Impulse und Resonanzen: Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug [Reprint 2013 ed.] 9783110975949, 9783484108103

This volume dedicated to Walter Haug contains 23 papers by medievalists who have worked with him in Tübingen. The topics

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German Pages 402 [404] Year 2007

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Impulse und Resonanzen: Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug [Reprint 2013 ed.]
 9783110975949, 9783484108103

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Impulse und Resonanzen Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug

Herausgegeben von Gisela Vollmann-Profe, Cora Dietl, Annette Gerok-Reiter, Christoph Huber und Paul Sappler

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10810-3 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Vorwort

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DIETMAR MIETH:

Insecuritas humana. Ungewißheit in Literatur, Ethik und

Religion

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FRANK BEZNER:

Figmenta animi oder der >Denkraum des FiktivenLiteraturUntugend< (dem >Schmollenliteraturfähig< im passiven wie im aktiven Sinne. Eine immanente Deutung in der Geschichte sehe ich an der Stelle, bevor Pankraz nach seiner Rückkehr nach Seldwyla seine Erzählung beginnt. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sinnen über die menschliche Art und das menschliche Leben und wie gerade unsere kleineren Eigenschaften, eine freundliche oder herbe Gemütsart, nicht nur unser Schicksal und Glück machen, sondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges Schuldverhältnis zu bringen vermögen, ohne daß wir wissen, wie es zugegangen, da wir uns ja unser Gemüt nicht selbst gegeben. (S. 14)

Gemüt, Schicksal, Schuld - damit ist aber nicht mit Shakespearischer Ganzheitlichkeit umzugehen, die sich Pankraz erliest und die er in die Wirklichkeit hineinträumt, als er Lydia zu heiraten gedenkt - sondern sie ereignen sich alternativlos in der >Mittelmäßigkeit< oder geduldig zu ertragenden Tatsächlichkeit, die der Erzähler vor Augen zu haben scheint und die sich nicht ändert, wenn Pankraz auf Abenteuer auszieht und etwa die Kolonialgesellschaft in Indien kennenlernt. Nun ist in der Geschichte viel >ScheinVerstecke< des den Erzähler Pankraz führenden Erzählers aufdeckend, daß »ein müßiges Ziergewächs von Jungfräulein« (S. 24) zu erwarten stand. Der Erzähler spielt mit unseren Erwartungen, stellt uns Fallen, um dann plötzlich zuzuspitzen, indem z.B. die Tochter Lydia den »Speck« in der >Mausefalle< des Gouverneurs, ihres Vaters, darstellt (S. 45).

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Dietmar Mieth

Versucht man von außen einen >Schlüssel< für die Erzählung zu finden, stößt man auf die »Frage« der Seidwyler bei der Rückkehr des Pankraz, »die alle Gemüter bewegte, und sie fanden durchaus keinen Schlüssel, das Rätsel zu lösen, weil ihre Menschen- oder Seelenkunde zu klein war, um zu wissen, daß gerade die herbe und bittere Gemütsart ... ihm über das gefährliche Seidwyler Glanzalter hinweggeholfen hatte« (S. 14f.) In der Tat wird der Kontemplative, der sich die Weltgeographie anliest, weit über das Seidwyler Wesen hinausgetragen, hat aber gerade seine Schwierigkeiten darin, daß er in Gefühlssachen mehr in sich und nur unbeholfen außer sich geht, während er zwar als pubertärer Schläger, nicht aber später als tapferer Held oder als gerechter Verwalter unbeholfen ist. Entscheidend scheint mir, was über >Menschen- oder Seelenkunde< als Schlüssel gesagt wird. Dies führt in Richtung auf psychologische Interpretationen, freilich mit dem Vorbehalt, daß wir unser Gemüt scheinbar nicht erworben haben, sondern daß es uns >gegeben< wurde. Ansonsten würde ich gern hier Erich Fromms Lehre vom social character heranziehen, der aus Assimilation mit Welt und Umwelt entsteht und einige Muster bereithält, die mutatis mutandis für die Figuren nicht unpassend wären.7 Damit komme ich zur ethischen Fragestellung nach den moralischen Mustern in der Geschichte, ihrer Infragestellung, Verwerfung, Pointierung, Prämierung. Die seldwylischen Muster werden pointiert und verworfen. Die Muster des europäischen Salons (europäische Herren in Indien plus entsprechende Damenwelt, Pariser Theater) werden hinterfragt. Allein das Shakespearesche Muster erscheint glorreich, aber verführerisch, >unrealistischdie Sorge um das eigene SelbstRuf zur Sorge um das eigene Selbst< erfaßt wird. In diesem Falle ginge es um die Tiefe der Entscheidung angesichts einer ethischen Herausforderung, die nicht abgewiesen oder verschoben werden kann, zugleich aber das eigene Leben in seinem Kern berührt. Das ist der Augenblick, wo Gläubige sich Gottes erinnern und Nichtgläubige sich zumindest fragen, was ihr Leben im Ganzen bedeutet. Entscheidungen, auch ethische, d. h. auf das gute Leben bezogene, oder moralische, d. h. auf normative Urteile bezogene Entscheidungen, sollen von mir nicht in den 8

