Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein: Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin
 9783518298886

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Jean-Michel Palmiers Studie zeichnet den philosophischen, politi­ schen und ästhetischen Denkweg Walter Benjamins nach. Sie beseitigt Mißverständnisse und Klischees, etwa das des »marxistischen Rabbiners«, der die Alternative zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma verwandelt, und schließt die Lücken einer oft simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der Lumpensammler, der Engel und das »bucklicht Männlein« werden so zu Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiographisch, sondern systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt. Jean-Michel Palmier (1944-1998) lehrte Ästhetik und Kunstwissen­ schaft an der Universität Paris I (Pantheon-Sorbonne) und forschte insbesondere zu den künstlerischen und ideologischen Strömungen der Weimarer Republik.

Jean-Michel Palmier Walter Benjamin Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier Aus dem Französischen von Horst Brühmann

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe:

Walter Benjamin Le chiffonier, L ’Ange et le Petit Bosstt Esthetique et politique chez Walter Benjamin © 2006 £ditions Klincksicck Übersetzt im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur Die Arbeit des Übersetzers an vorliegendem Werk wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothck Die Deutsche Nationalbibliothck verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2288 Erste Auflage 2019 Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main © 2006 Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (für die deutschsprachige Ausgabe) © 2007 Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (für die Übersetzung) Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Gcrmany ISBN 978-3-518-29888-6

Inhalt Vorwort von F lorent Perrier ................................. E inleitung ................................................................

I 17

Erster Teil Zwischen zwei Apokalypsen: Die Tragödie eines deutsch-jüdischen Intellektuellen

E rstes Kapitel D ie Berliner K indheiten Walter Benjamins: D ichtung und Wahrheit (1892-1912) ........................... 1. Eine jüdische Kindheit um 1900 ..................................... Ein unmögliches Porträt f 8 1 / Eine assimilierte jüdi­ sche Familie 100 / Schulzeit, erste Freundschaften und literarische Anfänge 106 2. Berlin 1900: Zenit der K aiserzeit..................................... Berlin, die Hauptstadt des Wilhelminischen Zeit­ alters 1 1 5 / Ambivalentes Verhältnis Benjamins zu Berlin 121 / Berliner Kindheit und Berliner Chronik: reale Wahrnehmung und surrealistische Vision der Stadt 125 3. Fiktion und Realität in den autobiographischen Schriften Walter Benjam ins.............................................. Ein Herz, das sich nie entblößt: Die Ablehnung des Psychologischen und die materialistische Rekonstruk­ tion der Erinnerung 143 / Ambivalenz der Kindheits­ bilder bei Benjamin 149 / Benjamin, Proust und Hessel: von der Berliner Kindheit zu den Pariser Passagen 155

81 81

115

143

6

Inhalt

Z weites Kapitel U niversitätsjahre und J ugendbewegung: Walter Benjamins erster messianischer T raum ( 1 912-19 14) . .

169

Begegnung mit der Jugendbewegung 170 / Die Jugend­ bewegung als Ausdruck der gesellschaftlichen Wider­ sprüche der Wilhelminischen Zeit: der soziologische H in­ tergrund der frühen Schriften Benjamins 176 / Wandervogel, Freideutsche Jugend und jüdische Jugend­ bewegung 182 / Utopie, Pädagogik und Messianismus in den frühen Schriften Benjamins 187

D rittes Kapitel J udentum, Z ionismus und Philosophie: J ahre der F reundschaft mit G ershom Scholem ........................... 1. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der zwanziger Jahre: vertiefte Beschäftigung mit dem Judentum, Ausarbeitung der Grundlagen einer Metaphysik der S p ra c h e .................................................................................. Gershom Scholem (1897-1982): das Leben eines Kabbalaforschers 193 / D ie Entwicklung ihrer Freund­ schaft und die Phasen ihrer Theoriekonflikte 200 / Benjamin und der Erste Weltkrieg 218 / München und Bern (19 16 -19 19 ): Studienjahre und erste philosophi­ sche und literarische Essays 222 2. Anarchismus, Zionismus und Sozialismus .................... Die Stellung Benjamins zu Judentum und Zionis­ mus 23 6 / Diskussionen um Martin Buber 241 / Anarchismus und Sozialismus: das zwiespältige Verhält­ nis Benjamins zu Politik und Geschichte 247 / Begeg­ nung mit Emst Bloch: Diskussionen über den Geist der Utopie 254 / Das »Theologisch-politische Fragment« (1920-1921) 271 3. Judentum und Philosophie: die Sakralisierung des pro­ fanen Textes ........................................................................ Benjamin und die Tradition der jüdischen Kultur 281 /

193

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236

281

Inhalt

7

Einfluß des Judentums a u f die Konzeption der Sprache und der Literaturkritik 28$ / Über einige religiöse Kategorien seiner Geschichtsphilosophie 291 / Benja­ min, Hermann Cohen und Franz Rosenzweig 295

V iertes Kapitel D ie J ahre der Weimarer Republik

................................

1. Habilitationsprojekt, universitäre und literarische Hoffnungen ....................................................................... Rückkehr nach Berlin (1920): das Chaos vor Augen 3 1 7 / Von der »Kritik der Gewalt« zur Ent­ stehung des Wahlverwandtschaften-fssrtjs 320 / Das Scheitern des Angelus Novus und die Hoffnung a u f die Habilitation in Frankfurt 326 / Entstehung der Trauersp\c\-Studie und Begegnung mit Asja Lacis 333 2. Das Scheitern der Habilitation und seine Folgen . . . . Der Zusammenbruch aller Hoffnungen a u f eine Universitätslaufbahn 344 / Zwischen Reisen und Bü­ chern 348 / Das Moskauer Tagebuch (Dezember 1926 bis Februar 1927) 352 / Aufenthalt in Paris (März 1927): Entdeckung des Surrealismus 35 7 / Erscheinen der Einbahnstraße und endgültiges Scheitern des Plans, nach Jerusalem zu gehen 361 / Die letzten Jahre der Weimarer Republik 371 3. Die politische Entwicklung Benjamins (1919-1933): ein Rückblick .................................................................... Benjamins Verhältnis zur Weimarer Republik: zwischen Resignation und Revolte 383 / Erste Versuche, eine Philosophie des Politischen auszuarbei­ ten 397 / Der Essay über die Gewalt: Benjamin und Sorel 400 / Geschichtsphilosophie und Barockdrama: die Zweideutigkeit der Theorie der Legitimität 406 / Die »Wende von 1924«: Einflüsse von Bloch, Lukäcs, Asja Lacis und Brecht 417 / Benjamins Einstellungen zum Kommunismus 431

317 317

344

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8

Inhalt

F ünftes Kapitel V om F laneur zum F lüchtling: die J ahre

E xils . .

445

1. Der Zwang zum Exil .......................................................... D er Verlust der letzten Existenzmöglichkeiten und die Entscheidung zur Emigration 446 / Aufenthalte in Paris, a u f Ibiza, in Italien und Finnland 452 2. Benjamin und das Institut für Sozialforschun g............. Etappen der Mitarbeit Benjamins an der Zeitschrift für Sozialforschung 480 / Benjamin und Adorno: eine fruchtbare Freundschaft trotz theoretischer Konflik­ te 493 / Aufrichtigkeit oder erzwungene Orthodoxie: Benjamins materielle Abhängigkeit vom Institut 532 3. Benjamin und die antifaschistische Emigration: eine relative Is o la tio n .......................................................... In Paris leben: ein unmöglicher Traum 553 / Aktivitä­ ten der deutschen Emigranten in Paris: von der Frei­ heitsbibliothek zur Volksfront 56 6 / Benjamins Hal­ tung zu den politischen Ereignissen und seine Isolation innerhalb der Emigration 571 / Literatur, Politik und Ästhetik im Exil 580 4. Benjamins letzte Lebensjahre .......................................... Die Lage der Flüchtlinge in Frankreich w ird schlechter: die »feindlichen Ausländer« 599 / D er Abschied von Paris und das geplante Exil in Amerika 606 / Die Über­ querung der Pyrenäen: Selbstmord und Epilog 609

445

des

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553

599

Zweiter Teil Sprache, Philosophie und Magie

E rstes Kapitel D ie Sprache der D ichter 1.

und der

Propheten

..........

Die Theologie als Fundament des Ursprungs der S p ra c h e .................................................................................. Über einige Etappen der Ausarbeitung der Sprachphilo­ sophie bei Benjamin: Heterogenität der Quellen und

617 617

Inhalt

Permanenz einer Fragestellung 6 17 / Das Postulat des göttlichen Ursprungs aller Sprache 626 / Die Sprache als Medium der Wahrheit 631 / D er Gegensatz von Wahrheit und Mythos 639 / Benjamin, Hamann und Heidegger 651 2. Theorien der Mimesis, der Übersetzung und des Namens ............................................................................... Geburt der Mimesis: die adamitische Namengebung und der Sturz in die Arbitrarität des Zeichens 659 / Das mimetische Vermögen 662 / Die Übersetzung als Suche nach der verlorenen Einheit der Sprachen 667 3. Funktionen des Zeichens und der Allegorie ................. Zeichen und Prophezeiung in der Berliner Kind­ heit 674 / Theorie der Allegorie und der Sprache des Barock 680 / Allegorie und Melancholie bei Baude­ laire 684

Z weites Kapitel Sprache und Wahrheit: die N otwendigkeit des R ückgriffs auf eine E rkenntnistheorie ...................... 1. Auseinandersetzungen mit dem Kantianismus ( 19 12 - 19 2 4 ) .......................................................................... Der Kantianismus als unüberschreitbarer Horizont aller Philosophie (1915-1920) 695 / Entwicklung des Erfahrungsbegriffs bei Walter Benjamin 699 / Transzendentales Subjekt, empirisches Ich und histori­ sches Subjekt: das Bindeglied zwischen Erfahrung und Sprache 714 2. Ideentheorie und Wahrheitslehre: die »Erkenntnis­ kritische Vorrede« zum Trauerspiel-Buch .................... Der philosophische Traktat als »Sprachform« 721 / Erkenntnis, Wahrheit und Schönheit 722 / Idee, Phänomen und Begriff 726 / Das Trauerspiel als Idee und als Form 730 / Die monadologische Einsam­ keit 731

9

659

674

690 690

721

IO

Inhalt

3. Materialistische Theorie des Bildes: die gnoseologischen Grundlagen der Passagen ................................................ Dialektische Methode und Konstruktion des geschicht­ lichen Objekts 736 / Die Verdinglichung als zentrale Kategorie der Passagen 746 / Die Phantasmagorie 75 2 / Das dialektische Bild, die Dialektik im Stillstand und die Erkennbarkeit des Jetzt 760 / Traum, Wachwelt und dialektisches Denken 777

D rittes Kapitel D ie N euerschaffung der L iteraturkritik als G attung ................................................................................ 1. Grundlagen der Theorie der Litcraturkritik bei Benjamin ............................................................................ Kritik und Philosophie: der B egriff der Literaturkritik als Gattung 788 / Romantik, Judentum und Kantianismus: über einige Voraussetzungen des Kritikbegriffs 791 / Die Ablehnung der universitären Kritik und der traditionellen Kunstgeschichte 795 2. Der Begriff der ästhetischen Kritik in der deutschen Romantik ............................................................................ D ie Wiederaufnahme der kantischen Problematik inner­ halb der romantischen Kritik 807 / D ie Begriffe Refle­ xion und Kritik 8 1 0 / Die Theorie der ästhetischen Erkenntnis: Kritik als Medium 8 1 5 / D ie romantische Autonomie des Kunstwerks und ihre Grenzen 816 3. Über einige Grundbegriffe der Benjaminschcn Kritik D ie Idee als Organisationsprinzip 8 1 9 / Sachgehalt und Wahrheitsgehalt: der Essay über die Wahlverwandt­ schaften 821 / D ie Zeitlichkeit des Werkes 828 / Die Kategorie der Rettung als Vollendung der Literatur­ kritik 830

733

784 784

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Inhalt

V iertes Kapitel T rauerspiel, A llegorie

11

und T rauer .............................

846

1. Entstehung und Verfall des deutschen Barockdramas . . Über einige ausländische Ursprünge des Trauer­ spiels 849 / Andreas Gryphius und die Geburt des »deutschen Trauerspiels« 854 / Die Nachfolge von Andreas Gryphius: Entstehung und Niedergang der schlesischen Schule 862 / Ästhetische Theorien des Barockdramas 863 / Geschichte, Allegorie und Symbol: das Barockdrama und der Dreißigjährige Krieg 867 2. Das Wesen des Barockdram as......................................... Das Barockdrama als verachtete Gattung 879 / Der strenge Gegensatz zwischen Trauerspiel und Tragö­ die 881 / Die Gestalt des Souveräns als Inkarnation der Geschichte 883 / Mittelalterliches Mysterium und barockes Theater 884 3. Trauerspiel und Tragödie: Auseinandersetzung mit Nietzsche, Rang, Rosenzweig und L u k a c s ................... Benjamins frühe Essays über Trauerspiel und Tragö­ die 888 / Kritik an Nietzsches Geburt der Tragö­ die 891 / Benjamin und Rang: das Motiv des Agon 895 / Der »metaethische« Held Franz Rosen­ zweigs 899 / Der Held in Tragödie und Trauerspiel: vom Schweigen zur Trauer 900 / Die Welt der Gespenster 904 4. Trauer und Allegorie ....................................................... Die Stigmata der Trauer und der Melancholie 905 / Eine neue Welt von Symbolen 910 / Die Funktion der Allegorie 9 1 1 / Die Trauer und der Tod 916

849

878

888

905

Inhalt

12

Dritter Teil Ästhetik und Politik: das Projekt einer materialistischen Ästhetik

E rstes Kapitel L iteraturkritik

und

K lassenbewusstsein ....................

1. Die Konzeption der Rolle des Intellektuellen im W an d el............................................................................. D ie 'Wendung von 1924-1925: von der esoterischen Kritik zur »Publizistik« 923 / Literatur und Klassen­ kampf: die Kritik als Strategie 932 / D er Intellektuelle zwischen den Fronten 940 2. Haltung zur Weimarer K u ltu r .......................................... Eine kritische, distanzierte und zweideutige Posi­ tion 957 / Kritik der literarischen Boheme und der »bürgerlich-radikalen« Intelligenzija 963 / Benjamin und die kommunistischen Intellektuellen: eine wechsel­ seitige Ignoranz 971 / Krisis und Kritik: Benjamin und Brecht 975 3. Das Projekt einer materialistischen Ästhetik ............... Benjamin und die marxistische Kritik 994 / Verlust der Autonomie des Kunstwerks, Technik und kollektive Rezeption 998 / D ie Transformation der Produktions­ apparate 1002 / Das Werden der ästhetischen Kate­ gorien: vom Trauerspiel zu den Passagen 1008

923 923

957

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Z weites Kapitel T heorien des modernen K unstwerks, der R epro­ duktion und der A ura .............................................. 1021 1. Technische Reproduktion und Verlust der A u r a .......... 1032 Das Verschwinden der sakralen Funktion der Kunst in der Reproduktion 1032 / Die Aura und ihr Verfall: eine ästhetische Kategorie ? 1034 / Tradition, Einmalig­ keit, Echtheit 1053 / Geschichtliche Dimension der

Inhalt

13

Wahmehmungsweisen: Kultwert und Ausstellungs­ wert 1060 2. Photographie, Kino und Reproduktion ......................... »Kleine Geschichte der Photographie« (1931): eine materialistische Analyse der Anfänge der Photo­ graphie 1064 / Malerei und Photographie 10 72/ Das Porträt, Zuflucht der Aura 1083 3. Der Stummfilm und das neue Bewußtsein der Massen Funktion, Technik und massenhafte Rezeption des Films 1090 / Die kinematographische Apperzeption: Chock und Zerstreuung 1098 / Der Gegensatz von Stummfilm und Tonfilm 1 1 0 5 / Benjamin, Baläzs, Kracauer: Übereinstimmungen und Abweichun­ gen 1 1 1 0 4. Radiotheorien ..................................................................... Frankfurt und Berlin: zwei pädagogische Experi­ mente f 1 1 2 1 / Benjamins Texte fü r den Rundfunk: epische Form und didaktische Absicht 1 1 2 5 / Der Rund­ funk und die technischen Reproduktionsmittel 1134 5. Ästhctisierung der Politik und Politisierung der Kunst Ästhetisierung der Politik und faschistische Ideolo­ gie 1 1 4 2 / Der Nationalsozialismus als letzte Gestalt des Mythos vom Gesamtkunstwerk: Kitsch und Barba­ rei 1 1 4 8 / Die Politisierung der Kunst: eine strategische Illusion 1155

1064

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1120

1141

Vierter Teil Materialismus und Messianismus

E rstes Kapitel Materialismus und Messianismus

............................. 1163

1. Über einige Deutungen von Benjamins Verhältnis zum Materialismus ......................................................................... 1163 Selbsttäuschung und subjektive Einheit: die Bilanz der Diskussionen mit Scholem 1 1 64/ Entwicklung der Posi-

14

Inhalt

tionen Adornos gegenüber Benjamins Verhältnis zum Materialismus: ein »produktives Mißverständ­ nis« ? 1 1 7 0 / Theoriebildungen der sechziger Jahre: die Kritik der Zeitschrift alternative an den Positionen Adornos 1 1 8 2 / Anerkennung und Aufwertung der romantischen und theologischen Dimension im Materia­ lismus 11 91 Anhang Anmerkung des Herausgebers............................................... Gliederungsentwürfc zum vierten und fünften T e i l .......... Themenverzeichnis zum vierten und fünften Teil ............ Texte aus dem thematischen Umkreis des vierten und fünften Teils ............................................................................. Geschichte der Passagen .................................................... Einige Bemerkungen zu Begriff und Funktion des dialektischen Bildes bei Walter Benjamin .......................

1205 1206 1209 121 7 1219 1275

Literatur .................................................................................... 1299 Danksagung ............................................................................. 1349 N am enregister.......................................................................... 1350

Vorw ort

von

F l o r e n t P e r r ie r

Entgegen aller H offnun g der H offnun g entgegen Walter Benjamin mit dem W eidenmännlein1 »Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte.« Walter Benjamin2 eine Wanderung »Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung«3 \par la marche ä pied\ - ein solches Satzfragment von Walter Benja­ min, eingestreut zwischen Hinweise auf Georges Sorels Refle­ xionen Über die Gew alt und auf das »Vaganten- Bettel- Mönch­ tum«, wäre befremdlich, zeigte es nicht einer Welt, unter deren wiederholten Schlägen er am Ende zugrunde ging, exakt seine wesentlichste und ureigenste Position an: die absolute Weige­ rung, sich irgendeiner Position zuordnen zu lassen. Als Jean-Michel Palmier in den Mauern des Hospitals von Garches - zum letzten Mal - als PrüfungsVorsitzender eine Disputation über eine Habilitationsschrift leitete4, die Oskar Schlemmer als Choreograph gewidmet war, waren es bestimm­ te Überlegungen sowohl Schlemmers, des Autors des Triadi1 [Bernd Schwibs hat das vollständige Manuskript der Übersetzung gründ­ lich gelesen und mich vor vielen kleinen und einigen größeren Ungeschick­ lichkeiten bewahrt. Dafür danke ich ihm sehr. - H .B.] [Ergänzungen und Anmerkungen in spitzen Klammern stammen vom Herausgeber, solche in eckigen Klammern vom Übersetzer.] 2 Walter Benjamin, »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todesta­ ges«, in: ders., Gesammelte Schriften (im folgenden: GS) II.2, S.423. 3 »Kapitalismus als Religion«, GS VI, S. 102 (fr 74). 4 Am 12. Oktober 1996.

II

Vorwort von Florent Perrier

sehen Balletts, als auch Paul Valerys zum »Gang« und zum »Gehen«, die seine Aufmerksamkeit längere Zeit fesselten. Für uns hier sind sie wertvoll, weil sie Aufschluß über jene »Wan­ derung« geben können. Bei der Beobachtung der wahrhaft »göttlichen Gangart« einer Tänzerin, ihres »einfachen Gangs im Kreis«, bemerkt Eryximachos in »Die Seele und der Tanz«, daß »[u]nsere Schritte uns so leicht und so vertraut [sind], daß sie es niemals zur Ehre bringen, für sich selbst betrachtet zu werden als eigentümliche Handlungen (es sei denn, daß wir be­ schädigt oder verkrüppelt von der Entbehrung aus sie bewun­ dern)«, ja, daß w ir sie »verlieren [...], ohne daran zu denken«.5 Diese radikale Infragestellung körperlicher wie geistiger G e­ wohnheiten machte sich Walter Benjamin auf seine Weise zu eigen, als er »einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums« einführte. Dieser Begriff nämlich bringt die Barbaren - diese »Unerbittlichen [...], die erst einmal reinen Tisch machten« dahin, »von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken«6: eine Gramma­ tik des Elementaren - nach dem Muster der von O skar Schlem­ mer entwickelten Konzeption der getanzten Geste - , die gera­ de dank ihrer Arm ut mit einer zur Last gewordenen Tradition bricht: »Man gehe vom körperlichen Zustand aus, vom Dasein, vom Stehen, vom Gehen und erst zu guter Letzt vom Springen und Tanzen. Denn einen Schritt zu tun ist ein gewaltiges Ereig­ nis, eine Hand zu heben, einen Finger zu bewegen ein nicht minderes. Man habe ebensoviel Scheu als Achtung vor jegli­ cher Aktion des Menschenkörpers, zumal auf der Bühne, die­ ser Sonderwelt des Lebens, des Scheins, dieser zweiten W irk­

5 Paul Valcry, Eupalinos oder Der Architekt. Eingclcitct durch »Die Seele und der Tanz«, in: der$., Werke, Bd. 2, Dialoge und Theater,, S. 94 und 96. 6 »Erfahrung und Armut«, GS II. 1, S .2 1 j.

Vorwort von Florent Perrier

111

lichkeit, in der alles vom Glanz des Magischen umwittert ist.«7 An dieser Elle gemessen, meint die von Walter Benjamin be­ schworene »Wanderung« kein unvermeidliches Voranschrei­ ten im Dienste des Kampfes gegen den Kapitalismus. Eher gewinnt sie den Sinn einer - gegenüber der bloßen Bewußtwerdung - unbeugsamen Kraft eines Schritt zur Seite oder eines Schritts zurück, der den Kapitalismus, gleichsam unversehens, aus dem Tritt bringen kann. Dieser Abstand, dieses Zurück­ bleiben um einen halben Schritt, ist mit Revolte und Sabotage verbunden, seitdem Walter Benjamin - Bewohner und Gefan­ gener des Berliner Westens, »dies[es] Quartierfs] Besitzender«, in dem er seine Kindheit verlebte - den Versuch unternahm, seiner Mutter und seiner Klasse zu entkommen und »im Bund mit diesen Straßen, in denen [er sich] scheinbar nicht zurecht­ fand, [sich] ihrer Herrschaft zu entziehn«89 , indem er, wenn er mit der Mutter durch die Stadt ging, »immer um einen halben Schritt zurück[blieb]«.‘> In dieser gewahrten Distanz, diesem bewußt beibehaltenen Rückstand, dieser immer entschiedener verweigerten Zuordnung - »in keinem Falle eine Front, und sei es mit der eignen Mutter, [zu] bilden«10 - liegt in Wirklichkeit »die große Chance des Besiegten, [...] den Kam pf in eine ande­ re Sphäre zu verlegen«11: dorthin, wo ein Spalt sich auftut und unbemerkt ein neuer Raum, eine Bresche sich öffnet, wo dem Blick sich ein Weg bietet, der gebahnt, ein Rand, der erforscht werden müßte: »Was für die anderen Abweichungen sind, das sind für mich die Daten, die meinen Kurs bestimmen.«12 Dann 7 Oskar Schlemmer, Idealist der Form. Briefe Tagebücher Schriften 19 121943, Tagebuch Mai 1929, S.210. 8 Berliner Kindheit um neunzehnhundert, »Bettler und Huren«, GS IV. 1, S. 287, 288. 9 Ebd., S.287. 10 Berliner Chronik, GS VI, S. 4 71. 11 »Theorien des deutschen Faschismus«, GS III, S. 243. 12 Das Passagen-Werk, G SV .i, S. 570 (N 1, 2).

IV

Vorwort von Florent Perrier

klärt sich die »aufschlußreiche etymologische Betrachtung«, die Benjamin in seinem Tagebuch festhält: »Die Franzosen sa­ gen allure, wir: Haltung. Beide Worte sind aus dem >Gehen< ge­ nommen. Um aber das gleiche - in wie begrenztem Sinn es das gleiche ist, sagt aber diese Bemerkung, zu bezeichnen, spricht der Franzose vom Gange selbst - allure - , der Deutsche von seiner Unterbrechung - H altung.«13 In diesem Abstand zw i­ schen zwei Sprachen, in dieser dem Gehen innewohnenden Spannung, in diesem dramatischen Suspense - dort, wo man innehalten muß, um voranzukommen - vollzieht sich nicht nur das Verstehen des dialektischen Bildes. Vielmehr liegt hier überhaupt die Möglichkeit des geeigneten Moments, jenes A u ­ genblicks, der in der Höhlung eines utopischen, von aller Schwere befreiten Raumes, dort, w o der Schritt seinem eigenen Rhythmus zu entkommen sich anschickt, über eine Unter­ brechung des Gewaltmarschs entscheidet. Den Kapitalismus durch Wanderung überwinden hieße also, ohne den Gang zu forcieren, den einzigartigen Rhythmus, die Positur, die H al­ tung des Körpers wie des Geistes zu finden, dank deren jede dieser beim Gehen entstehenden Unterbrechungen, jede dieser zwischen zwei Schritten entstehenden Spannungen, jede dieser Verzögerungen und dieser eigenartigen Intervalle in der Bewe­ gung es eben erlaubt, daß sich plötzlich eine Abzweigung öff­ net, die zum Ausgangspunkt unwahrscheinlicher Verschie­ bungen, unvorhergesehener Umschwünge und Lücken wird, die auf diese Weise in den reibungslosen Ablauf, wie er jedem Gleichschritt eignet, eingehen: sternförmige Risse, die sich ei­ nem entschiedenen, brutalen und sozusagen barbarischen Z u ­ griff anbieten, einem G riff, der im »kritischen Moment« »das Kontinuum der Geschichte« zersetzen, »den Lauf der G e­ schichte« sprengen und mit einem Schlag, gleichsam im Hand­ umdrehen, den Weg des Kommenden freimachen würde. 13 »Mai-Juni 19 31« , GS VI, S. 42 5.

Vorwort von Florent Perrier

V

Einen bestimmten Rhythmus, eine unverwechselbare K ör­ per- und Geisteshaltung besaß Walter Benjamin ganz gewiß, sie gehörten zum Kern seines Wesens. Nach Gershom Scholem hielt er sich beim Gehen »meistens leicht vornüber gebeugt. Ich glaube nicht, daß ich ihn je aufrecht mit gerecktem K opf habe gehen sehen. Sein Gang hatte etwas Unverwechselbares, Bedächtiges und Tastendes [...]. E r liebte nicht, schnell zu ge­ hen, und für mich [...] war es nicht leicht, bei gemeinsamen Wegen mich seiner Gangart anzupassen. E r blieb sehr oft ste­ hen und sprach weiter. Von hinten war er an seinem Gang leicht zu erkennen, und diese Eigenart seines Ganges verstärk­ te sich im Laufe der Jahre.«14 Pierre Klossowski erwähnt, daß Georges Bataille einmal gesagt habe, Benjamin verberge »unter einem erkalteten, starren, autoritären Äußeren die Seele eines Engels [...], denn er war wirklich engelhaft«, und bemerkt sei­ nerseits, wie sehr »sein Gang der eines Lahmen, [wie] ruckhaft seine Gestik« gewesen sei.15 Ein solcher Gang, durchzogen von Unterbrechungen und jede Kontinuität gleichsam stör­ risch verweigernd, wird auch von Jean Selz bestätigt, an dessen Seite Walter Benjamin die Landschaften Ibizas entdeckte: »Das Gehen fiel Benjamin ziemlich schwer, und er kam nicht schnell vorwärts; dafür war er aber sehr ausdauernd. Unsere langen Spaziergänge durch die [...] hügelige Gegend dehnten sich noch mehr aus, weil unsere Gespräche Benjamin ständig zum Stillstehen veranlaßten. Wenn ihn irgend etwas interessierte, sagte er immer: >Tiens, tiens!< Daran erkannte ich, daß er jetzt nachdenken und also auch Stillstehen würde.«16 Dieses Z u ­ rückbleiben, dieser Abstand, diese Verzögerung durch plötzli­ 14 Gershom Scholcm, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaftt S.16 . 1 j Jean-Maurice Monnoycr, Le Peintre et son demon. Entretiens avec Pierre Klossowski, S. 186 f. 16 Jean Selz, »Erinnerungen«, in: Theodor W. Adorno u.a., Über Walter Benjamin, S. 39.

VI

Vorwort von Florent Perrier

che Einfälle werden Walter Benjamin nicht ohne Grund an die Gestalt des Lumpensammlers erinnern, die ihn bei Baudelaire faszinierte, ihres so deutlich ruckhaften Gangs wegen; eine Gestalt, der bei jedem Schritt neue Abfälle zum Träger neuer Hoffnungen werden: »fleh fühlte] im Gehen meine Gedanken so kaleidoskopartig durcheinanderfallen [...] - mit jedem Schritt eine neue Konstellation; alte Elemente verschwinden, unbekannte kommen herangestolpert; viele Figuren, wenn aber eine haftet, heißt sie »ein Satz« [.. .].«17 Diese Beschreibung erinnert von ferne an die ungeschickte Geste, in der in den A u ­ gen Walter Benjamins die ganze Kindheit, seine Kindheit, liegt: »dem G riff [...], mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten. Die Hand kann diesen G riff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.«18 Das Auftauchen solcher Gesten beobachtet Walter Benjamin bei Franz Kafka: Es sind, um die Analyse Philippe Ivernels auf­ zugreifen, »»verlorene« Gesten [...], die stets auf ihre Erlösung warten, auf ihre Verwandlung in reflexives Bewußtsein durch eine Untersuchung oder vielmehr durch Vergegenwärtigung: der Buckel des bucklichten Männleins (eines kleinen Buckli­ gen, der in der Benjaminschen Bilderwelt nicht weniger be­ deutsam ist als der Engel der Geschichte, der bekanntlich bei seiner Auffahrt zum Himmel das Gesicht der Erde, diesem Ruinenfeld, zugewandt hat), dieser Buckel also wird zum Be­ hälter der verlorenen Gesten, derer nämlich, nach denen sich umzuwenden so viel Mühe kostet.«19 Doch das Kind von da­ 17 »Pariser Tagebuch«, 11 . Februar 1930, GS IV.i, S. j8 6 f. 18 Berliner Kindheit um neunzehnhundert, »Der Lesekasten«, GS IV. 1, S. 267. 19 Philippe Ivernel, »Du nom au geste«, in: Europe, Heft 804, April 1996, S. 122.

Vorwort von Florent Ferner

VII

mals braucht sich nicht umzuwenden, keine Mühe, kein diszi­ pliniertes Glück nötigen es, auf seine Schritte zurückzukom­ men, ihre Bahn zu ermessen, ihren Fortschritt zu beurteilen: Nichts zwingt es bereits, um mit den Angehörigen seiner Klas­ se nicht mehr gemeinsame Front zu machen, den mannigfalti­ gen Möglichkeiten den Rücken zu kehren; im gegenwärtigen H ier und Jetzt steht es noch an der Kreuzung der Wege, die nach allen Richtungen offen sind, die den Blick auf alle H ori­ zonte freigeben - »Das Kind geht nach hinten so selbstver­ ständlich wie nach vorn. Die Schritte nach vorn setzen sich erst auf Grund eines Ausleseprozesses durch. Daß das Kind das Pferd hinter sich herschleppt, ist also zum Teil ein Ausdruck seiner Indifferenz gegen vorn und hinten. Zum andern Teil freilich ist darin vielleicht eine Art Stellvertretun g im Rükken - etwas wie ein selbständiger lebendiger Rücken zu su­ chen. Lust, Pferdchen zu ziehen: Einen Zug anzuführen. A uf dem eignen Wege gefolgt zu werden. Einen Lärm nach sich zie­ hen. - Eins kann der Erwachsene: gehn - aber eins kann er nicht mehr - gehn lernen.«20 Behälter der verlorenen Gesten - der Buckel auf dem Rücken des bucklichten Männleins, Behälter der unbeachteten Dinge der Korb auf dem Rücken des Lumpensammlers, Behälter der getrübten Hoffnungen - die Flügel auf dem Rücken des Engels der Geschichte. Weil er diesen verlorenen, unbeachteten, ge­ trübten Gesten, Dingen, Hoffnungen Gerechtigkeit widerfah­ ren lassen wollte, weil er sie ebenso wie den Lumpensammler, den Engel und das bucklicht Männlein retten wollte, erlösen wollte, blieb Benjamin »immer um einen halben Schritt zu­ rück«, hielt stets Abstand zu der Welt-wie-sie-ist, wahrte jenen Spielraum, der nötig ist, um ihr in den Rücken zu fallen, vor al­ lem aber, um in aller Unabhängigkeit den verblaßten Details ihr volles Leben zurückzugeben, dieser verleugneten Kehrseite 20 »Kind und Pferd«, GS VI, S. 19 1 f. (fr 157).

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Vorwort von Florent Perrier

der Geschichte - die er wie kein anderer gleichsam im Hand­ umdrehen wie ein Jackenfutter hcrvorzukehren verstand, um uns ihre schillernden Farben aufzudecken um sie die Augen aufschlagen zu lassen und wie ein völlig »selbständiger leben­ diger Rücken« ihre in der hohlen Hand verborgene Zukunft freizusetzen. Ohne Rücksicht auf die Gefahr, unterlegen zu bleiben, verlegte Walter Benjamin unbedenklich den Kam pf in immer andere Sphären. Auch deshalb blieb er, worauf Theodor W. Adorno hinweist, trotz der »Siege im Kleinen« »dem Beste­ henden« stets »inkommensurabel und unannehmbar«.21 der geflügelte Stamm Von jenem Buch aus der Schülerbibliothek mit ausgeleiertem Rücken, an dessen Blättern, »wie Altweibersommer am Geäst der Bäume, bisweilen schwache Fäden eines Netzes [hingen], in das [s]ich einst beim Lesenlernen [das Kind] verstrickt hat­ te«22, bis hin zu jener Schmetterlingsjagd, bei der das Kind mit all seinen Fibern »jedefm] Schwingen oder Wiegen der Flü­ gel« der Beute angeschmiegt - sich des erschrockenen Schmet­ terlings bemächtigt, der »zitternd und dennoch voller Anmut sich in einer Falte des Netzes [hielt]«23, besiegelt für Walter Benjamin eine »Bilderrede« jene »uralte Vermählung« der Sprache mit der Natur, mit dem Baum.24 Die entlegensten, au­ tobiographischsten Teile seine Werkes warten mit jenen dis­ kreten Räumen auf, in denen manchmal nur die Bäume »zu le­ ben scheinen«, belebt vom Wind, der ebenso viele Versprechen mit sich trägt - »Der Frühling hißte hier die ersten Triebe vor einer grauen Rückfront; und wenn später im Jahr ein staubiges 21 Theodor W. Adorno, »Benjamin, der Bricfschrciber«, in: ders., Gesam­ melte Schriften (GS) 11, S. 589. 22 Berliner Kindheit um neunzehnhundert, »Schmöker«, GS IV. 1, S. 274. 23 »Schmetterlingsjagd«, ebd., S. 244 f. 24 »Kurze Schatten (II)«, GS IV. 1, S. 42 5 f.

Vorwort von Florent Perrier

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Laubdach tausendmal am Tage die Hauswand streifte, nahm das Schlürfen der Zweige mich in eine Lehre, der ich noch nicht gewachsen war.«25 Geschrieben auf Ibiza an seinem vier­ zigsten Geburtstag, ist »In der Sonne« gewiß die schönste Illu­ stration dieses geistigen Umherschweifens, wenn man zudem im Sinn behält, daß für Walter Benjamin »das Vermögen der Phantasie [...] die Gabe [ist], im unendlich Kleinen zu interpo­ lieren, jeder Intensität als Extensivem ihre neue gedrängte Fül­ le zu erfinden, kurz, jedes Bild zu nehmen, als sei es das des zu­ sammengelegten Fächers, das erst in der Entfaltung Atem holt und mit der neuen Breite die Züge des geliebten Menschen in seinem Innern aufführt«.26 In diesem Moment also, in dem »nur die Bäume zu leben scheinen«, in dieser »Stunde der Sammlung« kommt dem Erzähler der Tag in den Sinn, »da er mit einem Baum gefühlt hat [...]. Damals bedurfte es nur derer, die er liebte [...,] und seiner Trauer oder seiner Müdigkeit. Da lehnte er den Rücken gegen einen Stamm, und nun nahm der sein Fühlen in die Lehre. Er lernte mit ihm, wenn er zu schwanken anfing, Luft zu schöpfen und auszuatmen, wenn der Stamm zurück­ schwang.«27 Damals, als er noch in vollem Saft stand, war es noch möglich, mit dem Baum zu lernen, das Atmen des Bau­ mes zu erlernen, nach der Laune seiner schwankenden Bewe­ gungen und der des Windes, der sie erzeugt; doch wer könnte heute »von diesem rissigen [Stamm] lernen [...], der, weitge­ spalten, dreifach überm Boden auslädt und eine unerforschte Welt begründet, die in drei Himmelsrichtungen sich aufteilt. Kein Pfad erschließt sie.«28 Trotzdem war dieser Baum »einst etwas Lebendiges«, vielleicht hätte man es noch erkennen kön­ nen »an dem Schlagen der beiden großen Fittiche, rechts und 25 26 27 28

Berliner Kindheit um nettnzebnhundert, »Loggien«, GS IV. i, S. 294. Einbahnstraße, »Antiquitäten«, GS IV. 1, S. 117. »In der Sonne«, GS IV. 1, S.418. Ebd.

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Vorwort von Florent Pcrrier

links unter dem Wipfel«.29 Unschlüssig, den Dornenverhau am Ende eines schmalen Weges fürchtend, landet er an einem Weg­ kreuz, verliert »die Gewalt über seine Füße« wie über seine Phantasie, die sich »von ihm gelöst hat« und ihren changieren­ den Schleier ausbreitet, unter dem »überlebensgroße Frauen, mit dem Gesicht ihm zugewandt, reglos durch das reglose Land zu wallen [scheinen]«.30 Dieser rissige, weitgespaltcnc Stamm, der sich »dreifach überm Boden auslädt und eine unerforschte Welt begründet, die in drei Himmelsrichtungen sich aufteilt« - wäre das Daph­ ne, »die unter dem Nahen der verfolgenden Wirklichkeit sich in ein Bündel bloßgclegter, in der Luft der Jetztzeit erschauern­ der Nervenfasern verwandelt« ?31 Fände nicht auch er seinen Platz in Walter Benjamins »Kommunistcnzclle«, w o »als einzi­ ger Botschafter der Kabbala« der Angelus Novus von Klee ne­ ben einem alten dreiköpfigen Christus und einem »Trickbild« hängt, auf dem - »je nachdem wie man draufblickt« - »drei verschiedene Heiligendarstellungen« erscheinen?32 Ist nicht dieser rissige und weitgespaltene Stamm ebenso wie Walter Benjamin, der sich an ihn lehnt, »eine unerforschte Welt [...], die in drei Himmelsrichtungen sich teilt«, eine Welt, in der zu­ mindest die drei Frauen seines Lebens33 (Jula, Dora, Asja), die drei wichtigsten Bezugspunkte eines einzigartigen Denkens (historischer Materialismus, Theologie, Kindheit und Mythos) und schließlich - wie ein Emblem auf einen zarten Stoff ge­ stickt, »ein dreigeteiltes Wappen mit drei Sternen in jedem Feld«34 - die drei Allegorien seines ganzen Universums gegen­

29 »Versuchsprotokoll vom 7. März 19 31« , GS VI, S. 594. 30 »In der Sonne«, GS IV. 1, S. 420. 31 »Denkbilder«, GS IV. t, S.432. 32 Walter Benjamin, Brief an Scholem vom 28. Oktober 19 31, in: ders., G e­ sammelte Briefe (im folgenden: GB) IV, S.62. 33 »Mai-Juni 19 31« , GS VI, S .427. 34 »Das Taschentuch«, GS IV.2, S. 744, 745.

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einander hervortreten: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein ? Wege Der Krieg - es gab eine Zeit, in der diese Katastrophe in den Augen Theodor W. Adornos als »Ausweg [...] gegenüber der Katastrophe in Permanenz« erschien35: ein gewaltsamer A us­ weg, eine jener schwarzen, engen Straßen, »wie die Schnittspur eines Messers im Körper der Stadt«, doch voller Schutt, mit Trümmern übersät. Kein Pfad, kein Weg, keine Straße, die nicht von Ruinen gesäumt wäre: kein Ausweg, dessen Kehrsei­ te nicht auch an der Zerstörung teilhätte. Weder der Lumpensammler noch der Engel, noch das buck­ licht Männlein sind davon ausgenommen. Wo immer er seiner Wege zieht, durch die »langen gekrümmten [...] Gassen« der Montagne Sainte-Genevieve oder über den Boulevard de la R e­ volte, liest der Lumpensammler »die Abfälle eines Grossstadt­ tages« auf: »alles, was die grosse Stadt fortgeworfen hat, alles, was sie verloren hat, alles, was sie verachtet, alles, was sie zer­ schlagen hat«. Umherirrend im Sammelsurium der Abfälle, »sind ihm Rücken und Rippen vom Gewicht seiner Trage wund«.36 Wohl versucht er in Schranken zu halten, was in diese Welt einbricht und »ihre harmonischen Gebilde« in Trümmer legt, jenen »Ingrimm«37 einzudämmen, den Baudelaire in seine Allegorien legt. Bei seinen Gängen, manchmal fest im G riff der Trunkenheit, die ihn »in die Unendlichkeit« hebt »wie die Vögel, die Schmetterlinge, die Marienfäden, die Parfüms und

35 Brief Wiesengrund-Adornos an Benjamin vom 27. November 1937, in: Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S.298. 36 Charles Baudelaire, »Der Wein als Mittel, die Individualität zu steigern«, in: ders., Die künstlichen Paradiese, S. 69 f. 37 »Zcntralpark«, GS 1.2, S .671 (Nr. 20).

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Vorwort von Florent Ferner

alle beflügelten Dinge«38, betrachtet er im Schein seiner Later­ ne all diesen Ausw urf, diese Trümmer, deren Alchimist und deren Gefangener er ist. Ohne sie abwenden oder auch nur verlangsamen zu können, ist auch der Engel der Geschichte Gefangener jener Katastrophe, die »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«, ihm seine eigene Ohnmacht vor Augen führt, ihn an diesen Sturm kettet, dessen Nam e Fortschritt lautet und der von einer unge­ wissen Rettung ihn immer weiter forttreibt, »während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst«.39 Von diesem Engel, der, den Blick auf diese ungeheuren Trümmer geheftet, sich ihnen nicht nähern kann, und vom Lumpensammler, der sie durchwühlen, auswählen, auflesen muß in der Hoffnung, ihnen eines Tages wieder Sinn zu verleihen, unterscheidet sich das bucklicht Männlein durch seinen durchdringenden, zerstö­ rerischen Blick, der das Kind »verstört vor einem Scherben­ haufen« stehen läßt: »Wo es [das Männlein] erschien, da hatte ich das Nachsehen.«40 Ohnmächtig, forschend oder auch de­ struktiv folgt der Blick einer umgebenden Trümmerlandschaft, kein Weg scheint einen Ausweg zu bieten, kein Pfad scheint als Fluchtweg geeignet. Und doch notiert Benjamin am Rande: »Die Erlösung ist der limes des Fortschritts«41 - der Jimes, ein Pfad, ein Durchgang, ein Weg zwischen zwei Grenzen, der nach Louis Marin »zwi­ schen zwei Rändern hindurchführt, die sich niemals berühren können«, und der »ein Fortschreiten zwischen den Feldern erlaubt, ohne jemals den Zaun ihrer Hecken zu durchqueren«: »Grenze, Grenzwert, Intervall, eine D rift, ein Augenblick 38 Baudelaire, »Der Wein als Mittel, die Individualität zu steigern«, S.68. 39 »Über den Begriff der Geschichte«, GS 1.2, S.697f. (neunte These). 40 Berliner Kindheit um neunzehnhundert, »Das bucklichte Männlein«, GS IV. 1, S.303. 41 »Über den Begriff der Geschichte«, Variante (»Neue Thesen K«), GS I.3, S .12 35.

Vorwort von Florent Perrier

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obendrein. Dieser Intervall zwischen Grenzen [...], ein N ie­ mandsland, ein sich hinziehender Rand, die Franse eines Saums. [...] Ungewisser Zwischenraum, sich selbst vorauslau­ fender Rand, Anbruch von Zerstörung oder Rettung.«42 Am Rande des Fortschritts gäbe es also einen Weg, einen anderen Weg, doch wiederum führt kein Weg dorthin, »kein Pfad er­ schließt [ihn]«.43 Genau hier aber muß man Walter Benjamin zufolge sich einem Menschen anvertrauen können, dessen wesentliche Tätigkeit - »aus dem Weg [zu] räum[en]« - sich mit einem grundlegenden Charakterzug verbindet - »ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge« - , um dem Blick, einem subversiven Blick, für den es weder unüberwind­ liche Mauern noch Gebirge gibt, »überall einen Weg« anzu­ bieten: »Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trüm­ mer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hin­ durchzieht.«44 Am Rande, seiner »Neigung fürs Entlegene, vom offiziellen Geistesleben noch nicht Zermahlene«45 folgend, geht Walter Benjamin seinen Weg, am äußersten Rand des Fortschritts, wo der schmale Saum bereits ausfranst und in den Lücken, die sich dem Blick darbieten, hier und da die Möglichkeit seines Endes, seines Abbruchs durchscheint. Wachsam, lauernd, nach dem winzigsten Durchlaß für den destruktiven Gang der Erlösung forschend, ist er ganz ohne Zweifel, wie Maximilien Rubel sagt, »der einzige >Marxistgleichsam spielerisch« oder, wie man im Deutschen sagt, >mit der linken Hand« zu einer Objekten Wahrheit, zu einem >Gehalt< zu gelangen«. Sens unique, S. 18.) 30 Vgl. die Erinnerungen Ernst Blochs in: Adorno u. a., Über Walter Benja­ min, S. 16. Bloch erinnert an die Symbiose, die vor allem um 1926 zwischen ihnen bestand, sagt jedoch nichts über die negativen Momente ihrer Bezie­ hung. Dagegen erwähnt er in einem Gespräch, daß Benjamin - wie Adorno - »eine schwierige Natur« gewesen sei, und beschreibt seinen Cha­ rakter als »ein wenig skurril, verschroben«, jedoch auf eine »hochprodukti­ ve Weise« (Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Emst Bloch, »Die Welt bis zur Kenntlichkeit verändern«, S.48). Bloch bestätigt übrigens, daß Lukäcs Benjamin nicht ausstchen konnte. 31 Hilde Benjamin, Georg Benjamin. Eine Biographie. 32 Zudem gehört diese Biographie ins Genre der kommunistischen Erbau­ ungsliteratur. Für Hilde Benjamin war Walter nur ein bürgerlicher Intellek­ tueller auf der Suche nach seinen Weg zum Marxismus. Hilde Benjamin, wegen ihrer dogmatischen Härte »die rote Hilde« genannt, war Justizmini­ sterin der DDR. Von den Schriften Benjamins hatte sie offenbar nur sehr be­ grenzte Kenntnis.

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sammenlebte, der sich in der Sowjetunion niedergelassen hatte, spielte eine gewisse Rolle bei Benjamins Begegnung weniger mit dem Marxismus als vielmehr mit jenem »radikalen Kom ­ munismus«33, zu dem er sich ab 1924 hingezogen fühlte. Sie stammte aus Lettland; Benjamin besuchte sie in Riga, später in Moskau. Das Kapitel, das sie ihm in ihren Erinnerungen R evo­ lutionär im B eru f34 widmet, ist reich an Informationen über ihre Diskussionen und ihre Begegnungen in Berlin mit Brecht und Becher. Den theoretischen Beschäftigungen Benjamins stand sie, obschon er ihr die Einbahnstraße gewidmet hatte, sehr fern, und sie verbarg nicht ihr Erstaunen darüber, daß sich ein so intelligenter Mensch für seine eigenen Träume interessie­ ren oder Mitte der zwanziger Jahre über das Barockdrama ar­ beiten konnte, statt sich der kommunistischen Bewegung an­ zuschließen. Mehrere ihrer Bemerkungen bezeugen dennoch ein genaues Verständnis seines Werkes. Die seltsame Liaison, die sie vereinte, übergeht sie mit Schweigen.35 Die Texte, die Adorno Benjamin gewidmet hat, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Nachdem Scholem nach Jerusa­ lem gegangen war, wurde er sein bevorzugter Gesprächspart­ ner. Benjamin habe, so heißt es bei Adorno, seine Person als »Medium des Werkes« eingesetzt, und auch wenn er nie aske­ tisch gewesen sei, hätten seine ungeheuren geistigen Fähigkei­ ten mit der »Unmittelbarkeit des Lebens« in Konflikt gestan­ den, was ihm etwas »fast Körperloses« gegeben habe.36 »Trotz 33 Brief vom 7. Juli 1924 an Scholem, CB II, S.473. 34 Asja Lacis, Revolutionär im Beruf. Diese zuerst 1971 erschienene Sammlung wurde auf der Grundlage klandestin geführter Gespräche mit Asja Lacis während ihrer Aufenthalte in Ostbcrlin von Hildegard Brenner, der Leiterin der Berliner Zeitschrift alternative, herausgegeben. In den Zei­ ten des stalinistischen Terrors galt sie als verschollen (Gespräch mit Hilde­ gard Brenner in Paris, 1989). 35 [Vgl. Asja Lacis, Revolutionär im Beruf S. 54.] In Bernhard Reichs A u ­ tobiographie Im Wettlauf mit der Zeit, die 1970 in der DDR erschien, fällt kein Wort über Benjamin und seinen Moskauer Aufenthalt. 36 »Der seines Ichs mächtig war wie wenige, schien der eigenen Physis ent-

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extremer Individuation [war er] kaum Person sondern Schau­ platz der Bewegung des Gehalts, der durch ihn hindurch zur Sprache drängte.« N ur sehr vorsichtig deutet Adorno einen pathologischen Zug in Benjamins Charakter an. Es sei ihm ge­ lungen, die eigene Neurose produktiv zu machen, insofern er in ihr etwas objektiv Geschichtliches zum Ausdruck gebracht habe.37 Die »Charakteristik Walter Benjamins«, die in den Prismen erschien38, betont die Eigentümlichkeit seines philo­ sophischen Stils, die magische Dimension seiner Sprache und die Entlegenheit der Gegenstände, denen er seine Reflexion zuwandte. Dem »Selbst« habe Benjamin »nur als mystisches« Wert zuerkannt; »Innerlichkeit« sei ihm »nicht bloß die Heim­ stätte von Dumpfheit und trüber Selbstgenügsamkeit« gewe­ sen, »sondern auch das Phantasma, welches das mögliche Bild des Menschen verstellt«.39 Adorno räumt die Schwierigkeit fremdet. Das ist vielleicht eine der Wurzeln der Intention seiner Philoso­ phie, mit rationalen Mitteln heimzubringen, was an Erfahrung in der Schi­ zophrenie sich anmcldet« (Adorno, Noten zur Literatur., »Benjamin, der Briefschreiber«, GS 11 , S. 583). Dieses Urteil Adornos ist trotz seiner harten Formulierung mit jenem Zeugnis Scholems in Zusammenhang zu sehen, der von einer Äußerung Doras berichtet, nach der Benjamins Geistigkeit »sei­ nem Eros im Wege« gestanden habe. Scholcm fährt fort: »Ich habe später noch mit mehreren Frauen gesprochen, die Benjamin persönlich sehr gut gekannt haben, ja deren einer er 1932 einen Heiratsantrag gemacht hatte. Alle betonten, daß Benjamin als Mann keine Anziehung auf sic ausübte, so sehr sie von seinem Geist und seinen Gesprächen beeindruckt oder gar ent­ zückt waren. Eine seiner nahen Bekannten sagte mir, er habe für sie und ihre Freundinnen als Mann gar nicht existiert, man sei überhaupt nicht auf die Idee gekommen, daß es auch diese Dimension in ihm gebe. »Walter war so­ zusagen unkörperlich«.« Scholcm, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 122. 37 »Die Produktivität des sich selbst Entfremdeten ist erklärbar nur da­ durch, daß in seiner diffizilen subjektiven Reaktionsform ein objektiv G e­ schichtliches sich niederschlug, das ihn befähigte, sich umzuschaffen zum Organ von Objektivität.« Adorno, Noten zur Literatur, »Benjamin, der Briefschreiber«, GS 1 i,S . 583.-» N u r ums Opfer des Lebendigen wurde Ben­ jamin der Geist, der lebte von der Idee des opferlosen Standes.« Ebd., S. 590. 38 Adorno, Prismen, GS 10 .1,8 .2 38 -2 53. 39 Ebd., S. 246.

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ein, Benjamins Person und die kategoriale Zugehörigkeit sei­ nes Werkes zu fassen. Indem er Mystik und Aufklärung noch einmal zusammenführte, habe er »des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten«.40 So gebannt er von der Unmittel­ barkeit und Inkommensurabilität der Dinge gewesen sei, habe er sich doch nie in ihrer Dunkelheit verloren, nie auf Begriffe verzichtet. Es gibt in den Texten Adornos über Benjamin wun­ derbare Passagen, die die Einzigartigkeit seines Werkes, seine Einsamkeit, sein Scheitern am Leben hervorheben. Doch es fällt schwer, hinter der Abstraktheit der Adornoschen Sprache die Konkretheit eines Gefühls wiederzufinden.41 Und über die Konflikte, die sic trennten, verliert er kein Wort. Der Versuch, ein Porträt Benjamins aus seinen eigenen Schriften, selbst den autobiographischen, und aus seinem Brief­ wechsel zu ziehen, geht nicht ohne Schwierigkeiten ab. Das empirische Subjekt nimmt darin wenig Platz ein. In der Berli­ ner Chronik behauptet er, wenn er ein besseres Deutsch schrei­ be als die meisten Schriftsteller seiner Generation, so verdanke er das »einer einzigen kleinen Regel«, die er seit zwanzig Jah ­ ren befolgt habe, nämlich »das Wort >ich< nie zu gebrauchen, außer in den Briefen«.42 O b nun als philosophische Wahl oder aus persönlichem Unvermögen, wie Adorno andeutet, hat er sich in einer Epoche, in der die Subjektivität in der Literatur allmächtig war, dieses eherne Gesetz als Forderung an seinen Stil auferlegt.43 Die Sorgfalt, die er bei der Abfassung eines je40 (Ebd., S.252.) 41 Zudem beschreibt Adorno Benjamins Verhältnis zum Marxismus und seine politische Entwicklung in den Kategorien einer ziemlich reduktionistischen Psychologie. Zur Kritik der Charakteristik, die Adorno von Benja­ min zeichnet, siche Christoph Hering, Der Intellektuelle als Revolutionär, S .i 6. 42 Berliner Chronik, GS VI, S.475. 43 Diese Scham bewunderte er in den Briefen, die er unter dem Titel Deut­ sche Menschen gesammelt und ediert hatte, dort, wo der Ausdruck der hef­ tigsten Emotionen an der Schwelle zur Schrift innchält. »Verzeihen Sie, ed­ ler Freund! ich soll ja nicht klagen, und doch wollen die alten Augen nicht

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den seiner Texte walten ließ, sein Wille, jede Spur einer allzu persönlichen Erfahrung daraus zu tilgen, ihr eine kristalline Form zu geben, wirken häufig wie eine Zensur. Die intimsten Reflexionen, die er uns in Einbahnstraße über das Glück, die Trübsal oder die Liebe liefert - letztere zweifellos von Asja Lacis inspiriert - , zeigen, daß er sich die Gewohnheit des alten Goethe zu eigen gemacht hatte: »als Kanzlist« von seinem eige­ nen Innern zu sprechen.44 Was der Leser gewinnt, geht dem Exegeten verloren. Berliner Chronik und B erliner K indheit be­ schreiben mehr eine bürgerliche Kindheit in Berlin um 1900 als die eines einzelnen Kindes. Die materialistische Rekonstruk­ tion der Erinnerungen fügt eine vom Kind kaum wahrge­ nommene Dimension hinzu. Die Verweise auf Proust, bei dem Benjamin bestimmte Erfahrungen wiederfindet, stehen am Ausgangspunkt eines subtilen Spiels von Übereinstimmungen mit der Suche nach der verlorenen Z eit, auch wenn ihre Verfah­ rensweisen gegensätzliche sind. Proust löst die Geschichte in einer Rhapsodie subjektiver Ereignisse auf, Benjamin verwan­ delt umgekehrt jede Erinnerung in einen Kristall, in dem sie sich, vermittelt durch eine Familie, eine Klasse, eine Stadt und eine Epoche, offenbart. Mehrfach hat Benjamin ein Tagebuch geführt.45 Die Frag­ mente seines »Pariser Tagebuchs« (30. Dezember 1929 bis Fe­ bruar 1930) informieren uns über die Schriftsteller, denen er begegnet ist, und über sein Verhältnis zu Paris.46 Das Moskauer gehorchen und Stich halten. Ihn aber habe ich auch einmal weinen sehn, das muß mich rechtfertigen«, schreibt Karl Friedrich Zelter anläßlich Goethes Tod {Deutsche Menschen, GS IV.i, S. 152). Georg Christoph Lichtenberg be­ richtet vom Tod eines kleinen Mädchens, das er in sein Haus aufgenommen und in das er sich verliebt hatte; bei der Erwähnung ihres Todes hält er innc und schließt seinen Brief mit den Worten: »[Ejrlaubcn Sie mir, daß ich hier schließe. Es ist mir unmöglich fortzufahren« (ebd., S. 15 5). 44 < E b d .,S.2ii.) 45 Benjamins Tagebücher erstrecken sich über die Zeit von 1906 bis 1932 (GS VI, S. 229-464). Zumeist brechen sie nach wenigen Seiten ab. 46 »Pariser Tagebuch«, GS IV. 1, S. 567-587.

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Tagebuch - unter gelockerter Selbstzensur - behandelt nur ei­ nen eng begrenzten Zeitraum seines Lebens (6. Dezember 1926 bis 1. Februar 1927). Die ergreifende Schilderung seiner Bezie­ hung zu Asja Lacis - der dritten Frau, die nach Dora Kellner und Jula Cohn eine wichtige Rolle in seinem Leben spielte der deutliche Wunsch, sie zu heiraten und ein Kind zu haben, zerstreuen nicht die Merkwürdigkeit ihrer Beziehung.47 Außer diesem Moskauer Tagebuch, in dem Benjamin so verletzlich er­ scheint, erlaubt uns die außergewöhnliche Fülle seiner Korre­ spondenz, die Entwicklung seiner theoretischen Beschäftigun­ gen nachzuverfolgen. Sie bezeugt ein verzweifeltes Bemühen, einer literarischen Gattung noch einmal Leben einzuhauchen, die schon zu seiner Zeit anachronistisch war. »Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben«, bemerkt Adorno.48 Trotz des Exils und der Zerstörungen durch die Hitlerzeit hat sich eine große Zahl dieser Briefe erhalten. Sie bilden freilich nur einen Teil derer, die er schrieb.49 Obgleich sie vor allem seine 47 Asja Lacis hatte bereits ein Kind, lebte mit Bernhard Reich zusammen, und ihre Gefühle gegenüber Benjamin waren ausgesprochen ambivalent. Dieser scheint sie oft verachtet zu haben, sosehr er sie liebte. Sie verschwand recht plötzlich aus seinem Leben. 48 »Der Brief wurde ihm zur Form. Die primären Impulse läßt sie durch, schiebt aber zwischen diese und den Adressaten ein Drittes, die Gestaltung des Geschriebenen [...], als würde dadurch erst die Regung legitimiert.« Adorno, Noten zur Literatur, »Benjamin, der Briefschreiber«, CS 11 , S. j 84 f. 49 Die Briefe, die Benjamin an mehrere seiner Jugendfreunde gerichtet hat­ te und die sich über dreißig Jahre seines Lebens erstrecken, sind ebenso ver­ loren wie die an seine Eltern, an seinen Bruder, an seine Schwester Dora, an Kurt Tuchler, Franz Sachs, Gustav Wynekcn, Fritz Heinle, Georges Barbi­ zon und diejenigen, die sich auf die Jugendbewegung beziehen. Zudem sind aus dem Zeitraum der zwanziger Jahre diejenigen verschollen, die an Wolf Heinle, Erich Gutkind, Ernst Bloch und Siegfried Kracauer gerichtet waren A la rechcrchc du temps perdu< abgeschlossen. Es ist das dreibändige Werk »Sodome et Gomorrhe« das ich zu übersetzen habe. Die Bezahlung ist keineswegs gut aber doch so erträglich, daß ich glaube die enorme Arbeit auf mich nehmen zu müssen. Zudem kann ich mir, wenn die Übertragung ge­ lingt, davon ein festes Akkreditiv als Übersetzer versprechen, wie es etwa Stefan Zweig hat« (GB III, S.62).

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D ie B erlin er K indheiten W alter Benjam ins

(1930) übersetzte.206 1929 veröffentlichte Benjamin in der L i­ terarischen Welt seinen Essay »Zum Bilde Prousts«.207 Die dreizehn Bände A la recherche du temps perdu erscheinen ihm als die »größte Leistung [der Dichtung] in den letzten Jahr­ zehnten«. Benjamin weist jede psychologische Deutung zu206 Trotz des geringen materiellen Gewinns, den er daraus zog, und trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, auf die er dabei stoßen sollte, widmete er sich leidenschaftlich der Übersetzungsarbeit. So schreibt er am 14. Januar 1926 an Scholcm: »Wenn Du meine Proust-Übersetzung liest, so wirst Du vielleicht nicht weit kommen. Es müßte schon seltsam zugehn, wenn sic les­ bar wird. Die Sache ist grenzenlos schwierig und Zeit kann ich ihr aus vielen Gründen, vor allem der knappen Bezahlung wegen, nur sehr gemessen zur Verfügung stellen. Notizen über ihn >En traduisant Marcel Proust« will ich mal in der »Literarischen Welt« veröffentlichen« (GB III, S. 111). Benjamins Bemühen, Proust in Deutschland bekannt zu machen, stieß auf verlegeri­ sche und literarische Grundsatzprobleme. Benjamin wollte, daß das Werk Prousts vollständig ins Deutsche übersetzt würde, nicht nur einzelne Bände. Der Umfang des Vorhabens ließ die Verleger zögern (vgl. den Brief an Max Rychner vom 15 .Januar 1929, GB III, S .4 31L ). Von Rowohlt aufgegeben, wurde das Projekt vom Piper Verlag übernommen, der jedoch bankrott ging (Brief an Scholem, 3. Oktober 193 t, GB IV, S. 54). Wenn das Genie Prousts von einigen bereits sehr früh erkannt wurde - unter ihnen Rilke, zweifellos einer seiner ersten Leser in Deutschland - , war Proust für viele nur ein Zeugnis des »französischen Snobismus«. Benjamins Interesse an Proust sollte beständig wachsen, und als er sich 1930 in Paris aufhielt, berichtete er Scholem begeistert von seiner Begegnung mit »Monsieur Albert«: »Ich habe Dir von meinem denkwürdigsten pariser Abend noch garnicht berichtet. Es war der in Gesellschaft von M on Albert verbrachte. M on Albert ist Alberti­ ne, ist das Verhältnis von Marcel Proust. Ich habe mit ihm zu Abend geges­ sen. Es gab manch bemerkenswerten Augenblick in unsern Diskursen, nichts aber, das mit dem ersten Anblick des Mannes sich messen kann, wie er mir in dem kleinen homosexuellen Badcetablissement wurde, das Mon Albert in der rue St Lazarc [...] leitet« (Brief an Scholem, 25. Januar 1930, GB III, S. 507). Er widmete dieser Begegnung einen Text in seinem »Pariser Tagebuch« (GS IV.i, S. 575-578). (Der französische Übersetzer dieses Tage­ buchs, Robert Kahn, hat übrigens eine Studie mit dem Titel Images, passages: Marcel Proust et Walter Benjamin veröffentlicht. Einen weiteren de­ taillierten Bericht von dieser Begegnung liefert Benjamin in »Abend mit Monsieur Albert«, ebd., S. 587-591.) Zu bemerken ist noch, daß Benjamin irrt, wenn er »Monsieur Albert« mit »Albertine« identifiziert: er diente als Vorbild für den Westenmacher Jupien. 207 »Zum Bilde Prousts«, GS II.1, S. 310-324.

Fiktion und Realität in den autobiographischen Schriften

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rück208 und legt den Akzent nicht auf das transponierte Erle­ ben, sondern auf die Komplexität der Wiedererinnerung. In den Passagen analysiert er, was das »ungewollte Eingedenken« mit dem Traum und dem Erwachen vereint, und betont seine Nähe zum Vergessen.209 Dem winzigsten Alltagsdetail wußte Proust wie durch ein Wunder ein Bild zu entnehmen, das den Leser in einen Wachträumenden verwandelt. Benjamin wie­ derum hebt die Bedeutung des Traums und der Ähnlichkeit deren Theorie er in dem Essay »Über das mimetische Vermö­ gen« darlegen wird210 - bei der Entstehung der Bilder her-

208 »Man weiß, daß Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, dcr’s erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Pcnclopearbeit des Eingedenkens.« »Zum Bilde Prousts«, cbd., S .3 1 1 ; vgl. den Brief Benjamins an Max Rychner vom 15. Januar 1929, GB III, S .431 f. 209 Benjamin verweist auf den etymologischen Zusammenhang, der »Text« und »Gewebe« miteinander verbindet, und bemerkt, daß es kaum einen dichter gewobenen gebe als denjenigen Prousts. Selbst die Ränder der Kor­ rekturfahnen seiner Bücher füllte Proust mit Ergänzungen aller Art, als ob »die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werks sich aus[wirkte]«. Proust »besiegte [...] die hoffnungslose Trauer in seinem Innern [...] und baute aus den Waben der Erinnerung dem Bienenschwarm der Ge­ danken sein Haus«. [Palmicrs an dieser Stelle folgender Hinweis, daß dieses Bild in den Passagen wiederaufgenommen werde - GS V. 1, S. 118 (B 3,7) und S. 578 (N 3,2 ) - , geht fehl; dort wird »das Ewige« als »Rüsche am Kleid« be­ zeichnet. Die vermeintliche Wiederaufnahme des Bildes beruht auf der Ho­ monymie des französischen Wortes ruche, »Bienenstock« und »Rüsche«.] Benjamin sieht auch ein »blindefs], unsinnigefs] und besessenefs] Glücksverlangcn« bei Proust am Werk und unterscheidet in einer »Dialektik des Glücks« eine »hymnische« und eine »elegische Glücksgestalt«: »Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere: das ewige Nochcinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks. Diese elegische Glücksidee, die man auch die clcatische nennen könnte, ist es, die für Proust das Dasein in einen Bannwald der Erinnerung verwandelt.« »Zum Bilde Prousts«, GS II,1, S. 3 1 1 f. 210 (»Übcrdas mimetische Vermögen«, GS II. 1,8 .2 10 -2 13. Vgl. auch »Leh­ re vom Ähnlichen«, ebd., S. 204-210.)

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vor.211 Proust ist ein »illusionslose[r], gnadenlose[r] Entzauberer des Ichs, der Liebe, der Moral«. Zu seiner Konzeption der Zeit bemerkt er, bei Proust seien wir »Gäste, die unterm schwankenden Schild eine Schwelle betreten, hinter der uns die Ewigkeit und der Rausch erwarten«.212 Wenngleich man in sei­ nem Werk Überreste eines fortdauernden Idealismus findet, ist die Ewigkeit, in die Proust einige Ausblicke eröffnet, die »verschränkte«, nicht die »grenzenlose« Zeit. Die Welt altert gleichzeitig mit dem Menschen. Er tut nichts, als sie zu verjün­ gen, obwohl auch die Krankheit in sein Werk eingegangen ist. »Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese sei­ ne Erstickungsangst nach.«213 Benjamin wird sich Proust stets ungewöhnlich nahe fühlen.214 Die Versenkung in die Erinne­ rung weckt die gleiche Melancholie.215 Der verborgene und be2 1 1 »[...] so war Proust unersättlich, die Attrappe, das Ich, mit einem Grif­ fe zu entleeren, um immer wieder jenes Dritte: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, einzubringen« (»Zum Bilde Prousts«, GS II. i, S.314). Man denkt hier an die Darstellung, die Benjamin später im Baude­ laire-Essay von der Funktion des dialektischen Bildes geben sollte. Wäh­ rend er den von der deutschen Kritik formulierten Tadel des »Snobismus« zurückweist, stellt er den sozialen Horizont seines Werkes heraus und un­ terstreicht, daß es der Proustschcn Theorie der Mimikry gelingt, einen ab­ gründigen Stoff mit einem »dctektivischefn] Einschlag« zu verbinden. Ebenso wird Benjamin in seinem Essay über Baudelaire das Auftreten des Flaneurs in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts mit der Entdekkung der Detektivgeschichte parallelisiercn. Vgl. »Das Paris des Sccond Empire bei Baudelaire«, GS 1.2, S. j jof. 212 »Zum Bilde Prousts«, GS II.x, S -3i9 f. 213 Im Schatten junger Mädchenblütc««, GS 11, S.670. 215 In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal schrieb Benjamin am 28. Dezember 1925: »Ich bewundere, wie er den vielleicht allgemeinen Brauch der großen Dichter, die Metapher dem Naheliegenden und Belanglosen zu entnehmen, dem Stande heutiger Dinge überraschend anpaßt und einen ganzen Komplex ausgeleierter weitläufiger Verhältnisse im Dienst eines tie-

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ständige Bezug auf Proust216 gestattet es Benjamin, manche seiner persönlichsten Erfahrungen schleichend den Spuren der Recherche du temps perdu anzuverwandeln.217 Ein und dasselferen Ausdrucks gleichsam mobil macht, in die schlaffsten Perzeptionen, in­ dem er sic zum bildlichen Ausdruck heranzicht, einen schönen kriegeri­ schen Lakonismus bringt.« CB III, S. 105. 216 »Es ist die Welt im Stand der Ähnlichkeit und in ihr herrschen die »Kor­ respondenzen*, die zuerst die Romantik und die am innigsten Baudelaire er­ faßte, die aber Proust (als Einziger) vermochte, in unserem gelebten Leben zum Vorschein zu bringen« (»Zum Bilde Prousts«, GS II. 1, S. 320). Die Ver­ bindung zwischen dem »Proustschcn Erwachen« und den Baudclaircschcn Korrespondenzen wird von Benjamin in seinem Baudelaire-Essay und in den Materialien zu den Passagen hervorgehoben, wo er einige Texte aus der Wiedergefundenen Zeit heranzieht. Die psychologischen Kategorien des Traumes und des Erwachens gewinnen damit eine historische Dimension. 2 17 Die Spaziergänge in den Alleen des Tiergartens erinnern an diejenigen Prousts im Bois de Boulogne. In der ersten Fassung des »Tiergartens« schreibt Benjamin, die Kunst, sich in einer Stadt zu verirren, »hat mich Paris gelehrt; cs hat den Traum erfüllt, dessen früheste Spuren die Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Schulhefte waren« (Berliner Chronik, GS VI, S.469). Zahlreiche Stücke sind aus proustschen Reminiszenzen gewoben: die Erinnerungen an die Droschken und Karossen des Tiergartens, die A b ­ reisen in die Ferien, die Schmetterlingsjagden, die Großmutter, das Aroma der Bratäpfel und die Marmcladcnbrötchcn. Einer der schönsten Texte der Berliner Kindheit, »Der Mond«, läßt sich von den ersten Seiten des Proust­ schcn Werkes anregen. Die geschilderte Situation ist die gleiche: Das Kind erwacht in der Nacht und versucht sich zu orientieren. Während jedoch Proust in Gedanken an alles Geschehene, an die ganze Menschheit denkt und dabei ein schärferes Bewußtsein seiner Person gewinnt, so daß sich »nach und nach die originären Züge meines Ich wieder zusammenffügten]« (Marcel Proust, A u f der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Unterwegs zu Swann, S. 11), wird Benjamin bei der Betrachtung seines Zimmers im Mondschein von Angst ergriffen und macht die Erfahrung des Nichts (Ber­ liner Kindheit, »Der Mond«, GS IV. 1, S. 300 f.). Viele andere Aufzeichnungen sind typisch proustisch. In seiner »Kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten«, schreibt er: »Und gerade die wichtigsten die in der Dunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten - Bilder sind es, welche wir [in der memoire involontaire] zu sehen bekommen. [...] Und jenes »ganze Leben*, das, wie wir oft hören, an Sterbenden oder an Menschen, die in der Gefahr zu sterben schweben, vorüberzieht, setzt sich genau aus diesen kleinen Bildchen zusammen* (GS II.3, S. 1064). Damit be­ stimmt er den Sinn der Berliner Kindheit. Der Todesgedanke, der in dem letzten, dem »bucklicht Männlein« gewidmeten Stück gegenwärtig ist - »Ich

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be mythische Modell scheint sie zu vereinen, das des verlore­ nen Kindheitsparadieses.218 D er Erwachsene, der es nur flüch­ tig berührt hat, ohne es wirklich festhalten zu können, vermag es nur im Medium der Erinnerung und der Literatur wieder zu fassen. Proust besinnt sich auf ein unendliches Glück, ein Ru­ hen in sich selbst, und es ist diese intime Vertrautheit mit den Dingen, die er wiederzufinden hofft. E r weiß, daß seine Suche nicht umsonst ist.219 Die Möglichkeiten jedoch, die Benjamin in der Kindheit entdeckt, sind nur solche, die keine Tür geöff­ net haben. In der Erfahrung der unwillkürlichen Erinnerung taucht die gesamte Vergangenheit wieder auf, jedoch unter dem Zeichen des Todes. Dem Platonismus Prousts, der es dem Gedächtnis gestattet, das Verlorengeglaubte vollständig wie­ derzufinden, entspricht bei Benjamin eine komplexe Kon­ struktion, in der alle Dinge vereint in Zeichen- und Abhängig­ keitsverhältnissen stehen. Die unwillkürliche Erinnerung stellt keine Sinnfülle wieder her, sondern geheime Korrelationen, die erneut zu interpretieren sind. An die Stelle der Proustschen Zeitkonzeption, die von der Psychologie seiner Epoche ge­ prägt ist220, setzt Benjamin, beispielhaft in der Einbahnstraße, denke mir, daß jenes >ganze Lebens von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat« (GS IV. i, S.304) - , entspricht der Stimmung, in der die meisten dieser Texte geschrieben wurden: Es sind die letzten Bilder aus der Bildersammlung, die er von seinem Leben mitnehmen wollte. Er hatte beschlossen, bald nach seinem vierzigsten Geburtstag am 15. Juli 1932 in einem Hotel in Nizza den Tod zu suchen. 218 Vgl. die Studie von Krista R. Greffrath, »Proust et Benjamin«, in: Heinz Wismann (Hg.), Walter Benjamin et Paris, S. 113. 219 So kann er in der Wiedergefundenen Zeit über die Allegorie der Schön­ heit, die gefangene Märchenprinzessin, schreiben: »Man hat an alle Pforten geklopft, die nirgendwohin führen, an die einzige aber, durch die man eintreten kann und die man hundert Jahre lang vergeblich gesucht hätte, pocht man, ohne es zu wissen, und da öffnet sie sich.« A u f der Suche nach der ver­ lorenen Zeit., Bd.7, Die wiedergefundene Zeit, S .2 J7 [dort freilich in völlig anderem Kontext]. 220 Zu dem temporalen Charakter des Zeichens bei Proust und dem Zu­

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eine Theorie der Deutung der Bilder.221 Zur unwillkürlichen Erinnerung kann nur gehören, was wirklich erlebt wurde, denn weit davon entfernt, nur die »vollständig erhaltene« Dau­ er im Sinne Bergsons wiederzugeben, liefert sie uns vor allem unbewußte Wahrnehmungen.222 Der proustschen Wiederho­ lung steht bei Benjamin das Auftauchen eines neuen Sinns ge­ genüber, der aus der Vergegenwärtigung einer Erfahrung erst entsteht.223 Mit dieser Konzeption des »Dejä vu« steht Benjasammcnhang mit den philosophischen Gedhchtnistheorien vgl. Gilles Delcuze, Proust und die Zeichen. 221 So hat Benjamins Überlegung zur Rekonstruktion der Vergangenheit aus ihren Trümmern - wonach sich das Bild der Schönheit aus den Trüm­ mern einer Skulptur erahnen läßt (Einbahnstraße, »Torso«, GS IV. i , S. 1 1 8) ihre unmittelbare Anregung von einer Passage aus Im Schatten junger Mäd­ chenblüte erhalten. Proust evoziert dort einen »weiblichen Torso, verstüm­ melt wie ein antikes Marmorbild durch unser rasches Vorüberfahren« (A u f der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 2, S. 4 1 1); Benjamin übernimmt das Bild einer »schönen Figur [...], der auf Transporten alle Glieder abgeschla­ gen wurden«. Vgl. auch Benjamins Kommentar zu Winckelmanns berühm­ ter Schrift Beschreibung des Torso des Hercules im Belvedere zu Rom im Ur­ sprung des deutschen Trauerspiels, GS 1.1, S.352. 222 Darum geht es bei der Diskussion zwischen Benjamin und Adorno über die proustsche Erinnerung. Am 29. Februar 1940 schrieb Adorno an Benjamin: »Das ungemein schwierige Problem liegt bei der Frage der Unbe­ wußtheit des Grundeindrucks, die notwendig sein soll, daß dieser der me­ moire involontaire und nicht dem Bewußtsein zufällt. Kann man von dieser Unbewußtheit wirklich reden? War der Augenblick des Schmeckens der Madeleine, aus dem Prousts mömoire involontaire hervorgeht, in der Tat unbewußt ? Es will mir scheinen, daß in dieser Theorie ein dialektisches Glied ausgefallen ist und zwar das des Vergessens« (Adorno/Bcnjamin, Briefwechsel 1928-1940, S.417). Benjamin antwortet am 7. Mai: »Ich glaube, man braucht, um dem Vergessen das Seine zuzubilligen, den Begriff der me­ moire involontaire nicht in Frage zu stellen. Die kindliche Erfahrung des Geschmacks der Madeleine, die Proust eines Tages involontairement wieder ins Gedächtnis tritt, war in der Tat unbewußt« (cbd., S.42 j f.; GB VI, S.446). Zu der Beziehung Adornos zu Proust vgl. Adorno, Noten zur Literatur, »Kleine Proust-Kommentare«, GS 11, S. 203-21 j (sowie »Zu Proust«, ebd., S. 669-675, und Prismen, »Valery Proust Museum«, GS 10.1, S. 181-194). 223 In »Eine Todesnachricht« bemerkt er: »Man hat das dlja vu oft be­ schrieben. Ist die Bezeichnung eigentlich glücklich ? Sollte man nicht von Begebenheiten reden, welche uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall,

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min in unauflöslichem Gegensatz zu Proust. Die Illusion des falschen Wiedererkennens wird zum metaphysischen Prinzip erhoben. Die Erinnerung an das »Kaiserpanorama« läßt uns dessen Bedeutung ahnen. Die Bilder, die vor den Augen des Kindes vorbeiziehen, geprägt von einer »wehmutsvollen A b ­ schiedsstimmung«, lösen in ihm eine Art »Dejä vu« aus.224 Was der Erzähler bei Proust in der leichten Erhebung des Pflaster­ steins, der Linie eines Dachs zu entziffern sucht, ist ein Glücksversprechen; Benjamin findet darin hingegen nur die Vorahnung kommenden Unglücks. Das bucklicht Männlein setzt alles darein, ihm seine schönsten Augenblicke zu verder­ ben, indem es ihn ahnen läßt, was sie an Negativem in sich tra­ gen. Die »dunklen Eindrücke« Prousts münden bei Benjamin in »finstere Illuminationen«. Die Erwartung eines Glücks geht einher mit der Furcht vor dem, was das Rätsel entbirgt.225 Das der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im übrigen entspricht dem, daß der Chock, mit dem ein Augenblick als schon gelebt uns ins Bewußtsein tritt, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallcn. Seltsam, daß man noch nicht dem Gegenbild dieser Entrückung nachgegan­ gen ist - dem Chock, mit dem ein Wort uns stutzen macht wie ein vergesse­ ner M uff in unserm Zimmer. Wie uns dieser auf eine Fremde schließen läßt, die da war, so gibt es Worte oder Pausen, die uns auf jene unsichtbare Frem­ de schließen lassen: die Zukunft, welche sie bei uns vergaß.« Berliner Kind­ heit, »Eine Todesnachricht«, GS IV.i, S. 251 f. 224 »So wollte er [der Zauber der Bilder] mich eines Nachmittags vorm Transparent des Städtchens Aix bereden, ich hätte in dem olivenfarbenen Lichte, das durch die Platanenblätter auf den breiten Cours Mirabeau her­ abströmt, schon einmal zu einer Zeit gespielt, die freilich nichts mit andern Zeiten meines Lebens teilte. Denn dies war an den Reisen sonderbar: daß ihre ferne Welt nicht immer fremd und daß die Sehnsucht, die sie in mir weckte, nicht immer eine lockende ins Unbekannte, vielmehr bisweilen jene lindere nach einer Rückkehr ins Zuhause war.« Berliner Kindheit, »Kaiser­ panorama«, GS IV. 1, S.240. 225 Benjamin und Proust verwenden gern das Bild des »Zauberbuchs«. Proust evoziert »in Form von symbolischen Zeichen eingeschriebene Wahr­ heiten, deren Sinn ich in meinem Kopf zu ergründen suchte, wo sie - Kirch-

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»Dejä vu« ist nur eine Täuschung. Was das Kind wiederzuer­ kennen glaubt, ist ihm vollkommen unbekannt, da es sich um seine Zukunft handelt. Die Erleuchtung, die es empfindet, wenn die Bilder des Kaiserpanoramas eines nach dem anderen erlöschen, verwandelt sich dann in Allegorie. Die Erinnerung stellt nicht Vergangenes wieder her, sie enthüllt ein geschichtli­ ches Werden.226 Die memoire involontaire stellt die flüchtigen Erinnerungen so dar, daß sie Gegenstand einer neuen Deutung werden können, die nur der Erwachsene in Prophezeiungen verwandeln kann.227 Die willentliche Erinnerung nimmt dann die Daten der unwillkürlichen auf, ordnet sie, und das Erwa­ chen - von dem vornehmlich in den Passagen die Rede ist wird zum kollektiven Vorgang.228 Im Konvolut K 229, das Freud, Proust und den Surrealismus türme, im Wind bewegte Gräser - ein kompliziertes, rankcnrcichcs Zauber­ buch bildeten« (Proust, A u f der Suche nach der verlorenen Zeit., Bd. 7, Die wiedergefundene Zeit, S.276). Dieser Eindruck des »Dejä vu« war in den zwanziger Jahren auf Capri Gegenstand langer Diskussionen zwischen Bloch und Benjamin über das berühmte Märchen Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck. 226 Wo sich Benjamin in den Passagen auf Proust bezieht, betont er das Verbindende von dialektischem Bild, Geschichte, Erkenntnis und Erwa­ chen. Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter wird zu dem vom Traum zum Erwachen (vgl. Das Passagen-Werk, GS V.i, S.490). Wieder Traum bildet die Kindheit ein noch nicht bewußtes Wissen von den Dingen, und Benjamin kann behaupten, »die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen [sei] der Kanon der Dialektik. Sie ist vorbildlich für den Denker und verbindlich für den Historiker« (ebd., S. 580, N 4,4). 227 Zum Thema der prophetischen Erinnerung bei Benjamin vgl. Einbahn­ straße, »Frühstücksstubc«, GS IV. 1, S. 85 f.; »Antiquitäten«, ebd., S. 116 -118 ; »Madame Ariane zweiter Hof links« (ebd., S. 141 f.). In Berliner Kindheit kontrastiert der Erzähler fortwährend den Blickwinkel des Kindes mit dem des Erwachsenen. 228 »Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Gcschichtsdarstcllung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf ei­ gentlich von nichts anderm handeln. So handelt diese vom Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert« (Das Passagen-Werk, GS V.i.S. 580, N 4,3). 229 »Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträumc, anthropologischer N i­ hilismus, Jung« (ebd., S.490 ff.).

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miteinander vereint, entwickelt Benjamin Überlegungen zum Erwachen einer ganzen Generation.230 Der Kapitalismus hat Europa in einen »neue[n] Traumschlaf«231 fallen lassen, doch »jede Epoche hat diese Träumen zugewandte Seite, die Kinder­ seite«.232 Im neunzehnten Jahrhundert findet sie ihren Höhe­ punkt in den Passagen. Prousts Werk wiederum zeigt, daß es der Erziehung gelingt, die Welt der Kindheit zu verdrängen, sie für pathologisch zu halten. Benjamin fordert eine »kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung«.233 Das Erwachen wird also zur exemplarischen Form des Erinnerns, weil es dabei gelingt, uns an das Banale, Alltägliche zu erin­ nern. Was Proust im Halbschlaf bei der Betrachtung der Wän­ de seines Zimmers entdeckt234, vergleicht Benjamin mit Blochs »Dunkel des gelebten Augenblicks«, der in den Passagen eine historische, kollektive Dimension annimmt. Benjamin be­ hauptet die Existenz eines »Noch-nicht-bewußte[n]-Wissen[s] vom Gewesenen«, dessen Weg zum Bewußtsein die Struktur des Erwachens hat; er bestimmt die Wahrnehmung der ge­ schichtlichen Welt als »Wachwelt«. Und in rätselvollen Worten beschwört er das »kommende Erwachen«, das »wie das H olz­ pferd der Griechen im Troja des Traumes [steht]«.235 E r skiz­ ziert somit eine Überwindung Prousts und des Surrealismus, die deren poetische Entdeckungen in ein Mittel der dialekti­ schen Untersuchung verwandelt.

230 »Die Jugenderfahrung einer Generation hat viel gemein mit der Traum­ erfahrung« (ebd., S.490, K 1, 1). 231 Ebd., S.494, K ia, 8. 232 Ebd., S.490, K i , 1. 233 Ebd. (Benjamin schreibt: »Was hier im folgenden gegeben wird, ist ein Versuch zur Technik des Erwachens. Ein Versuch, der dialektischen, der kopernikanischen Wendung des Eingedenkens inne zu werden.«) 234 Wie schon gesagt, hat die Eingangssituation der Suche nach der verlore­ nen Zeit Benjamin zu dem Stück »Der Mond« in der Berliner Kindheit ange­ regt. 235 {Das Passagen-Werk, GS V.i, S.495, K 2,4).

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Neben dem Surrealismus war es Franz Hessel236, dem Benja­ min die Entdeckung der philosophischen und poetischen D i­ mension des Flanierens in der Großstadt verdankt. Wie Benja236 Zu Franz Hessel vgl. unser Vorwort (Jean-Michel Palmier, »Franz Hes­ sel, lc Flaneur de Berlin«) zur französischen Übersetzung von Spazieren in Berlin. Die biographische Skizze wurde ausgehend von Gesprächen mit sei­ nen beiden Söhnen Ulrich und Stephane verfaßt. - Geboren am 21. Novem­ ber 1880, entstammte Hessel einer jüdischen Familie der Handclsbourgcoisic. Sein Leben lang sollte er sich die Sehnsucht nach seiner Kindheit bewahren. Er studierte Geschichte und Literatur in München, verkehrte in der Schwabingcr Boheme, von der er erstaunliche Schilderungen geliefert hat. 1906 ging er nach Paris und hielt sich dort fast ohne Unterbrechung bis 1913 auf. Er bewegte sich dort in den Maler- und Schriftstcllerkrciscn des Montparnassc (A. Flechteim, J. Pascin, W. Uhd, P. Fort, A. Salmon, P. Picas­ so). Sein erstes Buch Pariser Romanze, 1920 bei Rowohlt veröffentlicht, evoziert in Form von vier fiktiven Briefen aus den Jahren 1915 und 1916 je­ nes Paris der Zeit vor dem Kriege, den der Erzähler nicht überleben wird. 1912 machte Hessel die Bekanntschaft von Helen Grund, einer Schülerin von Käthe Kollwitz. Sie heirateten in Berlin, lebten in Paris und Genf. 1914 wurde Hessel mobilisiert und ins Elsaß, nach Polen und schließlich nach Berlin geschickt. Vor den Sorgen des Alltags schützte ihn bis zum Beginn der zwanziger Jahre das väterliche Erbe; seine Lebensweise und seine A b ­ lehnung der bürgerlichen Werte entsprachen dem zeittypischen Bild. Dieser Nonkonformismus hätte Hessel eine gewisse Bekanntheit in Frankreich cintragen können. 1920 luden seine Frau und er den Schriftsteller HenriPierre Roche, einen Pariser Freund Hessels, den er 1906 kennengclernt hat­ te, zu sich ein. Seine Frau verliebte sich in Roch£, und die Familie brach aus­ einander. Helens Versuch, sich scheiden zu lassen und Roche zu heiraten, schlug fehl, und sic kehrte zu Hessel zurück. Diese banale Episode wäre kaum der Erwähnung wert, hätte Roche sie nicht zu einem Roman verarbei­ tet, der 1953 erschien und die Vorlage zu dem berühmten Film Jules et Jim von Francois Truffaut abgab. Die Inflation zwang Hessel, seine Leiden­ schaft für die Literatur mit der Ausübung eines Berufs in Einklang zu brin­ gen. Rowohlt publizierte ab 1924 seine Zeitschrift Vers und Prosa und stellte ihn als Lektor ein. Dank seiner perfekten Kenntnis der französischen Spra­ che und Literatur kümmerte er sich um die Herausgabe der Werke Balzacs und übersetzte Proust und Stendhal. Er zog sich in ein winziges Zimmer sei­ ner Wohnung am Tiergarten zurück und führte eine fast mönchische Exi­ stenz. Die Psychologin Charlotte Wolff, die auch mit Benjamin befreundet war und zu dieser Zeit Hessel kennenlernte, erinnert sich in ihrer Autobio­ graphie an jene seltsame Persönlichkeit mit dem Gesicht eines lächelnden Buddha, die sich für nichts interessierte als Literatur. 1923 ließ er sich in Pa­ ris nieder, blieb dort zwei Jahre, übersetzte mit Benjamin Proust und schrieb

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min verfügt Hessel in höchstem Maße über die Kunst, die Stadtlandschaft in eine mythologische Welt zu verwandeln. Beide beschäftigen sich mit marginalen Gegenständen, mit Konstellationen von Erinnerungen und Bildern, die sie mit der Kindheit verbinden. Hessels Essay »Die Kunst spazieren zu gehn«237 beschreibt die schwierige Kunst, eine Stadt zu entdekken. Flanieren ist keine Luxustätigkeit. Es ist ein Grundrecht der Ärmsten. Es ist verwandt mit der Poesie. Die Stadt verwan­ delt sich in eine phantastische Vision, die Schaufenster werden zu Landschaften, Firmennamen zu mythischen Personen. Kei­ ne Zeitung kann soviel Leidenschaft wecken wie die Mauern der Stadt mit ihren Plakaten und ihrer Reklame. Man entdeckt darin Spuren der Vergangenheit, Zeichen, die das Unbekannte offenbaren: all das Themen, die im Mittelpunkt von Spazieren in Berlin (1 929) stehen. B erliner K indheit schildert nur ein ein­ ziges Viertel, Hessel dagegen stellt mit seinen Spaziergängen die widersprüchliche Vielfalt des Berlin der zwanziger Jahre wieder her. Seine Poetik der Flanerie wird Benjamin in die Pasgleichzcitig Artikel über französische Literatur. Ab 1928 lebte er wieder in Berlin, während seine Frau und einer seiner Söhne in Paris blieben. Sein dritter, weitgehend autobiographischer Roman Heimliches Berlin erschien 1927. In der Kritik, die er für die Literarische Welt verfaßte, hob Benjamin diejenigen Züge des Romans hervor, die ihn in die Nähe der PhotomontageTechnik rückten. Der letzte Text Hessels, ein Märchen, erschien 1932. Trotz der Anweisung, die von der Reichsschrifttumskammer an die Verlage er­ ging, kein jüdisches Personal zu beschäftigen, behielt ihn Ernst Rowohlt als Lektor und vertraute ihm die Übersetzung von Jules Romains’ Hommes de bonne volonte an. Hessel blieb bis 1938 in Berlin, während ihn alle drängten, ins Exil zu gehen. E r ließ sich daraufhin in Paris nieder und begann das Ma­ nuskript Alter Mann, das seine letzten Jahre nachzeichnen sollte. Wie die meisten deutschen Emigranten, die nach Frankreich geflohen waren, lernte Hessel bald die N o t kennen und lebte in der Nähe von Toulon in Sanary, nach dem Wort Ludwig Marcuses der »Hauptstadt der deutschen Exillitera­ tur«. 1939 im Stadion von Colombes interniert und anschließend ins Lager Milles bei Aix-en-Provence deportiert, überlebte er diese letzte Internie­ rung nicht und starb am 6. Januar 1941 in Sanary. 237 In: Franz Hessel, Ermunterungen zum Genuß, S. 10 5 -111.

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sagen integrieren.238 Hessel forderte von den Berlinern, ihre Stadt mehr zu achten, ihr ein wenig von jener klassischen Liebe abzugeben, welche die Deutschen Landschaften entgegenbrin­ gen, denn für den Flaneur sind Reklamebilder ebenso schön wie die Gemälde der bürgerlichen Salons; Zeitungskioske er­ setzen ihm Bibliotheken, Briefkästen sind seine Bronzen, öf­ fentliche Bänke seine Boudoirs. Als Figur der Moderne mit einem Nimbus versehen, ist er der Priester des genius loci, der die Vergangenheit zu entziffern und in der Gegenwart den Abschied vom Gewesenen zu entdecken weiß. Benjamin be­ hauptet, er habe in dem Buch von Hessel die erste Skizze ei­ ner »Philosophie des Flaneurs« gefunden. Untrennbar von ei­ ner gewissen Verwandlung des städtischen Raums - erst seit Haussmann gibt es breite Bürgersteige und vor allem Passa­ gen ist die Pariser Flanerie auch an die Möglichkeit einer Durchdringung von Innen und Außen, Interieur und Straße, gebunden.239 Mehrere Züge des Flaneurs in dem Essay über Baudelaire und in den Exposes zu den Passagen nehmen Wort für Wort auf, was er bereits in dem Aufsatz von 1929 geäußert 238 In einem Brief vom 18. September 1929 an Scholem bezeichnet er sei­ nen Essay über Hessel »Die Wiederkehr des Flaneurs« (Literarische Welt vom 4. Oktober 1929; CS III, S. 194-199) als »ein kleines Stück aus Passagen­ zusammenhängen« (G B III, S.48$). Das Band zwischen dem Verfahren Hes­ sels und dem der Passagen wird in dem Brief an Adorno vom 31. Mai 193 j deutlich. Zur Genese seiner geplanten Arbeit schreibt Benjamin: »Da steht an ihrem Beginn Aragon - der Paysan de Paris, von dem ich des abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, daß ich das Buch aus der Hand legen mußte. Welche Warnung! Welcher Hinweis auf die Jahre und Jahre, die zwischen mich und solche Lektüre gebracht werden mußten. Und doch stammen die ersten Aufzeichnungen zu den Passagen aus jener Zeit. - Es kamen die berliner Jahre, in denen der beste Teil meiner Freundschaft mit Hessel sich in vielen Gesprächen aus dem Passagenprojekt nährte. Damals entstand der - heute nicht mehr in Kraft stehende Untertitel - »Eine dialektische FeerieBewegung< sein, sie werden sich festge­ legt haben, und den Geist nicht mehr sehen können, wo er noch reiner, ab­ strakter erscheint.« CB I, S. 175. 17 Georg Barbizon auf der einen Seite, Fritz Heinle und Simon Guttmann auf der anderen. Die Streitigkeiten gingen genau um die redaktionelle Kon­ zeption des Anfang. 18 Die Zeitschrift Die Aktion, geleitet von Franz Pfemfert, sollte eine wich­ tige Rolle für die Oppositionen gegen den Krieg von 1914 spielen. Sic vertrat

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te er, die politische Linie Wynekens zu halten. Bei einem Abend der »Freien Studentenschaft« (4. Mai 1914) hielt Benja­ min seinen im Ton bereits bitteren und ernüchterten Vortrag »Das Leben der Studenten«. E r nahm als Präsident der Berliner Gruppe im Juni 19 14 noch an dem »Freistudententag« in Wei­ mar teil und ging dann nach München, um dort wieder mit Grete Radt zusammenzukommen, die seine Verlobte werden sollte.19 Trotz seiner Zweifel an der Entwicklung der Bewegung ver­ teidigte er bis 19 14 das Ideal einer neuen Gemeinschaft, die sich im charismatischen Geist eines Führers erkennen sollte. Lange war Wyneken dessen Inkarnation, auch wenn die Freideutsche Jugend offiziell mit ihm brach, nachdem er die »anspannenden Formen«20 mißbilligt hatte, die die Bewegung in Berlin an­ nahm. Auch wenn Benjamin sich von seinen Ideen entfernte, sah er in ihm immer noch einen großen Erzieher. Beim Nahen des Krieges erlebte er ständig neue Enttäuschungen. Seine Wei­ marer Rede über »Die neue Hochschule« blieb von den meicinc der aktivistischen Richtungen des literarischen Expressionismus. Pfemfert wollte vor 1914 die Kunst zu einem politischen Instrument machen; er stand in Verbindung mit Gustav Landauer, Else Lasker-Schüler, Kurt Hillcr, Paul Scheerbart, Ludwig Rubiner und Franz Jung. Pfemfert bemühte sich, die Jugendbewegung für seine anarchistischen Ideen zu gewinnen. Vgl. Franz Pfemfert, Ich setze diese Zeitschrift wider diese Zeit. 19 Scholem berichtet von einem merkwürdigen Mißverständnis, das am Beginn dieses Verlöbnisses stand. Benjamin und Grete Radt waren seit 1913 eng befreundet. Im Juli 1914 verbrachten sic einige Wochen zusammen in den bayrischen Alpen. Da erhielt Benjamin von seinem Vater ein Telegramm mit den schlichten lateinischen Worten: sapienti sat, »dem Wissenden ge­ nügt es«. Es war eine Warnung vor dem bevorstehenden Krieg, die ihn ver­ anlassen sollte, in die Schweiz zu gehen. Benjamin sah darin eine Kritik sei­ ner Beziehung mit Grete Radt und teilte daraufhin seine Verlobung förmlich mit. Vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freund­ schaft, S. 21. Der Zufall wollte* daß ihm nach seinem Vortrag »Das Leben der Studenten« der Rosenstrauß, den ihm Grete Radt gesandt hatte, von Dora Sophie Pollak überreicht wurde, seiner späteren Frau. 20 Brief an Ernst Schoen, 23. Mai 1914, GB I, S .231.

