen Passagen. —Im Anfangsteil, der die Trojanersage einschließt, polemisierte Meisterlin gegen die deutschsprachige Augs­ burger Reimchronik des Küchlin (ca. 1440), von dessen kleinem Opus (396 Verse) ihm eine lateinische Übersetzung vorlag (vgl. Clarissa Altschäffel, in: 2VL Bd. 5, 1985, Sp. 407-409, und Paul Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland, Bonn 1895, H. 1, S. 26-31). 52 Das meiste, was der Chronist zu den Westzügen der Trojaner zu erzählen weiß, ist Otto von Freising entnommen, so z. B. in 1,2 die Geschichte der gallischen Frankenflirsten Pria­ mus (d.J.) und Antenor (IV,32). 53 Wird hinter dem vbergebett des Textes noch das tradiderant des Dares (cap. XL) sichtbar? Der Streit zwischen Eneas und Antenor verweist auf Dictys und Guido.

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gestolen hatt \ sullen wirforschen seinen gesellen Eneam \ der zu jm sprach■dar nach vnd er sich mitjm zertrug | von der edlen junckfrawen wegen Pollixena■die er verriet | [...] Hye vmb ich verwundern bin· was lobs \ was ere | was laymet müg zu gezogen werden den Augspurgern \ ist das man spricht | sy habent von sollichen verrättern jren anfanck oder vrsprung | Es sey dann■das man es vmb sollichs sprechen wöll | Die stat Augspurg damit alt zu machen■des doch kain nott | wan ain sollichs sy vil elter gefunden wirt | alz ich dann her nach clärlicher sagen will. Das sind die alten, bekannten Versatzstücke: der heidnische Dichter Virgilius —hinter dem >schmeichelnden< Vergil, dem Nekromanten und dem Creusa-Bericht ist noch Otto von Freising zu erkennen —, der schmähliche Flüchtling Aeneas, der undank­ bare Vaterlandsverräter. Aber diese Details sind auf neue Weise benutzt. Der Autor zeigt, wo die Traditionen Zusammengehen (die Gründung von Patavium), wo sie auseinandergehen, wie sie zu bewerten sind und wo sich Vergil als der weniger vertrauenswürdige Zeuge erweist.54 Dann kommen die Folgerungen, die daraus flir den Augsburger Chronisten zu ziehen sind, und schließlich die >Hinterfragung< der Absicht, Augsburg zu einer Gründung des Eneas zu stempeln. Daß die Stadt viel älter sei als Eneas, war vom Autor im voraufgehenden Kapitel argumentativ >nachgewiesen< worden. Erst in der Meisterlin-Chronik sind wieder die Positionen eines Dionys von Ha­ likarnass erreicht, der verschiedene Überlieferungen unvoreingenommen nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit wägt, oder auch eines Otto von Freising, der mehrere Überlieferungen nebeneinanderstellt, die eine stärker in den Vordergrund schiebt und zugleich dem Leser empfiehlt, die andere zur Kenntnis zu nehmen. VIII

Der knapp gehaltene historische Überblick lädt zu einigen allgemeineren, im be­ sonderen poetologischen Bemerkungen ein, die versuchen, das Eigentümliche an den Aeneas-Traditionen vor dem Hintergrund einer seit Jahren im Fluß befindlichen Diskussion in den Blick zu bekommen.55 Es ging um die Symbiose zweier oder auch dreier Traditionen. Hier lag nicht das Phänomen vor, das die verschiedenen Alexander-Überlieferungen charakterisiert. Bei diesen hat das Mittelalter die gleichen Fakten in unterschiedlicher Perspektive gesehen und damit Differenzierungen im Bilde einer historischen Persönlichkeit her­ vorgerufen, die dem Frühen und Hohen Mittelalter in der Volkssprache sonst nicht leicht geglückt sind. In unserem Falle ging es dagegen um miteinander unvereinbare Handlungen. Es ist nicht mehr eine Sache unterschiedlich nuancierender Bewertung, 54 Das hindert Meisterlin keineswegs, andernorts (z. B. 1,5) des längeren aus Vergil zu zitieren (z. B. Aeneis VI, 494 ff. des Aeneas Klage um Deiphobus). Vergil bleibt verläßliche Quelle, wenn Dares und Dictys nicht hindernd im Wege stehen. 55 Zu ihr besonders Köhler [Anm. 29], Knapp [Anm. 29], sowie Peter von Moos, Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan, Beitr. (Tüb.) 98 (1976), S. 93-130; Alfred Ebenbauer, Das Dilemma mit der Wahrheit, in: Christoph Gerhardt u. a. (Hgg.), Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1985, S. 52—71; Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittel­ alter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jh., Darmstadt 1985, Reg.