An dieser Stelle könnte man einer anderen Spur folgen, die R. RORTY einschlägt. RORTY meint, daß der Roman die Moralphilosophie »ersetzen« könne, weil er im Gegensatz zum Kantschen Rigorismus eine »Horizonterweiterung« ermögliche (R. RORTY, Der Roman als Mittel zur Lösung aus der Selbstbezogenheit, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von J. KÜPPER und C. MENKE, Frankfurt/M. 2003, S. 4 9 - 6 6 , hier: 62).

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Dietmar Mieth

Raum irrationaler Dezisionismen verwiesen werden. Vielmehr gehe ich davon aus, daß Entscheidungen durch rationale Abwägung, durch kluge Einschätzungen und durch Erfahrenheit getroffen werden sollen.9 Aber jeder weiß, daß es Entscheidungen im Leben gibt, die anders getroffen werden und sich dennoch bewähren: -

Entscheidungen Entscheidungen Entscheidungen Entscheidungen

durch die Entdeckung der eigenen Vorentschiedenheit;10 aufgrund des Vertrauens in die eigene Kompetenz; aufgrund von Vertrauen in andere Kompetenzen; aufgrund von überwältigenden einzelnen Erfahrungen.

Sofern wir die Ungewißheit im Ethischen auf die existentielle Dimension und diese wiederum auf eine Ebene beziehen, auf der sich religiöse Fragen stellen - was wir nicht müssen, wofür es aber gute Gründe gibt - , spielen letzte Orientierungen sowohl für Urteile als auch für Entscheidungen eine Rolle. Dabei wird uns zu beschäftigen haben, inwiefern etwas Urteile zu beeinflussen vermag, für das der Mensch keinen zureichenden Grund angeben kann. 3. Ungewißheit, Moral und Religion Das Nachdenken über das gute und richtige Handeln, über die guten und richtigen Lebenseinstellungen und über die guten und richtigen Institutionen der Gesellschaft führt Ethik und Religion in unserem Traditionskreis oft schneller und enger zusammen, als es beiden guttut. So sind, wenn es um die Sicherung der Moral geht, sogleich kirchliche Autoritäten im Boot, und nicht nur sie. Auch Schriftsteller, die den Ehrennamen >Moralisten< tragen, wie ζ. B. Ödön von Horvath oder Botho Strauß, können sich zu der These versteigen oder mit ihr als Autoren experimentieren: Wenn wir Gottes nicht gewiß sind, wie können wir dann der Moral gewiß sein? Das ist die Frage, die Ödön von Horvath ζ. B. in seiner Erzählung 'Jugend ohne Gott' vor Augen führt. Oft ruft man nach Religion im Sinne eines tieferen Lebensankers, nach einem >Objekt der Verehrung< in der Sprache Erich Fromms, in der Hoffnung, damit Ungewißheit im Bereich der Ethik aufheben oder minimieren zu können. Religion bedeutet, wie schon der Name sagt, Bindung. Gemeint ist eine Bindung nicht im Sinne rationaler Begründung, sondern im Sinne existentiellen Vertrauens. Klassische Theologen wie Augustinus ordnen diese Bindung dem Gemüt und nicht dem Verstand zu. Gibt es also im religiösen Gemüt eine Gewißheit, die es in einer vernünftigen Begründung der Moral nicht geben kann? Oder kann die religiöse Gemeinschaft, die Kirche, mit ihren Orientierungsmöglichkeiten bzw. mit ihrer Autorität diese Gewißheit verschaffen? In Frage stehen also innere Gewissensgewißheit und äußere Orientierungsgewißheit. Bekanntlich tendiert der Protestantismus eher zur ersteren, der 9