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sten unverstanden. Er distanzierte sich zunehmend von der Bewegung und beklagte ihre »Gemeinheit und schlechte E r­ ziehung«. Vom nationalistischen Fieber angesteckt, feierte Wyneken 19 14 den Krieg als ethisches Erlebnis für die Jugend. Benjamin schrieb ihm einen pathetischen Brief, in dem er sich »gänzlich und ohne Vorbehalt« von ihm lossagte - als »letzten Erweis [seiner] Treue«: Die theoria in Ihnen ist erblindet, Sie haben den fürchterli­ chen scheußlichen Verrat [...] begangen [...]. Sie haben dem Staat, der Ihnen alles genommen hat, zuletzt die Jugend ge­ opfert. Die Jugend aber gehört nur den Schauenden, die sie lieben und in ihr die Idee über alles. Sie ist Ihren irrenden Händen entfallen und wird weiter namenlos leiden. Mit ihr zu leben ist das Vermächtnis, das ich Ihnen entwinde.21 M it der Kriegserklärung und Heinles Selbstmord verflogen seine letzten Illusionen. Sein ethischer und religiöser Anarchis­ mus wurde von den Ereignissen grausam dementiert. So brach er jede Beziehung zur Jugendbewegung ab und betrachtete sie als eine überwundene Periode seines Lebens. D ie Jugendbew egung als Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche der Wilhelminischen Zeit: d er soziologische H intergrund der frühen Schriften Benjamins In den Texten, die Benjamin während seiner Aktivitäten im Rahmen der »Freien Studentenschaft« verfaßt hat, schlagen sich manche der soziologischen Uneindeutigkeiten der Jugendbe­ wegung22 nieder. Für die Bedeutung, die diese Bewegung in 21 Brief an Gustav Wyneken vom 9. März 1915, GB I, S. 264. 22 Entstanden um 1901, wurzelten die verschiedenen Strömungen der deutschen Jugendbewegung in einer nationalistischen romantischen Tradi­ tion, die aus den studentischen Korporationen der Epoche Fichtes her­ vorgegangen war. Sic bemühten sich, Empfindung und Gefühl gegen die Vernunft zu rehabilitieren und ein Ideal zu schaffen, das sich gegen die pro­ saische Nüchternheit des Bürgertums richtete. Ihre Werte orientierten sich

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Deutschland gewann, gibt es verschiedene Gründe. Dazu gehören die rasche Industrialisierung, die die Lebensweise grundlegend veränderte; die Allmacht einer autoritären staat­ lichen Struktur, das Fehlen einer liberalen Tradition, starre und engstirnige Werte, aber auch das Fortwirken einer antiindu­ striellen, romantischen, nationalistischen und mystischen Tra­ dition, die auf kultureller Ebene immer noch lebendig war. Während sich in den meisten europäischen Ländern der Indi­ vidualismus entfalten konnte, bot ihm Deutschland Ende des neunzehnten Jahrhunderts wenig Raum. Das Land war ver­ steinert in einem überholten aristokratischen Ideal, das in dem bedingungslosen Gehorsam gegen den Kaiser und in der Ver­ gottung des Reiches symbolischen Ausdruck fand. Daß die Ideologien der Jugendbewegung mit ihrem Gemisch fort­ schrittlicher und reaktionärer Werte Jugendliche aus der Bour­ geoisie wie aus dem Proletariat ansprechen konnten, daß sich junge Leute für sie begeisterten, die sich später dem Natio­ nalsozialismus oder dem Kommunismus anschließen sollten, zeigt, daß die politische Malaise klassenübergreifend war. So konfus ihre Ausdrucksformen waren23, transportierte sie doch legitime Forderungen. Sieht man von Wyneken ab, waren die Wegbereiter dieser Bewegungen zumeist Außenseiter (Karl Fian einer gewissen antikapitalistischen Romantik und einem mystischen N a­ tionalismus, der gegen den Kult des Fortschritts und gegen die Moderne ein idealisiertes Bild des Mittelalters und der Zeit der Romantik setzte. Zur Geschichte dieser Bewegungen vgl. Walter Laqueur, Die deutscheJugendbe­ wegung, sowie die zweibändige Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 1: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung; Bd. 2: Die Wandervo­ gelzeit. Zu der ideologischen Zwiespältigkeit dieses Jugendkults vgl. den von Thomas Koebner u.a. herausgegebenen Band »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend. 23 In der Geschichte der Jugendbewegung sind zumindest zwei Phasen zu unterscheiden: die erste, romantisch-anarchische, fand ihr Ende mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Die zweite, geprägt von der Woge der »Bün­ de« in der Weimarer Republik, entwickelte innerhalb oftmals paramilitäri­ scher Organisationen immer reaktionärere Ideologien.

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scher, Hans Blüher usw.). Sie schöpften ihre Ideen sowohl aus einer zeitgenössischen Thematik (antibürgerliche Revolte, Fei­ er der Rückkehr zur Natur, Kult des völkischen Elements, etwa bei Hermann Burte) wie aus der klassischen deutschen Tradition (Fichte, Hölderlin, Goethe, Schiller). Fern den politischen Ideologien suchten viele ihre theoreti­ schen Waffen in den Werken der Literatur. Frank Wedekind, Gerhart Hauptmann, Stefan George, Carl Spitteier, Nietzsche und Hölderlin zogen sie mehr an als Marx und Engels. Gegen­ über der Politik hegten sie eine romantische Verachtung, und in dem Bewußtsein, daß die Parteien unfähig seien, ihre For­ derungen zu verstehen, wollten sie weniger die Gesellschaft verändern als ihr entfliehen.24 Den auf bloße Maximen ge­ schrumpften patriotischen Idealen setzten sie die Suche nach tieferen Bindungen an Deutschland und seine Traditionen ent­ gegen; der Zwangsjacke der Familie, der bürgerlichen Nüch­ ternheit stellten sie eine mystische Bruderschaft, der autoritä­ ren Erziehung die Magie der Erfahrung und die Entdeckung der Welt gegenüber. Diese Themen ziehen sich auch durch die Frühschriften Benjamins. Die Entstehung dieser Bewegung zu skizzieren ist nicht leicht.25 Von 1896 an führte der Stenographielehrer Hermann 24 Daher der Kult um Natur und Volkstum, der romantische Anarchismus, die Rückkehr zu einer Art von mittelalterlichem Kitsch, den sie der Indu­ strie und der Religion des Fortschritts entgegensetzten. Die Naturvereh­ rung fand in den Lagerfeuern, alten Volksliedern und langen Fußwanderun­ gen ihren symbolischen Ausdruck. Die Suche nach einem »geheimen Deutschland« führte zu der Verherrlichung der vaterländischen Traditio­ nen, des Volkes, der Heimat und zur Feindseligkeit gegenüber allem Frem­ den. 25 Ihre korporativ-hündischen und reaktionären Formen sind bis auf die Epoche Fichtes, die Burschenschaften und die Turnerbewegung Friedrich Jahns zurückzuverfolgen, die dem alten Traum der Reichseinheit, den der Wiener Kongreß nicht verwirklicht hatte, einen Sinn geben wollten. Seit Be­ ginn des neunzehnten Jahrhunderts waren in Deutschland zahlreiche streng gegliederte studentische Gruppierungen aufgetreten, die, um ihre mittel­ alterlichen Standarten geschart, Haß auf Franzosen und Juden predigten.

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Hoffmann in Steglitz, nicht weit von Berlin, eine Gruppe sei­ ner Schüler, die dem Grau der Stadt entfliehen wollten, auf lan­ gen Wanderungen durch das Land.26 An altes mittelalterliches Brauchtum anknüpfend, erlebte diese erste Gruppe unter dem offiziellen Vereinstitel »Wandervogel«27 ab 1901 eine ungeheu­ re Blüte. Bald breiteten sich über ganz Deutschland vergleich­ bare Bewegungen aus, die sich auf dieselben Werte beriefen: Diese »Burschenschaften« glaubten an die Überlegenheit der deutschen Rasse. Ihre Mitglieder verbrannten 18 17 auf der Wartburg symbolisch Papierbündei mit dem Titel von Büchern, die ihre nationalistischen Ideen abIchntcn. Man kann darin eine Vorwegnahme der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 sehen. Heine hatte prophezeit: »Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Der Einfluß der Burschenschaften, der - trotz der Kritik Nietzsches - in den stu­ dentischen Korporationen immer noch fortlebte, war jedoch weit von dem Geist entfernt, der die Jugendbewegung zu Beginn des zwanzigsten Jahr­ hunderts entstehen ließ, und erst recht von den »Freistudenten«, die ja aus­ drücklich gegen jene Korporationen auftraten. 26 Solche Aktivitäten unternahm freilich nur eine Minderheit der jungen Leute, und sic verfolgten auch keinerlei theoretischen Anspruch damit. Ihr Gründer hatte niemals daran gedacht, aus dem Wandern eine Massenbewe­ gung zu machen. Karl Fischer, der die Fackel der Steglitzer Erfahrung auf­ nahm, sollte den Rahmen dieser Wanderungen beträchtlich ausweiten. Seine Anhänger gingen mit ihren seltsamen Aufzügen und ihrem Sammclruf »Heil!« auf »große Fahrt« durch ganz Deutschland und dann Europa. Hoffmann wurde später deutscher Konsul in der Türkei, wo er für die A r­ menier cintrat; er erscheint als Figur in Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh. Als er wegen seines diktatorischen Charakters in sei­ ner Organisation auf Kritik stieß, verließ er sic und gründete den »Altwandcrvogcl«, dessen Leitung er bald an Wilhelm Jansen abgab, der sich seinerseits zurückzichen mußte, als er durch den Vorwurf homosexueller Handlungen mit Jugendlichen seiner Umgebung kompromittiert wurde, und der daraufhin den »Jungwandervogel« gründete. Fischer war jedenfalls der erste, der aus dem Wandervogel eine Massenbewegung machte. Er orga­ nisierte Touren bis an die russische Grenze. 1906 ging er nach China, diente in einem Matroscnbataillon und versuchte vergeblich, in Schanghai eine ähnliche Bewegung zu gründen. Erst 1920 kehrte er nach Deutschland zu­ rück, hielt sich der Jugendbewegung fern und starb als Vergessener 1941 in Berlin. 27 Der Name ist wohl einem 1837 verfaßten Gedicht Eichendorffs ent­ lehnt.

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Rückkehr zum einfachen Leben, Nähe zur Natur, Wille zu moralischer Erneuerung, Pflege der Tradition. N ur langsam sollte der Wandervogel eine eigene Kultur ausbilden (Theater, Puppentheater, Volkslieder und Versuche von »Volksdich­ tung«28), die die gesamte Jugendbewegung bis 1914 beeinfluß­ te. Die Originalität der Bewegung lag in dem radikalen Schnitt, den sie gegenüber der bürgerlichen Welt und ihrem Erzie­ hungssystem ziehen wollte, auch wenn sich die Jugendlichen der Autorität wirklicher »Führer« unterstellt sahen. Trotz ih­ rer zahlreichen Spaltungen organisierten diese Bewegungen im September 19 13 auf dem Hohen Meißner den »Ersten Frei­ deutschen Jugendtag« - an dem Benjamin teilnahm - , der ihren symbolischen Höhepunkt darstellte.29 Die programmatische 28 Obwohl der Wandervogel Hunderttausende junger Leute versammel­ te - unter ihnen mehrere, die später in der Weimarer Republik bedeutende Schriftsteller werden sollten (von Ernst Jünger bis Ernst Erich Noth) gibt es keinen Roman, in dem diese erhebende Erfahrung zum Thema geworden wäre. A u f theoretischer Ebene war die Kultur des Wandervogels recht arm. Die Zeitschriften, von denen cs eine ganze Menge gab, waren mit jugendstilähnlichen Zeichnungen illustriert. Die Wandervögel gaben Theatervorstel­ lungen, führten auf Dorfplätzen Tänze auf und trugen vor allem Lieder vor. Aus Leidenschaft für Volksüberlieferungen legten sic Sammlungen verges­ sener Volkslieder an, deren Quellen manchmal bis ins Mittelalter reichten. 29 Dieses als »Jugendfest« bezeichnete Treffen hinterließ in der Vorstcllungswelt der Teilnehmer tiefe Spuren (vgl. Dr. August Messer, Die freideut­ sche Jugendbewegung). Auf verschiedene Aufrufe hin, die zum Teil von Schriftstellern und angesehenen Persönlichkeiten der universitären Welt ausgingen, fanden sich Tausende von Wandervögeln und Freistudenten aus Freiburg, Berlin, Göttingen, Jena und Marburg auf dem Hohen Meißner in der Nähe von Kassel ein, um die Geschlossenheit ihrer Revolte und die Übereinstimmung ihrer Bestrebungen zu feiern. Das gewählte Datum - der hundertste Jahrestag der Kriege gegen Napoleon - knüpfte an die Fichtesche Tradition an. Die Gruppen, die hier zusammenkamen (unter anderem Wandervogel, Burschenschaft Vandalia-Jena, Jungwandervogel, Deutsche Akademische Freischar, Deutscher Vortruppbund, Deutscher Bund absti­ nenter Studenten, Freistudenten), waren so gegensätzlich und in ihren po­ litischen Orientierungen so unversöhnlich, daß auf der Versammlung die widersprüchlichsten Reden gehalten wurden. Die alten studentischen Ver­ bindungen hatten ihren Mitgliedern von der Teilnahme abgeraten. Die für fortschrittliche Ideen gewonnenen Jugendlichen übersahen nicht, daß die

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Geschlossenheit, die dieses Treffen demonstrieren sollte, er­ wies sich als tragische Illusion. Die Bewegung des Hohen Meißner war unfähig, eine Haltung zu den Konflikten der Epoche zu finden. 19 14 zogen Freistudenten und Wandervögel die Uniform an, oft ohne Begeisterung, manchmal als Kriegs­ freiwillige. Der Idealismus, der sie zum Glauben an das Kom ­ men einer neuen Welt getrieben hatte, stürzte sie in den Tod. In der Schlacht bei Langemark (November 1914) wurden sie, mit Nietzsche und Stefan George im Tornister, singend beim Sturm auf die englischen Schützengräben zu Tausenden von den Maschinengewehren niedergemäht.30 Ihr nutzloses Opfer sollte zum Symbol werden für die folgende Generation, deren verfeindete Fraktionen einander auf den Straßen bekämpften.

Organisationen der jüdischen Jugendbewegung ausgeschlossen worden wa­ ren. Die erbitterten Individualisten des Wandervogels bedauerten, daß man eine so große Zahl von Erwachsenen cingeladen hatte. Sie beklagten die Lee­ re der politischen Reden, verurteilten die absurden Erziehungsmethoden und stellten den starren Maximen ihre eigenen Ideale, ihren Durst nach Frei­ heit und Reinheit entgegen. Zu den Teilnehmern gehörten ebensowohl die Mitglieder des Wandervogels wie studentische Gruppen, die den verknö­ cherten Riten der Korporationen feindselig gegenüberstanden, Sympathi­ santen der Sozialdemokratie ebenso wie Anhänger der »Rassenhygiene«. Unter den Intellektuellen, die sich dieser Demonstration anschlossen, in­ dem sie mitfuhren oder Grußwortc sandten, waren Paul Natorp, Gerhart Hauptmann, Gustav Wyneken, Alfred Weber und Ludwig Klages die be­ rühmtesten. Symbolträchtig versicherte Wyneken in seiner Ansprache, die Seele lasse sich in keine Uniform stecken. Und die Wandervögel erklärten in dunkler Voraussicht, wenn schon ihr Leben nicht glücklich sei, so werde doch immerhin ihr Tod heroisch sein. Zum Abschluß wurde Goethes Iphi­ genie aufgeführt. 30 Mehr als vierzehntausend Wandervögel standen 1914 an der Front. Viele ihrer Führer fanden den Tod (Hans Wix, Hans Breuer, Walter Illgen, Chri­ stian Schneehagen, Rudolf Sievens, Frank Fischer).

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W andervogel, Freideutsche Ju gend und jüdische Jugendbewegung

Die frühesten Schriften Benjamins erlauben es nicht, seihe Po­ sition zu der Gesamtheit dieser Bewegungen genauer zu be­ stimmen. Dem romantischen und nationalistischen Anarchis­ mus der Wandervögel stand er kritisch gegenüber-wenngleich Fritz Heinle sich um eine Annäherung zwischen ihnen und den freien Studenten bemüht hatte31 und ihre Revolte gegen die Familie und die Städte blieb ihm fremd. Die oftmals feindselige Haltung der Wandervögel zu den Juden genügte, um ihn von ihnen fernzuhalten, auch wenn zwischen seinen frühesten Tex­ ten und einigen ihrer Aufrufe32, deren Vokabular er sich manchmal bedient33, Verwandtschaften bestehen. Anfangs war der Wandervogel eine idealistische Reaktion auf das repressive Klima des Wilhelminischen Zeitalters, ein Aufstand gegen die Industriekultur.34 Zwar versuchten Theoretiker wie Hermann 31 Vgl. den Brief an Herbert Blumenthal vom 30. Juli i 9 i3 ,G 5 I ,S . 156. Zu dem Unbehagen, das der Rekurs auf die germanische Vergangenheit im Rahmen eines romantischen Antikapitalismus bei den jüdischen Intellektu­ ellen wecken mußte, vgl. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, S. 53. 32 Wyneken selbst unterhielt zwiespältige Beziehungen zu der Bewegung. Mehrfach versuchte er, maßgeblichen Einfluß auf ihre theoretische Rich­ tung zu bekommen, und betrachtete ihre Manifeste als Illustration seiner Thesen. Die Wandervögel interessierten sich wenig für seine Schriften, auch wenn ihr Romantizismus, die Feier der Autonomie der »Jugendkultur« und die Bedeutung, die sie der individuellen Erfahrung zusprachen, sie den The­ sen Wynekens annäherten. 33 Etwa des Begriffs »Fahrt« zur Bezeichnung ihrer Treffen. 34 In seiner ersten Phase (unter Hermann Hoffmann, Karl Fischer) be­ schränkte er sich darauf, weite Fußwanderungen (»große Fahrten«) zu or­ ganisieren. Dieser zugespitzte Individualismus war auch für die Studenten anziehend. Obschon sie ihre Ideale, ihre Vorstellung eines kommenden »Reichs der Jugend« und ihre mystische Vaterlandsliebe nicht teilten, ob­ wohl sie wenig geneigt waren, sich jenen »Horden« anzuschlicßcn, die mit ihren selbstgefertigten hölzernen Handpuppen Deutschland durchstreiften,

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Popert sehr früh, »kämpferische« Elemente in die Bewegung einzubringen, doch insgesamt sollte sie unpolitisch bleiben.35 Die Schule, so hieß es in ihren Zeitschriften immer wieder, ge­ höre dem Staat und nicht der Jugend, während sie den Traum eines abenteuerlichen Lebens auskosten wollten, einen Traum, der an die Romane Karl Mays anknüpfte. Da sie - außer dem berühmten »Laßt uns singen und fröhlich sein« - kein wirkli­ ches Programm hatten, werden Wynekens Bemühungen ver­ ständlich, diese theoretische Leere zu füllen und die Bewegung für seine Sache einzuspannen.36 Ihm schien es für die Jugend wichtiger, Bach, Beethoven oder Mozart zu verstehen, als sich das deutsche Volkslied wieder anzueignen.37 Gegen die Flucht aus den Städten setzte er ein konstruktives Reformprogramm, das sich in den »Freien Schulgemeinden« verkörperte. Die Entstehung der »Freideutschen Jugend«38, in der Benjasymbolisierte der Wandervogel auch für die Studenten einen Raum des Traums und der Freiheit. 35 Die Konfusion ihrer Ideale zog Anhänger »völkischer« und bäurischer Ideologien, die sich später dem Nationalsozialismus anschlossen (Hermann Burte), ebenso an wie spätere antifaschistische oder kommunistische Akti­ visten (Ernst Erich Noth, Alfred Kurelia). Gustav Wyneken und Paul Natorp - Persönlichkeiten, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten - nah­ men die Bewegung in Schutz. 36 In einem Text von 1913 - »Wandervogel und freie Schulgemeinde«, in: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Bd. 1, S. 84 ff. - präzisierte Wyneken anhand der Theorien Hans Blühers seine Position gegenüber dem Wandervogel. Er beanspruchte die Urheberschaft für die Forderung nach einer »Jugendkultur«, die er mit der archaischen und keineswegs spontanen »Volkskultur«, die die Wandervögel feierten, nicht verwechselt wissen woll­ te. Während die Ideen und reformpädagogischen Projekte Wynekens für die Studenten attraktiv waren, konnten die Wandervögel mit seinem fortwäh­ renden Verweis auf den Hegclschen Weltgeist nichts anfangen. 37 Wyneken erneuerte seine Kritik in systematischerer Form in dem Vor­ trag »Was ist Jugendkultur ?«, den er am 30. Oktober 19 13 vor der Münche­ ner Freistudentenschaft hielt. 3 8 Der Name »Freideutsche Jugend« wurde von F. W. Fulda geprägt, einem der Führer des Wandervogels, um diese Bewegung von politischen und kon­ fessionellen Organisationen zu unterscheiden.

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min aktiv war, zeigt den Graben, der sich zwischen der studie­ renden Jugend und den alten studentischen Korporationen aufgetan hatte.39 In der Hoffnung, diese Organisationen in ei­ ner umfassenden Bewegung zu sammeln, warf die Freideut­ sche Jugend dem Wandervogel vor, sich mit einem roman­ tischen Protest zu begnügen und theoretische Debatten zu verweigern. Als Wyneken im Januar 19 14 heftig angegriffen wurde, distanzierten sich die Freistudenten von ihm aus strate­ gischen Gründen. Gleiches tat die Marburger »Freischar« in Anwesenheit Paul Natorps (7.-8. Mai 1914), gefolgt vom Wan­ dervogel und dem Akademischen Comite für Schulreform. Da Benjamin nur auf Gleichgültigkeit und Unverständnis stieß, wenn er versuchte, die metaphysischen und religiösen Ansprü­ che seiner messianischen Vision anderen deutlich zu machen, brach er mit den Freistudenten und verlor jedes Interesse an der Entwicklung der Jugendbewegung in Deutschland. Meh­ rere seiner ehemaligen Freunde blieben in der »Freien Jugend« tätig, nachdem er sich von ihr entfernt hatte. Ernst Joel und Karl Bittel40 gehörten später einer religiös-sozialistischen Gruppe 39 Dieses Streben nach neuen Werten bringt Benjamin in seinem Vortrag »Das Leben der Studenten« klar zum Ausdruck. 40 Zw ar hatten sie kaum Marx gelesen und fühlten sich von der Sozialde­ mokratie wenig angezogen; beide waren aber stark von den utopistischcn Theorien Gustav Landauers und der Gescllschaftsphilosophie Tolstois ge­ prägt. Ernst Joel gab später jegliche politische Tätigkeit auf und starb um 1930; Karl Bittel schloß sich der Kommunistischen Partei an und ließ sich 1948 in der DDR nieder. Ernst Joöl spielte in Benjamins Leben zweimal eine Rolle. Er war zunächst sein Gegner innerhalb der »Freistudenten«; später, als er Arzt geworden war, gab er den Anstoß zu Benjamins Haschisch-Ex­ perimenten. So schrieb Benjamin an Scholem: »Ich selber kenne den Betref­ fenden aus meiner berliner Studentenzeit, da er Vorsitzender des sogenann­ ten sozialen Amtes war und in der Rede, welche ich im Mai 1914 bei Übernahme meines Präsidiums hielt, von mir mit einer Kriegserklärung in aller Form bedacht wurde. Er und ein anderer meiner Opponenten aus jener Zeit haben sich durch Gottes - oder Satans - Fügung wunderbar verwandelt und sind zu Karyatiden an dem Portal geworden, durch das ich nun schon zweimal in die Bezirke des Haschisch eingegangen bin.« Brief vom 30. Janu­ ar 1928 an Scholem, CB III, S. 324.

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um die Zeitschrift D er Atiforuch an.41 1916 entstand in Berlin unter der Leitung von Max Hodann und Wolfgang Breithaupt die »Centralarbeitsstelle für Jugendbewegung«. Ihr Pazifismus führte dazu, daß sie 19 17 von der Armee aufgelöst wurde. A l­ fred Kurella, ehemaliger Führer einer Wandervogelgruppe, arbeitete im selben Jahr mit einigen Freunden ein linkes Ju ­ gendprogramm aus, ehe er sich der Kommunistischen Partei anschloß. Während viele ehemalige Mitglieder der Jugendbe­ wegung den gleichen Weg gingen, schlossen sich andere rechts­ extremen Gruppen an (»Jungdeutscher Bund«, »JungbornBund« usw.), und ihre Nachfolger verstärkten die Reihen der Hitlerjugend. Von ihren ideologischen Widersprüchen zerris­ sen, löste die Bewegung in der Weimarer Republik noch zahl­ reiche theoretische Diskussionen aus, an denen Hermann Kantorowicz, Walter A . Berendsohn und Karl August Wittfogel teilnahmen; Benjamin blieb ihnen fern.42 Während er sich vor seiner Begegnung mit Gershom Scholem mit den spezifischen Problemen der jüdischen Jugend kaum befaßt hatte, erschienen ihm nach einem Aufenthalt in Stolpmünde mit Franz Sachs »zum ersten Male [...] Zionismus und zionistisches Wirken als Möglichkeit und damit vielleicht einmal als Verpflichtung«.43 Am 4. Juni 1913 erkundigte ersieh 41 Diskutiert wurde über Kierkegaard, über Landauers Utopismus und seine Agrargemeinschaften sowie über Gedichte von Walt Whitman (in der Übersetzung Landauers). 1915 veröffentlichte Ernst Joel im Aufbruch sei­ nen Essay »Die Jugend in der sozialen Frage«. Sie betrachteten Fichte als den ersten deutschen Sozialisten. Friedrich Baumeister entwickelte eine Theorie des Klassenkampfes innerhalb der Jugend. Weitere Mitglieder der Gruppe waren Hans Blüher, Kurt Hiller, Rudolf Leonhard, Hans Reichen­ bach, Gustav Landauer und Alfred Wolfenstcin. 42 Zu dem tragischen Schicksal der Jugendbewegung nach 1914 vgl. den Roman von Peter Martin Lampel, Verratene Jungen. Lampel war Mitglied der Freikorps; sein Werk wurde von den Nazis verboten, und er mußte ins Exil gehen. Berühmtheit hatte Lampel mit seinem Stück Revolte im Erzie­ hungshaus erlangt. 43 Brief an Herbert Blumenthal vom 12. August 1912, G B I, S. 59.

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bei Franz Sachs, was dieser von einer geplanten »Jüdischen Freien Schulgemeinde« wisse44, zweifellos weil er sich der anti­ semitischen Tendenzen bewußt war, die viele Jugendorganisa­ tionen prägten.45 Das Bild des Wandervogels wirkte auf viele jüdische Jugendliche verführerisch, und so entstand im Juli 19 12 der »Jüdische Wanderbund Blau-Weiß«, der die Rück­ kehr zur Natur mit jüdischer Spiritualität verknüpfte, in der Hoffnung, daß sich seine Mitglieder später dem Zionismus an­ schlössen.46 Gershom Scholem kritisierte sie heftig; er hielt es für nützlicher, zur hebräischen Tradition zurückzu kehren, als die Natur zu betrachten und dabei »vierhundert Jahre alte Landsknechtlieder« zu singen.47 Der Wanderbund Blau-Weiß 44 Brief an Franz Sachs vom 4. Juni 1913, GB I, S. 102. 4 j Der Antisemitismus in den Studentenverbindungen war notorisch. Da Juden dort nicht zugclasscn waren, gründeten sie ab 1896 eigene Verbindun­ gen (über zwanzig), die unter der Bezeichnung »Kartell-Convent der Ver­ bindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens« auftraten. Sic imitier­ ten die anderen Korporationen und praktizierten das Duell. Die Haltung des Wandervogels war komplizierter. Während er sich gegen jeden Antise­ mitismus verwahrte, hielt er gleichwohl die Juden von seinen Aktivitäten fern und rechtfertigte diesen Ausschluß mit dem Wunsch, eine »rein deut­ sche« Kultur zu schaffen (vgl. Wandervogelführerzeitung, April/Mai 19 11, Nr. 4/5; Juni 1914, Nr. 6). Auf jeden Fall fühlten sich die Juden gegenüer ih­ rer mystischen Mittelalterverehrung und ihrem Kult des Volkslieds fremd; die meisten waren dennoch bestrebt, ähnliche Organisationen aufzubauen (vgl. Cora Berliner, Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland). Sie waren im »Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands« zusam­ mengefaßt, dem 1909 fünfundzwanzig Organisationen angehörten; 1914 waren es cinhundertachtundzwanzig mit mehr als zwanzigtausend Mitglie­ dern.

46 Die Texte dieser Bewegung sind von den Zeitschriften des Wandervogels inspiriert und entwickeln den gleichen Romantizismus. Der Gruß »Heil!« wurde durch »Hedad!« ersetzt (hebr. »Hurra«), das mittelalterliche Liedgut durch jüdisches. Der gleiche Kult um den »Führer« ließ sich dort finden ... sofern er nur für die Sache des Zionismus gewonnen war. Auch eine militäri­ sche Seite der Bewegung wurde nicht von vornherein ausgeschlossen (vgl. Leitfaden fü r die Gründung eines jüdischen Wanderbundes »Blau-Weiß«,

Berlin, November 1913). 47 Gershom Scholem, »Mit Gershom Scholem. Gespräch im Winter 1974/ 75«, in: ders., »Es gibt ein Geheimnis in der Welt*, S.62.

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zerfiel 1926; manche seiner Mitglieder schlossen sich den lin­ ken Parteien an, andere ließen sich in Palästina nieder. N ur mit­ telbar, über Scholem, verfolgte Benjamin die Entwicklung die­ ser Bewegung. Utopie, Pädagogik und Messianismus in den frühen Schriften Benjamins Von den ersten Texten48 an, die er unter dem Pseudonym A rdor in D er Anfang veröffentlichte, bis hin zu dem Vortrag über »Das Leben der Studenten« (Mai 1914, gedruckt September 1915) bekräftigt Benjamin die Notwendigkeit einer Erzie­ hungsreform, einer Kritik der Universität und ihrer Werte, die auf der Gewißheit der messianischen Rolle der Jugend grün­ den. Die Mehrzahl dieser Schriften beweist eine überraschende Reife in der Darlegung der Gedanken. Durch ihre romantische Verpackung hindurch zeichnen sich mehrere grundlegende Themen seiner Geschichtsphilosophie ab. Von vornherein betrachtet Benjamin Jugend als eine ethische Kategorie. In einer Epoche, die er in »Das Dornröschen« als die des Sozialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs und des Individualismus charakterisiert, sei es bedauerlich, wenn Jugend auf den bloßen Übergang zum Erwachsenenalter redu­ ziert werde. Unter Rekurs auf Schiller, Goethe und Nietz­ sche - und später auf Fichte und Hölderlin - vergleicht er sie mit Dornröschen, das auf den Prinzen wartet, der es wecken wird, und mit Hamlet, der die Welt nur mit Abscheu betrach­ 48 Siche insbesondere »Das Dornröschen« [19 11], »Die Schulreform, eine Kulturbewegung« [1912], »Unterricht und Wertung« [1913], »Romantik« [1913], »Der Moralunterricht« [1913], »Erfahrung« [1913], »Gedanken über Gerhart Hauptmanns Festspiel« [19 13], »Ziele und Wege der studen­ tisch-pädagogischen Gruppen an reichsdeutschen Universitäten« [1913], »Die Jugend schwieg« [1913], »Studentische Autorenabende« [1914], »Ero­ tische Erziehung« [19x4], »Die religiöse Stellung der neuen Jugend« [1914], »Metaphysik der Jugend« [19 13] (alle CS II. 1).

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ten kann, aber seiner Mission gewiß ist, sie wieder »einzuren­ ken«. Sosehr die Probleme der Großstädte, das soziale Elend den jungen Menschen zu Pessimismus verleiten können, um so mehr hält er es für seine Aufgabe, diesen zu überwinden, um sich an die Veränderung der Welt zu machen. Diese revolutio­ näre Romantik, die Benjamin in die Nähe von Schillers Karl M oor rückt und die er selbst als »hamletisches Bewußtsein« bezeichnet, betont die enge Bindung der Jugend an Utopie und Ethik. Benjamin wirft der bürgerlichen Kultur vor, die Ideale der klassischen Kultur verraten zu haben, und glaubt sie in be­ stimmten modernen Werken, wie denen Carl Spittelers49, und in den Schriften Wynekens wiederzufinden. Als eine geistige Gemeinschaft, die sich ihrer Herausforderung zu stellen ver­ mag, kommt der Jugend in seinen Augen eine messianische Aufgabe zu.50 In enger Zusammenführung einer romantischen Religiosität und einer kantischen Sichtweise skizziert Ben­ jamin seine Theorie der »Erfahrung«. Erfahrung ist der Bann­ fluch, den der Erwachsene dem Kind entgegenschleudert. Benjamin macht in dieser Haltung die Maske des Philisters deutlich, der nie aufgehört hat, seine Träume zu verraten. Mit all dem, was sie an Ungewissem, Irrendem oder Vergänglichem enthält, ist die Erfahrung für Benjamin eine einzigartige, indi­ 49 Carl Spitteier, der von Wyneken verehrt wurde, hatte mit seinen frühen Schriften erheblich zur Entwicklung einer Religiosität beigetragen, die für die Jugendbewegung prägend werden sollte. Benjamin hatte mehrere seiner Werke gelesen, darunter Prometheus und Epimetheus, Der Olympische Frühling und Imago. jo Als Bezugspunkt dient ihm dabei seltsamerweise das Christentum und nicht etwa das Judentum. Vgl. den Brief an Carla Seligson vom 1 5. Septem­ ber 19 13, G B I, S. 175, wo das Messianische mit dem Bild eines Reichs Gottes verknüpft wird, das ein jeder in sich trägt. Der zum Rang eines Mythos er­ hobene Christus spielte auch in der philosophischen Auffassung Wynekens eine wichtige Rolle. Gleichwohl warf Wyneken der katholischen Kirche vor, nur an die Erlösung des Menschen zu denken, ohne die Natur darin ein­ zuschließen. Darum interessierte er sich auch für die Gnosis und die Mysti­ ker. Benjamin hatte damals bereits Angelus Silesius gelesen.

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viduell zu erlebende Wirklichkeit, von der nichts zu opfern ist. Der Artikel »Erfahrung« (1913) und vor allem »Metaphysik der Jugend« (1913) beschwören die Möglichkeit einer wirkli­ chen Erlösung der modernen Kultur durch die Jugend.51 In seinem »Dialog über die Religiosität der Gegenwart«, den er nur als Typoskript unter seinen Freunden zirkulieren ließ zweifellos die Fortsetzung seiner Diskussionen mit Ludwig Strauß - , verweist die »neue Religion« nicht auf eine mythische Natur wie bei Wyneken, sondern auf die »geistige Not«, die eine neue Generation empfindet.52 Dem politischen Engage­ ment - etwa dem Zionismus53 - stellt Benjamin »dies ständig vibrierende Gefühl für die Abstraktheit des reinen Geistes«54 gegenüber, das der Jugend eigen ist. In ihr kann sich das »Reich Gottes« vergegenwärtigen, das ein jeder in sich trägt und das sich in der Liebe ausdrückt. Der Vortrag »Das Leben der Stu­ denten«55 von 1914, in dem er noch stärker das einigende Band zwischen seiner Konzeption der Jugend und der Philosophie der Geschichte56 hervorhebt, stellt den letzten Versuch Benjaj 1 Vgl. den Brief an Carla Seligson vom 8. Juli 1913, CB I, S. 138. 52 Für sie stehen in diesem Dialog symbolisch die Intellektuellen: die Kaf­ feehaus-Literaten, die »Geknechteten« [GS II. 1, S.28L]. 53 Wenngleich er anerkennt, daß der Zionismus eine Möglichkeit bildet, schreibt er in ziemlich rätselhafter Manier am 17. November 19 13 an Carla Seligson: »Gestern sagte ich zu Heinlc: jeder von uns ist gläubig, aber es kommt darauf an, wie man an seinen Glauben glaubt. Ich denke (nicht so­ zialistisch, sondern in irgend einem andern Sinne) an die Menge der Ausge­ schlossenen und an den Geist, der mit den Schlafenden im Bunde ist nicht mit den Brüdern« (G B I, S. 182). Diese Sätze erinnern von fern an die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940, insbesondere die siebte, achte und neunte, welche »die Tradition der Unterdrückten« und die Toten ins Gedächtnis rufen, die der Engel der Geschichte wecken soll. 54 Brief an Carla Seligson vom 15. September 19 13, GB I, S. 175. 5j Zuerst veröffentlicht in Der Neue Merkur, September 1915 [GS II.i, S. 75-87]. j 6 »Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlich­ keit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschrittes dahinrollen. Dem ent­ spricht die Zusammenhanglosigkcit, der Mangel an Präzision und Strenge

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mins dar, den Studenten seine Sicht der Welt zu vermitteln. Die widersprüchlichen Aspekte der Wirklichkeit gewinnen ihren Sinn erst, wenn man sie zu einem Zustand ins Verhältnis setzt, der »nur in seiner metaphysischen Struktur zu erfassen [ist], wie das messianische Reich oder die französische Revolutions­ idee«.57 Uber die bloße Beschreibung des studentischen Le­ bens hinausgehend, hofft er auf eine Metaphysik, die »das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen er­ kennend zu befreien« vermöchte. Seine Kritik richtet sich ge­ gen die falsche Konzeption von Wissenschaft, auf der die Uni­ versität beruht, nämlich »die Übereinkunft der Hochschule mit dem Staate, die sich mit ehrlicher Barbarei nicht schlecht verstünde«. Angesichts der kläglichen Passivität der Studen­ ten, ihrer Ergebung in diese Lage, zweifelt Benjamin an ihrer Fähigkeit, einem solchen Mißstand abzuhelfen. Das Engage­ ment mancher Studenten auf dem Gebiet der »sozialen Arbeit« oszilliert zwischen mechanischem Pflichtgefühl und individu­ ellem Gnadenakt: keine geistige Erneuerung kann daraus her­ vorgehen.58 Sowohl bei den »freien Studenten« wie bei den Anhängern eines solchen Engagements bleibt die Universität von der Gemeinschaft abgeschnitten und wird nicht zum Geder Forderung, die sie an die Gegenwart stellt. Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in ei­ nem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den utopischen Bildern der Denker« (GS II. i, S.75). Diese Kritik des Begriffs eines unendlichen hi­ storischen Fortschritts bildet den Kern der Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. 57 Ebd., S.75. 58 »Jener Tolstoische Geist, der die ungeheuere Kluft zwischen dem Bür­ ger- und Proletarierdasein aufriß, der Begriff, daß den Armen dienen eine Menschheitsaufgabe, nicht Sache des Studenten im Nebenamt sei, der hier, gerade hier alles oder nichts forderte, jener Geist, der in den Ideen der tief­ sten Anarchisten und in christlichen Klostergemeinschaften erwuchs, dieser wahrlich ernste Geist einer sozialen Arbeit, der aber der kindlichen Versu­ che der Einfühlung in Arbeiter- und Volkspsychc nicht bedurfte, ist in stu­ dentischen Gemeinschaften nicht erwachsen.« Ebd., S. 79.

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genstand radikaler Kritik. Die Bewegung der »freien Studen­ ten«, die der Bahn des Liberalismus folgt, ist ebenso wirkungs­ los geblieben wie die alten Korporationen.59 Als das von allen Parteien und Bünden verhätschelte Kind bleibt die Studenten­ schaft im Schlepptau der öffentlichen Meinung.60 Benjamin konstatiert die tiefen Gräben, die zwischen Lehre, Kultur und Leben, Theorie und. Anwendung liegen, und setzt wahrhaftes Schöpfertum gegen das universitäre Wiederkäuen. Da jedoch weder die - durch und durch reaktionäre - Professorenschaft noch die Studenten imstande sind, die Wirklichkeit zu verän­ dern, träumt er von einer Erneuerung von innen heraus, bei der jeder in Schweigen und Einsamkeit zu wirken versteht, mehr als in sozialem Aktivismus. Daß dieser Vortrag auf allgemeine Gleichgültigkeit stieß, ist nicht verwunderlich.61 In der B erliner Chronik zieht Benjamin die Lehre aus diesem Scheitern.62 Nie, so gesteht er, war er en­ ger mit Berlin verbunden als in jener Zeit, in der er glaubte, 59 »Das heutige Studententum ist keineswegs an den Stellen zu finden, wo um den geistigen Aufstieg der Nation gerungen wird, keineswegs auf dem Felde seines neuen Kampfes um die Kunst, keineswegs an der Seite seiner Schriftsteller und Dichter, keineswegs an den Quellen religiösen Lebens. Nämlich das deutsche Studententum als solches - das existiert nicht.« Ebd., S.80. 60 Benjamins Überlegungen sind weitgehend von dem Fichteschen Text »Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden hohem Lehranstalt« ge­ prägt, den er als »mutige Denkschrift« bezeichnet (Brief an Herbert Blumcnthal vom 15. Mai 1914, GB I, S. 226). Er schreibt: »In Weimar werde ich meine Rede nicht als Festrede, sondern während der Tagung halten, weil man sie diskutieren will. Auch dazu ist Fichte gut und Nietzsche wird gut sein: von der Zukunft unsrer Bildungsanstalten« (ebd.). Benjamin spielt an auf Nietzsches 1872 in Basel gehaltene Vorträge »Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten«, in: Werke, Bd. III, S. 175-263. 61 Am 22. Juni 1914 schrieb er an Ernst Schoen: »Ich beging die Torheit, diesen Leuten eine Rede über die neue Hochschule zu halten, in der ein ge­ wisser Anstand, eine gewisse geistige Einstellung vorausgesetzt [...] war. Dies war ein großer Fehler und ermöglichte trottelhaften Gemütern eine so­ genannte Übereinstimmung mit mir in prinzipiellen Fragen.« GB I, S.236. 62 Berliner Chronik, GS VI, S. 478.

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durch die Schulreformbewegung den Stimmen Hölderlins und Georges ihren gebührenden Platz zu geben. Und er beurteilt jene Jahre als einen »äußerstefn], heroischefn] Versuch, die Haltung der Menschen zu verändern ohne ihre Verhältnisse anzugreifen«.63 Diese Generation hatte in ihrer Empörung über die Unmenschlichkeit kein Bewußtsein ihrer Ohnmacht erlangt und wäre nicht einmal dann umzustimmen gewesen, wenn sie ihre Grenzen gekannt hätte. So vertraute er Ernst Schoen am 30, Juli 191 7 an: Wenn w ir uns Wiedersehen werden wir über die Jugendbe­ wegung sprechen deren Sichtbares so vollkommen mit so er­ schütternder Gewalt untergegangen ist. Alles, außer dem ^wenigen wodurch ich mein Leben zum leben bestimmen ließ, dem ich in den letzten beiden Jahren mich zu nähern suchte, war Untergang und ich finde mich hier in vielfachem Sinne gerettet: nicht zur Muße Sicherheit Ruhe des Lebens, wohl aber entronnen dämonischen gespenstischen Einwir­ kungen die wo wir uns hinwenden am Herrschen sind und entronnen der rohen Anarchie, der Gesetzlosigkeit des Lei­ dens.64

63 Ebd. 64 Brief an Ernst Schoen vom 30. Juli 1 9 l 7 >

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Vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der zwanziger Jahre: vertiefte Beschäftigung mit dem Judentum, Ausarbeitung der Grundlagen einer Metaphysik der Sprache Von 1913 bis 1924 fand Walter Benjamin in Gerhard Scholem einen bevorzugten Gesprächspartner. Ihre philosophischen Ideen entwickelten sich oftmals ausgehend von gemeinsamen Diskussionen und Lektüren. Unter Scholems Einfluß drang Benjamin tiefer in die jüdische Tradition ein und entdeckte den Zionismus als geistiges Ideal. Bis zum Beginn der zwanziger Jahre ist seine theoretische Entwicklung von dieser Freund­ schaft nicht zu trennen. Die Einzigartigkeit des biographi­ schen Weges, den Gerhard Scholem nahm, verdient es, daß wir uns einige seiner Etappen vergegenwärtigen. Gershom Scholem (1897-1982): das Leben eines Kabbalaforschers Was ich damals ergreifen zu können glaubte und worüber ich in meiner Jugend manche Hefte vollgeschrieben habe, verwandelte sich in diesem Griff, und aus dem Be-Griff, den ich anstrebte, wur­ de etwas, was sich, je älter ich wurde, desto nachdrücklicher den Begriffen versagte, weil es ein geheimes Leben freigab, das auf Be­ griffe zu bringen ich als unvollziehbar erkennen mußte und das nur noch in Symbolen darstellbar erschien. Gershom Scholem1 1 Gershom Scholem,

Von Berlin nach Jerusalem , S. 54.

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Gerhard Scholem - der später den hebraisierten Vornamen Gershom annehmen wird, weil er die jüdisch-deutsche Assimi­ lation ablehnte - wurde 1897 in Berlin2 in eine aus Nieder­ schlesien stammende Familie hineingeboren, die sich seit drei Generationen im Osten der Hauptstadt niedergelassen hatte, w o sie mehrere kleine Druckereien besaß. Der Assimilations­ prozeß dieser einst sehr frommen schlesischen Juden war be­ reits weit vorangeschritten, als er zur Welt kam.3 Die intellek­ tuellen Betätigungen der Scholems hielten sich in Grenzen. Wie viele deutsche Juden, die dem liberalen Bürgertum ent­ stammten, lehnten sie die zionistischen Ideen ab.4 Schon sehr früh empfand Scholem die Assimilation als Selbstbetrug. Er beschloß, sich in die jüdische Tradition zu vertiefen, Hebräisch zu lernen, hing daraufhin den zionistischen Idealen an, wäh­ rend seine Brüder entgegengesetzten Wegen folgten.5 Inner­ 2 Zu den Hauptetappen seines Lebens vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft; Von Berlin nach Jerusalem sowie das in dem Band »Es gibt ein Geheimnis in der Welt« veröffentlichte Gespräch. 3 In seinen Memoiren Von Berlin nach Jerusalem erinnert sich Scholem nicht ohne Trauer daran, daß zu Hause jüdische Redewendungen verpönt waren. Die religiösen Feste wurden nur als Familienfeste begangen. Man sang Gebete auf hebräisch, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Nicht einmal an Jom Kippur wurde das Fastengebot eingehalten. 4 Mit Ausnahme seines Onkels Theobald Scholem, der ab 1905 die beiden Organe der deutschen zionistischen Bewegung druckte, die Jüdische Rund­ schau (die 1896 gegründet wurde und 1938 unterging; Benjamin veröffent­ lichte darin seinen Essay über Kafka) und D ie Welt (gegründet von Theodor Herzl). Trotzdem gab es wenig Beziehungen zwischen dem eklektischen Zionismus dieses Onkels und demjenigen Scholems. 5 Werner interessierte sich ab 19 12 für den politischen Aspekt des Zionis­ mus und schloß sich der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend an. Der älte­ ste der Brüder, Reinhold, entwickelte sich nach rechts und vertrat die Assi­ milation noch radikaler als sein Vater. Er wurde Mitglied der Deutschen Volkspartei und wäre, wie Scholem lakonisch bemerkt, auch den Deutschnationalen beigetreten, wenn sie denn Juden zugelasscn hätten. 1938 emi­ grierte er nach Australien. Der dritte Bruder interessierte sich nie für Po­ litik. - Die Entwicklung Werner Scholems weist starke Parallelen mit derjenigen Georg Benjamins auf: Er wurde Kommunist.

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halb des Kreises »Jung Juda« entdeckte er die jüdische G e­ schichtsschreibung und die jiddische Literatur. Das Studium des Hebräischen bei dem Rabbiner einer kleinen orthodoxen Berliner Synagoge führte ihn zum Talmud, den er fünf Jahre lang »lernte«. Ihm wurde klar, daß diese Begegnung mit der »Kraft einer jahrtausendealten Tradition«6 fortan sein Leben bestimmen sollte. 1914 stand er, von pazifistischen Ideen ebenso überzeugt wie sein Bruder Werner, der die Positionen der oppositionellen Minderheit innerhalb der Sozialdemokra­ ten vertrat, den Gedanken Gustav Landauers nahe. Zionismus und Anarchismus gingen in seiner Weltanschauung miteinan­ der einher, denn Zionismus bedeutete für ihn weniger eine Ideologie als eine »Besinnung der Juden auf sich selbst, auf ihre Geschichte und eine mögliche Wiedergeburt geistiger und kul­ tureller [...] Natur«.7 Als Bewunderer der Schriften des russi­ schen Essayisten Ascher Ginsburg, der für einen eher kulturel­ len als politischen Zionismus eintrat, und der Werke Martin Bubers schloß er sich der ziemlich orthodoxen Bewegung »Aguda Israel« an. Empört über den Krieg, stritt er sich mit jüdischen Zeit­ schriften, die die Interessen Deutschlands mit denen der Juden gleichsetzten. Obgleich er im April 1915 wegen seiner pazifi­ stischen Gesinnung vom Gymnasium verwiesen wurde, konn­ te er sein Abitur als Externer ablegen und schrieb sich an der Berliner Universität ein, ohne seine hebräischen Studien zu un­ terbrechen. Sein Wunsch war es, Lehrer für Mathematik an einer Schule in Palästina zu werden. Sein philosophisches In­ teresse brachte ihn dazu, Platon und Kant zu studieren, die Vorlesungen Ernst Cassirers über die Vorsokratiker und die Vorträge Hermann Cohens an der »Lehranstalt für die Wissen­ schaft des Judentums« zu besuchen. Seit seiner Begegnung mit 6 (Scholcm, Vom Berlin nach Jerusalem, S. $4.) 7 Ebd., S.61.

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Benjamin nahm dieser einen bevorzugten Platz in seinem Le­ ben ein.8 Während Scholem Benjamins Interesse an der jüdi­ schen Kultur weckte, brachte dieser ihm Hölderlin und die Romantik nahe, und beide debattierten über die Schriften Martin Bubers. Zw ar mißbilligte Scholem dessen nationalisti­ sche Stellungnahmen, doch bewunderte er seine Arbeiten über den Chassidismus und arbeitete an seiner Zeitschrift D er Ju de mit, in der mehrere seiner Essays und Übersetzungen erschie­ nen. A uf Anraten Bubers nahm er an den Aktivitäten des »Jü­ dischen Volksheims« teil, das in Berlin nicht weit vom Alex­ anderplatz aufgebaut wurde, um den Ostjuden zu helfen. Geleitet wurde es von Siegfried Lehmann, der - neben Ernst Joel - Benjamins ehemaliger Gegner innerhalb der »Freien Stu­ dentenschaft« gewesen war.9 Als Werner, der in Uniform an einer Antikriegsdemonstra­ tion teilgenommen hatte, wegen Landesverrats angeklagt wur­ de, entrüstete sich die Familie darüber ebensosehr wie über Gerhards zionistisches Engagement, und beide Brüder wurden 8 In seinen Erinnerungen schreibt er: »In Benjamin traf ich zum erstenmal einen Menschen von durchaus ursprünglicher Denkkraft, die mich auf neu­ er Ebene und in neuer Tiefe unmittelbar ansprach und bewegte. [...] So ha­ ben wir wahrscheinlich jeder zur Entwicklung des anderen das Seine beige­ tragen« (ebd., S. 76). Die Schuld, in der er Benjamin gegenüber stehe, sei mindestens so bedeutend —auf einer ganz anderen Ebene - wie die Benja­ mins gegenüber ihm. 9 Sie repräsentierten die sozialpolitisch engagierte Fraktion unter den frei­ en Studenten, die Benjamin in seinem Vortrag »Das Leben der Studenten« kritisiert hatte. Ihre Organisation unterhielt ein anderes Heim in Charlot­ tenburg, in dem die Diskussion zwischen Benjamin und Kurt Hiller über den Historismus stattgefunden hatte. In dem Heim am Alexanderplatz ar­ beitete Kafkas Verlobte Felice Bauer. Nach einem Briefwechsel mit Siegfried Lehmann brach Scholem mit dem Volksheim, weil er das Unternehmen zu eng an oberflächliches »literarischefs] Geschwätz« über den Chassidismus [ebd., S. 86] gebunden fand. Zur gleichen Zeit machte er, vermittelt durch Benjamin, die Bekanntschaft Erich Gutkinds, einer seltsamen Persönlich­ keit, die - nach der Erwägung, zum Katholizismus überzutreten - sich zu ei­ nem mystischen Judentum hinentwickelte.

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aus dem Haus gejagt. Gerhard mußte sich eine Unterkunft su­ chen und fand sie in einer Pension, in der vor allem Ostjuden lebten. Die Begegnung mit dieser Gemeinschaft sollte ihn tief beeindrucken.10 Im Wintersemester 19 17/18 studierte er Phi­ losophie in Jena, besuchte die Vorlesungen Gottlob Freges über die Grundlagen der Mathematik und die des HusserlSchülers Paul F. Linke. Die mit Benjamin und seiner Frau Dora Kellner, aber auch mit Werner KraftI11 - dem Freund Benjamins und späteren Karl-Kraus-Spezialisten - gewechselten Briefe zeigen die gan­ ze Weite von Scholems geistigem Horizont. Nachdem er endgültig vom Militärdienst freigestellt worden war12, traf er Benjamin in der Schweiz, blieb dort 1918/19 und studierte Ma­ thematik, Physik und Philosophie - fern den europäischen Er­ eignissen, aber aufmerksam auf alles, was Palästina betraf. Er setzte das Studium des Hebräischen und des Talmud fort, ver­ legte sich dann aber auf die Erforschung der Kabbala, nach de­ ren Originaltexten er ab 1915 zu suchen begann.13 Während er I o Viele dieser russischen oder polnischen Juden waren Mitglieder von O r­ ganisationen wie »Po’ale Zion« oder des »Bundes« und vertraten oftmals sozialistische oder volkstümlerische Ideen. Ihr hohes religiöses und kultu­ relles Bildungsniveau stand in Gegensatz zu dem der deutschen Juden. Scholcm lernte in diesem Kreis Salman Rubaschow kennen, einen russi­ schen marxistischen Zionisten, der später unter dem Namen Schneur Sal­ man Schasar israelischer Staatspräsident werden sollte. Arthur Koestlcr ent­ lehnte seinen Namen für die Hauptfigur seines Romans Sonnenfinsternis. Um die gleiche Zeit begegnete er - durch Vermittlung von Max Strauß, ei­ nem jungen Anwalt - Samuel J. Agnon, dessen Werk Strauß übersetzte. Dessen Bruder, der Dichter Ludwig Strauß, war ein Jugendfreund Benja­ mins. Auch Scholcm sollte eine Reihe auf hebräisch verfaßter Texte Agnons übersetzen. II Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft. 12 Scholem wurde schließlich als »Psychopath« ausgemustert. 13 Wie Benjamin hatte er die vier der Kabbala gewidmeten Bände von Franz Joseph Molitor, Philosophie der Geschichte oder Uber die Tradition, gelesen, die jedoch im Geiste der Schriften Baaders und Schellings geschrie­ ben waren.

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in Göttingen immer noch seinem Mathematikstudium nach­ ging, plante er, eine Abhandlung über »die Sprachtheorie der Kabbala« zu schreiben, ein Problem, das er erst fünfzig Jahre später klären sollte.14 Zutiefst verstört durch die politische Lage in Deutschland und die Blindheit der jüdischen Gemeinschaft, sammelte Scholem kostbare Manuskripte der Kabbala und bereitete seine Auswanderung nach Palästina vor, da er vom deutschen Juden­ tum nichts mehr erwartete und die Haltung derer mißbilligte, die, wie sein Bruder, ihre Hoffnung in den Marxismus setz­ ten.15 Vor seiner Abreise hielt er sich mehrere Monate in Frankfurt auf - wo er Erich Fromm und Leo Löwenthal traf um dort kabbalistische Texte zu studieren und zugleich Vor­ träge über seine eigenen Forschungen zu halten. Am 30. Sep­ tember 1923 erreichte Scholem Jerusalem. Er unterrichtete Mathematik und erhielt einen Posten als Bibliothekar der he­ bräischen Abteilung der Jüdischen Nationalbibliothek in Jeru­ salem.16 Trotz der beträchtlichen Schwierigkeiten, denen er begegnete, hatte er sofort das Gefühl, seinen Jugendtraum ver­ wirklicht zu haben.17 Er wurde Dozent, später zum Professor 14 Gershom Scholem, »Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kab­ bala«, in: Judaica j , S.7-70. 15 Werner, kommunistischer Rcichstagsabgeordneter, wurde im April 1926 nach Fraktionskämpfen aus der KPD ausgeschlossen. 1933 wurde er von den Nazis verhaftet und nach sieben Jahren im Konzentrationslager Buchen­ wald im Juni 1940 ermordet. 16 Dieser Posten wurde ihm von Hugo Bergmann angeboten, einem alten Freund Kafkas. 17 Während bereits zwischen 1913 und 1918 verschiedene - noch fiktivePläne für Lehranstalten von Auswanderern konzipiert worden waren, wurde die Hebräische Universität erst 1923 dank Judah Leon Magnes (18771948) gegründet und eröffnet. Magnes war Rabbiner der jüdischen Gemein­ de des »Temple Emmanuel« in der N ew Yorker Fifth Avenue gewesen, je­ doch von seinem Amt zurückgetreten, um sich der zionistischen Bewegung zu widmen. Er genoß hohes Ansehen unter den amerikanischen Juden, die es an finanzieller Unterstützung für ihn nicht mangeln ließen. So erlangte er auch für Benjamin ein Stipendium, das es diesem gestatten sollte, nach Jeru­ salem zu kommen, um Hebräisch zu lernen.

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ernannt und widmete sich bis zu seinem Tode dem Studium der Kabbala. Es hat etwas Faszinierendes, die Schicksale Scholems und Benjamins miteinander zu vergleichen. Als singuläre, leiden­ schaftliche Denker waren sie beide Träger außerordentlich rei­ cher, fruchtbarer Spannungen. Jenseits ihrer politischen G e­ gensätze teilten sie den gleichen metaphysischen und religiösen Horizont, der sie immer wieder zusammenführte, wie etwa die Briefe belegen, die sie über Benjamins Kafka-Essay austausch­ ten. Dem jüdisch-deutschen »Januskopf«, den Benjamin zum Symbol seines eigenen Lebens erhob, steht die Gewißheit Scholems entgegen, daß die Annahme des eigenen Jüdischseins und die Vertiefung des Judentums nicht anders als durch die Rückkehr zum Hebräischen - und nach Jerusalem - möglich seien. Trotz seines konflikthaften Verhältnisses zu Deutsch­ land sollte das Werk Scholems, das seine Kräfte aus den Wur­ zeln der jüdischen Kultur Mitteleuropas zog, seine Bindung an die Tradition der deutschen Universität und ihre Forschungs­ methoden (auch die der »Wissenschaft des Judentums« aus dem neunzehnten Jahrhundert, deren Grundlagen er ablehn­ te18) niemals verleugnen. In all seinen Schriften ging es ihm dar­ 18 Die »Wissenschaft des Judentums«, um 1820 auf Betreiben von Leopold Zunz entstanden, setzte sich eine »kritische Beleuchtung des Judenthums unter Verwendung wissenschaftlicher Forschungsmethoden« zum Ziel (wie es 1822 in der Zeitschrift für die Wissenschaft desJudenthums hieß). Zu ihren hervorragenden Vertretern gehörten Gestalten wie Fraenkel, Geiger, Munk oder Steinschneider. Mit der Gründung der Hebräischen Universität in Je­ rusalem 1925 fand diese Tradition ein Ende. Die Wissenschaft des Juden­ tums war besonders aktiv in Berlin, in Galizien und Prag, strahlte jedoch auf ganz Europa aus. Von ihren Grundlagen her wurzelte sie in der romanti­ schen Tradition und war ursprünglich eine starke Kraft, die das Judentum lebendig hielt (vgl. Scholem, »Die Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, in: Judaica /, S. 148 f.). Allerdings betrachtete sie es, von jeder leben­ digen Religion abgeschnitten, nur als historischen Gegenstand, obgleich ihre Theoretiker - wie Leopold Zunz - eine rabbinische Ausbildung erhal­ ten hatten. So erklärte Moritz Steinschneider am Ende seines Lebens: »Wir haben nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein ehrenvolles

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um, diese mystische Tradition zu rekonstruieren, ihre Komple­ xität und ihr Verhältnis zur Geschichte herauszuarbeiten.19 Ausgehend von einigen Anschauungen, die sich seit seiner Ju ­ gend gefestigt hatten und die den Sinn der Mystik mit dem Mysterium der Sprache verknüpfen, entwickelte er - ohne ein philosophisches CEuvre errichten zu wollen, in bewußter Be­ schränkung auf die Exegese - ein Werk, das als eine der großen Deutungen der jüdischen spirituellen Tradition Bestand hat. D ie Entwicklung ihrer Freundschaft und die Phasen ihrer Theoriekonflikte Die erste Begegnung zwischen Benjamin und Scholem fand 19 13 in einem Cafe unweit des Tiergartens statt, wo sich Mit­ glieder der zionistischen Gruppe »Jung Juda« und Vertreter Begräbnis zu bereiten« (zitiert nach Scholem, ebd., S. 153). Sehr rasch trat innerhalb dieser Schule eine dialektische Spannung auf. Die eine Tendenz zielte auf eine regelrechte »Entjudung« des Judentums, auf seine Liquidie­ rung als Religion, während die andere es zu verherrlichen suchte. Trotz der persönlichen Positionen dieser Gelehrten führte die ungeheure historische Arbeit, die sie leisteten, in der nachfolgenden Generation zu einer radikalen Bewußtwerdung. Trotz ihres Hyperrationalismus weckte die Wissenschaft des Judentums ein Interesse an der Tradition. Gewiß verengte sie es entwe­ der auf eine Apologetik oder auf eine rationale, auch Nichtjuden zugäng­ liche Morallchre (in der Art Hermann Cohens); doch machte dieses Über­ maß an Rationalismus auch die Theologie Franz Rosenzweigs und die Rehabilitierung der Kabbala durch Scholem möglich. 19 Vgl. das Walter Benjamin gewidmete Werk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen., die Summe von Scholems gesamtem CEuvre, sowie - un­ trennbar davon - die großen Studien, die er der Kabbala gewidmet hat (Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala und Die Kabbala und ihre Symbolik). Ausgehend von dieser mystischen Tradition gelangt Scholem zum Problem des jüdischen Messianismus und der Gestalt des falschen Messias Sabbatai Zwi (vgl. Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias). Für Scholem läßt sich die Mystik niemals auf den Korpus einer Lehre und auf nichtkommunizierbare Eingebungen reduzie­ ren. Das Entscheidende ist vielmehr der Bruch mit der historischen Reli­ gion.

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der Jugendbewegung, die meisten jüdischer Herkunft, trafen. Unter der Fragestellung des jüdisch-deutschen Erbes vertrat Benjamin, der Hauptredner des Sprechsaals, die Position Wynekens. Scholem hatte für den Gedanken einer »Jugendkul­ tur«, die von jedem Bezug auf die soziale Wirklichkeit abge­ schnitten wäre, nicht viel übrig. Zwei Jahre später, 19 15, hörte er einen Vortrag von Kurt Hiller20, in dem dieser auf den Spu­ ren von Nietzsches Unzeitgemäßen Bemerkungen seine Kritik des Historismus entwickelte; Nietzsche hatte die Geschichte als »lebensfeindlich« und sinnlos abgelehnt. In der Woche dar­ auf sollte eine Diskussion über die Thesen Hillers im Charlot­ tenburger Heim der Freien Studentenschaft stattfinden.21 Ben­ jamins Redebeitrag war, Scholem und Werner Kraft zufolge, der glänzendste.22 Einige Tage später, am 21. Juli 19 15, nach ei­ ner zufälligen Begegnung in der Universitätsbibliothek, besie­ gelte ein Besuch Scholems bei Benjamin ihre Freundschaft. Trotz ihres Altersunterschieds23 gewann Scholem sofort 20 Kurt Hiller, ein von Nietzsche und Simmel beeinflußter expressionisti­ scher Dichter, versammelte zahlreiche Autoren seiner Generation in dem von ihm gegründeten »Neuen Club«, später im »Neopathetischen Cabaret« (1909), und gab ihre Werke in den Anthologien Der Kondor { 1912) und Das Ziel( 1916) heraus. 1915 erwog er im Zuge seines »Aktivismus« die Möglich­ keit einer »Sezession der Dichter«, die eine »geistige Politik« befürworteten. In der Weimarer Republik schlug er Heinrich Mann - als Gegenkandidaten zu Hindcnburg, Ernst Thälmann und Hitler - für das Amt des Reichspräsi­ denten vor. Benjamin kritisierte diese Idolatrie des »Geistes« und der »Intel­ lektuellen« als Ausdruck bourgeoiser Gesinnung. 21 Benjamin lernte bei dieser Gelegenheit nicht nur Scholem, sondern auch Werner Kraft kennen. Auch Hans Blüher und Dora Sophie Pollak nahmen an dieser Diskussion teil, während Hiller nicht zugegen war. Scholem hielt eine Rede über jüdische Geschichte und Judentum. 22 »Da stand ein Mann auf und hielt eine Rede über das Leben der Studen­ ten. Sie glühte von innerem Feuer. Meine Ohren empfanden sie als revolu­ tionär.« Werner Kraft, »Vorwort« zu Scholems Briefen an Werner Kraft,

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23 Liest man die höflich-steifen Briefe, die sie einander schrieben, so ver­ gißt man leicht, daß Scholem und Benjamin siebzehn respektive dreiund­ zwanzig Jahre alt waren.

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Einfluß auf Benjamin, dessen geistige Welt nach seinem Bruch mit der Jugendbewegung und dem Selbstmord Heinles zusam­ mengebrochen war. Vom Zionismus und seinen Idealen einge­ nommen, hatte Scholem bereits gefestigte politische Überzeu­ gungen.24 Das Judentum nahm sehr rasch einen wichtigen Platz in ihren Diskussionen ein, auch wenn sich nach Benja­ mins Abreise nach München (Oktober 19 15) ihre Freund­ schaft25 mehr durch ihre Korrespondenz als durch persönliche Begegnungen verstärkte.26 Sie debattierten über den Zionis­ mus, die Metaphysik der Sprache und die Philosophie der G e­ schichte, kommentierten jeweils ihre Lektüren Kants, H öl­ derlins, .und Bubers, aber auch Georges und der deutschen Mystiker, und sie unterzogen ihre persönlichsten Ansichten ei­ ner wechselseitigen Kritik. Nach seiner Befreiung vom Mili­ tärdienst ließ sich Benjamin in der Schweiz nieder, während Scholem mobilisiert worden war und auf seine Entlassung we­ gen Dienstunfähigkeit wartete. Ihr brieflicher Austausch ließ 24 Nach Charakter und sozialer Herkunft unterschieden sie sich deutlich. Die natürliche Distanz, die ein wenig manierierte Höflichkeit Benjamins standen der berlinerischen Unverblümtheit und Respektlosigkeit Scholems gegenüber. Die Bestrebungen und Pläne Benjamins harmonisierten mit sei­ ner Klasse; Scholem hatte kulturell und politisch mit der seinen gebrochen. Die romantische Revolte gegen die bürgerliche Nüchternheit hatte Benja­ min zur Jugendbewegung, Scholem zur jüdischen Tradition geführt. Benja­ mins Interesse an Kabbala und Sprachphilosophie traf sich mit Scholems Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Mathematik und Mystik. Benjamin übersetzte Baudelaire, Scholem das Hohelied. 2 j Was sie verband, benennt Scholem folgendermaßen: »Unbeirrbarkeit in der Verfolgung des geistigen Ziels, [...] Ablehnung der uns umgebenden Sphäre, die ja im wesentlichen die der deutschjüdischen bürgerlichen Assi­ milation war, und [...] Bejahung der Metaphysik« (Scholem, Walter Benja­ min - die Geschichte einer Freundschaft, S. 3 2). Er verleugnet aber auch nicht ihre Gegensätze: Benjamins »vollkommene Höflichkeit und Bereitschaft zuzuhören« ging einher mit einem tiefen Hang zur Einsamkeit und einer Abneigung, über politische Tagesereignisse zu sprechen. Seine »Geheimnis­ krämerei« nahm fast neurotische Züge an. 26 Benjamin kehrt im März 1916 nach Berlin zurück. Scholem besuchte ihn zweimal in München.

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den Wunsch nach einem Wiedersehen nur noch wachsen. Im Mai 1918 kam Scholem mit Benjamin wieder zusammen. Die Monate, die sie miteinander verbrachten, bildeten zweifellos die Zeit, in der sie sich theoretisch am nächsten waren, auch wenn das idealisierte Bild, das Scholem von Benjamin hatte, sich wandelte. Die autoritären Züge seines Charakters verletz­ ten ihn ebenso wie seine depressiven Elemente27: Streitigkeiten brachen zwischen ihnen aus.28 Scholem wurde auch Zeuge der zunehmenden Verschlechterung29 der Beziehung zwischen Walter und Dora30, auch als sie nicht mehr zusammen in Muri 27 Diese depressiven Züge, die sich zunächst auf jene traurig-melancholi­ sche Stimmung beschränkten, von der seine Briefe gefärbt sind, sollten sich nach und nach zu zwanghaften Selbstmordgedanken entwickeln. 28 Scholem wunderte sich, daß Benjamin ohne irgendwelche Skrupel, ja mit einer gewissen Verachtung mit seiner Frau in relativem Luxus auf Kosten sei­ ner Eltern leben konnte. Er schreibt diesen Anflug von Zynismus dem Ein­ fluß Wynckcns zu. Während er selbst eine fast asketische Existenz führte, genoß Benjamin einen deutlich anspruchsvolleren Lebensstil, hatte ein Dienstmädchen usw. Das väterliche Geld diente ihm dazu, nicht nur sein Stu­ dium zu finanzieren, sondern auch zahlreiche Reisen, die er heimlich mit sei­ ner Frau unternahm, besonders ins Engadin, eine seiner bevorzugten Land­ schaften. In mehreren Briefen an Scholem beschwört er ihn, nichts davon seinen Eltern zu sagen. Vom erfolgreichen Abschluß seiner Promotion setzte er sic erst zwei Monate später in Kenntnis, um ihre finanzielle Unterstützung weiter zu erhalten und noch eine Reise mit Dora unternehmen zu können. 29 Um Konfrontationen zu vermeiden, machten sie es sich zur Gewohn­ heit, zur Klärung ihrer Differenzen einander Briefe zu schreiben, und zwar in der Form einer fingierten Korrespondenz zwischen Benjamins Sohn Ste­ fan (der erst fünf Monate alt war) und Scholem. 30 Dora, eine brillante Persönlichkeit von lebhafter Intelligenz, hatte Scho­ lem zufolge in ihrem Verhalten »hysterische Elemente« [cbd., S. 87]. Aus ei­ nem recht begüterten Milieu stammend, litt sie unter dem sozialen Abstieg, den ihnen die Situation aufzwang. Zu Beginn der zwanziger Jahre, nach dem Bruch Benjamins mit seinen Eltern, waren es die ihren, die dem Paar zu Hil­ fe kamen. Sie mußte als Sekretärin arbeiten und sich der Übersetzung ameri­ kanischer Kriminalromane widmen. - Benjamins Beziehungen zu Frauen verliefen oft katastrophal, und Dora selbst beklagte sich bei Scholem dar­ über, daß »seine Geistigkeit [...] seinem Eros im Wege« stehe [ebd., S. 122]. Unleugbar gibt es bei Benjamin zutiefst misogyne Züge: Die Bezeichnung »weibliches Denken«, mit der er in seinen Jugendbriefen Buber tituliert, war eine echte Beleidigung. Zu dem Buch Gedanken Platons in der deutschen

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wohnten. Nach seiner Rückkehr nach Bern lebte Benjamin re­ lativ isoliert, tief versunken in die Arbeit an seiner Disserta­ tion. D a sie wenig Interesse für die Vorlesungen aufbrachten, die sie an der Universität besuchten, diskutierten Scholem und Benjamin über das, was sie begeisterte: die jüdische Tradition, die Kabbala, die Philosophie der Sprache, der Zionismus. Die Übereinstimmung ihrer theoretischen Anschauungen blieb bis zu Scholems Abreise nach Palästina erhalten. A ls er in Mün­ chen lebte, wo er kabbalistische Manuskripte durcharbeitete, während Benjamin und Dora sich in Berlin niederließen, wur­ den, ihre Beziehungen trotz der geographischen Entfernung sogar wieder enger, weil die durch allzu häufiges Zusammen­ sein hervorgerufenen Spannungen entfielen. Im Mai 1921 un­ terhielten sie sich in München über den Talmud und die Kab­ bala und entdeckten gemeinsam Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1920). Benjamin besuchte Scholem noch einmal, um ihn von der Mitarbeit an seiner Zeitschrift Angelus Novus zu überreden. Doch ihre Wege führten deutlich auseinander. Ben­ jamin war in der deutschen Kultur verwurzelt und faßte eine Universitätslaufbahn ins Auge. Scholem hatte völlig darauf verzichtet, in Deutschland heimisch zu werden, und verbarg nicht sein Widerstreben gegen eine Mitarbeit an der Zeitschrift. Im September I9 2 i31 sahen sie sich in Berlin wieder, und Ben­ jamin sandte ihm regelmäßig Kopien seiner Essays. Kurz vor Scholems Abreise schenkte er ihm ein Manuskript, das er spä­ ter in Einbahnstraße aufnahm, mit dem Titel »Reise in die deutsche Inflation«. E r wünschte Scholem »glückliche Ausrei­ se«. Dieser notiert traurig: Romantik von Luise Zurlinden äußert er sich am 31. Juli 1918 gegenüber Ernst Schoen in Formulierungen, die Nietzsche nicht verschmäht hätte: »Das Grausen, das einen überkommt, wenn Frauen in diesen Dingen ent­ scheidend mitreden wollen ist unbeschreiblich. Es ist die bare Nieder­ tracht.« GB I, S.468. 31 Zwei weitere Begegnungen fanden im April 1922 in Berlin und im Herbst desselben Jahres in Frankfurt statt.

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Schwer verständlich war mir, was einen Mann, der das ge­ schrieben hatte, in Deutschland zurückhalten konnte. Er wollte aber, wie seine Frankfurter Unternehmung bewies, die Möglichkeit einer akademischen Laufbahn, die seinem Geist vielleicht einen materiellen Rückhalt hätte geben kön­ nen, bis zum Ende ausschöpfen. Als wir uns verabschiede­ ten, [...] wußte [er] noch nicht, daß »Geist sich nicht habili­ tieren läßt«, um Erich Rothackers ruchlos-frechen Satz über ihn zu zitieren.32 Der Aufbruch Scholems nach Palästina bezeichnet eine ent­ scheidende Etappe ihrer Freundschaft. Sie werden sich wenige Male Wiedersehen, und nur die Erinnerungen Scholems und ihr Briefwechsel33 erlauben es, die manchmal dramatischen Wendungen ihrer Beziehungen zu verfolgen. Die erste ernst­ hafte Erschütterung ihrer geistigen Gemeinschaft wurde durch Benjamins plötzliche Sympathie für den Kommunismus ab 1924 hervorgerufen, eine Sympathie, die bei Scholem sofort auf die lebhafteste Mißbilligung stieß.34 Sie setzte, so Scholem, ei­ nen zunächst kaum wahrnehmbaren Ablösungsprozeß in Gang, der sich verstärkte, als Benjamin marxistisch inspirierte Texte zu schreiben begann. Dennoch erlebte ihr Briefwechsel keine Unterbrechung, nicht einmal, als Benjamin sich in Mos­ kau bei Asja Lacis aufhielt.35 32 Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 1 $ 1. 33 Vgl. den Band Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 19331940. Scholem betont: »Ich hatte mich in Jerusalem festgesetzt, geheiratet und Arbeit an der jüdischen Nationalbibliothek gefunden. So war ich weit weg von der Sphäre, in der sich sein Leben in den folgenden Jahren abspiel­ te, nicht in dessen Peripetien verwickelt, und das trug dazu bei, daß er mir gegenüber sein Herz öffnete wie wohl kaum einem anderen.« Scholem, Wal­ ter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 1 J2. 34 Trotzdem fuhr Benjamin damit fort, Kopien seiner Essays an Scholem zu schicken, auch wenn ihre Standpunkte miteinander unvereinbar gewor­ den waren. 3 j »Wenn ich die Briefe lese, die er in den drei Jahren zwischen seiner Reise nach Capri und unserem erneuten Zusammensein in Paris im August 1927

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Trotz seiner schwierigen Lage in Palästina trug sich Scholem schon sehr früh mit dem Gedanken, Benjamin nachkommen zu lassen. Dessen Bemühungen um eine universitäre Laufbahn waren nach sechs Jahren endgültig gescheitert. Vier Jahre nach ihrer Trennung begegneten sie sich im August 1927 in Paris wieder.36 Dieses Wiedersehen bekräftigte die Intensität ihrer Freundschaft37, auch wenn ihre Weltbilder sich erheblich aus­ einanderentwickelt hatten.38 Ihre tiefsten Divergenzen waren politischer Art; Scholem war versucht, sie herunterzuspielen.39 Während der Sinn seines Lebens mit dem Studium des Juden­ tums eins wurde, stand Benjamin an der Kreuzung mehrerer Wege. E r war gleichwohl begeistert von dem Bericht, den ihm Scholem von seinem Leben in Palästina gab. Scholem bemühte sich, durch Vermittlung seines Kanzlers Judah Leon Magnes schrieb, konsterniert es mich, in wie geringem Maße die oben besprochene neue Wendung auch auf dieser Ebene persönlicher und vertrauter Mittei­ lung zur Geltung gekommen ist.« Ebd., S. 161. 36 Scholem hatte ein Freisemester erhalten, um kabbalistische Manuskripte in England und Frankreich zu studieren. 37 Ihre materielle Situation war freilich nicht die gleiche. Scholem war, ohne wohlhabend zu sein, Hochschuldozcnt geworden; Benjamin lebte in Paris in einem armseligen Hotelzimmer in der Avenue du parc Montsouris [heute Avenue Rene Coty]. 38 Scholem schreibt: »Als ich 1923 Benjamin verließ, nahm ich das Bild ei­ nes von einem gradlinigen Impuls zum Aufbau einer eigenen geistigen Welt getriebenen Mannes mit, der seinem Genius unbeirrt folgte, der wußte, wo­ hin er wollte, was auch immer die Verwickelungen seines äußeren Lebens sein mochten. [...] Als wir uns wiedersahen, traf ich einen Menschen, der in einem intensiven Prozeß der Gärung begriffen, dessen geschlossene Weltan­ sicht gesprengt und verfallen war, und der sich in einem Aufbruch befand zu neuen Ufern, die ihm selbst zu bestimmen noch nicht möglich war.« Ebd., S. 168. 39 »Noch immer wirkte jener ursprüngliche Antrieb zu einer metaphysi­ schen Weltansicht in ihm weiter, aber er war in dialektische Zersetzung gera­ ten. Die Revolution, die an seinem Horizont erschienen war, hatte noch nicht vermocht, diese Dialektik in spezifischen Gestaltungen zu durchfor­ men. Die marxistischen Vokabeln in einigen Aufzeichnungen zur Einbahn­ straße, die er mir vorlas, wirkten auf mich nur als eine Art von Hinter­ grundsdonner.« Ebd.

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einen Posten an der Hebräischen Universität Jerusalem zu er­ langen. Bei der Begegnung mit Magnes bekräftigte Benjamin seinen Wunsch, im Sommer oder Herbst 1928 nach Jerusalem zu kommen und mit Blick auf eine Lehrtätigkeit Hebräisch zu lernen. Das Vorhaben wurde immer wieder aufgeschoben, was Scholem enttäuschte. Benjamins marxistisches Engagement wurde zum Gegenstand immer lebhafterer Polemiken zwi­ schen ihnen. Scholem zweifelte an seiner Aufrichtigkeit40: Es lag auf der Hand, daß Benjamins Wunsch, Hebräisch zu lernen, mit den vorbereitenden Arbeiten zu seiner großen Studie über die Pariser Passagen nicht zu vereinbaren war. Trotz der immer wieder erneuerten Versprechen, nach Jerusalem zu kommen, sah sich Benjamin durch eine Folge privater Ereignisse - Schei­ dung von Dora, Heiratsprojekt mit Asja Lacis41, deren Aufent­ halt in Frankfurt bei einem Neurologen - an deren Erfüllung gehindert. Während Benjamin noch einmal im Oktober 1929 sein Kommen ankündigte, machte sich Scholem keine Illusio­ nen mehr. So unglücklich er über die politische Entwicklung Benjamins und dessen Verbindung mit Asja Lacis war, bewun­ derte er immer noch dessen »janusgesichtiges«, zwischen einer metaphysisch-theologischen Dimension und einer marxisti­ schen Inspiration zerrissenes Werk. Er war verwundert dar­ über, daß es nichts von seiner Tiefe und seiner Schönheit verlo­ ren hatte. Mit der gleichen Unruhe verfolgte er die Festigung der Beziehungen Benjamins zum Frankfurter Institut42 und 40 Man kann sich übrigens fragen, ob Benjamin in seinen Briefen an Scho­ lem immer aufrichtig war oder ob er sich selbst Illusionen machte. Als Ro­ bert Weltsch, der Redakteur der Jüdischen Rundschau, Scholem bat, einen Artikel über Benjamins Stellung zum Judentum zu schreiben, lehnte dieser das Angebot ab. 41 Scholem sollte ihr nie begegnen. Er machte ihr zum Vorwurf, daß sie sich in ihren Erinnerungen rühmte, Benjamin an der Auswanderung nach Palä­ stina gehindert zu haben. 42 Scholem machte die Bekanntschaft Adornos und Horkhcimers im Septcmber/Oktobcr 1929. Er unterhielt in der Folge freundschaftliche Bezie-

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dann zu Brecht, dem er durch Vermittlung von Asja Lacis be­ gegnet war. Der Einfluß Brechts43 schien ihm, nach dem von Lacis, eine höchst unheilvolle Rolle für Benjamins theoretische Orientierung zu spielen.44 Nach Asja Lacis’ Rückkehr nach Moskau wurde ihr Brief­ wechsel ohne nennenswerte Unterbrechung wiederaufgenom­ men. Benjamin teilte Scholem am 20. Januar 1930 mit, er verzichte vorläufig darauf, Hebräisch zu lernen und nach Palä­ stina zu gehen. Sein Ehrgeiz sei jetzt darauf gerichtet, sich einen Platz in der Literaturkritik zu verschaffen, sie als ernst­ hafte Gattung zu erneuern und »d’etre considere comme le premier critique de la litterature allemande«.45 Er beharrte auf der.Bedeutung seiner Arbeit über die Passagen, die, wie seine Studie über das Trauerspiel, eine Erkenntnistheorie erfordere, die er mit Hegel und Marx zu errichten hoffe. In seiner Ant­ wort vom 20. Februar ermahnte ihn Scholem noch einmal, sei­ ne Position zum Judentum zu klären.46 Er sah - nicht ohne hungen zu Adorno und traf sich während seines Aufenthalts in den USA 1938 mehrfach mit ihm. Gegenüber Horkheimer blieb er sehr reserviert. 43 Gegen Brechts Ideen und seinem Werk war Scholem stets feindselig ein­ gestellt. Wie Adorno, wenngleich aus anderen Gründen, fürchtete er, daß sein Einfluß Benjamins ureigenste theoretische Einsichten verderben werde. »Die Unterhaltungen mit Brecht, denen sich bald solche mit dessen marxi­ stischen Mentoren Fritz Sternberg und Karl Korsch [...] anschlossen, hatten mit der bolschewistischen Theorie der Politik und Ästhetik mehr zu tun als mit den damals vorliegenden Schriften Brechts.« Ebd., S. 199. 44 Benjamin arbeitete zu dieser Zeit an einem von der Encyclopedia Judaica bestellten Artikel über »Die deutschen Juden im Geistesleben des neun­ zehnten und zwanzigsten Jahrhunderts«. Infolge von Umarbeitungen un­ terscheidet sich der veröffentlichte Text grundlegend von der ursprüngli­ chen Fassung, die nicht erhalten blieb. Der gedruckte Text läßt kaum noch einen eigenständigen Gedanken erkennen. 45 [»... als der bedeutendste deutsche Literaturkritiker zu gelten«]. Der Brief ist auf französisch verfaßt. GB III, S. joi-504, hier S. 502. 46 »Vor drei Jahren meintest du, und ich mit dir, daß du an einem Punkt an­ gekommen seiest, wo eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Juden­ tum als der einzige Weg zu einem positiven Fortschritt in deiner Arbeit er­ schien. A u f Grund dieser Einsicht [...] habe ich getan, was ich getan habe,

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Grund - in dem Wunsch, eine herausragende Figur der Litera­ turkritik in Deutschland zu werden, den endgültigen Verzicht auf sein Vorhaben, nach Jerusalem zu kommen. Deshalb for­ derte er ihn sehr energisch auf, anzuerkennen, daß die Ausein­ andersetzung mit dem Judentum, die seit fünfzehn Jahren ihre gemeinsame Sache gewesen sei, ihren Sinn verloren habe und von seinen literarischen Arbeiten und seinem politischen En­ gagement überschattet werde. In seiner Antwort (vom 25. April 1930) lehnte Benjamin die Alternative ab, vor die Scholem ihn stellen wollte.47 Daß der Abschluß seines Scheidungs­ verfahrens und die Verbesserung seiner materiellen Lage48 sein Verhältnis zum Hebräischen ändern würden, das er als den »gordischen Knoten« bezeichnete - davon konnte er Scholem nicht mehr überzeugen, auch wenn er selbst immer noch daran zu glauben schien. Ihre Beziehungen waren in eine dramati­ sche Krise geraten49, wie die ziemlich heftigen Auseinandersetin der Absicht, dir die Möglichkeit einer Realisierung deiner Intentionen zu verschaffen. Nun ist die Frage, die sich doch, nachdem drei Jahre verstrichen sind, auf Grund deiner Stellung und Beschäftigung von selbst zu beantwor­ ten scheint, die: ist nicht die damalige, von dir auch vor Magnes dargelegte und vertretene Auffassung von dir schon längst überwunden ?« Scholem an Benjamin, 20. Februar 1930, CB UI, S.523. 47 »Die Frage, wie ich zum Judentum stehe ist immer die Frage, wie ich ich will nicht sagen zu Dir (denn meine Freundschaft wird hier von keiner Entscheidung mehr abhängen) - zu den Kräften, die Du in mir berührt hast, mich verhalte. Wovon auch immer diese Entscheidung abhängen mag - wie sehr sic auf der einen Seite eingebettet in scheinbar ihr ganz fremde Sachver­ halte, auf der andern in jenes äußerst ausgespannte Zögern, das mir in allen wichtigsten Lagen meines Daseins Natur ist - sic fällt sehr bald.« Brief an Scholem vom 2$. April 1930, CB III, S. $2of. 48 Die Scheidung zog finanzielle Regelungen nach sich, die Benjamin in eine schwierige Situation versetzten. Am 1. November 1929 schrieb er an Scholem: »Es hat sich nicht voraussehen lassen, daß meine Trennung von Dora so grausame Formen annchmen würde, wie cs der Fall ist. Ich bin in einen Scheidungsprozeß verwickelt, der unabsehbar ist [...].« GB III, S.489. 49 Scholem argwöhnte, Benjamin halte sein Interesse an den Fragen, das sie früher gemeinsam verfolgt hatten, nur noch künstlich - aus Treue zu ihrer Freundschaft - aufrecht. Im übrigen versetzte ihn der Gebrauch, den Benja­ min von einer Geldsumme gemacht hatte, die ausdrücklich für sein He-

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zungen zeigen, von denen ihre Briefe zwischen März und Mai 19 31 gePrägt sind. Scholem ermahnte ihn, seine Haltung zu klären.50 Die Lektüre seines Essays über Karl Kraus habe ihn beeindruckt und zugleich aufgebracht.51 E r beklagte die Ver­ blendung, die ihn, Benjamin, dazu bringe, seine persönlichsten Gedanken um jeden Preis in einer »der kommunistischen denkbar angenäherten«, ihm aber fremden »Phraseologie« auszudrücken52, und betonte mit Blick auf diesen Essay die bräischstudium bestimmt war, in eine heikle Lage. Scholem hatte sich bei Magnes und der Universität von Jerusalem dafür moralisch verbürgt. Scholems Frau Escha traf Benjamin im Laufe des Sommers 1930 in Berlin und wies ihn auf die Verlegenheit hin, in die Scholem geriete, wenn er das Geld nicht zurückerstattete. Benjamin hatte es längst ausgegeben und antwortete ausweichend. Als die Unterhaltung auf seine politische Entwicklung kam, sagte Benjamin nicht ohne Ironie, Scholem und er hätten sich gegenseitig überzeugt. Scholem war anderer Meinung. Er erinnert an eine Äußerung des amerikanischen Schriftstellers Joseph Hcrgesheimer, der Benjamin in jener Zeit kennengelernt hatte: Benjamin mache »den Eindruck eines Menschen, der gerade von einem Kreuz heruntergestiegen sei und im Begriff stehe, ein neues zu besteigen« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 204), 50 In mehreren Briefen tadelt er ihn nicht ohne Grund, sich ausweichend zu verhalten. Vgl. ebd., S .285 f. 51 »Seitdem ich mehr oder weniger umfangreiche Proben jener Betrach­ tung von Angelegenheiten des Schrifttums im Geist des dialektischen Mate­ rialismus aus Deiner Feder kenne, befestigt sich in mir auf eine klare und be­ stimmte Weise die Einsicht, daß Du in dieser Produktion auf selten intensive A rt Selbstbetrug begehst, was zumal Dein bewunderungswürdiges Essay über Karl Kraus [...] mir aufs bedeutsamste dokumentiert.« Brief Scholems an Benjamin vom 30. März 1931, G B IV, S.27. 52 »Du gewinnst Deine Einsichten nicht etwa durch strenge Anwendung einer materialistischen Methode, sondern vollständig unabhängig davon, im besten Falle, oder - im schlimmsten Falle - durch ein mir in mehreren Arti­ keln der letzten zwei Jahre aufgefallenes Spielen mit den Zweideutigkeiten und Interferenzerscheinungen dieser Methode. [...] Deine eigenen und soli­ den Erkenntnisse [wachsen] aus der sagen wir kurz Metaphysik der Spra­ che, welche recht eigentlich das ist, womit Du, zu unverstellter Klarheit ge­ langt, eine hochmächtige Figur in der Geschichte kritischen Denkens sein könntest, als legitimer Fortsetzer der fruchtbarsten und echtesten Traditio­ nen. Das ostensible Bemühen dagegen, diese Resultate in einen Rahmen ein­ zuspannen, in dem sie sich plötzlich als Resultate materialistischer Überle-

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»phantastische Diskrepanz«, die Benjamins ursprüngliche Einsichten von einer bloß vorgetäuschten Terminologie tren­ ne, die manche seiner Ausführungen künstlich erscheinen las­ se. Statt diesem Zwiespalt ein Ende zu setzen, wolle Benjamin offenbar darin verharren; wenn er sich freilich entschlösse, der Kommunistischen Partei beizutreten, dann werde er - sagte Scholem voraus - von seinen »Mitdialektikern« unverzüglich »als typischer Konterrevolutionär und Bourgeois« entlarvt werden. Daher riet er ihm zum Eintritt in die KPD, damit er den Abgrund ermessen könne, der seine Ideen vom echten Ma­ terialismus trenne. Benjamin wäre dann nicht das letzte, »aber vielleicht das unbegreiflichste Opfer der Konfusion von Reli­ gion und Politik«. Benjamin gestand zu, daß Scholems Argumentation »meine eigene Position durchschlägt um projektilhaft ins Zentrum der Stellung zu treffen, die eine kleine aber wichtigste avantgarde hier zur Zeit besetzt hält«. Ohne auf Scholems Kritikpunkte einzugehen, bekräftigte er seine Solidarität mit Brechts Schaf­ fen und versuchte sein Verhältnis zur Partei zu erklären.53 Er wolle es sich »mit dem Hinweis, das sei ja nichts als ein Fetzchen Tuch«54, nicht verwehren lassen, die rote Fahne zum Fengungen darzustellen scheinen, gefährdet sic aufs stärkste, da es ein fremdes Form-Element hineinträgt, das zwar wohl mit Leichtigkeit von jedem intel­ ligenten Leser loszulösen ist, das aber den von ihnen durchsetzten Produk­ tionen den Stempel des Abenteuerlichen, Zweideutigen, ja in einigen Fällen fast Voltcschlägerischcn aufdrückt.« GB IV, 27 f. 53 »Insbesondere sollst Du nicht meinen, daß ich das Schicksal meiner Sa­ chen in der Partei, bezw. die Dauer einer möglichen Parteizugehörigkeit be­ treffend, die mindesten Illusionen habe. Aber kurzsichtig wäre es, diesen Umstand nicht für abänderungsfähig zu halten, wenn schon unter keiner kleineren Bedingung als der einer deutschen bolschewistischen Revolu­ tion.« Brief an Scholem vom 17. April 1931, GB IV, S. 24. J 4 »Wenn man schon >gegenrevolutionäre< Schriften verfaßt - wie Du die meinen vom Parteistandpunkt aus ganz richtig qualifizierst - soll man sie der Gegenrevolution auch noch ausdrücklich zur Verfügung stellen? Soll man sie nicht vielmehr denaturieren, wie Spiritus, sie - auf die Gefahr hin,

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ster herauszuhängen, und insistierte auf seiner schwierigen Po­ sition. Fast verzweifelt schrieb er am 17. April 19 31, er gleiche einem »Schiffbrüchige[n], der auf einem Wrack treibt« und »sich noch mehr [gefährdet], indem er auf die Spitze des Mast­ baums klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.«55 Davon we­ nig überzeugt, schrieb Scholem Benjamins Verlockung durch den Kommunismus seiner Einsamkeit zu.56 Trotz des provo­ kanten Tons der Briefe hütete sich Benjamin vor jeder eindeu­ tigen Festlegung.57 Der Materialismus war für ihn ein heuristi­ sches Prinzip und die Spannung, die aus den gegensätzlichen Polen hervorsprang, eine Quelle der Fruchtbarkeit. Vergeblich versuchte er Scholem davon zu überzeugen und dessen Urteil über Brecht zu ändern. Von März 19 31 bis September 1932 hielt sich Scholem in Eu­ ropa auf, um Manuskripte der Kabbala zu konsultieren58, und erwartete nach fünfjähriger Trennung ungeduldig eine Wieder­ begegnung mit Benjamin. Das vorgesehene Treffen wurde je­ desmal verschoben, Benjamin wohnte damals auf Ibiza. Scho­ lem konnte ihn nicht dazu bewegen, nach Parma zu kommen; ebenso scheiterte der Plan, sich in Berlin zu treffen. E r ver­ hehlte nicht seine Zweifel an den von Benjamin vorgebrachten daß sie ungenießbar für jeden werden - bestimmt und zuverlässig ungenieß­ bar für jene machen ?« Ebd., G B IV, S. 25. 55 GB IV, S .26. 56 »Dich gefährdet das Verlangen nach Gemeinschaft und sei es selbst der apokalyptischen der Revolution, mehr als das Grauen der Einsamkeit, das aus so manchen Deiner Schriften spricht, und auf das ich freilich einen höhe­ ren Einsatz zu machen bereit bin als auf die Metaphorik, mit der Du Dich um Deine Berufung betrügst.« Brief an Benjamin vom 6. Mai 1931, GB IV, S.36. 57 Scholem notiert in seinen Erinnerungen: »[S]eine weitere Produktion brachte den Erweis, daß eine Entscheidung zwischen Metaphysik und Ma­ terialismus, wie er ihn auffaßte, für ihn unvollziehbar blieb.« Walter Benja­ min - die Geschichte einer Freundschaft, S.210. 58 Er begab sich nach Rom, anschließend nach England und nach Berlin.