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den großen Ahnherrn vieler europäischer Völker, den Bürgen für die antik-mittel­ alterliche Kontinuität, einen Mann welthistorischen Zuschnitts, mit dem Hoch- und Landesverräter und dem harten und grausamen König seines Landes unter dem Namen eines Menschen zu versammeln. Das Mittelalter hat in unserem Falle auch nicht, wie es bei Theoderich-Dietrich von Bern geschah, zu einer existierenden Tradition aus Gründen der Glaubenskritik und, damit zusammenhängend, weltgeschichtlicher Sichtweise eine zweite, davon abweichende Tradition entwickelt, sondern es hat zwei von den drei Überlieferun­ gen, die Verrätergestalt und den pius Aeneas, von der Antike und mit deren Auto­ ritätsgewicht bereits ausgeformt erhalten. Bei Aeneas ist der Widerstreit nie ausgetragen worden. Zugleich muß man davon ausgehen, daß diejenigen, die für die eine Überlieferung eintraten, die andere kann­ ten. Derjenige, der vom Verräter schrieb, hatte immer auch seinen Vergil gelesen. Von ihm hat es durch Schrift und Bild, auch wenn die Bildzeugnisse vor Raffael und Elsheimer nicht sehr zahlreich sind,56 immer ein kontinuierliches Wissen gegeben. Trotzdem besteht das Ungleichgewicht von Anfang an. Dares steht für die Wahrheit (vere et simpliciter),57 mit Homer und Vergil ist die Lüge verbunden. Die ungewöhn­ lich langdauernde Autorität des Dares beruhte in der Hauptsache auf der Erwähnung durch Isidor von Sevilla, der ihn den ersten weltlichen Historiographen nannte (auc­ tor historiarum ... apud gentiles, Etym. 1,42,1), und dies in einem Atemzug mit Herodot. Außerdem kam auch die dürre, farblose, sich im Addieren erschöpfende Sachprosa —»horriblement monotone« nannte sie Léopold Constans —, die sich bewußt von allen darstellerischen Qualitäten und aller lehrhaften Eindringlichkeit fernhielt, dem Stileindruck entgegen, den man glaubte an Sallust oder Caesar abgelesen zu haben. Das wirkte weit stärker als die sich uns aufdrängende Überlegung, daß der Text, der sich auf Augenzeugenschaft berief, vieles enthielt, was auch durch einen noch so aufmerksamen Mitkämpfer nicht wahrzunehmen war. Die veritas des Dares hielt wasserdicht durchs ganze Mittelalter. Die Gewichts­ verschiebungen, die sich einstellten, kamen von der anderen Seite. Das alte Verdikt von der Lüge der Dichter und den Fabeleien Vergils verschwindet nicht, aber es wird in einer differenzierenden Bewertung relativiert. Das läßt sich für uns erst seit dem 12. Jahrhundert nachweisen. Es ist die neue Wertschätzung Vergils, die jetzt von den Schulen ausgeht. Nicht nur als poeta wird er verstanden, sondern auch als philosophus, als derjenige, der menschliches Handeln recht zu verstehen lehrt. So wird der durch ihn überlieferten Aeneas-Gestalt ihre Rechtfertigung und ihre Teilhabe an der veritas zugesprochen. Denn veritas erhält nun neben der alten, auf die Faktizität der res gestae und damit auf die nichtige Quelle< festgelegten Bedeutung eine zweite, neben der Faktizität den >Sinn< (sensus, intellectus), und