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Vgl. D. MIETH, Ethik in Entscheidungsprozesen von Gremien (erscheint in dem Sammelband des Ulmer Humboldt-Studienzentrums >EntscheidenVerständnis< für das Ergebnis der rationalen Leistung des Intellectus übernehme ich von JACOBI, Die Semantik [Anm. 3], passim.

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Frank Bezner

modus. Zwar vermag bald der eine, bald der andere Aspekt in bestimmten philosophischen Zusammenhängen größere Aufmerksamkeit zu beanspruchen, z.B. die significatio rerum bei der Diskussion der aristotelischen Kategorien, die significatio intellectuum im Rahmen von De interpretations.1 Doch als Aspekte einer einzigen Relation zwischen Worten und Dingen,8 sind sie keine an sich distinkten Äquivokationen, sondern in einem einzigen Bedeutungsakt untrennbar miteinander verbunden: Worte bedeuten Dinge, insofern sie sie als in ihren Eigenschaften oder Wesenszügen konzipiert vermitteln. Anders als etwa in Augustinus' semiotisch orientierter Sprachtheorie verbirgt sich hinter ihnen damit weniger zeichenhafte Referenz, als vielmehr eine gedankliche Leistung, die die Implikationen der Wirklichkeit, ihre Wesenzüge, erfasst hat, nicht aber sie abbildet oder vertritt. Aufschluss über die in ihm verborgene Wirklichkeit gibt jedes Wort dabei im Sinne einer (freilich nicht hermeneutisch verstandenen) interpretations Bedeutungen zu >öffnenverborgenes< Wesen zu erfassen: interpretari autem non est rem assignare, sed intellectum aperire.9 Bedeutung der Worte und >Interpretation< der Wirklichkeit werden damit de facto identisch, denn Worte repräsentieren gedankliche Leistungen, die die Wirklichkeit erfasst haben. Die Konsequenzen dessen liegen auf der Hand: wo der intellectus derart als Träger von >Verständnissen< definiert (und zum zentralen Bedeutungsaspekt aufgewertet) ist, tendiert, ja drängt die semantische Reflexion unweigerlich in eine (im weiteren Sinne) erkenntnistheoretische Richtung: tatsächlich entwickelt Abailard auch - nur teils im Anschluss an Boethius' Peri-Hermeneias-Kommentare - ein erkenntnistheoretischpsychologisches Modell, das versucht, eben die Tätigkeit des die Wirklichkeit erfassenden intellectus genauer in den Blick zu nehmen.10 2. Figmenta Animi. Abailards Grundlegung der menschlichen Erkenntnis De vi rationalis animae pauca consideremus - mit diesen Worten unterbricht Abailard seine fortlaufende Kommentierung des aristotelischen Textes, um im Anschluss an seine semantische Grundlegung »die spezifische Natur des Geistes möglichst differenziert zu bestimmen«.11 Nachdem die Seelenkräfte dabei zunächst grundsätzlich in 7

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Sie abstrahiert von dieser Vermittlung, um allein die Eigenschaften der Dinge (als Dinge) zu analysieren. Abailard akzeptiert damit genau jenen Vorwurf, der den modernen Dialektikern gemacht worden war und begreift seine eigene Logik programmatisch gerade nicht als logica in voce, die das Verhältnis zwischen res und verba zerschnitt. Abailard versteht die r