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Gründen, auch wenn seine Briefe zeigen, daß er die Not, in der dieser lebte59, bagatellisierte. Mitte Oktober kehrte Scholem nach Jerusalem zurück. Benjamin vertraute ihm später an, daß er damals nahe daran war, sich das Leben zu nehmen, und er sandte ihm das Manuskript der Berliner Kindheit.60 Wie um diese verpaßte Begegnung auszugleichen, intensi­ vierte sich ihr brieflicher Austausch daraufhin wieder, auch wenn sie die Konfliktthemen nicht anzugehen wagten. Der Be­ richt von ihren Beziehungen nach 1933 bildet den knappsten Teil von Scholems Erinnerungen. Die Entfernung wurde nur einmal noch von einer kurzen Begegnung in Paris im Februar 1938 unterbrochen. Die Briefe Benjamins61 an Scholem erlau59 Benjamin war kein regelmäßiger Mitarbeiter der deutschen Presse mehr. Die Frankfurter Zeitung veröffentlichte nur eine einzige seiner Rezensionen im September 1932. Einerseits von der baupolizeilichen Zwangsräumung seiner Berliner Wohnung bedroht, war es ihm andererseits nicht gelungen, sich einen - für ihn lebenswichtigen - festen Platz in der Presse oder im Rundfunk zu verschaffen, und er war zu einem erheblichen Teil von der Großzügigkeit seiner Freunde abhängig, insbesondere der des Schriftstel­ lers Wilhelm Speyer (1857-1952), der ihn in Italien zu großen Touren mit dem Auto einlud, sowie von geborgtem Geld. Vgl. den Brief an Scholem vom 7. August 1932, GB IV, S. 123. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Scholem ihn in Berlin treffen wollte, war er außerstande, aus eigenen Mitteln dorthin zu fahren. 60 Brief an Scholem vom 26. Juli 1932, GB IV, S. 1 1 1 - 1 1 3 . In der Erwähnung des »ziemlich skurrilen Burschen«, mit dem er seinen vierzigsten Geburts­ tag in Nizza verbingen wolle (Brief an Scholem vom 25. Juni 1932, GB IV, S. 106), sieht Scholem einen Hinweis auf seinen Beschluß, seinem Leben ein Ende zu setzen. Vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 223 f. 61 Gemeint ist der von Scholem 1980 edierte Briefwechsel, nicht die zwei­ bändige, zusammen mit Adorno 1966 veranstaltete Ausgabe der Briefe. Als Scholem seine Erinnerungen an Benjamin schrieb, verfügte er über unend­ lich viel mehr Material als zur Zeit jener ersten Briefedition. Entgegen dem, was zu befürchten stand, waren nicht alle Schriften Benjamins von der Ge­ stapo zerstört worden. Zu den Papieren, die 1933 in seiner Berliner Woh­ nung beschlagnahmt und anschließend vernichtet worden waren, gehören seine Manuskripte, seine Jugendtexte, seine Korrespondenz und die Schrif­ ten der Brüder Hcinlc. Die meisten der Benjaminschen Schriften existierten in der Form handschriftlicher Kopien, die er unter seinen Freunden zirku-

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ben es, die einzelnen Etappen seines Exils zu verfolgen, seine theoretischen Beschäftigungen, das Tragische seiner Situation, aber auch zu erkennen, daß es Scholem zunehmend schwerfiel, sich diese Situation klarzumachen. Als dieser (im Oktober 1933) Benjamin nach Jerusalem einlud62, antwortete er auswei­ chend und zog es vor, sich in Paris niederzulassen.63 Scholems lieren ließ. Auch seine Briefe schrieb er, der Authentizität halber, nur selten mit der Schreibmaschine; das Mittel der Photokopie nutzte er erst im Pariser Exil. - Die 1940 in seiner Pariser Wohnung beschlagnahmten Papiere wur­ den unter merkwürdigen Umständen wiederentdeckt. 1966 erfuhr Scholem vom stellvertretenden Direktor des Zentralarchivs der DDR in Potsdam, daß ein Großteil der Briefe, die er in den Exiljahren an Benjamin gerichtet hatte, erhalten geblieben sei. Die persönlichen Papiere, die 1940 in Benjamins Pa­ riser Wohnung (10, rue Dombasle) konfisziert worden waren, wurden zu­ fällig mit dem Archiv des Emigrantcnblatts Pariser Tageszeitung zusammen verpackt. Trotz eines Erlasses der Gestapo im Februar 1945, all diese A r­ chive zu vernichten, gelangten sie nach Berlin und von dort in die Sowjet­ union, wo sie fünfzehn Jahre lang blieben. Als i960 ein Großteil der deut­ schen Museums-, aber auch der Archiv- und Bibliotheksbestände in die DDR zurückgeführt wurde, fielen darunter auch diese nunmehr in Postdam aufbewahrten Briefschaften. Ihre Existenz wurde jedoch erst einige Jahre später durch Mitarbeiter des Brecht-Archivs und einen ehemaligen Mitar­ beiter des Instituts für Sozialforschung, Alfred Sohn-Rethel, bekannt, der bei einem Besuch in Potsdam davon Kenntnis erhielt. Scholem wandte sich an den Innenminister der DDR um eine Erlaubnis zur Sichtung dieser Be­ stände, erhielt jedoch niemals Antwort. Im September 1966 trat er am Rande einer akademischen Tagung in Bukarest mit dem Direktor der Akademie der Wissenschaften der DDR in Kontakt, der ihn einlud, Benjamins Papiere einzusehen. So konnte er im Oktober 1966 seine alte Korrespondenz wie­ derlesen; die Photokopien, deren Zusendung ihm versprochen worden war, erhielt er jedoch nie. Unterdes wurde Benjamins Nachlaß in die Ostberliner Akademie der Künste überführt. Stephan Hermlin, dem antifaschistischen Dichter und ehemaligen Emigranten, und Johannes Hoffmann, dem damali­ gen Kulturminister der DDR, ist es zu verdanken, daß Scholem zu seinem achtzigsten Geburtstag die so lange erwarteten Kopien erhielt. Benjamins und Scholems Korrespondenz erschien daraufhin in einem Einzelband 1980 bei Suhrkamp. (Zur Entwicklung von Benjamins Bibliothek während seines Pariser Exils vgl. auch das Vorwort von J. Allen zu dem Band Je deballe ma bibliotheque.) 6z Durch Vermittlung von Kitty Marx-Steinschneider, der Nichte von Scholems Freund Moses Marx. Sie lebte in Jerusalem. 63 Benjamin drängte Dora, mit Stefan nach Palästina auszuwandern; Doras

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Briefe verraten von nun an ein gewisses Zögern; seine negative Beschreibung der Möglichkeiten, in Palästina Fuß zu fassen, konnten auf Benjamin nur abschreckend wirken.64 Er reagierte auf diese Briefe Scholems mit einer gewissen Wehmut.65 1934/ 3 5 war an eine Übersiedlung nicht mehr zu denken.66 Scholems Feindseligkeit gegenüber Benjamins marxistischer Orientie­ rung kam mit immer mehr Schärfe zum Ausdruck67, während Bruder lebte bereits dort. Scholcm hatte Vorbehalte gegen Stefans Übersied­ lung. In einem Brief vom 23. Mai 1933 (Bcnjamin/Scholcm, Briefwechsel, S.67) fragt er sich, ob es sinnvoll sei, einen Jungen, der kein Hebräisch spricht und mit kommunistischen Ideen aufgewachsen ist, nach Jerusalem kommen zu lassen. 64 Vgl. insbesondere den Brief vom 26. Juli 1933, cbd., S. 86f. 65 Ebd., S. 100-102 (Briefe vom September 1933). Benjamin war, finanziell mittellos, von Malaria befallen. Scholcm empfahl ihn jüdischen Persönlich­ keiten, die ihm möglicherweise helfen konnten, indem sic ihm redaktionelle Arbeiten anvertrauten, insbesondere Robert Weltsch, dem Herausgeber der Jüdischen Rundschau. Dieser schlug ihm vor, einen Artikel zum zehnten To­ destag Kafkas zu schreiben (»Franz Kafka«, GS II.2, 5.409-438). Ebenso sollte er eine Auswahl von Texten Molitors für die Schocken-Bücherei vor­ bereiten. 66 Mehrere Umstände liefern dafür die Erklärung: Scholems Scheidung, die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, die Entwicklung des Terrorismus. 67 Er warf Benjamin vor, sich in einer wahren »theoretischen Schizophre­ nie« cinzukapseln, und fragte ihn, wie er gleichzeitig seinen (am 27. April *934 gehaltenen) Vortrag »Der Autor als Produzent« (GS II.2, S. 683-701), in dem seine materialistische Orientierung einen Höhepunkt erreicht, und sei­ nen theologisch inspirierten Essay über Kafka habe schreiben können. Zur gleichen Zeit, als er »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­ duzierbarkeit« schrieb (die französische, von Pierre Klossowski übersetzte Fassung wurde 1936, zu Lebzeiten Benjamins, publiziert: GS I.2, S. 709-739; vgl. auch die erste Fassung (1935) in GS 1.2, S .4 3 1-469 [und die vierte von 1938/39 in GS 1.2, S. 471-508, dort als »Zweite Fassung« bezeichnet]), unter­ hielt er sich, ausgehend von den Schriften Oskar Goldbergs und Leo Strauss’, mit Scholcm über die Stellung Maimonides’ im Judentum. Zu ei­ nem (1934 veröffentlichten) Artikel, den Benjamin für die Zeitschrift für Sozialforschung verfaßt hatte (»Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers«, GS II.2, S. 776-803), fragte ihn Scholem, ob es sich um ein »kommunistisches Credo« handele (Brief an Benjamin vom 19. April 1934, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel, S. 136).

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dieser, in Erwartung einer persönlichen Begegnung, jede E r­ klärung aufschob. Er hatte die Hoffnung auf einen Besuch noch immer nicht aufgegeben. Als Scholem eingeladen wurde, in den USA eine Reihe von Vorträgen über die jüdische Mystik zu halten, sahen sie sich bei seiner Ankunft in Europa ein letztes Mal wieder. Im Laufe der fünf Tage, die sie Mitte Februar 1938 miteinander verbrach­ ten68, unterhielten sie sich über Fragen, die sie brieflich nicht anzuschneiden gewagt hatten. Benjamin unterstrich die Be­ deutung, die er seiner letzten Schrift »Über das mimetische Vermögen« beimaß.69 Scholem versuchte vergeblich, ihn zu ei­ ner Rechtfertigung seiner politischen Ideen zu bewegen, zumal die Lage der Demokratie in der Sowjetunion und die Entwick­ lung in Deutschland dieser Diskussion einen dramatischen A s­ pekt verliehen. Ihre Begegnung ging nicht ohne Blessuren ab.70 Die Isolation Benjamins hatte etwas Tragisches: Außer Fritz Lieb, einem Schüler Karl Barths, und Adorno wußten weder Brecht noch die Theoretiker der Frankfurter Schule etwas mit den theologischen Kategorien anzufangen, die sein Denken immer noch prägten. Scholem unterwarf seine »marxistischen In seiner Antwort (Brief an Scholem vom 6. Mai 1934, ebd., S. 138-142; GB IV, S. 407-412) verweigert sich Benjamin abermals der Alternative, vor die ihn Scholem stellen wollte, und bekräftigt seine Bewunderung für Brecht und Kafka. Vorbehaltlos loben wird Scholem hingegen den Band Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen (GS IV. 1, S. 149-2 3 3), in dem er das Gefühl hat, Benjamins literarisches und philosophisches Genie wiederzufinden. 68 »Ich hatte ihn elf Jahre nicht gesehen und seine Erscheinung hatte sich einigermaßen verändert. Er war breiter geworden, trug sich etwas nachlässi­ ger und sein Schnurrbart war viel buschiger geworden. Sein Haar war stark graumeliert« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freund­ schaft, S .2 jj) . 69 (GS II. 1, S.210 -213.) 70 Bei Erwähnung einer Diskussion mit Scholem schrieb Benjamin an Kitty Marx-Steinschneiden »Irre ich mich nicht, so hat sie [die Auseinanderset­ zung] ihm von mir das Bild eines Mannes gegeben, der sich in einem Kroko­ dilsrachen, den er mittels eiserner Verstrebungen geöffnet hält, häuslich niedergelassen hat« (Brief vom 20. Juli 1938, GB VI, S. 142).

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Schriften«71 einer strengen Kritik, insbesondere seinen Essay über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­ duzierbarkeit«, dessen zweiter Teil ihm unverbunden mit dem ersten und ziemlich künstlich erschien. Benjamin sah den Zu­ sammenhang zwischen den beiden Teilen in der kommenden Revolution.72 Scholem hingegen glaubte nicht an diese Revo­ lution. Ihre Diskussionen über Brecht verliefen stürmisch.73 Benjamins Position erschien ihm um so unverständlicher, als seine Bindung an den Marxismus nicht das geringste an seiner metaphysischen Konzeption der Sprache geändert hatte.74 Die Beziehungen Benjamins zu Horkheimers Institut machten ihn ratlos. Ein weiteres Treffen, das für August vorgesehen war, konnte nicht stattfinden. Benjamin zog es vor, in Dänemark bei Brecht zu bleiben, um dort seinen Essay über Baudelaire zu schreiben. Wie dramatisch sich Benjamins Situation entwickel­ te, konnte Scholem Benjamins letzten Briefen (1939-1940) ent­ nehmen. Ein letztes Mal versuchte er, ihn nach Palästina kom­ men zu lassen. Am 11 . Januar 1940 schrieb ihm Benjamin: So trist es ist, nicht mit einander konversieren zu können, so 71 Gemeint ist sein Essay über Eduard Fuchs und der Kunstwerk-Aufsatz. Zu Scholems Kritik an letzterem siehe ders., Walter Benjamin - die Ge­ schichte einer Freundschaft, S. 257 f., und ders., »Walter Benjamin«, S. 24 f. 72 (Vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft,

S. 258.) 73 Trotz seiner ungeheuren Intelligenz und Sensibilität war Scholem für al­ les, was nicht mit dem Judentum zu tun hatte, relativ verschlossen. Sein Ver­ ständnis des Brcchtschen Werks, in dem er nichts als ein »kommunistisches Credo« und eine »revolutionäre Manipulation« sah, wird stets sehr einseitig bleiben. 74 »Denn jene Liquidation der Magie der Sprache, die einer materialisti­ schen Sprachansicht konform war, stand ja in unverkennbarer Spannung zu all seinen früheren, unter theologisch-mystischer Inspiration stehenden Sprachbetrachtungen, die er in anderen Aufzeichnungen, die er mir damals vorlas, wie auch in der Notiz über das mimetische Vermögen, noch immer beibehielt beziehungsweise fortentwickelt hatte. Daß ich niemals einen atheistischen Satz aus seinem Munde gehört habe, war für mich [...] kein Grund zur Verwunderung [...].« Ebd., S.259L

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habe ich doch das Gefühl, daß die Umstände mich dabei kei­ nesfalls so feuriger Disputationen berauben, wie sie hin und wieder zwischen uns statt hatten. Heute ist dazu kein Anlaß mehr. Und vielleicht ist es sogar schicklich, ein kleines Welt­ meer zwischen sich zu haben, wenn der Moment eingetreten ist, einander spiritualiter in die Arme zu fallen.75 Im Frühjahr 1940 sandte Benjamin ein Exemplar seiner Thesen »Über den Begriff der Geschichte« an Scholem. Waren es diese Thesen, in denen Benjamin die Versöhnung ihrer Positionen gefunden zu haben glaubte? Der letzte Brief, den er an ihn richtete, enthielt seine negative Einschätzung von Horkheimers Schrift über die Juden Europas.76 Über die letzten Mona­ te von Benjamins Leben und über seinen Selbstmord wurde Scholem erst später von Adorno und Hannah Arendt infor­ miert, mit der Benjamin während seines Pariser Exils eng ver­ bunden war. Scholems Bemühen, Benjamins Persönlichkeit und Werk dem Vergessen zu entreißen, waren ein letztes Zei­ chen seiner Treue zu ihrer Freundschaft. Keine Etappe seines Lebens oder Werks könnten wir uns vergegenwärtigen ohne Scholems nahe oder ferne Präsenz, seine warmherzige und kri­ tische Bewunderung. Benjamin und der Erste Weltkrieg Viele Intellektuelle der Generation Benjamins haben den jähen Einschnitt geschildert, den der Erste Weltkrieg in ihrem Leben darstellte.77 Was er für Benjamin bedeutete, wird nur aus sei­ nem Briefwechsel, einigen Hinweisen der Berliner Chronik 75 Brief an Scholem vom 11. Januar 1940, GB VI, S. 379. 76 (Max Horkheimer, »Die Juden und Europa«, in: Zeitschrift für Sozial­ forschung, Bd. 8 (1939), Heft 1-2; Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd.4.) 77 Nennen wir aufs Geratewohl Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Georg Lukäcs, Erwin Piscator, Ernst Mühsam, Ernst Toller. Vgl. zu diesem Thema Kurt Kreiler, Die Schriftstellerrepublik.

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und den Erinnerungen Scholems ersichtlich. E r dachte nicht daran, sich dem Krieg zu entziehen.78 Erst der brutale Selbst­ mord Heinles riß ihn aus dieser Passivität. Während Benjamin und sein Bruder79 sich ins Unvermeid­ liche schickten, stieß der Krieg bei Gerhard und Werner Schü­ lern auf radikale Ablehnung. Werner, 1916 in Serbien verwun­ det, wurde Anhänger der Ideen Rosa Luxemburgs. Gerhard wollte sich im Namen seiner politischen80 und religiösen Überzeugungen nicht einmal einberufen lassen. Von anarchi­ stisch-utopischem Denken beeinflußt, kam er zu der Ansicht, der Krieg sei moralisch abzulehnen und die Juden hätten ihr Blut nicht für deutsche Interessen zu vergießen. E r ließ sich wegen Geistesstörungen dienstuntauglich schreiben.81 Streng verurteilte er die Haltung mancher jüdischer oder zionistischer Zeitschriften Deutschlands.82 Er überzeugte Benjamin davon, 78 Er besuchte immer noch mit Heinle das Cafö des Westens, sie diskutier­ ten über die Wahl der Waffengattung, die Kaserne, bei der sie sich als Frei­ willige melden wollten - freilich »keinen Funken Kricgsbegcistcrung im Herzen« (Berliner Chronik, GS VI, S.481). 79 Georg Benjamin kämpfte als Kriegsfreiwilliger an der Ostfront, wo er schwer verwundet wurde, dann bei Verdun. Bei ihm, der zum Offizier be­ fördert und mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse dekoriert wurde, rief der Krieg keine besondere Ablehnung hervor. Vgl. Hilde Benjamin, Georg Benjamin. Eine Biographie, S.32. 80 Marxistische Theorien nahmen dabei weniger Raum ein als anarchisti­ sche Theoreme, die er von Tolstoi, Bakunin, Kropotkin, Eliscc Rcclus und vor allem Gustav Landauer, dem Freund Martin Bubers, entlieh. Über sei­ nen Bruder kam er mit Kreisen der linksoppositionellen sozialdemokrati­ schen Jugend in Berührung und nahm an illegalen Versammlungen teil. Er beteiligte sich an der Verbreitung der verbotenen Nummer von Die Interna­ tionale. 81 Scholem blieb bis August 19 17 in einer psychiatrischen Anstalt und drängte Werner Kraft heftig dazu, sich dem Krieg zu entziehen; er schrieb ihm: »[Bjedenken Sie, daß es nun besser ist, als verrückt im Nervenlazarett des Preußentums zu liegen, als die Verrückten zum Preußentum zurückzu­ pflegen.« Werner Kraft war zu dieser Zeit Krankenwärter in einem Militärlazarctt für Kriegshysteriker. (Scholem, Brief vom 19. August 1917, in: Scholem, Briefe an Werner Kraft, S. 26 f.) 82 Die Mitglieder der Gruppe »Jung Juda«, der er angehörte, waren sämt-

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daß Zionismus und Sozialismus »zwei mögliche Wege« dar­ stellten, auch wenn Benjamin sich von keinem der beiden ange­ sprochen fühlte. Die Kritik des von Martin Buber gefeierten »Kriegserlebnisses« stand am Anfang ihrer politischen Diskus­ sionen. Benjamin, der bereit war, in der klandestinen pazifisti­ schen Propaganda eine Rolle zu spielen, lernte durch Scholem Schriften der linken Opposition innerhalb der Sozialdemokra­ ten kennen83 und beschloß, sich dem Militärdienst zu entzie­ hen, indem er »nervöse Krämpfe« simulierte.84 Zu seiner gro­ ßen Bestürzung schrieb ihn die Musterungskommission im lieh Pazifisten. Als 191 j in der - von Buberschcn Gedanken inspirierten Jüdischen Rundschau ein Artikel »Wir und der Krieg« erschien, richtete er einen Protestbrief an die Redaktion, in dem es hieß, solange die Zensur es unmöglich mache, Antikriegsartikel zu publizieren, sei es undenkbar, daß eine zionistische Zeitschrift ihn billige. Scholem entwickelte diesen Stand­ punkt in verschiedenen Artikeln, die in dem Band von J. Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Deutschen Zionismus 1882-19 33, enthalten sind (S. 168, 169, 17 1, 195-200, 325-528). Die Jüdische Rundschau hatte be­ reits am 7. August 1914 einen Aufruf an die deutschen Juden veröffentlicht und sie ermahnt, sich als »die besten Söhne des Vaterlandes« zu erweisen und sich als Kriegsfreiwillige zu melden. Die Proklamationen endeten mit einer Eloge auf Wilhelm II. und mit dem Satz, wenn fünfhunderttausend Ju­ den in der deutschen Armee kämpften, handele es sich um einen »jüdischen Krieg«. Von großen Universitätslehrern wie Hermann Cohen und Georg Simmel wurden diese Positionen geteilt. 83 Unter anderem das erste Heft der von Rosa Luxemburg und August Thalheimer herausgegebenen Zeitschrift Die Internationale. Benjamin las auch Lichtstrahlen, das Organ der Zimmcrwalder Linken, und vor allem Gustav Landauers berühmte Monographie Die Revolution, in der dieser sei­ nen tiefen Glauben an den politischen Messianismus, an Anarchismus und Utopie deutlich machte. 84 Benjamin hatte sich in den ersten Kriegstagen 1914 freiwillig gestellt, »nicht aus Kriegsbegeisterung, sondern um der unausweichlichen Einberu­ fung in einer Weise zuvorzukommen, die es erlaubt hätte, unter Freunden und Gleichgesinnten zu bleiben« (Scholem, Walter Benjamin - die Ge­ schichte einer Freundschaft, S. 20). Er wurde jedoch abgewiesen. Als er sich (am 21. Oktober 1915) nachmustern lassen mußte, verbrachte er die Nacht zuvor kartenspielend mit Scholem und große Mengen Kaffee trinkend, um dienstuntauglich gestellt zu werden. Angesichts seiner Kurzsichtigkeit ist es wenig wahrscheinlich, daß er cingezogen worden wäre.

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Dezember 19 16 »feldarbeitsverwendungsfähig«. Es gelang ihm jedoch, sich freisteilen zu lassen85, er konnte sich an der Münchner Universität einschreiben und später in die Schweiz ausreisen. Trotz seiner pazifistischen Gesinnung übersetzte sich seine Gegnerschaft zum Krieg in kein konkretes Engagement. Die Ereignisse, die Europa zwischen 1914 und 1919 umwälzten, hinterließen in seinem Werk keine unmittelbare Spur, wenn­ gleich sie am Ausgangspunkt seiner Bekanntschaft mit Ernst Bloch und Hugo Ball standen.86 Wenn er sich mit Scholem über Politik unterhielt, blieb die Erörterung auf rein theoreti­ scher Ebene. Das Schweigen über den Krieg, das sie sich aufer­ legt hatten, wurde auch nicht durch den Sturz der mitteleuro­ päischen Reiche, die bolschewistische Revolution und die revolutionäre Agitation in Deutschland gebrochen.87 In ihren Diskussionen mit Hugo Ball fühlten sie sich mehr von dessen Feindseligkeit gegen Kant als von seiner leidenschaftlichen Opposition zum Krieg betroffen. Diese Distanz, die Benjamin von der Haltung so vieler Intellektueller seiner Generation un­ terschied, symbolisiert bereits, was ihn von Bloch schon im er­ sten Augenblick ihrer Begegnung trennte. War man sich ein­ mal über die Ablehnung des Krieges einig, ließ die Reflexion über Literatur, über die Philosophie der Sprache und das Ju ­ dentum jede Erwähnung der aktuellen Politik in den Hinter­ grund rücken. Das Interesse, das Benjamin während seiner 85 Scholem zufolge (ebd., S. 50) hatte Dora bei ihm unter Hypnose Ischiassymptomc hervorgerufen. Obgleich er diese Episode im Exil erwähnte, lie­ fert nichts in Benjamins Korrespondenz einen Hinweis darauf, daß er tat­ sächlich eine Krankheit simuliert hätte. 86 Scholem erinnert vielmehr daran, daß es zu den Grundforderungen Ben­ jamins an seine Freunde gehört habe, solche Ereignisse niemals zu diskutie­ ren. 87 Mit der sowjetischen Revolution vor Augen billigte Scholem damals die Idee einer »Diktatur des Proletariats«. Benjamin lehnte sie ab und erklärte, er sei nicht grundsätzlich gegen die Monarchie (vgl. ebd., S. ioof.).

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Münchner und Schweizer Studienjahre - vermittelt über die deutsche Romantik - an der Philosophie der Sprache, an der Theorie und Kritik der Literatur sowie an der Philosophie der Geschichte in ihrem Verhältnis zur theologischen Welt entwikkelte, sollte seine ganze spätere Entwicklung bestimmen. München und Bern (19 16 -19 19 ): Studienjahre und erste philosophische und literarische Essays In einem seiner »Curricula vitae«88 hebt Benjamin die ent­ scheidenden theoretischen Impulse hervor, die er im Laufe sei­ ner Studienjahre in München und Bern erhalten habe.89 So­ wohl auf dem Gebiet der Sprachphilosophie wie auch bei seinen Überlegungen zum Judentum, zur Geschichte und K ri­ tik der Literatur haben sich seine Grundgedanken in dieser Zeit herausgebildet; es sind die Jahre, in denen er Hölderlin entdeckte und in denen die beiden Bücher entstanden, die er vor 1933 veröffentlichte, seine Dissertation über die romanti88 »Entscheidende Anregungen kamen mir in meiner Studienzeit von einer Reihe von Schriften, die zum Teil meinem engeren Studiengebict fern lagen. Ich nenne Alois Riegls >Spätrömische Kunstindustries Rudolf Borchardts >VillaBrod und Wein«. Einen nachhaltigen Eindruck hinterlicßen mir die Vorlesungen des Münchener Philosophen Moritz Geiger sowie des Berliner Privatdozenten für finnischugrische Sprachen, Ernst Lewy. Die Übungen, die der letztere über Hum­ boldts Schrift »Über den Sprachbau der Völker« abhielt sowie die Gedanken, die er in seiner Schrift »Zur Sprache des alten Goethe« entwickelte, erweck­ ten meine sprachphilosophischen Interessen. Im Jahre 1919 bestand ich an der Universität Bern mit dem Prädikat summa cum laude meine Doktor­ prüfung. Meine Dissertation ist als Buch unter dem Titel »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« (Bern 1920) erschienen.« »Curricu­ lum Vitae Dr. Walter Benjamin (VI)«, CS VI, S. 22 j. 89 Diese »entscheidenden Anregungen« kamen übrigens eher von seinen Lektüren und Diskussionen mit Scholem als von den Vorlesungen, die er be­ legt hatte. Über die meisten akademischen Persönlichkeiten, denen er in München und Bern begegnete, fällt Benjamin abwertende Urteile. Selbst Heinrich Wölfflin, an dessen Vorlesungen er tcilnahm, findet keine Gnade vor seinen Augen.

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sehe Literaturkritik und seine Studie über das Trauerspiel. A b­ gesehen von der Festigung der Freundschaft mit Scholem sollte die Begegnung mit Ernst Bloch entscheidend werden. Nach seiner Zurückstellung vom Militärdienst ging er im Oktober 1915 nach München und blieb dort vierzehn Monate, unterbrochen von kurzen Aufenthalten in Berlin. In seiner Korrespondenz erwähnte er beständig sein Interes­ se an der deutschen Romantik und an der Philosophie der Sprache. Im Herbst und Winter 1914/15 verfaßte er seinen Es­ say über Hölderlin90 und übersetzte Baudelaire. Mehrere zen­ trale Thesen seiner Sprachphilosophie - die Bedeutung, die er der religiösen und magischen Dimension zugestand, die Annä­ herung zwischen seiner eigenen Konzeption und der romanti­ schen Kritik - sind in dem Brief gegenwärtig, den er im Juni 1916 an Martin Buber richtete.91 Sie finden ihre erste große Darstellung in dem Essay »Über Sprache überhaupt und über 90 »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin« (1914/15), GS II.i,S. 105-129. Der Dialog »Der Regenbogen«, den er in der gleichen Zeit schrieb, ist ver­ schollen (wurde jedoch von Giorgio Agamben wiederentdeckt und ist nun in GS VII. 1, S. 19-26 enthalten). Die Kommentare, die er zu den beiden Höl­ derlin-Gedichten verfaßte, sind in mehr als einer Hinsicht interessant. Ge­ gen die »Hagiographie«, wie sie der George-Schule lieb und teuer war, be­ mühte sich Benjamin um eine Bestimmung dessen, was ein rein ästhetischer Zugang zu einem Gedicht sein könnte. Er benutzte hier zum erstenmal den Goetheschcn Begriff des »Gehalts«, der eine wesentliche Rolle in der Me­ thodologie des Essays über die Wahlverwandtschaften spielen wird, und prägte den Begriff des »Gedichteten« als »Übergang von der Funktionsein­ heit des Lebens zu der des Gedichts« (»das Gedichtete«: auf französisch mit dictamen oder mit noyau poetiqne wiedergegeben; vgl. die respektiven An­ merkungen der Übersetzer in Mythe et violence, S. 52, und CEuvres, Bd. 1, S. 92). Man wird bemerken, daß die Aufgabe des Dichters als Mut zum Tode bestimmt wird [vgl. CS I.i, S. 123]. Benjamin dachte offensichtlich an Heinle. Schließlich kündigt der Sieg der dichterischen Form über die mythischen Elemente ein wesentliches Thema der Benjaminschen Sprachphilosophie an, das im Kern des Essays über die Wahlverwandtschaften beschlossen liegt. 91 Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, CB I, S. 1 16 -118 [in der zwei­ bändigen Ausgabe der Briefe auf Juni 1916 datiert].

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die Sprache des Menschen«92, der - im November und D e­ zember 19 16 verfaßt - die Bedeutung dokumentiert, die das Judentum in seinem philosophischen Denken gewonnen hat. Im Zuge einer Lektüre Kants, Hölderlins und der Romanti­ ker entwickelt Benjamin die ersten Grundlagen seiner eigenen Geschichtsphilosophie. Der Beginn seines Münchner Aufent­ halts stand unter dem Zeichen seines Bruchs mit Grete Radt und seiner Verbindung mit Dora Pollak93, die er am 17. April 19 17 heiraten sollte. Benjamins Interesse an Sprachphilosophie brachte ihn dazu, 19 16 /17 an den Privatseminaren des Ameri­ kanisten Walter Lehmann über die Mythologie der Azteken teilzunehmen; dort traf er Rilke.94 Die Kreise, in denen sie sich 92 G5 II.i, S. 140-157. 93 Aus Wien stammend, Tochter des Anglisten Leon Kellner - der mit Theodor Herzl befreundet war und dessen Schriften herausgab stand sic seit den Jahren der Jugendbewegung in enger freundschaftlicher Beziehung zu Benjamin. 94 In seinem »Curriculum vitae (VI)« notiert er: »Von vornherein ist das In­ teresse für die Philosophie der Sprache neben dem Kunsttheoretischen vor­ herrschend bei mir gewesen. Es veranlaßte mich während meiner Studien­ zeit an der Universität München der Mcxikanistik mich zuzuwenden - ein Entschluß, dem ich die Bekanntschaft mit Rilke verdanke, der 19 15 eben­ falls die mexikanische Sprache studierte. Das sprachphilosophische Interes­ se hatte auch an meinem zunehmenden Interesse für das französische Schrifttum Anteil. Hier fesselte mich zunächst die Theorie der Sprache wie sie aus den Werken von Stephane Mallarme hervorgeht« (CS II. 1, S. 226). Im Exil verfaßt und dazu bestimmt, seine Vertrautheit mit der französischen Kultur zu unterstreichen, mag dieser Text eine nachträgliche Bearbeitung der Wirklichkeit liefern. Es ist zweifelhaft, ob Benjamin seinerzeit schon eine tiefere Kenntnis des Werkes von Mallarme hatte, das er vor allem 1919 in der Schweiz lesen wird und dessen Theorie der Symbolik eine wirksame Rolle in den Passagen spielt. Im übrigen gibt es keinen Beleg dafür, daß er mit Rilke tatsächlich persönlichen Umgang hatte, auch wenn er sein Werk kannte. Fragmente daraus hatte er am 6. Juni 1913 auf einer literarischen Abendveranstaltung vorgetragen. Sofern er eine wirkliche Bewunderung für seine Gedichte hatte, war sie von kurzer Dauer. Später sah er in ihnen sämtliche Schwächen des Jugendstils. Auch wenn er den meisten seiner Ge­ dichte kritisch gegenüberstand, war er über den giftigen Nachruf schokkiert, den Franz Blei ihm widmete. Es war Hugo von Hofmannsthal, der Rilke vorgeschlagen hatte, Benjamin mit der Übersetzung eines Bandes mit

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im literarischen Kosmos Münchens bewegten, waren einander recht nahe. Mit ihrem Künstlerviertel Schwabing, ihren litera­ rischen Zirkeln, ihren Malern und Dichtern gewann die Stadt durch die Präsenz charismatischer Persönlichkeiten wie Stefan George und Ludwig Klages, deren Schüler mit einem veritablen Kult des Irrationalismus das künstlerische Leben präg­ ten.95 Im Gegensatz zu Rilke96 hielt sich Benjamin diesem Milieu relativ fern, auch wenn er mit Klages97 und Schüler9® bekannt war. Gedichten von Saint-John Pcrse zu betrauen, und sic sollten mehrere Briefe miteinander wechseln. Wenn sie sich tatsächlich während des Seminars von Lehmann im November oder Dezember 1916 kurz begegnet sind, blieb ihre Beziehung sehr förmlich. Walter Lehmann, später Direktor des Ethnologi­ schen Lehr- und Forschungsinstituts bei den Staatlichen Museen in Berlin, versammelte in seiner Privatwohnung einige Studenten. Benjamin lernte dort Felix Noeggerath kennen, den er Ende der zwanziger Jahre häufig in Berlin besuchte und dem er 1932 auf Ibiza wiederbegegnete. 9j Diese Atmosphäre wird in bewundernswerter Weise bei Franz Hessel gegenwärtig, dem Benjamin erst in den zwanziger Jahren begegnen sollte, sowie bei Franziska Gräfin zu Rcvcntlow. Die beherrschende Figur des lite­ rarischen Lebens war Stefan George, dessen Kreis sich 1895 um die Zeit­ schrift Blätterfür die Kunst gebildet hatte. Unter seinen berühmtesten Schü­ lern waren Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf, Ludwig Klages und Alfred Schüler zu finden. Während Wohlskehl stets Schüler Georges blieb, bildeten Klages und Schüler eigene Zirkel, als der George-Kreis 1904 auseinander­ brach. George mißbilligte ihren Antisemitismus. 96 Vor 1914 stand Rilke in persönlicher Verbindung mit Kokoschka, Kandinsky, Klee, Becher, Wolfenstein, Laskcr-Schülcr, Heinrich Mann, Rudolf Kassner, Max Reinhardt, £milc Verharen und Schönberg. Wenigstens zwei Beziehungen Rilkes werden eine grundlegende Rolle in Benjamins Leben spielen: zu Klee und zu Hofmannsthal. 97 Der Einfluß Klages’ auf Benjamin reicht bei weitem über ihre gemeinsa­ me Leidenschaft für Graphologie hinaus. Er geht ursprünglich aus einer be­ stimmten vorkritischen Beziehung zum Mythos hervor, die Benjamin vor seiner Bachofen-Lektüre pflegte. Klages hielt im Juli 1915 einen Vortrag vor den »Freistudenten«; Benjamin hatte ihn in München kennengelernt und fand ihn »bereit und höflich« (Brief an Ernst Schoen vom 22. Juni 1914, GB I, S.237). Er hoffte ihn 19x6 wiederzusehen, doch Klages war als Kriegsgeg­ ner in die Schweiz geflüchtet. Benjamin schrieb ihm am 28. Februar 1923 (GB II, S. 319) und brachte seine Freude zum Ausdruck, die ihm die Lektüre

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In München verstärkte sich seine Bewunderung Hölder­ lin s." Er las auch Dostojewski, Kierkegaard, Franz von Baader und Franz Molitor. Ein Brief an Herbert Blumenthal (Ende seiner Schrift Vom kosmogonischen Eros (1922) bereitet habe. Er bewunder­ te auch Der Geist als Widersacher der Seele (1930) und erkundigte sich bei Scholem, ob die Fama dieses »großen Werk[es]« schon bis nach Jerusalem gedrungen sei [Brief an Scholem, 1 5. August 1930, Gß III, S. 537]. Klages war ein echter Vorläufer des nationalsozialistischen Irrationalismus und notori­ scher Antisemit. Erst unter dem Einfluß Adornos distanzierte sich Benja­ min endgültig von ihm (vgl. Brief an Wiesengrund-Adorno vom 7. Januar 193 S> GB V, S. 1 j). In den Passagen wird er gleichzeitig Klages und Jung kri­ tisieren. Seine Theorie des dialektischen Bildes und seine Studie über die Schriften Bachofens sollten es ihm gestatten, sein Interesse am Mythos in weniger •gefährlichem Boden Wurzeln schlagen zu lassen. 98 Alfred Schüler, ein Freund Georges, entwickelte ziemlich morbide The­ sen über »das Wesen des ewigen Lebens« und behauptete, das Individuum sei nur eine kurze Unterbrechung des Todes. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Benjamin mit Rilke bei Vorträgen dieses Kreises zugegen war. Rilke stand zweifellos unter dem Einfluß Schülers, als er seine Sonette an Orpheus verfaßte. Wie Klages war Schüler für seinen Antisemitismus bekannt. Was die von Karl Wolfskehl erwähnte Anekdote angeht - im Laufe dieser Vorträ­ ge habe ein gewisser Adolf Fragen nach dem Ursprung des Hakenkreuzes gestellt - , ist es kaum vorstellbar, daß der Zufall Rilke, Benjamin und Hitler zusammengebracht haben sollte! - Dieses Klima von Mystik und Esoterik zog Benjamin an. Später besuchte er mit sehr zwiespältigen Gefühlen den »magisch-metaphysischen Kreis« Otto Goldbergs und Erich Ungers. Als Norbert von Hellingrath (im Februar 1915) seine beiden berühmten Vorträ­ ge über Hölderlin hielt, war Benjamin noch nicht in München. Von Helling­ rath stand seit 1910 mit Rilke in Verbindung, und seine Hölderlin-Ausgabe war der Ausgangspunkt jener Begeisterung für den Dichter, die um 1914 aufflammte. Die von den Benjamin-Biographen ständig wiederholte Be­ hauptung von Benjamins Teilnahme an den Vorträgen Schülers ist zu nuan­ cieren. Benjamin zog im Oktober 1913 nach München, der Vortragszyklus Schülers endete im März desselben Jahres. 99 Lange Zeit verkannt, wurde Hölderlin in Deutschland um 1914 wieder­ entdeckt, nicht zuletzt dank der Bewunderung, die Stefan George für ihn hegte. Die Erschütterung, die seine Lektüre hervorrief, sollten Cassirer, Heidegger und Benjamin gleichermaßen empfinden. Sogar Scholem gestand zu, daß seine Übersetzungen ins Hebräische zu jener Zeit von Hölderlin be­ einflußt seien. In München wurde dieser Hölderlin-Kult verstärkt durch die doppelte Präsenz Georges und des Hölderlin-Herausgebers Norbert von Hellingrath, der später bei Verdun fiel. Der vierte Band der Hellingrathschen Ausgabe mit den späten Hymnen, darunter »Patmos«, erschien 1916.

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1916) erwähnt ein paar weitere Texte, die er in dieser Zeit schrieb: »Das Glück des antiken Menschen«, »Sokrates«, »Trauerspiel und Tragödie«100, »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«. Die Münchener Jahre waren von einem intensiven Studium der Romantik gekennzeichnet.101 Benjamin forschte nach den Verbindungen zwischen Litera­ turkritik und Sprachphilosophie102, die er sich ohne Rekurs auf das Judentum nicht vorstellen konnte.103 Sein erster Plan zu ei­ ner Arbeit über die Romantik - aus dem sich seine Dissertation entwickeln sollte - nahm im Juni 19 17 Gestalt an. Weit davon entfernt, in der Romantik bloß einen literarischen Stil zu seBcnjamin sollte es stets bedauern, daß er ihm seinen Kommentar zu zwei Hölderlin-Gedichten nicht hatte vorlegen können. An Herbert Blumcnthal schrieb er Ende 1916: »Seit Jahren strahlt mir aus dieser Nacht das Licht Hölderlins.« Brief an Herbert Blumenthal, G B I, S. 348. 100 Ab 1917 begeistert er sich für Andreas Gryphius, den berühmtesten Autor barocker Trauerspiele. In einem Brief an Ernst Schocn vom 30. Juli 19 17 schreibt er: »Das Werk dieses Mannes ist ein Wahrzeichen der großen Gefahr die uns auch heute bedroht: die Flamme des Lebens wenn nicht er­ sticken so doch hoffnungslos verdüstern zu lassen; Licht gibt mir die Beson­ nenheit im Geist der vergangnen Jahre« (GB I, S.374; vgl. auch S.380). Das Interesse Benjamins am Barockdrama hat möglicherweise etwas mit Scholcms Abhandlung »Über Klage und Klagelied« und mit der Lektüre von Heinrich Wölfflins Renaissance und Barock zu tun. 101 »Ich richte mich zunächst auf die Frühromantik, Friedrich Schlegel vor allem, dann Novalis, August Wilhelm auch Heck und später wenn möglich Schleiermacher. Von einer Zusammenstellung Friedrich Schlegelscher Frag­ mente nach ihren systematischen Grundgedanken gehe ich aus; es ist eine Arbeit an die ich schon lange dachte«, schrieb er im Juni 19 17 an Scholem (GB 1, S.362). 102 Diese Verbindung wird in seinem Brief an Martin Buber vom Juni 1916 klar gezogen; dort erwähnt er das Athenäum der Brüder Schlegel [Gfi I, S.327]. In einer längeren Hommage an Hölderlin (Brief an Herbert Blu­ menthal, ca. Ende 1916, GB I, S. 348 f.) behauptet er, dessen Sprache sei von der traditionellen Kritik nicht zu erfassen. 103 Vgl. seine Reinterpretation der Genesis in seinem Essay »Über die Sprache« sowie die Bezugnahme auf das Magische und Prophetische in dem genannten Brief an Buber. Benjamin las damals das Werk von Molitor über die Kabbala: Philosophie der Geschichte oder über die Tradition.

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hen, betonte er diejenigen Züge, die sein Verständnis der Re­ ligion mit der Philosophie der Geschichte im Horizont der Kantischen Metaphysik verbinden.104 Während er seine Bau­ delaire-Übersetzungen fortführte, untersuchte er anhand der Pindar-Übersetzungen Hölderlins, was das Griechische mit dem Deutschen verbindet. Sieht man vom Einfluß des Juden­ tums ab, waren seine philosophischen Ideen im wesentlichen von Kant geprägt. Die Münchener Periode endet mit einer ver­ paßten Begegnung^ nämlich mit Kafka, der am io. November 1916 dort seine Erzählung »In der Strafkolonie« vortrug. Benja­ min war nach einem Aufenthalt in Dachau mit Dora bereits in die Schweiz aufgebrochen, verbrachte den Sommer in St. Mo­ ritz und ließ sich dann in Bern nieder. Die Ankunft in der Schweiz entfernte ihn noch ein wenig weiter vom Krieg und von den Erinnerungen an die Jugendbe­ wegung. Die Jahre 19 17-19 18 waren von verstärktem Interesse an der Philosophie gekennzeichnet. In München hatte er sich von Moritz Geiger in die Phänomenologie einführen lassen und sich mit den Debatten um den Neukantianismus vertraut gemacht. Kant stellt für ihn den »Sockel« dar, auf dem jedes künftige Denken aufbauen müsse.105 In dem sehr spezifischen Sinne, den Benjamin dem Wort Philosophie stets geben wird nicht die Verankerung in einer Tradition, sondern die Entfal­ tung der Wahrheit vermittels der Sprache oder der Lehre durch die Darstellung der Ideen -, situiert er sie auf dem von Platon 104 »[D]ie Romantik [sucht] das an der Religion zu leisten was Kant an den theoretischen Gegenständen tat: ihre Form aufzeigen.« Brief an Scholem vom Juni 1917, GB I, S.363. 105 Siehe seinen Essay »Über das Programm der kommenden Philosophie« vom November-Dezember 1917 und den Brief an Scholem vom 22. Okto­ ber 1917, CB I, S.389: »Ohne bisher dafür irgend welche Beweise in der Hand zu haben bin ich des festen Glaubens daß es sich im Sinne der Philoso­ phie und damit der Lehre, zu der diese gehört, [...] nie und nimmer um eine Erschütterung, einen Sturz des Kantischen Systems handeln kann sondern vielmehr um seine granitne Festlegung und universale Ausbildung.«

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und Kant begonnenen Weg. Ohne eine neue Philosophie zu konzipieren, sprach er ihr die Aufgabe zu, das Erbe Kants le­ bendig zu halten, dessen Stil »einen limes der hohen Kunst­ prosa« darstelle; hätte sonst die K ritik der reinen Vernunft Kleist »bis ins Innerste erschüttert« ?106 Während des Winters 19 17 erwog er, seine Doktorthese dem Thema »Kant und die Geschichte« zu widmen, wenn er Material fände, um seine Überlegungen zu untermauern. Er skizzierte eine erste Analy­ se des Kunstwerks, ausgehend von den Beziehungen zwischen Zeichnung und Malerei im Kubismus.107 Im November sandte er Scholem seinen Essay über Dostojewskis D er Idiot, in dem er über merkwürdige Entsprechungen die Erinnerung an seine Freundschaft mit Heinle wiederfand.108 Zu Beginn des Jahres 1918 schrieb er seinen Essay »Über das Programm der kom­ menden Philosophie«, deren »zentrale Aufgabe« er darin sieht, »die tiefsten Ahnungen die sie aus der Zeit und dem Vorgefühle einer großen Zukunft schöpft durch die Beziehung auf das Kantische System zu Erkenntnis werden zu lassen«.109 Da er den Anspruch einer systematischen Darstellung von Erkennt­ 106 Ebd., S.390. 107 »Über die Malerei oder Zeichen und Mal« (1917), GS II.2, S .603-607. Nach Scholem gibt dieser Text eine Vorahnung des Essays über »Das Kunst­ werk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Wie Rilke begei­ sterte sich Scholem für die Ausstellungen der deutschen Avantgarde, insbe­ sondere des »Sturms« oder des »Blauen Reiters«. Benjamin, der reservierter war, kannte die Werke Klees, Kandinskys und Chagalls. Vgl. den Brief vom 22. Oktober 1917, in dem er sich die Frage nach dem Verhältnis Klees zum Kubismus stellt (GB I, S. 394). Benjamin suchte das einigende Band zwi­ schen Malerei, Gegenstand und Farbe zu bestimmen. Die gleichen Fragen finden sich bei Bloch wieder, freilich mit ganz anderen Antworten; vgl. Bloch, Geist der Utopie, Erste Fassung (1918), S. 43 ff. 108 Siche den Brief an Scholem vom 3. Dezember 1917, GB I, S.398. Der Text enthält in der Schilderung des Fürsten Myschkin eine Reihe von An­ spielungen auf die Jugend. »Das ist die große Klage Dostojewskijs in diesem Buche: das Scheitern der Bewegung der Jugend. Ihr Leben bleibt unsterb­ lich, aber es verliert sich im eigenen Licht [...].« GS II. 1, S.240. 109 »Über das Programm der kommenden Philosophie«, GS II. 1, S. 157.

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nis und Wahrheit erhob, tadelte er bei Kant die Armut seines Erfahrungsbegriffs, der weder Religion noch Geschichte ein­ schließe. Ebenso hob er die Bedeutung der »Beziehung der Erkenntnis auf Sprache«110 hervor, die schon Hamann bei Kant vermißt habe. Von den geschichtsphilosophischen Texten Kants enttäuscht, verzichtete Benjamin darauf, ihnen seine Dissertation zu widmen. Er fand, es gehe bei Kant »weniger um die Geschichte als um gewisse geschichtliche Konstellatio­ nen von ethischem Interesse«.111 Gleichermaßen enttäuschte ihn die Lektüre von Georg Simmels Vortrag »Das Problem der historischen Zeit«.112 Die Begegnung mit der Husserlschen Phänomenologie brachte ihn dazu, über das Verhältnis von Be­ griff, -Wesen und Idee nachzudenken, ohne daß er davon eine »entscheidende Anregung« empfangen hätte.113 Ebenso inter­ essierte er sich für Nietzsche, dessen Briefwechsel mit Franz Overbeck er als »das erste wirkliche Dokument seines Lebens« betrachtete, »das ich kennen lerne«.114 Benjamin bemühte sich, bei aller Verschiedenartigkeit seiner Lektüren115 und theoreti­ schen Interessen einen systematischen Zusammenhang in sein Denken einzuführen und für die Abfassung seiner Doktor­ arbeit »meine eignen Gedanken unter Dach und Fach zu brin­ 110 Ebd., S. 168. 1 1 1 Ebenso schreibt er an Schoiem am 7. Dezember 1917, GB I, S.403: »Je­ denfalls gibt es gewisse Probleme wie eben die uns zentralen der Geschichts­ philosophie für die wir bei Kant im entscheidenden Sinne wohl erst dann et­ was lernen können wenn wir sie für uns neu gestellt haben.« (Zitat im Text: Brief an Schoiem, ca. 23. Dezember 1917, ebd., S.408.) 112 Georg Simmel, Das Problem der historischen Zeit, 1916. 113 Er hatte die Vorlesungen des Phänomenologen Paul Linke besucht und zweifellos den Husserlschen Artikel »Philosophie als strenge Wissenschaft« gelesen. 114 Brief an Schoiem, ca. 23. Dezember 1917, GB I, S.410. 115 Gegen Ende des Jahres 19 17 las er mehrere Romane von Anatole France, die Werke Stifters, den Briefwechsel Nietzsches, Texte von CharlesLouis Philippe, Bergson, Hegel, aber auch die Psychologie Schlciermachcrs, an der ihn einzig die Sprachtheorie interessierte.

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gen«.1,6 Sein Essay von 1916 über die Sprache stellt zweifellos die sichtbarste Spur dieser Kohärenz dar. Der Besuch der Uni­ versität weckt bei ihm nur Verdrossenheit, und wenn er sie überhaupt erwähnt, äußert er die gleiche negative Haltung, die er bereits in der Epoche der Jugendbewegung gegen sie einge­ nommen hatte116 117, als er in Freiburg und Berlin studierte. In seltsamer Vorahnung sah er bereits die Ablehnung voraus, die später von seiten der Universität seinem Stil und seinem Den­ ken entgegenschlagen sollte.118 Seine Reisen führten ihn immer wieder in die Landschaften des Engadin, die Nietzsche so lieb­ te. Am 23. Februar 1918 schrieb er zwischen zwei GoetheLektüren119 an Scholem folgende Zeilen, die keines Kommen­ tars bedürfen: Daß wir hier sind [in Locarno] dürfen Sie niemandem sagen denn keinesfalls darf es auf irgend einem Umweg zur Kennt­ nis unserer Eltern kommen. Die Sonne nach der wir uns un­ beschreiblich sehnten hat uns auch der vergangne Sommer nicht gebracht; das Engadin liegt zu hoch um heiß sein zu können. Damals bedurften wir aber der Anspannung die von dieser erhabnen Landschaft ausgeht mehr als alles andere; nur um unter dem Eindruck einer unendlichen Befreiung 116 »Mir erschließen sich gegenwärtig Zusammenhänge von der weitesten Tragweite und ich darf sagen daß ich jetzt zum ersten Mal zur Einheit dessen was ich denke vordringe.« Brief an Ernst Schocn vom 28. Februar 1918, GB I, S.436. 1 1 7 Brief an Ernst Schoen vom 25. Oktober 1914, ebd., S. 257L Über Vor­ lesungen, die sie in Bern besuchten, schreibt Scholem: »Aus Langeweile spielten wir oft, Listen berühmter Männer nach einem Buchstaben des A l­ phabets aufzustellen.« Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S .7J. 118 »Ich habe die Universität hier kennen gelernt und denke, da sich zum Wesentlichen meiner Arbeit so ziemlich alle Universitäten gleich verhalten werden an eine Promotion hier, soweit man unter den auch hier täglich schwieriger werdenden Verhältnissen überhaupt etwas voraussehen kann.« Brief an Ernst Schoen, Ende 1917, GB 1, S.41 J. 119 Kurz darauf wird er eine sehr scharfe Kritik an dem berühmten Werk Gundolfs über Goethe schreiben [GS 1.3, S. 826-828].

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nicht zusammenzubrechen mußten wir uns einer neuen Spannung unterwerfen. Diese wenigen Worte werden Ihnen vielleicht schon begreiflich machen daß mein Leben hier von der vollen und befreiten Melodie des Ausgangs einer großen Lebensepoche die nun hinter mir liegt erfüllt wird. [...] Ich kehre jetzt der sommerlichen Natur mein Gesicht zu wie seit dieser letzten Schulzeit - meine letzten oder vorletzten Fe­ rien verbrachte ich auch im Engadin - ich es nicht getan habe.120 Bei seiner Rückkehr nach Bern kam er auf den Gedanken, seine Doktorarbeit der romantischen Literaturkritik zu widmen.121 Sein Essay »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tra­ gödie« bemühte sich zu verstehen, »wie Sprache überhaupt sich mit Trauer erfüllen mag und Ausdruck von Trauer sein kann«.122 Am 11 . April 1918 zeigte Benjamin Scholem die Ge­ burt seines Sohnes Stefan an; es war derselbe Tag, an dem ihm Scholem den Tod Hermann Cohens mitteilte. Das ganze Jahr 19 18 war dem Studium der Romantik, ihrer Sprachphilosophie und ihrer Auffassung der Literaturkritik gewidmet.123 In die­ ser Zeit, als er unweit von Bern in Muri wohnte124, regte sich 120 Brief an Scholem vom 23. Februar 1918, ebd., S.432. 12 1 Ihre zentrale Idee faßt er folgendermaßen zusammen: »Seit der Ro­ mantik erst gelangt die Anschauung zur Herrschaft daß ein Kunstwerk an und für sich, ohne seine Beziehung auf Theorie oder Moral in der Betrach­ tung erfaßt und ihm durch den Betrachtenden Genüge geschehen könne. Die relative Autonomie des KunstWerkes gegenüber der Kunst oder viel­ mehr seine lediglich transzendentale Abhängigkeit von der Kunst ist die Be­ dingung der romantischen Kunstkritik geworden. Die Aufgabe wäre, Kants Ästhetik als wesentliche Voraussetzung der romantischen Kunstkritik in diesem Sinn zu erweisen.« Brief an Scholem, 30. März 1918, ebd., S.441. 122 Ebd., S.442 [Sclbstzitat: CS II. 1, S. 138]. 123 Er las insbesondere das Athenäum, Schlegels Philosophie der Sprache und des Wortes und arbeitete anschließend über die Kunstthcoric bei Goethe. 124 Wegen der schwierigen Wohnungsverhältnisse in Bern hatte Benjamin Scholem gleich nach dessen Ankunft vorgeschlagen, in dieses kleine Dorf zu ziehen. Bis zum August wohnten sie alle drei dort. Sie gründeten eine imagi-

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auch seine Leidenschaft für Märchenbücher.125 Nach Scholems Ankunft in der Schweiz (4. Mai 1918) intensivierten sich ihre Diskussionen. Wenig am gründlicheren Kennenlernen neuer Theorien interessiert, beurteilte Benjamin sie oftmals summa­ risch, wie seine sehr reservierte Meinung über Freud und des-

näre Universität, deren Statuten in satirischer Form als »Akten der Univer­ sität Muri« niedergelegt wurden. Jeder schöpfte aus der Phantasie die skur­ rilsten Titel von Lehrveranstaltungen, oft angclehnt an jene, die sie tatsächlich besuchten. Was nur ein flüchtiger Scherz hätte sein können, soll­ te ihrem Briefwechsel sogar dann noch Stoff bieten, als Scholcm bereits nach Palästina ausgewandert war. 12 5 Scholcm zufolge entwickelte sich sein Interesse an Volksmärchen in en­ gem Zusammenhang mit der Geburt seines Sohnes, wenngleich die Berliner Kindheit und seine Jugendbriefe darauf hindcuten, daß dieses Faible bereits älter war. Am 31. Juli 1918 schrieb Benjamin an Ernst Schocn, sein biblio­ philes Spezialgebiet seien »alte Kinderbücher, Märchen und auch schöne Sa­ gen. Der Stamm der Sammlung rührt von einem großen Raubzug her, den ich noch gerade rechtzeitig in der Bibliothek meiner Mutter, meiner frühem Kinderbibliothek, gemacht habe« (GB I, S.467). Er sammelte die Erstausga­ ben von Märchen (Grimm, Andersen), aber auch Rarissima aus der Zeit der Romantik (etwa die Märchen Brentanos). Bei seiner Scheidung von Dora bekam sie diese Sammlung zugesprochen und nahm sie 1940 mit ins Exil nach England. Nach ihrem Tod 1964 wurde sie von ihrem Sohn Stefan auf­ bewahrt, der 1972 starb. Sie gehört heute seiner Witwe Janet Benjamin (und inzwischen dem Institut für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universi­ tät Frankfurt am Main) [vgl. Klaus Doderer (Hg.), Die Kinderbuchsamm­ lung Walter Benjamins]. Die Sammlung umfaßt ungefähr zweihundert Bän­ de, die Mehrzahl im neunzehnten Jahrhundert erschienen, einige mit handkoloricrten Illustrationen oder Lithographien. Das Interesse Benja­ mins an Kinder- und Volksmärchen hat über das Bild des »bucklicht Männ­ lein« hinaus in seinem Werk tiefe Spuren hinterlasscn; nennen wir etwa »Aussicht ins Kinderbuch« [GS IV.2, S. 609-615]. 1924 schrieb er eine Rezen­ sion des Buches Alte vergessene Kinderbücher von Hobrecker [GS III, S. 1214]. Nach der Fertigstellung des Trauerspiel-Buches dachte er daran, ein Buch über die Schönheit der Märchen und - im Zusammenhang mit seiner Studie über Goethes Neue Melusine - ein weiteres über deutsche Sagen zu schreiben (vgl. GB III, S.40L, 5 1 ,6 2 ,7 1,16 3 ) . Nach dem Verlust seiner Mär­ chenbücher sammelte er Bilderbogen für Kinder... und Tätowiervorlagen [GÄ IV, S. 515], aber auch Schriften von Geisteskranken, wohl nachdem er die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber er­ worben hatte (vgl. »Bücher von Geisteskranken«, GS IV.2, S. 615-6x9).

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sen Triebtheorie belegt, über die er ein Seminarreferat schrei­ ben mußte.126 Hermann Cohens Werk über Kants Theorie der Erfahrung enttäuschte ihn. Lieber als moderne Autoren las er die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts; Romantik127, Sprachphilosophie und Judentum bildeten zu jener Zeit den wesentlichen Teil seiner theoretischen Beschäftigungen, und er dachte daran, Hebräisch zu lernen. Der Erste Weltkrieg, der eine große Zahl von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern zur Flucht in die Schweiz veranlaßte, machte Zürich zu einem wahren Treffpunkt der künstle­ rischen und politischen Avantgarde. Man begegnete dort Pa­ zifisten, Vertretern des Expressionismus und den späteren Gründern der Dada-Bewegung.128 Benjamin hielt sich von die­ sen Emigranten ebenso fern wie von den Ereignissen, die sie ins Exil gezwungen hatten. Wenn die politische Sphäre in seiner Korrespondenz überhaupt erwähnt wird, dann nur, wenn lite­ rarische Begebenheiten den Anlaß dazu bieten.129130Durch Ver­ mittlung Hugo Balls, des Gründers des Cabaret Voltaire13°, 126 Er besuchte ein Seminar Paul Häberlins über Freud. 127 Er las damals Werke von Schlegel, Novalis, Goethe, Schelling, Schleier­ macher, aber auch Dilthey und stellte sich eine Art »Lesebuch« zusammen, in das er nach einer komplizierten Systematik Fragmente von Novalis und Schlegel einordnete. Ende 1918 hielt er seine Vorarbeiten, wiewohl noch nichts niedergeschrieben war, für »ziemlich weit fortgeschritten« [Brief Ernst Schoen vom 8. November 1918, GB I, S.487]. 128 Hans Arp, RenS Schickele, Yvan und Claire Goll, Hugo Ball, Marcel Martinet, Pierre Jean Jouve, Emmy Hennings, Christian Schad, Else LaskerSchüler, Franz Mazerel, Romain Rolland, Hans Richter, Franz Werfel, Juli­ us Meier-Graefe, Erich Mühsam, Tilla Durieux, Paul Cassirer, Ernst Bloch usw. 129 Benjamin bewundert die Haltung Heinrich Manns, mißbilligt diejenige Thomas Manns und fragt sich nach der Einstellung der Mitglieder des George-Kreises. In einem Brief an Scholem vom 9. November 1918 erwähnt er die Ausrufung der bayerischen Räterepublik und ist besorgt - wegen der möglichen Auswirkungen auf eine Auktion antiquarischer Bücher, die in München nun wohl nicht stattfinden werde (GB I, S.487). 130 Ein bloßer Zufall brachte ihn mit Hugo Ball in Verbindung: sie wohn­ ten in derselben Straße. Die dreizehnjährige Tochter von dessen Gefährtin

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machte er im April 1919 die Bekanntschaft Ernst Blochs. Schon bevor er den Geist der Utopie gelesen hatte131, war Ben­ jamin von seiner Persönlichkeit beeindruckt - die er stets hö­ her schätzte als sein Werk - und von der Parallelität ihrer gei­ stigen Bestrebungen überrascht. Bloch interessierte sich für die Grundfragen des Judentums und erwog, ein Theoretisches Sy­ stem des Messianismus zu schreiben. Leider sagt uns Scholem, der bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs nur sehr verhal­ tene Sympathien für Bloch hegte, nichts über den Gegenstand ihrer Diskussionen. Erst durch Bloch sollte Benjamin D ie Seele und die Formen sowie die Theorie des Romans von Lukäcs ent­ decken.132 Am 27. Juni 1919 verteidigte er seine Doktorthese D er B egriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik und be­ stand mit summa cum laude. Vor eine Entscheidung über seine Zukunft gestellt, versuchte er Zeit zu gewinnen und unterließ es, seine Eltern über die bestandene Prüfung zu benachrichtiEmmy Hennings malte Bilder, die das Interesse Benjamins weckten. Er ver­ glich sic mit den besten Produktionen des Expressionismus und wollte sie bekannt machen: »Damit will ich sagen daß diese Bilder, deren Gegenstand meist das Zusammensein von Menschen, sei es mit Dämonen, sei es mit En­ geln ist, auf ein höchst lebendiges Interesse gegenwärtig mit Sicherheit rech­ nen können, wenn ich eine einigermaßen zutreffende Vorstellung von der Richtung und Sensationslust des Berliner Publikums habe« (Brief an Ernst Schocn vom 24. Juni 1919, GB II, S. 34 f.). Hugo Ball war Kriegsgegner und wie Bloch Mitarbeiter der Freien Zeitung. Nichts weist darauf hin, daß Ben­ jamin irgendein Interesse an der Entstehung der Dada-Bewegung genom­ men hätte; allerdings hatte er die Kritik der deutschen Intelligenz von Hugo Ball gelesen. 131 Er las das Werk im Herbst 1919. 132 Wenn es damals auch kaum Beziehungen zwischen den theoretischen und politischen Positionen Lukäcs’ und Benjamins gab, interessierten sich beide für die Bestimmung des Wesens der Tragödie und für Dostojewski, dessen Politische Schriften Benjamin für die wichtigste Schrift der neueren Zeit hielt, die er kenne. Die ausführlichen Überlegungen, die Benjamin spä­ ter - in »Erfahrung und Armut«, »Der Erzähler« und in der Rezension zu Döblins Berlin Alexanderplatz - zur Krise der Erzählung anstellte, sollten ihn natürlich in nächste Nähe zu den Lukäcsschen Gedanken über den Ro­ man führen.

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gen, um noch im Genuß ihrer finanziellen Unterstützung zu bleiben.

2. Anarchismus, Zionismus und Sozialismus D ie Stellung Benjamins zu Judentum und Zionismus Lebendiges Judentum habe ich in durchaus keiner andern Gestalt kennen gelernt als in Dir. W alter Benjam in133

Zum ersten Mal mit den zionistischen Idealen konfrontiert wurde Benjamin in den Debatten, die er um 1914 herum mit Gerhard Scholem, Dora Kellner und mehreren seiner Jugend­ freunde (Kurt Tuchler, Franz Sachs, Erich Gutkind und Lud­ wig Strauß) führte.134 Es war Scholem, dem Benjamin die Entdeckung der geistigen - und nicht bloß philanthropi­ schen135 - Bedeutung des Zionismus und das Wesentliche sei133 (Brief an Scholem vom 25. April 1930, G B III, S. 520.) 134 Im August 1912 machte Benjamin mit Klassenkameraden, die von zio­ nistischen Ideen überzeugt waren (Kurt Tuchler und Franz Sachs), Ferien in Stolpmünde an der Ostsee. Im Zuge ihrer Diskussionen waren ihm dort zum erstenmal »Zionismus und zionistisches Wirken als Möglichkeit und damit vielleicht einmal als Verpflichtung [...] entgegen getreten« (Brief an Herbert Blumenthal vom 12. August 1912, C S I, S. j 9). Im darauffolgenden Winter stand er in fortgesetztem Briefwechsel mit dem Dichter Ludwig Strauß. Benjamin tadelte am Zionismus dessen »Nationalismus«, der in sei­ nen Augen dem radikalen Kulturwillen des Judentums widersprach. Er be­ kräftigte seinen Glauben an eine geistige Mission der Juden in Deutschland, eine Position, die er bis 1933 verteidigen sollte. Es schien ihm unvorstellbar, daß »die kulturellen Energien der Juden« Europa verließen (vgl. Brief an Ludwig Strauß vom 10. Oktober 1912, GB I, S .71 f.). 133 Der Glaube an die zionistischen Ideale ist in Deutschland nicht von dem Aufschwung des Antisemitismus zu trennen, der das ausgehende neun­ zehnte Jahrhundert prägte, vor allem aber der Pogrom-Atmosphäre, die in Rußland unter der Regierung Alexanders III. herrschte. Diese Terrorwelle, die in Kontrast zu der geschmeidig-assimilationistischen Politik Josephs II.

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ner Kenntnis der jüdischen Tradition verdankte. Im Leben der assimilierten deutschen Juden nahm die Religion wenig Raum ein und beschränkte sich auf einige Symbole. Wie bei Kafka136 war das Werk Benjamins unterirdisch vom Judentum geprägt. Zwar gehörten die meisten seiner Jugendfreunde dem jüdi­ schen Bürgertum an, doch spielte die Religion für ihre Teilnah­ me an der Jugendbewegung keine Rolle. Die Ideen Wynekens waren von Katholizismus, die Gedanken Lietz’ von Antisemi­ tismus durchdrungen.137 Die diffuse Religiosität, für die sich Benjamin in seinen »Romantika« begeistert138, scheint eher in Österreich-Ungarn stand, machte alle Emanzipationshoffnungen der ost­ jüdischen Gemeinden zunichte. Viele osteuropäische Juden versuchten nach Amerika oder in die westeuropäischen Länder auszuwandern. Das Natio­ nalgefühl der jüdischen Gemeinschaft fand sich dadurch gestärkt - der Aus­ druck »nationaljüdisch« trat erstmals unter russischen Juden auf, die sich ab 1888 in Berlin angcsicdclt hatten wodurch die Utopie einer Rückkehr nach Palästina einen neuen Sinn bekam. Aus der zunächst streng religiösen Bindung an Palästina wurde ein Kolonisationsprojekt. Nach Wien entwikkeltc sich Berlin zum wichtigsten Brennpunkt der zionistischen Bewegun­ gen, denen cs gleichwohl nicht gelang, die deutsch-jüdische Gemeinschaft, der sic zu radikal erschienen, auf ihre Seite zu ziehen. Erst zu Beginn des Jahrhunderts fanden aufgrund eines tiefgreifenden Wandels der geistigen Landschaft die zionistischen Ideen unter den Studenten Gehör. Der massive Zustrom von Ostjuden, die aus den von Rußland besetzten Gebieten flohen, führte trotz jahrhundertealter Vorurteile zu einer gewissen Annäherung aus humanitären Gründen - an die deutschen Juden. Die Balfour-Deklaration ließ den Gedanken einer Auswanderung nach Palästina realistischer er­ scheinen. Der Erste Weltkrieg und das Auflodern der Nationalismen setzten dem Glauben an den Wert des Liberalismus und der Assimilation ein Ende. 136 Vgl. den »Brief an den Vater«, in dem Kafka seinem Vater vorwirft, ihm ein »Nichts von Judentum« vermittelt zu haben, und in dem er den Assimilationsprozcß seiner eigenen Familie analysiert. Kafka, Hochzeitsvorberei­ tungen auf dem Lande, S. 144-147. 137 Theodor Lcssing, der zu Jahrhundertbeginn am Landschulheim Haubinda unterrichtete, erzählt, daß [dessen Gründer] Hermann Lietz für die Schule Theodor Fritschs antisemitische Zeitschrift Der Hammer abonniert habe. 138 Vgl. insbesondere die Schriften von 1912 und 1914: »Dialog über die Religiosität der Gegenwart« (GS II.i, S. 16-35) und »Die religiöse Stellung der neuen Jugend« (cbd., S. 72-74).

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von Angelus Silesius, Hölderlin und Carl Spitteier als vom Ju ­ dentum angeregt worden zu sein.139 Wenn er auch ein gewisses Bewußtsein seiner jüdischen Identität besaß140, interessierte ihn der Zionismus ganz und gar nicht. Trotzdem war der Ein­ fluß des Judentums, wie ihn der Essay von 1916 über die Spra­ che bezeugt, auf ihn so bestimmend geworden, daß er Scholem anvertraute: »Wenn ich einmal meine Philosophie haben werde [...] so wird es irgendwie eine Philosophie des Judentums sein.«141 Weder das Werk noch die Korrespondenz Benjamins geben irgendeinen Hinweis auf seinen Glauben142, obwohl sich seine Sprach- und Geschichtsphilosophie, seine Konzep­ tion des Politischen oder der Literaturkritik immer an den Kategorien der jüdischen Theologie orientieren werden. Das Judentum war eine der Quellen, die sein gesamtes Denken be­ stimmten, ohne daß er sie wirklich ins volle Licht rücken woll­ 139 »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, heißt cs bei Hölderlin. Benjamin schreibt: »Die Jugend steht im Zentrum, wo das Neue wird. Ihre N ot ist am größten und die Hilfe des Gottes am nächsten ihr.« Da er sich keine Erziehung der Jugend ohne Religion vorstellen kann, behauptet er, die ihrer selbst bewußte Jugend sei bereits Religion und der Messianismus, auf den sich seine frühen Schriften beziehen, sei derjenige der »ersten Christen«, die er mit den Vertretern der neuen Jugend vergleicht [ebd., S. 72,74]. In sei­ nem Vortrag »Das Leben der Studenten« rekurriert er auch auf die »christli­ chen Klostergemeinschaften« (ebd., S.79). In einem Brief an Ludwig Strauß vom 10. Oktober 19 12 spricht er selbst von »unbestimmefr] Pietät« (GB I, S.69L). 140 In demselben Brief an Ludwig Strauß datiert er diese Bewußtwerdung auf seine Zeit an der Schule Gustav Wynekens. Zum Judentum habe er »aus äußerer und innerer Erfahrung« gefunden: »Ich bin Jude und wenn ich als bewußter Mensch lebe, lebe ich als bewußter Jude.« Ebd., S.71. 141 Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S.45. 142 Scholem bemerkt: »In den Gesprächen dieser Jahre trug er keinerlei Scheu, unverstellt von Gott zu sprechen. [...] Gott war für ihn wirklich, von seinen frühesten Aufzeichnungen zur Philosophie an [...]« (ebd., S. 73 f.). Si­ cher ist, daß Benjamin auch nach seiner Bindung an den Marxismus niemals aufgehört hat, sich auf das Judentum zu beziehen. Doch auch in der Zeit, in der die Religion im Mittelpunkt seiner Beschäftigungen stand - von 1915 bis 1920 - , hat er niemals Interesse an religiöser Praxis gezeigt.

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te, auch wenn der stets wieder aufgeschobene Plan einer Klä­ rung in seinem Werk immer wieder einmal auftaucht.143 Die Stellung Benjamins zum Zionismus war kompliziert. Das deutsch-jüdische Bürgertum warf dem Zionismus vor, die Errungenschaften einer harterkämpften Emanzipation aufs Spiel zu setzen. Für einen bedeutenden Teil der Jugend symbo­ lisierte um 1914 die Übernahme linker Ideale oder die Vertie­ fung der jüdischen Tradition - oft innerhalb derselben Fami­ lie - die Ablehnung einer Assimilation, die immer mehr als negativ empfunden wurde.144 Das Werk Benjamins steht in diesem Horizont, auch wenn die letzte Einheit messianischer und materialistischer Kategorien bis hin zu seinen spätesten Schriften fragwürdig bleiben sollte. In Auseinandersetzung mit den zionistischen Ideen Fritz Sachs’, Kurt Tuchlers und Ludwig Strauß’ formuliert er seine eigene Auffassung von jü­ discher Identität.145 Als Nationalgefühl ist ihm das Judentum fremd, doch findet er es legitim, in Palästina eine Existenzmög­ lichkeit für die bedrohten Juden zu schaffen. Für die anderen scheint es ihm notwendig, in Europa zu bleiben, ihrem wahren Vaterland. Er mißtraut dem Zionismus und vermutet, daß sei­ ne Anhänger sich ihres »Jüdischseins« nicht bewußter seien als 143 So schrieb er am 11. März 1928 an Scholem, es komme seinem »tiefsten [...] Wollen« entgegen, »der jüdischen Welt in meinem Denken, wenn und soweit sie aus der Latenz hervortreten sollte, vorderhand ihren Schutz zu lassen und jene lehrende Beschäftigung [...] mit dem Französischen und Deutschen als ein Gehege um sie zu ziehen« (CB III, S. 344). 144 Trotz der heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern dieser beiden Tendenzen darf natürlich nicht außer acht gelassen werden, was sie verband: Für die einen war der Zionismus ein ebenso religiöses wie moralisches und politisches Ideal, während bei den anderen die Teilnahme an den revolutionären Bewegungen gerade von messianischen Hoffnungen ausging. Vgl. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. 145 Die mit Ludwig Strauß gewechselten Briefe werden in der Jewish Na­ tionaland University Library in Jerusalem aufbewahrt. Die Korrespondenz mit Kurt Tuchler ist nicht erhalten. (Die Briefe an Ludwig Strauß sind ge­ druckt in GB I, S. 61-88.)

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die übrigen, daß sie ihre Verwurzelung im Judentum durch wirre politische Vorstellungen ersetzten.146 In einem Brief an Ludwig Strauß vom November 19 12 faßt er seine Stellung zum Judentum noch einmal genauer; er geht dabei von einer Unter­ scheidung aus, die für sein Werk grundlegend werden sollte »Erlebnis« und »Erfahrung« - und wendet sich dabei direkt gegen Martin Bubers Thesen. Zwar stelle »das Jüdische« für ihn kein »Erlebnis« dar, wohl aber eine »wichtige Erfahrung« in der Sphäre des Geistigen147, die es in seinen Augen rechtfer­ tigt, den Zionismus abzulehnen, dessen Abgleiten in Nationa­ lismus oder Esoterik er befürchtet. Diese Haltung wandelte sich in den Jahren 19 14 -19 15 merk­ lich.148 Statt den Zionismus auf die mystische Verherrlichung eines Pseudo-Nationalismus oder ein philanthropisches Un­ ternehmen zu verengen, räumte er nun ein, er könne die Vor­ aussetzung für eine Vertiefung des jüdischen Denkens sein. Darüber hinaus brachte ihn die kriegsfeindliche Haltung der zionistischen Jugend zu der Einsicht, Zionismus und Sozialis­ mus könnten »zwei mögliche Wege« sein. Scholem zufolge be­ gann Benjamin die Frage der Auswanderung nach Palästina ernsthaft zu erwägen, wenngleich er den »Ackerbau-Zionis­ mus« immer noch heftig kritisierte.149 Die Bekanntschaft mit 146 So unterscheidet er drei Arten des Zionismus: den »Palästina-Zionis­ mus«, der ihm als eine materielle Notwendigkeit erscheint, den »deutschen Zionismus«, gegen den er große Vorbehalte hat, und den »Kultur-Zionis­ mus« - verstanden als Vertiefung der jüdischen Werte - , dem er sich selbst zurechnet [ebd., S. 72]. 147 Benjamin bemerkt, daß ihm in der Sphäre des Praktischen die Christen näher seien als die Juden. Letztere stellen jedoch in seinen Augen eine »Eli­ te« dar »in der Schar der Geistigen«. Er setzt bei ihnen eine Vertrautheit im Umgang mit Ideen voraus, die ihm so selbstverständlich erscheint, daß er sich freut, ihr manchmal auch bei »einem Deutschen« zu begegnen (Brief an Ludwig Strauß vom 21. November 1912, ebd., S- 75). 148 Die Familie Dora Pollaks hing zionistischen Ideen an. Benjamin las mit Interesse die Artikel, die Scholem in Martin Bubers Zeitschrift DerJude ver­ öffentlichte. 149 Wie Scholem berichtet, war Benjamin der Meinung, der Zionismus

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Erich Gutkind - von Dezember 1916 bis zum Beginn der zwanziger Jah re-, aber auch mit Ernst Bloch ließ sein Interesse am Judentum nur noch wachsen, wie sein wichtiges »jüdisches Lektüreprogramm« belegt. Scholem wurde nicht müde, ihn darin zu bestärken, wenn ihm auch die Hindernisse bewußt waren, die bei Benjamins Hinwendung zum Judentum unfehl­ bar auftauchen mußten, einer Hinwendung, die er dennoch für unvermeidlich hielt. Wie kompliziert ihre jeweiligen theoreti­ schen Positionen waren, zeigte sich erstmals in der unter­ schiedlichen kritischen Haltung, die sie gegenüber Martin Buber einnahmen. Diskussionen um Martin Buber Mit seiner Persönlichkeit und mit seinen Schriften übte Martin Buber150 tiefen Einfluß auf eine ganze Generation aus. Seine müsse auf drei Dinge verzichten: »die Ackerbau-Einstellung, die RassenIdeologic und die Bubcrschc Blut- und Erlebnisargumentation« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S.41). Nach seiner Emigration polemisierte Scholem selbst gegen die Führer der zionistischen Bewegung und lehnte ihren Nationalismus ab. Am Ende seines Lebens soll­ te er stolz darauf sein, nie eine Parzelle des Heiligen Landes besessen zu ha­ ben. 1 jo Martin Buber wurde am 8. Februar 1878 in Wien - dort, wo sich deut­ sche philosophische Tradition und ostjüdische Kultur kreuzten - in eine großbürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Seine Kindheit verlebte er nach der Scheidung seiner Eltern in der Bukowina, wo er mit chassidischen Gemeinden konfrontiert war. Als überzeugter Zionist geriet er in Konflikt mit Theodor Herzl, denn das Ideal, dem er anhing - »der Anfang des Reichs Gottes unter den Völkern der Menschen« ließ sich nicht mit irgendeinem Nationalismus in Einklang bringen. Nach dem Tod Herzls (1904) spielte er innerhalb der Bewegung eine wichtige Rolle. Er legte der Rückkehr zum Hebräischen hohen Wert bei und dachte ab 1917 an eine neue Bibelüberset­ zung. Die mystische Frömmigkeit des Chassidismus übte einen entschei­ denden Einfluß auf sein Werk aus, und im Alter von sechsundzwanzig Jah­ ren gab er seine publizistische Tätigkeit auf, um sich dem Studium dieser Strömung zu widmen, und veröffentlichte 1927 die erste große Sammlung chassidischer Texte. Seine Schrift Daniel von 1913 sowie Ich und Du eröff-

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philosophische Deutung des Judentums, seine Wertschätzung des Chassidismus und seine Auffassung des Zionismus standen im Mittelpunkt der Diskussionen zwischen Scholem und Ben­ jamin noch über die zwanziger Jahre hinaus. Mit der Veröffentlichung der D rei Reden über das Ju den ­ tum451 wuchs sein Einfluß auf den Zionismus. Seine Schriften über den Chassidismus, seine Verteidigung der Ostjuden und ihrer religiösen Traditionen erschienen als Rebellion gegen den Assimilationsprozeß und nährten die romantische Hoffnung auf eine Rückkehr zu den Ursprüngen, eine Hoffnung, die von der jüdischen Jugend in weitem Maße geteilt wurde. In einer oftmals bewundernswerten Sprache lieh Buber seine Stimme diesem mystischen, untergründigen, nichtinstitutionalisierten Judentum. Vom offiziellen Judentum hielt er sich selbst fern. Dort fand er nicht jenes Element einer - im Sinne Schillers naiven Schöpfung, das in seinen Augen der polnische Chas­ sidismus verkörperte. D ie Legende des Baal-schem und die H undert chassidischen Erzählungen machten die ostjüdische Spiritualität in ganz Europa bekannt. D a er in der Religion weniger eine theoretische Lehre als den Ausdruck einer Beziehung zu Gott und zur Welt suchte, wie sie in den alltäglichen Handlungen gegenwärtig ist, stellte er neten einen existentiellen Denkweg, der nach dem Zweiten Weltkrieg trium­ phieren sollte. 1 5 1 Dieser Text wurde in Berlin, Wien und Prag gleichermaßen diskutiert, dort im Umkreis von Max Brod, Kafka und Hugo Bergmann - einem ge­ meinsamen Freund Scholcms, Benjamins und Kafkas - und der Bewegung »Bar-Kochba«. Bubers Seminare prägten so unterschiedliche Persönlichkei­ ten wie Paul Natorp, Florens Christian Rang (im Rahmen des »Frankfurter Bundes«) und Franz Rosenzweig. Die Gründung des Frankfurter »Freien Jüdischen Lehrhauses« im Herbst 1919, das sich unter der Leitung von Bu­ ber, Rosenzweig und Eduard Strauß dem Studium theologischer und litera­ rischer Themen im Zusammenhang mit dem Judentum widmete, stand am Anfang der »Freien Lehrgruppen«, die in ganz Deutschland entstanden. (Über das »Freie Jüdische Lchrhaus« vgl. Franz Rosenzweig, Zweistrom­ land.)

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den Talmud-Gelehrten die Mythen-Diener entgegen, die der Religion neues Blut zuführten. Seine Auffassung des Zionis­ mus zog mit ihrer engen Verbindung von Anarchismus, Mes­ sianismus und Utopie die fortschrittlichen jüdischen Intel­ lektuellen an. Dem libertären Sozialismus und Anarchismus nahestehend152, gab er der Religion eine ebenso metaphysische wie ethisch-politische Bedeutung.153 Diese anarchistisch-reli­ giöse Dimension, die auf Gustav Landauer ebenso wie auf Kaf­ ka anziehend wirkte, schloß ein gewisses Mißtrauen gegenüber dem Marxismus ein, die Ablehnung der Staatsmacht und die Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft.154 Später skizzierte er ein Bild des utopischen Sozialismus, das eng mit einer religiö­ sen Eschatologie verbunden war, in Begriffen ähnlich denen Ernst Blochs, der ebenfalls von der Lektüre der Schriften Lan­ dauers beeinflußt war.155 Große Bedeutung schrieb Buber dem 152 Scholcm bezeichnete Bubers Grundposition als »religiösen Anarchis­ mus«. 153 Die in seinen großen Schriften über die Utopie und in den Prager Vor­ trägen vor dem »Bar-Kochba«-Kreis zwischen 1909 und 19 11 ihren Höhe­ punkt findet. 154 Zu den politischen Positionen Bubers vgl. Wolf-Dieter Gudopp, Mar­ tin Bubers dialogischer Anarchismus, und seine Schriften »Marx und die Er­ neuerung der Gesellschaft« sowie »Lenin und die Erneuerung der Gesell­ schaft« (in: Pfade in Utopia, S. 147-226). 15 j Der Gedanke einer »konkreten Utopie« und einer »demokratisch-my­ stischen Gemeinschaft« fand bei Landauer am deutlichsten Ausdruck in Skepsis und Mystik (1903) sowie in seinem A ufruf zum Sozialismus (1911). Ein Vergleich der Schriften, die Landauer der Revolution widmet, mit den Texten, die Bloch in der Schweiz verfaßt hat (im Archiv fü r Sozialwissen­ schaft und Sozialpolitik, 1918), und den Buberschen Schriften erweist die Einheit einer mystisch-religiösen Konzeption der Utopie. Buber ist viel­ leicht Bloch näher als Landauer, der die ontologische und zeitliche Dimen­ sion der Utopie ablehnt zugunsten ihrer unmittelbaren Verwirklichung. Auch er legt der »Phantasie«, der »noch unerkannten Wirklichkeit«, deren philosophische Form die »Idee« und deren religiöse Gestalt die »Offenba­ rung« ist, große Bedeutung bei. Die erste ist auf die räumliche Zeit, die zwei­ te auf die erfüllte Zeit verwiesen. Vgl. Arno Münster, Figures de Vutopie dans la pensee d'Em st Bloch, S. 96.

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»Messianismus« zu, den er in seiner Prager Rede zur tiefsten ursprünglichen Idee des Judentums erklärte. Die Behauptung, der Mensch bleibe nicht untätig, sondern habe teil am Kom­ men des Messias, indem er die in der Welt verstreuten Funken des Göttlichen Lichts freisetzt, schloß an den Chassidismus an und nahm grundlegende Aspekte der Benjaminschen Ge­ schichtsphilosophie vorweg. Sehr bald rief Bubers Werk hitzige Polemiken hervor, und die kritische Bezugnahme auf seine Schriften spielte schon in den frühesten Diskussionen zwischen Benjamin und Scholem eine wichtige Rolle. Die Begegnung Scholems mit den Schrif­ ten Bubers war von seiner Lektüre der zionistischen Haupt­ schriften nicht zu trennen. Bubers Monographien über Rabbi Nachman und den Baal Schern Tow regten Scholem zu einer Vertiefung seines Studiums an, wenngleich er die agnostische Haltung Bubers mißbilligte. Benjamin entdeckte dessen Schrif­ ten in einem eher philosophischen Zusammenhang. Für ihn hatten Zionismus und Chassidismus kaum eine Bedeutung. Da er Bubers Definition des Zionismus als kulturelles Ideal billig­ te, besuchte er ihn im Mai 1914, um ihn zu einer Diskussion im Berliner »Sprechsaal« über sein Buch Daniel. Gespräche von der Verwirklichung einzuladen.156157 Der nationalistische Aufruf Bubers von 1914*57 erregte das 156 Der im Oktober 19 12 an Ludwig Strauß gerichtete Brief bezeugt eine recht genaue Kenntnis des Bubcrschcn Werkes. Benjamin hatte die D rei Re­ den über das Judentum gelesen. Dennoch fällt es schwer, genauer zu sagen, was seine frühen Schriften denjenigen Bubers verdanken. Er stand ihm von Anfang an kritisch gegenüber: »Martin Buber hat ein unangenehmes, weil undurchdachtes Buch mit Namen >Daniel< geschrieben«, vertraut er Ernst Schoen in einem Brief vom 23. Mai 1914 an {CB I, S.231). Buber kam am 23. Juni in den »Sprechsaal«. Die zweite, sehr erregte Diskussion über das Buch Bubers mußte abgebrochen werden. Scholem beurteilte das Buch noch strenger als »Mißbrauch des jetzt schon wahrlich genug verteuerten Papiers« (Brief an Werner Kraft vom November 1917, in: Scholem, Briefe an Werner Kraft, S. 50). 157 Scholem protestierte gegen den Artikel in der Jüdischen Rundschau mit

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Mißfallen Scholems und Benjamins. Zu der politischen Geg­ nerschaft, die Scholem und Buber voneinander trennte, kamen bei Benjamin unaufhebbare philosophische Divergenzen hin­ zu.158 1916 brachte Buber das erste Heft seiner Zeitschrift D er Ju d e heraus; zuvor hatte er ihn zur Mitarbeit eingeladen. Mit der etwas übertriebenen Erklärung, »das Problem des jüdi­ schen Geistes« sei »einer der größten und beharrendsten Ge­ genstände« seines Denkens159, schlug er das Angebot nicht aus, hütete sich aber, es anzunehmen, und begründete seine Hal­ tung später mit seinem anspruchsvollen Verständnis der Funk­ tion von Sprache und Literaturkritik.160 Buber ließ diesen Brief unbeantwortet, entnahm ihm jedoch Anregungen für sein Werk D ie Rede , die Lehre und das L ied, was wiederum Benja­ min empörte und zu einer Abkühlung ihrer Beziehungen führ­ te. Auch wenn er eine Anreicherung des Kantischen Erfah­ rungsbegriffs für notwendig hielt, mißtraute er Bubers hoher Wertschätzung von Erlebnis und Erleben.161 Die Kritik seiner einem offenen Brief (20. Februar 1915, vgl. Scholem, Von Berlin nach Jeru­ salem, S. 65). Vgl. auch Walter Benjam in-die Geschichte einer Freundschaft, wo er daran erinnert, wie abscheulich er Bubers Begeisterung für das »»Er­ lebnis« des Krieges« fand (cbd., S. 14). 1916 veröffentlichte Scholem in Die blauweiße Brille eine Parodie auf Bubers Reden. Statt darüber entrüstet zu sein, lud ihn Buber zu sich ein und schlug ihm die Mitarbeit an DerJude vor, wo Scholems erste Arbeiten über die Kabbala erschienen. Vgl. Von Berlin nach Jerusalem, S.76L 1 j8 Er hielt Buber vor, die Philosophie der Geschichte in Psychologie auf­ zulösen. 159 Brief an Martin Buber, ca. November 1915, GB I, S. 283. Er hatte zu­ nächst erwogen, Buber mit einem sehr polemischen offenen Brief zu ant­ worten. Vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft,S S ' 3 7 f ‘

160 [Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, GB I, S.326L] 161 Zur Kritik des »Erlebnisses« vgl. Brief an Ernst Schoen vom 24. Juli 1919, GB II, S. 37, und den zweiten Teil des Essays über Goethes Wahlver­ wandtschaften, GS I.i, S. 155 ff. Scholem resümiert Benjamins Position fol­ gendermaßen: »[...] beim Abschied sagte [mir Benjamin], wenn ich etwa Buber begegnete, solle ich ihm in unserem Namen ein Tränenfaß überrei­ chen. [...] Besonders scharf war Benjamin in der Leugnung des in den Bu-

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philosophischen Positionen entsprach derjenigen am expres­ sionistischen Pathos.162 Die Lektüre von Blochs Geist der Utopie verstärkte Benja­ mins feindselige Einstellung zu Buber, den er - wie Scholem für eine gewisse Konfusion zwischen Judentum und Christen­ tum verantwortlich machte.163 Die Verbindung mit Buber brach dennoch nie ab.164 Über Rang war Benjamin noch ein­ mal mit seinem Einfluß konfrontiert. Und Buber ermöglichte ihm den Aufenthalt in der Sowjetunion (Dezember 1926 bis Februar 1927), indem er einen Artikel für seine Zeitschrift D ie K reatur bei ihm bestellte. Trotz der Kritik an Bubers Werk war er von ihm doch in gewissem Maße beeinflußt.165

berschen Schriften der damaligen Zeit [...] sehr verherrlichten Kults des »Er­ lebnisses«. Er sagte höhnisch, wenn es nach Buber ginge, müsse man an jeden Juden zuerst die Frage stellen: »Haben Sie schon das jüdische Erlebnis ge­ habt?«« (Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S.42). Für Buber blieb auch seine denkbar schlimmste Beleidigung Vorbehalten: »ein frauenhaftes Denken« (ebd.). 16z Buber beeinflußte eine Reihe expressionistischer Schriftsteller (Kasimir Edschmid, Else Laskcr-Schüler) und bewunderte Georg Kaiser. Sein Dialog D aniel kommt in seiner Sprache und durch die Verwendung charakteristi­ scher Vokabeln (»Lebensgefühl«, »Erlebnis«, »Verwirklichung« usw.) der expressionistischen Gefühlslage nahe. Die anarchistisch-utopistische Sicht­ weise, die er darin entwickelt, ist derjenigen Ernst Tollers oder Erich Mühsams nicht fremd. Er prägte auch den Sprachphilosophen Fritz Mauthncr, einen gemeinsamen Bezugspunkt Benjamins und Landauers. 163 In einem Brief an Benjamin vom 5. Februar 1920 warf Scholem Bloch vor, über die Geschichte des Judentums Aussagen zu machen, »die das schreckliche Stigma von Prag [...] an sich tragen« (zitiert in: Scholem, Wal­ ter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 113; Scholem erläutert: »das hieß in meinem Sprachgebrauch: Buber«). 164 Buber bemühte sich, für Benjamin eine Dozentenstelie in Jerusalem zu bekommen. 165 Scholem unterstreicht die Verwandtschaft zwischen Benjamins auto­ biographischem Text »In der Sonne« [GS IV. 1, S. 417-420] und Bubers Vor­ rede zu seinem Buch Daniel (vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschich­ te einer Freundschaft, S. 232).

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Anarchismus und Sozialismus: das zwiespältige Verhältnis Benjamins zu Politik und Geschichte Benjamins Haltung zu den historischen Ereignissen bis zu sei­ ner Rückkehr nach Berlin zu Beginn der zwanziger Jahre ent­ behrt nicht der Paradoxien. Nur selten nehmen seine frühen Schriften Bezug auf die Sphäre des Politischen. Charakteri­ stisch für sie ist die Forderung, die Geschichte in eine messianische Perspektive zu rücken, die - insofern sie sich auf das Reich Gottes als telos bezieht —jedes unmittelbare Engagement ab­ lehnt. Das »Theologisch-politische Fragment« (1920/21) und vor allem »Zur Kritik der Gewalt« (1921) sind die ersten Es­ says, in denen sich unter metaphysisch-theologischer Hülle eine Konzeption des Politischen abzeichnet. Der Erste Welt­ krieg, der Zusammenbruch der mitteleuropäischen Reiche, die sowjetische Revolution und das Scheitern des Spartakismus haben in seinem Briefwechsel wenig Spuren hinterlassen. Das »Theologisch-politische Fragment« rechtfertigt diese Haltung, indem es die Stellungnahmen einer Reihe von jüdischen Intel­ lektuellen verurteilt, die dem Messianismus einen politischen Inhalt gaben. Dennoch sind die Grundlagen seiner Geschichts­ philosophie von einer Verbindung anarchistischer, sozialisti­ scher und religiöser Elemente nicht zu trennen. Da er sich um den historischen Kontext des wilhelminischen Deutschland wenig kümmerte und nur seinen repressiven Cha­ rakter und seine Verknöcherungen wahrnahm, hegte Benjamin damals die Illusion, den gesellschaftlichen Überbau verändern zu können, ohne die Basis anzugreifen. Das Romantische der Parolen Wynekens und der Jugendbewegung - »Kultur der Ju ­ gend«, »Autonomie«, »Gemeinschaft« - ging mit der Verwei­ gerung jedes politischen Engagements einher, wie es von man­ chen Mitgliedern des »Sprechsaals« gefordert wurde, die dem Expressionismus der Zeitschrift D ie Aktion nahestanden, aber

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auch mit der Ablehnung der christlich oder von Tolstoi inspi­ rierten »Sozialarbeit«, wie sie von Ernst Joel befürwortet wur­ de. Benjamins Kritik des Bildungswesens und des Staates ver­ riet eine anarchistische und messianische Sicht, die elitäre und konservative Elemente nicht ausschloß.166 Wie die Briefe Ben­ jamins an Ludwig Strauß zeigen, stellte er sich ab 1913 die Fra­ ge nach dem möglichen Verhältnis der Intellektuellen zur Poli­ tik. Letztere definierte er als »Kunst des geringsten Übels«, stellte sie der »geistigen« Welt gegenüber und warf ihr vor, sie kenne nur die Parteien und nicht die »Ideen«. Er sympathisier­ te mit linken Idealen167, aber seine zutiefst idealistische Posi­ tion war nur Ausdruck einer Minderheit.168 Der Erste Weltkrieg sprach Benjamins Willen, die Jugend­ bewegung aus jeder Politisierung herauszuhalten, geradezu hohn.169 Die Erinnerungen Scholems erlauben es, die ersten 166 Benjamins Schulreformpläne betrafen nur eine gutausgcbildctc bürger­ liche Elite. In einem Brief an Ludwig Strauß vom [21.] November 1912 zi­ tiert er bewundernd den Goethcschen Satz, es gebe »keine wahre Kultur ohne Despotismus« (G B I, S.78). 167 Benjamin dürfte wie Siegfried Bernfeld oder Martin Gumpert an die Möglichkeit geglaubt haben, das Programm Wynekens mit einer »linken Minderheit« zu verwirklichen. Bernfeld versuchte in mehreren Schriften, den Kampf der Jugend in Klassenkampftermini zu übersetzen. Gumpert bezeichnete wie Benjamin die Politik als »geistlos«, setzte jedoch seine Hoff­ nung in die Sozialdemokratie, um das Wynekensche Programm zu verwirk­ lichen. Diese sprach sich zwar für den Typus der Reformschulc aus, mißtraute aber deren anarchistischen Tendenzen. 168 Der Wandervogel rekrutierte seine Mitglieder aus dem Kleinbürger­ tum, aber auch aus armen Familien. In Benjamins Sprcchsaal versammelten sich im wesentlichen junge Juden aus dem Großbürgertum. Die Sympathi­ santen der Zeitschrift Die Aktion versuchten die proletarische Jugend hinter sich zu scharen. Martin Gumpert richtete an Wyneken einen Aufruf, die jungen Arbeiter für ihre Bewegung zu gewinnen. Dieser antwortete, dafür sei es »zu früh«. 1 69 Benjamins Verachtung für die konkrete, »geistlose« Politik war weitge­ hend von Wyneken inspiriert und beispielhaft für jene Tradition, die von Nietzsche bis zum Thomas Mann der Betrachtungen eines Unpolitischen reicht. Wie weit die Vermischung der verschiedenen Strömungen ging, zeigt die Tatsache, daß Benjamins Vortrag über »Das Leben der Studenten« 1916

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entscheidenden Etappen seiner Entwicklung zu verfolgen. Scholem war von anarchistischen Ideen beeinflußt170 und hatte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gelesen. Paradoxerwei­ se war er der erste, der Benjamins Interesse auf marxistische Werke lenkte. Diese Verbindung gegensätzlicher Ideologien war damals bei vielen jüdischen Intellektuellen Deutschlands und Mitteleuropas nicht selten. Anhänger des Zionismus und des Sozialismus beobachteten sich feindselig, doch oft kam es zu Übergängen von einem Ideal zum anderen171, und bei den meisten von ihnen ließ sich eine erstaunliche Kombination von revolutionärer Utopie und religiösem Gefühl feststellen. Ge­ prägt von einem romantischen Antikapitalismus172, träumte der Zionismus davon, neue Gemeinschaften zu schaffen. Er nährte sich aus der religiösen Tradition wie aus der Lektüre Tolstois und der Anarchisten. Oft verschmolzen - wie bei Lan­ dauer - jüdischer Messianismus und Anarchismus miteinan­ der. Der Sozialismus Scholems stand dieser romantischen und religiösen Inspiration nicht fern. Der Umsturz der bestehen­ in Kurt Hillcrs Anthologie Das Ziel erschien. In einem Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916 räumte Benjamin ein, sein Aufsatz sei an einem Ort er­ schienen, »an den er am wenigsten gehörte« (G B 1, S. 327). Als Adorno Hiller um Erläuterungen zu dieser Veröffentlichung bat, zeigte dieser (in seinem Brief vom 6. Februar 1965) immer noch die gleiche Verachtung für Benjamin, rechtfertigte die Publikation mit den Verbindungen, die er seiner­ zeit zu den studentischen Kreisen unterhalten habe, und erklärte, daß er Benjamins Beitrag »für den schwächsten hielt« (GS II.3, S.916). 170 Er las Bakunin, Kropotkin, ßlisec Reclus, Proudhon und war von den Schriften Landauers geprägt. 171 Scholem und Benjamin hatten beide einen Bruder, der Kommunist wurde. Werner Scholem sympathisierte mit dem Zionismus, ehe er sich bei der sozialdemokratischen Arbeiterjugend engagierte. Alfred Kantorowicz, der später als Nazi-Gegner ins Exil ging, eine bedeutende Gestalt der kom­ munistischen Emigration, war in seiner Jugend Zionist. Leo Löwenthal, Erich Fromm und Fritz Sternberg sympathisierten mit dem Zionismus, ehe sic sich dem Marxismus zuwandten. 172 Antikapitalistische Romantik und Kritik an der bürgerlichen industri­ ellen Zivilisation beherrschen das Werk Georg Simmels und kennzeichnen auch die Frühschriften Georg Lukacs’.

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den, für ungerecht erachteten Gesellschaftsordnung wurde im Namen der Religion gerechtfertigt.173 Mit dem Begriff des »re­ ligiösen Anarchismus« in seinen unterschiedlichen Varian­ ten174 lassen sich die Positionen Rosenzweigs, Scholems und Löwenthals zusammenfassen. Ob Anhänger des Zionismus oder nicht, hatten sie sich von der offiziellen Religion entfernt, um sich an einer romantischen Religiosität auszurichten, einer utopischen Vision, die - ohne sich unbedingt in ein politisches Programm zu übersetzen - die Werte der Epoche in Frage stell­ te.175 Die Schriften Gustav Landauers, der mit Buber176 und Kropotkin befreundet war, enthalten nahezu sämtliche The­ men, die von dieser Generation diskutiert wurden - Messianis­ mus, Utopie, Sinn der Mystik, Anarchismus und Romantik177- , >73 Vgl. Michael Löwys Analyse des »eschatologischcn Umsturzes« und seiner Verbindung zur Theokratie (Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, S. 31 ff.). Vgl. auch Scholem, »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, in: ders., Judaica 1, S.41 f., der »ein anarchistisches Element« im Wesen des jüdischen Messia­ nismus hervorhebt. Löw y weist auf die unbestreitbare »spirituelle Isomor­ phie« hin, die zwischen der jüdischen messianischen Tradition und den mo­ dernen revolutionären Utopien besteht {Erlösung und Utopie, S. 33). 174 Natürlich ist nicht in jedem dieser Werke die Gesamtheit der Themen präsent, die diese ideologischen Konstellationen bilden. Wie Löw y zeigt, ist es die Dominanz entweder der religiösen oder der politischen Elemente, die diese Autoren voneinander trennt. Die utopische Dimension liegt bei Bloch und Landauer offener zutage als bei Kafka. Aber auch Kafka hatte in seiner Jugend Neigungen zum Anarchismus, obschon die religiöse Dimension in all seinen Schriften bestimmend bleibt. Bei Buber, Bloch und Rosenzweig ist sie zudem vom Christentum geprägt. 175 Vgl. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S .14 , 20. 1 76 Die Filiation zwischen Buber und Landauer ist unübersehbar. Vgl. Bubers Schrift Pfade in Utopia, *1985, S.91-109. Landauers Monographie Die Revolution wurde übrigens für eine von Buber herausgegebene Reihe ver­ faßt. 17 7 Scholem und Benjamin waren beide von seinem Aufruf zum Sozialis­ mus beeindruckt; Ernst Blochs Geist der Utopie entlehnt ihm, vermittelt über die Idee eines »Reiches des Möglichen«, manche Themen, den Chiliasmus und eine bestimmte christologische Sicht.