dieser meint sowohl das Maß an Sinn­ fülle, das in der res steckt, als auch, nur in der Blickrichtung unterschieden, den Sinn, 56 Vgl. Margaret R. Scherer, The legends of Troy in art and literature, N ew York/London 1953, S. 190 ff. Übrigens ist S. 192 ein Wandfresko aus Herculanum (heute Neapel, National­ museum, Nr. 9089) aus dem 1. Jh. n. Chr. abgebildet, das eine Karikatur des berühmten Motivs darstellt; dazu M. Scherer: »The Romans themselves must occasionally have grown tired o f the term >pious Aeneaspolitische Wahrheit, mit der das preisende Epos auf die Realhistorie bezogen ist. Thomasin hat den geistigen Wandel zu fassen versucht mithilfe seines Lebens­ stufenschemas. Er blieb bei der lüge, berief sich aber auch auf die wärheit durch die bezeichenunge.56 Auf die verax significatio hatte schon seinerzeit Isidor rekurriert (Etym. 1,40,6 anläßlich der Fabel). Rudolf von Ems setzte über die —geschichtliche — wärheit als Intention seiner ‘Weltchronik’ die rehte oder ganze wärheit, die durch umfassendes Berichten und ordnende Sinngebung zustande kommt. »Das fundamen­ tum historiae darf verändert werden, wenn die Änderung eine bessere Entfaltung des geistigen Sinnes der Geschichte ermöglicht. Und dies offenbar, ohne daß der Autor das Gefühl hätte, Entscheidendes an der Geschichte verändert zu haben.«5859 Es wird, mit besonderem Hinweis auf Thomasin und Rudolf von Ems, immer gern darauf Bezug genommen, daß nach mittelalterlicher Auffassung die Wahrheit des Berichteten auch aus dessen Exemplarität hervorgehe. Was vorbildhaft sei, trage Wahrheit in sich, habe Anteil an der Sinngebung, welche die veritas des Stoffes erfährt. Dieses Theorem ist auf die Verrätertradition nicht recht anwendbar. Auch als exemplum deterrens hat man sie kaum genutzt. Die lange é?re-Reflexion des KonradFortsetzers bleibt eine Ausnahme. Auch die Wiederaufnahme der spätantiken pro^wgns-Kritik im Hochmittelalter ließe sich wohl ins Feld fuhren. Da Exemplarität für poetische figmenta etwa des höfischen Romans ebenso gilt wie für die Geschichts­ schreibung, muß es bei der Beobachtung bleiben, daß Gattungsdifferenz nicht trägt. Es ist schon oft vorgeführt worden,60 wie leicht der Chronist Gattungs- und Über­ lieferungsgrenzen zu überspringen bereit ist, wenn er nur zu seinem Thema und aus verschiedenen Berichten und Erzählungen neue Konfigurationen bilden kann, die einen neuen Informationswert in sich tragen. Im Falle des Aeneas konnten wir über Jahrhunderte hinweg nur gegenseitige Abschottung und ein Ritual des Schweigens feststellen. Daß die kontradiktorischen Inhalte, das im Hinblick auf ein geschlossenes Persönlichkeitsbild Unvereinbare, da­ 58 Thomasin von Zirclaria, Der wälsche Gast, hg. v. Heinrich Rückert, Einl. v. Friedrich Neumann, Berlin 1965, v. 1041-1141. Dazu Haug [Anm. 55], S. 222-234. 59 Helmut Brackert, R udolf von Ems, Heidelberg 1968, S. 155-157, Zitat S. 157. 60 Zahlreiche Beispiele bei Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern [u. a.] 1980, passim, sowie bei Cormeau [Anm. 49].