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obschon der Zionismus in seiner Sichtweise nur wenig Platz einnimmt: Seine Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft, die einzig die Revolution verwirklichen kann178, gründet auf H öl­ derlin und Tolstoi. An dieser Wegkreuzung haben auch die Jugendschriften Benjamins ihren Ort. Die Besonderheit seiner Position be­ stand darin, daß er sich weigerte, zwischen theologischen Ka­ tegorien und denen des Materialismus zu wählen, vielmehr eine pragmatische Synthese beider Begrifflichkeiten entwarf. Seine frühen Texte, reich an utopischen und anarchistischen Bildern, wurzeln in einem historischen Pessimismus.179 Der Essay »Das Leben der Studenten« verurteilt das »Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit« und den Begriff eines geradlinigen Fortschritts. N ur von einem »messianische[n] Reich« her ist für ihn Geschichte als »Revolutionsidee« zu fassen.180 Der Wille, die Gegenwart von dem zu befreien, was sie entstellt, geht mit einem ebenso religiösen wie radikalen Anarchismus einher, der die Passivität der Studenten, die Dürftigkeit ihrer Ideale und die Unterwerfung der Universität unter den Staat brandmarkt. 178 Diese Gemeinschaft steht der mittelalterlichen Romantik des Wander­ vogels nicht fern, wenngleich Landauer deren reaktionären Charakter durch­ aus nicht Übersicht. Der Einfluß Novalis’ ist in seinen Schriften spürbar. Seine mcssianisch-utopische Vision gipfelt in seiner Konzeption der Revolution. Die Revolution verändert die »Topie«, das Konglomerat des gesellschaftli­ chen Lebens im Zustand relativer Stabilität. Die Veränderungen, denen sie unterliegt, sind das Werk der Utopie, die wiederum eine neue »Topie« her­ vorbringt. Das Christentum, für ihn untrennbar mit der »lebendigen Liebe« verbunden, ist eine schöpferische utopische Kraft. Bereits vor Bloch wird er Thomas Münzer und die Wiedertäufer als Vorfahren der modernen Revolu­ tion preisen, die das Erbe ihres radikalen Anarchismus antritt. 179 In diesem Pessimismus der Jugendtexte kündigen sich seine Kritik am rationalistischen Optimismus der Sozialdemokratie, seine Konzeption der geschichtlichen Zeit, der Rolle des Augenblicks, der Parias und der Besieg­ ten, aber auch die Infragestellung der Fortschrittsideologie an, die in der forcierten Annäherung Baudelaires und Blanquis gipfelt. 180 »Das Leben der Studenten«, GS II.i, S.7J.

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Im Namen dieser anarchistischen Inspiration181 kritisiert er die »freien« und die »christlich-sozialen« Studenten, die »den geebneten Bahnen der liberalen Politik folgen«.182 Diese messianische Auffassung der Geschichte, die ihren letzten Ausdruck in den Thesen von 1940 »Uber den Begriff der Ge­ schichte« findet, wird im Zuge seiner Studien zur Frühroman­ tik (Schlegel, Novalis)183 und seiner tieferen Beschäftigung mit dem Judentum mit neuem Sinn angereichert. Die Vorarbeiten zu seiner Dissertation über die Kunstkritik in der deutschen Rom antik unterstreichen die Bedeutung bestimmter religiöser und politischer Themen, die sein ganzes Werk kennzeichnen werden.184 Im Anarchismus seiner Jugend texte zeichnet sich 181 Benjamin, der damals die Schriften Landauers noch nicht gelesen hatte, bezieht sich wie dieser auf den »Tolstoische[n] Geist« und die frühen christ­ lichen Klostergemeinschaften [ebd., S.79]. 182 Ebd., S. 80. 183 Die politische Bedeutung der Romantik ist bei Benjamin und bei Lan­ dauer offensichtlich. Sie grenzt sich gleichermaßen von der akademischen Interpretation und der reaktionären Wertschätzung der germanischen Tra­ dition ab, wie sie für den Wandervogel charakteristisch war. Benjamin fand in der Romantik die Schlüsselthemen seines Werkes wieder: das Interesse an einer Metaphysik der Sprache und an Sprachphilosophie, die Erhebung der Literaturkritik in den Rang einer philosophischen Gattung, ein bestimmtes Verhältnis zum Kantianismus, eine schöpferische religiöse Dimension und das Streben nach einer neuen Gemeinschaft (vgl. »Romantik. Eine nicht ge­ haltene Rede an die Schuljugend«, GS II. 1, S. 42-47). Die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft bei Novalis entsprach seiner Feindschaft gegen die wilhelminische. 184 Die von Bubcr gepriesene schöpferische Religiosität findet sich in N o ­ valis’ Lehrlingen zu Sais und in Schlciermachers Reden. Der Zweifel an der Konzeption des geradlinigen Fortschritts ohne Bruch und ohne Erwartung speist sich aus dem romantischen qualitativen Zeitbegriff (Schlegel, Franz von Baader) und seiner Vorstellung der »Erfüllung«, die Benjamin in seiner Studie »Trauerspiel und Tragödie« (1916) aufgreift; dort stellt er die »mecha­ nische Zeit« der Uhren einer erfüllten »mcssianischefn] Zeit« gegenüber [GS II. 1, S. 134]. Die Idee des »Reichs Gottes« als telos der Geschichte, die schon in seinem Essay über das »Leben der Studenten« erschien, wird in seiner Dissertation über die romantische Kunstkritik wiederaufgenommen, wo er die Äußerung Schlegels zitiert: »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Got­ tes zu realisieren, ist der [...] Anfang der modernen Geschichte. Was in gar

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darüber hinaus schon seine Wertschätzung des Anarchosyndi­ kalismus ab, die in seinem Essay von 19 2 1185 deutlich wird. Die dort auftauchende Konzeption einer »göttlichen Gewalt«186 wurde von Sorels Betrachtungen Über die G ew alt angeregt.187 Auf die Militanz der Jugendbewegung folgte eine »kontem­ plative Revolte«, die sich von dem Aktivismus Blochs in der Schweiz 1914 oder der Beteiligung Lukäcs’ an der Budapester Räterepublik abhebt. Nur vom »Geistigen« erwartete Benja­ min Heil. Jede politische Praxis erschien ihm damals aussichts­ los.188 Seine rein theoretische Opposition gegen den Krieg drückte ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Realität aus, auch wenn er mit Scholem - der zu dieser Zeit radikalere Posi­ tionen vertrat - über die sowjetische Revolution, den Zusam­ menbruch der mitteleuropäischen Reiche und das Scheitern des Spartakismus diskutierte.189 Der persönliche Umgang mit Hugo Ball und Ernst Bloch, die beide in der Freien Zeitung Ar-

keincr Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache« (Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I.i, S. 12, Anm.3). 185 (»Zur Kritik der Gewalt«, GS II. 1, S. 193 f.) 186 Der politisch-religiöse Anarchismus findet sich zur gleichen Zeit bei Ludwig Rubiner und Hugo Ball wieder. Er erreicht seinen Höhepunkt in den Schriften Gustav Landauers und seiner Bezugnahme auf Novalis, der in Die Christenheit oder Europa erklärte: »Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselcmcnt der Religion« (S. 37). Während Benjamin Hugo Ball nicht er­ wähnt, bezeichnet Ernst Bloch ihn in seinem Essay von 1918 als »christli­ chen Bakunisten« und die Idee des Anarchismus als bunten, vielgestaltigen und direkten Ausdruck Christi. 187 Benjamin überträgt die Thesen Sorels in einen theologischen Zusam­ menhang, der ihnen zutiefst fremd ist. Er übernimmt von ihm die Verach­ tung für die staatlichen Institutionen, die Polizei, das Prinzip der parlamen­ tarischen Vertretung sowie den Mythos des Generalstreiks, dessen Aufgabe die »Vernichtung der Staatsgewalt« ist [GS II. 1, S. 194]. 188 Benjamin lehnte den Anarchismus Kurt Hitlers, Ludwig Rubiners und Alfred Wolfensteins ebenso ab wie Heinrich Manns Manifest Geist und Tat. Franzosen 1780-1930. 189 Ihre Sympathie richtete sich auf die Sozialrevolutionäre Partei, die da­ mals ein wichtige Rolle in Rußland spielte.

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tikel gegen den Krieg veröffentlichten, veränderte nichts an Benjamins Verhältnis zur Politik.190 Begegnung mit Em st Bloch: Diskussionen über den Geist der Utopie Die komplizierte, von seltener Ambivalenz geprägte Bezie­ hung, die Bloch und Benjamin miteinander verband, ist nur schwer aufzuhellen. Neben offenkundigen Affinitäten191 ste­ hen tiefe philosophische, aber auch politische und religiöse Auffassungsunterschiede. Während er Blochs Persönlichkeit bewunderte, zeigte sich Benjamin stets kritisch gegenüber sei­ nen Hauptwerken, handele es sich um den Geist der Utopie, um Thomas M ünzer oder Erbschaft dieser Z eit. Die Distanz, die er ihm gegenüber oft an den Tag legte, schloß weder Ach­ tung noch Freundschaft aus. Sie erwies sich für Benjamin als lebenswichtig wegen der ständigen Plagiatsangst, die ihn jede theoretische Nähe fürchten ließ.192 N ur wenige Dokumente 190 Scholem schreibt: »Benjamin wurde damals in den Gesprächen mit Bloch und Ball mit der Frage politischer Aktivität konfrontiert, die er in dem Sinne, wie seine Partner ihn dazu aufforderten, ablehnte. Die Münch­ ner Räterepublik im April 1919 trat nur dadurch in seinen Gesichtskreis, daß der von ihm philosophisch hochgeschätzte Felix Noeggerath wegen sei­ ner Beteiligung an ihr verhaftet wurde, was Benjamin sehr aufregte. Auch von der ungarischen Räterepublik, die er als eine kindische Verirrung be­ trachtete, berührte ihn eigentlich nur das Schicksal von Georg Lukäcs, dem engsten Freund Blochs, von dem man damals (fälschlich) befürchtete, er wäre verhaftet und würde vielleicht erschossen werden.« Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 103 f. 191 ln seinen »Erinnerungen« streitet Adorno das Bestehen solcher Affini­ täten ab (Vermischte Schriften I, GS 20.1, S. 177). Seine Argumentation wird durch die Lektüre von Benjamins Briefwechsel und den Vergleich der Schriften Benjamins und Blochs weitgehend entkräftet. Die Feindseligkeit Adornos gegenüber jeder Utopie war, wovon manche Passagen der Negati­ ven Dialektik zeugen, eine Konstante seines Denkens. 192 Diese Plagiatsfurcht spielt auch in seinen Beziehungen zu Martin Buber und Siegfried Kracauer eine Rolle. Sie erreichte ihren Höhepunkt beim Erscheinen von Erbschaft dieser Zeit (vgl. die Briefe an Scholem vom 26. De-

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ermöglichen es, Licht auf ihre Beziehung zu werfen.193 Zeug­ nisse von Dritten sind äußerst selten.194 Bloch unterstreicht zcmbcr 1934 (GB IV, S. j jo) und an Alfred Cohn vom 18. Juli 1935 (GB V, S. 129); Benjamin sprach sogar von »Diebstahl«). Am 30. April 1926 schrieb er an Jula Radt: »Bloch ist außerordentlich und mir, als bester Kenner mei­ ner Sachen sehr ehrwürdig (er weiß viel besser Bescheid als ich selber, denn er hat nicht nur alles inne, was ich je geschrieben habe, sondern auch jedes gesprochene Wort von Vorjahren)« (GB III, S. 152). 193 Die abfälligen Äußerungen über Bloch waren von Scholem in der Aus­ gabe der Briefe von 1966 getilgt worden, erscheinen jedoch in dem Band Walter Bcnjamin/Gcrshom Scholem, Briefwechsel 1933-1940 [und natürlich in der Ausgabe der GB]. Bloch erinnert an ihre Symbiose, aber auch an jene »Art Schützengrabenkrankheit [...], eine leichte Überdrüssigkcit in allzu­ großer Nähe« (vgl. seine Erinnerungen in: Adorno u. a., Über Walter Benja­ min, S. 16). Benjamin plante 1934 während seines Pariser Exils einen Zyklus privater Vorlesungen über Kafka, Bloch, Brecht und Kraus. Dennoch war Bloch - sieht man von der verlorengegangenen Besprechung des Geistes der Utopie ab - der einzige dieser Autoren, über den er niemals geschrieben hat. Wir besitzen keinen einzigen Brief, den Benjamin an Bloch gerichtet hätte. Er zitiert ihn selten, auch wenn er ihm im »Theologisch-politischen Frag­ ment« das Verdienst zubilligt, »die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben« (GSII. 1, S. 203). 194 In den zwanziger Jahren mißbilligte Scholem, der den philosophischen und politischen Positionen Blochs feindselig gegenüberstand, dessen marxi­ stische Orientierung und seine Deutung des Judentums. Später beurteilte er Blochs Produktion abschätzig und schürte Benjamins Mißtrauen und seine Plagiatsangst (vgl. Brief an Benjamin vom 6. Mai 1931, GB IV, S.36). Ihren Höhepunkt erreichte Scholems Feindseligkeit 1935. Sie ließ dann nach, und er veröffentlichte einen Text zu Ehren Blochs zu dessen 90. Geburtstag (im Spiegel vom 7. Juli 1975). Dort räumt er die Merkwürdigkeit der Beziehung zwischen Benjamin und Bloch ein, versucht aber nicht ernsthaft zu ihrer Klärung beizutragen; es sei vergeblich, sich vorzustcllen, wie ihr Verhältnis sich hätte weiterentwickeln können. Karola Bloch schildert in ihren Erinne­ rungen einzig ihr erstes Gespräch mit Benjamin 1927 in Berlin zu der Zeit, als Bloch auch mit Adorno, Kracaucr, Kurt Weill und Otto Klemperer be­ kannt war. Als er sic mit Bloch auf dem Kurfürstendamm traf, sagte er nur zu ihr: »Gnädigste, ist Ihnen schon einmal das kränkliche Aussehen der Marzipanfiguren aufgcfallen ?« Und zog aus der Tasche eine halbe Walnuß­ schale, in die eine Krippe mit Maria und Jesuskind aus Marzipan eingearbei­ tet worden war. Das Porträt, das sie von Benjamin zeichnet, ist sehr zwie­ spältig: »Obwohl Benjamin keine Wärme, keine Heiterkeit ausstrahlte, war er mir sympathisch, seine Originalität und sein Intellekt beeindruckten mich sehr« (Karola Bloch, Aus meinem Leben, S. 6 j, 66).

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ihre Nähe, verliert aber über ihre Differenzen kein Wort.195 Man muß auf ihre erste Begegnung zurückgehen, die durch Vermittlung Hugo Balls 1918 oder 1919 stattfand. Scholem da­ tiert sie auf März oder April 1919 in Interlaken196 und erwähnt den starken Eindruck, den Blochs Persönlichkeit auf Benjamin gemacht habe. Ihre Diskussionen drehten sich zweifellos um den Geist der Utopie (1918). Eine mögliche Zusammenarbeit wurde ins Auge gefaßt.197 Im Mai 1919 diskutierten Scholem und Benjamin mit Bloch über das Judentum. Benjamins Brief­ wechsel zeigt, daß die Lektüre des Geistes der Utopie bei ihm ebensoviel Bewunderung wie Vorbehalte weckte.198 A uf Bitten 1 9 J Bloch zitiert Benjamin in seiner »Marxistischen Propädeutik« (in: Phi­ losophische Aufsätze, S.2j6f.) und nickt dessen mikrologisches, monadologisches Verfahren in die Nähe der Methode Hegels in der Phänomenologie des Geistes. Beide waren für sehr ähnliche religiöse Themen empfänglich (die Bedeutung der Utopie, des Messianismus, der Apokalypse, des Chassi­ dismus) und benutzten manchmal fast identische philosophische Katego­ rien (so das Motiv der Antizipation bei Bloch und die Kategorie der »Jetzt­ zeit« bei Benjamin, des »Ursprungs« und der »Genese«, des »Dunkels des gelebten Augenblicks« und des dunkel geahnten Neuen). Vgl. Philippe Ivcrnel, »Soup^ons - d’Ernst Bloch ä Walter Benjamin«, in: Gdrard Raulct (Hg.), Utopie - Marxisme selon Emst Bloch, S. 2 6 9 , und Arno Münster, Figures de l'utopie dans la pensee d ’Emst Bloch, S. 1 1 1 ff. Vgl. auch vom selben Verfasser Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Emst Bloch (sowie ders., Emst Bloch. Messianismus und Utopie). 196 Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 101 f. Er war bei dem ersten Treffen von Bloch und Benjamin nicht zugegen. 197 Benjamin berichtete Scholem, Bloch sei dabei, ein System des theoreti­ schen Messianismus zu verfassen, und habe sich für Fragen des Judentums sehr offen gezeigt. Bloch erwäge, ein »Gesamtsystem der Philosophie« zu erarbeiten, und habe ihn für die Abteilung »Katcgorienlehre« vorgesehen (ebd., S. 102). 198 Vgl. den Brief an Scholem vom 1 j. September 1919: »Leider ist durch­ aus nicht alles zu billigen, ja es kommt manchmal Ungeduld über mich« (GB II, S.45). In einem Brief an Ernst Schoen vom 19. September 1919 schreibt er, Bloch sei »der einzige Mensch von Bedeutung«, den er bisher in der Schweiz kennengelernt habe. »Mehr als sein Buch [kommt mir noch] sein Umgang [zustatten], da seine Gespräche so oft gegen meine Ablehnung je­ der heutigen politischen Tendenz sich richteten, daß sie mich endlich zur Vertiefung in diese Sache nötigten« (ebd., S.40). Bei dieser Vertiefung han-

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Blochs verfaßte er eine Rezension, die ihm nicht leichtfiel, denn bei allem Respekt vor Blochs philosophischer Kühnheit verbarg er nicht seine Kritikpunkte.199 Nach Benjamins Rück­ kehr nach Berlin wurden ihre Beziehungen enger.200 Trotz des Interesses, auf das der Geist der Utopie in Deutschland stieß, gelang es ihm nicht, den Text, den er ihm gewidmet hatte, zu veröffentlichen. Die kritischen Überlegungen, die Benjamin in mehreren Briefen formulierte, gestatten es, uns von ihren Mei­ nungsverschiedenheiten in wesentlichen Punkten - Erkennt­ nistheorie, Verhältnis zum Judentum, aber auch zum Expres­ sionismus - ein Bild zu machen. Benjamin stand lange Zeit der Politik fern, während Bloch seit seiner Kindheit von sozialen Kontrasten geprägt201 - zudclt cs sich zweifellos um das »Theologisch-politische Fragment«. Überdcn Geist der Utopie äußerte er sich im weiteren: »Ungeheure Mängel liegen zu Tage. Dennoch verdanke ich dem Buch Wesentliches und zehnfach besser als sein Buch ist der Verfasser. Es mag Ihnen genügen, zu hören, daß dies doch das einzige Buch ist, an dem ich mich als an einer wahrhaft gleichzeiti­ gen und zeitgenössischen Äußerung messen kann.« 199 Diese [verschollene] Rezension wurde zwischen Dezember 1919 und Februar 1920 verfaßt. Benjamin beschreibt sie in einem Brief an Ernst Schoen vom 2. Februar 1920 als »höchst ausführlich, höchst akademisch, höchst entschieden lobend, höchst csothcrisch [sic] tadelnd« (ebd., S.72). 200 Anläßlich des Todes von Blochs erster Frau schrieb Benjamin: »Die Frau von Ernst Bloch, einer der Menschen, die wir am liebsten gehabt ha­ ben, ist in München gestorben« (Brief an Scholem vom Januar 1921, ebd., S. 130). Im April desselben Jahres hielt sich Bloch in Berlin bei Benjamin auf. Aufgrund einer Verhinderung trafen sie sich erst im Herbst in München wieder. Durch Blochs Trauer flauten ihre brieflichen Beziehungen ab. In sei­ nen Gesprächen Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Emst Bloch erinnert er sich, er habe zu jener Zeit nichts mehr schreiben wol­ len, weil seine Frau nicht mehr da war, um es zu lesen. Seine einzige Publika­ tion war die Ncuausgabe des Geistes der Utopie (1923), in der er den Stil ei­ niger Kapitel abänderte. 201 Geboren am 8. Juli 1885 als Sohn eines bayerischen Bahnbediensteten in Ludwigshafen, stand Bloch schon sehr früh unter dem Eindruck des Ge­ gensatzes, der Mannheim mit seinem romantischen Rheinufer von seiner Heimatstadt Ludwigshafen, dem »Kern von I.G . Farben«, trennte. Aufge­ wachsen mit »Krane[n] vor Augen, Jahrmarkt und Karl May«, ging er nach Berlin (1908-1911), wo sich seine Abneigung gegen das preußische Reich

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sammen mit anderen deutschen und österreichischen Emi­ granten, die den Krieg und den Imperialismus bekämpften, ab 19 17 an der Berner Freien Zeitung mitarbeitete. Die frühen Schriften Benjamins sind weitgehend von Kant, dem Judentum und der Romantik geprägt. Die Herkunft der philosophischen Ideen Blochs ist komplexer. Er ist von Kant, aber auch von He­ gel beeinflußt; seine Erkenntnistheorie202 ist von den Aporien des Neukantianismus203 nicht zu trennen. Um sie zu überwin­ den, bemüht er sich um eine »neue Metaphysik«, zu der der Geist der Utopie mit seiner mystischen Dimension die Funda­ mente legen soll.204 Die zugrundeliegende Erkenntnistheorie überrascht durch ihre Kühnheit. Bloch, der jedes System ab­ lehnt und alles umfassen möchte, vergegenwärtigt im ersten Abschnitt die Erfahrung, die das Subjekt mit sich selbst macht. verstärkte. In Heidelberg (1912-1914), wo er wie Lukäcs in Kontakt mit Max und Marianne Weber stand, radikalisierte sich sein politisches Bewußt­ sein. Vgl. die zahlreichen Interviews, in denen Bloch über seinen Werdegang Auskunft gibt, sowie Erbschaft dieser Zeit, S. 208-212, und »Verfremdungen II«, in: Literarische Aufsätze, S.401. (Vgl. ebenso Arno Münster, Emst Bloch. Eine politische Biographie). 202 Verhältnis zwischen Subjekt, Natur und Kosmos, Problem der Indivi­ duation, rätselhafter Charakter der Konstruktion des Ichs und seiner Ent­ deckung durch sich selbst, Rolle der schöpferischen Einbildungskraft und des Traums usw. 203 Seit seiner Dissertation über Rickert entfernte sich Bloch mit seiner Absage an formale Oppositionen von dieser Problematik. Die im Geist der Utopie gefundenen Grundkategorien - wie die des »Noch-nicht-Bewußten« oder des »Noch-nicht-Gewordenen« - nahmen seine Theorie der kon­ kreten Utopie vorweg und ermöglichten eine Überwindung des Neukantia­ nismus. 204 Das Verhältnis des »subjektivsten« Subjekts - mit dem ganzen Gewicht seiner Träume, seines Unbewußten, seiner Einbildungskraft und Emotiona­ lität - zum Objekt wird in einem cschatologtschen und apokalyptischen jü­ disch-christlichen Horizont neu gedacht. Die Einzigartigkeit der Position Blochs hängt mit seiner sehr realistischen Konzeption des Subjekts und des­ sen Oszillation mit dem Objekt zusammen. Die Begegnung mit Simmel (1908-1909) konfrontierte ihn mit einem sehr fruchtbaren impressionisti­ schen Stil der Analyse, der die Wirklichkeit stets vor dem Hintergrund von Kultur und Geschichte ins Auge faßt.

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Er bricht mit den neukantianischen Thesen und zeigt, daß es sich auf dem Weg über die Dinge entdeckt. Die Reflexion über einen einfachen Tonkrug führt zur Analyse der »Erzeugung des Ornaments«. Dem modernen technischen Objekt, Symbol für den Tod des Kunstgewerbes, setzt er die »rein seelische, musikhafte, zum Ornament verlangende Expression« entge­ gen. Er sieht sie verwirklicht im Expressionismus mit seinem »Aufblitzen feuriger und rätselvoller Zeichen«, Vorahnung un­ seres künftigen Daseins. Die Werke von Kandinsky, Kokoschka und Marc geben die »ganze Aura, die in der Seelenlandschaft liegt«, wieder. Vermittels der expressionistischen Konstruktion des Ichs zeichnet sich in ihnen ein neues Verhältnis zu unse­ rem Inneren ab, zum »Wir- und Grundgeheimnis«, zum Ideo­ gramm unseres innersten Seins, »wie die denkbar letzte Musik und denkbar letzte Metaphysik«.205 Als subjektiver Ausdruck, »Erdspiegel«, Vorwegnahme »unseres verborgenen Götterda­ seins« schafft das Kunstwerk die Unterscheidung zwischen ab­ strakter Organik und der Fülle des Sich-selbst-Erscheinens ab. Die Musik beseitigt die Hülle jeder sichtbaren Form; »der Ton brennt aus uns heraus«.206 Die »Philosophie der Musik«, die der »Erzeugung des Ornaments«207 folgt, vergegenwärtigt uns ihre Entwicklung seit der Antike. Bloch entdeckt in der Musik ein Licht, das »von der Zukunft her« leuchtet, den »Geist uto­ pischen Grades«208, der einem anderen Rhythmus, anderen Ge­ setzen gehorcht, denen der Geschichte. In der Musik behaup­ tet sich die wachsende Macht der Subjektivität. Ein Neuanfang wird möglich, der vom Ich ausgeht, denn in ihm liegt die Ah­ nung unserer verborgenen Kraft, der Elan der Ethik und der Phantasie, der alles in ein Paradies zu verwandeln vermag. 205 Ernst Bloch, Geist der Utopie. Zweite Fassung (1923), »Produktion des Ornaments«, S. 25, 26, 4 1 , 46 k, 47. 206 [Ebd., S .4 8 ,49.] 207 Sie macht einen wesentlichen Teil vom Geist der Utopie aus. 208 [Ebd., »Philosophie der Musik«, S. 58.]

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Das Schlußkapitel »Karl Marx, der Tod und die Apokalyp­ se« entwirft den Übergang vom Selbst zum Wir, der über den revolutionären Sinn der Utopie verläuft. Dieser Weg führt »vom einsamen Wachtraum der inneren Selbstbegegnung zu dem Traum, der aussendet, die äußere Welt wenigstens entla­ stend zu gestalten«.209 Dem Staat, den er als »satanische« Ver­ körperung von Unterdrückung und Herrschaft anprangert, stellt Bloch den in Marxschem Geiste begründeten »Bund zwi­ schen den Armen und den Denkern« entgegen. Er sieht ihn angelegt in der Französischen Revolution, aber auch in den chiliastischen und apokalyptischen Bewegungen. Gewiß, das wahre sozialistische Denken ist noch zu erfinden, doch der Geist der Utopie, der sich in die Seele geflüchtet hat, ginge auch mit unserem Tod nicht verloren. Auch wenn wir sterben, wird das Licht unserer Augen nicht erlöschen. Die Kühnheit dieses philosophischen Unternehmens - das Bloch in der »Nachbemerkung« zur Neuausgabe 1963 als »re­ volutionäre Gnosis« bezeichnet210 - rief bei Benjamin geteilte Reaktionen hervor. Viele Themen sprachen ihn an21 doch gab ihm das Werk auch den Eindruck einer fremdartigen, zwischen Himmel und Erde schwebenden Konstruktion. Während er von Kant ausgehend eine strenge Erkenntnistheorie erarbeiten wollte, schien ihm die Blochs unzureichend begründet.212 Die 209 Ebd., »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse«, S. 296. 210 [Ebd., »Nachbemerkung«, S. 346.] 2 11 So der Stellenwert, den Bloch der Religion, der Mystik und dem Mes­ sianismus, der Reflexion über die Utopie, der Eschatologie und der Apoka­ lypse, der Ethik und der Ästhetik einräumt. 2 12 So schrieb er am 13. Februar 1920 an Scholem: »Noch erinnere ich mich, wie Ihre erste Frage über dieses Buch in Bern war, ob es eine Erkennt­ nistheorie enthielte. Und das ist nun eben das Wesentliche: neben einer Aus­ einandersetzung mit seiner undiscutierbaren Christologie verlangt das Buch eine über seine Erkenntnistheorie. Dieselbe umfaßt in meiner Kritik die neun Zeilen des Schlusses. [...] [Sie] gelten [...] einer Ablehnung des Buches in seinen Erkenntnisprämissen, einer, verhaltnen, Ablehnung en bloc« (GB II, S . 75).

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Wichtigkeit, die Bloch dem Subjekt, der Selbstbegegnung, dem beständigen Ausbalancieren von Ich und Wir zusprach, und die Verwendung von Vokabeln, die ebensowohl der Alltags­ sprache wie der Metaphysik und der Mystik entlehnt waren, bedeuteten die Verneinung des Kantischen Kritizismus. Mit­ tels der Bilder von Licht und Flamme brachte die Vision das Reale hervor, schien sie das Objekt und die Vermittlungen aller Erkenntnis aufzulösen. Manchmal den Schriften Jakob Böh­ mes nahe, stellte Bloch seine grundlegenden Intuitionen in ei­ nen geschichtlichen Prozeß, auch wenn die Beziehung von Subjekt und Objekt, von Seele und Welt rätselhaft bleibt. Indem er das Herz des Menschen mit dem Innersten der Welt gleichsetzte und in diesem »heroisch-mystischen »Atheis­ mus««213 das Subjekt zum wesentlichen Element der Erlösung machte, erhob er »das Dunkel des gelebten Augenblicks« in den Rang einer historischen Praxis. Diese »neue Metaphysik« entsprach bestimmten Grundforderungen, die Benjamin in seinem Essay »Über das Programm der kommenden Philo­ sophie« (1917) formuliert hatte, insofern sie Religion und Geschichte in den Erfahrungsbegriff aufnahm. Doch eine sy­ stematische Einheit kantischen Typs, die als Garant der Wahr­ heit aufträte, war mit dem visionären Elan Blochs kaum ver­ einbar.214 Bei seiner strengen Ablehnung des Hegelschen 213 Bloch, Geist der Utopie, »Philosophie der Musik«, S. 204. 214 Bereits in einem Jugendtext identifizierte Bloch das Ding an sich mit der objektiven Phantasie (»Über die Kraft und ihr Wesen«, zitiert in: Spuren, S.71). Der Geist der Utopie unterzieht das Kantischc Erbe einer strengen Kritik. Er erkennt an, daß Kant wie Kierkegaard die »»subjektive« Sponta­ neität« wieder aufgewertet habe, doch er tadelt an ihm sein »preußisches Pflichtgefühl«, sein »Glaubenwollen, aber nicht Glaubenkönnen«, und be­ zeichnet seine Intuitionen als »gelähmt« (Geist der Utopie, »Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage«, S.219). Mit der Ausdehnung des Bereichs der reinen Vernunft, mit der Erhebung der Kantischen Postulate zum »Apriori« feierte er die Geburt eines »neuen Rationalismus des Herzens« [ebd., S. 223]. Oft geht er bei seiner Kritik am Kantischen Rationalismus —an jenem »Oze­ an ohne Ufer«, wo dem Schiffbrüchigen »nie mögliche Ankunft wird«

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Idealismus und Panlogismus folgte Bloch der Kierkegaardschen Kritik. E r verteidigte den »sich seiner als konstituierend bewußten Methodismus der kantischen Philosophie« gegen die totalisierende Dialektik, lehnte den »Pragmatismus der prakti­ schen Vernunft« im Namen der »moralisch-mystischefn] Evi­ denz der Wahrheit« ab und hielt dennoch an der Hegelschen Gewißheit fest, daß »das Ich in allem übrig bleiben« muß.215 Das Endziel rechtfertigt den Weg, da »kindliche Wünsche« »bekanntermaßen zumeist [...] den Abgrund dessen, was w ir träumen, erfüllen«.216 Das »noch-nicht-bewußte-Wissen« wird zur Flamme des Höffens. Diese Ontologie der Nochnicht-erfüllten Zeit, Schlußstein des Geistes der Utopie, bleibt auf philosophischer und politischer Ebene Blochs wertvollster theoretischer Beitrag217, auch wenn der Begriff einer prakti­ schen und mystischen Vernunft schwer faßlich ist. Ebenso kri­ tisch wie gegenüber seiner Erkenntnistheorie verhielt sich Benjamin gegenüber Blochs Stellung zum Christentum.218 Bloch hat grundlegende Elemente der Kabbala und dem Chas­ sidismus entlehnt219, sie jedoch oft mit christlicher Mystik ver­ knüpft.220 Geprägt von den chiliastischen und Wiedertäufer(ebd., S. 225) - von den Mystikern, von Meister Eckart oder Franz von Baa­ der, aus. 2 15 (Ebd., S. 234-236.) 216 Ebd., S. 238. 2 1 7 Für diese revolutionäre Dimension des Buches scheint Benjamin nicht empfänglich gewesen zu sein. 218 Vgl. den Brief an Scholem vom 13. Februar 1920, GB II, S .7 4 ff. 219 So die Nennung des Baal Schern Tow (Bloch, Geist der Utopie, S. 307), der schon in den Spuren erwähnt wird (S. 50 f.). Zu den aus der Kabbala stammenden theoretischen Elementen gehören die Vorstellung der »Begeg­ nung mit sich selbst«, die Theorie der Engel (S. 325), die Idee der »Anwesen­ heit Gottes« (schechina), eine bestimmte Vorstellung von Seelenwanderung usw. 220 Gern führt er Meister Eckart, Jakob Böhme oder Franz von Baader an und nimmt Bezug auf den Neuplatonismus und die Romantik. Das Thema der Erlösung im Kommentar zum »Schleier vom Bild zu Sais« (S. 283-287) ist Novalis entlehnt.

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Bewegungen setzt er gern Spiritualität mit christlichem Geist gleich, zitiert die Evangelien. Sein beständiger Rekurs auf christliche Bilder - aus der Feder eines Autors jüdischer Her­ kunft - grenzt nicht selten an Apostasie.221 Die Apokalypse, die er heraufbeschwört, ist stets die des Johannes, nicht die jü­ dische. Gewiß beruft er sich lieber auf ein »reines, unverstelltes Christentum« als auf die Tradition der Kirchenväter, lieber auf Marcion und Joachim von Fiore als auf Gregor von Nyssa oder Paulus. Doch trotz der eigenwilligen Bedeutung, die er ihr ver­ leiht, ist die Erlösung von der Auferstehung untrennbar. Das kommende Reich ist dasjenige Christi, nicht Davids. N ur we­ nige jüdische Vorstellungen entgehen dieser christlichen D i­ mension.222 Wie Benjamin behauptet Bloch die Bedeutung des Messia­ nismus. Er wendet sich gegen den Stellenwert, den die mittel­ alterliche Mystik der Verschmelzung von Seele und Gott zu­ sprach223, und unterstreicht die Wichtigkeit der Kategorie der Utopie224, die den unerfüllten Traum des einzelnen mit dem 1 2 1 Bloch spricht vom »Mensch[cn] in seiner allertiefstcn Inwendigkeit, als Christus« (S. 39), als »Menschensohn« (ebd.); »die schöne Wärme, in der die lebendige Seele durch Demut und Andacht besiegt, wird gleich dem Jesus­ kind selber von der gotischen Maria in die Arme genommen« (ebd.). Er be­ klagt, daß »das christlich aufhellcnde Licht [...] vorbei« sei (S. 202). Die Ge­ burt Jesu beschreibt er als »Seclenwanderung Gottes selber« (S.203). Schließlich stellt er eine enge Verbindung her zwischen Opfer und Erlösung, Gnade und christlich verstandener Apokalypse, wobei wiederholt Jesus mit dem Messias glcichgesetzt wird. Die Verweise auf den Heiland, die Drei­ einigkeit, die Gemeinschaft der Heiligen, Paulus und Augustinus mußten Scholem und Benjamin gewiß befremden. 222 So wird die »Heiligung des Gottesnamens« (kiddusch haschem) mit dem »Vaterunser« gleichgesetzt (ebd., S. 273). 223 Der Bloch einen metaphysischen Sinn gibt, indem er einen beständigen Übergang von der Suche nach der Identität des Subjekts mit sich selbst zum geschichtlichen Wir behauptet. Vgl. das Blochsche Thema der »unkonstruierbaren Frage«. 224 Seine Konzeption eines »Gemeindesozialismus«, eines mystisch-reli­ giösen Anarchismus sowie seine Bewunderung für Thomas Münzer gehen zweifellos auf Landauer zurück, auch wenn Blochs Auffassung der Utopie

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verbindet, was im Dunkel des geschichtlichen Augenblicks ge­ ahnt wird. Messianismus heißt für ihn, daß die Geschichte von einer eschatologischen Vision, von der Vorstellung einer Apo­ kalypse nicht zu trennen ist, zu der eine wesenlose Welt ohne Wahrheit verdammt ist. Doch aus dieser gemeinsamen In­ spiration ziehen Benjamin und Bloch nicht die gleichen philo­ sophischen Schlußfolgerungen.225 Die Blochsche Vision un­ tersteht gänzlich der Opposition von Gut und Böse, dem Gegensatz zwischen dem »Gerechten« und dem »luziferischen Prinzip«, .dem »Antichrist«. Die Katastrophe hat weder den gleichen Ursprung noch den gleichen Sinn. Dem grundsätz­ lichen Pessimismus Benjamins, der ihn am aktiven geschicht­ lichen Handeln zweifeln läßt und ihm die Vorstellung eingibt, die Geschichte könne nichts anderes sein als eine Folge von Kataklysmen, steht der relative Optimismus Blochs entgegen. Für ihn könnte die Verwüstung am Ende der Zeiten nicht die Entfesselung von Grausamkeit bedeuten. D er »Weltenbrand« wird im Augenblick des Sieges selbst überwunden, denn, so bedürftig sich auch der Blick zur Offenbarung wendet, das Tribunal in der Apokalypse des St. Johannes fordert zur Gegenseitigkeit auf, um gerecht zu sein. Auch wir wollen mit Iwan Karamasow lieber bei unseren ungerächten Leiden und unserem heißen unstillbaren Zorn bleiben, als mit ansehen, wie alle, und die völlig unschuldigen Kinder mit, leiden muß­ ten, damit die ewige Harmonie erkauft werde.226 komplexer ist. Er übernimmt weder Landauers grundlegende Unterschei­ dung zwischen »Topie« und »Utopie«, noch identifiziert er sich mit irgend­ einem bestimmten sozialen Projekt (Landauers ländlichen sozialistischen Gemeinschaften). Statt dessen erhöht er den Begriff der Utopie zu einer fun­ damentalen ontologischen Kategorie. Allerdings finden sich auch bei Lan­ dauer das Interesse am Chiliasmus und an den christlichen Ketzerbewegun­ gen sowie die Sehnsucht nach einem Urchristentum. 225 Diese unauflöslichen Gegensätze steigern sich in den letzten Schriften Benjamins, insbesondere in den »Thesen« von 1940. 226 Bloch, Geist der Utopie, »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse«, S .339 L

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Bloch kann sich die Niederlage des moralischen Bewußtseins nicht vorstellen. Dem Gedanken einer letzten Befreiung der Menschheit steht bei Benjamin das Bild des Engels entgegen, der die Trümmer betrachtet. Die erste Auflage des Geists der Utopie enthielt ein Kapitel mit der Überschrift »Symbol: Die Juden«227, das gedrängter als jedes andere die Distanz erweist, die Bloch und Benjamin voneinander trennte. Bloch beschwört den »Stolz, jüdisch zu sein«, der bei den Jüngeren erwacht, die Lage der westlichen Juden und der Ostjuden, ihre unterschiedlichen Beziehungen zum Zionismus und zur Assimilation. Er stellt dem »abstrak­ ten Deismus« des orthodoxen Judentums die Mystik des Chas­ sidismus, die untergründige Revolte in den häretischen Bewe­ gungen entgegen. Er bekräftigt die Bedeutung der jüdischen Tradition in der Philosophie, seine Bindung an den Messianis­ mus, aber auch an Jesus von Nazareth und seine Religion der Liebe. Benjamin und Scholem reagieren ablehnend auf dieses Kapitel.228 Sie mißbilligen seine unleugbare Christologie. Für sie schien sich die Rückkehr zum Judentum viel eher über ei­ nen Bruch mit der »assimilierten« christlichen Welt zu ver­ 227 Der Text ist in der faksimilierten Neuausgabe der ersten Fassung von 1918 enthalten (Gesamtausgabe, Bd. 16, S .319 -331). Er ist der ersten Frau Blochs, Else von Stritzky, zugccignet, die Russin und Christin war. Bloch nimmt ihn 1923 in seine Sammlung Durch die Wüste auf. (Tatsächlich ist der Geist der Utopie insgesamt dem Gedächtnis Else Bloch-von Stritzkys ge­ widmet.) 228 Vgl. den Brief Scholcms vom 5. Februar 1920 (zitiert in Scholem, Wal­ ter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 11 3 -1 1 5 ) und Benjamins Antwort vom 13. Februar 1920 (GB II, S .7 5 f.), in der ersieh mit Scholems Kritik an dem Kapitel über die Juden völlig einverstanden erklärt. Die Be­ wunderung Christi wurde von bekannten Zionisten geteilt. Max Nordau, Mitarbeiter Theodor Herzls, bczcichnete ihn schon 1899 als »die Seele unse­ rer Seele, das Fleisch unseres Fleisches«. Die Position Bubers stand der Blochs nicht grundsätzlich fern, auch wenn Buber nie soweit ging, Jesus als den Messias zu bezeichnen (vgl. Franz von Hammerstein, Das Messiaspro­ blem bei Martin Buber, S. 50-56). Er war einer der ersten, die den von Schalom Ben Chorim popularisierten Ausdruck »Bruder Jesus« verwandten.

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wirklichen - diese Problematik wird bei Rosenzweig zentral werden - als über die Aufnahme christlicher Motive ins Juden­ tum. Zu den philosophischen, politischen und religiösen Ge­ gensätzen kommen schließlich ästhetische Divergenzen hin­ zu. Das Blochsche Buch, ein »Evangelium des Expressionis­ mus«229, teilte mit diesem den Pantheismus, den visionären und messianischen Schwung, die Erwartung einer neuen Welt, getragen von einer kraftstrotzenden Subjektivität, all die Züge, die für die Generation der »Menschheitsdämmerung« kenn­ zeichnend waren. Die Schönheit und Eigenwilligkeit seines Stils sind gerade von der Sprache des Expressionismus, seiner Lyrik und seiner Malerei nicht zu trennen, deren Explosion kräftiger Farben und »hautloser« Formen die Gestalt einer »reicheren Innerlichkeit« vorwegnimmt. In diesem Strudel von Bildern und Ängsten nahm Bloch den Atem einer Revolte wahr, die von der Kunst aus die Gesellschaft als ganze in Frage stellte - während Scholem und Benjamin in den meisten dieser Werke nur eine barbarische Kakophonie sahen. Da der Briefwechsel zwischen Bloch und Benjamin verlo­ rengegangen ist, wissen wir nicht, ob sich zwischen ihnen wirkliche Diskussionen über den Geist der Utopie entsponnen haben.230 Vom Beginn der zwanziger Jahre bis zum Exil wer­ den ihre Beziehungen von Phasen der Annäherung und Entfer­ nung geprägt sein. Unter dem Einfluß Scholems vertiefte sich Benjamin immer weiter in das Judentum, während sich Bloch 229 Am gründlichsten wird Bloch seine theoretische Stellung zu dieser Be­ wegung in mehreren Essays ausarbeiten, die in Erbschaft dieser Zeit publi­ ziert wurden (vgl. insbesondere S. 25 5-278). Verständlich wird seine Posi­ tion erst, wenn man sich die tiefe Affinität zwischen dem Expressionismus und seinem eigenen Empfinden vor Augen hält, wie es sich im Geist der Utopie offenbart. 230 Zumal Benjamin, der Bloch trotz ihrer theoretischen Meinungsver­ schiedenheiten tief bewunderte, ihm gegenüber seine Kritik vielleicht nie­ mals deutlich gemacht hat.

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immer weniger darauf bezog, auch wenn der Messianismus eine Grundkategorie seiner Philosophie bleiben sollte. Trotz ihrer politischen Divergenzen legte Benjamin ihm seinen Essay über die Gewalt vor und bezog weiterhin Stellung zu Blochs Gedanken.231 Im November 1921 erneuerten sie, nach dem Schweigen Blochs, ihre Beziehungen, die jedoch ziemlich lose blieben.232 Benjamin verfolgte Blochs Produktion mit Interes­ se, jedoch nicht ohne Vorbehalte.233 Im September 1924 trafen sie sich (mit Erich und Lucie Gut­ kind) auf Capri wieder, dann in Berlin234 und (im April 1926) in Paris. Bloch schrieb eine freundliche Besprechung der Ein­ bahnstraße, und mehrere Texte in Erbschaft dieser Zeit be­ ziehen sich auf Schriften Benjamins. Hinter unbestreitbaren Affinitäten, die mit dem Stil ihres analytischen Vorgehens235, mit der Verwendung oftmals verwandter philosophischer und 231 So in seinem geplanten Essay zur »Politik«. Vgl. den Brief an Scholem vom 1. Dezember 1920, GB II, S. 109. 232 Vgl. den Brief Benjamins vom 5. Dezember 1923, ebd., S.388. (Vgl. auch Ernst Blochs Brief vom 30. April 1934 an Walter Benjamin, in: Arno Münster, Figures de Putopie dans la pensee d ’Emst Bloch, S. 180.) 233 Scholem schreibt in seinen Erinnerungen: »In dieser Zeit begannen Benjamins Beziehungen zu Ernst Bloch heikel zu werden. In seinen Erzäh­ lungen und später in seinen Briefen kam ein ständiges Auf und Ab zwischen persönlicher Anziehung und Abstoßung zum Ausdruck, zwischen Bewun­ derung für die Kraft, die in Bloch wirkte, und das große denkerische Poten­ tial in ihm und oft tiefer Enttäuschung über seine literarische Produktion. Zu diesen Enttäuschungen gehörte der damals erschienene Thomas Münzer. Manche von Blochs Aufsätzen, wie etwa seine Besprechung von Georg Lukäcs’ Geschichte und Klassenbewußtsein, rühmte er mir sehr hoch, während viele seiner Beiträge in der Weltbühne ihn in Harnisch brachten.« Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 139. 234 Bloch spricht von den Berliner Jahren als dem »Abendrot« ihrer Freundschaft; (vgl. seine Erinnerungen in:) Adorno u.a., Über Walter Ben­ jamin, S. 16. 23 j Benjamins faszinierter Blick auf Details, der in der Einbahnstraße und vor allem in den Passagen deutlich wird, findet seine Entsprechung in Blochs »mikrologischer Lektüre« (Erbschaft dieser Zeit, Spuren). »Man ach­ te grade auf kleine Dinge, gehe ihnen nach«, schreibt er {Spuren, S. 16).

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theologischer Kategorien Zusammenhängen236, stehen dennoch nicht die gleichen Grundintuitionen. Beide beziehen sich auf die vom Surrealismus inspirierte Montagetechnik, doch geht Bloch sehr schnell auf Distanz zu dieser Bewegung, der er manchmal in durchaus kritischer Absicht Benjamin zuord­ net.237 Ihre Theorien des Traums unterscheiden sich deutlich voneinander. In seinen Studien zu Proust und Baudelaire ge­ steht Benjamin dem Thema des Traums und des Erwachens großen Raum zu und macht sich dabei die Behauptung Michelets zu eigen, nach der jede Epoche die nachfolgende träumt.238 Das Paar Traum/Erwachen weicht bei Bloch einer komplexe­ ren Konzeption des vorwegnehmenden Traums, dessen antizipativer Aspekt auf eine andere Ontologie der Zeit verweist, auch wenn Benjamin in den Passagen eine Reihe Blochscher Begriffe verwendet. Die Bemerkungen, die Bloch in Erbschaft dieser Zeit Benja­ min widmet, sind nicht ohne Zweideutigkeit. In »Revueform in der Philosophie« (1928) postuliert er eine Identität des Benjaminschen und des surrealistischen Verfahrens, ausgehend von der Gemeinsamkeit »plötzlichefr] Querblicke«. E r vergleicht die Einbahnstraße mit einem Kaleidoskop, einem »philosophischefn] [...] Bazar«239; er ist empfänglich für die anarchisti236 Abgesehen von gemeinsamen geschichtsphilosophischen Kategorien (Messianismus, Utopie, Apokalypse) lassen sich analoge Vorstellungen von »Hieroglyphen«, »Spuren« und »dialektischer Ungleichzeitigkeit« in ihren jeweiligen Ansätzen wiederfinden. 237 Bereits im Geist der Utopie hob Bloch hervor, daß die Wertschätzung archaischer Elemente, des Ursprungs, erst innerhalb einer Metaphysik der geschichtlichen Zeit Sinn annehme. Er scheint nicht zu bemerken, daß Ben­ jamin in den Passagen eine Überwindung der »philosophischen« Positionen des Surrealismus anstrebte und sie nicht etwa sanktionieren wollte. Vgl. auch »Romantische Hakenbildung« (in: Erbschaft dieser Zeit, S. 165 f.) und »Romane der Wunderlichkeit und montiertes Theater« (ebd., S. 240-230) mit Verweisen auf Aragon und Proust (ebd., S. 241-243). 238 (Vgl. »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, GS V.i, S-46.) 239 (Bloch, Erbschaft dieser Zeit, »Revueform in der Philosophie«, S.369,

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sehe Bedeutung ungeahnter Begegnungen, für den Willen, aus Trümmern gerettete Sinnfragmente zu sammeln. Eines der letz­ ten Kapitel des Buches, »Hieroglyphen des XIX. Jahrhun­ derts«, zeigt gegenüber dem neunzehnten Jahrhundert eine un­ endlich viel kritischere Distanz. Als Benjamin Erbschaft dieser Zeit las, reagierte er ziemlich negativ auf das Buch und sah dar­ in mehr Böswilligkeit ihm gegenüber als Lobreden.240 Richtig ist, daß Bloch zwar den Begriff der »dialektischen Ungleich­ zeitigkeit« in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte, aber der Faszination mißtraute, die das neunzehnte Jahrhundert auf manche deutsche Intellektuelle ausübte.241 E r fand diese Faszi­ nation »desto merkwürdiger, als die meisten dieser Benutzer kommunistisch gerichtet sind«.242 Er bewunderte die Ein­ bahnstraße, hielt sie jedoch für »teils zu eigen, teils klingt es unnötig an Altes an«.243 Daher der Kontrast zwischen den höchst modernen Mitteln —der »Montage« —und den »oft abseitigefn] oder verschollenefn] Inhaltefn]«. Abgesehen von den 240 Es handelte sich von seiten Blochs um Vorbehalte, keineswegs um Feindseligkeit. Benjamin war übrigens unschlüssig. In einem Brief an Scholem vom 26. Dezember 1934 schreibt er, bevor er das Buch gelesen hatte: »Nur soviel weiß ich, daß Unruhe und Gezänk im Schoße der Getreuen dar­ über sich vorbereitet, indem ich teils zu den ini Text mir erwiesenen Ehren beglückwünscht, teils gegen die - angeblich in denselben Stellen enthalte­ nen - Schmähungen in Schutz genommen werde« (GB IV, S. 350). Vgl. auch den Brief an Alfred Cohn vom 19. Dezember 1934, ebd., S. 341. 241 »[...] weil die Dinge des XIX. Jahrhunderts jetzt erst zerfallen, weil sie faulen und dunghaft phosphoreszieren« (Bloch, Erbschaft dieser Zeit, »Hie­ roglyphen des XIX. Jahrhunderts«, S. 386). Vgl. auch die merkwürdigen Zei­ len, die er dem »Gaslicht« widmet (ebd.). 242 In dem Kapitel »Denkende Surrealismen« schreibt Bloch: »Eine philo­ sophische Hand wie die Benjamins greift in dies Niedere hinein und in das Nebenbei, das es kenntlich macht, zeigt daraus Dinge her, auf die ein ver­ nünftiger Mann vor zehn Jahren kaum gekommen wäre« (»Die Hand im Spiel«, ebd., S.367). Zu der angeblichen Bedeutung des Surrealismus be­ merkt er: »Das geschieht in einer Garde, die aus der Oberschicht ausbrach, die mit der eben vergangenen Zeit ihre Felder düngt. Was damals gefiel, be­ kommt heute den Ausdruck grauenvoller, doch wichtiger Träume« (ebd.). 243 (»Revueform in der Philosophie«, ebd., S. 368.)

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wenigen Passagen, die ihn betrafen und ihn in seiner Überemp­ findlichkeit verletzten, weckte schon der Tonfall Blochs mit seiner bitteren Ironie bei Benjamin Vorbehalte. Er fand ihn für seinen Gegenstand und vor allem für die Epoche ziemlich unangemessen.244 Die Nähe ihrer Fragestellungen ließ seine Plagiatsangst Wiederaufleben.245 Nach ihrer letzten flüchtigen 244 Benjamin schrieb am 7. Januar 1935 an Adorno: »Was ich sehr beklage ist, daß Bloch, der die Ausrichtung an sachkundigen Freunden gewiß nicht weniger nötig hat als irgend einer von uns, seine geräumigen Reisczirkcl scheinbar ohne Rücksicht auf sic schlägt und sichs an der Gesellschaft seiner Papiere genug sein läßt« (GB V, S. 14). Benjamin scheint in den Seiten, die Bloch ihm widmet, keine wirklich negative Kritik gesehen zu haben. Bloch versicherte ihn dessen übrigens auch schriftlich (vgl. Benjamins Brief an Werner Kraft vom 9. Januar 1935, ebd., S. 24). Doch die relative Distanziert­ heit, mit der Bloch das Aufkommen des Nationalsozialismus behandelte, erschütterte ihn. So schrieb er am 6. Februar 1935 an Alfred Cohn: »Der schwere Vorwurf, den ich dem Buch mache (wenn auch nicht dem Verfasser machen werde) ist daß es den Umständen, unter denen cs erscheint, in garkeiner Weise entspricht sondern so deplaziert auftritt wie ein großer Herr, der, zur Inspektion einer vom Erdbeben verwüsteten Gegend eingetroffen, zunächst nichts eiligeres zu tun hätte als von seinen Dienern die mitgebrach­ ten - übrigens teils schon etwas vermotteten - Perserteppichc ausbreiten, die - teils schon etwas angelaufcncn - Gold- und Silbergefäße aufstcllcn, die - teils schon etwas verschossenen - Brokat- und Damastgewänder sich umlegen zu lassen. Selbstverständlich hat Bloch ausgezeichnete Intentionen und erhebliche Einsichten. Aber er versteht es nicht, sie denkend ins Werk zu setzen. Seine übertriebnen Ansprüche hindern ihn daran. In solcher Lage - in einem Elendsgcbiet - bleibt einem großen Herrn nichts übrig als seine Perserteppiche als Bettdecken wegzugeben und seine Brokatstoffe zu Mänteln zu verschneiden und seine Prachtgefäße einschmelzen zu lassen« {CB V, S. 38). Wenige Briefe Benjamins über Bloch bringen die Unterschiede ihrer Sensibilität so klar zum Ausdruck. 245 Am 18. Juli 1935 vertraute Benjamin Alfred Cohn über die PassagenArbeit an: »Dazu habe ich meine Studien, um sie zu sichern, photographie­ ren lassen. Meinen literarischen Kollegen, selbst Freunden, gegenüber lasse ich dagegen nichts von dieser Arbeit verlauten; nichts Näheres. Sie ist in ei­ nem Stadium, in dem sie allen denkbaren Unbilden, nicht zum wenigsten denen des Diebstahls, besonders ausgesetzt wäre. Daß mich Blochs H iero ­ glyphen des i9tcn Jahrhunderts« etwas scheu gemacht haben, wirst Du be­ greifen« {GB IV, S. 128 f.). Bloch und Benjamin haben sich beide zu diesem Thema geäußert. Die Korrespondenz mit Scholem zeigt, daß Benjamin tat­ sächlich meinte, Bloch habe sich seiner Ideen bemächtigt (Brief Scholems an

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Begegnung 1935 setzte Blochs Exil in Amerika ihren Kon­ troversen ein Ende. Benjamin interessierte sich weiterhin für sein Schicksal. Am 14. Dezember 1939 schrieb er an Gretel Adorno: [...] d’apr&s ce qu’on entend dire ä son sujet il me semble actuellement quelque peu depayse; non seulement sur la terre mais aussi dans l’histoire mondiale.246 Die Lage in Europa schien ihm seine eigene Geschichtsphi­ losophie zu bestätigen, so als hätte die apokalyptische Kata­ strophentheorie - der Engel der Geschichte mit den schrekkensgeweiteten Augen - den Sieg über den revolutionären Optimismus des utopischen Bewußtseins davongetragen. Ein Gefühl, das Benjamin in bewundernswerter Weise mit den Worten ausdrückt: Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Welt­ geschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der G riff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.247 Das »Theologisch-politische Fragment« (19 20 -19 21) Das Manuskriptblatt des »Theologisch-politischen Frag­ ments«248 stellt den ersten Versuch Benjamins dar, den Gedan­ ken des Messianismus mit dem Bereich des Politischen zu kon­ frontieren. Der Zeitpunkt seiner Niederschrift ist nicht ganz Benjamin vom 25. August und dessen Antwort vom 24. Oktober 1935, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel 19JS-1940, S.204 und S.2o8f.; GB V, S. 186 ff.). 246 Brief [in französischer Sprache] an Gretel Adorno vom 14. Dezember 1939, GB VI, S. 368. [»Nach dem, was man über ihn sagen hört, scheint er mir gegenwärtig etwas heimatlos; nicht nur auf Erden, sondern auch in der Weltgeschichte.«] 247 (GS 1.3, S. 1232 - Ms. 1100, Vorarbeiten zu den Thesen »Über den Be­ griff der Geschichte«.) 248 GS II. 1, S.203 f.

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sicher zu bestimmen.249 Es gehört in den Umkreis der Lektüre des Geistes der Utopie, der Diskussionen mit Bloch und zwei­ fellos auch der politischen Parteinahmen einer Reihe von jüdi­ schen Intellektuellen dieser Generation.250 Die Adornosche Spätdatierung wiederum zeigt, wie eng dieser Text mit den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 zu­ sammenhängt. Die Entstehung des »Theologisch-politischen Fragments« steht auch in gewisser Beziehung mit der Lektüre Hermann Cohens und den zahlreichen Gesprächen über das Judentum die Benjamin mit Scholem führte. Die vermeint­ liche Dunkelheit dieses Textes zerstreut sich bei der Lektüre der Analysen, die dieser dem jüdischen Messianismus gewidmet 249 Adorno glaubte zu Unrecht, dieser Text sei um 1937-1938 geschrieben worden, zu der Zeit, als Benjamin ihn ihm zu lesen gab. Scholem nimmt an, daß er 1920 oder 1921 im Zusammenhang mit seinem Essay »Zur Kritik der Gewalt« verfaßt wurde, auch wenn er sich auf einem höheren theoretischen Abstraktionsniveau befinde und das Wesentliche seiner Problematik theo­ logischer Natur sei. Das Fehlen einer Erwähnung des Marxismus, die D i­ mension eines metaphysischen Anarchismus, die sich darin erkennen läßt Benjamin bestimmt seine Position als »Nihilismus« - , machen eine Abfas­ sung nach 1924 unwahrscheinlich. Die unleugbaren Verbindungen zu den »Thesen« von 1940 erweisen die Beständigkeit von Benjamins theologischer Inspiration. Der Einfluß Blochs und - vgl. die Erwähnung der restitutio ad integrum - Jakob Böhmes steht außer Zweifel. Michael Löw y arbeitet in sei­ nem Essay Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken in Benjamins Text Spuren der Lektüre von Franz Rosenzweigs (1921 erschienenem) Stern der Erlösung heraus und nimmt deshalb eine et­ was spätere Niederschrift an (1921-1922). In der Tat sind manche themati­ sche Übereinstimmungen verblüffend. Außer der gemeinsamen Bezugnah­ me auf das »Reich« scheint die »profane Ordnung des Profanen« von Rosenzweigs »menschlicher Ordnung« angeregt worden zu sein, ebenso wie die Idee des Glücks, die er mit dieser verknüpft (vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 306: »Das Gebet Goethes, des Mannes des Lebens, geht an sein eigenes Glück«). Den »großefn] Befreiungswerken« (ebd., S.319) entsprechen bei Benjamin die menschlichen Handlungen, die »das Kommen des messianischen Reiches« »zu befördern« vermögen (GS II. 1, S. 204) - oder wenigstens »die notwendigen Vorbedingungen seines Kom­ mens« (Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 319). 250 Landauer, Levinö, Eisler, Rubiner, Mühsam, Toller usw.

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hat.251 Der Messianismus, eine wahre Brücke zwischen Juden­ tum und Christentum, ist zugleich der Punkt ihres radikalen Bruchs, der sich um die Vorstellung der Erlösung kristallisiert. Für das Christentum handelt es sich um ein unsichtbares und inneres Ereignis, für das Judentum um ein Geschehen, das sich »in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der G e­ schichte und im Medium der [jüdischen] Gemeinschaft«.252 Der jüdische Messianismus erfüllt sich am Ende der Geschich­ te. Für das Christentum verwirklicht er sich im Herzen. Die Ersetzung einer materiellen Konzeption des Messianismus durch eine rein spirituelle Auffassung - die innere Erlösung wird vom Christentum als Fortschritt begriffen. Das Judentum sieht darin vielmehr eine Abweichung von der Lehre der Pro­ pheten, die Verneinung des realen geschichtlichen Sinns des Messianismus. Der beständige Einfluß, den er durch das ganze Exil hindurch auf die jüdische Geschichte ausübte, hat sich Scholem zufolge in drei verschiedenen Strömungen ausgeprägt: - in einer konservativen Strömung, die den Messianismus eng an die Achtung des Gesetzes - die Welt der Halacha - und seine Entwicklung bindet; - in einer restaurativen Strömung, die ihn als Rückkehr zu ei­ ner Situation vor dem Exil, zum Königreich Davids, inter­ pretiert; - in einer utopischen Strömung, für die das messianische Reich keinem bestehenden Bild entspricht und einen Zu­ stand der Dinge bezeichnet, den es noch nie gab. Die jüdische Lehre des Messianismus schwankte unaufhörlich zwischen diesen utopistischen und restaurativen Elementen, die auf der Ebene ihrer historischen Äußerung von Erwartung und Hoffnung oft kaum voneinander zu unterscheiden sind.253 251 Scholem, »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, in: ders., Judaica /, S.7-74. 252 (Ebd., S.7.) 253 Siehe die Studie, die Gershom Scholem dem »falschen Messias« des

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Untrennbar von den apokalyptischen Strömungen kündigt der Messianismus ein Ende der Geschichte an, das unvorhersehbar in jedem Moment eintreten kann.254 Als Vision vom Ende der Zeiten erfüllt die Apokalypse sämtliche alten Prophezeiungen, indem sie den »nationalen Inhalt der Eschatologie« - die G e­ schichte Israels - zu einer kosmischen Vision erhebt.255 Der Messianismus stellt die lebendige Verbindung zwischen den Worten der Propheten und den apokalyptischen Rätselworten her und verknüpft die Verheißungen einer künftigen Welt eng mit zahllosen Zerstörungen und Katastrophen, die das Kom ­ men des Erlösers begleiten.256 N ur in Trümmern kann die G e­ schichte ihren Abschluß finden. Demnach scheint die Zeit in zwei Teile zerbrochen: Die gegenwärtige Welt gehört zur messianischen Welt, die kommende zu dem »neuen Äon«, das mit dem Jüngsten Gericht beginnt.257 Diese apokalyptische Perspektive erlebt eine ihrer größten Entwicklungen innerhalb des Christentums, ohne deshalb aus dem Judentum zu verschwinden, auch wenn es Versuche gege­ ben hat, sie zu leugnen.258 Das Nahen der messianischen Zeit achtzehnten Jahrhunderts gewidmet hat: Sabbatai Zivi. Der mystische Mes­ sias. 254 Vgl. die letzte von Benjamins »Thesen über den Begriff der Geschich­ te« (GS 1.2, S.703) und das Verbot für die Juden, die Zukunft zu weissagen (These B, ebd., S. 704, in der französischen Version nicht enthalten). 2 j j Die Verknüpfung, die Bloch im Geist der Utopie zwischen dem jüdi­ schen Messianismus und der Apokalypse des Johannes herstellt, wird durch die Nähe der Themen ermöglicht: endgültige Konfrontation von Gut und Böse, Sieg des Guten, Jüngstes Gericht und Auferstehung der Toten. 256 Diese bei Benjamin wesentliche Thematik zeigt sich am deutlichsten in der Bedeutung, die der Begriff der »Katastrophe« sowohl in seiner Ausle­ gung literarischer Texte - insbesondere im barocken Trauerspiel - als auch in seiner Geschichtsphilosophie spielt. 257 Scholem, »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, S. 1 6. Diese Auffassung findet sich bei Bloch, in den chassidischen Schriften Martin Bubers und in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung wieder. 258 Etwa die Bemühungen des rabbinischen Judentums oder des Maimonides.

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ist stets mit dem Auftreten von Katastrophen verbunden259 und widerspricht der Idee eines geradlinigen und bruchlosen historischen Fortschritts.260 Die apokalyptischen Schriftsteller hatten, wie Scholem bemerkt, stets einen pessimistischen Blick auf die Welt: Ihre Hoffnung bezieht sich auf das, was aus Trümmern entsteht, nicht auf die Geschichte selber. Das Licht des Messias muß freilich nicht mit absoluter Plötzlichkeit aus einer finalen Offenbarung hervorbrechen, sondern kann auch in Stufen und Stadien sichtbar werden, die jedoch strikt unvor­ aussehbar sind. Gegen diesen Pessimismus wendet sich zum Teil die talmudische Tradition, der zufolge manche Handlun­ gen zum Kommen der Erlösung beitragen können, ohne daß freilich eine wirkliche Kausalität bestünde. Ihren Sinn erhalten solche Handlungen vielmehr erst mit der endgültigen Erlö­ sung - der Ankunft des Messias - , obwohl er auftauchen kann, wenn die Hoffnung aufgegeben ist. Diese Ankunft ist ein Er­ eignis, das die Geschichte beendet, und gleichwohl Trägerin

259 Daher der Ausdruck »Geburtswehen«, die oft mit dem Kommen des Messias verbunden werden. 260 Die Vorstellung eines geschichtlichen Fortschritts erscheint weder im Alten Testament noch bei den Apokalyptikern. So schreibt Scholem: »Die Erlösung ist kein Ergebnis innerweltlicher Entwicklungen, wie etwa in den modernen abendländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Auf­ klärung, wo noch in seiner Säkularisierung im Fortschrittsglauben der Mes­ sianismus eine ungebrochene und ungeheure Macht beweist. Sie ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wan­ delnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt« (Scholem, »Zum Verständnis der mcssianischen Idee im Judentum«, S. 24 f.). Diese Unterscheidung der beiden Ordnungen - der zeitlichen und der spirituellen - steht daher im Mittelpunkt von Benjamins »Theologischpolitischem Fragment« und seiner Ablehnung des politischen Messianis­ mus, bildet aber auch eine der Quellen seiner Kritik am historischen Fort­ schritt, wie sie in seinen Jugendschriften ebenso wie in den »Thesen« von 1940 enthalten ist. Sie erhellt seine Konzeption der Zeit in seinen frühen Studien über das Trauerspiel. Und sie steht auch im Zentrum von Rosen­ zweigs Offenbarungstheologie.

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geschichtlicher Utopien, sowohl im Judentum wie im Chri­ stentum.261 Benjamin hatte zweifellos nur wenig Kenntnis von den hi­ storischen Quellen des Messianismus und seinen Deutungen, doch die Bezugnahme auf das »Reich Gottes« in seinem Text über »Das Leben der Studenten«, die Diskussionen, die er mit Scholem um diese Themen führte, und seine Überlegungen zum Blochschen Werk konnten die Bedeutung dieser Katego­ rie in seiner Geschichtsphilosophie nur verstärken. So dunkel das »Theologisch-politische Fragment« manchmal scheint, ist es doch eine deutliche Erinnerung an das Wesen des jüdischen Messianismus gegen manche historische Extrapolationen. Der »messianische Aktivismus«, der Benjamins Generation prägte, mit seiner engen Verbindung romantischer und utopischer Elemente schien den alten Traum Wiederaufleben zu lassen, die Ankunft des Messias durch menschliches Handeln zu be­ schleunigen. Benjamin behauptet hingegen: Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden.262 261 Die Kabbala Lurias bezeichnet die messianische Welt als die des tikkun, der wiederhergestellten Harmonie, die eine wahre Revolution von Mensch und Kosmos darstellt. Der utopische Messianismus sollte zu einem der le­ bendigsten Elemente der jüdischen Tradition werden, der säkularisierten wie der nicht säkularisierten. Was die geschichtliche Deutung des Kommens der messianischen Zeit angeht, die Gewißheit, daß sie mit einer sozialen Umwälzung einhergehen wird und daß der Mensch in ihrer Erwartung nicht untätig bleiben kann, so motiviert sie im Christentum das Auftreten utopischer und apokalyptischer Bewegungen um das Jahr 1000, doch auch die Träume der Wiedertäufer und Chiliasten, denen man bei Thomas Mün­ zer wiederbegegnet. 262 »Theologisch-politisches Fragment«, GS II.i, S. 203.

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Um eine radikale Unterscheidung zwischen heiliger und pro­ faner Zeit bemüht, weigert er sich, den Messianismus auf eine politische Utopie herabzuziehen. Nichts kann die Ankunft des Messias beschleunigen, dessen Gestalt nur über einer Welt in Trümmern erstrahlt, während er zugleich die Geschichte voll­ endet und ihren Sinn offenbart.263 Benjamin bestreitet jeder ge­ schichtlichen Realität und jeder politischen Bewegung das Recht, sich direkt auf den Messianismus zu berufen, auch wenn keine historische Perspektive ihn ignorieren kann.264 Diese Unfähigkeit des Menschen, auf die messianische Zeit einzuwirken, und der fortdauernde Bezug dieser messianischen Zeit auf die Geschichte kommen in der vierten ge­ schichtsphilosophischen These im Bild jener Blumen zum Ausdruck, die »ihr Haupt nach der Sonne wenden«, so wie »kraft eines Heliotropismus geheimer Art das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden [strebt], die am Himmel der Ge­ schichte im Aufgehen ist«.265 Die Komplexität dieser Verknüpfung von geschichtlichem Handeln und messianischem Ideal versucht Benjamin mit dem Gegensatz zwischen telos und dynamis zu erfassen. Das mes­ sianische Reich kann nicht als Ziel - im Sinne von telos - ge­ setzt werden, denn es entzieht sich jedem menschlichen Zu­ griff; der Mensch ist in Unkenntnis über die wahre Natur des Messias und den Augenblick seines Auftretens. Wenngleich zwischen dem »Theologisch-politischen Fragment« und der theologischen Struktur der Thesen von 1940 eine tiefe Identität besteht, so ist die Entwicklung Benjamins, was dieses Ziel der 263 In seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 schreibt er: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird« (GS 1.2, S.693, zweite These); »erst der erlö­ sten Menschheit [fällt] ihre Vergangenheit vollauf zu« (ebd., S.694, dritte These). 264 So versinnbildlicht er in den Thesen von 1940 im Schachspielautomaten eine mögliche Einheit von Materialismus und Theologie. 26 5 »Über den Begriff der Geschichte«, CS 1.2, S. 694 f.

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Geschichte angeht, von wachsendem Pessimismus geprägt. Während sich unter rein theologischem Gesichtspunkt die G e­ schichte auf die Erwartung des Messias reduziert, nimmt sie ihre volle Bedeutung bei Benjamin als »Ordnung des Profa­ nen« an. Peinlich genau unterscheidet er die beiden Ordnun­ gen - die profane und die religiöse266 - und weist ihre Vermi­ schung zurück; daher seine Ablehnung der Theokratie.267 Die profane Ordnung gründet auf der »Idee des Glücks«.268 Die Verknüpfung dieser Idee mit dem Messianismus ist der Gegen­ stand der Philosophie der Geschichte.269 Die Notwendigkeit eines Bündnisses von Theologie und historischem Materialis­ mus (oder Geschichtsphilosophie überhaupt) - versinnbild­ licht im Schachautomaten der »Thesen« - wird im »Theolo266 Diese Trennung der zwei Ordnungen ist dem Alten und dem Neuen Testament gleichermaßen vertraut (»Gebt dem Kaiser ...«). Sie drückt sich in jeweils unterschiedlichen historischen Formen aus, im Gegensatz zwi­ schen dem »Gottesstaat« und dem irdischen Staat bei Augustinus ebenso wie in dem zwischen geistlicher Freiheit und politischer Freiheit bei Luther. Im Alten Testament wird die Trennung des Heiligen vom Profanen im Levitikus bekräftigt: »Das sei ein ewiges Recht all euren Nachkommen. Auf daß ihr könnt unterscheiden, was heilig und unheilig, was unrein und rein ist« (X, 9-10). 267 »Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs >Geist der Utopie«.« »Theolo­ gisch-politisches Fragment«, S. 203. 268 Ebd. 269 Im »Theologisch-politischen Fragment« erläutert Benjamin, daß diese Beziehung »eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt« (ebd.). Später - in der zweiten gcschichtsphilosophischen These - wird er diese Beziehung folgendermaßen bestimmen: »Es schwingt [...] in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Er­ lösung mit« (»Über den Begriff der Geschichte«, GS 1.2, S. 693). Die Bedeu­ tung der Bildlichkeit dieser Vorstellung wird von der fünften These unter­ strichen: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben auf­ blitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten« (ebd., S.695), vor allem aber von der sechsten These, wo er sagt: »Dem historischen Materialismus geht cs darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt« (ebd.).

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gisch-politischen Fragment« bereits mit der Metapher des Pfeils angedeutet. Stellt man das Ziel, auf das »die Dynamis des Profanen« hinwirkt, mit einem gerichteten Pfeil dar und »die Richtung der messianischen Intensität« mit einem anderen, »so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort«.270 Die talmudische Tradi­ tion, die den guten Taten das Vermögen zuerkennt, die An­ kunft des Messias zu begünstigen, auch wenn keine wirkliche Kausalität besteht, findet im »Theologisch-politischen Frag­ ment« ihre Entsprechung, wenn Benjamin schreibt: »aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt ge­ richtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Rei­ ches«.271 Diese Behauptung wird in den Thesen wiederauf­ genommen in der Anerkennung der »schwachefn] messianische[n] Kraft«272, die jeder Generation mitgegeben ist. Die Schwierigkeit, die Verknüpfung der - wohlunterschiede­ nen - göttlichen mit der profanen Ordnung sowie die einigen­ den Bande zwischen ihnen sich vorzustellen, wird noch durch die uneindeutige Stellung verschärft, die Benjamin dem Begriff des »Glücks« zuerkennt. Als solches gehört es zur profanen Ordnung und zum Materiellen. Entsprechend behauptet auch 270 »Theologisch-politisches Fragment«, S. 203 f. 271 Ebd., S. 204. In der Kabbala wird diese Theorie von dem Begriff Schechina aus entwickelt, der »immanenten« Präsenz des umherirrenden, in der Ewigkeit exilierten Gottes. Die beiden getrennten Elemente, das göttliche Sein (Elohut) und die Anwesenheit Gottes (Scbechina), werden erst in der Erlösung wieder eines. Doch wie Martin Buber schreibt, ist dem mensch­ lichen Geist die Fähigkeit gegeben, »den Heiligen Gott mit der Einwohnen­ den Herrlichkeit [zu verbinden]. Der Mensch, der in sich selber zwischen dem Reich des Gedankens und dem Reich der Tat Einung stiftet, wirkt ein auf die Einung zwischen dem Reich des Gedankens und dem Reich der Tat, das ist, zwischen Gott und seiner Schöpfung, der er seine Schechina (»Ein­ wohnung«), seine Herrlichkeit einwohnen läßt.« Buber, Des Baal-SchemTow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 23,104. 272 »Über den Begriff der Geschichte«, S. 694 (zweite These).

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die vierte These, »der Klassenkampf [sei] ein Kampf um die ro­ hen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spiri­ tuellen gibt«.273 Doch das Bild des Glücks ist selbst dialektisch, und das »Theologisch-politische Fragment« sagt uns, daß »im Glück [...] alles Irdische seinen Untergang [erstrebt]«.274 Den Untergang des Irdischen im Glück aber nennt Benjamin in der zweiten These »Erlösung«. Sie macht den zeitlichen »Index« der Vergangenheit aus und stellt die Verbindung zwischen den Generationen her.275 Während jedoch die Erlösung in den »Thesen« aus einer marxistischen Perspektive betrachtet wird auch wenn sie nicht auf einen Optimismus hinausläuft, denn nichts gewährleistet, daß die Geschichte etwas anderes ist als eine Häufung von Katastrophen und Trümmern - , bezieht sich Benjamin im »Theologisch-politischen Fragment«, wo er sich vom Vokabular der Mystik anregen läßt, auf die Idee einer doppelten (weltlichen und geistlichen) restitutio, die auch bei Bloch präsent ist. Er schreibt den Untergang in die Ewigkeit, das Glück ins Vergängliche ein und verknüpft im Zuge einer recht merkwürdigen Vorstellung des Werdens die Natur mit dem Bild des Messianismus selber: Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Welt­ politik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat.276

273 Ebd. 274 »Theologisch-politisches Fragment«, S. 204. 2 7J Es fällt auf, daß das verbindende Glied im »Fragment« und in den »Thesen« das gleiche ist: Der »unmittelbare[n] messianische[n] Intensität des Herzens« entspricht die »schwache messianische Kraft«. 276 Ebd.

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3. Judentum und Philosophie: die Sakralisierung des profanen Textes277 Der Einfluß des Judentums auf das Benjaminsche Denken ist schwer zu umreißen. Tatsächlich bildete diese Verwurzelung sich erst im Verlauf seiner Aneignung der jüdischen Tradition, seiner Lektüren und seiner Bekanntschaft mit Gershom Scholem aus und lieferte ihm eine Reihe theoretischer Intuitionen, die sich bei ihm in überraschender Weise auskristallisieren und auch in ihren materialistischen Formulierungen - bis hin zu den Passagen - stets in einen theologischen Horizont einfügen sollten. Benjamin und die Tradition der jüdischen Kultur Will man die philosophische Verbindung Benjamins zum Ju ­ dentum verstehen, sind zwei Interpretationsweisen von vorn­ herein auszuschließen. Die erste, aus den sechziger Jahren stammende - und lange Zeit in der ehemaligen DDR wirkungs­ mächtige - sieht in ihm einen »Autor jüdischer Herkunft«, der nach einer »vormarxistischen und idealistischen Phase«, die von religiösen Reminiszenzen gespeist worden sei, in seiner weiteren Entwicklung, vorwiegend unter dem Einfluß von Brecht, einen »materialistischen Standpunkt« eingenommen habe. Eine solche Lesart läßt völlig die Bedeutung außer acht, die den theologischen Kategorien in seinen Schriften aus den dreißiger Jahren bis 1940 zukommt, handele es sich um die Essays über Kafka und Karl Kraus, um die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« oder um die Passagen. Die zweite In­ 277 (Jean-Michel Palmier hatte an dieser Stelle zunächst ein fünfzehnseiti­ ges Kapitel mit dem Titel »Theoretische Debatten über jüdische Identität und Assimilation« eingefügt, das in der letzten Manuskriptfassung gestri­ chen wurde.)

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terpretation, die bei Benjamin nur eine Reihe säkularisierter theologischer Intuitionen erkennen will, verkennt gleicherma­ ßen die komplexe Verknüpfung des Politischen und Theologi­ schen, die er stets in den Mittelpunkt seines Werkes gestellt hat. Der Einfluß der Kabbala und des Talmuds, der in seinen Schriften unübersehbar ist, kann freilich auch nicht vergessen lassen, daß er davon nur sehr begrenzte Kenntnisse besaß, daß ihm diese Tradition vor seiner Begegnung mit Scholem fast völlig unbekannt war und daß er sich nie wirklich in sie vertieft hat, auch wenn aus dem Judentum überkommene Grundan­ schauungen stets seine ureigensten philosophischen Positionen bestimmen werden.278 Diese Empfänglichkeit ist - ähnlich wie bei .Kafka - eine der am schwersten verständlichen Dimensio­ nen seines Werkes.279 Ohne daß er je »religiös« gewesen wäre, war sein Verhältnis zum Theologischen ebenso tiefgründig wie unzerstörbar. Seine Konzeption der »adamitischen Namenge­ bung« rekurriert auf das Alte Testament ebenso wie der Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, in dem er sich auf »die Sprache der Dichter [und] Propheten«280 beruft. Die Kategori­ en der jüdischen Theologie bestimmen sein Verständnis Kaf­ kas, ganz wie seine Philosophie der Geschichte und seine Kon­ zeption der Literaturkritik vom Messianismus durchtränkt ist. Das Interesse Benjamins am Talmud wird von diversen Briefen und von den Erinnerungen Scholems belegt. Ein gewisser Stil des talmudischen Kommentars kennzeichnet seinen Zugang 278 Seine Geschichtsphilosophie ist von einer religiösen Zeitauffassung un­ trennbar, seine Philosophie der Sprache, des Namens, der Mimesis und der Übersetzung gründet auf der Genesis, und sein Verhältnis zum Marxismus wird sich niemals von einer messianischcn Perspektive lösen. Die Kategorie der »Rettung« nimmt in seinem Werk vielfältige Bedeutungen an, ohne mit ihrer theologischen Herkunft zu brechen. 279 Zumal die Einführung theologischer Kategorien nicht wie bei Bloch auf eine Erweiterung der Metaphysik abzielt, sondern eher auf eine radikale Infragestellung der traditionellen philosophischen Schemata. 280 (Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916, GB 1 , 5.327.)

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zu Texten281, und mehrere seiner Schriften verweisen unausge­ sprochen darauf. Die Beziehung der Benjaminschen Kritik zum talmudischen Kommentar ist unbestreitbar; sie verrät sich in der Gewohnheit, sich vom Text zu entfernen, um wieder zu ihm zurückzukehren, in der Entschlossenheit, ihn wider­ sprüchlichen Deutungen zu unterziehen, und in dem Wunsch, ihm mittels eines niemals statischen Wahrheitsbegriffs, der im Rekurs auf die Tradition unaufhörlich neue Deutungen ver­ langt, seine Vielstimmigkeit zu belassen.282 Der Einfluß, den Benjamin von der Kabbala283 empfing, ist 281 Daher der Unwille Brechts, der Benjamin vorwarf, die Autoren kom­ plizierter zu machen, während er sie doch kommentieren sollte. 282 Scholem studierte den Talmud seit 1914 in Berlin. Er interessierte sich für das Thema der Klage und übersetzte in diesem Zusammenhang ein Kla­ gelied über eine Talmudverbrennung, die im Paris des dreizehnten Jahrhun­ derts stattgefunden hatte - zweifellos die vom 6. Juni 1242 [Scholem, Tage­ bücher nebst Aufsätzen und Entwürfen, 2. Halbbd., S. 607-611]. Sein Aufsatz »Über Klage und Klagelied« [cbd., S. 128-133] beeinflußte Benja­ mins Schrift »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« (GS II.1, S. 137-140; vgl. den Brief Benjamins an Scholem vom 30. März 1918, in dem er sich unter ausdrücklichem Rekurs auf seine Trauerspiel-Studien fragt, »wie Sprache überhaupt mit Trauer sich erfüllen mag und Ausdruck von Trauer sein kann«, GB I, S.442). 1919 hatte Scholem einen Artikel von Chaim Nahman Bialik aus dem Hebräischen übersetzt, der zwei Grundka­ tegorien des Talmud gewidmet war: der Halacha (der Denkweise im Bereich des Gesetzes) und der Aggada (der talmudischen Erzählung, die nicht Ge­ setzescharakter hat) [Scholem, Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen, 2. Halbbd., S. 559-380]. Scholem berichtet, Benjamin sei von dieser Lektüre sehr beeindruckt gewesen, »und ihr Einfluß ist in nicht ganz wenigen seiner Schriften zu spüren« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 106). Man bemerkt ihn vor allem in seinem Essay über Kaf­ ka. Scholem setzte seine Talmud-Studien in München fort und unterhielt sich häufig mit Benjamin über diese Themen. Benjamin schrieb zu dieser Zeit an seiner Wahlverwandtschaften-Arbeit und war im Begriff, von einer systematischen (kantischen) Konzeption der Philosophie zur Haltung des Kommentators überzugehen. Scholem hält den Einfluß ihrer Diskussionen auf seine weitere Entwicklung für sehr wahrscheinlich. Zum Verhältnis zwi­ schen Tradition, talmudischem Kommentar und Literaturkritik siehe den Brief Benjamins an Scholem vom 6. September 1917, GB I, S. 381-383. 283 Die Kabbala (Überlieferung) stellt das Wesentliche der jüdischen M y­ stik dar. Ihr zentrales Werk, der Sohar oder das Buch des Glanzes, wurde ge-

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schwieriger festzumachen. Sein Interesse an der Romantik und der Philosophie der Geschichte führte ihn dazu, Franz von Baader und vor allem Franz Joseph Molitor zu lesen, einen Schüler Baaders und Schellings, der zwischen 1827 und 1854 vier Bände über die Kabbala veröffentlichte284, die als Einfüh­ rung zu einem umfassenderen, niemals geschriebenen Werk dienen sollten. Benjamin verfolgte aufmerksam die Arbeiten, die Scholem der jüdischen Mystik widmete.285 Schließlich mußten die Bezüge auf die Kabbala, die sich bei Bloch im Geist der Utopie finden286, die metaphysischen Anschauungen, die er aus ihr gewann, Benjamin aufhorchen lassen. Obwohl er sie niemals studiert hat, wirft die Kabbala Licht auf bestimmte Themen seines Werkes: Ursprung, Erleuchtung, Offenbarung, aber auch die Begegnung mit dem Mythos, der Esoterik und gen Ende des dreizehnten Jahrhunderts verfaßt. Vgl. Scholem, Von der my­ stischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. 284 Diese Bände trugen den Titel Philosophie der Geschichte oder über die Tradition. Bis zu den Studien Gcrshom Scholems stellten sie die vollständig­ ste historische Untersuchung zur Kabbala dar. Nach der Lektüre eines Teils der Bände (ab 191 5) empfahl er sie Benjamin. 285 Vgl. Brief an Scholem, Juni 1917, GB I, S. 361-364. Benjamin erörtert insbesondere bestimmte Grundvorstellungen der Kabbala, wie die Theorie der Wahrheit, der Anwesenheit Gottes, der Zeit, der Geschichte und der zweifachen Schöpfung. 286 Die Anleihen Blochs bei der Kabbala liegen in dem gleichen romanti­ schen Horizont. Er bringt bestimmte mystische Motive der Kabbala in engen Zusammenhang mit denen Jakob Böhmes, aber auch mit der Schellingschen Naturphilosophie. Ebendiese Annäherung von Metaphysik und Mystik ermöglicht Blochs Konzeption des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Die Blochsche Vision der Erlösung enthält sowohl eine gnostischc wie eine apokalyptische Dimension. Im Schlußkapitel des Geistes der Uto­ pie, »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse« (S. 288 ff.) erborgt er der apo­ kryphen Eschatologie die Vorstellung des tikkun (Wiederherstellung). Auch sein Thomas Münzer bezieht sich auf die Kabbala, ebenso wie Das Materia­ lismusproblem, seine Geschichte und Substanz aus den dreißiger Jahren, wo Franz von Baader erwähnt wird. Mehrere Themen des Geistes der Utopie der Sündenfall, die Spekulationen über die Sprache der Materie, die Selbst­ begegnung, die mögliche Identität des Subjekts mit Gott und die Scelenwanderung - sind der Kabbala entlehnt.

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der Gnostik. Die wesentliche Bedeutung, die er dem Wort und dem Namen beilegt, bezeugt diesen Einfluß ebenso wie seine Neigung zu einer mystischen Konzeption der Sprache.287 Dar­ über hinaus läßt sich mit der Kabbala jene eschatologische Per­ spektive verbinden, die die Vorstellungen des Sündenfalls und der Katastrophe, aber auch die Theorie der göttlichen »Fun­ ken« kennzeichnet, wie sie in seiner Geschichtsphilosophie und in seiner Konzeption der Literaturkritik erscheint, schließlich die Gewißheit, daß die Wett ein Rätsel ist, das zu entziffern der Philosophie aufgegeben ist, und vielleicht auch eine gewisse »Angelologie«, die in der von Paul Klees Angelus Novus inspirierten Figur des Engels der Geschichte gipfelt.288 Einfluß des Judentum s a u f die Konzeption der Sprache und der Literaturkritik Einige seiner wichtigsten Begriffe, etwa den der Allegorie, den er zu einem Eckstein seiner Methodik machen wird, hat Benja­ min - am Rande der philosophischen Tradition - der Roman­ tik, der Wett des Trauerspiels, der Religion entnommen. Auch seine Theorie der Literaturkritik bleibt untrennbar von einer 287 Während die Genesis den Ausgangspunkt seines ersten Essays über die Sprache (1916) bildet, ist es wiederum »das Jüdische«, das ihn an der Sprachauffassung von Karl Kraus fasziniert. Denn Kraus ist erfüllt von der »jüdi­ schen Gewißheit«, daß die Sprache »der Schauplatz für die Heiligung des Namens sei« (vgl. Scholem, »Walter Benjamin«, S. 3 x, und Walter Benjamin, »Karl Kraus«, GS II. 1, S. 359). 288 Auch der Talmud enthält eine Theorie der Engel. Sie werden fortwäh­ rend geschaffen, um einen Augenblick lang Gottes Lob zu singen, che sie wieder im Nichts vergehen. In »Agesilaus Santander«, seiner »kabbali­ stischsten« Schrift, verknüpft Benjamin diese Theorie eng mit der Figur des Angelus Novus (GS VI, S. 5 2 1). Ebenso hat er sich von Scholems Studie über »Angelologie und Dämonologie in der Kabbala« anregen lassen. Dieselben Themen werden auch in der »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus N o ­ vus« (1922) [GS II. 1, S. 241-246] und im Karl-Kraus-Essay (1931) angespro­ chen.

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Reihe theologischer Intuitionen, die mit seiner Sprachphiloso­ phie verbunden sind. Adornos Behauptung, wonach Benjamin literarische Texte als religiöse behandelt habe, ist um so berech­ tigter, als er selbst beständig all das hervorhebt, was seinen Zu­ gang zur Literatur mit den Grundtexten des Judentums ver­ bindet.289 Der Essay von 1916 über die Sprache mißt dem Namen, dem Akt, mit dem der Mensch die Dinge benennt, eine fast mysti­ sche Bedeutung zu. Weit davon entfernt, bloßes Instrument zu sein, ist die Sprache das Medium, in dem das geistige Wesen des Menschen sich Gott mitteilt. In dieser Vergabe des Namens vollendet sich die göttliche Schöpfung. Als Offenbarung des Wesens der Dinge bezeugt die adamitische Namengebung die mägische Einheit, die den Menschen mit seiner Umgebung vereint. Die Sprache, die Gott dem Menschen zugleich mit dem Leben und dem Geist einhaucht, ist »eine letzte, [...] un­ erklärliche und mystische Wirklichkeit«.290 Indem er die Din­ ge benennt, übernimmt der Mensch die Macht, die ihn geschaf­ fen hat, und aus jeder Sprache erstrahlt das Wort Gottes. Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die Sprache des Men­ schen kann nur von Gott selbst verbürgt werden. Erst die Viel­ heit der Sprachen - Folge des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem paradiesischen Zustand - erzeugt die Arbitrarität des Zeichens. Dieses Thema des Sündenfalls, der Ursünde, stellt bei Benja­ min den Punkt dar, an dem sich seine Sprachmetaphysik, seine Natur- und Geschichtsphilosophie verknüpfen. Die Vorrede zur Studie über das Trauerspiel zeigt, daß die Rettung der heid­ 289 Vgl. den Brief an Scholem vom 6. September 1917, G B I, S.382f.) und an Max Rychner vom 7. März 1931 (GB IV, S. 19!.), wo er sagt, er habe nie anders denken können als »in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle«. 290 »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, GS II.i, S. 147.

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nischen Natur durch die christliche Allegorie nicht zu trennen ist von der Traurigkeit und Stummheit der Natur nach dem Bruch der adamitischen Namengebung, die die Entsprechung zwischen Namen und dem Wesen der Dinge gewährleistet. Die Theorie der Übersetzung, die einen Wink auf die Ursprache gibt, ist an eine messianische Perspektive gekoppelt, die die Einheit der adamitischen Sprache und die Möglichkeit einer Versöhnung der Sprachen postuliert. Gott wird so zum Garan­ ten der Möglichkeit von Übersetzung, die, wie die Sprache überhaupt, von der Kategorie der Offenbarung untrennbar ist. Jeder Übersetzer bemüht sich, die »reine Sprache«, die in der fremden ihr Exil gefunden hat, in seine eigene zurückzuholen. Die Idee des »Wahrheitsgehalts«, wie sie in den einleitenden Passagen des Essays über D ie Wahlverwandtschaften dargelegt wird, ist nur von einer partiellen, durch Hölderlin vermittelten Gleichsetzung von heiligem und dichterischem Wort aus mög­ lich; andernfalls, wäre sie nicht auf eine bestimmte Erkenntnis bezogen, bliebe der Begriff der Wahrheit unverständlich, da Benjamin jede ontologische Deutung des Kunstwerks ablehnt, auch wenn er der Wahrheit den Status einer Idee gibt. Schon das Verhältnis Benjamins zu Büchern wurzelt in der jüdischen Tradition. Zu den »jüdischen Passionen«291, zu de­ nen er sich bekennt, muß man seine unmäßige Lust an Zita­ ten292 rechnen, seine Sakralisierung des profanen Kommentars und seine Fetischisierung von Büchern.293 Die Rolle, die er 291 Am 3. Oktober 1931 schrieb er an Scholem über eine Lichtenberg-Bibliographie, mit deren Erstellung ihn ein Sammler betraut hatte: »Den von mir angelegten Zettelkatalog müßtest Du sehen. Da ist denn wenigstens eine meiner jüdischen Passionen - leider die belangloseste - zu ihrem Recht ge­ kommen und, wie Du zugeben wirst, am würdigsten Gegenstände« (CB IV,

S.yj). 292 Er sammelte mehrere hundert über die Romantik, sechshundert über das Barockdrama. 293 Die Angleichung von »Büchern und Dirnen« in Einbahnstraße verrät das Verhältnis erotischer Gier, das er zu ihnen unterhielt (Einbahnstraße, »Nr. 13«, S. 109 f.). Bücher zu kaufen war der einzige Luxus, von dem Bcnja-

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Kommentar und Deutung gibt, ist nicht frei von religiöser Bedeutung. Für ihn, der auf alles, was er schrieb, die Sorgfalt eines Archivars verwandte, blieb der Essay die bevorzugte Ausdrucksform. In einer Studie der Sammlung D ie Seele und die Formeny »Über Wesen und Form des Essays«294, hebt Lukäcs die Besonderheit und Eigenständigkeit dieser Gattung hervor. E r spricht dem Essay die »Kraft zu einem begrifflichen Neuordnen des Lebens« zu und situiert ihn auf halbem Wege zwischen dem subjektiven Kunstwerk und der »eisig-end­ gültigen Vollkommenheit der Philosophie«.295 Er sieht in ihm eine »Kunstform«, die er den Platonischen Dialogen, den Schriften der Mystiker und dem Tagebuch Kierkegaards zur Seite stellt. Insofern der Essay am Begrifflichen festhält, ohne die Verbindung mit der gelebten Erfahrung aufzugeben, ver­ söhnt er Seele und Form, spricht vom Schicksal der anderen, ohne die Subjektivität des Schreibenden zu verleugnen. Diese anspruchsvolle Konzeption von Kritik teilt Benjamin; er be­ trachtet Kritik als eine Neuschöpfung des Werkes selbst, als den Akt, der es der Vergangenheit entreißt, indem er seine Wahrheit rettet.296 Der Essay über die W ahlverwandtschafmin niemals ablassen konnte, und als er im Pariser Exil seiner eigenen Bi­ bliothek beraubt war, erlebte er die alljährliche Schließung der Bibliothöque Nationale als wahre Katastrophe. Benjamin sammelte seltene Ausgaben von Werken aus dem Barock und der Romantik, wählte die Editionen nach ihrer Entlegenheit, ihrem Alter, der Schönheit ihres Einbands. Sein ganzes Leben lang stellte er Kataloge seltener Ausgaben auf. Seine Bibliothek enthielt ein »Allerheiligstcs« äußerst seltener Werke, die er niemals verlieh. Seine Biblio­ thek aufzugeben war eine der schmerzlichsten Entscheidungen seines Le­ bens. Zu Benjamins Verhältnis zu seiner Bibliothek vgl. »Ich packe meine Bibliothek aus«, GS IV.i, S. 388-396. 294 Georg Lukäcs, Die Seele und die Formeny S. 7. 295 (Ebd., S-7f.> 296 Die »Wahrheit« oder die »Idee« des Werkes herausarbeiten heißt soviel wie es »retten«. Am schönsten hat Benjamin diesen Gedanken in seiner Stu­ die zum Trauerspiel veranschaulicht. Die dort entfaltete Auffassung der Literaturkritik findet ihre Prämissen in seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik und in seiner Untersuchung zu den Wahl­ verwandtschaften.

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ten297 führt eine wesentliche Unterscheidung zwischen Kri­ tik und Kommentar ein. Während letzterer sich darauf be­ schränkt, den »Sachgehalt« zu treffen, sucht die Kritik nach dem »Wahrheitsgehalt«. Die Bedeutung eines Werkes - sein Dauern - zeigt sich im Absterben seines »Sachgehalts«, der, von der Schöpfung untrennbar, sich mit der Zeit auflöst, um zu einer bloßen Voraussetzung für das Verständnis des Werkes zu werden. Unter Verwendung eines merkwürdigen Gleichnisses behauptet Benjamin: Will man [...] das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten. Wo je­ nem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rät­ sel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahr­ heit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erleb­ ten.298 Die aus der Glut immer wieder auflodernde Flamme bezeich­ net das Werk als ewig lebendiges über all seine Kommentare hinaus. Während sich letztere in der Geschichte verzehren, obsiegt der »Wahrheitsgehalt« über den »Sachgehalt«. Diese Konzeption, weitgehend der Romantik verpflichtet, ist von religiöser Bedeutung nicht frei.299 Die Rolle, die Benjamin 297 »Goethes Wahlverwandtschaften«, GS I.x, S. 125. 298 Ebd., S. 126. 299 Die Flamme ist in der jüdisch-christlichen Tradition Reinigung und Geist. In der chassidischen Tradition gibt es ähnliche Metaphern, etwa die Geschichte des »verbrannten Buches«. Rabbi Nachman von Bratzlaw (177 2 -18 11) besaß in seiner Bibliothek drei Arten von Büchern: die ersten waren exoterischer Natur, die zweiten esoterischer, die dritten aber gänzlich esoterischer Natur. Als er auf einer Reise nach Lemberg den Tod nahen fühl­ te, bat er einen seiner Schüler darum, ein Buch, das er geschrieben hatte, zu verbrennen, damit seine Schriften brennend sich der Welt einprägten und seine Ideen, von der materiellen Wirklichkeit gelöst, die Welt erreichten. Das verbrannte Buch konnte nur durch das »verborgene Buch« überwun-

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der Kritik zuschreibt, erinnert an die Auslegungen des M i­ drasch300, die sich bemühen, eine Wahrheit zu erreichen, die sich nicht bei erster Lektüre erschließt und die keine Deutung jemals erschöpfen könnte.301 Ihren Mittelpunkt nimmt der Mensch ein, der durch seine eigene Subjektivität, sein »Jetzt«, die Tradition lebendig hält. Ohne jemals Geschlossenheit zu besitzen, öffnet sich der Text unablässig neuen Verständnismöglichkeiten, da es eine passive Rezeption nicht geben kann.302 Die Kabbala erlaubt vier Auslegungen eines jeden Textes. Weit davon entfernt, die Freiheit des Kommentators zu beschränken, macht die Über­ lieferung der Deutungen diese Freiheit erst möglich.303 Benja­ min hat in seine Konzeption der Kritik des profanen Textes zum Teil die Bedeutung übertragen, die die jüdische Tradition den werden, das einzig der Messias zu kommentieren vermöchte. Vgl. Mar­ tin Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, und Marc-Alain Ouaknin, Le Livre brfile. Lire le Talmud, S.339. 300 Die Tora bildet eine Einheit mit ihrem Kommentar, der es dem Text er­ laubt, lebendig zu bleiben. Anfangs unzugänglich, enthält er stets mehr als seinen anfänglichen Sinn. Offenbarung und Auslegung durchdringen sich. Die Tradition ist in ihrem Kommentar niemals tot. Die Bibelinterpretation als literarische Deutung - in dem Sinne, wie Benjamin sic versteht - ist eine ständige Wechselwirkung zwischen einem vergangenen und einem gegen­ wärtigen Sinn. Vgl. David Banon, La Lecture infinie. Lesvoies de Interpre­ tation midrachique und Northrop Frye, Der große Code. Die Bibel und die Literatur. 301 Diese Vielzahl der Auslegungen, die nichts mit der Verschiedenheit der Kommentatoren zu tun hat, ist im Herzen des Textes verankert. Die konso­ nantische Struktur des Hebräischen gestattet mehrere Lesarten jedes Wor­ tes. Jedes Studium eines klassischen Textes setzt die Kenntnis der Interprctationsregeln voraus, die es erlauben, über den Vers hinauszugehen. 302 In »Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen« schreibt Benjamin: »Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen« (Einbahnstraße, »Ankleben verboten«, GS IV. 1, S. 108). 303 In einem Brief an Scholem vom 6. September 19 17 schreibt Benjamin: »[D]ie Tradition ist das Medium in dem sich kontinuierlich der Lernende in den Lehrenden verwandelt [...]. Wer sein Wissen als überliefertes begriffen hat in dem allein wird es überlieferbar, er wird in unerhörter Weise frei« (GB I, S.382).

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dem Kommentator des heiligen Textes zuspricht. Wenn die Kritik das Weiterleben des Werkes sichert, es rettet, so da­ durch, daß sie in ihm neue Bedeutungen entdeckt. Daher die Wichtigkeit, die er der Allegorie verleiht. Wenn er in der Studie zum Trauerspiel die barocke Allegorie und ihre Rückkehr zur Antike von der mittelalterlichen, eng ans Christentum ge­ bundenen Allegorie unterscheidet, führt er eine allegorische Schreibweise fort, die auch mit dem Judentum verbunden ist. Über einige religiöse Kategorien seiner Geschichtsphilosophie Die theologischen Grundlagen der Benjaminschen Geschichts­ philosophie finden ihren ersten Ausdruck in seinem Essay von 1916 »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Men­ schen«.304 Ebenso wie die Vielheit der Sprachen und die Arbitrarität des Zeichens entsteht die Geschichte aus dem Verlust des Zustands der Unschuld nach dem Sündenfall und der Ver­ treibung aus dem Paradies. Dieser Verlust und diese Vertrei­ bung lassen den Menschen in die Sphäre der Subjektivität und der fichteschen vollendeten Sündhaftigkeit eintreten, geprägt von der »Schuld, die am Leben sich forterbt«.305 Diese Theorie der Schuld spielt eine wichtige Rolle in der Studie zum Trauerspiel, wo die Bedeutung und der Tod als Erzeugnisse der Ge­ schichte dargestellt werden, »wie sie im gnadenlosen Sünden304 GS II. 1, S. 140-157. 30 j »Goethes Wahlverwandtschaften«, GS I.i, S. 138. »Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne daß cs im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekun­ det« (ebd., S. 139). In seiner Studie »Trauerspiel und Tragödie« (GS II.i, S. 133 -137 ) bezieht sich Benjamin, wie Lukäcs in seinen frühen Schriften, auf Hebbel, der »vielleicht auf dem richtigen Weg [war] mit der Auffassung der Individuation als der Urschuld; aber es kommt alles darauf an, wogegen die Schuld der Individuation verstößt. In dieser Form läßt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Tragik fassen« (ebd., S. 135).

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stand der Kreatur als Keime enge ineinandergreifen«.306 Aus der Sünde geboren, macht die Geschichte die von der Offenba­ rung versprochene Erlösung notwendig. Das »Theologisch­ politische Fragment« unterscheidet streng zwischen den bei­ den Ordnungen, der religiösen und der weltlichen, und zeigt, daß »die Ordnung des Profanen nicht am Gedanken des G ot­ tesreiches aufgebaut werden« kann.307 Diese Auffassung grün­ det auf einer messianischen Vision der Geschichte und einer ei­ gentümlichen Philosophie der geschichtlichen Zeit308, in der die irreduzible Bedeutung des Augenblicks stets aufs neue be­ kräftigt wird. Der »mechanischen« Zeit stellt sich die »messianische«309, göttlich erfüllte entgegen, während die tragische Zeit nur eine menschlich erfüllte ist. In dem Essay über »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« ist es die Erlösung, die - in enger Beziehung zur Philosophie der Spra­ che - Trauerspiel und Tragödie einander gegenüberstellt.310 Das Rätsel des Trauerspiels liegt nach Benjamin in der inneren

306 Ursprung des deutschen Trauerspiels, CS I.i, S. 343. 307 »Theologisch-politisches Fragment«, GS II. 1, S.203. 308 »Die Zeit ist für das empirische Geschehen nur eine Form, aber was wichtiger ist, eine als Form unerfüllte« (»Trauerspiel und Tragödie«, GS II. 1, S. 134). Gegen den Optimismus des Historismus und der Sozialdemokratie wendet Benjamin ein: »Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschenge­ schlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen« (»Über den Begriff der Geschichte«, dreizehnte These, GS 1.2, S. 701) (in der französischen Fas­ sung der Thesen nicht enthalten; vgl. GS I.3, S. 1264). 309 »Diese Idee der erfüllten Zeit heißt in der Bibel als deren beherrschende historische Idee: die messianische Zeit.« »Tragödie und Trauerspiel«, GS II.i, S. 134. 310 Der Sündenfall als »die Geburtsstunde des menschlichen Wortes« (»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, GS II. 1, S. 1 y3) verdirbt das Wesen der Sprache und verwandelt das Wort in Parodie. Der Eintritt in die Geschichte erscheint als Strafe: »Im Sündenfall, da die ewige Reinheit des Namens angetastet wurde, erhob sich die strengere Rein­ heit des richtenden Wortes, des Urteils« (ebd.). Darin liegt für Benjamin der mythische Ursprung des Rechts.

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Beziehung, die das Wesen der Trauer mit dem Kunstwerk ver­ eint.311 Einzig durch das Erlösungsversprechen verleiht der Messia­ nismus der Zeit und der Geschichte seinen Sinn. Er schließt die Bewahrung aller menschlichen Erfahrungen und die Vollen­ dung der historischen Dimension ein. Als erlöste wird die Menschheit eines Tages - an einem Tag, den Benjamin als den letzten bezeichnet - ihre Vergangenheit in Besitz nehmen kön­ nen. Die Erlösung der Geschichte in der materialistischen Ge­ stalt der »Thesen« ist nicht von der Figur des Messias zu tren­ nen, die »als der Überwinder des Antichrist« kommt312, und setzt ein theologisches Fundament voraus. Seine Ankunft, von den Juden sehnlichst erwartet, wird mit den von der apokalyp­ tischen Tradition angekündigten Umwälzungen einhergehen, die der Vorstellung eines geradlinigen und bruchlosen Fort­ schritts hohnsprechen. In der Kette der geschichtlichen Ereig­ nisse sieht der Engel »eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft«.313 Dieses Thema der Katastro­ phe, die säkulare Fassung der Desaster der messianischen Ara, ist in den meisten Schriften Benjamins gegenwärtig. Die Kata­ strophe, die dem Essay über Dostojewski (1917)314 seinen letz­ 311 Im Trauerspiel ist es die »Natur, die nur um der Reinheit ihrer Gefühle willen ins Fegefeuer der Sprache steigt, und das Wesen des Trauerspiels ist schon in der alten Weisheit beschlossen, daß alle Natur zu klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde« (»Die Bedeutung der Sprache in Trauer­ spiel und Tragödie«, GS II. 1, S. 138). 312 »Über den Begriff der Geschichte«, GS 1.2, S. 693 (sechste These). 313 Ebd., S. 697 (neunte These). 314 Zu Dostojewskis Idiot notiert er: »Die gesamte Bewegung des Buches gleicht einem ungeheuren Kratereinsturz. Weil Natur und Kindheit fehlen, ist das Menschentum nur in einer katastrophalen Selbstvernichtung zu er­ reichen« (»»Der Idiot« von Dostojewski)«, GS II.i, S.240). Der Bezug zum Messianismus wird von den »gewaltigefn] Kräftefn]« repräsentiert, die die Hoffnung des russischen Volkes ausmachen. Der Schluß dieses Essays kommt dem von Lukäcs’ Theorie des Romans nahe, für den eine geschichts­ philosophische Deutung Dostojewskis »die Aufgabe hat auszusprechen, ob wir wirklich im Begriffe sind, den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu

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ten Sinn gibt, stellt ein notwendiges Moment der Intrige des Barockdramas dar, dessen Beinhaus von ferne an die Trümmer erinnert, die der Engel betrachtet, wenn nicht überhaupt die gesamte Geschichte sich in seinen Augen als Trauerspiel aus­ nimmt.315 Es ist die gleiche Katastrophe, die in ihrer histori­ schen Dimension, dem Werk von Karl Kraus seinen Sinn ver­ leiht.3'6 Die Kategorie der »Rettung«, die im Kern des Benjaminschen Werkes liegt, bleibt ohne diese messianische Dimension unverständlich, auch wenn sich um ihren theologischen Kern neue Bedeutungen angelagert haben. Die beständige Ableh­ nung der »homogenen und leeren« Zeit erfolgt im Namen einer Gegenwart, die zugleich »Übergang« und deren Bewe­ gungslosigkeit nur »das Zeichen einer messianischen Stillstel­ lung des Geschehens«317 ist, die die revolutionäre Tat zur Befreiung der unterdrückten Vergangenheit ermöglicht. Der religiöse Anarchismus, der Benjamins frühe Schriften prägt und der seine Vollendung vielleicht in seiner Bewunderung für Blanqui findet, ist vom Judentum und der Romantik untrenn­ bar. Die Kategorie der Subversion bestimmt ebensowohl seine Analyse des »destruktiven Charakters« wie seine Konzeption der göttlichen Gewalt. Sie spielt eine wesentliche Rolle in den Analysen, die er Kraus, Proust und Kafka widmet. Und die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 illustrie­ ren nicht zuletzt die Bedeutsamkeit, die das Judentum dem »Eingedenken« beilegt. verlassen, oder ob erst bloße Hoffnungen die Ankunft des Neuen verkündi­ gen« (Georg Lukacs, Theorie des Romans, S. 158). 315 Dazu siehe Irving Wohlfarth, »Sur quelques motifs juifs chez Benja­ min«, in: Marc Jimenez und Marc B. de Launey (Hg.), » Walter Benjamin«. Revue d ’esthetique, S. 145 ff. 316 »[D]ie Geschichte [ist] für ihn nur die Einöde, die sein Geschlecht von der Schöpfung trennt, deren letzter Aktus der Weltbrand ist«. »Karl Kraus«, GS II. 1, S.341. 3 1 7 »Über den Begriff der Geschichte«, GS 1.2, S. 703 (siebzehnte These).

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Das enge Verhältnis zwischen »Eingedenken« und der ent­ scheidenden Bedeutung des Augenblicks bestimmt eine A uf­ fassung von Zeit, die der klassischen Philosophie fremd ist. Je ­ der Klärungsversuch dieses Zeitbegriffs, der an diesen dem Judentum entstammenden Intuitionen vorbeigeht, muß schei­ tern. Das Eigentümliche und Ungewöhnliche der Philosophie Benjamins besteht gerade darin, diese Intuitionen in profane Bereiche einzuführen, die ihnen vollkommen fremd sind. So gelangt er über subtile Verknüpfungen und thematische Kri­ stallisationen - die Rettung und die Tradition der Unterdrück­ ten, die profane Ordnung, das Glück und die Erlösung, die eschatologische Perspektive vom Ende der Zeiten und die einer klassenlosen Gesellschaft - zu einer Überwindung des Gegen­ satzes zwischen jahrhundertealter messianischer Erwartung und politischer Praxis. Benjamin, Hermann Cohen und Franz Rosenzweig N ur wenige Texte Benjamins vergegenwärtigen die Tradition der jüdischen Philosophie in Deutschland. Sein Briefwechsel, aber auch die Schriften Scholems bezeugen gleichwohl sein lebhaftes Interesse an den modernen jüdischen Denkern. Wenn­ gleich ihre Problematik und ihre Debatten ihm oft fremd blie­ ben, behält sein komplexes Verhältnis zu Hermann Cohen und Franz Rosenzweig doch emblematischen Wert. Der Einfluß Hermann Cohens auf die Generation Benjamins war aufgrund seiner doppelten Deutung des Kantianismus und des Judentums318 ein zugleich philosophischer und religiöser. Seine Originalität bestand in dem Versuch - den er zumal in seinem Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Juden­

318 Vgl. Jules Vuillemin, ÜHeritage kantien et la revolution copemicienne; Sylvain Zac, La Philosophie religieuse de Hermann Cohen.

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tums unternahm319 die Einheit des Judentums mit einer uni­ versellen und rationalen Ethik philosophisch zu begründen. Als Schöpfer der neukantianischen Schule entschlossen, mit Hegel und dem absoluten Idealismus zu brechen und die Phi­ losophie Kants zu rehabilitieren320, stand er am Ausgangs­ punkt theoretischer Kontroversen, in die Ernst Cassirer eben­ so wie Martin Heidegger und Franz Rosenzweig verwickelt werden sollten. In Treue zum Judentum stehend, widmete er ihm zahlreiche Schriften321; die meisten davon wurden 1924 in Berlin von Franz Rosenzweig in drei Bänden herausgegeben.322 Das »Zu­ rück zu Kant«, das Cohen erreichen wollte, kommt nicht nur in Kants Theorie der Erfahrung, sondern auch in seinen Schrif­ ten zur Ethik und Ästhetik zum Ausdruck.323 E r versuchte, mit der Hegelschen Systematisierung brechend, zu einer reinen Erkenntnistheorie zurückzukehren.324 Dabei beschränkte er 319 Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Juden­ tums (1918). 320 Insbesondere in seinen Werken Kants Theorie der Erfahrung (1871) und Ethik des reinen Willens (1904). 321 Als Sohn eines Synagogen-Kantors haue er eine sehr strenge jüdische Erziehung genossen. 322 Der erste Band seinerJüdischen Schriften enthält Aufsätze zu ethischen und religiösen Fragen, der zweite Texte zur jüdischen Geschichte, der dritte Abhandlungen zur Religionsphilosophie und Religionsgeschichte. 323 Kants Begründung der Ethik (1877); Kants Begründung der Ästhetik (1889). 324 Kants Theorie der Erfahrung steht in engem Zusammenhang mit den Polemiken, die Cohen mit Friedrich A. Trendelenburg und Kuno Fischer um den Begriff des Apriori führte. Cohen wollte auch mit älteren Deutun­ gen, zumal derjenigen Fichtes, brechen. Er nimmt den Begriff des Dings an sich wieder auf, um es - als Sclbstbeschränkung jeder möglichen Erfah­ rung - zum höchsten Prinzip der Transzendentalphilosophic zu machen. Während er Fichte vorwirft, dieser habe den Übergang vom metaphysi­ schen zum transzendentalen Apriori nicht begriffen, sieht er im Begriff der Erfahrung die Möglichkeit, Realismus und Idealismus zu versöhnen. Diese Kantinterpretation wird von Heidegger in seinem Buch Kant und das Pro­ blem der Metaphysik (1929) radikal in Frage gestellt. Eine wichtige Etappe dieser Auseinandersetzung stellte das Treffen von Heidegger und Cassirer in

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sich jedoch keineswegs darauf, die Kritik der reinen Vernunft unter epistemologischem Gesichtspunkt zu reinterpretieren, sondern wollte auch die Religion, aufgrund ihres doppelten Charakters der Universalität und Notwendigkeit, auf Vernunft gründen, indem er zeigte, daß eine geläuterte Religion der Bo­ den bleibt, auf dem sich die Moral erhebt.325 Die Religion der Vernunft aus den Quellen desJudentums unterstreicht, daß un­ ter allen Religionen das Judentum diejenige ist, die dieses ratio­ nalistische Ideal am besten erfüllt, sobald man die Lehre der Propheten von ihren mythischen Elementen befreit hat, um aus der Religion ein kohärentes Begriffssystem zu machen. Die Ideen Hermann Cohens sprachen die Mehrzahl der jüdi­ schen Intellektuellen zu Beginn des Jahrhunderts an, wie die umfangreiche Einleitung zeigt, die Franz Rosenzweig zu C o­ hens Jüdischen Schriften verfaßt hat. Benjamin und Scholem reagierten ziemlich negativ auf sein Werk, sosehr sie den Autor bewunderten. Benjamin, bei dem der Neukantianismus kaum Spuren hinterlassen hatte, betrachtete die epistemologische Orientierung Cohens als enttäuschend.326 Was er an ihm kritiDavos im März 1929 dar. Heidegger betonte gegen den Neukantianismus, derjenige Teil der Kritik der reinen Vernunft, der zur Transzendentalen Dia­ lektik hinführt, sei mitnichten eine an der Naturwissenschaft ausgerichtete Erkenntnistheorie, sondern ziele auf eine Ontologie. 325 Als Religion der Vernunft enthält das Judentum einen Sinn für Gerech­ tigkeit; der Messianismus führt zur Anerkennung aller Menschen. Hermann Cohen gehörte keiner politischen Partei an, wenngleich er Kurt Eisner be­ einflußte. Den Zionismus lehnte er ab, weil er darin einen Verrat an dem Traum Moses Mendelssohns und der Universalität des Judentums sah. Er befürwortete die Assimilation der Juden an die deutsche Kultur und fühlte sich bei Kriegsausbruch 1914 als Nationalist. An Moses Mendelssohn tadel­ te er dessen Unterscheidung zwischen einem spekulativen und einem rituel­ len Teil im Judentum. Für ihn hatten die Riten keinen Sinn mehr. 326 Benjamin und Scholem lasen Kants Theorie der Erfahrung 1918. Sie hatten an den Vorlesungen Hermann Cohens in Berlin teilgenommen. In seinen Erinnerungen betont Scholem: »Benjamin konnte mit dem rationali­ stischen Positivismus [...] nichts anfangen, weil er »absolute Erfahrung« suchte« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 78). Die religiöse und historische Dimension, die er in den Erfahrungsbe-

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sierte, war weniger sein Rationalismus, sein verengter Erfah­ rungsbegriff, als sein Unverständnis der religiösen Dimension. Um die Übereinstimmung zwischen jüdischer Ethik und Kantischer Ethik nachzuweisen, hatte Cohen genau das geopfert, was Benjamin und Scholem damals leidenschaftlich bewegte: eine bestimmte romantische Konzeption des Judentums, die Empfänglichkeit für Mystik, die Bedeutung der esoterischen Elemente. E r war der Fortführer der »Wissenschaft vom Ju ­ dentum« des neunzehnten Jahrhunderts, ihrer Entschlossen­ heit, die Religion auf eine Kulturtatsache zu reduzieren. Seine Auffassung von der »deutsch-jüdischen Symbiose« verletzte Scholem zutiefst.327 Durch einen seltsamen dialektischen Umschlag sollte das Erbe Cohens wie das der »Wissenschaft vom Judentum« für eine Erneuerung des religiösen Gefühls in einer Generation sorgen, die sich gegen bürgerliche Nüchternheit und Ratio­ nalismus auflehnte. Mochte Gott, wie Rosenzweig in seiner Einleitung hervorhob, für Cohen stets ein »kantischer Gott« gewesen sein, so handelte es sich doch nicht nur um eine philo­ sophische Idee. Der Monotheismus war in seinen Augen vom Messianismus nicht zu trennen. Auch das Werk Rosenzweigs griff einschließen wollte, mußte sich an den rationalistischen Positionen der Neukantianer stoßen. So schrieb er im Januar 1921 anläßlich des Cohensehen Buches Ethik des reinen Willens an Scholem: »Was ich [...] da gelesen habe, hat mich recht betrübt« (GS II, S. 130). 327 In seiner Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem, S.73, berichtet Scholem: »Von Cohen stammt das tiefste Wort, das je ein Gegner des Zionis­ mus über diese Bewegung gesagt hat. Cohen war mit Rosenzweigs allzu to­ lerantem Verhältnis zum Zionismus unzufrieden. Im Jahre 1914 fragte ihn Rosenzweig, was er denn eigentlich gegen den Zionismus habe. Cohen flü­ sterte ihm, die Stimme [...] zu einem donnernden Flüstern dämpfend, [...] zu: »Die Kerle wollen glücklich sein!«« - Cohen habe, so Scholem, die Gren­ zen des Lächerlichen gestreift, nicht so sehr, weil er Propheten und Philoso­ phen gleichsetzen wollte (etwa in seinen Jüdischen Schriften: »Innere Bezie­ hungen der kantischen Philosophie zum Judentum«, Bd. 1, S.284; »Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten«, Bd. 1, S. 306), wie vielmehr mit seiner Annäherung von Juden und Deutschen.

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findet in dem Cohens seine lebendige Quelle, obschon es in mehr als einer Hinsicht dessen Negation darstellt.328 Franz Rosenzweig329 ist eigentlich nur durch ein einziges Buch be­ kannt, den Stern der Erlösung33°, ein schwer zu interpretieren328 Das Verhältnis Franz Rosenzweigs zu Hermann Cohen war verwikkelt. So war es die Lektüre der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums im Frühjahr 1918, die dazu führte, daß sich in Rosenzweigs Geist der Stern der Erlösung herauskristallisierte (vgl. Stephane Mosiis, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, S.43). Er machte die Bekanntschaft Cohens 1913 in Berlin, gerade zu dem Zeitpunkt, als er be­ schloß, nicht zum Christentum zu konvertieren. Cohen, damals siebzig Jah­ re alt, hatte die Universität Marburg verlassen und lehrte Religionsphiloso­ phie an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Rosenzweig nahm an seinen Vorträgen teil, um seine Kenntnis des Juden­ tums zu vertiefen. Der Wechsel Cohens nach Berlin fiel mit einer wichtigen Etappe seiner religiösen Entwicklung zusammen. Statt wie in Marburg in der Religion eine unvollkommene Gestalt der Ethik zu sehen, räumte er ihr von nun an einen eigenen Wert ein und wandte sich der Lehre der Propheten und der rabbinischcn Tradition zu. So schreibt Mosfcs: »Rosenzweig, der Hermann Cohen nur als berühmten neukantianischen Philosophen kannte, wurde durch die Analogie zwischen Cohens geistiger Entwicklung und sei­ ner eigenen Rückkehr zu den Quellen des Judentums stark beeindruckt« (cbd., S.44). Sic begegneten sich dann im Februar 1918 in Berlin. Der Stern der Erlösung entlehnt der Cohcnschen Religion der Vernunft aus den Quel­ len des Judentums die Analyse der Versöhnung und die Unterscheidung zwischen Individuum und Ich. Rosenzweig sollte Kategorien wie Schöp­ fung, Offenbarung, Erlösung, die bei Cohen nur philosophische waren, ei­ nen theologischen Sinn geben. 329 Rosenzweig wurde 1886 in Kassel geboren. Sein kurzes Leben hatte ei­ nen tragischen Verlauf. Aus einer assimilierten jüdischen Familie stammend, strebte er zunächst - trotz seiner Passion für die Literatur - der Medizin zu. Nach einem Studium der Geschichte in Freiburg wandte er sich unter dem Einfluß Mcineckcs der Untersuchung des politischen Denkens Hegels zu, dem er seine Doktorarbeit widmete. Wie mehrere Mitglieder seiner Familie war er versucht, zum Christentum überzutreten. Sein Buch Der Stern der Erlösung konzipierte er zwischen 1916 und 1918, während er als Soldat an der Balkanfront kämpfte. Als das Buch 1921 erschien, blieb es fast unbeach­ tet. Ab 1922 war er, an multipler Sklerose erkrankt, zunehmend gelähmt und nahezu der Sprache beraubt, führte aber seine Studien im Umkreis sei­ nes Buches fort. 1924 übersetzte er zusammen mit Martin Buber die Bibel. Er starb am 10. Dezember 1929. 330 Die Studie von Mosfes, System und Offenbarung, erleichert die Lektüre

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des Werk, denn es bildet eine Etappe auf einem höchst unge­ wöhnlichen philosophischen und religiösen Weg.331 Dieses Buch übte auf Benjamin - besonders in seiner Studie über das Trauerspiel und in seiner Geschichtsphilosophie - trotz ihrer sehr unterschiedlichen Beziehungen zum Judentum einen ent­ scheidenden Einfluß aus. D er Stern der Erlösung, in kurze Paragraphen gegliedert332, beginnt mit dem Tod und endet mit der Ewigkeit. Der Mensch kann nicht der Angst entkommen, und die Idee des Alls, die ihm die Philosophie bietet, ist nur ein armseliger Trost. Dem Nichts als philosophischer Kategorie setzt Rosenzweig den Schrei der existentiellen Revolte entgegen. Aus dem Gegensatz zwischen Wissen und Glauben tritt die Offenbarung und ihr Geheimnis hervor. Den Systemen, die bemüht waren, zu einem Ganzen zurückzukehren, das auf der Einheit des Logos grün­ det, stellt Rosenzweig Schelling und den deutschen Idealismus gegenüber, die die Nichtidentität von Denken und Sein ahnen lassen. Doch dann ist das menschliche Leben zwischen einer »metalogischen Welt« und einem »metaphysischen Gott« zerdes Buches erheblich. Vgl. auch Franz Rosenzweig, D ie Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe (zum Themenkreis des Sterns der Erlösung siehe auch Franz Rosenzweig, Zweistromland). 331 So schreibt Stephane Mos&s: »Jeder der drei Teile des Werkes stellt eine andere Sicht auf denselben Gegenstand dar, nämlich die Allheit des Wirk­ lichen. Der mittlere Teil beschreibt die Wirklichkeit ausgehend von der per­ sönlichen Erfahrung des Subjekts, so wie sie sich durch die Grundkatego­ rien der Existenz - Sprache, Zeitlichkeit und Andersheit - strukturiert. Der erste Teil vergegenwärtigt die elementare Präsenz der Wirklichkeit, die in drei Formen - Welt, Mensch und Gott - allen unseren Erfahrungen voraus­ geht und in der alle unsere Erfahrungen wurzeln. Der dritte Teil beschreibt die gemeinschaftlichen Formen des jüdischen und christlichen religiösen Lebens, durch die sich die persönliche Erfahrung über die Subjektivität hin­ aus verallgemeinert und die es jedem Ding gestatten, seinen Platz im Gelän­ de der Wahrheit zu finden.« Stephane Moses, »L’Esthetique de Franz Ro­ senzweig«, S. 120. 332 [Randtitel, die allerdings erst ab der zweiten Auflage von 1930 erschei­ nen.]

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rissen. D er Stern der Erlösung will mit den klassischen Bestim­ mungen der Philosophie brechen und möchte zurück zu einem lebendigen Gott, der einem lebendigen Menschen gegenüber­ steht. In seiner Meditation über das Nichts führt Rosenzweig seine Überlegungen zum Glauben, dem ursprünglichen M o­ dus der Erkenntnis, ein. Als mystischer Hegelianer behauptet er das »Nichtnichts« als Negation des Nichts selber, indem er den Menschen, die Welt und Gott als »hypothetische Substan­ zen« versteht, die einzig der Glaube als wirkliche Kategorien der Existenz setzen kann. Ihre unmittelbare Erfassung ent­ spricht im Heidentum den Figuren des Mythos. Gegen die Voraussetzungen des Idealismus behauptet er einen radikalen Schnitt zwischen dem Wirklichen und der Idee, die vollständi­ ge Eigenständigkeit der Welt. Wenn es eine Vorgängigkeit Got­ tes und der Welt gegenüber dem Subjekt - Rosenzweig nennt es das Selbst - gibt, so erkennt dieses doch unmittelbar seine Existenz, denn die ursprüngliche Bejahung des Seins verläuft über die des Selbst. Das Selbst fällt nicht mit dem natürlichen Sein zusammen. Es wird es selbst erst, wenn es dem Eros be­ gegnet, und sei es unter der Maske des Todes. Daraus ent­ springt die Ethik. Der Held der griechischen Tragödie ist nichts anderes als das »metaethische Selbst«. Da das Selbst das ist, »was im Menschen zum Schweigen verurteilt ist und den­ noch überall sofort verstanden wird«333, ist das Tragische von seiner stummen Bedeutung untrennbar. Die tragische Einsam­ keit, in der ein Mensch für einen anderen erwacht, ist »[e]ine Welt stummen Einverständnisses«. Der zweite Teil des Sterns der Erlösung beginnt mit der »Möglichkeit, das Wunder zu erleben«, und der Verlegenheit, in die es die Theologie stürzt, die - ebenso wie die Philoso­ phie - einen kritischen Moment erlebt hat.334 Als ein »Zei333 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 88. 334 Rosenzweig betrachtet das All der Philosophie als hegelianische Ent­ sprechung zum Wunder in der Theologie (ebd., S. 103 f.).

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chen« zerreißt das Wunder den Schleier, der die Zukunft ver­ hüllt. Der Zauberer leugnet die Vorsehung, der Prophet bestätigt sie. Die Aufklärung und der Historismus haben das nie begriffen. Rosenzweig weist dem »neuen Denken« die Aufgabe zu, eine Brücke zu schlagen zwischen der extremsten Subjektivität, »taubblinder Selbsthaftigkeit« und »der lichten Klarheit unendlicher Objektivität«.335 Einzig die Kategorie der Offenbarung ermöglicht einen solchen Übergang zwi­ schen Theologie und Philosophie. Die alte, autoritäre und dog­ matische Theologie lebte verschanzt hinter den Bollwerken der weltlichen Macht. Die moderne Theologie, von jeder ge­ lebten Erfahrung abgeschnitten, muß heute an die Philosophie appellieren, um Offenbarung und Erlösung zu vereinen. Für Rosenzweig kann die Philosophie der Theologie eine neue Grundlage liefern, indem sie die »Vorbedingungen [aufzeigt], auf denen [der theologische Inhalt] ruht«.336 Die Wirklichkeit, die sie enthält, ist zunächst der Begriff der Schöpfung, der selbst schon die Erlösung einschließt. Sie impliziert die Rück­ eroberung des Wesens des Wunders, das die Aufklärung auf Magie reduziert hatte. Die Schöpfung ist zunächst »Bericht«, neben Dialog und Chor einer der drei Modi der Sprache. Sie drückt die Bezie­ hung der Welt zu Gott aus. Ohne den Diskurs der Genesis zu übernehmen, stellt Rosenzweig Gott, Welt und Mensch als hy­ pothetische Gegebenheiten auf, die Gegenstände einer leben­ digen Rede werden. In der Offenbarung zeigt sich Gott nicht als willkürlich, sondern als reine Positivität. Der formalen Idee der Schöpfung setzt er ihre Tatsächlichkeit entgegen. Während die heidnische Auffassung Gott von der Welt trennt, spricht die theologische Sichtweise von der Schöpfung als notwendi­ ger. Das »neue Denken« soll die Notwendigkeit der Schöpfung 3 3 j Ebd., S. i i 7. 336 Ebd., S. 119.

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im Lichte der Offenbarung vor Augen führen. Ohne letztere bleibt sie unvollendet. Durch die Offenbarung als das bestim­ mende Element der Beziehung Gottes zum Menschen und zur Welt fühlt sich der Mensch »angerufen«. Während das erste Buch des Sterns der Erlösung das Judentum den griechischen und asiatischen Religionen gegenüberstellte, unterscheidet das zweite die Religion als gelebte Erfahrung von der philosophi­ schen Religion, für die der Islam steht.337 Indem er nicht mehr Gott als Schöpfer, sondern die Schöp­ fung selbst beschreibt, schlägt Rosenzweig eine Analytik des »Daseins« im Horizont der Offenbarung vor, die sich auf die Sprache als Manifestation dieser Offenbarung stützt. Denn durch die Sprache wird es möglich, das »Dasein« der Welt zu beschreiben und deren Grundkategorien zu erkennen. Der ur­ sprünglichen Bejahung der Schöpfung entspricht in der Offen­ barung die Wahrnehmung der Welt als wirklicher. Der Hori­ zont der Welt wird also von grammatischen Kategorien aus sichtbar, die die Grundlage für die Analyse der Genesis bil­ den.338 Der Begriff der Offenbarung, den er im zweiten Buch 337 Ebd., S. 135. 338 So betont er die Bedeutung des Substantivs, des unbestimmten und dann des bestimmten Artikels, des Verbaladjektivs und des Infinitivs als Entdeckungsweisen des Dings (ebd., S. 141 ff.). Es bestehen überraschende Analogien zwischen Rosenzweigs Analyse des Horizonts der Welt in ihrem Verhältnis zur Offenbarung und dem Vorgehen Heideggers in Sein und Zeit (1927). Da der Stern der Erlösung sechs Jahre früher erschien, ist ein Einfluß ausgeschlossen. Die Ähnlichkeiten in Stil und Begriffswahl sind dennoch unleugbar, auch wenn die Horizonte Rosenzweigs und Heideggers nicht miteinander zu versöhnen sind. Mit seinem Versuch, ein »neues Denken« von einer Theologie der Offenbarung aus zu entwickeln, ist der Stern der Erlösung ein zutiefst philosophisches Werk, das von den Problematiken der Zeit geprägt ist (Neukantianismus, Reinterpretation der Metaphysik ausge­ hend vom deutschen Idealismus, Versuch, die Trennung zwischen Subjekt und Welt zu überwinden, Kierkegaards Hegelkritik, Bedeutung der Begriffe Angst, Tod und Existenz). Schon auf den ersten Seiten behauptet Rosen­ zweig, daß das All der Welt nur aus der Perspektive der Todesangst erkenn­ bar sei. Das Geschaffene, das sich von der Welt durch seine »Bedürftigkeit« unterscheidet, ist »Da-sein«. Es findet seine Wahrheit nur in dem »unbe­

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ausgehend von einer Meditation über Liebe und Tod ein­ führt339, bildet nicht nur den Schlußstein des Sterns der Erlö­ sung, sondern den kompliziertesten Teil des Buches. dingten und allgemeinen Sein«. So definiert er es auch durch die »Bedürftig­ keit«, den Mangel - man denkt hier an die Heideggersche Analyse der »Sor­ ge« - , und Rosenzweig scheint sich der phänomenologischen Idee der Intentionalität anzunähern, wenn er Da-scin als »Sein außer sich« definiert. Dem Heidcggerschen Thema der Endlichkeit steht bei Rosenzweig der be­ ständige Rekurs auf das. »Geschaffene« gegenüber, das nicht auf das Sein, sondern auf die Offenbarung und die Ewigkeit verwiesen ist. Da-sein be­ zeichnet ebenso das menschliche Seiende wie die beständige Schöpfungstä­ tigkeit Gottes. Die Analyse der »Dinghcit« der Welt ist für Rosenzweig nur über die Sprache möglich, die Grammatik des Logos. Wie Heidegger nutzt Rosenzweig den unendlichen Reichtum des Deutschen, insbesondere die Möglichkeit, Verben zu substantivieren - und er scheut sich nicht vor Neu­ bildungen: »das Aussichheraustretcn«, »das Auseinandertreten«, »das Sichcinanderzuwenden«, »das Aufspringen«. Es wimmelt von Gänsefüßchen und Bindestrichen (das »Gerade-in-diesem-Augenblick-gekommen-scin«). Da er der Etymologie hohen Stellenwert zuspricht, »zerlegt« er die Wörter: »Um-stand«, »Be-dingung«, eine Schreibung, die dem Ding eine Art Inten­ tion gibt. Diese Nähe des philosophischen Stils beider Autoren wirft Pro­ bleme für die Übersetzer und Exegetcn Rosenzweigs auf, die es sorgsam vermeiden, seinen Begriffen heideggersche Konnotationcn zu verleihen (vgl. das Nachwort J.-L. Schlegels zu seiner französischen RosenzweigÜbersetzung L ’Etoile de la Redemption, S. J0 3 - 5 0 5 , sowie Stephane Mosfcs, System und Offenbarung, S. 226 ff.). Karl Löwith, Schüler Heideggers, war zweifellos der erste, der über die Stilverwandtschaft verblüfft war. In seiner Studie (»M. Heidegger und F. Rosenzweig, ein Nachtrag zu Sein und Zeit«, S. 68-92) betont er, daß Rosenzweig - dieser deutsche Jude, von dessen Exi­ stenz Heidegger gewiß nie etwas wußte - trotz ihrer so unterschiedlichen Horizonte vielleicht der einzige wirkliche Zeitgenosse Heideggers war, was die Radikalität ihres philosophischen Projekts anbetrifft. Rosenzweig sei­ nerseits bewunderte das Werk Heideggers. Im Mai 1929 schrieb er eine (erst postum gedruckte) Besprechung der zweiten Auflage von Hermann Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums unter dem Eindruck der Begegnung Heideggers und Cassircrs in Davos. Heidegger, so behauptet er, habe gegen Cassirer eine philosophische Position verteidigt, die die seinige sei, die des neuen Denkens, die sich in direkter Linie vom »späten C o­ hen« herleite. Für das, was Heidegger in Davos zu seinem Verständnis von »Dasein« gesagt habe, finde sich bei Cassirer kein entsprechender Begriff, der es ausdrücken könnte (Franz Rosenzweig, »Vertauschte Fronten«). 339 »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele« (Rosen­ zweig, Der Stern der Erlösung, S. 174). Rosenzweig schreibt: »Der Schluß-

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Bis zur Offenbarung bleibt Gott verborgen. Einzig seine Schöpfung manifestiert ihn in seinen Taten und Eigenschaften. Sie bewirkt, daß sich seine willkürliche Freiheit in jedem A u­ genblick in Liebe umkehrt. Doch Gott droht sich hinter der Unendlichkeit seiner Schöpfung als einfacher Ursprung zu verlieren. Damit die »Nacht des Geheimnisses« unaufhörlich zerreißt, ist der Einbruch einer »zweiten Offenbarung« not­ wendig. Sie vollzieht sich in der Liebe. Weit davon entfernt, das Zeichen einer Bedürftigkeit zu sein, ist die Liebe beim Men­ schen »Selbstverleugnung, Selbstverwandlung«. Sie ist »Ereig­ nis« und nicht Eigenschaft. Der Mensch kann diese Offen­ barung nur aufnehmen, wenn er sich vom stummen Selbst losreißt, Demut annimmt, jene ehrfurchtsvolle Scheu, die Ro­ senzweig dem phohos der antiken Tragödie annähert. Die Lie­ be ist Erleuchtung, und die Seele empfängt Gott als Liebenden. Sie hält Gott fest, wie er sich von ihr festhalten läßt. Der Gram­ matik der Genesis, die die Schöpfung in den Worten entdeckt, entspricht für die Offenbarung die der Liebe.340 Die Offenba­ rung ist der einzige Imperativ, der aus dem Munde des Lieben­ den kommen kann, denn das »Ich bin dein« ist die Antwort auf das Glück eines Augenblicks. Der Schöpfung entsprach eine Ästhetik, die auf der Entdeckung der »Vor-welt« beruhte. Die Offenbarung schließt eine andere ein, die sich auf das Mythi­ sche und Tragische stützt. Der dritte Grundbegriff Rosenzweigs, die Erlösung, wird im dritten Buch dargestellt.341 Das ursprüngliche Gebot der O f­ fenbarung, die Liebe, macht die Erlösung möglich durch ein stein des dunkeln Gewölbes der Schöpfung wird zum Grundstein des lich­ ten Hauses der Offenbarung. Die Offenbarung ist der Seele das Erlebnis einer Gegenwart, die auf dem Dasein der Vergangenheit zwar ruht, doch nicht darin haust; sondern im Lichte des göttlichen Antlitzes wandelt« (ebd.). 340 »Dem Ich ant-wortet in Gottes Innerem ein Du« (ebd., S. 194). 341 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« (ebd., S. 229).

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unendliches Ja, das die im Selbst eingeschlossene Seele heraus­ treten läßt, ebenso wie die Erlösung das Bild eines Gottes be­ seitigt, der hinter seiner Schöpfung verborgen ist. Diese A n­ sprache vergleicht Rosenzweig mit der des tragischen Helden durch den Chor sowie mit der Mystik. In der Tragödie bleibt das Selbst in sich verschlossen, wenngleich beobachtet von der Welt. Die Seele des Mystikers ist offen für Gott, bleibt jedoch der übrigen Welt verborgen. Der Mensch der Offenbarung hingegen ist ein sprechendes Selbst. Als lebendiges verhehlt es keineswegs seine »Scheu vor dem offenen Grab«.342 Es ist der Heros einer neuen, modernen Tragödie. Weil nun seine Liebe auf die Erde, die Menschen und die Dinge gerichtet ist, öffnet sich ihm das Reich, das für den Menschen nichts anderes ist als die Offenbarung seines eigenen Wesens. N ur der Mensch kann die Schöpfung zu ihrer Vollendung führen. Zwischen dem heidnischen Kosmos und dem Reich erstreckt sich die Entzau­ berung der Welt, wie sie für die Moderne charakteristisch ist. Die Vollendung der Welt ist nur möglich, wenn der Mensch ihr durch die Sprache einen Teil der Offenbarung mitteilt. Da Un­ fertigkeit das eigentliche Wesen der Zeit ist, setzt das Reich, das wie ein lebendiges Wesen wächst, das ewige Leben voraus. Welt und Mensch sind untrennbar vereint, und das Antlitz, das die Welt für einen jeden annimmt, ist das des anderen, des Nächsten. Der Wunsch, die Welt vollendet zu sehen, verkör­ pert sich in der »messianischen Erwartung«, die uns, vermittelt über die Utopie - Negation der vulgären Vorstellung vom ge­ schichtlichen Fortschritt -, auf die Zukunft hin entwirft. Die Erlösung als höchste Gestalt der Utopie ist die permanente Spannung zwischen Mensch und Welt, in der jeder gelebte A u­ genblick betrachtet wird, als sei er der letzte. Insofern der Mensch die Erlösung der Welt annimmt, hört sie auf, relativ zu sein, und wird absolut in der Folge der Erlösung Gottes. Ziem­ 342 (Ebd., S.233.)

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lieh hegelianisch konzipiert343, vollendet die Erlösung der Welt durch den Menschen diejenige Gottes durch sich selbst. Mit seinem Handeln zerstört der Mensch eine Ordnung, schafft ein Ungleichgewicht, das Rosenzweig »Anarchie« nennt. Doch dieser Bruch macht es möglich, daß die Verwandlung des Da­ seins naht. Und ohne daß sich irgendein konkreter Plan auf­ stellen ließe, taucht die Erlösung inmitten des Chaos auf. Der dritte Teil des Sterns der Erlösung, »Die Gestalt oder die ewige Überwelt«, wird eingeleitet von einer Meditation über die Möglichkeit, das Reich durchs Gebet herbeizuführen. Der problematische Charakter der Erlösung, die in jedem Moment geschehen kann, macht sie zur Utopie. Ihre Zeitlichkeit ist nicht die der Welt, auch wenn die Logik, der ihre Geschichte gehorcht, die der Erlösung ist. Der Fortschritt der Geschichte ist nicht in rationalen Begriffen, sondern nur aus der Nähe des »unsichtbaren Reiches« zu erfassen. Das menschliche Handeln schreibt sich in den Zwischenbereich der Kontingenz ein. Zwar kann es die Dinge unmittelbar zu erreichen suchen, doch wichtiger ist die Beziehung zum Wir und zum Gebet als sym­ bolische Beziehung zur Wirklichkeit und als Vermittlung zwi­ schen Offenbarung und Erlösung. Dem gleichen hegeliani­ schen Schema folgend, unterscheidet Rosenzweig mehrere Momente, in denen sich das Verhältnis der Seele zur Welt und zum Körper ausdrückt: die antike Welt, die Kirche Petri, die mittelalterliche Welt und die moderne Epoche. In seiner Ge­ genüberstellung von Heidentum, Judentum und Christentum 343 Gewiß liegt es auf der Hand, daß der Stern der Erlösung von Hegel in­ spiriert ist; mit der Entsprechung zwischen den drei Büchern, die der Schöpfung, der Offenbarung und der Erlösung gewidmet sind, nimmt Ro­ senzweig die zyklische Darstellungsweise der Phänomenologie des Geistes auf. Von der systematischen Zielsetzung der Enzyklopädie setzt er sich je­ doch grundsätzlich ab. Statt das Göttliche zu verweltlichen, vergöttlicht er das Weltliche. Und seine Konzeption des Glaubens rückt ihn oft in die Nähe Kierkegaards, der seine Meditation über die Existenz weitgehend beeinflußt haben dürfte.

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zeigt er, daß auf die petristische und paulinische Kirche die »johanneische Vollendung« folgte, deren schönsten literarischen und philosophischen Ausdruck er in Aljoscha Karamasow und der russischen Kirche findet. Nicht weniger bedeutungsvoll war »die Befreiung und Aufnahme der Juden in die christliche Welt«.344 Als ewiges Volk der Hoffnung mußten die Juden, aufgrund dieser Aufnahme, den Heiden in sich bekehren.345 Diese. Konfrontation von Judentum und Christentum wird, ausgehend von einem merkwürdigen Bild, im ersten Buch des dritten Teils wiederaufgenommen: Inmitten eines Sterns brennt ein Feuer346, das die Kontinuität der Generationen symbolisiert. Für Rosenzweig stellen die Juden das »ewige Volk« dar, das im Gegensatz zu den anderen Völkern seine Einheit nicht aus der Gemeinschaft des Blutes schöpft347 und nicht seine »Wurzeln in die Nacht der [...] Erde [treibt]«.348 Denn die Erde nährt ebensosehr, wie sie bindet.349 Das jüdi­ sche Volk ist aus Adam geboren, dem aus Erde gemachten Menschen, dem ersten Emigranten. Die Vertreibung aus dem 344 (Ebd., S.317.) 345 (Bei Rosenzweig heißt es, daß »wohl der in die christliche Welt aufge­ nommene Jude [...] den Heiden im Christen bekehren muß«. Ebd.) 346 »Inmitten des Sterns brennt das Feuer. Erst aus dem Feuer des Kerns brechen die Strahlen hervor und fließen unwiderstehlich ins Außen. Das Kernfeuer muß brennen ohne Unterlaß. Seine Flamme muß sich ewig aus sich selbst nähren. Es begehrt keiner äußeren Nahrung. Die Zeit muß machtlos an ihm vorüberrollen. [...] Über dem Dunkel der Zukunft brennt der Sternenhimmel der Verheißung: so wird dein Same sein.« Ebd., S. 3 31. 347 (Zweifellos ist hier zu lesen: »das im Gegensatz zu den anderen Völ­ kern seine Einheit aus der Gemeinschaft des Blutes schöpft«. Tatsächlich schreibt Rosenzweig: »Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land [...] und lösten allein unter allen Völkern der Erde unser Lebendiges aus je­ der Gemeinschaft mit dem Toten. Denn die Erde nährt, aber sie bindet auch [ ...] « (ebd., S .332).) 348 In der Übernahme der Idee der »Weltalter« ist der Einfluß Schellings zu erkennen. Auch dessen Philosophie der Offenbarung (1841/42) diente Ro­ senzweig als Anregung. 349 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 332.

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irdischen Paradies, der Exodus und die Diaspora sind die Marksteine seiner Geschichte. Kein anderes Volk sehnt sich so sehr nach seinem Ursprung, den es - bis hin zur eigenen Spra­ che des täglichen Lebens - verloren hat. Was die übrigen Völ­ ker in der Sphäre des Sichtbaren erlangen, erkennen die Juden nur in Sitte und Gesetz, die den Augenblick zu einer unwan­ delbaren Gegenwart erstarren lassen. Im Gegensatz zu den Völkern der Geschichte sind die Juden das Volk der Ewigkeit. Das Christentum hingegen hat die Gegenwart zur Epoche ge­ macht, es beherrscht die Zeit. »Von Christi Geburt an gibt es nur noch Gegenwart.«350 Diese Gegenwart endet erst mit dem Jüngsten Gericht. Dem Juden, der nicht an etwas glaubt, son­ dern »selber Glauben [ist]«, steht die christliche Dogmatik ge­ genüber; dem ewigen Volk die Gemeinschaft der Individuen, die im Glauben an Christus, die Gestalt des Bruders, vereint sind; der Ewigkeit des Sterns der Mensch des Augenblicks am Fuße des Kreuzes. Das dritte Buch »Der Stern oder die ewige Wahrheit« führt diese Konfrontation am Thema der Erlösung fort. Auch wenn es sich zu seiner Verwurzelung im Judentum bekennt, hat sich das Christentum Rosenzweig zufolge seit 1800, als sich das Ende der johanneischen Kirche erfüllte, mit dem modernen Europa identifiziert. Und in der Konfrontation der beiden Religionen, die dieselbe ewige Wahrheit vereint, wird seine tiefste Problematik erkennbar. Ihre Symmetrie bleibt die Grundthese des Sterns der Erlösung, auch wenn R o­ senzweig den ewigen »Judenhaß« des Christen beklagt.351 Ihre Komplementarität scheint ihm offenkundig, und er versucht sie als zwei Kategorien des Seins, zwei Möglichkeiten des Zu­ gangs zur Offenbarung miteinander zu versöhnen.352 Juden350 (Ebd., S.377.) »Wo ein Volk den Boden der Heimat mehr liebt als das eigene Leben, da hängt stets die Gefahr über ihm - und sie hängt stets über allen Völkern der Welt« (ebd., S.332). 351 (Vgl. ebd., S.461.) 352 Diese Behauptung fußt auf der Grundthese des Sterns der Erlösung, wonach das Wirkliche vielfältig ist. Judentum und Christentum sind zwei

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tum und Christentum als Gestalten der Erlösung stehen der Konzeption des historischen Fortschritts fern, denn die Zeit, die sie leben läßt, ist keine Akkumulation von Augenblicken, die zur Ewigkeit führt, sondern ein qualitativer Übergang zu einer anderen Zeit. Während sich das Judentum in der Erinne­ rung einschließt, öffnet sich das Christentum der Geschichte; es will, so Rosenzweig, paradoxerweise die Zeit beherrschen, indem es sich von ihr löst. Es agiert in einer Geschichte, deren Ende ihm unbekannt ist, und der Weg, der den gegenwärtigen Augenblick von der Wiederkehr Christi trennt, nimmt die G e­ stalt der Ewigkeit an.353 Und doch hört Rosenzweig nicht auf zü glauben, daß die beiden Religionen ein und dieselbe Wahr­ heit ausdrücken: Die Türflügel des Sanktuariums öffnen sich nur auf das Leben. So will D er Stern der Erlösung indem er aus seinem theolo­ gischen Blickwinkel alle großen Themen des Judentums und Christentums auftreten läßt, auf die Begründung eines »neuen Denkens« hinaus, das in seiner Konzeption von Zeit und Welt, der Endlichkeit des Geschaffenen und der Ewigkeit eine Philo­ sophie der Geschichte und eine Ästhetik in sich birgt. Auch wenn seine Veröffentlichung fast unbemerkt blieb, sollte das Buch dank seiner Tiefe und seiner Schönheit diejenigen, die es entdeckten, bis ins Innerste aufwühlen. Es konnte Benjamin nicht gleichgültig lassen, denn die Thesen des Werkes trafen sich mit einigen seiner ureigensten Gedanken. Benjamin erfuhr von der Existenz des Buches 1921 durch Scholem, der es eifrig Utopien, zwei Paradigmen der Offenbarung. Hegelianisch gesprochen zeigt Rosenzweig, daß das Judentum dem Moment der Negation, das Christen­ tum dem der Affirmation entspricht, ebenso wie die Erlösung die Einheit von Schöpfung und Offenbarung bildet. 353 Nach Rosenzweig gibt es für das Christentum einen bekannten absolu­ ten Anfang der Geschichte, während sich das Ende jeder Erforschung ent­ zieht; und er zitiert das Wort des Angelus Silesius: »War’ Christus tausend­ mal in Bethlehem geboren / und ists nicht auch in dir, so bist du doch verloren.« (Ebd., S. 3 77.)

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studierte. Er las es während seines Aufenthalts in Heidelberg, nicht ohne sofort ernste Vorbehalte zu hegen.354 (Er besuchte Rosenzweig und unterhielt sich mit ihm über sein Buch.355 Die Beziehungen zwischen Benjamin und Rosenzweig waren komplex. Schon 1965 hob Scholem den Einfluß hervor, den Benjamin von ihm empfing, und Benjamins Briefwechsel zeigt, daß er seine Schriften aufmerksam verfolgte, auch wenn er sie keiner vertieften Untersuchung auf theologischer Ebene un354 Der hegelianische Aufbau des Buches, sein Wille zur Synthese, die Kühnheit seiner Formulierungen und sein Pathos standen im Gegensatz zu Benjamins Verwurzelung im Kantianismus. Scholcms Vorbehalte betrafen Rosenzweigs Verhältnis zum Judentum. In dem anläßlich seines Todes ge­ schriebenen Text »Franz Rosenzweig und sein Buch >Der Stern der Erlö­ sung«« [in der deutschen Ausgabe von 1988 als Nachwort, ebd., S. 525-549] erinnert er daran, daß Rosenzweig - der aus der »jüdischen Verödung und Dürre in Deutschland« kam - durch seinen mahnenden offenen Brief an Hermann Cohen zur Gründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin beitrug und das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt mitbegründete. Ohne zu verleugnen, was Rosenzweig der deutschen ideali­ stischen Tradition über Schelling und Hegel sowie Hermann Cohen ver­ dankt, unterstreicht Scholem den einzigartigen Platz, den Der Stern der Er­ lösung in der jüdischen Theologie einnehme. Dieser Theologie, die aller Substanz verlustig gegangen war, habe er neuen Glanz gegeben, indem er ihr die Dimension des Wunders zurückgab. Während er an dieser Stelle keine präzise Kritik an dem Buch äußert, zeigt sich der Text, den er 1931 »Zur Neuauflage des >Stern der Erlösung«« [in: ders., Judaica /, S. 226-234] schrieb, gegenüber Rosenzweigs theologischer Konzeption reservierter. Gewiß habe er sich mit seinem Beharren auf der Offenbarung von der libe­ ralen Theologie und dem laizistischen Judentum entfernt. Doch sein Ver­ hältnis zur Mystik bleibe distanziert. Er reduziere sie auf eine nicht mitteil­ bare, einsame Erfahrung. Eine der Grundthesen Rosenzweigs lehnt Scholem ab: die Behauptung einer Parallelität zwischen Judentum und Christentum und ihre hegelianische Versöhnung als zwei Modi des Zugangs zur Wahrheit. Er tadelt Rosenzweig, im Judentum nur »die Vorwegnahme der Erlösung« [ebd., S. 232] gesehen und in seiner Auffassung des Messianis­ mus die apokalyptischen Elemente unterdrückt zu haben. Ebenso lehnt er seine Konzeption der deutsch-jüdischen Identität und seine Kritik am Zio­ nismus ab. Indem er das jüdische Volk als »ewiges Volk« bezeichne, ver­ nachlässige Rosenzweig dessen Einbettung in die profane Geschichte. 355 Durch Vermittlung von Rosenzweigs Frau, da seine Stimme wegen sei­ ner schweren Erkrankung kaum hörbar war.

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terzog.356 Beide verkörpern einen bestimmten Typus der kul­ turellen »jüdisch-deutschen Synthese«, auch wenn Rosen­ zweigs tiefe Verwurzelung in der jüdischen Theologie und sein hegelianisch-mystischer Denkstil in Gegensatz zu Benjamins Leidenschaft für das Fragment und zu seinen hauptsächlich li­ terarischen Beschäftigungen steht. Den Ausgangspunkt der er­ staunlichen Parallelität ihrer Ideen bildet häufig ihre gemeinsa­ me Neigung zur Romantik und ihre Verbundenheit mit dem Judentum.357) Auch wenn die Erkenntnistheorien, die sie zu konstruieren bemüht sind, in gegensätzlichen philosophischen Welten liegen, sind beide auf der Suche nach einem erweiterten Begriff der Erfahrung, obgleich Benjamin sich hütet, darin Gott*, Mensch, Welt und Erlösung auftreten zu lassen.358 Von der Genesis ausgehend, entwickeln sie - vertieft durch die Lek­ türe der Schriften Hamanns359 - verwandte Sprachtheorien.360 Die Bedeutung, die Rosenzweig dem Wunder zubilligt, trennt sie voneinander. Doch seine Kritik der modernen Theologie erinnert durchaus an die erste These »Über den Begriff der Ge3 56 So lehnte es Benjamin 1930 ab, anläßlich des Todes Rosenzweigs einen Nachruf für die Frankfurter Zeitung zu verfassen. Vgl. den Brief an Scholem vom 25. Januar 1930, CB III, S. 506. 357 (Das Manuskript enthielt hier eine Lücke; wir haben uns bemüht, mit Hilfe früherer Fassungen den Zusammenhang wiederhcrzustellen.) 358 Vgl. Michael Löwy, »Franz Rosenzweig et Walter Benjamin: messianisme ef revolution«; Stephane Moses, »Walter Benjamin und Franz Rosen­ zweig«; ders., Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benja­ min, Gershom Scholem. 359 Die Forderung einer »Grammatik der Vernunft, wie der Schrift«, die bei Rosenzweig gegenwärtig ist, wird von Hamann in seinem Brief an Jacobi vom 1. Dezember 1784 ausgesprochen (Johann Georg Hamann, Briefe, 360 Für Rosenzweig wie für Benjamin ist die Sprache der Ort allen Erkennens; sie ist das Medium der Wahrheit. Es gibt einen echten Isomorphismus zwischen der Struktur der Sprache und der der Welt; dabei ist das göttliche Wort Quelle aller Schöpfung. Zu ihren jeweiligen Konzeptionen der Über­ setzung vgl. Benjamins »Aufgabe des Übersetzers«, CS IV. 1, S.9-21, und Rosenzweigs »Nachwort zu den Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi«.

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schichte«, in der es heißt, daß »die Theologie [...] heute be­ kanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen«.361 Der Stern der Erlösung verknüpft mit jeder Stufe seiner Entwicklung eine Reflexion über die Ästhetik.362 Mehrere Sätze aus den Abschnitten »Offenbarung als ästheti­ sche Kategorie« und »Das Werk«363 könnten im Wahlverwandtschaften-Esszy stehen. Bei der Abfassung seiner Essays über Kafka - insbesondere dort, wo er die griechische Welt und China einander gegenüberstellt - und über Brecht scheint Ben­ jamin bestimmte Passagen des Buches von Rosenzweig im Sinn gehabt zu haben. Noch spürbarer ist sein Einfluß in der Kon­ zeption der Tragödie, die das Trauerspiel-Buch entwickelt364: die Auffassung des »stummen Helden«, des tragischen Schwei­ gens, ist dem Stern der Erlösung entnommen.365 Die Analyse des barocken Heros greift Merkmale auf, die Rosenzweig dem modernen tragischen Helden zuspricht, der, »in die Welt ge­ worfen«, nur noch sterblich und dessen erhabenste Gestalt der Heilige ist.366 Die Konvergenzen zwischen ihren Geschichtsphilosophien liegen nicht nur in der Verwendung von Begriffen wie denen 361 CS 1.2, S. 693. 362 Vgl. Moses, »L’Esthetique de Franz Rosenzweig«, S. 119. 363 Rosenzweig, D er Stern der Erlösung, §§ 178-179, S.213 f. 364 Am 19. Februar 1925 schreibt Benjamin an Scholem über seine Arbeit: »Eine neue Tragödicntheoric gibt es auch; sic ist zu einem großen Teil von Rang. Daselbst ist nachhaltig Rosenzweig zitiert worden, sehr zu [Gott­ fried] Salomons Mißvergnügen, der behauptet, das alles - was Rosenzweig über Tragik sagt - stünde schon bei Hegel.« G B III, S. 14E 365 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 23of., 233 f., insbesondere Benjamins Übernahme des Begriffs der »Unmündigkeit« im Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.i, S.286. 366 [Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S.235.] A u f Rosenzweigs Konzeption des Tragischen bezieht sich Benjamin erneut, als der Marxismus in den Mittelpunkt seiner Interessen rückt. Er zitiert ihn in seiner Rezension des Romans von Julian Green, Mont Cim ire (»Feuergeiz-Saga«, GS III, S. 144-148), und in seinem Kommentar zu Andr6 Gides CEdipe (»Oedipus oder der vernünftige Mythos«, GS II. 1, S. 391-395).

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der Erlösung, des Messianismus oder des kommenden Reiches, sondern in einer identischen Sicht der geschichtlichen Zeit. Beide stellen die Zeitlichkeit der Geschichte der messianischen Zeitlichkeit entgegen. Die als unvollendet betrachtete Welt verlangt nach Erlösung, die Zukunft ist nur als Erwartung er­ fahrbar. Sie zeigt ihr wahres Gesicht erst mit der Ankunft der messianischen Zeit und der Verwirklichung des Reiches. So­ lange ihr Wesen nicht offenbart ist, bleibt sie verrätselt. Die Zukunft muß unaufhörlich vorweggenommen werden, auch wenn ihre letztliche Ankunft in der Erlösung nicht vorherseh­ bar ist. Diese Erwartung des Reiches macht für Rosenzweig den Inhalt allen utopischen Denkens aus. Eine solche Erwar­ tung setzt sich fundamental von der Idee eines geschichtlichen Fortschritts ab, den Benjamin und Rosenzweig ablehnen. Die messianische Erwartung bezieht sich nicht auf einen geschicht­ lichen Wandel, sondern auf das nahe Bevorstehen eines radikal Anderen, das in jedem Moment eintreten kann. Damit wird die Rolle des menschlichen Handelns zweideutig. Gegen die Ord­ nung der Welt führt es eine Dimension der Sinnlosigkeit und Anarchie ein, doch dieser Anarchismus bewirkt eine Zäsur im Verlauf des organischen Lebens, die einen ahnenden Blick auf die Ewigkeit freigibt. Keine Anhäufung guter Taten vermöchte das Nahen der Er­ lösung in der Geschichte zu bewirken. Rosenzweig sieht in der Geschichte nur die Wiederholung des Gleichen. Zugleich steht in der Beziehung des Menschen zu seinem Nächsten das Ganze der Welt auf dem Spiel. Geschichte und Erlösung stehen Auge in Auge einander gegenüber, denn nur durch die Welt hindurch kann sich der Fortschritt zum Reich Gottes vollziehen. Der Gegensatz der beiden Zeitlichkeiten läßt sich also überwinden: Zwar ist die Ordnung der Erlösung für die Welt unsichtbar, doch zeigt sie sich nur, wenn die Welt bereit ist, sie anzuneh­ men. Diese Konzeption, die sich in Benjamins »Theologisch­ politischem Fragment« und in seinen Thesen »Über den Be­

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griff der Geschichte« wiederfindet, unterstellt eine radikale Trennung des Profanen und des Religiösen, eine Bejahung des Messianismus und der Kategorie der Erlösung. Benjamin wie Rosenzweig erkennen die Möglichkeit an, die beiden Reiche auf der Ebene der Geschichte einander begegnen zu lassen367, auch wenn diese Verbindung schwer vorstellbar bleibt. Die bei Rosenzweig rein religiöse Kategorie der Erlösung ist bei Benjamin das Synonym für »Befreiung« und nimmt die Gestalt einer verklärten Geschichte an. Bei Rosenzweig unter­ stellt die Erlösung eher einen Abbruch der geschichtlichen Kontinuität als ihre Erfüllung.368 Der Benjaminschen Erwar­ tung der Revolution, der materiellen Befreiung der Mensch­ heit, welche das Kommen des Messias vorzubereiten vermag, entspricht bei Rosenzweig der Wunsch, »das Kommen des Reichs [zu] beschleunigen«.369 Doch diese Beschleunigung der messianischen Zeit kann ihm zufolge nur durch das Gebet, die Begegnung mit dem Nächsten und nicht in der politischen Sphäre geschehen. Beide lehnen schließlich die Idee eines ge­ radlinigen geschichtlichen Fortschritts ab.370 Geschichte redu­ ziert sich auf die Wiederholung eines leeren Augenblicks. Ben­ 367 In dem Abschnitt »Revolution« (§ 298) erinnert Rosenzweig an »all jene großen Befreiungswerke [ . . die, so wenig sie an sich schon das Reich Gottes ausmachen, doch die notwendigen Vorbedingungen seines Kom­ mens sind« (Der Stern der Erlösung, S. 319). Benjamin behauptet im »Theo­ logisch-politischen Fragment«, »die profane Ordnung des Profanen« sei geeignet, »das Kommen des messianischen Reiches« zu »befördern« (»Theologisch-politisches Fragment«, S.204). Beiden zufolge können die emanzipatorischen Kämpfe der Geschichte die Ankunft des Messias zwar nicht beschleunigen, wohl aber zu dieser Ankunft beitragen. 368 Freilich ist die Vorstellung des messianischen Stockens des geschicht­ lichen Werdens auch bei Benjamin präsent. 369 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 321. 370 Der radikale Unterschied, der für Rosenzweig messianische und profa­ ne Zeit voneinander trennt, läßt die Zukunft zu einer problematischen Kate­ gorie werden, wenn man sie aus rein historischer Perspektive betrachtet. »[D]er Gedanke der Zukunft [ist] in der Wurzel vergiftet« und der Glaube an den historischen Fortschritt ein Unsinn (ebd., S.252).

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jamin entwickelt genau die gleiche Kritik in der dreizehnten seiner Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, wo er den trügerischen Glauben an einen unbegrenzten371 Fortschritt in­ nerhalb einer »homogenefn] und leerefn] Zeit« anprangert. Ebenso wie Rosenzweig wirft er einer solchen Konzeption vor, die Rolle des Augenblicks zu verkennen - desjenigen, in dem der Messias hervortreten kann oder in dem sich eine revo­ lutionäre Gelegenheit abzeichnet. Benjamin wird in seine ma­ terialistische Sicht genau dieselben theologischen Grundlagen übertragen, von denen Rosenzweig ausgeht, ihnen jedoch die apokalyptischen Elemente wieder einfügen, die im Stern der Erlösung fehlen.

37 1 Bei Rosenzweig wie bei Benjamin steht dem Glauben an die Unend­ lichkeit der geschichtlichen Zeit die Gewißheit entgegen, daß die messianische Zeit eine ihrem Wesen nach endliche ist. (»Über den Begriff der Ge­ schichte«, XIII. These, GS 1.2, S.70of.)

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1. Habilitationsprojekt, universitäre und literarische Hoffnungen Rückkehr nach Berlin (1920): das Chaos vor Augen Das Jahr 1919, in dem Benjamins Schweizer Exil endete, war von ersten dramatischen Sorgen um seine materielle Zukunft geprägt.1 Nach dem Abschluß seiner Promotion drängten ihn seine Eltern, nach Deutschland zurückzukehren, da sie sich nicht mehr in der Lage sahen, seinen Aufenthalt in der Schweiz zu finanzieren. Benjamin sah dieser Rückkehr nach Berlin mit Besorgnis entgegen.2 Richard Herbertz, der Betreuer seiner Dissertation über die romantische Kunstkritik, hatte ihm die Möglichkeit einer Habilitation in der Schweiz angedeutet. Benjamin unternahm erste Schritte in diese Richtung und hatte den Wunsch, nach Bern zurückzukehren3, ohne die Eventuali­ tät einer Auswanderung nach Palästina auszuschließen, wie sie Scholem und mehrere ihrer Freunde ins Auge faßten. Während seiner Aufenthalte in Lugano und Wien schrieb er »Schicksal und Charakter« und arbeitete gleichzeitig an seiner Rezension über den Geist der Utopie. Er hatte vor, im März nach Berlin zurückzukehren, wollte sich dann in München niederlassen4,

1 Er selbst sprach in einem Brief an Scholem von »sehr ungewissen Zu­ kunftsaussichten« (1 j. September 1919, GB II, S.43). 2 Vgl. die Briefe an Hüne Caro und an Scholem vom 20. bzw. 23. Novem­ ber 1919, ebd., S. 52-58. 3 Dieses Vorhaben erwies sich wegen der verheerenden Inflation in Deutschland als undurchführbar. 4 Benjamin war von der Wiener Bibliothek enttäuscht, fand Österreich und

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wo Scholem studierte, und erwog als Habilitationsschrift »ir­ gendeine Untersuchung, welche in den großen Problemkreis Wort und Begriff (Sprache und Logos) fällt«.5 Ein Mahnwort seiner Eltern6 zwang ihn, auf seine Pläne zu verzichten. Benja­ min hoffte, dank der Ersparnisse Doras in Bayern wohnen zu können. Sobald er nach Berlin zurückgekehrt war, kümmerte er sich um die Drucklegung seiner Dissertation7 und bemühte sich zugleich, einen Ausweg aus seiner verzweifelten finanziel­ len Lage zu finden. Während er bis dahin von den politischen Ereignissen verschont geblieben war, sah er sich nun zu Beginn der zwanziger Jahre einer radikal neuen Situation gegenüber. Die Epoche der bürgerlichen Sicherheit hatte ein Ende gefun­ den, und er mußte dem kollektiven Elend ins Auge sehen, auch wenn er dazu neigte, diese Wirklichkeit zu ignorieren.8 Von der Gefahr bedroht, zum »proletarisierten Intellektuellen« ab­ zusteigen, nahm er eine Haltung ein, die zwischen zwei wider­ sprüchlichen Polen schwankte: vor einer entmutigenden und gemeinen Wirklichkeit in die Bücher, die Reisen, den Brief­ wechsel und die Gespräche mit einigen wenigen Freunden zu flüchten - oder sich auf diese Wirklichkeit einzustellen. Diese zweite Haltung gewann erst mit Einbahnstraße und vor allem die Konflikte mit Doras Familie unerträglich, weshalb er beschloß, ihren Aufenthalt abzukürzen. 5 Brief an Scholem vom 13. Januar 1920, ebd., S.68. Bei dieser Gelegenheit empfahl ihm Scholem die Lektüre von Heideggers Dissertation über Duns Scotus. 6 Brief an Scholem vom 13. Februar 1920, ebd., S.76. Da Benjamins Vater sein Vermögen weitgehend verloren hatte, gab er ihm die »kategorische Vor­ schrift«, im Hause der Eltern zu leben. 7 Auch dieses Projekt stieß auf finanzielle Schwierigkeiten. Die Arbeit er­ schien erst 1920 in der Reihe Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, die von Richard Herbertz herausgegeben wurde. Nur wenige Exemplare gelangten in den Handel, und ein Teil der Bestände wur­ de bei einem Brand im Oktober 1923 vernichtet. Benjamin plante eine zwei­ te Auflage - die erst 1935 erschien. 8 Die politischen Ereignisse, so dramatisch sie in Berlin waren, werden in seinem Briefwechsel selten erwähnt.

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nach seiner Begegnung mit Asja Lacis und Brecht die Ober­ hand. Ohne Einnahmequellen war er um so weniger imstande, für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen, als seine Leiden­ schaft für Bücher ihn dazu brachte, seine geringen Einkünfte für den Kauf seltener Editionen zu opfern. Der Großzügigkeit der Gutkinds verdankte er die Möglichkeit, bis Ende August 1920 in deren Haus in Grünau-Falkenberg unterzukommen.9 Die einzigen Arbeiten, die ihn - abgesehen von der Vorberei­ tung seiner Habilitation - zu dieser Zeit beschäftigten, waren ein polemischer Text gegen Kurt Hillers Konzeption der »gei­ stigen Arbeiter« und die Herausgabe der Manuskripte Fritz Heinles. Während des ganzen Jahres 1920 konnte er nur dank der finanziellen Unterstützung von Doras Eltern und vom Honorar für einige graphologische Analysen überleben - in Erwartung »irgend einer bürgerlichen Tätigkeit«.10 Mehrere Briefe an Scholem erwähnen den nachhaltigen Eindruck, den die Werke Paul Klees auf ihn machten, sein beständiges Inter­ esse an Kant und die Fertigstellung seiner Übersetzung der Tableauxparisiens von Baudelaire. Doch die Möglichkeiten, seine Texte zu veröffentlichen, waren begrenzt.11 Bestimmend für Benjamins Überlegungen der Jahre 1920 und 1921 sind mehre­ re Fragestellungen, die eine Reihe früherer Themen und Essays 9 Sie gingen dann für zwei Monate nach Italien, und Benjamin konnte noch eine Zeitlang bleiben. Sein Sohn Stefan wurde von seinen Eltern aufgezogen. 10 [Brief an Scholem, 26. Mai 1920, GB II, S.89.] Bloch empfahl ihn dem S. Fischer Verlag als Lektor. Benjamin versuchte Kurt Wolff für eine PöguyÜbcrsetzung zu interessieren, doch der Plan scheiterte, weil der französi­ sche Verlag zu hohe Lizenzgebühren forderte (Brief an Scholem, 23. Juli 1920, ebd., S.9$). 11 Dora arbeitete als Übersetzerin aus dem Englischen. Benjamin suchte nach einem Verleger für seine Übertragung der Tableaux parisiens. Er hatte vor, seine Essays »»Der Idiot< von Dostojewskij« [GS II.i, S .237-241], »Schicksal und Charakter« [GS II. 1, S. 17 1-179 ] sowie seine Rezension von Blochs Geist der Utopie in der Zeitschrift D ie Argonauten zu veröffent­ lichen.

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fortführen. Die erste, kantisch inspirierte12, brachte ihn dazu, sich in die Philosophie der Sprache zu vertiefen und sich ausgehend von der Heideggerschen Untersuchung über Duns Scotus - für die Scholastik zu interessieren.13 Die Freundschaft mit Scholem und Erich Gutkind verstärkte sein Interesse an der jüdischen Kultur und der hebräischen Sprache. Im Nach­ klang seiner Bloch-Lektüre und der Abfassung des »Theolo­ gisch-politischen Fragments« (1920/21) hatte er vor, die Fun­ damente einer »Philosophie der Politik« zu legen, ein Plan, der zur Niederschrift des Essays »Zur Kritik der Gewalt« führen sollte.14 Die Briefe aus dieser Zeit zeigen, daß dieses Projekt in seinem Denken immer breiteren Raum einnahm. Mit zahllosen materiellen Sorgen konfrontiert, sah sich Benjamin zu einer li­ terarischen Verborgenheit verdammt, aus der er keinen Aus­ weg fand. Von der »Kritik der Gewalt« zur Entstehung des Wahlverwandtschaften-Es&rys Nach den materiellen und psychologischen Schwierigkeiten, die mit seiner Rückkehr nach Berlin verbunden waren, bot das 12 Im Dezember 1920 wurde er erneut Mitglied der Kantgesellschaft, und die Selbstanzeige seiner Dissertation erschien 1921 in den Kant-Studien. 13 Über die er vorschnelle Urteile äußert (vgl. den Brief an Scholcm vom 1. Dezember 1920, GB II, S. 108). Seine grimmige Ablehnung der Arbeit Hei­ deggers mag sich aus seinem geringen Interesse an der modernen Philoso­ phie (Ricken, Husserl), aber auch aus einem gewissen Verdruß - der in ei­ nem weiteren Brief an Scholem durchscheint - darüber erklären, daß er bei Heidegger bereits das Wesentliche der Problematik entwickelt fand, die er in seiner Habilitation ausarbeiten wollte (Brief vom Januar 1921, ebd., S. 127). 14 Der Essay »Zur Kritik der Gewalt« (GS II. 1, S. 179-203) belegt eine Ver­ trautheit mit bestimmten Schriften von Rosa Luxemburg, Georges Sorel und Carl Schmitt. Im Januar 1921 las er Erich Ungers Politik und Metaphy­ sik und knüpfte wieder Verbindungen mit Oskar Goldberg und seinem Kreis »jüdischer Mystiker«, für den er eine Mischung von Faszination und Widerwillen empfand. Unter dem Einfluß von Paul Scheerbarts Lesabendio wollte er einen Essay über den »wahren Politiker« veröffentlichen.

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Jahr 1921 die Aussicht auf die mögliche Konkretisierung einer Reihe von Projekten, die ihn auf eine Anerkennung seiner A r­ beiten hoffen ließen. Doch sehr rasch wurden die tatsächlichen Erfolge von Niederlagen übertroffen. Durch Jula Cohn15 machte er die Bekanntschaft des Dichters Ernst Blass, der die Zeitschrift Die Argonauten leitete und mehrere seiner Essays veröffentlichte.16 Zur gleichen Zeit trat er mit dem Heidelberger Verleger Richard Weißbach in Ver­ bindung, der seine Übersetzung der Tabeaux parisiens heraus­ bringen wollte.17 Ebenso wichtig war das Erscheinen seines Essays »Zur Kritik der Gewalt«18, der - gespeist von einer 1 j Jula Cohn, die Schwester von Benjamins Jugendfreund Alfred Cohn, eine begabte Bildhaucrin, die damals in Heidelberg lebte, stand in Verbin­ dung mit einigen Schriftstellern, darunter Ernst Blass. 16 Benjamin war weniger darum besorgt, ein Publikum zu finden - er hat cs niemals versucht - , als darum, seine Familie von der Ernsthaftigkeit seiner Arbeit zu überzeugen, um von seinem Vater eine finanzielle Hilfe zu erhal­ ten (Brief an Scholem vom 29. Dezember 1920, CB II, S. 119). 17 Ein weiteres Angebot hatte ihm der Münchner Drei-Masken-Verlag ge­ macht, doch Benjamin wollte keine »Abstemplung« seines Bandes »durch den jüdischen Verlag« (Brief an Scholem, Januar 1921, cbd., S. 130). Ernst Blass hatte einige von Benjamin übertragene Baudelaire-Gedichte an Ri­ chard Weißbach geschickt. Das Buch sollte in einer Auflage von nur 500 Ex­ emplaren in der bibliophilen Reihe »Drucke des Argonautenkreises« veröf­ fentlicht werden (1923). Es hatte kaum Erfolg und war auch nach zehn Jahren noch nicht vergriffen. Als Vorwort zu diesem Band schrieb Benjamin seinen Essay »Die Aufgabe des Übersetzers«. Die Zusammenstellung der beiden Texte war vielleicht keine glückliche Idee. Auch wenn klar ist, daß sich Benjamin von der Übertragung Stefan Georges absetzen wollte, er­ schließt sich die Philosophie der Übersetzung, die er an dieser Stelle vor­ trägt - mit ihren Verweisen auf das »heilige Wachstum der Sprachen«, das »messianische Ende ihrer Geschichte« und das »Verborgene«, das sie offen­ baren (GS IV. 1, S. 14) - , nur aus der Perspektive seiner Sprachphilosophie, ohne Licht auf seine eigene Übersetzung zu werfen. Die Berliner Buch­ handlung Reuß und Pollak veranstaltete am i j . März 1922 einen Baude­ laire-Abend. Benjamin stellte sein Werk vor und las einige seiner Überset­ zungen vor. 18 Der Essay war zunächst für Die Weißen Blätter bestimmt, die damals von Rene Schickelc, dann von Emil Lederer herausgegeben wurden. Als zu lang und zu schwierig wurde er jedoch abgelehnt und erschien 1921 im A r­ chiv fü r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.

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Lektüre Georges Sorels und Rosa Luxemburgs - eine gewisse Ablehnung des parlamentarischen Systems der Weimarer Re­ publik zum Ausdruck brachte und die Grundlagen seines reli­ giösen Anarchismus entwickelte. A b April 1921 begann für Walter und Dora die kritischste Zeit. Die heftigen Dispute, die sie in der Schweiz miteinander geführt hatten, verschärften sich durch die dramatische mate­ rielle Lage, in der sie sich in Berlin befanden. Ein Zufall sollte die Krise beschleunigen. Sein ganzes Leben lang blieb Benja­ min in einem erstaunlich begrenzten Beziehungsuniversum ge­ fangen. Zu Beginn des Jahres 1921 trat Ernst Schoen - einer der wenigen Freunde, mit denen er aus der Zeit der Jugendbewe­ gung verbunden geblieben war - wieder in recht enge Bezie­ hungen zu dem Ehepaar Benjamin. Scholem zufolge19 verlieb­ te sich Dora augenblicklich in ihn. Die Offenheit, die zwischen ihnen herrschte, erlaubte es, frei darüber zu sprechen. Im April kam Jula Cohn - eine Jugendfreundin Benjamins - nach Berlin. Benjamin verliebte sich nun seinerseits, was sie »wohl einige Zeit in Verwirrung [stürzte]«.20 Mit Recht rückt Scholem diese Konstellation in die Nähe der Beziehungsstruktur der Goetheschen Wahlverwandtschaften, denen Benjamin im November 19 Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 120. 20 Ebd. - Benjamin hatte sie fünf Jahre lang nicht gesehen. Auf diesen Ge­ fühlswirrwarr spielt Benjamin in der Berliner Chronik an, wo er das Leben mit einem Labyrinth vergleicht, dessen Eingänge die »Urbekanntschaften« sind [Bekannte, die wir nicht durch andere Bekannte kennengelcrnt haben, die uns aber neue Bekanntschaften vermitteln] und dessen verzweigte Gän­ ge »immer wieder uns in den verschicdnen Lebensaltern zum Freunde, zum Verräter, zur Geliebten, zum Schüler oder zum Meister führen« (GS VI, S.492). Mit diesem Bild assoziiert er die Erinnerung an vier Ringe, die er 19 14 zusammen mit Alfred Cohn bei einem Berliner Antiquitätenhändler gekauft hatte. Der erste war für die damalige Verlobte Alfred Cohns be­ stimmt, der zweite für Ernst Schoen, der dritte für Grete Radt, die damalige Verlobte Benjamins, die 1921 in zweiter Ehe Alfred Cohns Frau werden sollte, und der vierte für Alfreds Schwester Jula Cohn, die 192J Fritz Radt heiratete. - Jula Cohn vernichtete sämtliche Briefe, die Benjamin ihr ge­ schrieben hatte.

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1921 einen wunderbaren Essay widmete. Walter und Dora, die beide an neue Heiraten dachten, baten den unglücklichen Scholem um Rat. Auch wenn keine der erhofften Ehen zustan­ de kam, zerrüttete diese Situation ihre Verbindung endgültig. Nach einer zweijährigen Krise nahmen sie schließlich das ge­ meinsame Leben in der Form einer »freundschaftlichen Wohn­ gemeinschaft«21 wiederauf. Im Mai 1921 hielt sich Dora mit Ernst Schoen in Österreich in einem Sanatorium auf. Noch war auf keiner Seite eine Ent­ scheidung gefallen, und Benjamin hatte vor, nach einem Auf­ enthalt mit Jula Cohn in Heidelberg wieder mit Dora auf dem Semmering zusammenzukommen. A uf der Durchreise besuch­ te er im Juni Scholem in München. Beide unterhielten sich über den Stern der Erlösung und über das, »was der Talmud und die Mystiker [...] über die Hymnen der Engel zu sagen wußten«.22 Während dieses Aufenthalts erwarb er für 1000 Reichsmark23 Paul Klees Aquarell Angelus Novusy das eine so wichtige Rolle in seinem Werk und seinem Leben spielen soll­ te.24 Benjamin fuhr erneut nach Heidelberg, um dort Jula Cohn 21 Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 121. Diese Situation führte keineswegs zu neuen Krisen, sondern stellte ein ge­ wisses Gleichgewicht her. In den Exiljahren blieb ihre Beziehung sehr freundschaftlich, und Benjamin hielt sich mehrfach in der Pension auf, die Dora in Italien führte. 22 Ebd., S. 129. 23 [Nach Scholems Berechnung: »14 Dollar!« Ebd., S. 128.] 24 Über Benjamins Verhältnis zu diesem Aquarell von Paul Klee vgl. Scho­ lem, »Walter Benjamin und sein Engel«, S. 35-72. Klee schuf das Werk 1920 in München und malte bis zu seinem Tod über fünfzig Engel (davon vier­ unddreißig in den letzten beiden Jahren seines Lebens). Manche Exegeten haben sie mit Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien in Zusammenhang ge­ bracht. Doch der ironische Charakter, den er ihnen zumindest in seinen frü­ hen Jahren verleiht, ist von Rilkes metaphysischer Sicht weit entfernt. Ben­ jamin schätzte das Werk Klees seit 1917. 1920 besuchte er eine KleeAusstellung in Berlin und erwarb eines seiner Werke. Am 23. Juli 1920 schrieb er an Scholem: »Dora hat Ihnen vielleicht schon vieles von dem ge­ nannt womit sie mich erfreut hat; vor allem mit einem wunderschönen Bilde von Klee, betitelt: Die Vorführung des Wunders. Kennen Sie Klee ? Ich liebe

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zu treffen, und wohnte bei Leo Löwenthal, der - damals glü­ hender Zionist - später zu einem herausragendes Mitglied von Max Horkheimers Institut fü r Sozialforschung werden sollte. ihn sehr und dieses ist das schönste von allen Bildern die ich von ihm sah. Ich hoffe Sie werden es im September bei mir sehen« ( G B II, S. 92 f.). Eine zweite Klee-Ausstellung in Berlin besuchte Benjamin 1921 (vgl. Brief an Scholcm vom 11. April 19 21, cbd., S. 151). Angelus Novus ist eine kleinformatige A r­ beit (»Ölpause und Aquarell auf Papier und Karton«, 318 x 242 mm), auf der Schwarz und Weiß dominieren. (Es existieren zwei leicht voneinander un­ terschiedene Versionen, beide auf 1920 datiert; die zweite, bis heute in einer Privatsammlung, ist eine bloße Bleistiftzeichnung; vgl. die Nummern 2377 und 2414 in Bd. 3 des Catalogue raisonne der Werke von Paul Klee.) Der En­ gel, stark stilisiert, ähnelt ein wenig einer Marionette; seine Füße sind in Krallen verwandelt, während die weit aufgespannten Flügel in menschliche Hände auslaufen. Zwei hervorgehobene schwarze Augen geben dem Ge­ sicht einen tragikomischen Ausdruck. Das Gesicht ist in Tusche ausgeführt; Einzelheiten sind in Gelb und Rosa hervorgehoben. Der Engel tut nichts. Mit seinem kindlichen Gesicht behauptet er nur seine Existenz. Zum ersten Mal ausgestellt war Angelus Novus 1920 in der Münchner Galerie Heinz Goltz. Benjamin erwarb das Aquarell Ende Mai oder Anfang Juni 1921 und vertraute es bis zum November desselben Jahres Scholem an. Es hing dann in seinem Arbeitszimmer in Berlin. Als er gezwungen war, ins Exil zu gehen, trennte er sich mit Bedauern davon, doch einer Freundin gelang es, ihm das Bild 1935 nach Paris zu bringen, und 1938 sah Scholem es in Benjamins Wohnung in der Rue Dombasle. 1939 versuchte er, mittellos, das Bild zu verkaufen (vgl. Brief an Theodor W. und Gretel Adorno vom 6. August 1939, G B VI, S. 315). Als er 1940 Paris verlassen mußte, schnitt er das Bild aus dem Rahmen. Schon sehr früh wurde für ihn Angelus Novus zu einer Alle­ gorie mit vielfachen Bedeutungen. In seinem Briefwechsel mit Scholem be­ zieht er sich häufig darauf; Scholem wiederum sandte ihm zum Geburtstag ein Gedicht »Gruß vom Angelus zum 13. Juli 1921« (GB II, S. 17 4 f.); ein Auszug daraus diente als Motto zur neunten These »Über den Begriff der Geschichte« (GS 1. 2 , S. 697). Unter dem Namen Angelus Novus wollte Ben­ jamin seine literarische Zeitschrift erscheinen lassen. Immer neue Bedeutun­ gen kristallisieren sich um diesen Engel herum - den er manchmal fast zu ei­ ner lebenden Person werden läßt - , Erinnerungen an seine Gespräche mit Scholem über die Theorie der Engel in der Kabbala und im Talmud (1927/ 28) oder über seine Baudelaire-Lektüren. Der Engel erscheint gegen Ende seines Essays über Karl Kraus (1931; GS II. 1, S. 334-367) und - als melancho­ lische, messianische Gestalt - in seinen Thesen von 1940: Mit Erschrecken blickt er, die Augen weit aufgerissen, auf die Geschichte und ihre Trümmer. (Vgl. ebenso die Evokation der Gestalt des Engels in dem autobiographi­ schen Text »Agesilaus Santander« von 1933; GS VI, S. 320-523.) Es besteht

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Die angesehene Universitätsstadt Heidelberg verband die Schönheit ihrer Lage am Neckarufer mit dem Ruf eines inten­ siven, liberal geprägten Geisteslebens. Die philosophischen und literarischen Anziehungspunkte waren Gestalten wie Max Weber, Heinrich Rickert und Stefan George. Benjamin richtete sich auf einen längeren Aufenthalt in der Stadt ein und ver­ suchte, im Hinblick auf eine Habilitation in Philosophie mit den dortigen universitären Kreisen Kontakte zu knüpfen. Er besuchte Franz Rosenzweig und nahm an den Vorlesung Gundolfs, Jaspers’ und Rickerts teil, die ihm jedoch wenig Ein­ druck machten.25 Trotzdem hatte er in Heidelberg das Gefühl, in ein wirkliches intellektuelles Milieu einzutreten. Die Leich­ tigkeit, mit der er sich in dieser Welt bewegte, erschien ihm als etwas Wundersames.26 Während seines Aufenthalts interes­ sierte er sich für den Kreis Stefan Georges, dem gegenüber er eine tiefe Ambivalenz empfand.27 Am 4. August 1921 kündigte natürlich keinerlei Beziehung zwischen der Bedeutung der Klccschcn En­ gel - oft sind es unvollständige und unvollkommene Geschöpfe, den Men­ schen seltsam nahe - und den gelehrten Kommentaren Scholcms über die Engel der Kabbala oder der sehr persönlichen Deutung, die Benjamin die­ sem Angelus Novus gab. Wie sehr sic beide für dieses kleine Aquarell emp­ fänglich waren, ist verblüffend. In seinem Testament von 1932 vermachte Benjamin das Bild Scholem. 1982 war es zeitweilig im Israel Museum in Je­ rusalem zum Gedächtnis an den Kabbala-Spezialisten ausgestellt. Seine Er­ ben haben es dem Museum vermacht. [Vom 30. Mai bis zum 4. Juni 2008 war das Bild für fünf Tage und fünf Nächte im Zentrum Paul Klee in Bern ausge­ stellt und zog 6000 Besucher an.] 25 Gundolf erscheint ihm »ungeheuer schwächlich und harmlos«, Jaspers »schwächlich und harmlos in seinem Denken, aber als Mensch [...] fast sympathisch« (Brief an Scholem vom 20. Juli 1921, ebd., S. 171), Rickert »grau und böse geworden« (Brief an Scholem vom 25. Juli 1921, ebd.,

S.>73)..

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26 »Meine Wege sind geebnet, und meinem Fuße sind die Pfade bereitet«, schreibt er am 4. August 1921 an Scholem (ebd., S. 176). 27 Seit 1914 mischten sich darin ebensoviel Feindseligkeit wie Faszination. Es gab zahlreiche Verbindungspunkte zwischen ihnen - die Bewunderung für Hölderlin und Baudelaire, aber auch Personen wie Friedrich Gundolf, der Wortführer des George-Kreises im Universitätsmilieu, oder Max Kommerell, der Georgeschüler, der aus der Jugendbewegung hervorgegangen

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er Scholem sein Kommen nach München an. Mit Bedauern verließ er Heidelberg und Jula Cohn, um wieder mit Dora in Breitenstein zusammenzutreffen. Mit Scholem wollte er sich über die Gründung einer literarischen Zeitschrift unterhalten, deren Leitung er übernehmen sollte: Angelus Novus. Das Scheitern des Angelus Novus und die Hoffnung a u f die Habilitation in Frankfurt Auch wenn der Versuch dieser Zeitschriftengründung - die niemals über das Projektstadium hinauskam - sich als als Fehl­ schlag erweisen sollte, war Benjamin mit ihrer Vorbereitung mehrere Monate lang beschäftigt.28 Im geistigen Klima der Weimarer Republik, das von einer Fülle von Zeitschriften ge­ prägt war, wollte er Angelus Novus auf »einen ganz engen ge­ sch lo ssen Kreis von Mitarbeitern«29 begrenzen. Der erste, bei dem Benjamin vorfühlte, war natürlich Scholem, dessen geteil­ te Reaktion - seine Vertiefung ins Judentum entfernte ihn im­ mer mehr von der deutschen Literatur - Benjamin und seine

war und dessen Essay Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik von Benjamin 1930 lobend besprochen wurde (»Wider ein Meisterwerk«, GS III, S. 252-259). 1928 erwähnte er den tiefen Eindruck, den ihm die bloße Er­ scheinung Stefan Georges auf einem seiner Spaziergänge im Heidelberger Schloßpark machte, als er nach langem Warten ihn Vorbeigehen sah (»Über Stefan George«, GS II.2, S. 622-624). Im übrigen stand Jula Cohn seinem Kreis nahe. 28 »Weißbach [hat mir] eine eigene Zeitschrift angeboren, nachdem ich die Redaktion der >Argonauten< zu übernehmen abgelehnt hatte« (Brief an Scholem vom 4. August 1921, G B II, S. 178). Der Heidelberger Verleger, der die Übertragung seiner Tableaux parisiens herausbrachte, sollte auch die nachgelassenenen Schriften Heinles veröffentlichen. Er hatte Benjamin angeboten, die Leitung der expressionistischen Zeitschrift von Ernst Blass zu übernehmen; Benjamin hatte abgelchnt. Den ersten Plan einer literarischen Zeitschrift hatte Benjamin in den Jahren seiner Freundschaft mit Heinle ge­ faßt. 29 Ebd.

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fast kindliche Freude30 über das Angebot Weißbachs zweifel­ los enttäuschen mußte. Im Herbst 1921 bemühte er sich, Bei­ träge für die erste Nummer zu sammeln, die im Januar erschei­ nen sollte. Die Briefe an Scholem, an Florens Christian Rang sowie der Ankündigungstext, den er verfaßte31, heben den esoterischen Charakter des Angelus Novus hervor, der an die Zeitschrift Athenäum der Brüder Schlegel anknüpfen sollte.32 Unnachgiebig beharrt er auf den festen Prinzipien der Zeit­ schrift33, ihrer Ferne von allem Bemühen um pädagogische Information und ihrer Ablehnung des Politischen und der herrschenden Ideen.34 Getreu dem Begriff der romantischen Kunstkritik, die sich vorgenommen hatte, »durch Versen­ kung« zur Erkenntnis der Werke zu gelangen, wolle sich Ange­ lus Novus »ebensosehr der Dichtung wie der Philosophie und Kritik [...] widmen«. Und indem er bestimmte Forderungen Karl Kraus’ und der Romantiker zusammenführt, skizziert Benjamin eine Reflexion über die Krise der Kritik, der Kultur und der Sprache, von der sich zahlreiche Elemente später in 30 Vgl. insbesondere den Brief an Scholem vom 6. August 1921: »Nun habe ich den Angelus an das erste Cafe am Platze geführt, wo er umgeben von den Entcntcdiplomaten Neckar [sic] und Ambrosia schlürft, den ich ihm vorge­ setzt habe« (ebd, S. 181). Scholem notiert in seinen Erinnerungen: »Mich setzten die Erwartungen, die Benjamin mit meiner Mitarbeit verband, in nicht geringe Verlegenheit. Ich konnte ihm ja nicht verhehlen, daß ich keine Berufung empfand, mich in einer [...] besonders sichtbaren Weise an einer deutschen Zeitschrift zu beteiligen, während mein Sinn nach ganz andern Dingen und Zielen stand« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 131). 31 »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus«, GS II.i, S. 241-246. 32 Angelus Novus habe »unter gänzlicher Nichtachtung des Publikums [...] sich an dasjenige zu halten, was als wahrhaft Aktuelles unter der un­ fruchtbaren Oberfläche jenes Neuen oder Neuesten sich gestaltet, dessen Ausbeutung sic den Zeitungen überlassen soll.« Ebd., S. 241 f. 33 »[...] so ist, dem kritischen Wort seine Gewalt zurückzugewinnen, dop­ pelt geboten.« Ebd., S. 242. 34 »Nur der Terror wird jener Nachäffung großen malerischen Schaffens Herr werden, die den literarischen Expressionismus ausmacht.« Ebd.