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bei eine Rolle gespielt haben, halte ich für nicht denkbar. Die Erklärung muß wohl eher in Richtung der veritai-Diskussion gesucht werden. Aber auch hier bleibt zu bedenken, daß die Differenzierung des Wahrheitsbegriffes mit der Neubewertung Vergils tatsächlich an der Geschlossenheit der Traditionssysteme letzten Endes wenig ändern konnte. Die Fronten blieben bestehen, auch wenn sich die Prologe wandel­ ten. So wurde zum Beispiel nie erwogen, ob die Tat des Eneas als verwerflich zu bezeichnen sei oder nicht doch als Ergebnis einer inneren Abwägung von Werten verstanden werden könne, bei denen die Beendigung des jahrelangen Mordens von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus höher und wichtiger erscheint als die Loyalität zu einer als menschenverachtend erkannten Staatsräson. Eneas wäre in die­ sem Falle zu einer mit dem Wort nicht definierten tragischen Gestalt geworden. Wir kennen aus der sich als Vorzeitgeschichte verstehenden Heldensage Vergleichbares. Bei Dares und Dictys, die beide den durch Augenzeugenschaft beglaubigten faktizistischen Wahrheitsbegriff erfüllen, gibt es keinen Sinn außerhalb der materia. Die­ se ist der einzig mögliche Sinn. Zeichen dessen ist die Art und Weise, wie Ge­ schichte erzählt wird —und sich abspielt. Es gibt keinen Verstehensversuch und kein historia docet. Dem sind so gut wie alle späteren Chronisten gefolgt. Nur der Rhe­ toriker und Dichter Joseph von Exeter scheint so etwas wie einer Verstehensspur folgen zu wollen. Auch daß die bei Rudolf von Ems volkssprachlich sichtbar werdende Tradition einen Versuch zu verstehen bedeutet, kann erwogen werden, muß aber offenbleiben. Es wäre der Versuch, ein >typisches< Herrscherbild vor dem Hintergrundwissen des Verräters und des Flüchtlings zu entwerfen. Wenn das in unserem Verstände fiktive Element zunimmt, das Konzept des Er­ zählers sich in Raum, Zeit und Szene verwirklicht, ist nach unserem modernen Gattungsverständnis der Bereich der Historiographie verlassen und der des histori­ schen Romans erreicht. Weder Benoît noch der Anonymus des ‘Roman d’Eneas’ waren sich eines Übertritts είς &λλο γένος bewußt; denn seit je, genauer: seit Aristo­ teles, steht zwischen dem Wahren und dem Falschen das Wahrscheinliche. Wahr­ scheinlichkeit ist die Domäne der Dichter. »Es steht nichts im Wege, daß manches von dem, was wirklich geschehen ist, derart verlief, wie es wahrscheinlicherweise hätte geschehen können, und dann ist es zu dichterischer Darstellung geeignet«, heißt es in der ‘Poetik’ des Aristoteles (IX, 1451b 29—31). Gleichgerichtete Überlegungen werden dem Mittelalter zugeleitet. Isidor von Sevilla unterscheidet drei genera hi­ storiae: historiae sunt res verae quaefactae sunt; argumenta sunt quae etsi facta non sunt, fieri tamen possunt; fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt (Etym. 1,44,5).61 Hier stehen deutlich die ersten beiden gegen das dritte Genos. Fast als Ergänzung tritt dazu der Satz des Servius (zu Aeneis 111,36): vituperabile ...est poetam aliquid fingere, quod penitus a veritate discedat. Der Dichter, hatte Aristoteles statuiert, sei auf das Allgemeine, Typische bezogen, wogegen der Historiograph das Einzelne suche. Das »Allgemeine« meint gerade die 61 Zur Differenz zwischen dem antiken und modernen Begriff der historia vgl. Renate Zoepffel, historia und Geschichte bei Aristoteles, Heidelberg 1975 (Aristoteles verstand unter ίστορίη >GeschichtsschreibungHistorie< in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984.