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seinem Zeitschriftenprojekt mit Brecht - Krisis und K ritik wiederfinden werden. Die publizierten Autoren, bekannte wie unbekannte, seien darum bemüht, »ein Feuer, das sie selbst nicht entfacht haben, zu hüten«.35 Die Übersetzungen, denen die Originale zur Seite gestellt werden sollten, werden dabei nach Kriterien beurteilt, in denen man die Thesen von Benja­ mins Essay über »Die Aufgabe des Übersetzers« wiederer­ kennt. Was die Aktualität einer solchen Behandlung angehe, so sei sie bestimmt von dem Willen, »die universale Geltung gei­ stiger Lebensäußerungen« ihren angemessenen Ort »in wer­ denden religiösen Ordnungen« finden zu lassen.36 Benjamin kündigt an, daß weder »spiritualistischefr] Okkultismus« noch »katholischefr] Expressionismus« in dieser Zeitschrift Platz finden werde, wenngleich sie sämtlichen Religionen wirkliche Bedeutung zuspreche. Weder bildende Kunst noch Wissen­ schaften würden behandelt. Nüchtern und streng, ziemlich elitär, ohne es einzugestehen - auch wenn Benjamin erklärt: »Goldene Früchte in silbernen Schalen wird man nicht erwar­ ten«37 - , wolle die Zeitschrift dank ihrer finanziellen Unabhän­ gigkeit38 nicht um die Gunst des Publikums buhlen; ihre Mit­ arbeiter sollten ausschließlich vom Herausgeber ausgewählt werden und keine Gemeinschaft bilden. Gewiß hatte Benjamin bei dem Projekt des Angelus Novus eine indirekte Kritik an Stefan Georges Zeitschrift Blätter fü r die Kunst im Sinn, doch übernahm er von ihr zugleich be­ stimmte Beschränkungen: die strenge Auswahl der Mitarbei­ ter - es handelte sich in der Tat ausschließlich um seine Freun­ de39 - , die Ablehnung von Moden, die Ferne von der Politik, 35 3 6 (Ebd., S. 244.) 37 (Ebd.) 38 Benjamin erwartete tausend Abonnenten, die gleichzeitig Mäzene sein sollten. 39 Außer Scholem waren folgende Autoren vorgesehen: Erich Unger, der Theologe Ferdinand Cohrs, Wolf Heinle, der Sprachwissenschaftler Ernst

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die theoretische Einheitlichkeit auf der Grundlage einer spezi­ fischen Wahrnehmungsweise, nämlich derjenigen des Heraus­ gebers, der Qualitätsanspruch. Die »Universalität« der zu be­ handelnden Fragen beschränkte sich einzig auf die Interessen Benjamins.40 Die Beteiligung Scholems und Agnons war ge­ sichert.41 Der Artikel Ernst Lewys über die Sprache Wil­ helms II. traf nie ein.42 Scholem hatte wenig Neigung zu einer Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Goldberg-Kreises.43 Die Beziehungen zwischen Benjamin und Bloch waren damals ziemlich angespannt, und er beteiligte sich nicht. Die Texte Rangs, mit christlicher Religiosität gründlich getränkt, waren kaum geeignet, Scholems Begeisterung zu wecken. Nach Ber­ lin zurückgekehrt, sah sich Benjamin einer dramatischen Situa­ tion gegenüber. Zu seiner materiellen Bedrängnis kam die Ver­ schlechterung seiner Beziehung zu seinem Vater und zu Dora. Sein Briefwechsel mit Scholem führt uns die depressiven Kri­ sen vor Augen, die ihn periodisch befielen. Unter diesen Be­ dingungen begann er seinen Essay über D ie W ablverwandtLewy, dessen Studie über den alten Goethe Benjamin bewunderte, Ernst Bloch und Florens Christian Rang, dessen Stil und dessen Christologie Ben­ jamin freilich nicht behagten. 40 Als Beiträge für das erste Heft waren geplant: Gedichte aus dem Nachlaß von Fritz Heinle, weitere von dessen Bruder Wolf, der Text von Rang über die »Historische Psychologie des Karnevals«, Schriften von Agnon und sein eigener Essay »Die Aufgabe des Übersetzers«. 41 Scholem sollte einen kritischen Text über den pseudorcligiösen und pscudorevolutionären Charakter des Prager Zionismus schreiben, Agnon kurze Novellen. 42 Scholem und Benjamin besuchten ihn vom 8. bis 10. September 1921. Diese Begegnung setzte der Freundschaft zwischen Lewy und Benjamin ein Ende. Die Gründe dafür sind ziemlich unklar. In seinen Erinnerungen (Scholem, Walter Benjamin -d ie Geschichte einer Freundschaft, S. 133-137) erwähnt Scholem nur die lebhafte. Antipathie, die Lewys Frau gegen Benja­ min zeigte. Bei seiner Rückkehr nach Berlin fand Benjamin eine ziemlich harsche Absage Lewys vor, sich an der Zeitschrift zu beteiligen. 43 Etwa mit Erich Unger. Scholem betrachtete Goldberg als schizophrene Persönlichkeit. Unger zögerte, an der Zeitschrift Benjamins mitzuarbeiten, da er die Feindschaft Scholems gegenüber seinem »Meister« kannte.

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schäften zu schreiben, in dem er seine Gedanken zu Goethe entwickeln wollte, den er aber auch als »Vorarbeit zu gewissen rein philosophischen Darlegungen«44 verstand. Während eines zweiten Aufenthalts in Heidelberg bemühte sich Benjamin, seine Kontakte mit Universitätskreisen im Hinblick auf eine Habilitation zu verstärken. Er nahm an verschiedenen Abendgesellschaften teil, hielt einen Vortrag bei Marianne Weber45 und knüpfte Verbindungen mit Karl Mann­ heim. Als er im Januar 1922 wieder nach Berlin zurückkehrte, meldete er Scholem die Fertigstellung seiner »Ankündigung« des Angelus N ovus und seines Essays über D ie W ahlverwandt­ schaften46, der eine wesentliche Etappe seines Werkes bildet: Man findet dort klar die Methodik zum Ausdruck gebracht, die er in seiner Trauerspiel-Studie benutzen wird, sowie sein Verständnis von Literaturkritik. Ebenso markiert diese Schrift die beginnende Distanzierung von den Bemühungen um eine kantianische Systematisierung; die Gattung »Essay« erhält dort jenen tiefen Sinn, den Lukäcs ihr in D ie Seele und die Formen zugesprochen hatte. Im April 1922 trafen sich Benjamin und Scholem in Berlin wieder. Die Kämpfe Benjamins mit seiner Familie, bei denen es um eine finanzielle Unterstützung für seine Habilitation ging, waren noch immer heftig, doch die Beziehung zu Dora festigte sich wieder nach der Auflösung der emotionalen Verwicklungen mit Ernst Schoen und Jula 44 Brief an Scholem vom 8. November 1921, ebd., S.208. Benjamin lebte unter so schwierigen Bedingungen, daß er außer diesem Essay zwischen November 1921 und Februar 1922 in Heidelberg nichts weiter schrieb. 45 Benjamin trug ein Expos£ über Lyrik vor, das zweifellos dem Vorwort zu seiner Ausgabe der Gedichte Fritz Heinles entnommen war. Scholem zu­ folge (Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 142) stieß er auf »völliges und betretenes Unverständnis«. Vgl. auch die Berliner Chro­ nik, GS VI, S.477. 46 Der Essay war Jula Cohn gewidmet. Bei seinem Erscheinen in Hof­ mannsthals Neuen Deutschen Beiträgen 1924-1925 wurde die Widmung ge­ tilgt, weil die Zeitschrift keine solchen gestattete.

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Cohn. Neue Bekanntschaften begannen eine wichtige Rolle in seinem Leben zu spielen: Franz Hessel und Lotte Wolff.47 Das Ende des Jahres 1922 war von zwei Mißerfolgen geprägt, die Benjamin tief treffen sollten. Am 1. Oktober kündigte er Scholem den »Abschied des Engels« an. Weißbach war infolge der Inflation gezwungen, den Satz der Zeitschrift einzu­ stellen.48 Der Verleger Paul Cassirer, der an dem Projekt in­ teressiert war, mußte nach einigen Monaten ebenfalls darauf verzichten.49 Benjamin sah keine baldige Möglichkeit mehr, 47 Lotte Wolff, Studentin der Medizin, interessiert an Graphologie und am Judentum, war von Benjamin tief beeindruckt. Sie hinterließ bemerkens­ werte literarische Porträts von ihm und Franz Hessel (Lotte Wolff, Innen­ welt und Außenwelt, S. 206ff.). Benjamin und Lotte Wolff arbeiteten ge­ meinsam an der Übersetzung von Baudelaire-Gedichten, die in Hessels Zeitschrift Vers und Prosa erschienen. Zwischen Lotte W olff-einer Freun­ din Doras - und Benjamin bestand eine sehr enge Beziehung. Er vertraute ihr gewisse Dinge über die Entstehung seines Wahlverwandtschaften-Essays sowie über den Selbstmord Hcinlcs an. Und er begleitete sic zu ihren Eltern nach Danzig, um diese zu überreden, ihr die Fortsetzung ihres Studi­ ums zu ermöglichen. Diese Vertraulichkeit zwischen Benjamin und Lotte Wolff hatte zweifellos etwas damit zu tun, daß sie Lesbierin war. Scholem bezeichnet sie schamhaft als »eine wenig attraktive, ausgesprochen männ­ lich wirkende« Frau (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 146). 48 (Vgl. GB II, S. 269.) 49 Der tägliche Kursverfall der Reichsmark zwang die Verleger dazu, den Druckern hohe Vorschüsse zu zahlen. Benjamin schien übrigens selbst nicht an die Langlebigkeit des Angelus Novus geglaubt zu haben, denn er be­ schloß seine Ankündigung der Zeitschrift mit den melancholischen Sätzen: »Hiermit ist das Ephemere dieser Zeitschrift berührt, das sie sich von Be­ ginn an bewußt hält. Denn es ist der gerechte Preis, den ihr Werben um die wahre Aktualität so fordert. Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel - neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen - ge­ schaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und ins Nichts zu vergehen. Daß der Zeitschrift solche Aktualität zufalle, die allein wahr ist, möge ihr Name bedeuten.« (»Ankündigung der Zeit­ schrift: Angelus Novus«, GS II. 1, S. 246.) In einem Brief an Florens Christian Rang vom 14. Oktober 1922 schrieb er: »[DJiese nicht geschriebne Zeit­ schrift könnte mir nicht wirklicher und nicht lieber sein, wenn sie vorläge« {GB II, S.279L).

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seinen Essay über D ie Wahlverwandtschaften erscheinen zu lassen. Daß die finanzielle Unterstützung seiner Eltern immer wieder in Frage stand50, verstärkte seinen Wunsch, an die Uni­ versität zu gehen, und er erwog, im November nach Heidel­ berg zurückzukehren. Der einzige Lichtblick in seinem Leben war damals die Intensivierung seiner Freundschaft mit Florens Christian Rang, wie ihre Briefe bezeugen, aus denen eine Wär­ me und ein vertraulicher Ton spricht, die bei Benjamin recht selten sind. Seine Einsamkeit wurde nur noch bitterer, als Wolf Heinle 1923 starb, Rang im Jahr darauf. Benjamins Anstrengungen zu Beginn des Jahres 1923, sich in »neuerefr] Germanistik« zu habilitieren51, stießen auf neue Schwierigkeiten, und er mußte darauf verzichten. Er dachte an die Universität Frankfurt, wo er den Privatdozenten am Sozio­ logischen Seminar Gottfried Salomon kannte, der ihm das Wohlwollen mehrerer seiner Kollegen - unter ihnen Franz Schultz - verschaffen konnte.52 Benjamin begab sich im De­ zember 1922 nach Frankfurt, um erste geeignete Schritte zu unternehmen. A uf der Flucht vor der Berliner Misere53 hielt er sich bei Doras Familie in Wien auf, außerstande, sich einer be­ deutenden Arbeit zu widmen, sieht man von seiner Einfüh­ 50 Der Vater Benjamins machte die Fortsetzung seiner Hilfe von seinem Eintritt ins Berufsleben abhängig. Er wollte, daß er in einer Bank arbeitete, was Benjamin ablehnte. Es folgte ein Bruch, und der Vater Doras kam nach Berlin, um als Vermittler zu fungieren (ebd., S. 277). Benjamin war bereit ohne sich große Illusionen zu machen -, eine Stellung als Bibliothekar oder Antiquar zu übernehmen. Die Proletarisierung der Intellektuellen, die über keine Unterstützung eines Verlages, einer Zeitschrift oder über eine Stelle an der Universität verfügten, nahm damals täglich dramatischere Dimensionen an: Erich Gutkind mußte, um zu überleben, Handelsvertreter werden - für Margarine. 51 Die Möglichkeiten einer Habilitation in Philosophie waren begrenzt. 52 In universitären Kreisen unbekannt, stieß Benjamin auf die Konkurrenz Karl Mannheims, der mit Lukäcs und Bloch befreundet war und von Alfred Weber unterstützt wurde. 5 3 E r war gezwungen, bei seinen Eltern zu wohnen.

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rung in die Schriften Fritz Heinles ab, deren Edition fraglich geworden war. Ohne finanzielle Mittel, von immer heftigeren depressiven Krisen erschüttert und aller Publikationsmöglich­ keiten beraubt, kehrte Benjamin nach einem weiteren Aufent­ halt im März 1923 in Frankfurt, wo er Rang besuchte, gegen Ende des Monats nach Berlin zurück und fand dort zu sei­ ner freudigen Überraschung die Erscheinungsanzeige seiner Tableaux parisiens vor. Einen großen Teil des Sommers und Herbstes verbrachte er mit Scholem, der seine Auswanderung nach Palästina betrieb, in Frankfurt, wo er zahlreiche neue Ver­ bindungen mit der Universität knüpfte.54 Die Aussichten auf eine Habilitation waren gering, und nach dem Urteil von Prof. Schultz war das Manuskript der Wahlverwandtschaften nicht ausreichend, um sie zu erlangen. Er solle eine substantiellere Untersuchung verfassen. Da erwog Benjamin, dem Barockdra­ ma eine Studie zu widmen. Entstehung der Trauerspiel-5f«tfre und Begegnung mit Asja Lacis Bereits in einem Brief vom 30. Juli 19 17 erwähnte Benjamin eine schöne alte Ausgabe der Werke von Andreas Gryphius, die er zum Geburtstag bekommen hatte.55 1916 verfaßte er sei­ ne beiden Essays »Trauerspiel und Tragödie« und »Die Bedeu­ tung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, in denen er ei­ nige seiner tiefsten Gedanken über die Sprache zum Ausdruck j 4 Scholem arbeitete an kabbalistischen Manuskripten und frequentierte Rosenzweigs Freies Jüdisches Lehrhaus. Benjamin stattete Agnon einen Be­ such ab, begegnete Erich Fromm, der sich dann Horkheimers Institut anschließen sollte, und lernte Fritz Sternberg kennen - den künftigen marxi­ stischen Mentor Brechts der sich damals bemühte, Marxismus und Zio­ nismus miteinander zu versöhnen. Er machte auch die Bekanntschaft Sieg­ fried Kracauers, der Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Zeitung war, und Adornos. j $ [Brief an Ernst Schoen vom 30. Juli 1917, GB I, S. 374.]

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brachte. Schon zu dieser Zeit hatten sich die ersten Elemente seiner Deutung herausgebildet.56 Bevor er sich mit dem Trauerspiel beschäftigte, hatte Ben­ jamin daran gedacht, seine Habilitationsarbeit dem Thema der Beziehungen zwischen Wort und Begriff zu widmen. Manche Elemente seines alten Projekts sind zweifellos in die Vor­ rede zu seiner Studie eingegangen. Erstmals erwähnt wird die »neue Arbeit« in einem Brief an Florens Christian Rang vom 23, März 1923.57 Während des ganzen Sommersemesters berei­ tete er seine Habilitation vor, besuchte die Seminare Gottfried Salomons - an denen auch Adorno teilnahm - und kehrte im August nach Berlin zurück, um mit der Niederschrift zu be­ ginnen.58 Ein weiterer Brief an Rang (vom 7. Oktober 1923) deutet die Hauptlinie der Argumentation an: Es geht um eine Gegenüberstellung von Trauerspiel und Tragödie, ausgehend von der Theorie der Allegorie. Über zwanzig Monate sollte er an dieser Studie arbeiten und dafür die gesamte Barockliteratur lesen, die in der Berliner Staatsbibliothek zugänglich war. Die Vorarbeiten mußte er unter ungünstigsten Bedingungen - fa­ miliärer59 und pekuniärer Natur - leisten. Da ihm das Erschei­ nen seines Essays über D ie Wahlverwandtschaften weiter am Herzen lag, hatte er Rang gebeten, den Text Hofmannsthal den Rang seit langen Jahren kannte - im Hinblick auf eine Ver­ öffentlichung in seiner Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge vor$6 Vgl. den Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 30. Oktober 1926, CB III, S.209.

57 (GBII,S.324.) j8 Am 28. September 1923 schreibt er an Rang: »Es handelt sich darum, eine Arbeit, deren Stoff refraktär und deren Gedankenentwicklung subtil ist, zu forcieren. Ich weiß noch nicht, ob es mir gelingt. A uf alle Fälle bin ich ent­ schlossen ein Manuscript anzufertigen, d. h. lieber mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden als mich selbst zurückzuziehen.« GB II, S. 351. J9 Seinem schwerkranken Vater mußte ein Bein amputiert werden. Der schwankende Gesundheitszustand Doras drohte sie um ihre Arbeit zu brin­ gen. Benjamin lebte allein in einem Zimmer. Sein Sohn wurde von seiner Mutter und seinen Großeltern mütterlicherseits erzogen.

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zulegen.60 Von der Lektüre der Arbeit beeindruckt61, erklärte sich Hofmannsthal bereit, ihm die Spalten seiner Zeitschrift zu öffnen.62 Auch wenn der Aufsatz damit nur sehr bescheide­ ne Verbreitung fand63, riß diese erste offizielle Anerkennung durch einen großen Schriftsteller seiner Zeit Benjamin vor­ übergehend aus seiner Schwermut. Bis zu Hofmannsthals Tod sollte er ihm höchsten Respekt erweisen.64 Außer der Freundschaft mit Hofmannsthal waren die Bezie­ hungen mit Florens Christian Rang auf philosophischer und politischer Ebene für Benjamin prägend. Obwohl Rang in re­ ligiösen Überzeugungen verwurzelt war, die Benjamin nicht teilte65, billigte er seine politischen Positionen und die The60 Hofmannsthals Zeitschrift war 1923 in eine Krise geraten, als ihr wich­ tigster Mitarbeiter Rudolf Borchardt wegen theoretischer Meinungsver­ schiedenheiten zu ihrem Herausgeber auf Abstand ging. Hofmannsthal hat­ te sich auf der Suche nach neuen Beiträgen an Rang gewandt, der im ersten Heft des Jahres 1923 den Kommentar zu einem Gedicht von Goethe veröf­ fentlicht hatte, der von Benjamin für den Angelus Novus abgelehnt worden war. Rang schlug Hofmannsthal vor, Benjamin nach dem Scheitern des An­ gelus Novus als Mitarbeiter aufzunehmen (Brief vom 3. Mai 1923, in: Hugo von Hofmannsthal und Florens Christian Rang, »Briefwechsel 1903-1924«, S.42jf.). 61 Brief an Rang vom 20. November 1923, ebd., S.440. 62 Vgl. den Brief Benjamins an Rang vom 26. November 1923, G B II, S. 376. Hofmannsthal weigerte sich ziemlich lange, direkt an Benjamin zu schrei­ ben, und wollte, daß Rang ihr Vermittler bleibe. 63 Hofmannsthals Zeitschrift reiht sich - mit ihrer Neigung zur Flucht aus der Gegenwart - in die Tradition des österreichischen Barock ein. Sie wand­ te sich an eine geistige Elite, die aus einem bestimmten recht konservativen sozialen Milieu hervorgegangen war. In Deutschland fand sie so gut wie kei­ ne Resonanz. Die Auflage betrug 1200 Exemplare. 64 Benjamin wollte die Unterstützung Hofmannsthals bei seinen Vorstö­ ßen gegenüber der Frankfurter Universität und in seinen Auseinanderset­ zungen mit der eigenen Familie nutzen. 6$ Rang, ein mystischer Protestant, der vom Judentum tief beeindruckt war, verkörperte für Benjamin ein gewisses Ideal des Deutschtums. Obwohl Rang älter und Benjamin von Natur aus distanziert war, zeigt ihre Korre­ spondenz eine überraschende Vertraulichkeit; Benjamin beteuert ihm seine Zuneigung und »Gefolgschaft« (Brief an Rang, 26. November 1923, GB II, S- 377)-

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sen, die er in seinem Essay Deutsche Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Belgien und Frank­ reich und zur Philosophie der Politik entwickelte.66 Rangs theologische Kenntnisse erlaubten es Benjamin, ihn um Auf­ klärung über religiöse Fragen im Zusammenhang mit dem Ba­ rockdrama zu bitten67, und Benjamin ließ sich von seiner sehr eigenwilligen Auffassung der griechischen Tragödie anregen.68 Während des ganzen Jahres 1923 arbeitete Benjamin trotz sei­ ner äußerst schwierigen materiellen Lage an seiner Habilita­ tionsschrift. Nachdem er seine bibliographischen Recherchen um Weihnachten beendet hatte, wollte er mit der Niederschrift seiner Untersuchung beginnen und blickte nun mit mehr Op­ timismus auf die Frankfurter Habilitation, auch wenn er unter einem wachsenden Gefühl von Einsamkeit litt.69 Mit Beginn des Jahres 1924 intensivierte er noch einmal seine Arbeit an der 66

Der 1924 in Leipzig erschienene Band [über die Frage der deutschen Kriegsreparationen] enthält Beiträge von Rang, Alphons Paquet, Ernst Mi­ chel, Martin Buber, Kurt Hildebrandt, Walter Benjamin, Theodor Spira und Otto Erdmann. Rangs Beitrag, der einzige wirklich substantielle, brachte den Gedanken ins Spiel, echte »Bauhütten« zu errichten, um die deutschen Zerstörungen zu »reparieren« und die Völker zu versöhnen. Benjamin lie­ ferte zu dem Band nur eine »Zuschrift« (Brief an Rang vom 23. November 1923, GB II, S. 373-375). Auch wenn er am Erfolg seiner Habilitation zwei­ felte, nahm ihn die Arbeit an seinem Trauerspiel-Buch vollends in Anspruch (Briefe an Rang vom 7. Oktober und vom 8. November 1923, ebd., S. 3 54 ff., 366 f.), und der maßgebliche Professor in der Habilitationsangelegenhcit, der für seine reaktionären Ansichten'bekannt war, mußte die Tendenz des von Rang veröffentlichten Bandes zweifellos mißbilligen (vgl. den Brief an Rang vom 26. November 1923, ebd., S.377). 67 Vgl. den Brief an Rang vom 18. November 1923 über die Beziehung zwi­ schen dem Protestantismus des siebzehnten Jahrhunderts und den mittel­ alterlichen Todesvorstellungen (ebd., S. 371). 68 Vgl. den Brief an Rang vom 20. Januar 1924. Rang faßte das Wesentliche seiner Konzeption in einer Tagebuchnotiz (»Agon und Theater«, ebd., S.4i6 f.) zusammen, die Benjamin aufnahm. »Und für die Frage des griechi­ schen Theaters bin und bleibe ich auf Dich allein angewiesen« (Brief an Rang, ca. 27. Januar 1924, ebd., S. 419). 69 E r traf sich damals nur mit Ernst Schoen und Ernst Bloch. (Vgl. den Brief an Scholem vom 5. Dezember 1923, ebd., S. 388.)

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Trauerspiel-Studie. Da abzusehen war, daß sich ihre Nieder­ schrift über eine längere Zeit hinziehen würde70 - Benjamin schob sie ständig vor sich her; noch im März hatte er nicht da­ mit begonnen und da er in Berlin keine günstigen Arbeitsbe­ dingungen finden konnte, dachte er daran, sie anhand seiner Exzerpte - über sechshundert Zitate - im Ausland auszuarbeiten.71 Der Brief an Scholem vom 5. März 1924 enthält das We­ sentliche dieses endgültigen Plans. Im Mai war er auf Capri72 und nahm an einem internationa­ len Philosophiekongreß teil, den die Universität Neapel zum siebenhundertsten Jahrestag ihres Bestehens organisiert hatte. Er blieb den Festlichkeiten sehr bald fern, besuchte erneut Pompeji und begann mit der Abfassung seiner Habilitations­ arbeit.73 Am 13. Juni erwähnte er in einem Brief an Scholem, er habe die Bekanntschaft einer »bolschewistischefn] Lettin aus Riga« gemacht, »die am Theater spielt und Regie führt« und unter den Gästen »am meisten bemerkenswert« sei.74 Es handelte sich um Asja Lacis75, die in seinem Leben und in sei­ 70 Sein Brief an Rang vom 9. Dezember 1923 (cbd., S. 292 ff.) zeigt, daß er seine Auffassungen, wie sie in der Erkenntnistheorctischen Vorrede dargclcgt werden, im wesentlichen bereits ausgearbeitet hatte. Er war sich des­ sen bewußt, auf welch schmaler Grundlage seine Arbeit ruhte, und hatte Schwierigkeiten, seine Materialien zu einem Ganzen zu fügen (Brief an Rang vom 10. Januar 1924, ebd., S.406). 71 Er hatte vor, im Anschluß an seine Trauerspiel-Studie »ein großes Bil­ derwerk« über die barocke Emblematik herauszugeben, »aus Gründen des Verdienstes« (Brief an Scholem vom 5. März 1924, ebd., S.433). 72 Capri wirkte damals auf viele Intellektuelle faszinierend. Die Häuser hoch über dem Meer hatten schon so berühmte Gäste wie Gorki, Lenin, Bodganow, Marinetti, Caspar Neher, Melchior Lechter und Brecht beher­ bergt. 73 Abgesehen von der Ruhe, die er auf Capri fand, konnte Benjamin dort billig leben. 74 G 5 I1, S.466. 75 Lange Zeit fast unbekannt, wurde Asja Lacis durch den von Hildegard Brenner - der Herausgeberin der Westberliner Zeitschrift alternative - her­ ausgegebenen Band Revolutionär im Beruf wiederentdeckt. Als Lacis, die man in einem sibirischen Lager verschollen glaubte, einen Brecht-Kongreß

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ner politischen Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen würde. E r sollte ihr Einbahnstraße widmen. Ein bloßer Zufall führte sie zusammen.76 Beeindruckt von ihrer Intelligenz und ihrer Schönheit, sah Benjamin sie regel­ mäßig auf Capri. Sie erzählte ihm von der Moskauer Avant­ garde, und er schilderte ihr seine Arbeit über das Barockdrama, seine Leidenschaft für die Literatur. Kein größerer Gegensatz schien denkbar als der zwischen dieser begeisterten und un-

in Ostberlin besuchte, gelang es Brenner, klandestine Gespräche mit ihr zu führen; aus den Tonbandaufzeichnungen, ergänzt durch Texte von Lacis selbst/entstand das Buch. Diese Rehabilitation Lacis’ gehört in den Rahmen der polemischen Auseinandersetzungen zwischen der Redaktion der alter­ native und Theodor W. Adorno um die Interpretation Benjamins. Scholem wie Adorno hegten aus unterschiedlichen Gründen gegenüber der balti­ schen Revolutionärin unverhohlene Abneigung. Scholem machte sie dafür verantwortlich, daß Benjamin den Plan aufgegeben hatte, nach Palästina auszuwandern, und warf ihr vor, ihn durch ihren verführerischen Einfluß zum Kommunismus »bekehrt« zu haben. Adorno, der wenig Sympathie für jene Art des »radikalen Kommunismus« hegte, den sie Benjamin nahebrach­ te, bemühte sich wie Scholem, die Bedeutung ihrer Beziehung hcrunterzuspielen. In seinen Erinnerungen diskreditiert Scholem diejenigen von Asja Lacis, indem er ihnen jede Exaktheit abspricht (wofür er außer einer einzi­ gen falschen Datierung keinen Beweis beibringt), und hält in seinem Vor­ wort zu Benjamins Moskauer Tagebuch ihre Beziehung für »unendlich pro­ blematisch«; es habe ihr jede überzeugende intellektuelle Substanz gefehlt (zu diesem Punkt vgl. das Vorwort von Philippe Ivernel zur französischen Übersetzung des Bandes von Asja Lacis) (»Asja Lacis (1891-1979) au theätre comme ä la ville«, in: Profession: R&volutionnaire). Adorno wiederum scheute sich nicht, in seiner Edition der Einbahnstraße von 1955 Benjamins Widmung zu unterdrücken: »Diese Straße heißt / Asja-Lacis-Straßc / nach der die sie / als Ingenieur / im Autor durchgebrochen hat« (wieder in: GS IV.i, S. 83). Er zog auch Benjamins Behauptung in Zweifel, nach der er sein Porträt der Stadt Neapel in Zusammenarbeit mit ihr geschrieben habe [Adorno, Über Walter Benjamin, S.68). Der Vergleich der Erinnerungen von Lacis über Neapel mit dem Text zeigt, daß einige Notizen zumindest von ihr vorgeschlagen worden waren. Ähnlich wurde sie, nach zehnjähriger Deportation in mehrere Arbeitslager in Kasachstan, von den DDR-Historikern aus der Geschichte des sowjetischen Theaters getilgt. 76 Er dolmetschte ihr bei einem Obst- und Gemüsehändler und war ihr beim Tragen ihrer Pakete behilflich.

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versöhnlichen Bolschewikin77 und diesem deklassierten bür­ gerlichen Intellektuellen, der ganz von klassischer Kultur durchdrungen war.78 Doch die Darstellung der Prinzipien ih­ res proletarischen Kindertheaters weckte Benjamins Begeiste­ rung.79 So verständnislos sie gegenüber seinen Forschungen zum Trauerspiel blieb80, beeindruckten ihn ihre Klugheit und ihre Sensibilität. Zusammen besuchten sie Neapel und Pom77 Asja Lacis, schon sehr früh überzeugte Bolschewistin, verband ihr gan­ zes Leben lang ihre politischen Überzeugungen mit ihrer künsderischen Praxis, die in ihrer Jugendzeit von den Inszenierungen Wsewolod Meyer­ holds und den futuristischen Stücken Majakowskis geprägt worden war. Ab 1918/1919 engagierte sie sich in Orel dafür, Kriegswaisen und verwahrloste Kinder, die häufig straffällig geworden waren, mit den Mitteln des Theaters zu resozialisieren. 1920-1922 leitete sie das Theaterstudio der Arbeiteruni­ versität Riga. Nachdem sic einen Paß erhalten hatte, ging sie 1922 nach Ber­ lin, um sich in den Methoden des Agitprop zu schulen und die Theatererfah­ rungen Max Reinhardts, Erwin Piscators sowie Brechts kcnncnzulcrnen, dem sic sich eng anschloß. Von 1928 bis 1930 war sie Referentin für Kulturund Schulfilm in der Filmabteilung der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Sic war die Lebensgefährtin des kommunistischen Regisseurs Bern­ hard Reich. Als Piscator 19 31-19 33 in der Sowjetunion die Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara von Anna Seghers verfilmte, übernahm sic die Regieassistenz. 1935 veröffentlichte sie ein wichtiges Buch über das revolutionäre Theater in Deutschland. Ihre Arbeit, im Schnittpunkt der auf Meyerhold zurückgehenden Theateravantgarde und des proletarischen Theaters, mußte in der Epoche der stalinistischen Unterdrückung doppelt verdächtig erscheinen. 78 »Mein erster Eindruck: Brillengläser, die wie kleine Scheinwerfer Licht werfen, dichtes dunkles Haar, schmale Nase, ungeschickte Hände - die Pa­ kete fielen ihm aus der Hand. Im ganzen - ein solider Intellektueller, einer von den Wohlhabenden«, heißt es in ihren Erinnerungen (Revolutionär im Beruf, S.46). 79 Asja Lacis’ Aktivitäten mußten ihn von ferne an seine Erfahrungen in der Jugendbewegung erinnern, und Benjamin interessierte sich leiden­ schaftlich für Probleme der Erziehung. Später schrieb er ein Programm für ihr proletarisches Kindertheater (GS II.2, S. 763-769). 80 So naiv die Frage war, die sie Benjamin stellte - welche Klassenintcressen bringt das Barockdrama zum Ausdruck ? - , erkannte Lacis rückblickend die Bedeutung der Allegorie im politischen Theater der zwanziger Jahre, insbe­ sondere bei Brecht. Für Benjamin ist das Neue bereits im Alten präsent: das ist der Sinn, den er der »Dialektik im Stillstand« in den Pariser Passagen gibt.

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peji.81 Und so berichtete Benjamin in einem Brief an Scholem vom 7. Juli 1924 von einer momentanen Unterbrechung seiner Arbeit infolge von Ereignissen, die er ihm nur mündlich mitteilen könne. Jedenfalls werde er künftig der »Aktualität eines radikalen Kommunismus« intensive Aufmerksamkeit schen­ ken. Und er wiederholte, er habe die Bekanntschaft einer »rus­ sischen Revolutionärin aus Riga« gemacht, »einer der hervor­ ragendsten Frauen, die ich kennen gelernt habe«.82 Benjamin blieb bis Oktober 1924 auf Capri83, wurde Zeuge eines Mussolini-Besuchs84 und begegnete Bloch, der auf einer Reise in den Orient war. Die Niederschrift seines TrauerspielBuches ging schleppend voran. Im September hatte er die Vor­ rede, die Kapitel über den König im Trauerspiel und die Ge­ genüberstellung von Trauerspiel und Tragödie abgeschlossen. Das dritte über die Allegorie hoffte er bis Weihnachten fertig­ zustellen. Seine Briefe an Scholem zeugen von dem wachsen­ den Interesse, das er dem Kommunismus entgegenbrachte, be­ sonders während seiner Lektüre von Lukäcs’ Geschichte und Klassenbewußtsein. Er fand darin weniger eine konkrete politi­ sche Perspektive - obgleich er für dessen Auffassung der Intelligenzija gewiß empfänglich war - als eine revolutionäre Er­ 81 Benjamin schlug ihr vor, gemeinsam einen Artikel über die Stadt zu schreiben. Er erschien am 19. August 1925 in der Frankfurter Zeitung (»Neapel«, GS IV. 1, S. 307-316). 82 GÄII, S.473. 83 Asja Lacis traf in Paris wieder mit Bernhard Reich zusammen und kehr­ te im Oktober nach Berlin zurück. Die Erinnerungen Reichs, Im Wettlattf mit der Zeit, erwähnen keine weiteren Begegnungen mit Benjamin, auch nicht seinen Aufenthalt in Moskau, im Gegensatz zu Besuchen von Fried­ rich Wolf, Brecht und Piscator. Über die Persönlichkeit Asjas, die er »Anna Lazis« nennt, bleibt er sehr zurückhaltend und verliert auch kein Wort über ihr Schicksal in der Stalinschen Epoche. 84 »Er sieht anders aus als der Herzensbrecher, den die Ansichtskarten zei­ gen: unlauter, träge und von einem Hochmut, als sei er mit ranzigem Öl reichlich gesalbt. Sein Körper ist plump und unartikuliert wie die Faust ei­ nes dicken Krämers.« Brief an Scholem vom 16. September 1924, GB II, S.480.

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kenntnistheorie, der es mit Hilfe des Praxisbegriffs gelang, die klassische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt zu überwinden.85 Nicht ohne Stolz kündigte er Scholem an, daß sein Text »Beschreibende Analysis des deutschen Verfalls«86 in Moskau in der Zeitschrift Rote Garde erscheinen solle. Daß dieses Interesse am Kommunismus - wie überhaupt seine Beziehung mit Asja Lacis - für die Abfassung seiner Trauer­ spiel-Studie eine erhebliche Störung bedeutete, ist kaum zu bezweifeln, und Scholem sieht in diesem Jahr 1924 eine »Spal­ tung« entstehen, die seiner Auffassung nach Benjamins künfti­ ges Werk prägen wird, auch wenn diese »Wendung« auf theo­ retischer Ebene erst um 1929 sichtbar werden sollte.87 Nach dem Besuch von Rom, Florenz, Ravenna, Assisi und Ferrara hatte er vor, nach Paris zu reisen88, um am 1. November wieder in Berlin zu sein, kehrte jedoch erst im Dezember dorthin zu8 j In demselben Brief schrieb er an Scholem: »[I]ch müßte mich täuschen, wenn nicht in der gegnerischen Auseinandersetzung mit den hegelschen Be­ griffen und Behauptungen der Dialektik gegen den Kommunismus die Fun­ damente meines Nihilismus sich manifestieren würden« (cbd., S.483). Dazu Scholem: »Für mich stellte der Marxismus in seiner kommunistischen Form die genaue Gegenposition zu den anarchistischen Überzeugungen dar, in denen Benjamin und ich bis dahin auf der politischen Ebene uns in Überein­ stimmung befunden hatten« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte ei­ ner Freundschaft, S. 15 5). 86 Der Text wurde unter dem Titel »Reise durch die deutsche Inflation« in die Einbahnstraße aufgenommen (GS IV. 1, S. 94-101). 87 Als Beispiel für diese »geistige Schizophrenie« führt Scholem die Tatsa­ che an, daß die Trauerspiel-Studie keinerlei Spur seiner neuen politischen Orientierung trägt. Man kann einwenden, daß die eigentliche Konzeption des Buches bereits vor seiner Begegnung mit Asja Lacis abgeschlossen war, daß das Thema sich kaum dazu eignete und daß Benjamin, der die politi­ schen Positionen des berichterstattenden Ordinarius in der Fakultät kannte, sich noch vor der leisesten politischen Andeutung gehütet hätte. Statt dessen zitiert er Carl Schmitt. 88 Über Genua und Marseille. Er machte in den Vatikanischen Museen und der Sixtinischen Kapelle Station. Seine Absicht, nach Paris zu fahren, war von dem Wunsch motiviert, Asja Lacis - mit der er mehrere Reisen in Italien unternommen hatte - dorthin zu begleiten.

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rück. Die Erinnerungen von As ja Lacis erwähnen ihre häufi­ gen Begegnungen in Berlin. Benjamin zeigte ihr die Stadt und ihre Kontraste89, stellte sie seinen Freunden vor und bat sie, ihn mit Brecht bekannt zu machen.90 Er weigerte sich zwar, der Kommunistischen Partei beizutreten, wozu sie ihn aufforder­ te, begleitete sie aber zu Veranstaltungen von Johannes R. Be­ chers Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Sein -wachsendes Interesse am Kommunismus war mit der Vollendung seiner Habilitationsarbeit kaum vereinbar. Trotz­ dem arbeitete er ab Dezember 1924 mit Eifer daran.91 Ihm war bewußt, daß sein Verhältnis zu literarischen Werken unter dem Eindruck seiner neuen politischen Überzeugungen zweifellos eine Entwicklung erfahren würde. Am 22. Dezember schrieb er an Scholem: Auch die kommunistischen Signale [...] waren zuerst Anzei­ chen einer Wendung, die in mir den Willen erweckt hat, die aktualen und politischen Momente in meinen Gedanken nicht wie bisher altfränkisch zu maskieren, sondern zu ent­ wickeln, und das, versuchsweise, extrem. Natürlich besagt das, die literarische Exegese der deutschen Dichtungen, in der es im besten Falle, wesentlich zu konservieren und das Echte gegen die expressionistischen Verfälschungen zu re­ staurieren gilt, tritt zurück. Solange ich nicht in der mir ge­ mäßen Haltung des Kommentators an Texte von ganz ande89 Sie werden auch nach Hamburg fahren und Streifzüge durch St. Pauli unternehmen. 90 »Die Zusammenkunft fand in der Pension von Voß [...], wo ich damals wohnte, statt. Brecht war sehr zurückhaltend, sie kamen später selten zu­ sammen.« Lacis, Revolutionär als Beruf S. 53. 91 Der Brief an Scholem vom 22. Dezember 1924 zeigt, daß er die Roh­ schrift des ersten Hauptteils abgeschlossen hatte und daß der endgültige Plan des Werkes nun feststand, auch wenn er fürchtete, es könnte als Zitatenmosaik erscheinen. Das Wesentliche seiner Arbeit war bereits niederge­ schrieben, als er von der Untersuchung von Ernst Panofsky und Fritz Saxl über die Melencholia I von Dürer Kenntnis erhielt (vgl. G B II, S. 509).

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rer Bedeutung und Totalität gelange, werde ich eine »Politik« aus mir herausspinnen. Und freilich hat sich dabei meine Überraschung über die Berührung mit einer extremen bol­ schewistischen Theorie an verschiednen Stellen erneuert.92 Im Februar 1925 war die Niederschrift des Trauerspiel-Buches nahezu beendet93, und Benjamin kündigte seine Abwendung vom Barock94 und seine Rückkehr zur Romantik, zur Politik und zum Hebräischen an. Während jenes Aufenthalts in Frank­ furt entstand - durch Vermittlung Ernst Schoens - der Plan, für den Rundfunk zu arbeiten.95 Obgleich sich die Kontakte mit Prof. Schultz nicht positiv entwickelten, schrieb er an Scholem: »Die Dinge liegen nicht ungünstig.«96 Wieder in Berlin, zeigte er sich pessimistischer und zeichnete ein bissiges Porträt des Mannes, von dem sein universitäres Schicksal abhing.97 Einige Proben seiner Arbeit, die Benjamin in Berlin vor einem Pu­ blikum von Freunden vorgetragen hatte, waren herzlich auf­ genommen worden. Doch Schultz zeigte sich, sosehr er Ben­ jamins Gelehrsamkeit bewunderte, kühl und pedantisch, of­ 92 Ebd., S. j i i . 93 Benjamin hatte seinen wertvollsten Gesprächspartner Florens Christian Rang verloren. Er erfuhr von seinem Tod während seines Italienaufenthalts. Ende Oktober/Anfang November 1924 schrieb er an Scholem: »Sein Geist war von Wahnsinn durchzogen wie ein Massiv von Schluchten. Aber durch die Moralität dieses Mannes gewann Wahnsinn keine Macht über ihn« (ebd., S. 500). 94 »Aber diese Arbeit ist für mich ein Schluß - keineswegs ein Anfang.« Brief an Scholem vom 19. Februar 1925, GB III, S. 15. 9 j Ernst Schoen war Programmreferent beim Frankfurter Rundfunk. 96 Ebd. 97 »Dieser Professor Schultz, der wissenschaftlich wenig bedeutet, ist ein gewiegter Weltmann, der wahrscheinlich in manchen literarischen Dingen eine bessere Nase hat als junge Catehaus-Besucher. Aber mit dieser Affiche seiner intellektuellen Talmi-kultur ist auch bereits erschöpfend über ihn ge­ handelt. In jeder andern Hinsicht ist er mittelmäßig und was an diplomati­ schem Geschick ihm eignet, wird durch eine Hasenfüßigkeit paralysiert, die sich in korrekten Formalismus kleidet. Über die Aufnahme meiner Arbeit weiß ich noch nichts oder besser gesagt, noch nichts Gutes.« Brief an Scho­ lem vom 6. April 1925, ebd., S. 2 j.

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fenbar abgestoßen von der Hermetik der Vorrede. Während er Benjamin zunächst vorgeschlagen hatte, um seine Habilitation in Literaturgeschichte nachzusuchen, legte er ihm nun nahe, sie eher im Fach Ästhetik zu beantragen, für das er nicht zuständig war.98 Von neuen Reisen träumend, eine neue Zeitschrift pla­ nend, ahnte Benjamin noch nicht, daß seine Habilitationsarbeit auf kategorische und schroffe Ablehnung stoßen sollte.

2. D as Scheitern der Habilitation und seine Folgen D er Zusammenbruch aller Hoffnungen a u f eine Universitätslaufbahn Hans Cornelius übernahm die Rolle als Gutachter für die Ha­ bilitation Benjamins nur widerstrebend. Er stieß sich wie Franz Schultz an der »Dornenhecke« der Erkenntniskritischen Vorrede und beklagte sich über die Dunkelheit des Textes. Nachdem er den Autor gebeten hatte, den kunstwissenschaft­ lichen Ertrag seiner Forschung in einem Expose zusammenfas­ send darzulegen, konnte das Resultat seinen negativen Ein­ druck nur bestätigen. In dem Gutachten vom 7. Juli 1925, das er an die Fakultät richtete, sparte er nicht mit Kritik.99 Er er­ klärte sich für »nicht im Stande, den Sinn der Arbeit wiederzu­ geben«, vermochte gewiß »eine Fülle interessanten histori­ schen Materials«, das »mit großem Fleiss zusammengetragen« worden sei, nicht jedoch eine präzise kunstwissenschaftliche Leistung zu erkennen. Die Vorrede erschien ihm ohne ver­ 98 Ästhetik fiel in die Kompetenz des Ordinarius für Philosophie Hans Cornelius, dessen Lehrstuhl später Max Schclcr und Paul Tillich innehaben sollten. 99 Sämtliche Dokumente aus Benjamins Habilitationsakte wurden von Burkhardt Lindner in dem von ihm herausgegebenen Band Walter Benja­ min im Kontext (*1985, S. 324-341) veröffendicht.

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ständlichen Sinn. Auch das Expose, das er von Benjamin ver­ langt hatte100, war ihm nicht verständlicher als die Arbeit selbst. Um aus dieser Verlegenheit herauszukommen, sandte Cornelius dieses Expose an Adhemar Gelb und Max Horkheimer101, die es ebenso negativ beurteilten. Cornelius konnte daher die Arbeit Benjamins der Fakultät nicht zur Annahme empfehlen.102 A uf ihrer Sitzung vom 13. Juli 1925 beschloß die Fakultät, ihm den Verzicht auf sein Habilitationsgesuch nahe­ zulegen; falls er diesem Wink nicht Folge leiste, müsse er mit dessen Ablehnung rechnen. Dieser Beschluß wurde Benjamin in einem Brief von Franz Schultz vom 27. Juli 1925 mitgeteilt. Benjamin fügte sich.103 100 [GS 1.3,8.950-952.] 101 Auf die entsprechende Frage eines der Herausgeber von Benjamins Ge­ sammelten Schriften antwortete Horkheimer in den sechziger Jahren, er habe das Expose nicht unverständlich gefunden, jedoch darin eine Frechheit gesehen, mit der Benjamin sich alle seine Chancen bei Cornelius verbaut habe [GS VI, S.772]. Das Urteil Horkheimers war damals nicht von Ge­ wicht. Wie Burkhardt Lindner zeigt, hätte Adornos erste Habilitation zwei Jahre später fast das gleiche Schicksal erfahren wie diejenige Benjamins. Sei­ ne erst postum veröffentlichte Arbeit Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre beurteilte Cornelius als ungenügend und hielt cs für besser, wenn Adorno sie zurückzöge. Adorno erhielt die venia legendi 1930, nachdem Cornelius emeritiert war, mit seiner Kierkegaard-Arbeit. 102 Auch wenn ihm der Verfasser als »einsichtig und geistreich« bekannt sei, halte er dessen »unverständliche Ausdrucksweise« für das »Zeichen sachlicher Unklarheit«, weshalb er »den Studirenden kein Führer auf die­ sem Gebiet sein« könne (zitiert nach: Walter Benjamin im Kontext, S.333). 103 Unter welchen genauen Umständen er dies tat, ist nicht bekannt. Ben­ jamin war von Gottfried Salomon benachrichtigt worden, daß man ihm ra­ ten werde, sein Gesuch zurückzuziehen, um die offizielle Ablehnung zu vermeiden. Dieselbe Auskunft erhielt er von dem Romanisten Mathias Friedwagner, einem Freund seines Schwiegervaters. In seinem Brief vom 21. Juli an Scholcm erklärte Benjamin noch, er sei »willens [...], der Fakultät das ganze Risiko einer negativen Entscheidung zu überlassen« (GR III, S. 59 f.). Es scheint sich nicht um Böswilligkeit von seiten Cornelius’ und Schultz’ gehandelt zu haben, auch wenn Benjamin dessen Haltung als »höchst illoyal« einschätzte [ebd., S. 59]. Es spielt auch kein politisches Mo­ tiv hinein, obschon Werner Fuld die Beteiligung von Schultz an der Frank­ furter Bücherverbrennung von 1933 behauptet [Fuld, Walter Benjamin.

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So kläglich die Haltung von Schultz war - er stand immerhin am Ausgangspunkt dieses Habilitationsvorhabens - und so­ wenig das Verhalten der Universität Frankfurt ihr zur Ehre ge­ reicht, sind die objektiven Gründe dieser Ablehnung dennoch nachvollziehbar. Der Essay Benjamins stand in diametralem Gegensatz zu einer klassischen Habilitationsarbeit. Die Vorre­ de bildete unbestreitbar ein Hindernis.104 Die Arbeit fügte sich keiner bestimmten Disziplin ein, daher die Unschlüssigkeit der Universität, ob sie der Germanistik oder der Kunstgeschichte (der das Fach Ästhetik untergeordnet war) zuzuordnen sei. Während er sich den Riten der Institution unterwarf, lehnte Benjamin deren Gesetze ab. Den Methoden der Germanistik und ihrer bleiernen Gelehrsamkeit stand er feindselig gegen­ über. Das Wesentliche seiner Interpretation war für jemanden, der seine früheren Schriften nicht kannte, kaum verständlich.105 Zwischen den Stühlen. Eine Biographie, S. 161]. Schultz, ein Germanist ohne Format, der Arbeiten über Goethe verfaßt hatte, war im Positivismus der universitären Literaturkritik befangen. Mit der Ablehnung der Habilitation im Fach Germanistik verurteilte er Benjamins Unternehmen zum Scheitern. Scholem berichtet von Gesprächen mit Gottfried Salomon, der sich aktiv für Benjamin eingesetzt hatte und der ihm bestätigte, daß Schultz und Cor­ nelius ihm erklärt hätten, sie verstünden von Benjamins Arbeit kein Wort. 104 Scholem erwähnt in seinen Erinnerungen die Widmung, die sein Exem­ plar trug: »Gerhard Scholem in die ultima Thule seiner kabbalistischen Bi­ bliothek gestiftet«: Wollte Benjamin damit hervorheben, daß seine Vorrede der Sprachtheorie der Kabbala verpflichtet war, oder wollte er ihre Unver­ ständlichkeit damit eingestehen ? Scholem räumt ein, daß nur wenige Seiten in Benjamins Schriften diesen Vorwurf eher verdienten als diese Vorrede (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 15 8). 105 Dies sind übrigens die einzigen theoretischen Texte, auf die er sich bei seiner Interpretation ausdrücklich bezieht. Seine Konzeption der Literatur­ kritik und der Rettung durch die Allegorie setzt die Kenntnis des ersten Teils des Wahlverwandtschaften-Essays, seiner Philosophie der Sprache und der Beziehung, die er zwischen dem Verlust der adamitischen Namenge­ bung und der Traurigkeit der Natur herstellt, voraus. Auch wenn er gegen bestimmte ästhetische Theorien polemisierte, blieb sein Verfahren doch ein zutiefst philosophisches, wie die von Hermann Cohen inspirierte Unter­ scheidung zwischen »Ursprung« und »Entstehung« zeigt, aber auch der an­ gestrebte Nachweis, daß die Kategorie des Ursprungs keine rein logische,

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Diese demütigende106 und materiell verheerende Niederlage raubte ihm jede Hoffnung auf eine universitäre Laufbahn107 und fiel mit der zunehmenden Verschlechterung seiner Le­ bensumstände zusammen.108 Dank einer Empfehlung H of­ mannsthals trat Rilke zu seinen Gunsten von der Übersetzung des Poems Anabase von Saint-John Perse zurück.109 Doch nichts erlaubte es ihm, aus jener Situation herauszukommen, sondern eine historische sei. (Vgl. Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS

I.i, S. 226). 106 Auch wenn seine Arbeit die Anerkennung des Germanisten Walter Brecht und die Hofmannsthals gefunden hatte, war die Entscheidung, sein Habilitationsgesuch zurückzuziehen, ganz sicher schmerzlich. Benjamin nahm postume Revanche, als seine Arbeit dreißig Jahre später mit einer neu­ en Variante des Märchens vom Dornröschen erschien. Hinter seiner Dor­ nenhecke schlafend, wird es nicht vom Kuß des Prinzen, sondern von der schallenden Ohrfeige geweckt, die der Koch dem Küchenjungen gab. »Ein schönes Kind schläft hinter der dornigen Hecke der folgenden Seiten. Daß nur kein Glücksprinz im blendenden Rüstzeug der Wissenschaft ihm nahe kommt. Denn im bräutlichen Kuß wird es zubeißen. Vielmehr hat sich der Autor, es zu wecken, als Küchenmeister selber Vorbehalten. Zu lange ist schon die Ohrfeige fällig, die schallend durch die Hallen der Wissenschaft gellen soll. Dann wird auch diese arme Wahrheit erwachen, die am altmodi­ schen Spinnrocken sich gestochen hat, als sie, verbotnerweise, in der Rum­ pelkammer einen Professorentalar sich zu weben gedachte.« GS I.3, S.902. 107 Doch hat er selbst an diese Möglichkeit geglaubt? Am 20.-2j. Mai 1925 schrieb er an Scholem: »Die eigentliche Universitätskarriere einzuschlagen, liegt mir ferner und ferner, aus tausend Gründen.« Als Privatdozent hätte Benjamin eine monatliche »Beihilfe« von 180 Mark erhalten (G B III, S. 36 f.). Vgl. auch den Brief an Hofmannsthal vom 2. August 1925, in dem er an sei­ ner Bestimmung für die Universität Zweifel äußert (ebd., S. 70). Für den Fall des Erfolgs seiner Habilitation erwog er, sich sofort beurlauben zu lassen. 108 Benjamin hatte keine festen Einkünfte und war stets von seinen Eltern abhängig. Der Verleger Littauer, mit dem er verschiedene Pläne entworfen und der ihm bereits Vorschüsse gezahlt hatte, ging bankrott. Ab August sollte er in der von Willy Haas geleiteten Literarischen Welt eine regelmäßige Chronik über französische Literatur und Ästhetik schreiben. 109 Vgl. den Brief Benjamins an Rilke vom 3. Juli 1925, ebd., S. 5 5 f. Der Text wurde in Zusammenarbeit mit Bernard Groethuysen übersetzt. Hof­ mannsthal verfaßte ein Vorwort dazu. Die Veröffentlichung kam jedoch nicht zustande. Erst 1950 erschien eine deutsche Übersetzung [vgl. GS Suppl. I, S. 57-81 und den Kommentar des Herausgebers, S. 447-4 5 3].

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die er als »tiefbetrübliche Kollision literarischer und ökonomi­ scher Vorhaben« beschrieb.1101 Schon in der Phase der Unge­ wißheit über das Schicksal seines Habilitationsgesuchs kün­ digte er Scholem an, er wolle »mit der Aussicht in absehbarer Zeit mindestens vorübergehend nach Moskau zu kommen - in die Partei eintreten«.111 Der Horizont seiner Arbeit hatte sich sehr verändert, was einen »ungeheuerlichefn] Konflikt [seiner] Kräfte« zur Folge hatte. Für die nächste Zeit erwog er eine Stu­ die über die Schönheit von Märchen, bereitete eine Anthologie deutscher Sagen und Volksmärchen vor, bei deren theoreti­ scher Interpretation er »vom sprachlichen Wesen der Sage« ausgehen wollte.112 Von der Übersetzung von Prousts Sodome et Gom orrhe, die er gerade vertraglich vereinbart hatte, ver­ sprach er sich »ein festes Akkreditiv als Übersetzer [...], wie es etwa Stefan Zweig hat«.113 Gleichzeitig wuchs sein Interesse am Surrealismus. Schon vor dem negativen Ausgang des Habi­ litationsvorhabens dachte er daran, mit einem Frachtdampfer von Hamburg aus über Spanien und Italien nach Sizilien zu fahren. Zwischen Reisen und Büchern Nach dem Mißerfolg in Frankfurt widmete sich Benjamin neu­ en Plänen. Der Rowohlt Verlag, wo Franz Hessel als Lektor tätig war, hatte seine Habilitationsarbeit über das Trauerspiel zur Veröffentlichung angenommen und ihm eine Mitarbeit an der Weltbühne zugesichert.114 Er setzte die Arbeit an seiner

110 (Brief an Scholem, 20.-25. Mai 1925, CB III, S. 38.) 1 1 1 Ebd., S. 39. 1 1 2 Brief an Scholem vom 21. Juli 1925, ebd., S.62. 1 1 3 Ebd. 1 1 4 Ernst Rowohlt verlegte Franz Hessels Zeitschrift Vers und Prosa bis 1924. A b 1926 sollte Benjamin ein monatliches Entgelt erhalten. Zwei Bände mit Proust-Übersetzungen erschienen bei Rowohlt.

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Proust-Übersetzung fort, und Hofmannsthal, der in den Frankfurter Querelen für ihn Partei ergriffen hatte, lud ihn ein, in seiner Zeitschrift zu publizieren. So waren die zehn Jahre, die ihn noch vom Exil trennten, von der Intensivierung seiner literaturkritischen Arbeit geprägt: Über dreihundert Artikel waren es, die er zwischen 1 9 2 3 und 1 9 3 3 in der Weltbühne, der Frankfurter Zeitung und im Querschnitt veröffentlichte. Rei­ sen und Begegnungen mit Städten sollten in seinem Werk eine immer wichtigere Rolle einnehmen.115 Von Hamburg aus brach er nach Spanien auf, besuchte Cordoba, Sevilla, Barcelo­ na, begab sich dann nach Neapel, Genua und Livorno, hatte vor, auf der Rückfahrt nach Paris über Marseille zu fahren, ein paar Tage nach Capri zurückzukehren und dann in Riga Asja Lacis wiederzutreffen. Er besuchte sie dort im November 19 2 5 und war bezaubert von der Stadt, von der er in Einbahnstraße mehrere Porträts zeichnet.116 Lacis war von diesem unverhoff­ ten Besuch nicht entzückt.117 Benjamin kehrte im Dezember 1 9 2 5 nach Deutschland zurück und traf dort Jula Cohn wie­ der118, die inzwischen Fritz Radt geheiratet hatte, den Bruder seiner ehemaligen Verlobten. In den Monaten, die er in Berlin verbrachte, interessierte er sich für die Schriften Bachofens und 11 5 Oft sind es genaue Beobachtungen von Städten, aus denen seine Denk­ bilder entstehen, die er später dann in seinen theoretischeren Texten umarbeitetc. Seine Reisen lieferten ihm auch den Stoff für mehrere seiner Erzäh­ lungen; vgl. die Abteilung »Geschichten und Novellistisches« in GS IV.2, S. 721-787 (und »Denkbilder«, GS IV. 1,8.305-438). 116 Vgl. insbesondere die Beschreibung des Hafens und des Marktes von Riga (Einbahnstraße, »Spielwaren«, GS IV. 1, S. 128 f.). 117 »Er liebte zu überraschen, aber diesmal gefiel mir seine Überraschung nicht. Er kam von einem anderen Planeten - ich hatte keine Zeit für ihn.« Asja Lacis, Revolutionär im Beruf, S. 56 f. 118 Anfang 1926 schuf sic seine - heute verschollene - Büste (Abbildung in Walter Benjamin 1892-1940. Marbacher Magazin, Nr. 55, 1990, S. 162,163). Die Photographie dieser Skulptur wurde von Sasha Stone aufgenommen vgl. Brief an Jula Radt vom 26. Dezember 1926, G B III, S. 223 - , von dem üb­ rigens die Photomontage stammt, die den Umschlag der Einbahnstraße schmückt).

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das Problem des M ythos119, arbeitete dabei kontinuierlich an seiner Proust-Übertragung weiter und hatte vor, seine Gedan­ ken dazu unter dem Titel »Beim Übersetzen Marcel Prousts« zu versammeln. Ende März 1926 fuhr er wieder nach Paris, um dort Franz Hessel zu treffen. Dieser Aufenthalt war von größ­ ter Bedeutung für seine weitere Entwicklung. Seit seiner Jugend liebte er Paris und begeisterte sich für die französische Kultur. In Begleitung Thankmar von Münchhau­ sens, eines Freundes von Hofmannsthal, entdeckte Benjamin die literarischen Zirkel und war stolz darauf, in die Pariser Salons eingeladen zu werden.120 Er kaufte Bücher, besuchte Theater, die surrealistischen Soireen auf dem Montmartre, Jahrmärkte und Flohmärkte121, das H otel des Ventes122 und nahm Stunden in französischer Konversation bei einem Stu­ denten. Außer Hessel traf er Bloch123 und Valeska Gert, be­ mühte sich jedoch nicht, Karl Kraus kennenzulernen, der sich ebenfalls in Paris aufhielt.

119 Brief an Scholem vom 14. Januar 1926, ebd., S. 110. 120 Münchhausen »hat [...] mich beim Grafen Pourtalfcs eingeführt, wo ich in vierzehn Tagen einen französischen Vortrag über M. Stefan George zu hören bekommen soll. Ein Salon mit kostbaren Möbeln, von vereinzelten Damen und Herren garniert, die den heillosesten Physiognomien ähneln, denen man nur bei Proust begegnen kann. [...] Dann war ich neulich zu ei­ nem Frühstück, welches in einem der allerersten Pariser Restaurants die Fürstin Bassiano für 7 Personen, unter denen ich und Münchhausen waren, gegeben hat. Es begann mit riesenhaften Kaviarportionen und ging in dieser A rt weiter.« Brief an Jula Radt vom 8. April 1926, ebd., S. 138. 1 2 1 »Drei wundervoll Glaskugeln, in denen dichter Schnee fällt, habe ich auf der foire aux jambons et aux ferrailles (Schinken- und Alteisenmarkt) gekauft und diese Woche gehe ich irgendwann auf die foire aux painsd’epice (Pfefferkuchen-Markt).« Ebd., S. 139. 122 [»das ist das große städtische Pariser Auktionshaus - ein Institut, zu dem es kein Gegenstück in Berlin gibt«; Brief an Jula Radt vom 30. April 1926, ebd., S. 151.] 123 Vgl. denselben Brief an Jula Radt (ebd., S. 152), wo er auf »[d]ie ange­ nehme Gegenwart von Franz Hessel und die problematische von Ernst Bloch« hinweist.

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Während er Artikel für die Literarische Welt verfaßte?24, machte sich Benjamin gleichzeitig mit den Klassikern des Mar­ xismus vertraut; Bernhard Reich hatte ihm den Auftrag für ei­ nen Artikel über Goethe für die Große Sowjetenzyklopädie verschafft. Asja Lacis machte damals depressive Krisen durch. Er beschloß, ihr die Einbahnstraße zu widmen, die 1926 abge­ schlossen war und 1928 bei Rowohlt erschien. Nach einem Aufenthalt im Süden Frankreichs124 125 mit Jula Cohn, in die er immer noch verliebt war, kehrte er im Oktober 1926 nach Berlin zurück126 und widmete sich der Abfassung seines Goe­ the-Artikels. Die Briefe an Scholem zeigen, daß sich seine marxistische Orientierung festigte und daß er die Möglich­ keit, der Kommunistischen Partei beizutreten, immer weniger ausschloß.127 Gleichzeitig sprach er vom »Unzutreffenden der materialistischen Metaphysik oder, meinetwegen, auch der ma­ terialistischen Geschichtsauffassung«.128 Bis Ende des Jahres 1926 wollte Benjamin in Berlin bleiben. Die Verschlimmerung des Zustands von Asja Lacis, die ihm über Bernhard Reich mitteilen ließ, daß sie ihn gern sähe, brach­ 124 Er schrieb insbesondere eine Rezension des Buches Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol von Carl Albrecht Bernoulli [GS III, S.4345], einen sehr kritischen Text über Fritz von Unruhs Flügel der Nike [»Friedenswarc«, ebd., S. 23-28] sowie eine Eloge auf Hofmannsthals Turm [ebd., S. 29-33]. Außerdem hatte er vor, einige Seiten von Agnon für die Zeitschrift Commerce zu übersetzen. 12 j Er reiste nach Marseille und Aix-en-Provence. Die Cahiers du Sud hat­ ten die Notizen über seine Proust-Übersetzung zur Veröffentlichung ange­ nommen. Während seines Aufenthalts in Frankreich begann er eine Studie über Gottfried Keller, die am 5. August 1927 in der Literarischen Welt er­ schien [GS II. 1, S. 283-295]. Er knüpfte auch eine Reihe neuer Beziehungen und machte die Bekanntschaft Jean Giraudoux’. 1 z6 Sein Vater war im Juli gestorben. 127 »Immer radikal, niemals konsequent in den wichtigsten Dingen zu ver­ fahren, wäre auch meine Gesinnung, wenn eines Tages ich der kommunisti­ schen Partei beitreten sollte [...].« Brief an Scholem vom 26. Mai 1926, GB III, S. 159128 {Ebd.}

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te ihn zu dem Entschluß, nach Moskau zu reisen.129 Trotz aller Schwierigkeiten erhielt er sein Visum und hielt sich vom 6. De­ zember 1926 bis zum 1. Februar 1927 dort auf.130 Das Moskauer Tagebuch (Dezember 1926 bis Februar 1927) In diesem Tagebuch, das nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, spricht Benjamin mit erstaunlicher Offenheit von sich selbst.131 Als Konfrontation mit der sowjetischen Realität zu Beginn der stalinistischen Ära - zu einer Zeit, in der sich seine marxistischen Überzeugungen festigten - ist dies ein entschei­ dendes Dokument zum Verständnis seinerweiteren politischen Entwicklung. Benjamin schildert darin seine widersprüch­ lichen Eindrücke und die Diskussionen, die das kulturelle Le­ ben beherrschten. Das Moskauer Tagebuch gestattet es uns, an­ hand vielfältiger Aufzeichnungen über das Befremdliche der Stadt den Prozeß zu verfolgen, der - von konkreten Beobach­ tungen ausgehend - zur Entstehung jener »Denkbilder« führt, die sich in der Einbahnstraße und in dem Moskau-Bericht, den er in der Zeitschrift Martin Bubers veröffentlichen wird, wie­ derfinden. Mehrere Motive trieben Benjamin zu der Reise nach Mos­ kau. Seine bewegte Beziehung mit Asja Lacis, die damals in ei­ nem Sanatorium lag, war das offenkundigste.132 Daß er davon 129 Er hatte schon 1925 erwogen, dorthin überzusiedcln. 130 Es gelang ihm, seine Reise durch Vorschüsse für verschiedene Arbeiten zu finanzieren. Sein Reisebericht sollte in Bubers Zeitschrift Die Kreatur er­ scheinen [»Moskau«, GS IV. 1, S. 316-348]. 131 Vor allem über seine Beziehungen mit Asja Lacis. Scholem betont, man finde im Werk Benjamins kein zweites Dokument, das derart persönlich ge­ halten sei. 132 In ihren Erinnerungen schreibt sie nur: »Im September bekam ich einen Nervenzusammenbruch und mußte ins Hospital. Reich verständigte Benja­ min davon, daß ich gefährlich krank sei. [...] Als er in Moskau cintraf, be­ fand ich mich schon in der Rekonvaleszenz im Sanatorium Rott, das in der Nähe der Gorkistraße liegt.« Lacis, Revolutionär im Beruf, S. 58.

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träumte, Moskau zu entdecken, genährt von einer großen Neugier auf die sowjetische Realität und das sowjetische Kul­ turleben, aber auch von der Hoffnung, mit einigen ihrer Ver­ treter Beziehungen zu knüpfen, ist wahrscheinlich.133 Schwe­ rer fällt es zu sagen, welche Bilanz er aus seinem Aufenthalt zog, sowohl auf politischer Ebene wie auf der seiner Beziehung zu Asja Lacis.134 Bei seiner Ankunft in Moskau am 6. Dezember wurde Ben­ jamin von Bernhard Reich abgeholt, der ihn mit den Debatten über das künstlerische Leben vertraut machte135, insbesondere 133 So schrieb er am 26. Dezember 1926 aus Moskau an Jula Radt: »Ver­ schiedene Umstände machen es wahrscheinlich, daß ich von jetzt ab aus dem Ausland ausführlichere Artikel an russische Zeitschriften geben werde und möglicherweise werde ich auch in größerem Umfang an der »Enzyklo­ pädie« arbeiten. Es ist sehr viel zu tun und in gcistcswisscnschafdichcn An­ gelegenheiten haben die Leute hier einen unvorstellbaren Mangel an sach­ verständigen Mitarbeitern« (GB III, S.222). 134 Bei der Schilderung von Benjamins Aufenthalt zeigt sich Lacis sehr wortkarg: »Benjamin kam jeden Tag, geduldig spielte er mit mir Domino. [...] Benjamin war verhältnismäßig ruhig, mit Begeisterung beschrieb er die wundervolle Basilius-Kathedrale. Er hatte den guten Willen, sich in das un­ gewöhnliche Milieu einzulcbcn und es zu verstehen. Manches gefiel ihm, manches befremdete ihn, manches machte ihn nachdenklich« (Lacis, Revo­ lutionär im Beruf\ S. j8). Das Moskauer Tagebuch zeigt, wie schwierig ihre Beziehungen waren. Was die politische Bilanz seiner Begegnung mit der so­ wjetischen Realität angeht, so endete sie Scholem zufolge mit einer tiefen Enttäuschung: »Es besteht eine scharfe Differenz zwischen den optimisti­ schen Erwartungen, die Benjamin beim Antritt der Reise [...] hegte, und den harten Enttäuschungen, die ihn dann in der dortigen Realität erwarte­ ten« (Scholem, »Vorwort zu Benjamins »Moskauer Tagebuch««, S. 196). Wie es scheint, lieferte ihm die Reise den Grund für die Entscheidung, auf einen Eintritt in die Kommunistische Partei endgültig zu verzichten. »Er erkannte genau die Grenzen, die zu überschreiten er nicht willens war« (ebd., S. 197). Vgl. auch Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 161 f. 135 Reich stand mit zahlreichen sowjetischen Künstlern und Intellektuel­ len in Verbindung. Trotz der seltsamen Situation, in der sie sich befanden, blieben seine Beziehungen zu Benjamin zumindest bis Januar 1927 recht po­ sitiv. Reich heiratete Asja Lacis, seine Lebensgefährtin, erst sehr spät. Benja­ min kannte ihn seit 1924, als er Dramaturg am Deutschen Theater war; 1925 hatten sie gemeinsam einen Artikel verfaßt (»Revue oder Theater«, GS IV.2,

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über die Inszenierungen Meyerholds. Er wies ihn auf die be­ deutendsten Aufführungen des sowjetischen Theaters hin.136 Benjamin besuchte die Kirchen, von denen er bewundernswer­ te Beschreibungen gibt. Moskau mit seiner Mischung aus Tri­ stesse und Schönheit faszinierte ihn. Wenn er erwartet hatte, ein bestimmtes idyllisches Bild des Kommunismus bestätigt zu finden, wurde er rasch enttäuscht, und es konnte ihm nicht ent­ gehen, wie in dem drückenden Klima hitziger Polemiken jede künstlerische Manifestation eingeschüchert wurde.137 Seine Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit sowjetischen InstiS. 796-,8.o2). - Asja Lacis’ Tochter Daga, die von Benjamin in seinem Mos­ kauer Tagebuch und in Einbahnstraße geschildert wird, war aus einer frühe­ ren Verbindung hervorgegangen und befand sich damals in einem Kinder­ sanatorium. 136 Er ging gleich nach seiner Ankunft zu einer Generalprobe von Meyer­ holds Revisor, besuchte Stanislawskis Inszenierung von Die Zarenbraut von Rimski-Korsakow und viele andere Aufführungen, die er insgesamt ziem­ lich enttäuscht verließ. Die sowjetischen Werke erschienen ihm allzu simpel und die Inszenierungen allzu klassisch. Die Aufführung der Orestie von Aischylos erfüllte ihn mit Widerwillen. In einem Brief an Jula Radt vom 26. Dezember 1926 schreibt er: »Sehr viel bin ich im Theater - über das die un­ geheuerlichsten Vorstellungen verbreitet sind. In Wirklichkeit sind von al­ lem, was ich bis jetzt sah, die Vorstellungen bei Meyerhold das einzig Be­ deutende« (G B III, S. 222 f.). Asja Lacis berichtet: »Wir erklärten ihm die damalige Literaturpolitik, die Unterschiede zwischen den einzelnen literari­ schen Gruppierungen. Er besuchte die moskauer Theater. Den stärksten Eindruck machte auf ihn Meyerhold« (Lacis, Revolutionär im Beruß S. $8). An einem öffentlichen Disput über die Revisor-Inszenierung beteiligten sich Meyerhold, Biely und Majakowski. 137 Es war die Zeit, in der Sinowjew von Stalin attackiert und von Trotzki verteidigt wurde. Für Benjamin war es gar nicht einfach, Meyerhold - der heftig angegriffen w u rde-zu treffen, weil das nicht gern gesehen wurde. Als Benjamin einem Journalisten erklärte, er wolle ein Buch schreiben, das »die Kunst unter der Diktatur behandeln solle: die italienische unterm Regime des Facismus und die russische unter der proletarischen Diktatur«, wies Reich ihn besorgt darauf hin, daß er sich durch überflüssige theoretische Be­ merkungen in Gefahr begeben habe (GS VI, S. 313). Ernst Toller, der hoch­ offiziell nach Moskau eingeladen worden war, sah sich plötzlich vor lauter verschlossenen Türen, als der deutsche Komintern-Vertreter ihm vorwarf, er habe »die Revolution verraten« [ebd., S. 295].

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tuten erwiesen sich als unrealistisch» so medioker erschienen ihm die kommunistischen Funktionäre, die deutschen wie die sowjetischen.138 Alle, die wie Malewitsch die künstlerische Avantgarde verkörperten, waren bedroht. Viele meinten, die Partei habe eine »reaktionäre Wendung [...] in kulturellen Din­ gen« vollzogen.139 Ein weiteres Motivseiner Enttäuschung: sei­ ne Beziehung zu Asja Lacis. Diejenige, der er in Moskau wieder­ begegnete, war nicht mehr die faszinierende Revolutionärin von Capri und Riga, sondern eine depressive und nervlich er­ schöpfte Frau. Trotz der starken Neigung, die er für sie emp­ fand, waren ihre Beziehungen schwierig. Die Lust, sie zu se­ hen, bei ihr zu sein, wurde ständig durch Dispute und Krisen verdorben, die Benjamin in Zustände von Niedergeschlagen­ heit stürzten. Ihre Begegnungen wurden überwacht.140 Er las ihr Passagen aus Einbahnstraße vor, machte ihr Geschenke, 138 Er nahm mit Entsetzen zur Kenntnis, daß ein Kulturfunktionär das Theater Shakespeares vor der Erfindung des Buchdrucks ansiedclte und daß ein Artikel über westliche Literatur Proust und Arnolt Bronnen nebenein­ anderstellte. 139 (Ebd., S.294.) Trotz ihrer revolutionären Überzeugungen sparten Reich und Lacis nicht mit kritischen Bemerkungen. Für den Bereich des Theaters sprach Reich von »Gegenrevolution auf der Bühne« [ebd., S. 328], und Lacis mußte kämpfen, um eine Beschäftigung zu finden und sie zu be­ halten. Reich hatte Bedenken, in die Partei einzutreten. Lacis war bereits heftigen Kritiken ausgesetzt gewesen. Benjamin notierte am 20. Dezember: »Hätte sie nicht ein oder zwei Tage vorher [vor dem Wiederausbruch ihrer Krankheit] die Eintragung in eine Gewerkschaft erhalten, so hätte sie ohne Pflege dagclcgen und wäre vielleicht gestorben. Es ist sicher, daß sie einen Drang nach Westeuropa auch jetzt noch hat.« Ebd., S. 317. 140 In ihrem Sanatorium »gab’s freie Besuchszeit, ich durfte auch ausge­ hen« (Lacis, Revolutionär im Beruf, S. j8). Benjamin beschreibt dagegen in seinem Tagebuch, daß sie dem überbelegten Sanatorium entweichen mußte, um ihn zu treffen, daß sie sich selten allein sehen konnten und die meiste Zeit damit verbrachten, in ihrem Zimmer - zu sechst oder zu siebt - Domi­ no zu spielen. Oft genug findet er sie wie betäubt in ihren »chronischen Angstzuständen« [ebd., S. 329]. Überdies muß er sein »Besuchsrecht« mit Bernhard Reich teilen, was zu Spannungen zwischen beiden führte. Mehr­ fach stritten sie sich wegen ideologischer Fragen, vornehmlich zum Thema Meyerhold.

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doch während seines gesamten Aufenthalts blieben ihre Bezie­ hungen ziemlich gespannt141, wenngleich er außerstande war, sich von ihr zu lösen.142 Abgesehen von der erschütternden Schilderung ihrer Bezie­ hung enthält das Moskauer Tagebuch bewundernswerte Por­ träts der Stadt mit ihrer Melange aus Neuem und Provinziel­ lem. In einer Welt von Schnee und Glatteis läßt er Einzelheiten von seltener Schönheit erstehen. Der ländliche, fast kindliche Eindruck, den diese Metropole mit ihrer Armut und ihrer Flut von Farben vermittelt, überwältigt ihn. Er beobachtet die Bäuerinnen, die auf ihren Schlitten den Passanten »Äpfel, Bon­ bons, Nüsse, Zuckerfiguren, halb unterm Tuche versteckt«, anbieten143; Chinesen bieten Papierblumen feil, Straßenhänd­ ler verkaufen bemaltes Holzspielzeug, Frauen offerieren Weih­ nachtsbaumschmuck. Im Kustarny-Museum begeistert er sich für Pappmache-Figürchen, träumt wie ein Kind vor süßen Leckereien. Die Darstellungen von Straßenszenen ergeben ein eindringliches Mosaik.144 141 »Ich bin vor eine fast uneinnehmbare Festung geraten«, notiert er am 20. Dezember [ebd., S.316]. Oft beklagt er sich über ihre Streitereien, ihre launenhaften Vorwürfe und den Egoismus, den sie ihm gegenüber zeigt: Sie entzieht sich all seinen Gesten der Zärtlichkeit, fordert von ihm ständig Geld und Geschenke, die er nicht aufbringen kann. 142 »Am liebsten wäre ich mit ihr durch ein Kind verbunden. Ob ich aber, selbst heute, dem Leben mit ihr mit seiner erstaunlichen Härte und, bei all ihrer Süßigkeit, ihrer Lieblosigkeit gewachsen wäre, weiß ich nicht.« Ebd., S .318. 143 (Ebd., S.301.) In dem Denkbild »Moskau« schreibt er: »In Moskau drängt die Ware überall aus den Häusern, sie hängt an Zäunen, lehnt an Gat­ tern, liegt auf dem Pflaster. Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaret­ ten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Muster­ exemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehal­ ten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte.« CS IV. 1, S. 3 17 f. 144 Benjamin schenkt im übrigen der wunderbaren Seite des Alltags, dem er sich gegenübersieht, mehr Aufmerksamkeit als seinem politischen As-

Das Scheitern der Habilitation und seine Folgen

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Als er am i. Februar 1927 Moskau verließ, wußte Benjamin nicht, ob er noch einmal zurückkehren würde. Eine weitere Reise hing von der Entwicklung seiner finanziellen Mittel, sei­ ner Kenntnis des Russischen, vom Gelingen seiner geplanten Zusammenarbeit mit sowjetischen Kulturinstitutionen und vor allem von seiner Beziehung zu Asja Lacis ab.145 Trotz der Enttäuschungen war er aufgewühlt, wie die letzten Zeilen sei­ nes Tagebuchs belegen.146 Aufenthalt in Paris (März 1927): Entdeckung des Surrealismus Kaum nach Berlin zurückgekehrt, schrieb Benjamin seinen Essay über Moskau.147 Von allen Städteporträts, die er gezeich­ net hat, bleibt dies eines der bewegendsten. Er läßt die Stadt vor dem Auge des Lesers auftauchen, indem er selbst hinter das, was er sieht, zurücktritt. Die Vorsicht, mit der Benjamin politische Fragen behandelt, ist verblüffend.148 Als Flaneur pekt, auch wenn er über die Armut erschrocken ist. Die einzige Fabrik, die er besichtigt, ist eine Fabrik - für Weihnachtsbaumschmuck! Die Schönheit seiner Moskauer Impressionen bewahrt noch heute etwas Magisches, wäh­ rend zahlreiche Berichte, die von deutschen Schriftstellern seiner Genera­ tion veröffentlicht wurden - selbst wenn sie dieselbe Realität zur selben Zeit schildern - , nur noch soziologische Dokumente sind. 14 j Als er nach Moskau kam, war Benjamin bereit, sie zu heiraten. Kurz vor seiner Abfahrt erklärte er sich entschlossen, ihr zu einem »roten Gene­ ral« zu folgen, der sic nach Wladiwostock eingeladen hatte. Asja Lacis gab ihm recht zynisch zur Antwort: »Willst Du da auch beim roten General den Hausfreund spielen? Wenn er so dumm ist wie Reich, und Dich nicht her­ ausschmeißt. Ich habe nichts dagegen. Und wenn er Dich herausschmeißt habe ich auch nichts dagegen.« GS VI, S. 393. 146 »Sie stand noch lange und winkte. Ich winkte aus dem Schlitten zurück. Erst schien sic abgewandt zu gehen, dann sah ich sie nicht mehr. Mit dem großen Koffer auf meinem Schoße fuhr ich weinend durch die dämmernden Straßen zum Bahnhof.« Ebd., S.409. 147 Er erschien 1927 in Martin Bubers Zeitschrift Die Kreatur. 148 So schrieb er am 23. Februar 1927 an Martin Buber, seiner Darstellung werde »alle Theorie [...] fembleiben«, da bei dieser Stadt »alles Faktische schon Theorie« sei (G B III, S. 232). In dem Essay selbst heißt es: »Im Grunde

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vergleicht er die Stadt mit einem Labyrinth und bemüht sich, ihre Topographie von seinen eigenen Eindrücken ausgehend wiederzugeben. Lieber schildert er die Seltsamkeit der Waren als ihre Knappheit, lieber die Kinder als die Arbeiter; ihn be­ eindruckt die Fortdauer einer bäurischen und provinziellen Tradition, mit der die Industrialisierung des Landes kontra­ stiert. Die politische Dimension äußert sich in seinem Glauben an eine neue Erziehung, auch wenn es manchmal schwerfällt zu verstehen, wie »der befreite Stolz der Proletarier« mit der Beschreibung der »Korporation der Sterbenden«149 zusam­ menpaßt, der Bettler, die er an so vielen Straßenecken wahr­ nimmt. Mit Begeisterung beschreibt er Rußland als ungeheures Laboratorium, doch die unterschiedlichen Beobachtungen, die er dem Leser liefert, erlauben es, zu gegensätzlichen Stand­ punkten zu kommen. Während er nicht ohne Naivität eine vollkommene Harmonie zwischen Partei, Bevölkerung und Intelligenzija behauptet150, macht er gleichzeitig auf das Ver­ schwinden des Privatlebens, der Cafes, der »freien Intelligenz« aufmerksam. Während er die »Verstaatlichung« des Citoyen positiv verzeichnet, weist er zugleich auf das herrschende Kli­ ma des Mißtrauens hin, das jedes persönliche Urteil - und wäre es über ein Theaterstück - fast unmöglich macht, sowie auf einen gewissen Niedergang des kulturellen Lebens. Dieses dialektische Pendeln, das für den Essay über Moskau kenn­ zeichnend ist und bei dem sich positive und nur angedeutete kritische Aufzeichnungen abwechseln, bringt die widersprüch­ lichen Gefühle zum Ausdruck, die Benjamin gegenüber der Realität des Kommunismus hegte.151 freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu ha­ ben, ehe man kommt.« GS IV. 1, S. 317. 149 Neuen Zeit * j.ju ii 1938, S.16. 9J Ursprünglich war der »Baudelaire«-Essay [»Das Paris des Second Em­ pire bei Baudelaire«, CS 1.2, S. 511-604] als das vorletzte Kapitel der Passa­ gen geplant (GB VI, S. 162). 96 Ebd., S. 168.

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ren lassen. E r fragte sich, »[w]ie lange die Luft in Europa materialiter noch zu atmen sein wird [...]; spiritualiter ist es nach den Vorgängen der letzten Wochen schon jetzt der Fall nicht mehr«.97 Er konnte der Trennung von Brecht nicht ohne eine gewisse Sorge entgegensehen.98 Im Oktober ging Benjamin zurück nach Paris.99 Seine Isolie­ rung verschlimmerte sich mit der Krankheit seiner Schwester, die an Arterienverkalkung litt. Sein Bruder wurde, nachdem er aus dem KZ entlassen worden war, erneut in ein Zuchthaus eingeliefert. Die internationale politische Lage bedrohte sei­ nen Status als Flüchtling. Die Angst vor einem Krieg und die Furcht vor Hitler gingen mit Mißtrauen gegenüber den Emi­ granten einher. So wurde auch der Kreis der Bekannten, mit denen Benjamin Umgang pflegte, immer kleiner. In einem Brief an Gretel Adorno vom i. November 1938 schrieb er: das [...] rapprochement zwischen Deutschland und Frank­ reich wird, wie ich fürchte, die wenigen einander nahen Fran­ zosen und Deutschen von einander entfernen müssen - un­ mittelbar oder mittelbar. Für das Ende der Woche erwartet man ein »Statut des etrangers«. Inzwischen betreibe ich mei­ ne Naturalisation umsichtig aber illusionslos. Waren vordem die Chancen des Gelingens zweifelhaft, so ist nunmehr auch der Nutzen dieses letztem problematisch geworden. Der

97 Ebd., S. 167. (Das Münchner Abkommen war in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 unterzeichnet worden.) 98 »Je natürlicher und je spannungsloser mein Umgang mit Brecht im ver­ gangnen Sommer gewesen ist, desto weniger unbekümmert lasse ich ihn diesmal zurück. Denn ich bin befugt, in dieser Kommunikation, die diesmal weit weniger problematisch war als ich es gewohnt war, einen Index seiner wachsenden Isolierung zu sehen. [...] Unter den Lebensumständen, die die seinen geworden sind, wird er von dieser Vereinsamung während eines Svendborger Winters gewissermaßen Auge in Auge herausgefordert.« Ebd., S. 168. 99 Seine Aufenthaltsbewilligung für Dänemark lief am 1. November 1938 ab.

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Verfall der Rechtsordnung in Europa läßt jede Art von Lega­ lisierung trüglich werden.100 Seine Bemühungen, die in Berlin zurückgelasserien Bücher und Manuskripte wiederzuerhalten, endeten mit einem Mißerfolg.101 In einem sehr langen Brief vom io. November 1938 teilte ihm Adorno seine Reaktion auf seinen »Baudelaire«-Essay mit. Auch wenn er ihm Lob zollte, verhehlte er nicht seine Enttäuschung: Er sah darin weniger ein »Modell« der Passagen als ein »Präludium«102 und kritisierte die Detailanalysen eben­ so scharf wie die Methode. Benjamin häufe das Material an, ohne es dialektisch zu vermitteln, und liefere keine präzisen theoretischen Antworten. Der marxistische Ansatz, um den er siclvbemüht habe, scheine seinen tiefsten Einsichten zuwider­ zulaufen und vermittele von daher den Eindruck von Künst­ lichkeit. Adorno kam zu der Einschätzung, im eigenen Namen wie in dem der anderen Mitarbeiter des Instituts, daß der Essay in der vorliegenden Form nicht publiziert werden könne. In seiner Antwort vom 9. Dezember 1938 gestand Benjamin, der Brief Adornos habe ihm »einen Stoß« versetzt.103 Er sei weit entfernt davon, seine Kritiken für unfruchtbar zu halten, doch verteidigte er mit Entschiedenheit die Komplexität der analyti­ schen Ebenen seiner Konstruktion und seine Methode. In kei­ nem anderen theoretischen Austausch zwischen Benjamin und Adorno sind ihre tiefen Differenzen so offen zutage getreten. Die Ablehnung des »Baudelaire« bedeutete für ihn ein wirk­ liches Trauma, denn er sah in dieser Publikation eine Mög­ lichkeit, aus seiner Isolierung herauszukommen. Immer mehr 100 Ebd., S. i74f. 101 Darunter befanden sich der schriftliche Nachlaß der Brüder Heinle und vor allem sein Archiv zur Jugendbewegung. 102 »Es werden die Motive versammelt aber nicht durchgeführt.« Brief Adornos an Benjamin vom 10. November 1938, in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 365. Adornos Kritik wird weiter unten analysiert {vgl. S. j 24 ff*)’ 103 CB VI, S. 181.

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verdüsterte sich seine Welt. Zu dem Scheitern seiner Arbeit Benjamin sah nicht, wie er sie nach den Wünschen Adornos für eine rasche Publikation korrigieren könnte - addierten sich die Ängste, die ihn seit seiner Rückkehr nach Frankreich bestürm­ ten.104 Eine weitere Katastrophe kam hinzu: In einem ziem­ lich ungeschickt formulierten Schreiben vom 23. Februar 1939 deutete ihm Horkheimer an, das Institut könne möglicherwei­ se aufgrund finanzieller Schwierigkeiten »beim besten Willen« nicht mehr imstande sein, »Ihren Forschungsauftrag zu verlän­ gern«.105 Diese Aussicht bedeutete für Benjamin nicht mehr und nicht weniger als den Verlust seiner ohnehin sehr be­ schränkten Existenzmittel. Der verzweifelte Brief, den er am 14. März an Scholem richtete, beschwor-wenn er außerstande sei, »auf halbwegs menschenwürdige Weise« zu leben - aber­ mals den Gedanken an Selbstmord herauf.106 Scholem versuchte vergeblich, eine Kollekte in Palästina zu organisieren, um ihm die Möglichkeit einer Überfahrt zu bieten.107 Zu den materiellen Schwierigkeiten kam eine zuneh­ mende Depression hinzu, verschärft durch die Ablehnung sei­ 104 Die wachsende Furcht vor dem Krieg wie vor einer Annäherung zwi­ schen Frankreich und Hitlerdeutschland auf Kosten der Emigranten, die In­ validität seiner damals siebenunddreißigjährigen gelähmten Schwester, die Erfolglosigkeit seiner Schritte zu seiner Einbürgerung. i oj Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 567. 106 GB VI, S. 236. Obwohl in einem Augenblick von Verzweiflung und Bit­ terkeit geschrieben - Benjamin bezeichnet die Mitglieder des Instituts etwas verächtlich als »die Leute« - , verrät der Brief eine Ambivalenz seiner Bezie­ hungen zumindest zu Horkheimer und Pollock. Der Brief wurde erstmals in Scholems Erinnerungen vollständig abgedruckt (Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S.271 f.). In der zweibändigen Ausgabe der Briefe von 1966 fehlt er. 107 Scholem zufolge war nur die Malerin Anna Ucho, die im Jahr zuvor in Paris Benjamins Bekanntschaft gemacht hatte, bereit, ihm zu helfen. Auch Hannah Arendt bemühte sich um Unterstützung für ihn. Im Mai 1939 schrieb sie an Scholem: »Benjis wegen bin ich in großen Sorgen. Ich hatte ver­ sucht, ihm hier etwas zu vermitteln und bin ganz kläglich gescheitert.« Zitiert nach Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft., S. 274.

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nes Baudelaire-Essays, die, wie er selbst zugab, ein Desinteres­ se an seiner eigenen Arbeit entstehen ließ. Ein Hoffnungsfunken glühte auf, als Adorno ihm vorschlug, eine Reihe von Themen seines Baudelaire-Essays neu zu fassen und zu einem Text über den »Flaneur«, den die Zeitschrift ver­ öffentlichen würde, umzuarbeiten. Gleichzeitig dachte Benja­ min ohne allzuviel Hoffnung an die Möglichkeit, in die Verei­ nigten Staaten überzusiedeln. Trotz der Schwierigkeiten, die ihm durch das Institut entgegentraten, setzte er alle seine Hoff­ nungen auf es, verkaufte im Hinblick auf diese eventuelle Reise die seltensten Bücher seiner Bibliothek und erwog sogar, sich von Klees Angelus Novus zu trennen. Am 6. August 1939 teilte er Adorno mit, daß Horkheimer bereits im Besitz des Essays über den »Flaneur« sei, des neuen Essays über Baudelaire, den er der Zeitschrift zugedacht hatte. Er hob hervor, daß er bei der Bearbeitung die von Adorno formulierten Kritiken berück­ sichtigt habe. Im Januar 1940 schrieb er an Bernhard von Bren­ tano, er rechne damit, das Buch über Baudelaire fortzusetzen, wenn die Umstände es erlaubten. Der Brief, den er am 21. Sep­ tember 1939 an Adrienne Monnier richtete, informierte sie über seine Internierung im »Camp de travailleurs volontaires«, Clos Saint-Joseph, in Nevers. Die Kriegserklärung hatte ihn zu einem »feindlichen Bürger« gemacht. Für ihn wie für so viele Antifaschisten, die nach Frankreich geflüchtet waren, sollte das Land zur Falle werden. Im Mai 1939 vertraute Hannah Arendt Scholem an: Dabei bin ich mehr als je von der Wichtigkeit überzeugt, ihn für seine weiteren Arbeiten ganz sicherzustellen. Seine Pro­ duktion hat sich für mein Gefühl bis in stilistische Einzelhei­ ten hinein gewandelt. Es kommt alles viel bestimmter, viel weniger zögernd hinaus. Es scheint mir oft, als käme er erst jetzt an die für ihn entscheidenden Dinge heran. Es wäre ab­ scheulich, wenn er da nun gehindert würde.108 108 Zitiert nach ebd.

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Benjamin hatte nur noch ein Jahr zu leben. Er wußte, daß er neben schweren Niederlagen nur »Siege im Kleinen«109 davon­ getragen hatte, aber er ahnte noch nicht, daß sein großes Pro­ jekt der Pariser Passagen, dem er so viele Jahre seines Lebens gewidmet hatte, ein Feld verstreuter Materialien und Trümmer bleiben sollte. Seine Entscheidung vom 16. September 1940 in Port-Bou, sein Leben zu beenden, setzte - jenseits der bloßen Furcht, an die Gestapo ausgeliefert zu werden - einen tragi­ schen Schlußpunkt unter die Jahre der Leiden, des Elends und der Einsamkeit. Gewiß hatte sich Benjamin auch nicht vorge­ stellt, daß er in Paris unter den katastrophalsten Bedingungen seines ganzen Lebens existieren würde. Es war ihm in seinen Exiljahren weder gelungen, sich in die Gruppen anderer antifa­ schistischer Emigranten einzubinden, noch sich einen Platz im kulturellen Leben Frankreichs zu verschaffen. Was seine Be­ ziehungen zum Institut angeht, waren sie durchaus kompli­ ziert.

2. Benjamin und das Institut für Sozialforschung Das Leben Benjamins im Exil, die Entstehung und Entwick­ lung seiner zentralen theoretischen Arbeiten, insbesondere der Passagen und des Essays über Baudelaire, sind ohne seine am­ bivalente Verbindung mit dem Frankfurter Institut110 und die tiefe, manchmal konfliktgeladene Freundschaft mit Adorno kaum yorstellbar. Nach dem Scheitern seiner Habilitation und vor allem während der Emigration wurde Horkheimers Insti­ tut zu der einzigen offiziellen Institution, bei der Benjamin 109 (Brief an Scholem vom 26. Juli 1932, CB IV, S. 112.) xio Zu seiner Gründung und seiner Geschichte vgl. Martin Jay, Dialekti­ sche Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts fü r Sozialforschung 1923-1950-, Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Ge­ schichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung.

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Aufnahme fand und die an seinen Arbeiten wirkliches Interes­ se hatte. Ohne die freilich bescheidene finanzielle Zuwendung, die ihm das Institut zukommen ließ, hätte er nicht überleben können. Weit gefehlt wäre es aber, ihn deshalb uneingeschränkt als »Mitglied« der Frankfurter Schule zu betrachten. Trotz sei­ ner privilegierten Beziehungen zu Adorno blieb er ein zwar geschätzter, seiner Originalität wegen bewunderter Mitarbei­ ter, er war jedoch an keiner wesentlichen Entscheidung des In­ stituts beteiligt. Etappen der Mitarbeit Benjamins an der Zeitschrift für Sozialforschung Am Anfang seiner Beteiligung an der Arbeit des Instituts stand eine Freundschaft: die mit Adorno, die er 1923 in Frankfurt schloß.11112Die Vorgeschichte der Beziehungen Benjamins zum Institut ist nicht leicht zu klären.1,2 In einem Brief an Scholem vom 15. Januar 1933 schrieb Benjamin, die Zeitschrift fü r So­ zialforschung habe ihm »Aufträge teils gegeben, teils in Aus­ sicht gestellt«113, und bestätigte ihm am 19. April, daß Hork1 1 1 Sie begegneten sich durch Vermittlung Siegfried Kracaucrs in einem Soziologieseminar Gottfried Salomons. Adorno und Kracauer hatten sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs kennengelernt (vgl. Theodor W. Adorno, »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer«, in: Noten zur Litera­ tur, GS 11, S.388). [Siehe jetzt Theodor W. Adorno/Siegfricd Kracauer, Briefwechsel 192j - 1966.] 112 Benjamin machte die Bekanntschaft Horkheimcrs Mitte der zwanziger Jahre, als dieser Assistent bei Hans Cornelius war, der in Benjamins Habili­ tationsverfahren als Gutachter fungierte. Im Husserl-Seminar von Corne­ lius lernte Adorno Horkheimer kennen. Alle drei trafen sich dann ziemlich regelmäßig, wenn sich Benjamin wegen seiner Mitarbeit beim Rundfunk in Frankfurt aufhielt, dort oder in Kronberg zusammen mit Asja Lacis und Gretel Karplus. Noch bevor Adorno dem Institut angchörte und Horkhei­ mer dessen Leitung übernommen hatte, war ein Vortrag Benjamins »Zur Philosophie der Literaturkritik« geplant (vgl. GS II.3, S. 1508). Erst 1938 werden die Beziehungen zwischen Benjamin und Horkheimer enger. 113 GB IV, S. 157. Benjamin wünschte diese Mitarbeit um so mehr, als seine

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heimer sein Institut nach Genf habe umsiedeln können und daß mit seiner Mitarbeit immer noch gerechnet werde. Der dritte Jahrgang (1934) der Zeitschrift, der in Paris bei Felix Alcan herauskam, enthielt im ersten Heft Benjamins Essay »Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französi­ schen Schriftstellers« sowie [im zweiten und dritten Heft des­ selben Jahrgangs] zwei Rezensionsnotizen über »Le Baron Haussmann« und »Fourier et le socialisme«.114 Die an Scholem gerichteten Briefe verraten bereits eine ge­ wisse Ambivalenz. Gewiß entsprach Benjamins Profil exakt dem der Mitglieder des Instituts. Horkheimer definierte es fol­ gendermaßen: »eine Gruppe von Leuten mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausbildung und einem gemeinsamen Inter­ esse an Gesellschaftstheorie«, die sich »in der Überzeugung zusammenfand, in der Epoche des Übergangs sei es wichtiger, das Negative zu artikulieren, als die je einzelne akademische Karriere zu verfolgen«.115 Ob sich Benjamin mit ihrem Unter­ nehmen wirklich identifizierte, ist zweifelhaft. Er dachte in erster Linie an die Unterstützung, die ihm diese Mitarbeit zur Fertigstellung seiner eigenen Arbeit einbringen könnte. Von seinem Passagen-Vrojekt und der Redaktion der Berliner Kindheit in Anspruch genommen, widmete er sich dieser AufPublikationsmöglichkciten in Deutschland äußerst beschränkt waren. Im November 1932 hatte ihm das Institut die Gewährung einer finanziellen Unterstützung angedeutet. In dieser Zeit wurde sein Beitrag über »eine So­ ziologie der französischen Literatur« verabredet. 114 (»Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers«, GS 11.2, S. 776-803; »A. Pinloche, Fourier et le socialisme«, GS III, S.427f.; »Georges Laronze, Le Baron Haussmann«, GS III, S.435 f.) Benjamin schrieb seine »Soziologie der französischen Literatur« (GB IV, S. 177) unter großen Schwierigkeiten, weil ihm auf Ibiza die Bücher fehlten. Er bat Gretel Karplus, seiner in Berlin zurückgelassenen Bibliothek einige Bände, vor allem von Emmanuel Berl und Albert Thibaudet, zu entnehmen und ihm zuzusenden [ebd., S. 188, 193, 205]. Andere ließ ihm Horkheimer aus Genf zukommen. 115 Max Horkheimer, »Vorwort« zu Jay, Dialektische Phantasie, S. 9.