Eneas der Verräter

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Gestaltung, welche das Vereinzelte in einen Zusammenhang des Geschehens bindet. Der Dichter, kann man daraus folgern, besitzt ein festes Wissen um Vcrlaufstopik, das sich auch auf geschichtliche Ereignisse bezieht. Er kennt die Handlungsrituale, mit denen sich Geschichte ereignet. Und so macht er nichts anderes, als daß er die Striche auszieht, die er bei Dares oder Dictys angedeutet oder auch nur >gemeint< sieht. Wenn ein König einen Plan fassen oder einen gefaßten durchfuhren will, wird er unter seinen Vasallen die nächsten Ratgeber zu sich laden. Sie werden mit Reden Stellung nehmen. Ob sie zustimmen oder ablehnen oder je beides, gibt der Ereignis­ rahmen vor, aber die Füllung steht als festes Bild dem Erzähler vor Augen und steht zu seiner Verfügung. Will er karge >reine< Historie amplifizieren —nach seiner Auf­ fassung: zu sich selber kommen lassen —, wird er die Szene entsprechend darstellen und nach allgemeiner mittelalterlicher Auffassung die historiographischen Grenzen nicht überschreiten. Mit dem Begriff des dem Wahren verbundenen Wahrscheinlichen wiederholt die Poetik der Schriftlichkeit nur das, was der oralen Produktion bis zum Hochmittel­ alter die Grundlage allen Hervorbringens war: Das Gedächtnis des Traditors (des Sängers) bewahrt die Handlung mit ihren Entscheidungsknoten, die Abläufe inner­ halb des Rahmens füllt der kollektive (»allgemeine«) Motiv- und Ausdrucksschatz, von dem das Geschichte reproduzierende Lied oder Epos schließlich getragen wird. Die Füllung des Rahmens, die Reden und Argumente der Personen, all das bleibt nicht nur im Bereich des verum, sondern in der Praxis oft genug auch im Bereich des geschichtlich Realen, ist Geschichtswissen so gut wie der annalistische Faktenbericht. Nur so läßt sich befriedigend erklären, daß und wie Mythos und Sage mit der Geschichte konglomerieren.62 Das Spiel zwischen verum, verisimile und fabulosum wird freilich nicht immer durch die Intention des Autors entschieden. Zwar gibt er in aller Regel, wie gezeigt worden war, sein Traditionssignal, und das bestimmt auch oft in der Auffassung des Publikums seine Position. So wird der höfische Epiker Konrad von Würzburg bis zum Ende des Mittelalters als historicus akzeptiert, weil er sich auf Dares als seinen Gewährsmann beruft, obgleich seine Darstellung reich ist an höfischen Motiv­ modellen, signifikanter Handlungs- und Sprachtopik sowie exemplarisch ver­ standenen Minnekonstellationen. So kann aber auch etwa Heinrich von Veldeke, der sich auf Vergil als seinen Gewährsmann beruft und seine (heils-)geschichtliche Inten­ tion durch die Aussparung des Prologes und die Eigengestaltung der Geschlechter­ kette von Eneas bis Augustus deutlich macht, die Akzeptanz verweigert werden. Die Nachwirkung zeigt, daß ihm die Intention letztlich nicht abgenommen wurde. So gut wie alle Zitationen beziehen sich mittel- oder unmittelbar auf seine Minne­ darstellung und -auffassung, und auch Wemher der Gärtner hat moralische, nicht historische Exemplarität im Sinn. Es schrieb der große Vergil sub luce ueritatis .. ,63 62 Im einzelnen beschrieben von Albert B. Lord, Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht, München 1965. Auch wenn die erste und zweite Generation der sogen. oral-poetry-Forschung sich oft an den falschen Texten vergriff, so sind die Prinzipien des oralen Produk­ tionsvorgangs gerade bei Lord durchaus richtig beschrieben. 63 Elisabeth Lienert (Würzburg) und Christoph Huber (Bamberg) danke ich flir kritische Lektüre des Aufsatzes.

Christoph Huber

Mittelalterliche Ödipus-Varianten

In der Vorrede zum ‘Zerbrochenen Krug’ bemerkt Heinrich von Kleist bei der Beschreibung des Kupferstiches, der ihn zu seinem Stück anregte: »Und der Ge­ richtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mistrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den ödip.«1 Tatsächlich ist in das Lustspiel eine Ödipus-Struktur eingeschrieben. Der mit der Wahrheitsfindung befaßte Richter Adam entdeckt sich selbst als den Schuldigen, freilich in umgekehrter Weise wie in dem klassischen Stoff: Er tut es wohl wissend und wider Willen. Kleist verbindet hier den analytischen Prozeß des Dramas mit einer zweiten fundamentalen Erzählung der Tradition, der Geschichte vom Sünden­ fall. Beide Basis-Mythen haben eine gewisse Konvergenz; sie formulieren grund­ legende Tabubrüche, Urgeschichten einer gebrochenen Welt; antikes und jüdisch­ christliches Modell sind aber nicht verschmelzungsfähig. Die Handlungen weichen ab in wesentlichen Zügen, die Schuldbegriffe differieren, die Auffassungen von ei­ nem transzendenten Rahmen bleiben mit den Weltbildern divergent. Ödipus und Adam werden so zitiert als Perspektiven der Kleistschen Dramenhandlung und un­ vermittelt in Balance gehalten. Ihre reizvolle Verschränkung kann uns auf die Pro­ blematik eines mittelalterlichen ‘Ödipus’ hinfuhren, um den es hier gehen soll. Wie und wieweit ist in den einschlägigen Texten die Ödipus-Erzählung präsent? Wie erscheint sie gebrochen? Auf welche Handlungs- und Deutungsmuster ist sie zurück­ geführt? Wie fügt sie sich mit konkurrierenden Schemata in ein Bild? Walter Haug und Burghart Wachinger haben in ihren Arbeiten immer wieder gezeigt, wie mittelalterliches Erzählen mit weitgehend festen Stoffen, mit traditions­ gebundenen Handlungs- und Gattungsmustem und einer normativen Poetik der Vertextung ein wahrhaft experimentell zu nennendes Spiel mit den Möglichkeiten des Erzählens und der narrativen Sinnbildung inszeniert. Dieser ihnen gewidmete Beitrag setzt das Experiment ganz vomc an, am Stofflichen der Erzählung, der 1 Heinrich von Kleists Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Ilse-Marie Barth u. a., Bd. 1: Dramen 1802-1807, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 71), S. 259. In der Handschrift ist von Kleist über der Zeile ergänzt und wieder gestrichen: »als die Frage war, wer den Lajus erschlagen«, ebd., S. 809. War Kleist die Ergänzung zu trivial oder schien sie ihm abzulenken? - Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Der ‘Zerbrochene Krug’ von Heinrich von Kleist und Sophokles’ ‘König Ödipus’, in: W. S., Hellas und Hesperien, Bd. 2, Zürich/ Stuttgart 1970, S. 333-340 [zuerst 1957],