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tragsarbeit ohne Begeisterung.116 In seiner fertigen Gestalt ist der Essay durchaus von Interesse. Ausgehend von den düste­ ren Prophezeiungen von Apollinaires Gemordetem Dichter skizzierte Benjamin eine Typologie der politischen Haltungen der französischen Schriftsteller seit Barr&s: einige (wie Paul Morand) vertreten eine bestimmte bürgerliche Sichtweise; man­ che (wie Alain) erkennen sich in einem [kleinbürgerlichen] Ra­ dikalismus wieder; andere (von Charles Peguy bis Julien Benda) stellen die Rolle des Intellektuellen als solche in Frage. Das Panorama der verschiedenen Stile des französischen Romans,' das er durchmustert (Julien Green, Francis Carco, Louis-Fer­ dinand Celine), belegt eine gründliche Kenntnis der französi­ schen Kultur. Vor allem verfolgte Benjamin aufmerksam die ideologischen Spaltungen, die diese Schriftsteller voneinander trennten, ihre antagonistischen Beziehungen zur Politik (Paul Valery, Andre Gide, die Surrealisten). Er interessierte sich leb­ haft für jene, die mit der Bourgeoisie gebrochen hatten, ohne deshalb vom Proletariat akzeptiert zu werden (Andre Malraux). Er war auch versucht, einen Vergleich mit Deutschland zu ziehen.117 1 16 »Die Ironie will es, daß ich gerade jetzt im Aufträge jener »Zeitschrift für Sozialforschung« [...] einen Aufsatz über die Soziologie der gegenwärti­ gen französischen Literatur zu schreiben habe - und schreiben muß, da ich von dieser Seite zumindest auf Bezahlung rechnen kann« (Brief an Scholem vom 19. April 1933, GA IV, S. 181). In seinen Erinnerungen (Walter Benja­ min - die Geschichte einer Freundschaft, S. 244) zitiert Scholem die [in der er­ sten Ausgabe der Briefe weggelasscne] Fortsetzung dieser Stelle: »Der Auf­ satz, der in jedem Fall die reine Hochstapelei darstellt, bekommt durch den Umstand, daß ich ihn hier - fast ohne alle Literatur - verfassen muß, schon ein gewisses magisches Gesicht, das er in Genf zwar kühn zur Schau tragen, vor Dir aber denn doch verhüllen wird.« Am 16. Juni, nachdem er die Studie fertiggestellt hat, schreibt er wiederum an Scholem: »Sie haben mir jetzt wie­ der einen neuen Auftrag gegeben, der vielleicht noch schwieriger und sicher weniger erfreulich ist« (GB IV, S. 237). 1 1 7 Nach dem Erscheinen - und das gilt für die meisten seiner Beiträge für die Zeitschrift - hörte Benjamin damit auf, seinen Essay herabzuwürdigen. Scholem hingegen sah in ihm nichts weiter als ein wahres »kommunistisches

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Während seines Aufenthalts bei Brecht teilte Benjamin am 1 6. September 1934 Horkheimer mit, er habe sich - »nach ei­ nem abweichenden Projekt« - mit Pollock »auf eine Arbeit geeinigt [...], die die kulturwissenschaftliche und kulturpoliti­ sche Inventur der »Neuen Zeit« vornimmt«. Er hatte die Ab­ sicht, die materialistische Analyse auf »kollektive Erzeugnisse des Schrifttums« anzuwenden und auf diese Weise »den Zwekken des »Instituts für Sozialforschung« zu dienen«.118 Wenn man bedenkt, daß diese Studie über die kulturpolitische Kon­ zeption des Organs der Sozialdemokratie die Lektüre von zweiunddreißig Bänden erforderte, und nicht vergißt, daß er gleichzeitig an seinem Essay über Kafka arbeitete, wird man einräumen müssen, daß er diesen »Auftrag« fürchten mußte. Benjamin stand vor der dramatischen Wahl: entweder in äußer­ ster materieller N ot sich seinen eigenen Forschungen zu wid­ men oder aber widerwillig Texte zu verfassen, die manchmal nur in entfernter Beziehung zu seiner Arbeit standen. So kam es, daß er über diese Zusammenarbeit oftmals mit gespaltener Zunge sprach.119 Wenn er Horkheimer gegenüber den Wunsch Credo«. Benjamins »politische Soziologie« Jblieb ziemlich verschwommen. Gab er ihr manchmal schärfere Konturen, dann aus taktischen Gründen: etwa bei seiner Auffassung der Sozialkritik bei Proust. Mehrere Formulie­ rungen sind typisch brechtisch. 118 GB IV, S. 499. 119 Als er in einem Brief vom 17. Oktober 1934 Scholem von der mögli­ chen Übersiedlung des Instituts nach Amerika berichtete, erklärte er. »Eine Lösung, ja nur Lockerung meiner Beziehung zu seinen Leitern könnte leicht davon die Folge sein. Was das bedeutet, will ich nicht ausführen« (cbd., S. j 1 j). Weit entfernt, davon eine größere Freiheit zu erwarten, fürch­ tete Benjamin einen völligen Verlust seiner Einkünfte. So schrieb er an Horkheimer: »Die Möglichkeit, in Amerika, sei es an Ihren Forschungen, sei es an denen Ihnen befreundeter Institute tätig zu sein, würde ich auf das Dankbarste begrüßen. Ja ich darf sagen: Sie verfügen für jedes Arrangement, das Ihnen zweckmäßig erscheint, im voraus über meine Zustimmung« (Brief an Horkheimer, ca. 29. Oktober 1934, ebd., S. 520). Benjamin war be­ reit, dem Institut nach Amerika zu folgen, obwohl er ein solches Exil zu­ gleich fürchtete.

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äußerte, ihn bei dessen Besuch in Europa zu treffen, weil er sich vor einer persönlichen Begegnung »nicht gern auf einen definitiven Text festlegen« wolle, so hieß das: weil er die Ablie­ ferung aufschieben120, ihm seine materielle Not bewußtma­ chen121 und die Notwendigkeit einer Rückkehr nach Paris vor Augen führen wollte - er war damals gezwungen, sich in San Remo bei Dora aufzuhalten -, um im Auftrag des Instituts, in Wirklichkeit aber an den Passagen zu arbeiten. Am 26. Dezember 1934 schrieb er an Scholem: »In absehba­ rer Zeit wird nun auch wohl in der Zeitschrift für Sozalforschung< mein großes Sammelreferat zur Sprachtheorie erschei­ nen, das ich - wie Du vielleicht schneller merken wirst als mir lieb ist - als ein Lernender geschrieben habe.«122 Es handelte sich um einen Überblick über die wichtigsten Untersuchun­ gen, die seit Beginn der zwanziger Jahre über Wesen und U r­ sprung der Sprache durchgeführt worden waren. Ausgehend von den onomatopoetischen Theorien Herders untersucht Benjamin die Konzeptionen Levy-Bruhls, Husserls, Bühlers, Jousse* sowie Piagets und führt die Unterschiedlichkeit der möglichen Ansätze vor Augen. Während es in diesem Essay in erster Linie darum geht, Problemstellungen vorzuführen, hän­ gen seine auf Ibiza angestellten Überlegungen »Über das mi­ metische Vermögen«123 untrennbar mit seinem Interesse am Problem der Mimesis zusammen und belegen die Beständig­ keit seiner Auffassung vom Wesen der Sprache.124 120 Zumal die Zeitschrift seinen Essay »Probleme der Sprachsoziologie« noch nicht veröffentlicht hatte, der erst im zweiten Heft des Jahrgangs 1935 erscheinen sollte (GS III, S. 453-480). 121 Siehe den Brief an Horkheimer, ca. 29. Oktober 1934, GB IV, S. 521, in dem er ihm seine finanzielle Situation schildert. Benjamin hatte bereits Pol­ lock um einen Betrag gebeten, der ihm den Transport eines Teils seiner Bi­ bliothek nach Dänemark ermöglichte. 122 Ebd., S. 552. 123 G SII.i,S.210 -213. 124 Er betrachtet die Sprache einzig unter dem Gesichtspunkt ihres Ur-

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Die Arbeit über die Neue Zeit konnte glücklicherweise auf­ gegeben werden, doch Horkheimer schlug Benjamin sofort ein neues Projekt vor, nämlich eine Studie über den Sammler von Lithographien Eduard Fuchs. Benjamin nahm das Angebot mit vorgetäuschter Begeisterung an. Am 19. Februar schrieb er an Horkheimer: »Es ist mir nach Ihrem Brief selbstverständ­ lich, sie [sc. »die Arbeit über Fuchs«] allen anderen Projekten vorangehen zu lassen.«125 Ein weiteres Mal führte er ihm seine finanziellen Schwierigkeiten vor Augen und sicherte ihm seine völlige Ergebenheit zu: »Es ist mir nichts dringlicher als meine Arbeit so eng und so produktiv wie möglich mit der des Insti­ tuts zu verbinden.«126 Im stillen dachte er das Gegenteil, doch da er in Italien zu leben gezwungen war, wollte er vom Institut die materiellen Möglichkeiten erhalten, nach Paris zurückzu­ kehren, um an den Passagen zu arbeiten. Diese Hoffnung war um so begründeter, als Pollock ihn im Laufe eines Gesprächs im April 1935 aufforderte, ein Expose des P^ss^ge«-Projekts zu verfassen. Es kennzeichnete eine wichtige neue Etappe sei­ ner Arbeit. Der Essay über Fuchs stand seinem Wunsch entgegen, sich einzig dem Werk zu widmen, für das er unaufhörlich Material sammelte. Immer wieder weckte er die Neugier der Instituts­ direktoren, indem er die Merkwürdigkeit, die Originalität sei­ ner Forschungen durchscheinen ließ, und gab die Hoffnung nicht auf, eine angemessenere materielle Unterstützung zu er­ halten.127 So schrieb er am 20. Mai 1935 an Scholem: Sollte ich gerade jetzt mich in die Arbeit über Fuchs - die um die Wahrheit zu sagen noch nicht einmal angefangen ist - besprungs und der Namengebung, während er sich an linguistischen Ansätzen völlig uninteressiert zeigt.

12 j GÄV, S.44. 126 (Brief an Horkheimer vom 8. April 1935, ebd., S.73.) 127 Benjamin erhielt damals eine monatliche Zuwendung von 1000 Francs, die ihm sein Lebensminimum nicht sichern konnten.

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geben müssen, so wäre mir das freilich doppelt anstößig. Auf der andern Seite aber wäre es ein Glücksfall, mit dem ich auf keine Art rechnen kann, daß das Institut etwa ein materielles Interesse an dem pariser Buch nähme.128 Und gegenüber Adorno klagte er in seinem Brief vom 31. Mai 1935 noch einmal: »[J]ede [Arbeit] von irgendwelcher Bedeu­ tung, insbesondere die über Fuchs, würde verlangen, daß ich für die Dauer ihrer Darstellung die Passagen zurückstelle«.129 Auch wenn er selbst Zweifel hegte, ob sich die Arbeit in die% Veröffentlichungen des Instituts einreihen könnte, fragte er sich gleichwohl, »wieweit die neuen und eingreifenden sozio­ logischen Perspektiven, die den gesicherten Rahmen der interpretativen Verspannungen hergeben, einen Anteil des Instituts an dieser Arbeit begründen können, die ohne ihn weder so noch anders Wirklichkeit werden würde«.130 Das im Mai 193 j verfaßte Expose »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«131 ging an Adorno, der es einer strengen Kritik unterzog132, die aber das Interesse des Instituts an Ben­ jamins Arbeit nicht widerrief. Der Wunsch, sich ihr ganz zu widmen, machte ihm die Abfassung des »Fuchs« immer qual­ voller.133 Gleichzeitig sprach im Hinblick auf die erhoffte of­ 128 g b v, S. 84. 129 Ebd., S. 99. 130 Ebd. Dank Pollock hatte er Photokopien all seiner Vorarbeiten zu den Passagen herstellen lassen können. 131 Das Expose von 1939 »Paris, capitale du XIXC sifeclc« wurde auf der Grundlage des ersten auf französisch verfaßt. Beide sind in GS V.i enthalten (S. 4J-59, S. 60-77). 132 Vgl. dessen Brief vom 2. August 1935, Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 138-152. Den Auseinandersetzungen zwischen Adorno und Benjamin zur Methodologie der Passagen wird im einzelnen noch weiter nachgegangen (vgl. unten, S. 733 ff.). Der Brief Horkheimers vom 18. Sep­ tember 1935 (zitiert nach GS V.2, S. 1143) wiederholte Adornos Hauptkri­ tikpunkt - mangelnde Dialektisierung im Verhältnis zur ökonomischen Sphäre - , enthielt jedoch eine sehr günstige Bewertung (vgl. Benjamins Ant­ wort vom 16. Oktober 1935, GB V, S. 177-180). 13 3 »Mich rettet vor der Arbeit über Fuchs kein Gott mehr«, schrieb er am

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fizielle Unterstützung Horkheimers alles dafür, sich den »Anregungen« des Instituts gegenüber »gefügig zu zeigen«.134 Zahlreiche Briefe, die er an Horkheimer richtet - immer mit der Befürchtung, die Großzügigkeit des Instituts zu mißbrau­ chen und seinen Direktoren lästig zu werden - sind wahre Notrufe. Am 16. Oktober vertraut er ihm an: Meine Lage ist so schwierig, wie eine Lage ohne Schulden es überhaupt sein kann. Ich will mir damit nicht etwa das ge­ ringste Verdienst zuschreiben, sondern nur sagen, daß jede Hilfe, die Sie mir gewähren, eine unmittelbare Entlastung für mich bewirkt. Ich habe, verglichen mit meinen Lebensko­ sten im April, als ich nach Paris zurückkam, mein Budget au­ ßerordentlich beschränkt. So wohne ich jetzt bei Emigranten als Untermieter. Es ist mir außerdem gelungen, Anrecht auf einen Mittagstisch zu bekommen, der für französische Intel­ lektuelle veranstaltet wird. Aber erstens ist diese Zulassung provisorisch, zweitens kann ich von ihr nur an Tagen, die ich nicht auf der Bibliothek verbringe, Gebrauch machen; denn das Lokal liegt weit von ihr ab. Nur im Vorbeigehen erwähne ich, daß ich meine Carte d’Identite erneuern müßte, ohne die dafür nötigen 100 Francs zu haben. Auch den Beitritt zur Presse Etrangere, den man mir aus administrativen Gründen nahegelegt hat, habe ich, da die Gebühr 50 Francs beträgt, noch nicht vollziehen können.135 In demselben Brief teilt er Horkheimer mit, er habe den Pas­ sagen eine Reihe theoretischer Überlegungen ausgegliedert, die »in Richtung einer materialistischen Kunsttheorie einen 9. August 1935 an Scholcm (ebd., S. 136), und am 24. Oktober: »Zu diesen Unbilden des Draußen gehört auch der Fuchs« (ebd., S. 189). 134 Diese Gefügigkeit wird in allen Briefen an Horkheimer und an Adorno überdeutlich, etwa in der »Freude«, die er bei jeder Bestellung eines Artikels empfindet, oder in der Bereitwilligkeit, Kritiken, Vorschläge und manchmal Zensur zu akzeptieren. Einzig seine betrübte Reaktion auf die Ablehnung seines »Baudelaire« scheint eine gewisse Mutlosigkeit anzuzeigen. 135 Ebd., S. 178.

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Vorstoß machen« und die »in der Zeitschrift an ihrem Platze wären«136: nämlich »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech­ nischen Reproduzierbarkeit«. Der Text wird im ersten Heft des fünften Jahrgangs (1936) erscheinen, freilich in einer von Horkheimer erheblich modifizierten Fassung, die seine ganze politische Radikalität abschwächt. Dieser Fall unbestreitbarer Zensur, die hinnehmen zu müssen Benjamin todunglücklich machte, verdient eine ins einzelne gehende Analyse, die weiter unten skizziert werden soll.137 Dieser Essay Benjamins wurde ' von Adorno auf kunstwissenschaftlicher Ebene nicht minder heftig kritisiert. Nolens volens schrieb er weiter an seinem Text über Fuchs und teilte dessen Fertigstellung am 4. April 1937 Scholem mit. Der Artikel enthalte, wie Benjamin nun einräum­ te, »eine Anzahl von wichtigen Überlegungen zum dialekti­ schen Materialismus«138, die mit seinem Passagen-Buch abge­ stimmt seien. »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, 1935 zu­ nächst ohne Begeisterung in Angriff genommen und im zwei­ ten Heft des sechsten Jahrgangs der Zeitschrift (1937) erschie­ nen, ist ein keineswegs zu unterschätzender Text. Hier kreuzen sich beinahe sämtliche Problematiken, die Benjamin in den Passagen behandeln wollte. Nicht nur liefert er eine ausge­ zeichnete Illustration für Benjamins Thesen über die Repro­ duktion des Kunstwerks, sondern er verdeutlicht darüber hin­ aus die Rolle, die die Lithographie in der Epoche Baudelaires spielte, enthält ein bemerkenswertes Porträt des Sammlers so­ wie wesentliche Überlegungen zur Rettung eines Bildes der Vergangenheit, die Kritik des Historismus. Fuchs war eine er­ staunliche Persönlichkeit.139 Als Sammler und Kunsthistoriker 136 (Ebd., S. 179.) *37 (Vgl. unten, S. 548 ff.) 138 CB V, S. 506. 139 Vgl. das Porträt, das George Grosz (Ein kleinesJa und ein großes Nein, S. 186) in seinen Erinnerungen von ihm liefert: »Eduard Fuchs war eines der

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trug er dazu bei, Daumier in Deutschland bekannt zu machen, und Benjamin sieht in ihm nicht nur einen Pionier der Ge­ schichte der Karikatur, sondern auch einen »Pionier der mate­ rialistischen Kunstbetrachtung«.140 Fuchs war von Hause aus nicht zum Gelehrten bestimmt. Sein Interesse an der Karikatur brachte ihn dazu, sich ihrer Geschichte zu widmen. Darauf be­ dacht, Zugang zu den großen Lesermassen zu finden, war Fuchs ein Zeitgenosse auch der Bemühungen der Neuen Zeit, den Arbeitern kulturelle Orientierung zu liefern. Fuchs lehnte sich gegen eine verknöcherte Sichtweise der Kunstgeschichte auf; er zog es vor, deren »Grenzgebiete« zu erforschen, sei es die Karikatur oder das pornographische Bild, und brach mit der neoklassizistischen Ästhetik, deren Spur noch bei Marx erkennbar ist. So wurde er zum Pionier der Un­ tersuchung der Massenkunst und der Reproduktionstechni­ ken: beides Elemente einer künftigen materialistischen Kunst­ auffassung im Benjaminschen Sinne.141 Seine Leidenschaft für die Karikatur widerstrebt unmittelbar jedem Schönheitskult. Er sucht in ihr eine Wahrheit, ein Dokument der Epoche, ihres Überschwangs oder ihrer Dekadenz. Die Naivität seiner ästhe­ tischen Ideen nimmt ihm nichts von seinen Verdiensten, auch wenn er, wie Benjamin zeigt, den sozialdemokratischen Vor­ stellungen seiner Epoche verhaftet bleibt.142 In seinem demo­ kratischen Optimismus Victor Hugo nahestehend, ist Fuchs eine balzacsche Figur, »er hat eine Rabelaisische Freude an ganz wenigen wirklichen Originale unserer Zeit. Ich bin froh, daß ich ihn noch gekannt habe.« Benjamin begegnete ihm 193 j in Paris. 140 »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, GS II.2, S.466. 141 »Die Befassung mit der Reproduktionstechnik erschließt, wie kaum eine andere Forschungsrichtung, die entscheidende Bedeutung der Rezep­ tion; sic gestattet damit, den Prozeß der Verdinglichung, der am Kunstwerk statthat, in gewissen Grenzen zu korrigieren« (ebd., S.480). So polemisierte Fuchs auch gegen die ästhetischen Kategorien Wölfflins. 142 Dem Postulat einer Parallelität zwischen den Gesetzen der Natur und der Geschichte, seinem unerschütterlichen Fortschrittsglauben... usw.

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Quantitäten, die sich bis in die üppigen Wiederholungen seiner Texte bemerkbar macht«.143 Die französische Ahnentafel des Sammlers wird ergänzt durch die deutsche des Historikers. Bei Fuchs, der seinen Reich­ tum und den seiner Sammlung genußvoll zur Schau stellt, ent­ deckt Benjamin einen Konflikt zwischen Elementen eines bürgerlichen Moralismus und materialistischen Bestandteilen. Als deutscher Jakobiner bleibt er an das Gewissen als morali­ sche Instanz gebunden. Während er diesem Gewissen - in sei­ ner bürgerlichen Gestalt - den Prozeß macht, unterwirft er es nicht der Kritik des historischen Materialismus. Sein Moralis­ mus bezeichnet, trotz seines Interesses an der Psychoanalyse, auch die Grenze seiner Auffassung der Sexualität: Verwerflich scheint es ihm, »diesen obersten Trieb zum bloßen Mittel raffi­ nierter Genußsucht herabzuwürdigen«.144 In diesem Punkt hat er von Wedekind nichts verstanden. Doch Benjamin be­ grüßt in der Fuchsschen Sittengeschichte bemerkenswerte Ana­ lysen der Mode, deren geschichtliche, gesellschaftliche und erotische Dimension er erfaßt. In seinen Graphiken präsentiert Daumier die sozialen Typen seiner Zeit wie Statuen auf einem Sockel.145 Fuchs zieht berechtigten Stolz daraus, dessen Zeich­ nungen in Deutschland eingeführt zu haben. Als Sammler trug er dazu bei, das Kunstwerk wieder in ein gesellschaftliches Umfeld zu stellen, es seinem Status als Ware zu entreißen. Er war auch einer der ersten, die »die Frage der technischen Re­ produktion des Kunstwerks« stellten. Als wäre er selbst einer Karikatur Daumiers entsprungen, erforschte Fuchs, indem er seine Sammlerleidenschaft befriedigte, eine »Kunst, in deren

143 Ebd., S.492. 144 (Ebd., S.496. Es handelt sich um ein Zitat von Fuchs.) 145 »Keine Gestalt wurde für Fuchs lebendiger als Daumier. Sie hat ihn durch sein Arbeitsleben begleitet. Fast könnte man sagen, an ihr sei Fuchs zum Dialektiker geworden.« Ebd., S. joo.

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Schöpfungen die Produktivkräfte und die Massen zu Bildern des gesellschaftlichen Menschen zusammentreten«.146 Der Essay fand die Anerkennung des Instituts147 und trug zweifellos dazu bei, die Position Benjamins zu festigen, der mehrere Male mit Horkheimer, Adorno und Pollock Gesprä­ che führen konnte.148 Die andere für die Zeitschrift bestimmte Arbeit, die Benjamin den ganzen Sommer und Herbst 1938 be­ schäftigen sollte, »Das Paris des Second Empire bei Baude­ laire«, wurde nach einem Briefwechsel mit Horkheimer und Diskussionen mit Pollock beschlossen. Wir haben bereits er­ wähnt, daß seine Veröffentlichung von Adorno selbst abge­ lehnt wurde - die Gründe dafür werden im weiteren noch dargelegt.149 Benjamin gab die Hoffnung nicht auf, daß die Zeitschrift seinen zweiten Essay, »Theorie des Flaneurs«, an­ nehmen würde. 1938 publizierte er die Besprechung, die er der Dissertation Gisele Freunds über die französische Photogra­ phie im neunzehnten Jahrhundert gewidmet hatte150, und im Jahr darauf seine Studie »Über einige Themen bei Baude­

146 (Ebd., S. 505.) 147 »Der >Fuchs< hat großen Beifall gefunden. Ich habe keinen Grund zu verschweigen, daß der mit ihm geleistete tour de force ebenso beträchtlich wie unbeträchtlich sein Anlaß ist« (Brief an Scholem vom 4. April 1937, GB V, S. 506). Scholem nahm den Aufsatz höchst reserviert auf. 148 Letzteren traf er vor allem im Jahr 1938. Das Projekt eines Artikels über Klages und Jung wurde zugunsten des Baudelaire-Essays aufgegeben. Dem Institut widmete Benjamin einen Aufsatz (»Ein deutsches Institut frei­ er Forschung«) in der Exilzeitschrift Maß und Wert. Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur, er erschien Mai/Juni 1938. 149 (Vgl. unten, S. J24ff.) 150 (»Gisfeie Freund, La photographie en France au dix-neuvifeme sifecle«, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg .7 (1938), Heft 1-2; GS III, S. 542-544. Gisfeie Freund zitiert (in Photographie und Gesellschaft, S.42 und 298) Wal­ ter Benjamin und dessen 1931 in der Literarischen Welt erschienene »Kleine Geschichte der Photographie«, GS II.i, S .368-385.) Man findet darin die Themen wieder, die Benjamin selbst beschäftigten: die Geschichte der Pho­ tographie, der Einfluß der Reproduktionstechniken auf das Kunstwerk.

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laire«.151 Die sehr günstige Aufnahme, die dieser zweite Essay über Baudelaire beim Institut fand, bedeutete für Benjamin eine enorme Ermutigung, als er im Lager von Nevers interniert war. So schrieb er an Horkheimer am 30. November 1939: »Si moi-meme, j’au pu, dans la plupart des cas, echapper a un tel desarroi, c’est en premier lieu ä vous que j’en suis redevable, et je ne parle non seulement de votre sollicitude pour ma person­ ne, mais de votre solidarite envers mon travail. L’appui que m’a donne la fa$on dont vous avez accueilli le >BaudelaireBaudelaire< erfuhr, war mir unschätzbar.«] Vgl. auch den Brief an Adorno vom 7. Mai 1940, ebd., S.444-45 5. 153 Ebd., S. 361. 154 (Brief Horkheimers an Benjamin vom 22. Dezember 1939), zitiert nach GS I.3, S. 1128. [»Ich wünsche Ihnen, daß Sie die Möglichkeit finden, eine Arbeit fortzusetzen, die ich schon jetzt als eine der Seiten in der Geschichte unseres Instituts betrachte, auf die es mit größtem Recht stolz sein kann.«]

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seine Anstrengungen, Benjamin die rechtlichen und materiel­ len Möglichkeiten für eine Übersiedlung in die Vereinigten Staaten zu verschaffen. Dieser zögerte lange, weil er fürchtete, dem Institut zur Last zu fallen. In seinem letzten, aus Lourdes geschriebenen Brief an Adorno vom 2. August 1940 zeigte er sich gefaßt, ohne sich »dem gefährlichen Charakter der Lage [...] verschließen« zu können.155 Die Bemühungen, die Horkheimer und Adorno unternahmen, konnten ihn nicht retten, und so blieb sein Text »Über einige Motive bei Baudelaire« sei­ ne letzte Veröffentlichung in der Zeitschrift. Benjamin und Adorno: eine fruchtbare Freundschaft trotz theoretischer Konflikte Die theoretischen und erst recht die persönlichen Beziehun­ gen156 zwischen Benjamin und Adorno haben widersprüch­ liche und manchmal sachlich kaum fundierte Deutungen er­ fahren. Zu der lückenhaften Kenntnis der Texte kommen offenkundig polemische Absichten hinzu.157 Wir können ihr i j j GB VI, S.476. (Der vollständige Briefwechsel 1928-1940 zwischen Adorno und Benjamin endet [ebenso wie GB VI, S.483] mit der am Vor­ abend seines Selbstmords in Port-Bou geschriebenen Notiz in französischer Sprache an Henny Gurland und Adorno.) 156 Anders als im Verhältnis zu Bloch waren ihre Beziehungen nicht von ambivalenten Gefühlen getrübt. Ihre Gegensätze und Konflikte liegen we­ sentlich auf theoretischer Ebene. 157 Das Verhältnis Benjamins zu Adorno steht im Zentrum jeder kriti­ schen Rezeption seines Werkes. Den radikalsten Versuch, sie in Gegensatz zueinander zu bringen, unternahm die Zeitschrift alternative (Nr. 56/57, Oktober-Dezember 1967), die die intellektuelle Redlichkeit Adornos als Herausgeber und Nachlaßverwalter Benjamins in Frage stellte. Ihm wurde vorgeworfen, er kaschiere ihre Differenzen und spiele in seinen Darstellun­ gen ihre Gegensätze herunter. Der erste Tadel mag ungerechtfertigt sein der zweite ist es weniger. Helmut Heißenbüttel (»Vom Zeugnis des Fortle­ bens in Briefen«, in: Merkur; Nr. 228, März 1967) klagte den Frankfurter Theoretiker der »Manipulation« an, weil er nicht bereit sei, die Schriften der »theologischen Periode« Benjamins von denen der »materialistischen Perio­ de« zu trennen. In diesem Punkt hatte Adorno recht, und sein Verständnis

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Verhältnis hier nur vor dem Hintergrund einiger entscheiden­ der Momente in der Entwicklung des Benjaminschen Werkes vergegenwärtigen. Eine erschöpfende Darstellung müßte nicht nur ihre Briefwechsel, sondern auch den postumen Dialog be­ rücksichtigen, der lange nach Benjamins Tod die Ausarbeitung der Adornoschen ästhetischen Theorie kennzeichnen sollte. In seiner Rolle als Herausgeber war Adorno um so weniger ge­ neigt, ihre Gegensätze herauszukehren, als sein eigenes Werk einen guten Teil der Benjaminschen Terminologie in sich aufBenjamins war genauer und tiefer als das seiner Kontrahenten. Im Zuge der Polemik wurde Adorno auch vorgehaltcn, er wolle den entscheidenden Ein­ fluß Brechts verschweigen: In der zweibändigen Ausgabe der Schriften Ben­ jamins von 1955 erscheine dessen Name nur ein einziges Mal. Die Benja­ min-Archive waren damals noch nicht erschlossen und teils unzugänglich. So rechtfertigten die Adorno-Kritiker ihre Angriffe mit Dokumenten, die im Zentralarchiv der DDR in Potsdam aufbewahrt wurden. Diese überzoge­ nen, freilich nicht immer unbegründeten Attacken provozierten eine Ant­ wort der Herausgeber und Adornos selbst (Theodor W. Adorno, »Interims­ bescheid« in: Frankfurter Rundschau vom 6. März 1968, GS 20.1, S. 182-186, und Rolf Tiedemann, »Zur »Beschlagnahme« Walter Benjamins oder Wie man mit der Philologie Schlitten fährt«, in: Das Argument, Nr.46, Jg. 10, März 1968). Ein zweites Heft der alternative (Nr. 59/60, April-Juni 1968) wiederholte die Vorwürfe. Die Herausgeberin Hildegard Brenner zog eine erste Bilanz der Auseinandersetzungen zwischen Benjamin und Adorno und veröffentlichte neue Dokumente über die Änderungen, die das Institut an den Texten Benjamins vorgenommen hatte (am Kunstwerk-Aufsatz und an dem Essay über Fuchs). Einen objektiven Bericht über diese Kontrover­ sen gab Pierre Missae (»Du nouveau sur Walter Benjamin?«, in: Critique, Nr. 267/268, August-September 1969). Nach seinem Urteil waren die An­ griffe der »Berliner« überzogen und die Reaktionen der »Frankfurter« un­ geschickt. Neuere Veröffentlichungen haben damit begonnen, zu einzelnen kontroversen Punkten unendlich nuancierte Darstellungen zu liefern: Mar­ tin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts fü r Sozialforschung ip 2j-/p jo ; Marc Jimenez, Vers une esthetique negative. Adorno et la modemite, besonders S. 141 ff.; und Rolf Wig­ gershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, po­ litische Bedeutung, S.2i7ff. Die Adornosche Deutung von Benjamins Bekenntnis zum Marxismus war Gegenstand mehrerer Untersuchungen: Christoph Hering, Der Intellektuelle als Revolutionär, Klaus Garbcr, Re­ zeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin.

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gesogen hatte. Von der Analyse des Kunstwerks im Kapita­ lismus bis zur Denunziation des Jargons der Eigentlichkeit nimmt es fortwährend darauf Bezug. Mindestens drei Momen­ te lassen sich in ihrem Dialog unterscheiden: 1. die Polemiken der dreißiger Jahre, die sich - vom Expose des Passagen-Projekts von 1935 bis zur ersten Fassung des Bau­ delaire-Essays - auf Benjamins Methodik, seine zentralen theoretischen Einsichten und seine Konzeption der dialekti­ schen Vermittlung der gesellschaftlichen Phänomene bezie­ hen; 2. der Versuch, einer politischen Radikalisierung der Problem­ stellung Benjamins entgegenzutreten, einer Radikalisierung, die Adorno für übervereinfachend hielt und die er auf den Einfluß Brechts zurückführte; 3. die Aufnahme einer Reihe von Themen und Begriffen in die ästhetische Theorie Adornos, die von Benjamin angeregt worden sind und oftmals einer sekundären Bearbeitung un­ terzogen werden. Bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, entstand zwi­ schen ihren ästhetischen Anschauungen eine gewisse Osmose, deren Intensität in den dreißiger Jahren am stärksten sein soll­ te.158 Sehr rasch machte Benjamin Adorno zum bevorzugten Leser seiner Texte. Dieser war von Benjamins Fähigkeit beein­ druckt, aus den winzigsten Dingen metaphysische Konstruk­ tionen zu entwickeln, und verglich ihn mit einem Magier.159 Diese intellektuelle Resonanz, die sofort zwischen ihnen ent-

1 $8 »Sucht man in den Schriften und Briefen der dreißiger Jahre nach dem schwachen Anzeichen dafür, daß ein bestimmtes Thema des einen vor der Konzeption des anderen entwickelt worden ist, so ist die Gefahr groß, daß sich die Spuren im Unendlichen verlieren«, heißt es bei Marc Jimenez (Vers une esthctique negative, S. 141). 1 J9 [Adorno, »Einleitung zu Benjamins »Schriften«, GS 11, S. $68.]

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stand, war um so bemerkenswerter, als beide sehr unterschied­ licher Herkunft waren.160 Der Einfluß Benjamins auf Adorno ist bereits in der ersten philosophischen Arbeit erkennbar, die Adorno publizierte, der von Paul Tillich betreuten und 1931 vorgelegten Habilita­ tionsschrift »Die Konstruktion des Ästhetischen bei Kierkegaard«.161 Darin setzte sich Adorno von den existentiellen oder theologischen Kierkegaard-Deutungen entschieden ab und bemühte sich vielmehr darum, den »mythisch-dämonischen Charakter des Existenzbegriffs bei Kierkegaard« zu klären. D ie . JÜerkegaardschen Beschreibungen bürgerlicher Inte­ rieurs - etwa derjenigen im Tagebuch des Verführers - erschie­ nen ihm als historische Ausdrucksformen einer »objektlosen Innerlichkeit«, einer auf die Immanenz zurückgeführten Tran­ szendenz, die sich von einer mythischen Hülle nicht lösen

160 Adorno war Sohn eines jüdisch-deutschen Kaufmanns, der zum Pro­ testantismus übergetreten war; seine Mutter, eine Opernsängerin, war ka­ tholisch und korsischer Herkunft. Als Schüler »Wunderkind«, studierte er bereits mit siebzehn Jahren in Frankfurt Philosophie, aber auch Musikwis­ senschaft, Psychologie und Soziologie. Mit sechzehn begann er Komposi­ tionsstudien. Seine geistige Bildung verdankt vieles dem siebzehn Jahre älte­ ren Siegfried Kracauer, der gegen Ende des Ersten Weltkriegs sein Mentor in Philosophie wurde. Unter seinem Einfluß las er Kant. Später wurde er von der Lektüre der Theorie des Romans von Lukäcs und von Blochs Geist der Utopie geprägt. Nach seiner Doktorarbeit, die er 1924 der Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie [GS 1, S.7-77] widmete, wandte er sich der Musikkritik und Musikästhetik zu. Unter dem Eindruck der Entdeckung Alban Bergs ging er 192 j nach Wien und wurde dessen Schüler. 161 Erinnern wir daran, daß Adorno bei seiner Habilitation fast auf die gleichen Schwierigkeiten gestoßen wäre wie Benjamin, obgleich seine A r­ beit über Husserl [»Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre«, GS x, S.79-322] getreulich der »Philosophie« von Cornelius folgte, dessen Assistent er zu werden hoffte. Die Arbeit über Kierkegaard, mit der er dann habilitiert wurde und die 1933 unter dem leicht modifizier­ ten Titel Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen [GS 2] erschien, war Kracauer gewidmet.

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kann.162 Deren Überwindung hoffte er in der Konzeption des ästhetischen Stadiums bei Kierkegaard selbst zu finden. Tillich und Horkheimer waren von dieser »historisch-materialisti­ schen« Behandlung theologischer Themen fasziniert. Metho­ disch hatte er sich in der Tat weitgehend von Benjamins Essay über die Wahlverwandtschaften und seiner Studie über das Trauerspiel anregen lassen.163 Während Benjamin sich darüber freute, war Scholem empört und sah in Adornos Werk nur ein ziemlich oberflächliches Buch, das »ein sublimes Plagiat Dei­ nes Denkens mit einer ungewöhnlichen Chuzpe« verbinde.164 Sowohl in seinem Baudelaire-Essay wie in den Passagen wird sich Benjamin auf die Analysen Adornos über die Kierkegaardsche Innerlichkeit beziehen - insbesondere diejenigen, die er im Tagebuch des Verführers den Dingen widmet -, um die Bedeutung des Plüschs, des bürgerlichen Dekors im Second Empire zu verstehen. Seine Antrittsvorlesung »Die Aktualität der Philosophie«

162 (Vgl. insbesondere das zweite Kapitel »Konstitution der Innerlich­ keit«, GS 2,8.38-69). 163 Vgl. insbesondere die Untersuchung der »Barockmotive« bei Kierke­ gaard oder die Passagen über die Allegorie. In seiner Rezension des Adornoschen Buches in der Vossischen Zeitung (»Kierkegaard. Das Ende des phi­ losophischen Idealismus«, GS III, S. 380-383) hebt Benjamin die Bedeutung dieser Themen hervor. Die Analogien zwischen den philosophischen Vorge­ hensweisen Adornos und Benjamins sind offenkundig (siehe dazu das Vor­ wort von Illiane Escoubas zu der französischen Ausgabe von Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Construction de l'esthetique). Es handelt sich um ei­ nen recht ähnlichen Versuch einer materialistischen Klärung theologischer Themen, der Konfrontation mit dem mythischen Element. Die schönen Analysen, die der »Innerlichkeit« und dem »Interieur« gewidmet sind, ver­ wandeln die alltäglichen Gegenstände in wahrhaft »dialektische Bilder«. Die Betrachtung dieser Welt der Dinge in ihrem Gegensatz zur Geschichte erin­ nert von ferne an die Ausführungen Benjamins über die Rolle der Intrige und der Höflinge im barocken Trauerspiel und die Entwicklung des Helden zur Figur der Marionette. 164 Brief Scholems an Benjamin vom 24. Oktober 1933, in: Benjamin/ Scholem, Briefwechsel 1933-1940, S. 109.

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wollte Adorno Benjamin widmen165, und nicht ohne Stolz schrieb dieser am 26. Juli 1932 an Scholem, »Theodor Wiesen­ grund, Privatdozent«, habe im abgelaufenen Semester ein Se­ minar über sein Trauerspiel-Buch, gehalten.166 Und in seinem Vortrag »Die Idee der Naturgeschichte« (Juli 1932) - einer Po­ lemik gegen Heidegger - beruft sich Adorno ausdrücklich auf Lukäcs’ Theorie des Romans und die Studie über das Trauer­ spiel.167 Die Parallelität der theoretischen Wege Benjamins und Ador­ nos tritt noch deutlicher hervor, als dieser sein anfängliches In­ teresse an der Musik auf die Frage nach Status und Funktion des Kunstwerks in der Industriegesellschaft ausdehnte. Die Kritik an der versteinerten Sphäre des Mythischen und der Phantasmagorie, die den Versuch über Wagner kennzeichnet, steht auch im Mittelpunkt des Passagen-Bro]ekts. Der Aufsatz »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (1938) stellt dagegen unbestreitbar eine Kritik an Thesen dar, die Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz entwickelt hatte. Ab 1935 führen ihre latenten Meinungsunterschiede zu

16 5 Auch die Vorlesung Adornos ist weitgehend von der »Vorrede« zum Trauerspiel-Buch inspiriert. Statt sich jedoch auf die Platonische Idcenlchre zu beziehen, stellt Adorno die wissenschaftliche und materialistische Seite heraus. Der Vortrag blieb unveröffentlicht (siehe GS 1,8.325-344). 166 C B IV, S. 113. In einem anderen Brief an Scholem vom 15. Januar 1933 präzisierte er allerdings, daß Adorno dies im Vorlesungsverzeichnis nicht kenntlich gemacht habe (ebd., S. 157). 167 Mit der Einführung einer geschichtlichen Dimension in den Begriff der Natur verwarf er zugleich den Positivismus und die Heideggersche Ge­ schichtlichkeit. Der von Lukäcs in der Theorie des Romans beschworenen spontanen Totalität des Seins stellte er die Bedeutung des Fragments und des Ephemeren bei Benjamin gegenüber. Adorno verwendet die von Benjamin in dem Essay über Goethe und in seiner Dissertation über die romantische Kunstkritik entwickelten Begriffe (Konfrontation mit dem Mythos, Wahr­ heitsgehalt usw.) (vgl. Adorno, »Die Idee der Naturgeschichte«, GS 1, s- 345-365).

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theoretischen Diskussionen. Den ersten Anlaß dazu bot Benja­ mins Essay über Kafka.168 Seit Mitte der zwanziger Jahre hatte sich Benjamin für den Prager Schriftsteller interessiert, mit Leidenschaft seine Texte entdeckt und mehrfach den Plan gefaßt, ihm Studien zu widmen. Kafka stand im Zentrum seiner Diskussionen mit Adorno, Brecht, Scholem und Werner Kraft. Aus drei Teilen bestehend169 - »Potemkin«, »Ein Kinderbild«, »Das bucklicht Männlein« - , war dieser Essay zunächst ein Versuch, die Welt Kafkas aus ihrer eigenen Logik, aus den ihr zugrunde lie­ genden theologischen Kategorien zu erhellen. Die Welt der schmutzigen Beamten sei mit einer merkwürdigen Machtfülle versehen. Sie ähnele der des Vaters, der den Sohn bestraft und dessen Leben zerstört. In Weltaltern denkend, stelle Kafka das Gewicht der Schuld des Sohnes im Bild des Prozesses dar. Die Gerechtigkeit, die er angeblich widerfahren läßt, gehöre der Vorwelt, der Sphäre des Mythos, an. Den Angeklagten bleibe keine Hoffnung. Trotzdem, bekräftigt Benjamin, sei Kafka der »Lockung« des Mythos »nicht gefolgt«. Er sei vielmehr be­ müht, in seinen Erzählungen die Möglichkeit einer Art von E r­ lösung offenzuhalten: »Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen [...] Mittel­ welt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind.«170 Während er sich im dritten Teil von den geläufigen theologi­ schen Deutungen absetzt, die die »Oberwelt« mit dem »Sitz der Gnade« identifizieren171, beharrt Benjamin auf der Bedeu­ tung des Vorweltlichen bei Kafka, das in der Sünde dargestellt 168 »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, Teilab­ druck [»Potemkin« und »Das bucklicht Männlein«] in derJüdischen Rund­ schau vom 21. und 28. Dezember 1934; GS II.2, S. 409-43 8. 169 (Die vollständige Fassung des Essays enthält einen vierten, abschlie­ ßenden Teil unter dem Titel »Sancho Pansa«.) 170 (»Potemkin«, ebd., S.416X 171 (»Das bucklicht Männlein«, ebd., S.426.)

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sei. Kafka habe keine Antwort gegeben, die die Identität von Prozeß und Urteil zu klären erlaubt. Benjamin betont die Be­ deutung der Parabel. Doch Kafka habe das Gefühl gehabt, mit dem Versuch, »die Dichtung in die Lehre zu überführen«172, gescheitert zu sein; darin liege der Grund für die testamentari­ sche Bestimmung, sein Werk zu vernichten. Seine leeren Hel­ den werden, fern dem geschichtlichen Fortschritt, vom Verges­ sen beherrscht. Den Kopf tief auf die Brust gesenkt, ähneln sie in ihrer Müdigkeit Buckligen. Ausgehend von einer träumerischen Betrachtung eines Kinderbildes von Kafka sucht Benjamin in Am erika und im »Naturtheater von Oklahoma« die Erscheinungsform eines Theaters des »Gestischen«. Kafkas Werk als ein Universum kodifizierter Gesten verleihe ihnen eine Dimension, die sie ei­ ner bloß irdischen Welt entziehe. Diese Zeichengebärden, Ge­ genstand von »Überlegungen, die kein Ende nehmen«173, seien bei Kafka ein Spiel von Allegorien, die er zu Parabeln entfalte. Deshalb nähert Benjamin sie der Tradition der Haggada und der Halacha an. Es seien erzählte Geschichten, die einer Erläu­ terung harren. Die Kunst Kafkas bestehe darin, diese Erläute­ rung niemals zu geben, höchstens sie manchmal anzudeuten. Ständig kehre er zur Welt der Menschen mit ihren büro­ kratisch-hierarchischen Formen zurück, die die Gestalt des Schicksals annehmen. Er untergrabe die Exegese seines eigenen Textes, führe jeden zum Theater des gewöhnlichen Lebens zu­ rück. Doch dieses Gewöhnliche erhelle sich auch von religiö­ sen, sogar säkularisierten Kategorien aus und im Herzen der Kafkaschen Welt blieben talmudische Elemente bewahrt. In seinem Brief an Benjamin vom 1 6. Dezember 1934 hob Adorno den »ganz außerordentlichen Eindruck« hervor, den die Lektüre des Kafka-Essays bei ihm hinterlassen habe. Nie 172 [Ebd.,S.427.] 173 (»Ein Kinderbild«, ebd., S.420.)

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sei ihm ihre »Übereinstimmung im philosophischen Zentrum« deutlicher geworden.174 In einem tags darauf geschriebenen Brief175 unterstreicht Adorno noch einmal die Konvergenz ih­ rer Auffassungen. Die Deutung der theologischen Kategorien bei Kafka traf sich mit derjenigen, die er selbst bei Kierkegaard versucht hatte. Gleichwohl hält er das Verhältnis zwischen dem Vorweltlichen, dem Archaischen, dem Mythos und dem Modernen für nicht hinreichend geklärt. Die Antithese zwi­ schen Zeitalter und Weltalter müsse dialektisch vermittelt wer­ den. Er mißtraute auch der Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters und einiger Rekurse auf Brecht176, die ihm »materialfremd« schienen. Dagegen betonte er Kafkas Nähe zum Stummfilm. In seiner Antwort177 räumte Benjamin die Richtigkeit der Kritik Adornos an der »mangelndefn] Bewältigung des A r­ chaischen« ein, an der fehlenden dialektischen Vermittlung der Beziehung zwischen den Weltaltern und dem Vergessen sowie die Notwendigkeit, alle diese Themen zu vertiefen. Die Briefe, die sie bis Mitte der dreißiger Jahre wechselten, bezeugen eine wirkliche theoretische Übereinstimmung und wechselseitige Bewunderung.178 Das Expose des Passage«-Projekts, das Benjamin auf die Bit­ te Friedrich Pollocks verfaßte, war der erste bedeutende Nie­ derschlag dessen, was »Paris, die Hauptstadt des X IX . Jahrhun­ derts« werden sollte, doch es wurde auch Anlaß sehr lebhafter 174 (Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S.89.) 175 (Brief vom 17. Dezember 1934, ebd., S. 89-96.) 176 Anspielung auf Lao-tse, Berufung auf den epischen Stil, Verbindung mit der Legende des Großinquisitors bei Dostojewski. 177 Brief an Adorno vom 7. Januar 1935, CB V, S. 12-15. 178 Vgl. den Brief Benjamins vom 3. September 1932 (GB TV, S. 126-129) über die »Naturgeschichte des Theaters« (wieder in: Theodor W. Adorno, Quasi una fantasia, GS 16, S. 309-320). Im [ungedruckten, nicht erhaltenen] Schlußstück der Sammlung, das im Manuskript Benjamin gewidmet war, nimmt Adorno Bezug auf das Trauerspiel-Buch.

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Diskussionen mit Adorno über Benjamins höchst eigene Me­ thodologie. Aus sechs Teilen bestehend - »Fourier oder die Passagen«, »Daguerre oder die Panoramen«, »Grandville oder die Weltausstellungen«, »Louis-Philippe oder das Interieur«, »Baudelaire oder die Straßen von Paris«, »Haussmann oder die Barrikaden« war dieser Entwurf gleichzeitig ein Themenin­ ventar und die Präsentation der Begriffe oder Kategorien, die die ihm zugrunde liegende Erkenntnistheorie bilden. Benjamin erinnert zunächst an die Entstehung der Pariser * Passagen nach 1822, an ihre Rolle als »Zentrum des Handels in Luxuswaren« und als Ort der Flanerie, an ihre Funktion des Schaufensters. Mit ihrer systematischen Verwendung von Glas und Stahl erscheinen sie ihm als das erstaunlichste Symbol der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Bemerkung Michelets - »Jede Epoche träumt die ihr folgende« - führt die Idee des »dialektischen Bildes« ein, Schöpfungen des kol­ lektiven Bewußtseins, »in denen das Neue sich mit dem A l­ ten durchdringt«.179 In solchen Wunschbildern, Traumbildern suchten diejenigen, die sie prägten, »die Unfertigkeit des ge­ sellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaft­ lichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu ver­ klären«.180 Im dialektischen Bild erweist sich der Wunsch, sich vom Veralteten abzusetzen, der Kult des Neuen, doch liegen auch utopische Hoffnungen in ihm, Elemente der »Urge­ schichte«, die sowohl im Leben wie in der Architektur ihre Spur hinterlassen. Benjamin fand sie bei Fourier wieder, des­ sen Phalanstere von der Architektur der Passagen inspiriert scheint. Diese tiefgreifende Entwicklung der französischen Gesell­ schaft und ihrer Wahrnehmung blieb nicht ohne Auswirkung auf die ästhetische Sphäre. Die Architektur entwächst der 179 »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, GS V. 1, S. 46. 180 Ebd., S.46f.

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Kunst, und die Malerei sieht sich der Erfindung der Panora­ men gegenüber, perfekten Nachahmungen der Natur, in denen sich der Film ankündigt. Vor den Augen des Betrachters wird die Stadt zur Landschaft, so wie sie es für den Flaneur sein wird. Benjamin erinnert auch an den Niedergang des Berufs des Porträtminiaturisten seit dem Erfolg der Photographie, die auf der Weltausstellung von 18 j 5 ihre Weihen erhält. A uf die­ sen »Weltausstellungen« findet der Warenkult - die Verklärung des »Fetischs Ware« - seinen Höhepunkt. Die Phantasmagorien, die sie hervorrufen, dienen als echte Zerstreuung, die es dem Menschen gestattet, »seine Entfremdung [zu genie­ ßen]«.181 Zum Kultus der Ware, seinem Ritual, gesellt sich die Mode: Beide ermöglichen es Paris, als Kapitale des Luxus auf­ zutrumpfen. Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann die Bühne der Geschichte. Sein Interieur tritt in Gegensatz zur Arbeitsstätte. Die Bedeutung, die der Privatsphäre beigemessen wird, er­ zeugt neue Phantasmagorien: Sie stellt das Universum dar. Je­ der möchte im kollektiven Raum seinen intimen wiederfinden. Daher die Bedeutung der Ornamentierung, die im Jugendstil gipfelt, der letzten Revolte gegen die Technik, deren Formen er für die Kunst zu vereinnahmen sucht. Ausgehend von diesem Kult des Interieurs versucht Benjamin das Auftreten der Figur des Sammlers oder die Entstehung des Kriminalromans zu ver­ stehen. Das allegorische Ingenium Baudelaires, seine Melan­ cholie, erlaubten es ihm, Paris in einen Gegenstand der Lyrik zu verwandeln. Mit ihm zeigt sich der Blick des Flaneurs, der an der Schwelle der Großstadt und der Bürgerklasse steht. Benjamin skizziert die Verbindungen Baudelaires zur Boheme und zur Welt der »Berufsverschwörer«. Sein Werk ist vom »re­ bellischen Pathos« nicht zu trennen. Benjamin schildert, wie sich die Bilder der Frau, des Todes und der Stadt Paris beim i8x (Ebd., S.jof.)

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Autor der Fleurs du mal durchdringen; er betont dessen Ver­ haftetsein mit den »chthonischen« Elementen der Stadt und mit der Moderne, die als Spleen erscheint. Die Zweideutigkeit der sozialen und politischen Ereignisse der Zeit findet Benja­ min in der »bildlichefn] Erscheinung der Dialektik«, dem »Ge­ setz der Dialektik im Stillstand«.182 Das »dialektischeBild« als Traumbild erhebt die Ware in den Rang eines Fetischs. Ein solches Bild stellen die Passagen dar oder die Prostituierte, »die Verkäuferin und Ware in einem ist«.183 Die Ware symbolisiert den entfesselten Kult des Neuen, der über die vom kollektiven Unbewußten hervorgebrachten Bilder herrscht. Sie ist die Hauptquelle der Phantasmagorie. Benjamin zeigt, wie die Figuren des Snobs und des Dandys eng mit dieser Herrschaft des »Immergleichen« verknüpft sind, wie die Welt der Phantasmagorie über die Raumvorstellung des Flaneurs ebenso wie über die Zeitvorstellung des Spielers herrscht. Was die urbanistischen Leistungen, die »strategischen Verschönerungen« des Präfekten Haussmann angeht, so stüt­ zen sie die Apotheose des Bürgertums. An die Peripherie ver­ drängt, sahen die Arbeiter die Stadt von nun an mit fremden Augen. Diese Maßnahmen konnten die Commune und die Barrikaden nicht verhindern; sie machte »mit der Phantas­ magorie ein Ende, die die Frühzeit des Proletariats be­ herrscht«184 - nämlich »Hand in Hand mit der Bourgeoisie das Werk von 1789 zu vollenden« -, und zeigte, daß der Klassen­ kampf immer noch lebendig war. In dieser Welt, in der alles zur Ware geworden ist, sind die Passagen und Interieurs, die Aus­ stellungshallen und Panoramen »Rückstände einer Traum­ welt«: »Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist

182 Ebd., S. 55. 183 (Ebd.) 184 (Ebd.,S.j8.)

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der Schulfall des dialektischen Denkens.« Es muß ein »ge­ schichtlicheis] Aufwachen« ermöglichen.185 In seinem Brief vom 2. August 1935 erkannte Adorno an, das Expose sei »der wichtigsten Konzeptionen voll«. Gleichwohl formulierte er zu Benjamins Ausführungen über die »Urge­ schichte des neunzehnten Jahrhunderts«, über das »dialekti­ sche Bild« und die »Konfiguration von Mythos und Moderne« mehrere grundsätzliche Kritiken, die jene viel härter formu­ lierten vorwegnehmen, die er gegen den »Baudelaire« richten wird. Die den Passagen zugrunde liegende Erkenntnistheorie schien ihm vom Material zu sehr getrennt. Ein echter dialekti­ scher Zugang hätte diesen Gegensatz zu überwinden. Wenig empfänglich zeigte er sich für das Motto von Michelet; die Konzeption des dialektischen Bildes, wie Benjamin sie vorfüh­ re, impliziere dreierlei: Sie bestimme es erstens als - wenn auch kollektiven - Bewußtseinsinhalt, beziehe sich zweitens gerad­ linig, fast entwicklungsgeschichtlich auf Zukunft als Utopie und fasse drittens eine Epoche als einheitliches Subjekt jenes Bewußtseinsinhalts auf.186 Solche Bestimmungen entbehrten der begrifflichen Strenge und simplifizierten ihren Wahrheits­ gehalt. Diese Kritik des dialektischen Bildes liefert, hält man sich die späteren Polemiken vor Augen, den Schlüssel zu ihren Mei­ nungsverschiedenheiten. Adorno war sich völlig darüber im klaren, daß Benjamin seinen Essay bewußt in einen theologi­ schen Horizont stellte187 und aus den Ruinen des neunzehnten 18j (Ebd., S. j9.) 186 Brief Adornos an Benjamin vom 2. August 1935, in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 139. 187 Adorno lehnte dies keineswegs ab und ermutigte ihn eher zu dieser ma­ terialistischen Behandlung theologischer Inhalte, die er selbst bei Kierke­ gaard versucht hatte. Was er hingegen fürchtete, waren »die Einwände jenes Brechtischen Atheismus«, den er für allzu vereinfachend hielt, und sein Re­ volutionspathos (Brief an Benjamin vom 6. November 1934, ebd., S.74). Für die Konfrontation der marxistischen Theorie mit den von Benjamin heraus­ gearbeiteten theologischen Gehalten erschien ihm das Ästhetische als geeig-

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Jahrhunderts einen bestimmten Typus historischer Erfahrung, ihre Bedeutung als Traum, retten wollte. Doch mit seinem Wil­ len, die gesellschaftliche Entwicklung aus einzelnen Tatsachen zu rekonstruieren, schien ihm Benjamin zu scheitern. Die A r­ gumentation Adornos ist oft triftig. Der »ontologische« Status des dialektischen Bildes und die Frage, welchem Subjekt es zu­ gehört, sind nicht eindeutig geklärt. Insofern sich in ihm Altes und Neues verschränken, insofern es mit der Ware und ihrer Phantasmagorie untrennbar verbunden ist, insofern es von ei­ ner entfremdeten Gesellschaft hervorgebracht wurde, die frei­ lich auch von einem anderen Leben und einer anderen Freiheit träumt, findet das dialektische Bild sein Emblem im Janusge­ sicht: Während die eine Seite auf die Gegenwart als Erfüllung eines vergangenen Traumes blickt, ist die andere von der Utopie überstrahlt und auf die Zukunft gerichtet. Dergestalt ist es ein Produkt der Verdinglichung und ihre Sublimie­ rung zugleich, nämlich als Wunsch, sie durch die Vereinigung utopisch-fortschrittlicher Elemente und archaischer Träume aufzuheben.188 Als wahrhafter Kristallisationspunkt wider­ sprüchlicher Elemente verbinden sich in diesem Bild Materiel­ les und Spirituelles, die Ware und ihre Allegorie. Entstanden aus dem naiven Staunen über die Triumphe des Kapitalismus, enthält es zugleich die Hoffnung auf dessen Überwindung. Natürlich läßt sich schwer sagen, auf welcher Bewußtseinsebe­ ne genau es angesiedelt ist - Staunen, Wachtraum, Wunsch, Utopie oder Illusion -, zumindest wenn man die langen Benetes Forschungsgebiet. Um so faszinierter waren Adorno wie auch Horkheimer - aus der Perspektive ihrer eigenen Untersuchungen - von der Be­ deutung des historischen Bildes als Ausdrucksform der Ware. Die Arbeit Benjamins stellte eine besonders willkommene Illustration ihrer eigenen Arbeiten dar. Die theologischen Gehalte standen für Adorno und vor allem für Horkheimer in direkter Beziehung mit der vom »Warenfetischismus« »entstellten« Welt. 1 88 Man denke an die Bedeutung der Kindheit, des Urkommunismus bei Fourier.

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griffsketten des Blochschen Prinzips Hoffnung verfolgt. Als Merkmal einer Epoche - des neunzehnten Jahrhunderts - ver­ einigt es Vergangenheit und Zukunft, individuellen Wunsch und kollektives Unbewußtes. Adorno, der sehr darauf bedacht war, daß Benjamin die ihm eigene Konzeption des historischen Bildes mit größter Strenge ausarbeitete, mißtraute dem Rück­ griff auf Psychologie und warf ihm vor, er verlege »das dialek­ tische Bild als >Traum< ins Bewußtsein«.189 Damit schien ihm der Begriff nicht nur entzaubert und banal, sondern zugleich jeglichen materialistischen Charakter zu verlieren.190 »Der Fe­ tischcharakter der Ware«, wendet er ein, »ist keine Tatsache des Bewußtseins sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, daß er Bewußtsein produziert«191 19 2... was Benjamin freilich nie ge­ leugnet hat. Zum Verhältnis von dialektischem Bild und Traum führt Adorno einen entscheidenden Kritikpunkt an: Wenn das dialektische Bild der »Auffassungsweise des Fetischcharakters im Kollektivbewußtsein« entspricht, so mag sich darin »zwar die Saint-Simonistische Konzeption der Warenwelt als Utopie, nicht aber deren Kehrseite enthüllen, nämlich das dialektische Bild des neunzehnten Jahrhunderts als H ölle«.,92 So bleibt vom Beispiel der Prostituierten, das Benjamin anführt - »Ver189 Brief an Benjamin vom 2. August 193s, ebd., S. 139. 190 So wie Benjamin es in den Notizen zu den Passagen definiert, ist das dialektische Bild von einem bestimmten materiellen Zivilisationsstand—den Möglichkeiten und dem Luxus, die der Kapitalismus hervorbringt - ebenso­ wenig zu trennen wie von dem Freiheitsraum und der Utopie, die sie erah­ nen lassen. Der Reichtum der Benjaminschen Konzeption hängt gerade mit den Widersprüchen zusammen, die dem dialektischen Bild innewohnen, in­ sofern es zugleich realistisch wegen seiner Verwurzelung in den Dingen, ir­ real durch seine Traumdimension, reaktionär, insofern es an der Verding­ lichung teilhat, und fortschrittlich dank seiner utopischen Fermente ist. Benjamin steht in diesem Punkt Bloch näher, der den Träumen des Unter­ drückten wie denen der Bourgeoisie eine objektive Existenz zuerkennt. Adorno scheint an der Möglichkeit eines materialistischen Zugangs zu den kollektiven Bewußtseinstatsachen zu zweifeln. 191 Ebd. 192 (Ebd., S. 140.)

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käuferin und Ware in einem«193 im dialektischen Bild tat­ sächlich nur noch das Symbol von Luxus und Schönheit, nicht mehr das Ausbeutungssystem, das die Prostitution ermöglicht. Die Verknüpfung der beiden Seiten des dialektischen Bildes bleibt problematisch. Die späteren Ausarbeitungen der Passa­ gen, etwa der Essay über Baudelaire, scheinen auf diesen Ein­ wand zu reagieren.194 Adorno lehnt jede Fundierung des dialektischen Bildes in der Bewußtseinsimmanenz des neun­ zehnten Jahrhunderts ab. Die Immanenz als solche, als »Inte­ rieur«, gilt ihm als Phänomen der Entfremdung.195 Ebenso warf er Benjamin vor, ein undialektisches Verhältnis zwischen Altem und Neuem, Archaischem und Modernem zu konstru­ ieren. Wenngleich Benjamin sich darüber im klaren war, daß die Utopisten des neunzehnten Jahrhunderts - Fourier, SaintSimon - die Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft benutzten, um archaische Träume einer klassenlosen Gesell­ schaft wiederzubeleben, sprach er diesen einen gewissen posi­ tiven Wert zu. Adorno, pessimistischer, lehnte solche archai-

193 »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, G SV .i.S. j j . 194 Man könnte diesen Begriff des dialektischen Bildes von der Mantschen Aussage im Kapital her rechtfertigen: Die »Kategorien der bürgerlichen Ökonomie [...] sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenfor­ men für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesell­ schaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion« (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, MEW Bd. 23, S. 90). Gewiß privilegiert Benjamin den onirischen und utopischen Aspekt des dialektischen Bildes, doch zeigt er auch dessen Brüchigkeit. In den Notizen zu den Passagen stehen den Warentempeln die Ruinen, dem Paris Haussmanns das Paris der Commune gegenüber, und die Hölle be­ steht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die den Kult des Neuen kenn­ zeichnet. Die Prostituierte wird bei Baudelaire mit dem Tod und der Genuß mit dem Spleen verknüpft. Blanqui wird cs Benjamin gestatten, dieser Vision des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle eine politische Begründung zu geben. 195 Man entdeckt hier die Zentralthese seines Kierkegaard-Buches wieder (vgl. Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 140).

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sehen Bilder als »Höllenphantasmagorien« ab.196 Er verhehlte denn auch nicht seine Befürchtung, daß diese »Psychologisie­ rung« des dialektischen Bildes der bürgerlichen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts auf den Leim gehen werde: Auch im Traum spiegele sich nichts als die industrielle Ent­ fremdung. Am Begriff eines kollektiven Unbewußten fürchte­ te Adorno seine Nähe zu Jung und bestritt dem Begriff des »Kollektivbewußtseins«, das selbst erst dialektisiert werden müsse197, jede strenge Begründung. Hinter den Kritiken Ador­ nos zeichnet sich fortwährend seine Befürchtung ab, Benjamin könne, zwischen einer theologischen und einer materialisti­ schen Perspektive zögernd, schließlich beide opfern.198 In seiner Antwort vom 16. August 1935 bezeichnete Benja­ min das Schreiben Adornos als »großen und denkwürdigen Brief«, beurteilte seine Einwände als äußerst fruchtbar und beschwor noch einmal den »engsten Zusammenhang« zwi­ schen ihnen beiden. Während er die Kritik an der vorgesehe­ nen Kapitelaufteilung akzeptierte, unterstrich er, das »Expose« bedeute keineswegs die Aufgabe des ursprünglichen Vorha­ bens.199 Benjamin antwortete nicht eigentlich auf die Kritik­ punkte Adornos, außer in der Frage des dialektischen Bildes: 196 Vgl. ebd., S .141: Denn »die Kategorie unter welcher die Archaik in der Moderne aufgeht«, scheint ihm »weit weniger das goldene Zeitalter als die Katastrophe«. 197 »Das Kollektivbcwußtsein wurde nur erfunden um von der wahren Objektivität und ihrem Korrelat, nämlich der entfremdeten Subjektivität abzulenken« (ebd., S. 141 f.); »so führt die Entzauberung des dialektischen Bildes geradeswegs in ungebrochen mythisches Denken und wie dort Jung so meldet hier Klages als Gefahr sich an« (ebd., S. 142). 198 »Eine Restitution der Theologie oder lieber eine Radikalisierung der Dialektik bis in den theologischen Glutkern hinein müßte zugleich eine äu­ ßerste Schärfung des gesellschaftlich-dialektischen, ja des ökonomischen Motives bedeuten.« (Ebd., S. 143.) 199 »Diese beiden Entwürfe haben ein polares Verhältnis.« Brief an Grete) Karplus und Theodor Wiesengrund-Adorno vom 16. August 1935, CB V, S. 143-

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[...] deute ich zweierlei an, wie zutreffend mir W’s200 Be­ stimmung des dialektischen Bildes als »Konstellation« er­ scheint - und wie unveräußerlich mir gleichwohl gewisse Elemente dieser Konstellation erscheinen, auf die ich hin­ wies: nämlich die Traumgestalten. Das dialektische Bild malt den Traum nicht nach - das zu behaupten lag niemals in mei­ ner Absicht. Wohl aber scheint es mir, die Instanzen, die Ein­ bruchsstellen des Erwachens zu enthalten, ja aus diesen Stel­ len seine Figur wie ein Sternbild aus den leuchtenden Punk­ ten erst herzustellen. Auch hier also will noch ein Bogen ge­ spannt, eine Dialektik bezwungen werden: die zwischen Bild und Erwachen.201 *

Am 27. Februar 1936 sandte Benjamin an Adorno die von Pierre Klossowski übersetzte französische Fassung202 seines Essays »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re­ produzierbarkeit«, den die Zeitschrift veröffentlichen sollte.203 Dieser Text, ein aus dem Massiv der Passagen herausgelöster Block, sollte die Theorie des Kunstwerks im Industriezeitalter bilden, von der sich Benjamins Analysen der Kunst im neun­ zehnten Jahrhundert bis in die Einzelheiten leiten ließen.204 Es handelte sich um einen der kühnsten Vorstöße Benjamins in Richtung auf eine »materialistische Kunsttheorie«. Indem er die verschiedenen Techniken der Reproduktion 200 (W: Wiesengrund; der Anrede zufolge war der Brief an Gretel Karplus gerichtet.) 201 Ebd., S. 144 f. 202 (Tatsächlich handelt es sich um die (zweite) Fassung des deutschen Ma­ nuskripts, das noch »die Spuren der Übersetzungsarbeit trägt«; GB V, S.247.) 203 »L’oeuvre d’art ä l’epoque de sa reproduction mecanisäe«, in: Zeitschrift fü r Sozialforschung, Bd. j (1936), Heft 1; GS 1.2, S. 709-739. 204 Etwa bei seinen Untersuchungen der Photographie (Nadar), der Litho­ graphie (Daumier), aber auch des Jugendstils.

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von Kunstwerken - vom Holzschnitt bis zur Photographie und zum Film - in ihren historischen Etappen nachzeichne­ te205, zeigte Benjamin, wie das Kunstwerk unweigerlich seine »Aura«, sein »Hier und Jetzt«, seine »Einzigkeit« verlor, die es kennzeichneten, ehe die Möglichkeit bestand, es mechanisch zu reproduzieren. Statt darin nur eine negative Erscheinung zu sehen, hob Benjamin hervor, daß dieses Verschwinden eine ra­ dikale Veränderung seines Verhältnisses zum Publikum nach sich zieht. Das Werk verliere seinen magischen, von einem pri­ vilegierten Betrachter wahrgenommenen Charakter eines Kul­ turgegenstands, um eine neue Bedeutung innerhalb der Masse zu finden. Der Film schien ihm diese Entwicklung zu sanktio­ nieren. Die kollektive Rezeption, im Falle Picassos rückstän­ dig, nehme einen progressiven Wert an, indem sie Schaulust, Erleben und kritische Haltung miteinander verschmelze. Als Reproduktionsmittel par excellence ermögliche der Film eine neue Kunstwahrnehmung; die Kamera werde zum schöpferi­ schen Auge, welches das Verhältnis zur Realität verändert. Der »Chock«, den die dadaistischen Werke zu Beginn der zwanzi­ ger Jahre hervorriefen, habe die Nachfrage nach dem Film ge­ fördert, »dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Betrachter eindringen«.206 An die Stelle der »Sammlung«, die der Rezep­ tion des auratischen Kunstwerks entspreche, sei die Zerstreu­ ung getreten, die das Kunstwerk einem großen Publikum er­ schließe. So stelle der Film eine neue Wahrnehmungsweise dar, die sich auf allen Gebieten der Kunst zunehmend bemerkbar mache. Unter diesem Gesichtspunkt setzte Benjamin der vom 205 Benjamins Theorie in ihrer Komplexität wird weiter unten erörtert Der Dichter als Führer in der deutschen KlassikBluthochzcit< des Menschen und der Technik ersetzt. Die Möglichkeit, sie zu beherrschen - ein Leitmotiv der Epoche - , schreibt Ben­ jamin seit dieser Zeit dem Proletariat zu. Die revolutionäre Funktion, die er im Kunstwerk-Aufsatz dem Kino zuerkennt, illustriert diesen Anspruch. Eine vertiefte Reflexion über die destruktive Seite der Technik findet sich in dem Essay »Theorien des deutschen Faschismus« über Jünger. Der Krieg ist für Benjamin »mitbestimmt durch die klaffende Diskrepanz zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen, ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite« (GS III, S. 238). Er ist ein »Sklavenaufstand der Technik« (ebd.). 160 Vgl. insbesondere »Eine Diskussion über russische Filmkunst und kol­ lektivistische Kunst überhaupt. Von Oscar A. H. Schmitz und Walter Benja­ min« (1927) [der Artikel »Potemkinfilm und Tendenzkunst« von Schmitz in GSII.3, S. 1486-1489;Benjamin »Erwiderung« in GS II.2, S.7J 1-755]. Benja­ min paralleiisiert dort die technischen Revolutionen mit »Bruchstellen der Kunstentwicklung« [ebd., S.752]. 161 Einige der interessantesten philosophischen und politischen Überle­ gungen Benjamins zur Technik finden sich in dem Essay gegen Jünger. Ben­ jamin prangert den destruktiven Charakter der Technik an, den Jünger in Der Arbeiter glorifiziert. Jünger sieht deren Herrschaft in der Gestalt des Arbeiter-Soldaten voraus, deren Quellen im revolutionären Nationalismus und Nationalbolschewismus liegen. So entfernt - und gegensätzlich - ihre Problemstellungen auch sein mögen, gibt es doch zahlreiche Berührungs­ punkte. Dem Verfall der Aura durch die Reproduzierbarkeit der Kunst ent­ spricht bei jünger die sichere Überzeugung, daß die »photographische Linse [...] zerstörerischen Charakter besitzt, daß sie die Eigenarten der Naturund Kulturlandschaften sprengt« (vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 223). Jünger analysiert den Verfall der Erfahrung im bürgerlichen Roman in Be-

Das Projekt einer materialistischen Ästhetik

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Positivität in der Kunst hebt er ähnlich hervor wie Piscator und Brecht. Stets beharrt er auf ihrer emanzipatorischen Dimen­ sion. Vielleicht ist dies einer der Punkte, an denen er Adorno am fernsten steht, der gegenüber jeder Technikverehrung un­ endlich viel mißtrauischer war. In der Ästhetischen Theorie be­ tont er den »Antagonismus im Begriff der Technik als eines innerästhetisch Determinierten und als eines außerhalb der Kunstwerke Entwickelten«, der freilich historisch entstanden und deshalb »nicht absolut zu denken« sei.162 Wenn die Kunst auf die Herausforderungen der technologischen Gesellschaft reagieren muß, dann jedenfalls nicht dadurch, daß sie einfach deren Sprache übernimmt. Keinesfalls kann nach Adorno die von der ästhetischen Rationalität geforderte Verwendung der Technik mit der Technik selbst zusammenfallen, und jede Idee einer Versöhnung scheint ausgeschlossen. Das Kunstwerk muß sich - bei Strafe seiner Verwandlung in eine Ware - einer solchen Vereinnahmung verweigern. Der Abstand zwischen diesen beiden technischen Perspektiven wird in den späten Schriften Benjamins oft weitgehend eingezogen. Trotz einigen Zögerns wird er nie aufhören, in den Entwicklungen der mo­ dernen Technik eine Chance für die Kunst überhaupt zu sehen, sofern es gelingt, »die Tendenz zu beherrschen«. Eine Illusion, die Adorno stets verurteilen wird. Dieser Gegensatz zwischen ihren jeweiligen ästhetischen Sichtweisen schlägt sich in ihren Konzeptionen der kollektiven, an Technik und an ein Massen­ publikum gebundenen Rezeption nieder. Adorno wird sich stets kritisch gegenüber der Idee zeigen, daß der Niedergang des auratischen Werks aufgrund irgendeiner gesellschaftlichen Praxis eine ästhetische Wahrnehmung im großen Maßstab be­ fördern könnte. griffen, die denen von Benjamins Essay über den Erzähler benachbart sind. Er betont parallel die Rolle der Masse in der Werkrezeption seit dem Auftre­ ten des Kinos. 162 (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. $7.)

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Literaturkritik und Klassenbewußtsein

D ie Transformation der Produktionsapparate Das epische Theater stellt den Unterhaltungscharaktcr des Theaters in Frage; es erschüttert seine gesellschaftliche Geltung, indem es ihm seine Funktion in der kapitalistischen Ordnung nimmt. Walter Benjamin163 Der technische und politische Optimismus, der bestimmte Überlegungen Benjamins charakterisiert, ist zweifellos von Brecht angeregt, auch wenn darin frühere Ideen ihre Verlän­ gerung finden. Benjamin scheint den Funktionswandel, den Brecht gesehen und vom Theater auf das Kino und den Rund­ funk ausgedehnt hatte, nach dem Muster des Films auf das nichtauratische Kunstwerk extrapoliert zu haben. A uf ganz ähnliche Weise war die Transformation der künst­ lerischen Produktionsweise in sozialistischer Perspektive im Bereich der Musik von Hanns Eisler analysiert worden.164 Die Originalität dieser Thesen liegt in dem kritischen Abstand, den sie zu der sogenannten »bürgerlichen« Kultur, zu einer be­ stimmten Avantgarde-Mystik und zugleich zu den Massen­ organisationen der KPD halten. In dem Kreis um Brecht wur­ den Reflexionen und Diskussionen oft zu einem wahren Ideenlabor. Die »totale Umstellung des Theaters« sollte einer

163 (»Was ist das epische Theater?«, erste Fassung, GS II.2, S. 527.) 164 Neben Eislers musikalischen Schriften zeigt ihre Zusammenarbeit bei den Lehrstücken die Gemeinsamkeit ihrer ästhetischen Postulate zum Ver­ hältnis von Kunst und Politik, Werk und Publikum. Ohne Zweifel wurden sie von Benjamin weitgehend geteilt, auch wenn die Vorgehensweisen Brechts und Benjamins einander diametral entgegenstehen. Benjamin befaßt sich immer mit Details, Fragmenten, Konstellationen, die es erlauben, sinn­ hafte Beziehungen zwischen Basis und Überbau herzustellen. Brecht ope­ riert eher mit Gesamtheiten und benutzt ein ziemlich traditionelles marxi­ stisches Vokabular.

D as Projekt einer materialistischen Ästhetik

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»totalen geistigen Umstellung unserer Zeit« entsprechen.165 Das epische Theater sollte nicht nur die Dramatik verändern, sondern auf sämtliche kulturellen Überbauten einwirken. Die Verbindung zwischen Ästhetik und Materialismus gründete auf dieser seit 1928 bekräftigten Gewißheit, daß die neue Dra­ matik nicht in einem rein ästhetischen Vokabular ohne Rück­ griff auf politische Begriffe dargestellt werden könne. Die Idee einer Veränderung der Produktionsweise steht im Mittelpunkt von Benjamins Projekt einer materialistischen Äs­ thetik. Sie richtet sich gegen die »revolutionäre Literatur« des BPRS, die sich in ein Ghetto zurückzieht, und zugleich gegen die »antibourgeoise« Avantgarde, die von dem lebt, was sie be­ kämpft, eine Form der Kritik, die den Inhalt annihiliert, da die­ se Künstler einen Produktionsapparat beliefern, ohne ihn selbst zu verändern. So fordert er in »Der Autor als Produ­ zent«, der Schriftsteller müsse sich die Frage nach seiner litera­ rischen Position nicht z«, sondern in den Produktionsverhält­ nissen stellen.166 Das Beispiel Tretjakows, des »operierenden« Intellektuellen, veranschaulicht das schon in der Einbahnstra­ ße angekündigte Verschwinden des Buches und zugleich die Verbindung mit dem von Brecht geforderten pädagogischen Element. Seit er in seiner Jugend zusammen mit Arnolt Bronnen Drehbücher verfaßte, war Brecht vom Kino begeistert und sah im Film wie im Radio phantastische technische Erfindungen, die eine revolutionäre Schlagkraft haben könnten, wenn man ihre bürgerliche Unterhaltungsfunktion veränderte. Auch Benjamin zog die »soziologische Lehre« aus dem Prozeß um die Filmfassung der Dreigroschenoper167, die den Stückeschrei16 j Brecht, »Betrachtung über die Schwierigkeiten des epischen Theaters«, in: GW 15, S. 131. 166 »Der Autor als Produzent«, GS II.2, S.686. 167 Er spielt im Kunstwerk-Aufsatz darauf an (vgl. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S.484).

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Literaturkritik und Klassenbewußtsein

ber zum Kontrahenten der Produktionsfirma N ero-Film wer­ den ließ. Vielleicht zum ersten Mal zeigte sich dabei in aller Deutlichkeit der Gegensatz zwischen dem Recht des Künst­ lers, Respekt vor dem Sinn seines Werkes zu fordern, und den Ansprüchen der Kulturindustrie. Sosehr er sich dessen bewußt war, daß das Kino Teil des kapitalistischen Systems ist, weil »der Film, auch der künstlerischste, eine Ware ist«168, meinte Brecht, es könne nützlich sein, ein Kunstwerk zu verbreiten, wenn man über seinen Inhalt wache. Kuhle Wampe (1931), ei­ ner der berühmtesten deutschen kommunistischen Filme unter der Regie von Slätan Dudow in Zusammenarbeit mit Brecht, Eisler und Ottwalt, zeigte trotz der Verbote und der Verstüm­ melungen der Zensur, daß das Kino in Deutschland nach dem Muster des sowjetischen durchaus ein Propagandainstrument werden konnte, ohne den künstlerischen Wert des Inhalts zu opfern. Wie utopisch uns diese Thesen heute auch erscheinen mö­ gen169, so konnten sie sich damals auf konkrete Beispiele stüt­ zen und waren keineswegs absurd. Von Willi Münzenberg an­ 168 Brecht, »Der Dreigroschenprozeß«, in: GW 18, S. 167. 169 Natürlich erlaubt Adornos pessimistische Einschätzung der »Kultur­ industrie« einen viel schärferen Blick auf die heutige Situation. Nicht nur hat die kapitalistische Produktionsweise auf allen Gebieten triumphiert, sondern der Begriff »Kultur-« in dem Ausdruck »Kulturindustrie« ist selbst problematisch geworden. Der Idee einer »Veränderung der Produktions­ weise« sperrt sich vielmehr die Konzentration der Produktionsweisen (Presse, Verlagswesen, Kino usw.). Gegenwärtig ist die Unabhängigkeit der »handwerklichen« kapitalistischen Produktionsweise im Bereich der Kultur im Verschwinden und verblaßt hinter der kulturindustricllen kapitalisti­ schen Produktionsweise, in der das Kulturelle nur noch ein Rädchen im Ge­ triebe ist und den gleichen Rentabilitätskritcrien unterliegt wie jeder andere Produktionssektor. Die Eingliederung der gesamten kulturellen Produk­ tionsweise in die kapitalistische Infrastruktur macht nicht nur ihre Verände­ rung praktisch unmöglich - wer könnte sich noch ein »freies Fernsehen«, ein »revolutionäres Kino« vorstellen ? -, sondern seine kulturelle Unabhän­ gigkeit ist selbst fragwürdig, da die Produktionsweisen sich selbst verschlin­ gen.

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gestoßen, erlebten Presse und Verlagswesen durch den Einsatz des Bildes, der Photographie, der Reportage eine wirkliche Veränderung ihrer Produktionsweise, weil früher der Bour­ geoisie vorbehaltene Ausdrucksformen auf diese Weise zu »ideologischen Waffen« im Dienste des Proletariats wurden. Die Rolle der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ)170 bietet ein gutes Beispiel dafür, ebenso wie Münzenbergs Forderung, »das Kino zu erobern«, die nicht nur der Verbreitung sowjetischer Filme in Deutschland den Weg bahnte, sondern auch dank sei­ ner Firma Prometheus Film die Produktion »revolutionärer« Dokumentär- und Spielfilme ermöglichte. Daher erklärte Ben­ jamin im Kunstwerk-Aufsatz, wo er sich mit der potentiell re­ volutionären Funktion des Kinos beschäftigt, er formuliere keine »Thesen über die Kunst des Proletariats nach der Macht­ ergreifung«, sondern »Thesen über die Entwicklungstenden­ zen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen«.171 Unabhängig von dem Einfluß der Texte Brechts und Eislers über Theater und Musik172 sah auch Benjamin in den fortge­ schrittensten technischen Erfindungen Instrumente zu einer radikalen politischen Transformation der Kultur. Das Kino, in dem sich das Verschwinden der auratischen Dimension des Kunstwerks vollendete, erschien ihm als das geeignete Me­ dium einer solchen Umwälzung. Im Wesen des Kinos sah er ei­ 170 (So galten die Photomontagen John Heartfields, die vor allem in der Arbeiter Illustrierten Zeitung erschienen, als »fürchterliche Propaganda­ waffen«. Vgl. Jean-Michel Palmier, Weimar en exil. Le destin de Immigration intellectuelle antinazie en Europe et aux Etats-Unis, S. 536f.) 171 »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S.473. 172 Eisler, der an der Marxistischen Arbeiterschule lehrte, unterhielt auch Beziehungen zum Agitprop (Maxim Vallentin, »Das rote Sprachrohr« (die­ se 1928 gegründete und von Vallentin geleitete Theatertruppe der kommu­ nistischen Arbeiterjugend tritt in Kuhle Wampe auf) usw.). An ein proletari­ sches Publikum gewandt, bemühte sich Eisler darum, den Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten dialektisch aufzuheben.

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nen neuen Typ künstlerischer Produktion auftauchen, der sich der Warensphäre entziehen und bei dem die Trennung des Pu­ blikums in Darsteller und Zuschauer aufgehoben sein sollte daher die Bezugnahme auf das sowjetische Kino, auf die Mas­ senszenen Pudowkins oder Eisensteins. Diese Aufhebung glaubte er auch in der sowjetischen Literatur wahrzunehmen. Das Kino als Medium rechtfertigte erstmals die kollektive Wahrnehmung eines Werkes, denn diese Kollektivität war sei­ nem Wesen einbeschrieben.173 Dem Zwang eines jeden Kunstwerks, innerhalb des kapitali­ stischen Systems zur Ware zu werden, setzte er eine mögliche Versöhnung von Kunst und Technik entgegen und hob dabei die emanzipative Rolle hervor, die sie im Kino als solchem spielt. Im Kino und nur im Kino schien ihm die Technik wirk­ lich konstitutiv für die Kunst. Diese Konfrontation von Kunst und Technik, das Hauptstück seiner Vision einer materialisti­ schen Ästhetik, durchzieht die späten Schriften Benjamins wie ein roter Faden. In seinem Essay über Fuchs, den Sammler von Druckgraphik, skizziert er die Geschichte ihrer »verunglückten Rezeption«.174 Das neunzehnte Jahrhundert und seine Theore­ tiker - die Saint-Simonisten und ihre Industrie-Dichtung - ha­ ben übersehen wollen, daß »dieser Gesellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient«.175 Es hat nicht erkannt, wie sich die Produktivkräfte unter seinen Händen entwickeln 173 Im Film sind alle die binären Oppositionen aufgehoben, die das Kunst­ werk charakterisieren: Zuschauer und Darsteller, Laie und Fachmann, Ge­ nuß und Reflexion, Zerstreuung und Belehrung. Daher der Optimismus mancher seiner Formulierungen: »So gibt zum Beispiel die Wochenschau je­ dem eine Chance, vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen. [...] Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch Vorbringen, gefilmt zu werden« (»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S.493). 174 (»Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, GS II.2, S.475 - es handelt sich um die »verunglückte Rezeption der Technik«.) 175 Ebd.

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mußten, eine Erfahrung, die dem zwanzigsten Jahrhundert Vorbehalten blieb, in dem die destruktiven Energien der Tech­ nik triumphierten (»Theorien des deutschen Faschismus«). Die künstlerischen Reaktionen auf diese Allgegenwart der Technik scheinen ihm unzulänglich, und im Jugendstil wie im Futurismus sieht er den »reaktionäre[n] Versuch, technisch be­ dingte Formen, das heißt abhängige Variable zu Konstanten zu machen«.176 Die Integration der Technik in die Kunst ist nicht mit ih­ rer Fetischisierung gleichzusetzen, sondern mit ihrer Beherr­ schung, ihrer Verwendung zu schöpferischen und emanzipatorischen Zwecken. Dem Kino, dem Theater oder dem Radio177 verdanken Benjamin wie Brecht ihr Sensorium für den Vor­ rang der Kritik, für die Analyse des Produktionsprozesses, für die Verknüpfung des Ästhetischen und des «Politischen, für das Verhältnis zwischen Technik und Material und für das Pro­ blem der kollektiven Rezeption. Beide haben genau den glei­ chen Willen, die »bürgerliche« Ästhetik und ihre Ausdrucks­ formen auf den Prüfstand zu stellen, ihre Hohlheit zu demonstrieren, indem sie sich mit den Produktions- und Re­ zeptionsbedingungen jedes Werkes befassen.

176 »Zentralpark«, Nr. 35, GS 1.2, S.683. 177 Brecht ist sich der Bedeutung der Technik im Theater bewußt, doch scheint er manchmal Piscator vorzuwerfen, er fetischisiere sie. Beim Radio verschwindet die Technik hinter der Botschaft. Es gehe, so betont Brecht, nicht darum, den Produktionsapparat zu beliefern, sondern ihn zu verän­ dern; eine Forderung, die Benjamin Won für Won übernimmt und gegen Kästner richtet. Brecht wollte mit Hilfe des Apparats etwas Neues erfinden, mit dem Radio an die Ereignisse, die Politik, das wirkliche Leben heranrükken, die Kunst des Radios »pädagogischen Absichten zur Verfügung [...] stellen« (Brecht, »Über Verwertungen«, in: GW 18, S. 124 (vgl. den gesamten Abschnitt »Radiotheorie«, cbd., S. 117-134). Diese Forderungen entspre­ chen bei Benjamin (in »Der Autor als Produzent«) der Gleichsetzung der politisch »richtigen« mit der »künstlerischen Tendenz«.

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Das Werden der ästhetischen Kategorien: vom Trauerspiel zu den Passagen Trotzdem sieht sich Benjamin durch seine Wendung zum Ma­ terialismus, durch den Einfluß Brechts und die politische Di­ mension, die er in den Mittelpunkt seines Vorgehens rückt, keineswegs dazu veranlaßt, die wesentlichen Kategorien auf­ zugeben, die seinen Analysen des Kunstwerks bisher zugrunde lagen. Während er dessen Einordnung in die Moderne und die neuen Aspekte, die die Technik dazu beiträgt, ernst nimmt, be­ greift Benjamin deren Entwicklung durch eine Reformulierung seiner eigenen Kategorien. Und wenn er neue prägt oder verwendet (dialektisches Bild, Verdinglichung), widersprechen diese nicht notwendig seinen älteren Einsichten, sondern spit­ zen sie zu. Möglich wird diese Entwicklung durch Benjamins Weigerung, den Begriff des Seins von dem der Erfahrung zu trennen. Und die Wahrheit, die er anfangs im platonischen Ideenbegriff ausgedrückt hatte, ist stets das Ergebnis einer DeKonstruktion. Schon im Kontext des Trauerspiels unterstellt der Begriff des Phänomens einen Bruch des geschichtlichen Kontinuums. Die Wahrheit ist weder zeitloses Sein noch empi­ rischer Gegenstand, selbst wenn sie sich in einem Moment er­ schauen oder entziffern läßt. Die Wahrheit des Trauerspiels ist von jedem einzelnen Barockdrama ebensoweit entfernt wie der Sinn des Baudeiaireschen Paris von bloßen soziologischen Da­ ten. Die Forderung nach Konstruktion des Gegenstands bleibt dieselbe, auch wenn an die Stelle der platonischen Kontempla­ tion die Deutung in einem bestimmten geschichtlichen Augen­ blick tritt, die Vergangenes und Gegenwärtiges wechselseitig zu retten vermag. Durch das marxistische oder materialistische Vokabular hindurch bleibt die dauerhafte Verknüpfung von Sprachphilosophie und Geschichtsphilosophie die Grundlage jeder Analyse. Hinter den neuen Formulierungen treten die

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gleichen Forderungen zutage. Was die im W ahlverwandtschaften-Essay oder im Trauerspiel-Buch, erprobte Vorgehensweise grundsätzlich von den Arbeiten über Baudelaire oder die Passa­ gen unterscheidet, ist die Berücksichtigung der radikal neuen Situation der Kunst seit dem neunzehnten Jahrhundert und der Bezug auf die Gegenwart und die Rettung. Was die Kritik rettet, ist nicht mehr nur eine Idee, ein Wahrheitsgehalt, sondern das Vergangene selbst und die Gegenwart, die ihre Wurzeln in sie einsenkt. Die Geschichtlichkeit des Werkes - auf der Ebene des Trau­ erspiels geleugnet - gewinnt nun ihren ganzen Sinn. Seine Wahrheit ist nicht mehr in monadologischer Einsamkeit vor der Zeit geschützt, sondern eingetaucht in die Geschichte, be­ zogen auf die Tradition der Unterdrückten. Die Monade ist nicht mehr nur konstitutiv für die Idee, cie wird gewonnen durch das Aufsprengen der Tradition, das die dialektischen Bil­ der hervortreten läßt. Die Wahrheit ist nicht mehr auf das Sein bezogen, sondern auf einen geschichtlichen Sinn, ohne daß die­ ser seiner theologischen Dimension entleert wäre. Sie schreibt sich genau in die messianische Perspektive der Rettung eben­ dieser Tradition ein. Darin findet sich auch eine Forderung des Trauerspiel-Buches erfüllt, der zufolge die Kritik nicht genug hat am Phänomen, sondern seine Geschichte aufzehrt. Die Wendung zum Materialismus bricht keineswegs mit jener Kontinuität, die die monadische Idee, in der sich die Phänome­ ne versammeln, mit dem spannungsgesättigten dialektischen Bild vereint. Sie verstärkt sie, indem sie den Blick auf die Ver­ mittlungen zwischen dem Werk und der geschichtlichen Welt schärft. Die Weigerung, das Objekt zu einer bloßen Vorstel­ lung für ein Bewußtsein zu machen, gipfelt in dem ontologi­ schen und politischen Status, der dem Bild zuerkannt wird, sei­ ner erkenntnistheoretischen Potenz. Und die materialistische Kritik, um deren Konstruktion es ihm geht, ist selbst außer­ halb ihrer in die profane Wirklichkeit eingelassenen theologi­

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sehen Perspektiven fern von jeder Deutungsplatitüde, die sich auf den Marxismus beruft. Benjamin fügt bereits erprobten, spannungsreichen und wi­ derspruchsvollen metaphysischen oder sprachlichen Katego­ rien neue Inhalte ein. Er zögert nicht, die Goethesche Idee des »Urphänomens« aufzugreifen, um damit die Ökonomie zu be­ zeichnen. Die Ablehnung der Beschränkungen des Kantischen Erfahrungsbegriffs findet ihr materialistisches Gegenstück in der Ablehnung jeder Vereinfachung der Sachverhalte, die von dem Gegensatz zwischen Basis und Überbau oder von ei­ ner Geschichtsauffassung auf der Grundlage einer einfältigen Glücks- und Fortschrittskonzeption ausgeht. Mag auch die transzendentale Bedeutung der Wahrheit der geschichtlichen Dimension Platz gemacht haben - die Passagen bleiben eine Monade, die das ganze Bild der Welt einschließt. Und auf diese Vertiefung der Bedeutung des Bildes kommt Benjamin von ei­ nem materialistischen Postulat her immer wieder zurück. Das Bild - die Konstellation von Zeichen, die von der Stadt, den Gegenständen, den Abfällen der Geschichte hervorgebracht wurden - wird inhaltlich lesbar durch die Konstruktion eines Objekts, die von einer geschichtlichen Erfahrung in einem be­ stimmten Jetzt ausgeht, so wie zuvor die Monade oder die Idee die Erfassung des ästhetischen Phänomens möglich machten. Der Dialektik zwischen Idee und Phänomen folgt die materia­ listische Dialektik, die die gleiche Funktion übernimmt: die Dinge vor ihrer mythischen Erstarrung zu bewahren. Dialekti­ sches Bild und Monade bezeugen das Werden eines Phäno­ mens in seinem Sein. Der Absonderung und monadologischen Einsamkeit des Trauerspiels entspricht die Gewalt, die das Bild vom Kontinuum der Ereignisse und Tatsachen absprengt. Wendet man auf die Passagen ein traditionelles marxistisches Lektüreraster an, läßt sich nur schwer sagen, worin ihr mate­ rialistischer Aspekt liegt; fest steht nur, daß Benjamin eine Ge­ sellschaft von ihren kulturellen und ideologischen Hervorbrin­

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gungen her zu verstehen sucht. Ebenso wie seine Bezugnahme auf die Ökonomie als Urphänomen sind die Ausdrucksbe­ ziehungen, die er zwischen Basis und Überbau entdeckt, der klassischen Analyse fremd. Benjamin beruft sich auf bestimm­ te marxistische Grundkategorien - falsches Bewußtsein, Ent­ fremdung, Verdinglichung, Warenfetischismus - , doch liegt sein Materialismus nicht in der bloßen Übernahme klassischer Begriffe. Sie kulminiert in seiner Fähigkeit, in jeder Einzelheit, in jeder Spur den miniaturisierten Ausdruck einer ganzen Welt zu erfassen. Materialistisch war schon die Studie über das Trauerspiel, da sie die Wahrheit als Objekt behandelte. Und die Totalität der Idee, die die Monade in sich schließt, konnte ohne weiteres zu der einer geschichtlichen Welt werden. Verräumlicht, zum Dekor erstarrt, wurde die Geschichte im Barockdrama »im Schauplatz säkularisiert«.178 Die Tatsache, daß Benjamin darauf nie mehr zurückkommt, bedeutet nicht, daß er sie verleugnet hätte. Ihre Versteinerung im Trauerspiel, die Ablehnung jeder Eschatologie können als solche gerade nur von einer Philosophie der Geschichte, ihres Ursprungs und ihres Ziels her bestimmt werden. Methodisch schloß der Ursprung des deutschen Trauerspiels Geschichte keineswegs aus, sondern barg sie als Prozeß in der Idee, die in ihrer monadologischen Einsamkeit freilich nur ein abstraktes Verhältnis zur Geschichte unterhalten konnte. In dieser Einsamkeit der Monade wird Benjamin später ein historisches Symptom erken­ nen. Ist ihre Form -die derVerdinglichung179-einmal als solche 178 (Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.i, S.271.) 179 Daher hat die Isolierung des Objekts als Monade, sein Losreißen aus dem historischen Kontinuum im Trauerspiel nicht den gleichen Sinn wie die Explosion, die die Homogenität der Geschichte aufsprengt, um ihr die dia­ lektischen Bilder zu entnehmen. Die Ideen, die der Kontemplation dargebo­ tenen Monaden, sind gewiß die Wahrheit des Werkes, doch aus einer ahistorischen Perspektive. In den Passagen ist der Sinn nicht nur zu konstruieren, sondern er bestimmt sich durch Korrelationen zwischen Vergangenem und Jetzt. Ebendiese Entwicklung unterstreicht der Brief Benjamins an Adorno

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erkannt, läßt sie sich ins neunzehnte Jahrhundert übertragen, wenn man die Fluchtlinien der geschichtlichen Konstruktion berücksichtigt, die in ihr zusammenlaufen. Benjamin bewahrt diesen Begriff in den Passagen, um dialektischen Gebrauch von ihm zu machen. Die Wahrheit, die die Monade einschließt, ist keine zeitlose, auch wenn die »Dialektik im Stillstand« dies na­ helegen könnte. Es ist dies nur ein methodologischer Stillstand beim Bild, der eine Praxis erfordert. Der Übergang von der Monade zum dialektischen Bild wird dadurch möglich, daß sie nie, auch nicht auf der Ebene des Trauerspiels, eine statistische Gegebenheit ist, sondern ein Prozeß im Werden. Benjamins Fähigkeit, sich an die Faktizität des Objekts, ans Detail zu heften, es in bedeutungsvolle Konstellationen eintreten zu lassen, erlaubt diese unerhörte Einheit einer stets unzer­ trennlichen materialistischen und metaphysischen Dimension. Die Bereicherung, die er der marxistischen Methode bieten zu können glaubte, lag auf der Ebene der Passagen in seiner Kon­ zeption des Bildes. Gegen die mechanistische Bestimmung des Bildes als Widerspiegelung setzt er die einer erkenntnistheore­ tischen Kristallisation, in der Subjektivität und Objektivität verschmelzen. Das Ich ist in der Berliner Kindheit und der Einbahnstraße letztlich nur noch die Leinwand, auf der die »Denkbilder« vorüberziehen; daher das Gefühl Blochs, in Benjamins Einbahnstraße sei niemand unterwegs, die »Dinge scheinen mit sich allein«.180 Die Subjektivität des Erzählers oder Flaneurs ist nur da, um sie auftauchen zu lassen, als per­ manentes Medium zwischen den Dingen, das Wahrheit und Mythos miteinander konfrontiert. Berliner Kindheit und Ein­ bahnstraße sind nun gewiß keine »marxistischen Werke«. Doch die beinahe materielle Auffassung des Bildes, die sich darin

vom 9. Dezember 1938, wenn er bekräftigt: »In der Monade wird alles das lebendig, was als Textbefund in mythischer Starre lag.« {CB VI, S. 185.) 180 Bloch, Erbschaft dieser Zeit, »Revueform in der Philosophie«, S. 369.