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narrativen Hyle. Die spezifische Strukturierung, die Erzähl- und Sinnbildungsarbeit, kommt erst auf einer nächsten Stufe zum Zug. Vorgegeben ist der Stoff als konkrete Matrix und seine Faszination. Die Figur und ihr Schicksal liefern die Hohlform einer sozusagen noch blinden Geschichte, die das Erzähl- und Denkexperiment hervor­ bringt. An dieser Stelle muß ich gestehen, daß ich selbst mich vom Reiz dieser Geschich­ te zu meinem Aufsatz verleiten ließ, ohne die Dimensionen des Unternehmens recht zu überblicken. Die Ödipus-Erzählung als Stoff- und rezeptionsgeschichtliches Para­ digma mit all ihren anhängigen Problemen stellt den Literaturinterpreten vor außer­ gewöhnliche Schwierigkeiten. Sie ist als europäische Basis-Mythe zeitlich wie räum­ lich kaum einzugrenzen. Schon die frühesten Zeugnisse legen neben den klassischen Texten einen verwirrend breiten Variantenfächer auf, der zum hypothetischen Rückschluß in die Dunkelzone unbelegter Vorstufen herausfordert. Nach vorn hat der Stoff bis in unsere Tage eine unverwüstliche Produktivität bewahrt. Dabei er­ scheinen die Ränder des europäischen Traditionsfeldes früh durchlässig;2 die Ödi­ pus-Erzählung scheint sich, zumindest der abstrahierenden Betrachtung, schnell auf einen universellen Horizont zu öffnen, dessen Allgemeinheit gerade mit der immer neuen Verfügbarkeit als Medium von historisch spezifischen Aktualisierungen Z u ­ sammenhängen dürfte. Ferner tritt der Stoff in verschiedenen Textsorten, in unter­ schiedlichen Diskursen auf: als traditionelles Epos oder Drama, in der gelehrten Mythographie, in mündlichen Erzählformen, die in die Corpora der modernen Folklore münden; als komplexes Einzelwerk und als Zeugnis kollektiven Bewußt­ seins; und nicht zuletzt als Paradigma für abstrakte Modelle, philosophisch­ anthropologische Entwürfe, unter denen im unserem Jahrhundert Freuds Psycho­ logie des >Ödipuskomplexes< und das strukturale Mythenmodell von Lévi-Strauss zur gängigen Münze geworden sind. Varianz ist angesagt auf vielen Ebenen. Wo bleibt in dieser ruhelosen Vielfalt die Identität der Mythe? Wohl lassen sich historisch konsistente Einheiten ausgliedern, wie dies hier für das Mittelalter mit bestimmten Schwerpunkten versucht werden soll. Aber der Proteus-Natur des Stoffes kann man auch so nicht entkommen. Zum einen lassen sich die Verbindungen zu entfernteren Adaptationen nicht einfach ausblenden, weit gespannte Brückenschläge sind ein Re­ zeptionsmerkmal und machen gerade die oben berufene Faszination aus; zum andern ist das Varianzprinzip und die Kreuzung der Diskurse auch synchron auf engstem Raum anzutreffen. Und divergierende Deutungen drängen sich um die zentralen traditionsstiftenden Texte. 2 Folkloristisches Material bei Lowell Edmunds, Oedipus. The ancient legend and its later analogues, Baltimore/London 1984, auch aus folgenden Regionen: Near East, Asia, Africa, Western Hemisphere; zu Grenzen des Projekts vgl. Vorwort, S. VIII f. - Der transkulturelle Aspekt findet sich seit den frühen mythenvergleichenden Arbeiten, etwa bei Domenico Comparetti, Edipo e la mitologia comparata, Pisa 1867. —Vgl. auch folgende großangelegte Studien: E. Wellisch, Isaac and Oedipus. A study in biblical psychology o f the sacrifice o f Isaac, London 1954 [religionspsychologische Studie]. —Immanuel Velikovsky, Oedipus und Echnaton. Mythos und Geschichte, Zürich 1966 [These, der thebanische Sagenzyklus be­ ruhe auf historischen Vorgängen in ägyptischen Dynastien]. - Meyer Fortes, Ödipus und Hiob in westafrikanischen Religionen, Frankfurt a. M. 1966 (suhrkamp theorie 2) [Original­ ausgabe Cambridge 1959, wieder 1983].

Mittelalterliche Ödipus - Varianten

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Nun soll dieser beunruhigend offene Horizont nicht von vornherein die Identität der Stofftradition und ihre produktive Rezeptionsgeschichte als Dialog von Be­ arbeitungen in Verdacht bringen. Der Versuch einer Synopse von Fassungen und die Frage nach der sinnbildenden Valenz der Mythe scheint gerade für ein begrenztes Corpus sinnvoll. Der mittelalterliche >Ödipusancient legend< vor dem gesamten Va­ riantenspektrum und setzt dagegen gängige moderne Deutungs-Paradigmata ab. Grundsätzlich findet in diesem Rahmen auch das Mittelalter seinen Platz (sehr se­ lektive Bibliographie S. 228f.), doch wird gerade hier, abgesehen von den Auslas­ sungen, eine Lücke deutlich, die auch für andere komplexere literarische Bearbei­ tungen des Stoffes klafft: Die Reduktion auf gemeinsame Strukturen blendet gerade die eindrucksvolle Arbeit der Einzeltexte mit dem Stoff aus, die exponierten Formund Sinngebungsexperimente, denen unsere Aufmerksamkeit gilt. Zur Methode der Analyse seien vorweg einige Stichpunkte festgehalten, auch wenn sie Triviales memorieren! Der noch weitgehend amorphe Stoff der Erzählung ist auf einer Strukturebene einzuordnen, die nach gängiger Terminologie als G e­ scheitem bezeichnet wird. In Verbindung mit bestimmten Konzepten, Normen, Deutungsmustem wird erst auf einer nächsten Stufe die >Geschichte< mit Anfang, Ende und allen Zwischengliedern geformt, die sich dann auf der Ebene des Textes als Diskurs in den vom Autor gesuchten Brechungen und in ihrer rhetorischen Ver3 Textkatalog (ohne Nachweise), zusammengestellt von Maria Schadewaldt-Meyer, in: So­ phokles, König Ödipus, übertr. u. hg. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1983 u. ö. (insei taschenbuch 15), S. 126, 127 ff. 4 Comparetti [Anm. 2]. —Wilhelm H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1897-1902 (Nachdruck 1965), hier Bd. 111,1, Sp. 700-746 (Artikel >Oidipus< von O. Höfer). — Carl Robert, Oidipus. Geschichte eines poetischen Stoffs im griechischen Altertum, 2 Bde., Berlin 1915—1917. 5 Léopold Constans, La légende d’Œdipe. Etudiée dans l’antiquité, au moyen âge et dans les temps modernes en particulier dans ‘Le Roman de Thèbes’, texte français du XIIe siècle, Paris 1881 (Nachdruck 1974). 6 Vgl. unten IV. 7 Lowell Edmunds, Oedipus in the Middle Ages, Antike und Abendland 22 (1976), S. 140­ 155. 8 Siehe oben Anm. 2.

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sprachlichung präsentiert.9Natürlich sind die Vorgaben des Stoffes auf der Geschehens­ ebene nicht völlig unstrukturiert, gerade im Fall einer schriftlichen Vorlage. Wie eine materia prima empirisch nicht vorkommt, so ist auch der literarische Stoff immer schon mehr oder weniger präformiert, so aber auf jeden Fall noch offen. Variante Formungen stoßen dann auf den genannten Textebenen dazu und lassen sich dort einordnen (anders z. B. Änderungen, Ummotivierungen auf der Ebene der >GeschichteDiskurs« die kürzende oder amplifizierende Austextung oder die Kommentierung durch eine Autorinstanz). Umgekehrt zeigt sich gerade am >Ödipus