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entfaltet und den Beitrag des Surrealismus aufnimmt und über­ schreitet, erlaubt es, den Verdinglichungsprozeß zu sprengen, damit eine metaphysische und historische Wahrheit sichtbar wird. Von diesen Bildern aus kommt die materialistische Ana­ lyse tatsächlich in Gang. Das »Denkbild« gewährt dem Subjekt keinen Vorrang über das Objekt. Es reduziert die Subjektivität auf das, was es den Dingen erlaubt, intelligibel zu werden; es verleiht dem Sinn eine Materialität und erhebt das Sinnliche auf eine Ebene der Transparenz, auf der dieser Sinn bereits hervortritt. Das dialek­ tische Bild, das keineswegs bloße Projektion des Denkens auf ein Objekt ist, macht den Konstruktionsvorgang deutlich, der es als solches konstituiert. Die Monade wird so zur Kristallisa­ tion, in der sich die gesamte Philosophie der Geschichte bricht. Das Fehlen eines radikalen Bruchs, der die Methode Benjamins kennzeichnet, setzt fortwährend eine mimetische Anpassung der Begriffe an die Realität voraus, die es zu erfassen gilt. So kann Benjamin die metaphysischen, theologischen und mate­ rialistischen Kategorien eng miteinander verbinden, als wären es Facetten desselben Kristalls, die ein und dieselbe Realität zum Ausdruck bringen. Der Allegorie, die zur Analyse des Trauerspiels diente, entspricht in den Passagen und im Baude­ laire-Essay die Kategorie der Ware mit den Phänomenen der Verdinglichung und der Phantasmagorie, die sich an sie heften. Sie erlaubt es, konkrete Ausdrucksformen - Schaufenster, Mode der Passagen, Jugendstil-Kalikos - zu erfassen, da die Ware im neunzehnten Jahrhundert selbst zur Allegorie wurde. Die »materialistische Ästhetik« sucht weniger soziopolitische Gehalte und kulturelle Äußerungen miteinander in Bezug zu setzen als eine bestimmte Erfahrung der Moderne und die Korrelationen zu erhellen, in denen sie sich ausdrückt. Daher hält sich Benjamin von der Kulturgeschichte, die nur pragmati­ sche Bewußtseinsinhalte, eine Serie von gelebten Augenblikken kennt, ebenso fern wie von einer »an sich [...] dialekti-

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sehen«181 Geschichte, die nur erstarren läßt, was sie zu klären behauptet. E r hingegen zieht die Brüche vor, in denen sich die enge, konflikthafte Verschränkung von Kunst und Gesell­ schaft, von künstlerischen Mitteln und der Entwicklung der Technik, die Einbettung der Reproduktionsverfahren in eine Produktionsweise abzeichnet. Anders als Plechanow glaubte, läßt sich die Moderne nicht auf ihre ideologische Dimension zurückführen. Wenn Benja­ min von seinem materialistischen Ansatz eine tiefere Erkennt­ nis der Struktur des Werkes erwarten kann, so deshalb, weil er sich nicht mit einer Soziologie der Kunst identifiziert. Stets von der künstlerischen Schöpfung ausgehend, um zu dem so­ zialen Phänomen zurückzusteigen, das sich in ihr ausprägt, weigert er sich, sie ineinander verschwimmen zu lassen. Wenn­ gleich der Kapitalismus die Moderne hervorgebracht hat, geht diese nicht in der Verdinglichung auf. Die Masse ist nicht nur Subjekt der Rezeption: Sie schreibt sich in die Textur des Wer­ kes ein, bestimmt seine Existenzbedingungen. Die »moderne« Kunst, die in der Epoche Baudelaires auftritt, richtet sich nicht ausschließlich an ein privilegiertes bürgerliches Publikum, sondern an die Menge, an das Publikum der Großstädte. Die Technik, die die Fabriken möglich gemacht hat, steht auch am Ausgangspunkt der Reproduktion der Werke, der Geburt der Photographie und des Kinos. Sie ist eine ebenso unausweich­ liche Realität wie das neue Publikum, das ihr entspricht. Nach Benjamin ist es weniger der Kapitalismus als die Masse, die die neuen Haltungen zum Kunstwerk hervorbringt. Die Masse ist keineswegs nur darauf beschränkt, die Werke zu rezipieren, sie ist auch ursächlich für deren Auftauchen und deren Struktur. Damit zeichnet sich eine bestimmte Erfahrung der Moderne ab, die nicht auf die Sphäre der Ideologie beschränkt ist.182 Der i S i »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, GS II.2, S.477. 182 Daher erscheinen Benjamin die kulturellen Erzeugnisse des neunzehn­ ten Jahrhunderts inniger mit dem Auftreten der Menge und der Masse der

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Fortbestand der metaphysischen und theologischen Katego­ rien rechtfertigt sich durch die Ablehnung jedes Positivismus. Gegen den simplen Determinismus eines bestimmten Marxis­ mus und die Rhapsodie der Eindrücke der Kulturgeschichte setzt er die methodische Verwertung der Trümmer, die N ot­ wendigkeit, den historischen Stoff mit der materialistischen Dialektik »um[zu]pflüg[en]«183, um einen Sinn zu konstruie­ ren, der Vergangenheit und Gegenwart wechselseitig aufhellt. Die Schwerfälligkeit der Beziehungen, die der klassische Ma­ terialismus herstellt, einerseits und der Impressionismus der Kulturgeschichte andererseits sind beides Weisen, die Brüche und die Zufälle des Jetzt zu ignorieren. Sie erzeugen symme­ trisch den falschen Schein einer Kontinuität der Geschichte184, während Benjamin deren Verwerfungen erforscht. Als Re­ aktion auf diesen Stil der Analyse, ihr falsches Bewußtsein, be-

Rcproduktionscechnikcn als mit der bürgerlichen Ideologie verbunden. E r sicht in den von Fuchs angedeuteten Analysen zur Ikonographie nicht nur die Rudimente eines Zugangs zur Massenkunst, sondern »Bestandteile einer jeden künftigen materialistischen Betrachtung von Kunstwerken« (ebd., S.479 f.). Gewiß wird er nie davon ablassen, jedem Werk seinen Ort im H o­ rizont des Kapitalismus zuzuweisen, doch ist er sich ebenso der Brechungs­ effekte zwischen Kunst und Gesellschaft bewußt. Daher die radikal unter­ schiedlichen Urteile, die Benjamin und Plechanow über Baudelaire fällen. Der Irrtum der »Kulturgeschichte« besteht darin, daß sie sich unter Aus­ schluß der politischen Dimension auf pragmatische Gehalte beschränkt. Tiefer jedoch ist noch »der Widersinn einer dialektischen Kulturgeschichte an sich« (ebd., S.477), die auf dem Kontinuum der Geschichte unter Aus­ schluß der Brüche gründet. Dieses Kontinuum aber, »von der Dialektik gesprengt, [erleidet] an keinem Teil eine weitere Streuung [...], als an dem, welchen man Kultur nennt« (ebd.). Der materialistischen Widerspiegelungsthcoric entspricht bei Benjamin das »Denkbild« der Einbahnstraße, in der das Ich nur die Leinwand ist, auf der diese Bilder vorüberziehen. Das »Denkbild« ist keine »Widerspiegelung«. Es bricht das Kontinuum der Ge­ schichte und der Verdinglichung. 183 (Ebd., S. 472.) 184 Ebd., S. 478.

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hauptet er: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zu­ gleich ein solches der Barbarei zu sein.«185 Die Faszination, die Benjamin für das neunzehnte Jahrhun­ dert empfand, ist durchaus verständlich. Denn zu dieser Zeit, in der der Kapitalismus unter der Herrschaft der Ware eine Art Höhepunkt erreicht, trifft eine neue Kunsterfahrung, nämlich die eines Massenpublikums, mit ständig umkämpften techni­ schen Möglichkeiten zusammen, die einerseits Werkzeuge der Verdinglichung des Kunstwerks, andererseits aber auch Bedin­ gung seiner Aneignung durch dieses Massenpublikum sind. Ausgehend von diesen neuen Realitäten - der Einbettung der Reproduktionsweisen in eine bestimmte, von der Vermassung der Gesellschaft beherrschte Produktionsweise - entwickelt er die Hauptzüge seiner ästhetischen und politischen Analysen des Kunstwerks. Gerade das neunzehnte Jahrhundert war, weil es der Entwicklung des Marxismus korrespondiert, Gegen­ stand und Ort der Konfrontation der historischen Methodolo­ gien. Jenseits aller Polemiken über die Widerspiegelungstheorie erlaubt ihm die Verwendung des »dialektischen Bildes« in seiner ästhetischen Forschung die Überwindung des unver­ söhnlichen Gegensatzes zwischen den Dimensionen der Uto­ pie und der Verdinglichung, indem er sie in den eigentlichen Mittelpunkt des Prozesses rückt. Noch geprägt vom Surrealis­ mus, sprach das Denkbild weder dem Subjekt noch dem Ob­ jekt einen Vorrang zu. Auf der Ebene der Theorie der ästheti­ schen Erkenntnis konnte man es gleichsam als nebelhaften Lichthof, den das Subjekt entziffert, oder als Projektion des 185 Ebd., S.477. Es kommt darauf an, zu zeigen, daß die Kulturgüter ihr Dasein »nicht nur der Mühe der großen Genien«, sondern »auch der na­ menlosen Fron ihrer Zeitgenossen« [ebd., S.476] verdanken - dem, was Benjamin in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 »die Tradition der Unterdrückten« nennt .

31 »Sie kann [...] Ansichten des Originals hervorheben, die nur der ver­ stellbaren und ihren Blickpunkt willkürlich wählenden Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugänglich sind, oder mit Hilfe gewisser Verfahren wie der Vergrößerung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natür­ lichen Optik schlechtweg entziehen.« Ebd. - Malraux schreibt in seinem Imaginären Museum'. »Die Rahmung eines Bildwerkes, Aufnahmewinkcl und vor allem bewußte Ausleuchtung können oft etwas, was sich vorher nur als anregende Vermutung anbot, zu einer Art zwingender Gewißheit erhe­ ben. [...] [D]ie Kunstwerke [...] verlieren [...] ihr eigentliches Maßverhält­ nis.« Andre Malraux, Das imaginäre Museum, S. 16.

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Theorien des m odernen K unstw erks

genwärtigkeit des Werkes. Selbst wenn die Reproduktion den Bestand des Werkes unberührt läßt, entwertet sie sein »Hier und Jetzt«, löst das Werk aus seiner Tradition. Darin vollzieht sich der Verfall seiner Aura. Echtheit und Tradition sind untrennbar. Die Tradition fällt nicht mit der Geschichte der Kunst zusammen, und Echtheit ist keine formale Eigenschaft des Werkes, sondern »der Inbe­ griff alles von Ursprung her an ihr [sc. der Sache] Tradierba­ ren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft«.32 Insofern führen die Reproduktionen in eine Krise der Erfahrung, in dem Sinne, wie sie der Essay »Der Er­ zähler« versteht: Sie lösen das Werk von einem bestimmten Augenblick, um es in eine ewige Gegenwart zu versetzen: Indem sie [sc. die Reproduktionstechnik] die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vor­ kommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduk­ tion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situa­ tion entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütte­ rung des Tradierten - einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage.33 Der Film, der das Werk in ein Phänomen der kollektiven Wahr­ nehmung verwandelt, ja sogar den Begriff des Originals ab­ schafft, stellt für Benjamin den »machtvollste[n] Agent[en]« dieser Entwicklung dar. In ihm liegt das »destruktive, [...] kathartische« Element, das »die Liquidierung des Traditions­ wertes am Kulturerbe« vollzieht.34 Diese Behauptungen Ben­ jamins folgen einer evidenten Logik. Doch auf begrifflicher 32 GS 33 34

»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 1.2, S.477. Eb d.,S.477f. (Ebd., S.478.)

Technische Reproduktion und Verlust der A ura

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Ebene fällt es schwer, den Realitäts- und Erfahrungstyp zu fas­ sen, auf den der Begriff der Aura verweist. Im Kunstwerk-Aufsatz wird die Aura als eine bestimmte Art der Wahrnehmung beschrieben, die aus der Begegnung zwi­ schen einem Subjekt und einem Objekt in einer bestimmten raumzeitlichen Struktur hervorgeht. Als Bewußtseinsinhalt, als subjektives Phänomen, in dem das Werk lebendig zu wer­ den scheint, um mehr zu geben als sich selbst, erweist die Aura einen »Überschuß« an Wahrnehmung und Empfindung, der sich unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zeigt. A u f der Ebene der Subjektivität entspricht sie einem (und erfüllt sie ei­ nen) Erwartungshorizont im Husserlschen Sinne. Die Repro­ duktion bewirkt eine Änderung dieses Erwartungshorizonts, indem sie die Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt abschafft. Man kennt das Werk, ehe man es entdeckte. Die Wahrnehmung der Aura ist hingegen mit dieser plötzlichen Erfüllung des Erwartungshorizonts verbunden, in einem be­ stimmten Augenblick - dem ersten Mal -, der dieser Begeg­ nung eine bestimmte, absolut einmalige Tönung verleiht. Die Wiederholung wird diese anfängliche Wahrnehmung nur ent­ stellen, die einmalige Begegnung wird sich nie mehr hersteilen. Aber die auratische Wahrnehmung ist nicht nur in die Zeit ein­ gebettet, sondern kommt auch nur an einer singulären Raum­ stelle vor: dem unaustauschbaren Ort des Werkes. Demnach ist die Aura untrennbar vom Original, von seiner Singularität, denn in ihm schlägt sich die Tradition nieder, nicht in irgendei­ ner Reproduktion. Das Bild kann die Form perfekt reprodu­ zieren, doch nicht die Tradition, die unsichtbaren Hände, die das Werk geschaffen, die es berührt haben. Indem die Reproduktion die einmalige Begegnung und zu­ gleich die dem Objekt eingezeichnete Tradition beendet, muß sie zwangsläufig die Aura abschaffen. Diese ist keineswegs an ein einzelnes Werk, an einen bestimmten Typ künstlerischer Produktion gebunden, obschon der Essay über die Photogra­

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Theorien des m odernen Kunstwerks

phie diese Frage noch in der Schwebe hält. Die Aura ist un­ trennbar vom »Hier und Jetzt«, von einer Art intentionaler Erfüllung, der Erfüllung einer als Erwartung erlebten Zeitlich­ keit. So muß man wohl jene von Benjamin angeführte chinesi­ sche Legende verstehen35, die einen alten Maler erwähnt, der sein Bild betrachtet und schließlich in ihm verschwindet. Die Aura unterstellt eine gewisse Verschmelzung von Subjektivität und Objekt. Daher die Bedeutung der Einwände, die der Be­ griff der Aura bei Adorno hervorrief. In seinem Brief vom 18. März 1936 mißbilligt er die Übertragung der »magischen Aura« auf das »autonome Kunstwerk« und findet es bedenk­ lich, daß Benjamin dieses »in blanker Weise der gegenrevo­ lutionären Funktion [zugewiesen]« habe.36 Adorno erkennt wohl, was an Magischem in die Kunst eingeht, weigert sich aber, »die Mitte des autonomen Kunstwerks« der mythischen Seite gleichzusetzen; es sei vielmehr untrennbar von einem Freiheitsversprechen. Im übrigen erschien Adorno der Ver­ fallsprozeß der Aura stets komplizierter, als Benjamin annahm. Nach Adorno kann er sich nicht auf das Phänomen der Re­ produktion beschränken. Ohne deren Rolle bei diesem Verlust zu leugnen, sah er darin in erster Linie »die Erfüllung des eige­ nen »autonomem Formgesetzes« des Kunstwerks.37 Ihr Ge­ gensatz in diesem Punkt ist essentiell: Es gibt eine Logik des Werkes, die zur Auflösung des auratischen Elements führt, die nicht bloß von der Reproduktion abhängig ist. Adorno hegte stets ebensoviel Argwohn gegenüber der »bürgerlichen« Ro­ mantik, die auf die Erhaltung der Aura zielt, wie gegenüber der »anarchistischen« Romantik, die »blinde[s] Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats im geschichtlichen Vor­

35 Berliner Kindheit um neunzehnhundert, »Die Mummerehlen«, GS IV. 1, S. 262 f. 36 (Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 169.) 37 (Ebd., S. 171.)

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gang« hat - »des Proletariats, das doch selber bürgerlich pro­ duziert ist«.38 Die Argumentation Adornos ist scharfsinnig, verkennt je­ doch offenbar die Spezifität der Aura, wie Benjamin sie be­ schreibt. Als ästhetische Wahrnehmung, als Bewußtseinsphä­ nomen, das an eine Begegnung zwischen einem Subjekt und einem Objekt gebunden ist, gehört sie dem Werk weniger als innere Eigenschaft, sondern vielmehr als »Sinngebung« an. Sie überschreitet das Kunstwerk, welcher Art es auch sei.39 Die Beschreibung der Aura und ihres Auftretens müßte zum G e­ genstand einer phänomenologischen Analyse werden können, die ihre geschichtliche Einordnung ermöglicht40, wenn der Be­ griff nicht - gemäß dem Verdammungsurteil Scholems - eine theologische Vorstellung bleiben soll, die unpassend und miß­ bräuchlich in den Bereich der »materialistischen Ästhetik« übertragen wurde. Die Aura unterstellt einen bestimmten raumzeitlichen Rah­ men, auch wenn ihr Horizont offen ist. Benjamin beschreibt sie als eine »Vergegenwärtigung«41, die sich in einer Anschau­ ung erfüllt42 und das Spiel der unwillkürlichen Erinnerung in 38 (Ebd.) Es ist diese Position, die er Brecht unterstellt. 39 Zahlreiche Benjamin-Exegeten, die die Aura als eine dem Werk einge­ bettete Dimension betrachten, lassen Benjamins nachdrücklichen Hinweis außer acht, daß »das [sc. die Entwertung des Hier und Jetzt] auch keines­ wegs vom Kunstwerk allein gilt [...]. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus.« »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S.477. 40 Was bei phänomenologischen Annäherungen an ästhetische Gegenstän­ de selten der Fall ist. Oft ist ihre Ahistorizität ebenso verblüffend wie die Subtilität ihrer Sprache. Auch Merleau-Ponty entgeht diesem Tadel nicht. 41 [»Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in sei­ ner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reprodu­ zierte.« Ebd.] 42 Jean-Luc Marions Deutung der Husserlschen »Gegebenheit« [donatiori] scheint uns eine echte theoretische Nähe zu der phänomenologischen Auf­ fassung der auratischen Wahrnehmung bei Benjamin aufzuweisen (vgl. Jean-Luc Marion, Reduction et donation. Recherches surHusserl, Heidegger

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Gang setzt. Man könnte es fast wagen, zu ihrer Charakterisie­ rung Formulierungen des Phänomenologen Jean-Luc Marion zu verwenden - »Hervorbrechen der Präsenz« [deferlem ent de la presence\ »in Überfülle gegebene Präsenz in der Anschau­ ung« [presence surabondamment donnee par intuition]43 um diese Art von teils sichtbarer, teils unsichtbarer Gegebenheit, wie sie der Aura entspricht, zu bestimmen. So beschränkt sich die Aura keineswegs auf das plötzliche Auftauchen eines Objekts, eines Werkes, eingebettet in einen Erwartungshorizont. Vielmehr ist sie, aus Sichtbarem und Un­ sichtbarem bestehend, eine Art welthafter Präsenz [presence au m onde\ durch welche sie sich der Welt selbst überlagert. Als Weltfragment wird das auratische Phänomen selbst zu einer Welt. In dieser Konfrontation eines Welt gewordenen Objekts und einer individuellen und historischen Subjektivität liegt die auratische Wahrnehmung, das schroffe Hervorbrechen von Bedeutungen - ähnlich proustschen Reminiszenzen - , die nicht notwendigerweise angemessenen Ausdruck oder Klärung finden, da sie unendlich viel umfassender sind als die Anschau­ ung, die ihnen entspricht. Es handelt sich dabei um einen typi­ schen Fall jener »Gegebenheit«, die für Husserl der Anschau­ ung und Bedeutung vorausgehen kann. Wenn also der Begriff der Aura weniger auf die Textur des Werkes - auch wenn Benjamin manchmal der modernen Kunst eine auratische Dimension zugesteht44 - als auf eine bestimmte et laphänomenologie). Er unterstreicht, daß »in der Anschauung ausnahms­ los alles enthalten ist, also auch nichts seiner Reduktion im vollen Licht der Präsenz entgeht; weder das Sinnliche noch das Wesen, noch die katcgoriale Form selbst, nichts wird von nun an unsichtbar bleiben, da ein Modus der Anschauung all diese Gegenstände als jeweilige Modi der Präsenz verjagt und vertreibt« (ebd., S. 28). 43 Ebd., S. 29. 44 So bemerkt er diese auratische Dimension bei Vlaminck oder Rilke. Adorno beharrt auf dem ganz gewiß nicht auratischen Charakter der Musik Schönbergs (Brief Adornos an Benjamin vom 18. März 1936, in: Adorno/ Benjamin, Briefwechsel 1928-194o, S. 172L). (In diesem Brief bemerkt

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Art von Bewußtseinsphänomen verweist, bleibt seine Defini­ tion bei Benjamin in höchstem Maße bruchstückhaft. Ehe er zu einem zentralen Element seiner »materialistischen Ästhetik« wird, begegnet der Begriff der Aura in seinen Schriften in man­ nigfachen Bedeutungen, die auf ganz unterschiedliche Wirk­ lichkeiten verweisen.45 Der Kunstwerk-Aufsatz liefert eher eine »Vorführung« als eine »Definition«, die das Phänomen vielleicht noch weiter kompliziert, zumindest hinsichtlich sei­ ner Bindung an das Kunstwerk. Um die Aura »geschichtliche[r] Gegenstände« anhand der Aura von »natürlichen Ge­ genständen« zu veranschaulichen, bemerkt er, man könne ihn definieren als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag.46 [...] An einem Sommernachmittag ruhend einem GeAdorno, es sei kaum ein Zufall, daß die von Benjamin alsäuratisch bezeichnete moderne Kunst »von immanent so fraglicher Qualität« sei wie die Vlamincks oder Rilkes; Benjamin hatte in seinem Essay freilich nur behauptet, es sei »unmöglich, vor einem Bild von Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung oder Stellungnahme zu lassen« (»Das Kunstwerk im Zeit­ alter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S. 502)). 45 Benjamin verwendet ihn bereits 1920 in seinem Essay über Dostojew­ skis Der Idiot; dort ist die Rede von der »Aura des russischen Geistes« (»»Der Idiot< von Dostojewskij«, GS II.i, S.237). 46 »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, GS 1.2, S. 480. Dieser Satz ist aus der »Kleinen Geschichte der Photographie« (1931) übernommen: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (GS II.i, S. 378). Es fällt auf, daß Maurice de Gandillacs französische Über­ setzungen des Nachsatzes in den beiden Essays grammatisch voneinander abweichen. In der Übersetzung des Kunstwerk-Aufsatzes heißt es: »unique apparition d’un lointain, si proche qu'eile puisse etre« (»L’ceuvre d’art ä l’fere de sa reproductibilite technique«, in: (Euvres, Bd.2, Poesie et revolution, S. 178); durch die Verwendung des Femininums ist hier also die »Erscheinung< >nahKunst< wird eingehen wollen«.59 Benjamin akzentuiert das Gesicht, die Dimension des Blicks, die dem Bild einen »magischen Wert« verleiht, »wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann«.60 Die Aura ist ge­ bunden an die Würde der Personen, »Angehörige einer im Aufstieg befindlichen Klasse«, und »[nistet] bis in die Falten des Bürgerrocks oder der Lavalliere sich ein [,..]«.61 Zugleich 58 »Kleine Geschichte der Photographie«, GS II.i, S. 376. 59 Ebd., S.370. (Benjamin bezieht sich hier auf das »Fischwcib von N ew Haven«, das von dem Photographen David Octavius Hill unsterblich ge­ macht wurde.) [Reproduktion ebd., nach S.384.] 60 Ebd., S. 371. »Das menschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem der Blick ruhte« (ebd., S. 372). 61 Ebd., S. 376.

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ist sie untrennbar von den rudimentären technischen Mitteln, der Beleuchtung, einer erstaunlichen Übereinstimmung der Technik mit ihrem Sujet - ein Motiv, das Benjamin in dem stil­ len Einverständnis wiederfindet, das die Personen Nadars mit dem Photographen eint. Mit der Entwicklung beider schwin­ det daher die Aura: Durch die »Verdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive« wird sie aus dem Bild ebenso verdrängt wie durch die »zunehmende Entartung des Bür­ gertums« aus der Wirklichkeit.62 Das kitschige Dekor der spä­ teren Photographien kann sie durch seinen Illusionsschleier nicht wiedererschaffen. Noch verwickelter wird Benjamins Analyse der Aura an­ hand der Photographien von Atget. Auch wenn er längere Pas­ sagen davon fast wörtlich in den Kunstwerk-Aufsatz über­ nimmt, ist es keineswegs sicher, ob sie sich ihrem Sinn nach völlig decken. Indem Atget »die Befreiung des Objekts von der Aura« einleitet, indem er scheinbar unbedeutende Details der Wirklichkeit photographiert, trifft er sich mit einer bestimm­ ten Wahrnehmung des »heutigen Menschen«: »Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mit­ tels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«63 Ein Abgrund trennt dennoch den Blick Atgets von der kollektiven Wahrnehmung des Kunstwerks. Und nichts garantiert, daß dieses »Einmalige« noch in der Reproduktion wahrgenommen wird, um so weniger, als Benjamin die »Einmaligkeit« des Wer­ kes als Einordnung in die Tradition bestimmt und einräumt, daß diese noch der besten Reproduktion mangelt. 62 (Ebd., S.377.) 63 Ebd., S. 379. Benjamin erinnert sogar an die Befreiung des Objekts von seiner Nützlichkeit bei Marcel Duchamp [»Die spezifische Wirkung des Kunstwerks kann der heutige Mensch darum weit eher an [...] ihrem Funk­ tionszusammenhang entrückten Objekten [...] als an beglaubigten Werken

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In seinem Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« nähert er sich dem Phänomen der Aura mehrmals durch Vergleiche mit Proust, bei dem die Erinnerung immer wieder solche aura­ tischen Erscheinungen64 mit ihren selbst wieder auratisch auf­ blitzenden Glücksmomenten hervorbringt. Das Kapitel XI definiert die Aura eines Objekts als die Gesamtheit von »Vor­ stellungen, die, in der memoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand zu gruppieren streben«.65 Während sich aber der Blick an einem Gemälde nicht sattsehen kann, »be­ deutet eine Photographie viel mehr das, was die Speise dem Hunger ist oder der Trank dem Durst«.66 In den früheren Schriften schien der Verfall der Aura nicht nur mit den Repro­ duktionstechniken zusammenzuhängen, sondern mit dem Po­ stulat einer neuen Wahrnehmung, die dem Auftreten der Mas­ sen auf der historischen Bühne entsprechen und auf einer größeren Nähe zum Objekt beruhen sollte:'Der BaudelaireEssay diagnostiziert in dieser »Krisis der künstlerischen Wie­ dergabe« einen wesentlichen Aspekt der »Krise in der Wahr­ nehmung selbst«.67 Benjamin sieht deren poetische Überset­ zung beim Autor der Fleurs du m al in dem Motiv der »Augen, von denen man sagen möchte, daß ihnen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist«.68 Die Aura verweist nicht mehr nur auf die Tradition, sondern auf »das Bild der Vörwelt, die Baudelaire durch die Tränen des Heimwehs verschleiert nennt«.69 Die technische Reproduktion scheint außerstande, der Kunst erfahren«] (»Paralipomena und Varia« zum Kunstwerk-Aufsatz, GS I.3, S. 1046). 64 Mit der Nähe zwischen »Erscheinung« und »Schein« verfügt die deutsche Sprache über eine erstaunliche Bedeutungspalette: Das erste Wort bedeutet »Phänomen«, »Auftauchen« und »Vision«, das zweite »Helligkeit«, »Anschein«, »Illusion«. 65 »Über einige Motive bei Baudelaire«, GS 1.2, S. 644. 66 Ebd., S.645. 67 Ebd. 68 (Ebd., S. 648.) 69 Ebd., S.645.

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eine bestimmte Vorstellung von Schönheit wiederzugeben, und die Photographie überhaupt erfährt nun eine ganz andere Einschätzung: Das findet in der technischen Reproduktion nicht mehr statt. (In ihr hat das Schöne keine Stelle.) In dem Zusammenhänge, da Proust die Dürftigkeit und den Mangel an Tiefe in den Bildern beanstandet, die ihm die memoire volontaire von Ve­ nedig vorlegt, schreibt er, beim bloßen Wort >Venedig< sei ihm dieser Bilderschatz ebenso abgeschmackt wie eine Aus­ stellung von Photographien vorgekommen.70 Die Aura, die in der Tradition wurzelt, gehört der der unwill­ kürlichen Erinnerung zu. Und für ihren Niedergang ist die Photographie verantwortlich. Die Aura setzt einen stummen Dialog mit den Dingen voraus. Der photographische Apparat nimmt das Bild des Menschen auf, »ohne ihm dessen Blick zu­ rückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt.«71 Benjamin er­ läutert: »Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.«72 Diese Aura ist im Baudelaire-Essay eng mit dem wechselseitigen Blick zwischen Belebtem und Unbelebtem verbunden: »Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.«73 Ebendiese »Übertragung« des Blicks und des Gefühls zwischen der N a­ tur, den Dingen und dem Menschen ermöglicht Benjamin die Anknüpfung an Prousts unwillkürliche Erinnerung, die dem

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Ebd., S.646. (Ebd.) Ebd. (Ebd., S.646f.)

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Subjekt die »einmalige Erscheinung einer Ferne«74 liefert. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß Adorno diese »Über­ tragung« mißbilligte; sein Vorschlag zum Verständnis der Aura greift auf eine Deutung zurück, die er in seinem Wagner-Buch der Konstruktion der Phantasmagorie zugrunde gelegt hatte. Danach ist Aura die Spur der an den Dingen vergessenen menschlichen Arbeit.75 Benjamin wendet in seiner Antwort vom 7. Mai 1940 ein, bei diesem »vergessenen Menschlichen« müsse es sich nicht notwendig um das handeln, was »durch die Arbeit gestiftet wird«.76 Die Ferne verweist hier auf eine räumliche und zeitliche Entfernung, in der sich das Kunstwerk, das Objekt und die Natur selbst begegnen. Sie sind in ihrer Aura nur durch die Verschränkung von Nähe und Distanz wahrnehmbar, deren einmalige Bedeutung Benjamin mehrfach unterstreicht.77 Der kultische Charakter78 dieser Aura hat vor der modernen Wahr74 (Ebd., S.647.) 75 [Brief Adornos an Benjamin vom 29. Februar 1940, in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S.418.] 76 (GB VI, S.446.) Diese Behauptung ist nicht ohne weiteres mit bestimm­ ten Stücken aus dem »Zentralpark« vereinbar, wo Benjamin schreibt: »A b ­ leitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert.« GS 1.2, S.670. 77 Für diese merkwürdige Dialektik von Nähe und Ferne findet man bei Benjamin zahlreiche Beispiele. In Einbahnstraße bemerkt er: »Was den al­ lerersten Anblick eines Dorfs, einer Stadt in der Landschaft so unvergleich­ lich und so unwiederbringlich macht, ist, daß in ihm die Feme in der streng­ sten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat Gewohnheit ihr Werk nicht getan. [...] Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufin­ den, so kann jenes früheste Bild sich nie wieder herstellen« (Einbahnstraße, »Fundbüro«, GS IV. 1, S. 1 19 f.). In »Kurze Schatten« schildert er einen Traum, der seine Sehnsucht nach Notre-Dame heraufbeschwört. Betrachte­ te er die Kirche in der Realität, verschwand der magische Eindruck, denn er war ihr zu nahe gekommen (GS IV. 1, S. 370). Die auratische Erscheinung ist dann um so stärker, wenn sich das Objekt oder die Landschaft nur langsam darbictcn. Vgl. die Schilderung der Blagoweschtschcnski-Kathcdrale im Moskauer Tagebuch (GS VI, S. 378 f.). 78 »Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes« (»Über einige Motive bei Baudelaire«,

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nehmung der Massen und den Reproduktionstechniken kei­ nen Bestand. Zur Aura gehören der »Zauber der Ferne«, die Bereitschaft zur Illusion. Und wenn Baudelaire von dem ver­ gangenen Prestige des Kunstwerks fasziniert bleibt, der Photo­ graphie mißtraut, ist seine Verwendung der Allegorie doch ent­ schieden antiauratisch: »Die Scheinlosigkeit und der Verfall der Aura sind identische Phänomene.«79 Die allegorische In­ tention Baudelaires, das »Herausreißen der Dinge aus den ih­ nen geläufigen Zusammenhängen«80, zerstreut sie nicht min­ der, obwohl er von einer schwindenden auratischen Schönheit gefesselt bleibt.81 CS 1.2 , S. 647). (Im /Vwwgen-Werk zitiert Benjamin einen Abschnitt aus dem Werk des Saint-Simonisten £mile Barrault, Aux artistes. Du passe et de Vavenir des beaux-arts, und bemerkt dazu: »Barrault hat schon eine vage Vor­ stellung von der Bedeutung säkularisierter kultischer Elemente für die Kunst« (GS V.2, S. 749; U 16 , 2). Merkwürdigerweise wird die folgende Pas­ sage nicht herangezogen: »Ebenso wie das Theater sich gegen die Kirche er­ hebt, treten die Museen gegen das Theater auf. Dort bleiben dem Blick des Publikums all die Kompositionen der Künste zugänglich, die der alten Ord­ nung der Dinge feind sind; und dort finden auch all die Produktionen ohne soziale Verwendung eine Zuflucht. Am Ende jedoch, in der letzten Phase ei­ ner kritischen Epoche, werden die Museen zu wahren Katakomben, in de­ nen all die Kunstmonumente, die früher einmal die Einbildungskraft erreg­ ten, in wildem Durcheinander lagern; dorthin leeren sich die Tempel, die Kirchen, die Bauwerke, in denen diese Statuen und Gemälde einst, von einer Art Aureole umgeben, lebhafte Begeisterung hervorriefen.« Barrault, Aux artistes, S. 69. 79 »Zentralpark«, CS 1.2, S. 670. 80 (Ebd.) 81 Schönheit und fortschreitende Enthüllung des Sinns gehören zur Aura. Diese Verbindung wird in einem Absatz der im Jahr 1989 im HorkhcimerArchiv aufgefundenen »intermediären« Typoskriptversion des KunstwerkAufsatzes (»Zweite Fassung«, CS VII. 1, S.368) sowie in einer Textvariante dazu [GS VII.2, S. 667f.] hergestellt. Benjamin formuliert dort die Theorie der Aura, ausgehend von Kategorien der Hegelschen Ästhetik (cs kann sich aber auch um einen Bezug auf Nietzsche handeln). Danach ist der »schöne Schein [...] die auratische Wirklichkeit« [GS VII. 1, S. 368]. Schon im Wahlverwandtschaften-Esssy schrieb er: »Durch seine Hülle, die nichts anderes als die Aura ist, scheint das Schöne.« (Tatsächlich findet sich dieser Satz nicht in der Studie über den Roman von Goethe, sondern in GS VII.2,

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Tradition, Einm aligkeit, Echtheit

Die Aura haftet nur an dem, was unter der Kategorie der Ein­ maligkeit in einemsingulären »Hier und Jetzt« erscheint. Sie kann nur in einem einzigen Moment und an einem einzigen Ort existieren. Sie ist gezeichnet vondenSpurender Geschich­ te. Durch die Vervielfältigung der Exemplare verwandeln die Reproduktionstechniken das Einmalige in ein Massenphäno­ men. SieersetzendieunwillkürlicheErinnerungdurchdieVer­ trautheit der Bilder, schaffen zugleich jede Distanz zumWerk und seine Einbettung indieTradition ab. Aufgrund seiner Bil­ der gehört das Werk nicht mehr demVergangenen an, sondern ist immerwährend gegenwärtig, freilich in.einer leeren Zeit. Das Verschwinden der Aura ist nicht bloß mit demVerlust ihres Kultwerts verbunden, sondern ein fortschreitendes Phä­ nomen. Auch wenn diereligiöse Dimensiondes Werkes zerfal­ len ist, bewahrt sich etwas vom Kultwert in der Echtheit der Tradition, inder Summe der Beziehungen, indiedas Werk ein­ gebettet war.82 Diese Tradition ist eine komplexe, wider­ sprüchliche Erscheinung: Eine antike Venusstatue z.B. stand in einemanderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, die sie zum Gegen­ standdes Kultus machten, als bei denmittelalterlichen KleriS.667.) Benjamin unterscheidet im Kunstwerk zwei Aspekte: Schein und Spiel. Der Schein entspricht der magischen Dimension, das Spiel der techni­ schen. Der Verfall der Aura führt in der Kunst zur »Verkümmerung des Scheins«, bedeutet jedoch einen »Gewinn an Spiel-Raum« [GS VII. 1, S. 369], der im Kino seinen Höhepunkt erreicht. 82 Diese fällt nicht mit der Kunstgeschichte zusammen. Sie bedeutet für Benjamin auf ästhetischer Ebene vielmehr, wie die Trauerspiel-Studie zeigt, die Entfaltung des Werkes, von seiner Entstehung bis zu seiner Rezeption. Im Bereich der Geschichte ist diese Tradition die der Unterdrückten: Der Essay über Fuchs erinnert daran, daß jedem Dokument der Kultur die Bar­ barei einbeschrieben ist.

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kern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblickten. Was aber beiden in gleicher Weise entgegentrat, war ihre Einzig­ keit, mit einemanderen Wort: ihre Aura.83 Ursprünglich war der Kultwert nicht anderes als die Einbet­ tung des Werkes in diesen Traditionszusammenhang. Wenn es sich davon trennt, löst es sich unvermeidlich von seiner Aura. Dieser Prozeß ist selbst ein geschichtlicher. Der Kultwert des Werkes hat sich, jenseits seiner magischen Dimension, in die Verherrlichung der Schönheit, die Einzigartigkeit des Künst­ lers, die Echtheit seiner Schöpfung geflüchtet. Diese Einmalig­ keit wurde von der Photographie erschüttert, und die ableh­ nenden Reaktionen, die sie hervorrief, bezeugen denWillen, an einer theologischen Dimension der Kunst festzuhalten, näm­ lich an der Idee einer »reinen Kunst«, die sich kein Sujet mehr vorgeben läßt. Wenn die Photographie als Reproduktion die­ semBedürfnis entgegenkommt, »die Dinge sich [...] »näherzu­ bringen AuraSttr le concept d ’histoire*.) 67 Messianismus und Anarchismus bleiben bis hin zu den letzten Texten Benjamins unzertrennlich, auch wenn sich nach 1924 die Bezugnahme auf den Anarchismus verhüllt. Die Zerstörung, die der Engel der Geschichte be­ trachtet, ist von der Apokalypse nicht zu trennen. Der Kampf der Klassen und der Unterdrückten, Glück, Befreiung und Erlösung bewahren einen theologischen Sinn. Die Anspielung auf das Karl Krausschc Epigramm »Ur­ sprung ist das Ziel« erinnert ebenso wie der »Tigersprung ins Vergangene«, den die vierzehnte These evoziert (GS 1.2, S.701), von ferne an die Wieder­ herstellung des verlorenen Paradieses.

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eine homogene und leere Zeit zu beschränken, und der im Tief­ sten die Apokalypse eingeschrieben ist. Dieselbe Uberdetermi­ niertheit wird es Benjamin in den geschichtsphilosophischen Thesen von 1940 erlauben, gleichzeitig die »proletarische Re­ volution« und das Kommen des Messias zu beschwören. Die fast immer präsente anarchistische Dimension gestattet es ihm, den Bolschewismus bruchlos in seine Weitsicht einzugliedern, ganz so, wie die Intuitionen Lukacs’ in Geschichte und Klas­ senbewußtsein die Überwindung der Kantischen und neukan­ tianischen Aporien ermöglichten. Statt zwischen Materialis­ mus und Theologie eine Wahl zu treffen, unterwarf er den Bolschewismus den Kriterien des Messianismus. Auch wenn Löw ys Ansatz sich darauf beschränkt, den Platz Benjamins innerhalb einer bestimmten intellektuellen Konstel­ lation zu skizzieren, lassen die Gliederung der Motive, die er vornimmt, die vielfachen Verknüpfungen, die er in Benjamins Schriften vorführt, die Entsprechungen, die er herausarbeitet, einen Prozeß der »Osmose« erkennen, der weit von der er­ starrten Alternative entfernt ist, die Scholem aufstellte. Im G e­ gensatz zu manchen Intellektuellen seiner Generation setzte Benjamin den Bolschewismus niemals mit der Ankunft des messianischen Zeitalters gleich. Doch der Bruch, den die A r­ beiterklasse vollziehen kann, hat für ihn etwas Messianisches, und er verbindet die Revolution mit dem Sieg über den Anti­ christ. Was die »Tradition der Unterdrückten« angeht, so ver­ eint sie in jedem Augenblick Materialismus und Theologie. An die Stelle der Vorstellung, man habe es bei Benjamin mit einem zwischen Extremen zerrissenen Menschen zu tun, hätte also der Reichtum und die Komplexität eines einzigen Denkens zu treten, das in der strengen Begrifflichkeit der traditionellen Philosophie oder der politischen Theorie schwer wiederzuge­ ben ist, eines Denkens, das in manchmal fremdartig anmuten­ den Korrespondenzen zum Ausdruck kommt, die sich in Bil­ dern kristallisieren.

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D ie Studie, die Stephane Moses - ein Spezialist für Franz Rosenzw eig - der Geschichtsphilosophie Benjamins gewidmet hat68, gelangt mit dem Nachweis seiner tiefen Verwurzelung im Judentum zu ähnlichen Ergebnissen. Rosenzweig, Scholem und Benjamin erscheinen ihm als Vertreter einer neuen Sicht der Geschichte, die von der Idee der Aktualisierung der histo­ rischen Zeit beherrscht wird. Trotz der Unterschiedlichkeit ih­ rer intellektuellen Herkunft - Rosenzweig kommt von der Hegelschen Philosophie, Benjamin von der Literaturkritik und Scholem von der jüdischen M ystik her - treffen sie sich in der Kritik der geschichtlichen Vernunft, die auf der Ablehnung der Idee einer Kontinuität von Zeit, Kausalität und Fortschritt be­ ruht. Und trotz der Unterschiedlichkeit ihrer theoretischen Methoden hält sich die Bindung an bestimmte theologische Kategorien, die für das Judentum wesentlich und eigentümlich sind, bei ihnen durch. So sieht Moses in den geschichtsphiloso­ phischen Thesen von 1940 mitnichten den Triumph der mate­ rialistischen Sichtweise, sondern, ausgehend vom jüdischen Messianismus und seiner Eschatologie, eine Umkehrung des orthodoxen Marxismus. Es war ein wachsendes Bewußtsein von der Tragik der Epoche - vom Trauma des Ersten Welt­ kriegs bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus - , das die drei Autoren dazu brachte, der traditionellen Auffassung des linea­ ren Fortschritts eine Philosophie der Geschichte entgegen­ zusetzen, die auf der Einmaligkeit des Augenblicks und der Bedeutung der Brüche beharrte. Jenseits der Gegensätze zwi­ schen den philosophischen Kategorien dieser drei emblematischen Gestalten arbeitet Moses die genaue Parallelität ihrer Vorgehensweisen heraus.

Das Entsetzen, das Rosenzweig angesichts des Ersten Welt-

68 Stephane Moses, Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem.

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kriegs empfand69, führte ihn dazu, sich gegen die panlogische Auffassung Hegels zu wenden, in der die europäische Zivilisa­ tion mit dem Abschluß der Weltgeschichte gleichgesetzt war. Gegen diese Hegelsche Idee der Vollendung entwickelt er die Vorstellung einer »Meta-Geschichte«70, einer von der profanen Zeit, von der politischen Herrschaft getrennten Zeit. In seiner Gegenüberstellung von Christentum und Judentum will er letzteres der säkularen Herrschaft entreißen, um es in einen ewigen Augenblick zu stellen. D er Idee des Fortschritts und der homogenen Zeit stellt er eine gebrochene, zerrissene Zeit gegenüber, in der jeder Augenblick zur Erlösung bestimmt sein kann. Scholem bricht mit dem rationalistischen Verständnis der Religion, wie es die »Wissenschaft des Judentums« im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hatte, indem er zur Kab­ bala und zur jüdischen M ystik zurückkehrt. Seine Deutung des Messianismus beharrt auf dessen katastrophischem Aspekt und gibt der Apokalypse ihren uneingeschränkten Sinn. Benja­ min schließlich sollte seit seinen Jugendschriften niemals auf­ hören, die triumphale Sicht des Fortschritts, die Verklärung der linearen Zeit, in Zweifel zu ziehen, um ihr seine Konzep­ tion plötzlicher Unterbrechungen der Geschichte entgegenzu­ setzen, in der jeder Bruch ebenso messianischer Augenblick wie revolutionäre Hoffnung ist. Die Interpretation von Moses unterstreicht die gleichbleibend doppelte, theologische und politische Inspiration der messianischen Konzeption, die Benjamin für die Philosophie der G e­ schichte vorschlägt. Die Möglichkeit, die Geschichte zu verste­ hen, denkt Benjamin Moses zufolge nacheinander im Rahmen dreier »Paradigmen«: 69 Rosenzweig wie Scholem sollten 1914 zu der Einsicht gelangen, daß die­ se Geschichte, in der sie lebten, nicht die ihre war. 70 In dieser Meta-Geschichte erweist sich für Rosenzweig die religiöse Be­ rufung des jüdischen Volkes - gegenüber der modernen Geschichte, die vom Christentum beherrscht wird.

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eines theologischen Paradigmas, das seine frühen Schriften über die Sprache beherrscht; eines ästhetischen Paradigmas, das in demWerk über das Ba­ rockdrama dominiert; eines politischen Paradigmas, das sich in seinen letzten Schrif­ ten entfaltet, handele es sich um das T^ssÄgen-Werk oder die geschichtsphilosophischen Thesen von 1940. Die Unterscheidung dieser Paradigmen sollte nicht allzu scharf gezogen werden, denn sie durchdringen sich unaufhörlich.71 Gleichwohl meint Moses, daß »von der Diachronie her gese­ hen das theologische Paradigma das konstanteste gewesen ist«.72 Dem Bruch Rosenzweigs mit der Hegelschen Sicht ent­ spricht bei Benjamin nicht eine Abfolge dialektischer Momen­ te, die auf einer linearen Achse ablaufen; es sind vielmehr unab­ hängige Augenblicke, die erst in einer zugleich theologischen und teleologischen Perspektive in Zusammenhang treten. Wie man sieht, hat Benjamins Bekenntnis zum Marxismus das me­ taphysische und das theologische Paradigma mitnichten besei­ tigt; vielmehr beharrt er auf ihrer ständigen Verschmelzung in neuen Anordnungen. Das theologische Paradigma, das in der Trauerspiel-Studie fehlt, taucht in den Thesen von 1940 wieder auf. Ohne sich nach den letzten - philosophischen und politi­ schen - Gründen zu fragen, die Benjamin zu jener »Wende von 1924« bewogen haben, betont Moses, die eigentliche Umwäl­ 71 Das theologische Paradigma, das von der Sprachphilosophie beherrscht wird, die um die »adamitischc Namengebung«, den Sündcnfall und die Er­ lösung kreist, ist auch in der Trauerspiel-Studie präsent - denn die »Idee« ist sprachlicher Natur - und fehlt keineswegs in den Passagen. Das politische Paradigma, verankert in Messianismus und Geschichtsphilosophie, prägt bereits die frühesten Texte Benjamins, etwa »Das Leben der Studenten«. Das ästhetische Paradigma hat keine wirkliche Eigenständigkeit, wenn man berücksichtigt, wie schwer es bei Benjamin fällt, das »Ästhetische« ohne Be­ zug auf das »Theologische« und das »Politische« zu denken. 72 (Moses, Der Engel der Geschichte, S. 92.) Vgl. die Analyse, die er zur Übernahme des Goetheschen Begriffs des »Urphänomens« liefert, ebd., S. 1 18 L , 124 ff.

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zung, die sich in seinem Werk vollziehe, betreffe die Relevanz, die der Kategorie des Gegenwärtigen, der Aktualität beigelegt wird. Die Rolle, die Benjamin dem materialistischen Histo­ riker zuschreibt - Bilder zu retten - , die Infragestellung der Kontinuität der Geschichte, sein Zweifel an der Fortschritts­ ideologie, an der Unvermeidlichkeit des Sieges der Unterdrück­ ten: all das scheint ihn ganz wie seine Bezugnahme auf den Ein­ bruch der messianischen in die profane Zeit in Gegensatz zur marxistischen Geschichtsauffassung zu stellen. Doch die Be­ deutung, die das »Jetzt« - als Begegnung von »Vergangenem« und »Kommendem« - erhält, die Verbindung des Automaten und des Zwerges bilden die äußerste Verknüpfung von Theo­ logischem und Politischem, das Zerbrechen der profanen Zeit, das den Augenblick der Erlösung ermöglicht. Es ist ein »theologisch-politisches Modell«, von dem aus Benjamin die drei Postulate der positivistischen Geschichte sprengt: Kontinuität der geschichtlichen Zeit, Kritik der historischen Kausalität, Kritik der Fortschrittsideologie. Die ethische und theologische Dimension kulminiert in dem Gegensatz zwischen der völlig diskontinuierlichen, aus Brüchen und Sprüngen bestehenden Geschichte der Besiegten - und der Geschichte der Sieger, die das Vergangene im Konformismus von Tradition und Trägheit versinken läßt. Auch wenn man sich dieser Paradigmentheorie nicht an­ schließen mag, hat die Interpretation von Moses das Verdienst, die ständige Verknüpfung theologischer und materialistischer Kategorien bei Benjamin zu erweisen, die merkwürdige Zirkularität seines Denkens und die Unmöglichkeit, seine geistige Entwicklung in der Terminologie von »Brüchen« zu begrei­ fen.73

73 (Hier endet das Manuskript von Jean-Michel Palmier, an dem er bis Frühjahr 1998 kontinuierlich gearbeitet hat.)

Anhang

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Anmerkung des Herausgebers Von den fünf Hauptteilen, in die sich das Buch Walter Benjamin. Lumpensammler, Engelund bucklicht Männlein gliedern sollte, haben nur drei fertige Teile und der Anfang des vierten annähernd die Ge­ stalt angenommen, die Jean-Michel Palmier sich für die Endfassung gewünscht hatte. Zum vierten und fünften Teil (IV. Materialismus und Messianismus: Benjamin und die Philosophie der Geschichte; V. Die Pariser Passagen oder Die Archäologie der Moderne) sind nur einige Gliederungsent­ würfe vorhanden, eine ganze Reihe thematisch geordneter Karteien (die sich im wesentlichen auf das Passagen-Werk beziehen), verstreute bibliographische Hinweise sowie zumeist kürzere handschriftliche Ausführungen zu Thematiken; die in diesen letzten beiden Teilen un­ tersucht werden sollten. Um nicht Verrat zu üben an einem Autor, der einen Text offenbar erst nach zahlreichen Umarbeitungen aus der Hand geben konnte (so enthält die Einleitung dieses Werkes nicht weniger als fünf verschie­ dene »Textschichten«), hielten wir es für ratsam, verschiedene Ar­ beitsmaterialien zusammenzustellen, die eine Vorstellung vom Inhalt der beiden unvollendet gebliebenen Teile vermitteln können (von ei­ nem Schlußkapitcl hat sich keine Spur gefunden), aber auch einen Eindruck von Jean-Michel Palmiers bevorzugter Forschungsweise geben. Den Gliederungsentwürfen und Themenkarteien, von denen wir hier nur die eigentlichen Stichworte verzeichnen (unleserliche Teile sind mit drei Sternchen gekennzeichnet), fügen wir zwei Texte bei, die sich in Jean-Michel Palmiers Benjamin-Archiv fanden. Es handelt sich um Texte, die sich thematisch unmittelbar auf den vierten und fünften Teil beziehen, auch wenn sie nur eine vage Andeutung davon liefern können.

A nhang

12 0 6

Gliederungsentwürfe zum vierten und fünften Teil Vierter Teil1 Materialismus und Messianismus: Benjamin und die Philosophie der Geschichte E rstes Kapitel E in problematischer M aterialismus1 2 i.

Über einige Deutungen von Benjamins Verhältnis zum Mate­ rialismus Selbsttäuschung und subjektive Einheit: die Bilanz der Diskus­ sionen mit Scholem Entwicklung der Positionen Adornos gegenüber Benjamins Verhältnis zum Materialismus: ein »produktives Mißverständ­ nis«? Theoriebildungen der sechziger Jahre: die Kritik der Zeitschrift alternative an den Positionen Adornos Anerkennung und Aufwertung der romantischen und theolo­ gischen Dimension im Materialismus

Z weites Kapitel D as Politische und das T heologische : eine Sinnhierarchie 1. Das Wechselspiel der theologischen und materialistischen Be­ griffe: spannungsgesättigt3 2. Der Essay über Karl Kraus: eine problematische Verknüpfung 1 Die folgende Gliederung ist eine Zusammenstellung verschiedener Ent­ würfe, die Jean-Michel Palmier hintcrlassen hat. 2 Zu diesem teilweise ausgearbeiteten Kapitel vgl. S. 1 16 3-120 1. 3 Die Abschnitte 1-3 wurden von Jean-Michel Palmier zum Teil ausformu­ liert und bilden ein Manuskript von fünfundvierzig Seiten, das in seinem Archiv aufbewahrt wird. (Keines dieser Unterkapitel war so weit ausgear­ beitet, daß es in den vorliegenden Band hätte aufgenommen werden kön­ nen.)

Gliederungsentw ürfe zum vierten und fünften Teil

1 207

3. Der Widerhall des Theologischen: Benjamin und Kafka Der Essay über Kafka: der Primat der theologischen Intuitionen 4. Von den Wahlverwandtschaften zu dem Artikel für die sowjeti­ sche Enzyklopädie 5. Die Methodik der Passagen und des Baudelaire-Essays D rittes K apitel D ie T hesen »Ü ber

den

B egriff

der

G eschichte «

Entstehung, Abfassung, Bedeutung Die Stelle der Zukunft bei Benjamin Deutungsschwierigkeiten 1. Die Aufgabe des materialistischen Historikers Kritik des Positivismus und Historismus Durchgängige Kritik an der Fortschrittsidee Geschichtliche Zeit und messianischc Zeit: die Rolle des Bruchs Die Rolle des Jetzt Epistemologische Funktion der Übergänge 2. Die Philosophie der Geschichte *** Kritik des Diltheyschen Erlebnisbegriffs 3. Die Rettung der geschichtlichen Erfahrung Die Tradition der Besiegten und Unterdrückten 4. Politik und Theologie: die Frage des Messianismus Der Schachspielautomat und der Zwerg 5. Der Engel der Geschichte und die Trümmer Ursprung der Figur des Engels bei Benjamin Die apokalyptische Tradition

Fünfter Teil Die Pariser Passagen oder die Archäologie der Moderne E rstes Kapitel D ie komplexe und

unvollendete

Konstruktion

einer

DIALEKTISCHEN FEERIE 1

1. Das Passagen-Werk: eine lange und schmerzhafte Genese Zustand der Manuskripte und Editionsprobleme

1 208

Anhang

Die Lektüre von Aragons Paysan de Paris und der Einfluß des Surrealismus: die ersten Skizzen Das Expose von 1935 und Adornos Kritik Genese des Essays über Baudelaire: vom Paris des Sccond Em­ pire bei Baudelaire zur Theorie des Flaneurs Die »herausgelösten Blöcke«: der Kunstwerk-Aufsatz, die Schriften überden Flaneur, der Essay über Fuchs und die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« 2. Charles Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalis­ mus Benjamin und Baudelaire: Geschichte einer Begegnung4 Das Paris des Second Empire Über einige Motive bei Baudelaire Z weites K apitel D ie Pariser Passagen: M ythos

und

W irklichkeit

1. Entstehung der Pariser Passagen 2. Die Passage als Symbol der Architektur des neunzehnten Jahr­ hunderts 3. Die Flanerie und die Phantasiewelt einer Epoche 4. Die Religion des Neuen und der Ware 5. Niedergang der Passagen D rittes Kapitel V om E ssay über Baudelaire zu

den

Passagen:

DIE SUKZESSIVEN UMARBEITUNGEN

4 Vgl. den veröffentlichten Artikel von Jean-Michel Palmicr, »Baudelaire, Benjamin: histoire d’ une rencontre«.

Themenverzeichnis zum vierten un d fünften Teil

120 9

Themenverzeichnis zum vierten und fünften Teil Das Politische und das Theologische Die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« Eine dialektische Feerie: das Passagen-Werk Die Pariser Passagen: Mythos und Wirklichkeit Vom Essay über Baudelaire zu den Passagen a. Das Politische und das Theologische5 Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts - Bezug auf Brecht - Bezug auf Simmel - Theorie des Überbaus im Passagen-W erk - Materialistische Physiognomie - Die Ökonomie als Urphänomen - Entwicklung der Erkenntnistheorie in den Passagen - Erkenntnistheorie der Passagen. Methode - Theorie der Erfahrung in den Passagen - Verwendungsweisen des Ma­ terialismus in den Passagen - Geschichtliche Zeit im PassagenWerk - Die Katastrophe, der kritische Augenblick - Benjamins Methode - Konstruktion des geschichtlichen Gegenstandes Theologie in den Passagen - Technik - Mythos - Verhältnis zum Trauerspiel - Verhältnis zu Caillois - Abfassung der Pas­ sagen - Fortschritt und Katastrophe - Wahrheit - Rettung Politischer Sinn der Passagen - Interesse an den Bildern - Cha­ rakteristika des PdMrtgert-Buches. Intentionen - Bezug auf eine materialistische Theorie - Benjamin und das neunzehnte Jahr­ hundert - Theorie des kulturellen Überbaus - Historischer Materialismus - Simmel und die Kulturgeschichte - Kritik der 5 Um der Klarheit willen und trotz ihrer thematischen Querbeziehungen gruppieren wir die verschiedenen von Jean-Michel Palmicr angelegten Kar­ teien hier unter fünf Haupttiteln. Die Themenstichworte werden in fetter Schrift wiedergegeben, die einzelnen Karteikarten durch einen Gedanken­ strich voneinander getrennt. (Dieses Verzeichnis dient nur der Orientierung und beansprucht keine Vollständigkeit.)

1210

Anhang

marxistischen Kunsttheorie- Bild und Geschichte - Blochsche Kategorien - Kritik des Fortschritts - Benjamins Kritik des Historismus - Materialismus. Materialien IV. Teil - Schwie­ rigkeiten bei den Verknüpfungen - Politische Theologie Bruch / Benjamin - Motiv des Engels in der Kabbala - Epistemologische Funktion der Passagen - Kritik der historischen Kausalität - Die Hoffnung - Der Blick des Engels - Materialis­ mus der Passagen - Die Ablehnung der Alternativen - Benja­ mins Materialismus. b. D ie Thesen »Ü ber den B e g riff der Geschichte« Messianismus und Materialismus - Tradition der Unter­ drückten - Messianismus - Der Automat und der Zwerg Historische Aufgabe und Tradition der Besiegten - Kritik der historischen Kausalität - Messianismus in den »Thesen« Kommen des Messias. Katastrophe - Das Jetzt / Vergegenwärtigung - Kritik des Fortschritts (philosophischer Aspekt) Der Engel - Aktualisierung - Neue Konzeptionen der Zeit bei Benjamin - Die Gegenwart der Geschichte - Tradition der Be­ siegten - Ursprung der Fortschrittsideologie - Messianismus und Revolution. Momente von Brüchen - Wovor rettet man die Vergangenheit? - Aufgabe der Geschichte - Vereinbarkeit der »Thesen« mit dem Marxismus - Kritik der Einfühlung Die Aufgabe des materialistischen Historikers - Kritik des Fortschrittsgedankens bei Benjamin (»Thesen«) - Kritik des Fortschritts / geschichtliche Zeit - Kritik des Fortschritts / Konzeption der geschichtlichen Zeit - Fortschrittsidee - Ge­ schichtliche Zeit und messianische Zeit: die Rolle des Bruchs und des Jetzt - Bedeutung des Bruchs bei Benjamin - Zeit bei Rosenzweig - Kritik des Positivismus und des Historismus Die Aufgabe des materialistischen Historikers - »Thesen« Aufgabe des materialistischen Historikers (Bilder) - Der En ­ gel der Geschichte und die Trümmer - Pessimismus - Der

Them enverzeichnis zum vierten un d fünften Teil

1211

Engel - Anm erkungen zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« - Geschichtsphilosophie - Karl Kraus - Goethe. Sowjetenzyklopädie - R ettung. Tradition der Unterdrück­ ten - Tradition der Unterdrückten - Ablehnung der proletari­ schen Eschatologie - Messianismus - Rettung - Geschichts­ philosophie - Tradition der Unterdrückten - Rettende Kritik Rettung - Schachspielautomat - Thesen »Über den Begriff der Geschichte« - Die »Thesen« als Genre - Benjamin und Paul Klee - Zweifel an Fortschritt und Entwicklung - Verbin­ dungen der »Thesen« mit dem Baudelaire-Essay - Die Theolo­ gie - Entstehung der »Thesen« - Kritik des Historismus Katastrophe - Interpretation der »Thesen« - Der Engel - Ge­ schichtsphilosophie - Geschichte und Natur - Der Automat Marxismus und Theologie - Religiöse Postulate der G e­ schichtsphilosophie - Quellen seiner Geschichtsphilosophie Jüdische Kategorien der Geschichtsphilosophie - Motiv des Ursprungs - Geschichtsphilosophie - Messias - Rolle des A u­ genblicks. Problem der Zeit - Rolle des Augenblicks - Messianische Zeit.

c.

Eine dialektische Feerie: das Passagen-Werk

Abfassung des Passagen-Werks - Plan der Passagen - Adorno und die Passagen - Abfassung der Passagen - Entstehung der Passagen. Dialektische Feerie (erstes Projekt) - Struktur des Passagen-Werks - Zweites Projekt (1934) - Charakteristika der Passagen - Strukturen des Werkes - Trümmer oder Materia­ lien- Die Exposes von 193 5 und 1939 - Vorstellung der Passa­ gen - Lektüren für die Passagen. Literaturverweise. d. D ie Pariser Passagen: Mythos und W irklichkeit

Benjamin und der Surrealismus - Architektur des Werkes Die Problemstellung der Passagen - Ein Archäologe der Mo­

1 2 12

A nhang

derne - Entstehung und Entwicklung des Buches über die Pas­ sagen - Einflüsse - Philosophische und politische Absichten Benjam in und Baudelaire - Die Passage als dialektisches Bild / als Traumbereich - Die Begegnung von K unst und in­ dustriellem L uxus - Geschichte der Passagen und Beschrei­ bung - Wirtschaftliche Gründe für den Bau der Passagen - Die wichtigsten von Benjamin erwähnten Passagen - Wirtschafts­ tätigkeit der Passagen: Handel und Gewerbe - Die Flanerie Refugium - D er Warentempel - Luxus - Ladenschild/Calicot - Die Läden, ihre Entwicklung - Die Ladengeschäfte der Passagen / ihr Wandel - Die Ware: Qualität/Seltenheit/Besonderheit/Neuheit - Beziehung des Flaneurs zur Ware - Das Warenhaus - Warenhaus / Funktionsweise - Utopische Ele­ mente - Fourier - Straße als Galerie - Architekturen der Pas­ sagen - Glas / Eisen - Gußeisen - Beleuchtung der Passagen Weltausstellungen - Daumier - Verhältnis Kunst/Architektur - Architektonische Realität der Passagen - Passagen/Glasgebäude/Architektur - Eisenkonstruktionen - Kunst im neun­ zehnten Jahrhundert - Passagen. Geschichte. Gewerbe. Strukturen. Panoramen. Lesekabinette - Tod der Passagen Literarische Werke, deren Handlung sich in den Passagen ab­ spielt - Zeitgenössische Autoren, die Benjamin gelesen hat Branchen der Läden in den Passagen - Lesekabinette - Passage als Ort des Flanierens - Motiv der Passagen - Passagen-Werk und andere Bücher Benjamins - Passagen und wirtschaftliche Prosperität - Geschichte der Passagen - Luxus der Passagen Passagen / Prostituierte - Die Straße als Galerie - Panoramen Passagen / Analyse - Die Passagen. M otive - Warenhaus - Die Neuheit - Ware - Luxus der Passagen - Prostituierte und Pas­ sage - Flaneur. Refugium - Wirtschaftstätigkeit der Passagen Handel - Interesse an politischen Ereignissen - Ausstellun­ gen. Reklame. Grandville. Kunst / Industrie. Jugendstil Jugendstil - Kunst / Industrie - Kristallpalast - Plakate - R e­ klame - Politische Bedeutung der Weltausstellungen - Grand-

Themenverzeichnis zum vierten und fünften Teil

1213

ville - Ausstellungen - Surrealismus / Einbahnstraße - Re­ klame/ Plakate- Kunst undReklameimneunzehntenJahrhun­ dert - Kunst und Industrie im neunzehnten Jahrhundert. Das Paris Haussmanns - Die Rivalität zwischen Ingenieur und Künstler - Die Weltausstellungen- Die neuenMaterialien: Glas und Eisen - Der Jugendstil - Das Interieur als Refugium. e. Vom Essay über Baudelaire zu den

Passagen

Passagen und gesellschaftliche Utopie. R ettung. Theologie. M iniaturisierung - Miniaturisierung - Motiv der Passage Passage und gesellschaftliche Utopie - Fourier - Theologie in den Passagen - Das Interieur, die Spur - Entwicklung des Ein­ richtungsstils - Interieur - Der Begriff des Interieurs - Inte­ rieur, Spur - Entwicklung des architektonischen Stils / Mobili­ ar - Interieur - Offenbach / Kracauer - Haussm annisierung. Barrikadenkäm pfe. Paris. Politische Ereignisse - Negative Sicht Benjamins auf Haussmann - Positive Elemente - Umbau von Paris unter Napoleon III. - Haussmann und die Barrika­ den - Politische Ereignisse / Utopie - Aufstände - Politische Bedeutung von Paris - Baudelaire - Allegorie bei Baudelaire Straße bei Baudelaire - Baudelaire und die Schriftsteller seiner Zeit - Baudelaire und Paris - Beleuchtung/Dämmerung - K ri­ tik des Fortschritts bei Baudelaire - Fourier / Baudelaire Baudelaire und die Geschichte - Baudelaire und seine Zeit Baudelaire und Blanqui - Baudelaire und die Politik - Politi­ sche Ideen Baudelaires - Künstlichkeit / Baudelaire - N eu­ heit - Kunstauffassung bei Baudelaire - Kafka und Baude­ laire - Geschichtsphilosophie - Aufgabe des materialistischen Schriftstellers - Leben Baudelaires in Paris - Entwicklung von Paris und Moderne - Lesbierinnen - Die Moderne - Benjamins Lektüren über Baudelaire - Moderne - Baudelaire und die Akademie - Aura bei Baudelaire - Kunst im neunzehnten Jahr­ hundert und Baudelaire - Baudelaire und die Passagen - Bau-

1214

Anhang

delaires Elend - Spleen / Langeweile - Baudelaire und Wag­ ner - Sinn der Utopie —Motiv der Menge - Menge bei Hugo Motiv der Erlösung - Motiv der Phantasie bei Baudelaire Baudelaire und die Passagen - Baudelaire und Poe - Das neun­ zehnte Jahrhundert und Baudelaire - Proust und Baudelaire Baudelaire und die Politik - Baudelaire und Blanqui - Massen­ artikel - Figuren der .Passagen - Lumpensammler. Flaneur. Spieler. D andy - Lumpensammler/Kind - Geschichtsphiloso­ phie. Automat - Spiel / Spieler - Der Spieler - Dandy - Der Dandy - Der Flaneur / Baudelaire - Physiognomie / Typen Lumpensammler - D er Flaneur - Motiv des Flaneurs - Ver­ hältnis zur Menge - Die Straße - Physiologien / Physiognomi­ en -Journalism us - Der Detektivroman - Orte des Flaneurs Verhältnis zur Vergangenheit-Verhältnis zu Paris - Die Flanerie - Persönlichkeit des Flaneurs - Die Beleuchtung - Hessel Proust und die Flanerie - D er Sam mler - Negatives Porträt des Sammlers - Sammler und Passagen - Die Kunst des Samm­ lers - Geburt der Sammlung - Figuren Baudelaires und der Passagen - Der Lumpensammler - Der Flaneur - Der Spieler Sammler - Detektiv - Prostituierte - Physiognomie - Der Dandy - Philosophische Kategorien des B audelaire- und des Passagen-Buchs - Traumstadt und Traum haus, Zukunfts­ träum e, anthropologischer Nihilism us, Ju n g - Diskussion über das Unbewußte - Intentionen der Passagen - Grandville Kino - Mythos - Jugendstil - Methode der Passagen - Kritik an Klages - Jung - Frage des Überbaus - Traum/Erwachen Erwachen - Dialektik im Stillstand. Von der Dialektik des Trauerspiel-Buches zum Passagen-W erk - Erstarrte Unruhe Verhältnis Gegenwart/Vergangenheit - Dialektisches Bild und Dialektik im Stillstand - Dialektik - Problem der Vermittlun­ gen - Die Dialektik - Dialektik im Stillstand - Medusa / er­ starrte Unruhe / Baudelaire - Das Erwachen. Das Vergessen. Die unwillkürliche Erinnerung. Das Unbewußte. Utopien Paris und die Utopien - Unwillkürliche Erinnerung / Proust -

Them enverzeichnis zum vierten u n d fünften Teil

1215

Diskussion philosophische Theorie der Wiedererinnerung Erinnerung, Gedächtnis / Vergegenwärtigung - Das Erwa­ chen - Theorie des Traums bei Benjamin - Traum / Passagen Das willentliche Vergessen, das Gedächtnis - Traum, Wach­ traum - Traum - Traum und Erwachen - Traumhaus / Passa­ gen - Erwachen/Traum - Gedächtnis im Baudelaire-Buch Bilder der B erlin er K indheit - Denkbilder. Dialektische Bil­ der. Bilder - Theorie der Phantasmagorie - Erkenntnistheorie in den Passagen - Erkenntnistheorie - Dialektisches Bild im Baudelaire-Buch - Bilder bei Baudelaire - Dialektisches Bild Denkbilder - Funktion der Bilder - Erkenntnis / Bild / A uf­ blitzen - Schönheit der Bilder - Dialektisches Bild - Dialektik im Stillstand - Definitionen - Schwelle - Thematik der Schwelle - Die Schwelle - Erkenntnistheorie. Baudelaire / Passagen - Kopernikanische Revolution in der Geschichtsauf­ fassung - Erkenntnistheorie der Passagen - Im BaudelaireBuch - Erkenntnistheorie. Passagen. Allgemeinheiten - Ele­ mente einer Erkenntnistheorie der Passagen - Erkenntnistheo­ rie der Passagen - Benutzte Autoren - Erkenntnistheorie. Baudelaire. Passagen. Ware. Verdinglichung. Prostitution. Ewige Wiederkehr des Gleichen. Mode/Neuheit. Entw ick­ lung der Erkenntnistheorie in den beiden Projekten - Ware. Verdinglichung. Prostitution. Handel. Geschäft. Ewige Wiederkehr des Gleichen - Warenfetischismus - Baudelaire und die Entfremdung - Ware bei Baudelaire (vs. Verlust der Aura) - Prostituierte - Marxistische Warenanalyse bei Benja­ min - Theorie der Verdinglichung - Theorie des falschen Be­ wußtseins - Prostituierte / Essay über Baudelaire - Warenana­ lyse - Spleen - Laden / Geschäft - Frau. Ware - Prostitution bei Baudelaire - Geschäft. Ware - Handel - Neuheit - Mode. Langeweile. Grandville - Allegorie bei Grandville - Grandville - Mode, Tod, Langeweile - Mode und Weltausstellung Politische Bedeutung der Mode - Mode und Wiederkehr des Gleichen - Warenfetischismus. Wiederkehr des Gleichen.

1216

Anhang

M ode. Phantasm agorie - Warenfetischismus - Wiederkehr des Gleichen / Ware - Ware: Archaik und Moderne - Motiv der ewigen Wiederkehr - Ew ige Wiederkehr. Geschichtsphiloso­ phie. Ware. Frau/W are-W iederkehr des Gleichen, des Identi­ schen - Ewige Wiederkehr des Gleichen / Ware - Nietzsche / Ew ige Wiederkehr - Phantasm agorie - Verbindungen zw i­ schen den verschiedenen Passagen-Prö)c\sXcn. Materialismus und Theologie - Funktion der Phantasmagorie - Phantasma­ gorie - Phantasmagorie. Dialektischer Charakter der Phantas­ magorie - Theorie der Phantasmagorie - Die Menge - Ben­ jam in und Baudelaire - Tahleaux parisiens - Baudelaire, Übersetzung - Lesbierinnen - Benjamin und Baudelaire - Es­ say über Baudelaire - Verhältnis des Baudelaire-Buches zu den Passagen - Baudelaire, Barock und Allegorie - Melancholie bei Baudelaire - Entstehung, Entw icklung der Essays über Bau­ delaire - Moderne - Über einige Motive bei Baudelaire. Ent­ stehung - Marxistische Lektüren für das Baudelaire-Buch Fortführung des Buches über Baudelaire - Entstehung des Es­ says über Baudelaire - Vergleich der Fassungen des Baude­ laire-Buches - Geschichtsphilosophie in den Passagen. Pro­ blem der Zeit. Jetztzeit. Magie und M aterialism us in der kritischen Philosophie des Fortschritts. M otiv der Hölle Theorie der geschichtlichen Erkenntnis - Motiv der Hölle Problem der Zeit in den Passagen - Magie und Materialismus in den Passagen - Geschichtsphilosophie in den Passagen Kritik des Fortschritts in den Passagen - Blanqui - Blanqui Baudelaire und Blanqui - Blanqui und die revolutionäre Tat Geschichtsphilosophie in den Passagen - Die Dialektik von Traum und Erwachen - Die gegenwärtigen Aspekte des Pro­ blems - D as Paris Baudelaires - Baudelaire, die Stadt und die Moderne. Baudelaire, Paris und die Moderne - D er Spleen und die Allegorie - Die Menge und der Flaneur: Baudelaire und Poe - Die Prostituierte und die Ware - Baudelaire und Blanqui: ein und dieselbe Vision der Hölle.

Texte aus dem thematischen Um kreis

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Texte aus dem thematischen Umkreis des vierten und fünften Teils Anm erkung des Herausgebers »Geschichte der Passagen« ist ein Text von achtunddreißig Seiten ohne handschriftliche Korrekturen. Äußere Form und Schreibstil le­ gen gleichermaßen den Gedanken nahe, daß cs sich hier nur um eine allererste »Schicht« der Bearbeitung handelt, die noch keine kritische Durchsicht, ja nicht einmal eine erneute Lektüre erfahren hat. Diese Untersuchung, der eine kurze Bibliographie beigefügt ist, sollte zwei­ fellos als historische Grundlage für die Abfassung des zweiten Kapi­ tels des letzten Teils »Die Pariser Passagen: Mythos und Wirklich­ keit« dienen. Auch wenn es sich also um eine sehr fragmentarische Rohfassung handelt, schien es uns angebracht, diesen Text in den Anhang der vor­ liegenden Studie über Walter Benjamin aufzunehmen, insofern er - in erster Annäherung - Licht auf das Passagen-Werk des deutschen Phi­ losophen wirft. Bei den »Bemerkungen zu Begriff und Funktion des dialektischen Bildes bei Walter Benjamin« handelt es sich um ein Manuskript von vierzehn Seiten, das sich unter den Dokumenten zu einem Kolloqui­ um fand, das im März 1990 unter dem Titel Literatur und Erkenntnis an der Universität Paris-VIII veranstaltet wurde. Im Programm dieser Veranstaltung wurde ein Vortrag von Jean-Michel Palmier - damals Maitre de Conferences an der Universität Paris-VIII - unter einem leicht abgewandelten Titel angekündigt: »Die Rolle des »dialektischen Bildes« bei Walter Benjamin und die Kritik Theodor Adornos«. Unter diesem Titel wurde der Vortrag erstmals gedruckt in: TLE. Theorie Litterature - Enseignement, Saint Denis: Presses Universitaires de Vincennes, Nr. 8,1990. Der erste Abschnitt dieses Vortrags entspricht der ersten Hälfte ei­ nes größeren Artikels, den Jean-Michel Palmier am 19. Oktober 1989 in Liberation veröffentlichte. Anlaß war das Erscheinen der von Jean Lacoste besorgten französischen Übersetzung des Benjaminschen

1218

A nhang

Passagen- Werks unter dem Titel Paris, capitale du XIXe sieclc bei den £ditions du Cerf. Der Artikel trug den Titel »Walter Benjamin, der Geometer der Passagen der Moderne«. Der zweite Abschnitt des Vortrags übernimmt vollständig einen Aufsatz, den Jean-Michel Palmier im Januar 1990 unter dem Titel »Baudelaire, Benjamin: Geschichte einer Begegnung« im Magazine litteraire (Heft 273) publiziert hatte. Auch wenn das dialektische Bild bereits in dem fertiggestellten Teil des Werkes behandelt wurde (vgl. oben den Abschnitt »Materialisti­ sche Theorie des Bildes: die gnoseologischen Grundlagen der Passa­ gen«, S. 733-783), bezieht sich dieser Vortrag ebensosehr auf die The­ matik der beiden unvollendeten Teile und besitzt darüber hinaus den Vorzug, dem Leser eine Ahnung von der Schreib- und Vortragsweise zu vermitteln, den Jean-Michel Palmier pflegte, wenn er sich an ein größeres Publikum wandte.

Geschichte der Passagen

1219

Geschichte der Passagen

H istorik und Entw icklung der Pariser Passagen6 [...] jenen überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gän­ gen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu ver­ weilen. Louis Aragon7

Die Pariser Passagen stellen auch heute noch eine der bemer­ kenswertesten und eigentümlichsten Leistungen der Architek(In den wesentlichen Punkten dieser »Geschichte der Passagen« bezieht sich Jean-Michel Palmier zumeist auf das wichtige Werk von Bcrtrand Lemoine, L e s Passages cottverts en Fran ce , und die beiden 1976 und 1977 in der Zeitschrift Paris Projet erschienenen Artikel von Laura Wodka, »Les pas­ sages couverts ä Paris«, und Francois Loycr, »A propos des passages«. Das Referenzwerk von Johann Friedrich Geist, Passagen. E in B a u ty p des 19. Ja h rh u n d e rts, wurde ebenfalls konsultiert, in der Bibliographie jedoch nicht erwähnt. Man findet in diesem Werk wichtige Auszüge aus Texten Waller Benjamins zu den Passagen, aber auch umfangreiche Zitate aus Ro­ manen von Aragon (D e r Pariser B a u er), Pieyrc de Mandiargucs ( L e Mttsee N o ire ), Balzac (V erlo ren e Illusion en ), Zola (N a n a , T herese R a q u in ), Ccline (T o d a u f K redit), weiterhin zeitgenössische Beschreibungen von Amadcc de Kennel (L e s Passages d e Paris) sowie aus den »Physiologien« (L e s Q u a is et les Passages), Texte von Eduard Koloff (Paris, ein R eiseh a n d b u ch ), Louis Montigny (Passage des Panoram as) und Fragmente aus verschiedenen deut­ schen und französischen Reiseführern. Darüber hinaus kann man sich auf den Ausstellungskatalog Paris Passages (Paris: Paris musees 2002) beziehen, der insbesondere zahlreiche Photographien der Passagen (von Charles Marville, Eugbne Atget und Ch. Lansiaux) enthält, wie sie bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts bestanden. Zu Benjamins Verhältnis zur Passagcn-Architcktur siche die letzten beiden Kapitel des Buches von Pierre Missae, W alter B en ja m in s Passage.) 7 (Louis Aragon, D e r Pariser Bauer, S. 18.) 6

1220

Anhang

tur des neunzehnten Jahrhunderts dar. Sie sind das Symbol ei­ ner Epoche wie einer Lebensweise, der Geburt der modernen Architektur wie der kapitalistischen Ökonom ie. Ihre Entste­ hung ist vom Wandel der Stadt Paris nicht zu trennen. Mindc- ' stens drei Generationen arbeiteten an ihrem Bau. Die ersten entwickelten sich innerhalb der ehemaligen Umfriedung der Fermiers Generaux; sie lagen im Herzen des alten Paris, wie die Passage des Panoramas (1800) oder die Passage du Caire (1799). Später entfernten sie sich vom Zentrum in Richtung des ersten, dritten und zehnten Arrondissement, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu Handelsquarticren wurden, be­ vor sie dann den Westen der Hauptstadt erreichten.8 Sie sind von einer gewissen architektonischen Einheitlichkeit und wohldefinierten Funktionen geprägt9 und erlauben cs, neue Wege quer duch die Wohnblocks zu erschließen. Die Eigen­ tümlichkeit ihrer komplizierten Glas- und Eisenarchitcktur, die Vielfalt der Läden und der Schaufenster läßt sie zu Räumen des Flanierens und des Handels werden, die das gesamte L e­ bensgefühl einer Epoche kennzeichnen, einer Epoche, die vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Sccond Empire reicht. 8 Die örtliche Lage der Passagen verschiebt sich gleichzeitig mit dem Zen­ trum der geschäftlichen Tätigkeit. Unter der Restauration siedelten sic sich am Rande des historischen Zentrums der Hauptstadt unweit des PalaisRoyal und der Hallen an. Zur Zeit Louis-Philippcs wurden sic in der Nähe der neuen Schwerpunkte des Wirtschaftslebens errichtet, nämlich in den Vierteln der Oper, der Madclcinc und von Saint-Lazare. 9 D er Begriff »Passage« hat hier eine durchaus spezifische Bedeutung. Trotz ihrer architektonischen Vielfalt erfüllen die »überdachten Passagen« mindestens drei Definitionsmerkmale: Es handelt sich ursprünglich um die Öffnung eines »öffentlichen Durchgangs« querdurch einen privaten Wohn­ block. Dieser Durchgang, meist mit einem Glasdach gedeckt, ist einzig Fuß­ gängern Vorbehalten. Als »Abkürzung« zwischen zwei Quartieren oder zwei Wohnblocks soll er der Verbesserung der Pariser Vcrkchrsverbindungen dienen und wird zu einem Brennpunkt der Handels- und Gewerbetätig­ keit. Seine Errichtung ist zugleich Symbol der Prosperität und Quelle neuen Wohlstands.

Geschichte der Passagen

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Die Schaffung der »Passagen« im neunzehnten Jahrhundert bleibt eines der erstaunlichsten Symbole der Zeit - weltweit gibt es 279 davon, darunter sehr berühmte wie die Burlington Arcade in London, die Galleria Vittorio Emanuelc in Mailand oder die Galerie Saint-Hubert in Brüssel. Neunzehn existieren noch heute in Paris.101 Ihre Geschichte prägt das Gesicht der Hauptstadt bis zu der großen Stadtrenovierung Haussmanns. Paris hatte sich, was den urbanen Raum angeht, mit seinem un­ geheuren Labyrinth von Gäßchen, Sackgassen, Winkeln und Durchgängen eine gewisse mittelalterliche Struktur bew ahrt." Die Dichte der Wohnhäuser, ihre verwinkelte Anordnung ma­ chen zahlreiche Querdurchgänge nötig, die oftmals düstere und kaum passierbare »Abkürzungen« bilden. Die Passage Saint-Paul ist ein Beispiel für diese Struktur. Sie weist noch die Steinpfosten auf, die es den Fußgängern erlauben, sich vor den vorbeifahrenden Fuhrwerken in Sicherheit zu bringen. Der Schmutz der Straßen und Sträßchen trotz des in der Mitte verlaufenden Rinnsteins war während der ganzen Epoche ein Thema ständiger Klagen. So wurde eine Reihe von Passagen bereits unter dem Ancien regime geschaffen (Passage de la Reine de Hongrie im Jahr 1770, Passage des Petits-Peres 1777, Passage Saint-Philippc du Roule 1786). Wir verfügen über zahl­ reiche Beschreibungen dieser alten Passagen. Joris-K arl H uysmans liefert eine davon: 10 (Zahlcnangabcn bei Bernard Dclvaille, Passages et Galeries du 79*' sieclc, S. 15 f.> 11 (In dem von L. Lurinc herausgegebenen Sammelband Les Rttes de Paris. Paris ancien et moderne heißt es zum Thema der Stadt im sechzehnten Jahr­ hundert: »Noch kündigt nichts diese weißen oder schmutzig-grauen, regel­ mäßigen, schnurgerade ausgerichteten Häuser an, die wir heute sehen; noch drohen nicht diese langen und tristen Glasgalericn, in denen heute Lithogra­ phen und Händler von Kindcrspiclzeug ihr Dasein fristen; wir sind im Paris des Mittelalters, in jenem düsteren, verwinkelten, schmutzigen und doch so poetischen Paris, das die moderne Zivilisation und die gerade Linie tagtäg­ lich auslöschen.« E. Bcrthet, »Rue et Passage du Cairc«, a.a.O ., Bd.I,

S.z38.)

1222

A n h an g

D ie Durchquerung ist bizarr. Man läuft durch Gänge, die sich verengen, sich dann zu Innenhöfen weiten, sich wieder zusammenziehen und derart verschmälern, daß man, geht man unter den Hauptgebäuden hindurch, von den beiden Mauern gefährlich bedrängt wird und sich ducken muß, um nicht an vorspringende Deckenbalken zu stoßen. Man geht in einem Spalt zwischen hohen Häusern, deren Dächer sich fast berühren, fern vom Tageslicht.12 Einer der berühmtesten dieser alten Verbindungsgänge w ar die heute verschwundene Passage du Charnier-des-Innocents an der rue Saint-Denis, das Reich der O bstverkäufer und der öf­ fentlichen Schreiber. O ft ist von diesen alten Passagen nur eine versteckte Pforte geblieben. Diese alten Passagen sind mit zahlreichen geschichtlichen und literarischen Ereignissen ver­ bunden. Victor Hugo benutzt sie, um seine Mätresse zu tref­ fen, Marat hat dort seine Druckerei des A m i du Peuple. D ort befinden sich die Lesekabinette, in denen Sainte-Beuve ver­ kehrt. Die Idee der Galerien geht auf die letzten Jahre des Ancicn regime zurück; sie entstanden ab 1 779. D ie berühmtesten w a­ 12 (Jor>s-Karl Huysmans, »Le quartier Saint-Sevcrin«, S. 14 }. Huysmans beschreibt hier einen »Korridor«, der zwischen 12 bis rue Domat und 39 rue Galande verlief. Im selben Text erinnert er an das »Quartier Saint-Sevcrin, das einzige in Paris, das noch ein wenig von dem Aussehen aus alten Zeiten bewahrt hat, [doch] täglich weiter bröckelt und verfällt; in ein paar Jahren wird es keine Spur von den entzückenden baufälligen Häusern mehr geben, die cs hier in Fülle gibt. Man wird breite Straßen planieren, die Spelunken abschaffen, die Bettler aus den Festungsgräben vertreiben und die Böschun­ gen beseitigen; wieder einmal werden die Moralisten wähnen, sie hätten das Elend abgeschafft und das Verbrechen zurückgedrängt; desgleichen werden die Hygieniker lauthals die Wohltaten weitläufiger Boulevards, kümmer­ licher Grünanlagen und breiter Straßen preisen; in allen Tonlagen wird man nachbeten, daß Paris saniert sei, und niemand wird begreifen, daß diese Ver­ änderungen den Aufenthalt in der Stadt unerträglich gemacht haben. [...] Gewiß, die desodorierten Kloaken werden weniger stinken, doch dafür müssen wir die abscheulichen Dünste von Asphalt und Gas, Benzinfahrzeu­ gen und Holzpflaster einatmen« (cbd., S. 3 j f.).>

Geschichte d er Passagen

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ren die 1784 von Victor Louis gebauten Galerien am PalaisRoyal (Galerie de Monpensier, de Beaujolais und de Valois). Philippe d’Orleans hatte die Idee, auf dem Grundstück, das er jüngst erworben hatte, Handel und Gewerbe einzurichten, um dessen Nutzen und Ertrag zu steigern. Diese hölzernen Galerien wurden zum galanten Handelszentrum des späten achtzehnten Jahrhunderts.13 Trotz der Bescheidenheit ihrer architektonischen Konzeption bildeten die 1786-1788 zw i­ schen dem H o f und dem Garten des Palais-Royal errichteten hölzernen Galerien Philipps von Orleans ein Ensemble zweier überdachter Galerien mit einer dreifachen Reihe von Verkaufs­ ständen, Buchhandlungen, Modeläden. Um seinen H o f zu fi­ nanzieren, hatte er die Portiken, mit denen der Garten umge­ ben war, vermietet. Rasch nahmen diese Bauten das Aussehen eines echten Basars an. Wie zeitgenössische Stiche zeigen, han­ delte es sich um Marktstände aus leichtem Material, die sich ohne irgendeine Bemühung um Ästhetik bunt aneinanderreih­ ten (man findet sie ebenso auf dem Pont N euf und der Foire Saint-Germain14). Übrigens waren damals alle Pariser Straßen von diesen an Häuser- und vor allem Kirchenmauern gelehn­ ten Verkaufsständen verstopft. Balzac schildert sie rückblikkend in den Verlorenen Illusionen'.

Durch die Galerien führte wie heute ein Durchgang, und wie heute begannen sie mit Säulenhalbbogen, die vor der Revolu­ tion begonnen und dann aus Geldmangel nicht weitergeführt worden waren. Die schöne steinerne Galerie [...] bildete da­ mals einen engen Durchgang von übermäßiger Höhe, der so schlecht bedeckt war, daß es oft hereinregnete. [...] Der Bo­ 13 Durch diese Galerien entdeckten die Pariser das Vergnügen der über­ dachten Promenade zwischen den Attraktionen und Schaufensterauslagen. Der Zustrom der Passanten schuf ein geschäftsförderndes Klima. 14 Ab 1770 waren die Alicen, die die Foire Saint-Germain säumten, mit ei­ nem Glasdach auf Metallpfeilcrn versehen, das unmittelbar die Passagenarchitcktur des neunzehnten Jahrhunderts ankündigt.

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A nhang

den [...] war der natürliche Boden von Paris, vermehrt um den Schmutz, den die Stiefel und Schuhe der Passanten her­ beitrugen. Fortwährend stieß man auf Täler und Gebirge von verhärtetem Kot, den die Kaufleute unermüdlich zu­ sammenfegten; man mußte an diese Art der Fortbewegung gewöhnt sein ...1S Trotzdem liebten die Pariser ihr Palais-Royal und seine G ale­ rien16 - trotz ihres mäßigen Zustands - und wichen nicht vor dem Dreck und dem Schlamm, den Rufen der Händler und den Angeboten der Dirnen. Man blätterte in den Büchern, kam in den Cafes mit berühmten und berüchtigten Gestalten zusam­ men. Was die Chronisten der Zeit als »abscheuliche Zusam ­ menballungen« beschworen, berührte sie recht wenig. 1828 wurden die hölzernen Galerien durch die (1935 abgerissene) Galerie d’Orleans ersetzt, und Victor Fournel schrieb 1858: Ich liebe das Palais-Royal, vor allem jene große Galerie, die sich vor einigen Jahren Galerie d’Orleans nannte und heute wie auch immer heißt. Ich liebe sie, weil etwas Seltsames, Phantastisches, Betörendes darin liegt, in der Menge, die sich zwischen den glitzernden Ladengeschäften unter jenem strahlenden, prächtigen Kristallgewölbe drängt, gemächli­ chen Schrittes an diesem O rt zu promenieren, den die Ein ­ bildungskraft bald allzu bereitwillig in eine Erscheinung je­ ner orientalischen Städte verwandelt, die den Rahmen der Märchen von Tausendundeiner Nacht bilden.17 xs (Honore de Balzac, Verlorene Illusionen, S. 353.) 16 Sie entdeckten dort das Vergnügen, vor den Auslagen zu flanieren, und diese Volksansammlung war den Geschäften zweifellos dienlich. 17 Victor Fournel, Ce qu'on voit dans les rttes de Paris, S. 377. (Den größten Teil dieses Werkes nimmt »Die Odyssee eines Flaneurs in den Straßen von Paris« ein, worin besonders die Kunst des Flanicrens, die Gaffer, die Menge, die Pariser Gassenjungen, die Lumpensammler, das Lcichcnschauhaus, der Bettler, der Daguerreotypist oder auch die Schilder und Werbeplakate vor Augen geführt werden. Der erste Teil des Werkes trägt den Titel »Die um­ herziehenden Künstler und die Volkskunst«. Benjamin zitiert im PassagenWtrk und in seiner Baudelaire-Studie einige Abschnitte daraus.

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Diese Arkaden gelten - ebenso wie die des Odeon - als Vor­ form der Passagen.18 Das Verschwinden dieser Galerien rief bei den Flaneurs einhelliges Bedauern hervor. Die Schaffung der überdachten Passagen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geht von Anfang an auf den Willen zurück, den Verkehr der Fußgänger in den Vierteln zu erleichtern, deren Wege verstopft waren, auf den Wunsch, die Straßen zu verbreitern. Am Saum der großen Geschäftszone, die die rue Saint-Denis darstellte, konzentrierte sich in den Passagen ein stark prosperierender Einzelhandel (Passage du Caire und Passage des Panoramas). Daher sind die meisten von ihnen innerhalb eines Vierecks zu finden, das im Norden von der rue Saint-Lazarc, im Osten von der rue du Faubourg SaintDenis, im Süden von der rue Saint-Honore und im Westen von der rue Boissy d ’Anglas begrenzt wird. Die »westlichste« die­ ser Passagen blieb die Galerie de la Madeleine (eröffnet 1845), die »östlichste« die Passage Brady (errichtet 1828). Die erste »überdachte Passage« war die Passage Feydeau (179 1), die schon 1829 wieder abgerissen wurde. Zw ar haben einige über­ dauert, doch viele sind seit dem Ende des neunzehnten Jah r­ hunderts verschwunden (Passage Delorme, Montesquieu). Hier entdeckten die Pariser das Vergnügen des Flanierens und das Schauspiel der Schaufensterauslagen, ihrer Sehenswür­ digkeiten, die diese Galerien ausbreiteten (heute ist wenig da­ von geblieben). A.-M . Perrot hat ihre Orte in einem Stadtplan von Paris, dem sogenannten Petit Atlaspittoresque des quarante-huit quartiers de la ville de Paris et ses faubourgsy verzeich­ net.19 Es handelte sich um den ersten Schritt, die Durchgangs 18 Und vor allem die Errichtung der Grande Galerie du Louvre gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit ihrem bemerkenswerten, von Bögen ge­ gliederten gläsernen Tonnendach und der Erfindung der Beleuchtung senk­ recht von oben. 19 (Als Faksimile neu aufgelegt vom Service des travaux historiques de la Ville de Paris, Paris 1987.)

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A n h an g

Straßen und die mit den großen Handelszentren verbundenen Fußgängerpassagen voneinander zu trennen. Sie entsprangen dem Wunsch, dem großen Publikum eine Reihe moderner technisch-industrieller Errungenschaften, Sehenswürdigkeiten (wie die historischen Panoramen) und Industrieerzeugnisse vorzufiihren. Fast alle wurden rechts der Seine geschaffen; ihr Bau erstreckte sich über die Zeit von 1779 bis 1860: 1779: Passage des Petits-Peres 1784: Passage du Perron 1786: Galerien und Passagen am Palais-Royal 1787: Passage Pottier 1799: Passage du Caire 1800: Passage des Panoramas 18 15: Passage de la Madeleine 1823: Galerie Vivienne 1825: Passage Choiseul, Passage du G ran d-C crf 1826: Passage Vero-Dodat 1827: Passage Vendöme, Passage de l’Industrie 1828: Passage Colbert, Brady, Sainte-Avoie 1834: Passage des Gravilliers, Sainte-Anne 1834: Galerie Saint-Marc, des Varietes, Feydeau 1860: Passage des Princes20 Wie man sieht, wurden die meisten Durchbrüche zwischen 1822 und 1834 ausgeführt. Sehr bald wurden sie, gegen Ende der Restauration und un­ ter der Julimonarchie, zu Zentren, die die Handelstätigkeit be­ günstigten. F r a n c is Thiollet schrieb 1837: Seit die Anzahl der Kutschen in Paris auf eine für Fußgänger erschreckende Weise gestiegen ist, verfiel die Industrie auf den Gedanken, überdachte Galerien zu eröffnen [...], w o sie ihre Erzeugnisse vor den Augen des Publikums ausbreitet. 20 (Die Angaben variieren mit den Quellen; hier nach Bcrtrand Lcmoine, Les Passages couverts en France, S. 246 f., sowie Paul Chemetov und Bcrnard Marrey, Architectures. Paris 18 4 8 -19 14 , S. 18.)

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Dort, vor der winterlichen Kälte, der sommerlichen Hitze, dem Regen und dem Unrat sämtlicher Jahreszeiten, aber auch vor den zahllosen Unfällen geschützt, die den Spazier­ gänger in den belebten Straßen bedrohen, kann er in Sicher­ heit seine Einkäufe besorgen und tausend Dinge kennenlerncn, deren Gebrauch ihm unbekannt ist.21 Mit der Spekulation unter Louis-Philippe verbreitete sich das Phänomen. Die Passagen entglitten ihren Finanziers und w ur­ den an Privatleute verkauft. So wurde die Passage Choiseul - in Verlängerung der rue de Choiseul - 1825 auf Grundstücken begonnen, die den Bankiers Mailet gehörten, und 1827 vollen­ det. Schon vor ihrer Fertigstellung wurde damit begonnen, die an die Passage angrenzenden Häuser zu verkaufen; 18 31 hatten 46 der 70 Häuser ihren Besitzer gewechselt, und 1860 bestan­ den keine Verbindungen der Familie Mailet mehr zu der Passa­ ge. Die 70 Häuser gehörten 58 verschiedenen Eigentümern. Die Schaffung der Passagen geht mit einer ersten Welle der U r­ banisierung einher, die schon vor Haussmann aufkam. Sie w ur­ den in einem ziemlich engen städtischen Straßennetz errichtet und bilden kollektive Binnenräume. Für die Finanziers und die Eigentümer, die Immobilieninvestoren, waren sie zweifellos vorzügliche Renditeobjekte. Haussmanns Vorstellungen von einer modernen Stadt stoppten die Entwicklung der Passagen und gaben den großen Avenuen Vorrang. Als letzte wurde 1898 die Passage Ben-Aiad in der rue Mandar errichtet. So konnte Aragon in D er Pariser Bauer schreiben: [Der] Fortbestand dieser menschlichen Aquarien [wird] bald unmöglich [werden]; ihr ursprüngliches Leben ist schon er­ loschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher mo­ derner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern ei21 (Francois Thiollet, Mcnuiseries et decorations interieurs et exterieurs (1837), zitiert bei: Chcmetov und Marrey, Architectures. Paris 18 4 8 -19 14 , S. 16. Vgl. ebenso Lemoine, Lcs Passages converts en France, S.40.)

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nes Kults des Ephemeren geworden, sind sie zur gespensti­ schen Landschaft der Vergnügen und der verruchten Berufe geworden, gestern noch unverständlich, morgen völlig unbe­ kannt.22 Diese Entwicklung der modernen Galerie erlebt in den Jahren von 1825 bis 1840 einen außerordentlichen Erfolg und nimmt bis zum Ende des Jahrhunderts gewaltige Ausmaße an, wie die Projekte für den Ausbau der Grande Galerie du Louvre zeigen. Nach und nach entdeckt man die seltsame Schönheit dieser A r­ chitekturformen, die die Häuserblocks durchqueren: Galerie Vivienne, Passage du Caire im Jahr 1799, Passage des Panora­ mas im Jahr 1800. Allmählich tritt die Bezeichnung »Passage« an die Stelle von »Galerie« (Galerie Vivienne, Galerie VcroDodat), doch eine klare Unterscheidung gibt es nicht. Auguste Luchet schrieb 1835 in seinem Nouveau tableau de Parts au XIX* siecle: Heute besitzt Paris mehr als zwanzig gläserne Passagen, die von der Mode in zwei Klassen unterteilt wurden. Die einen hat sie der Menge überlassen und die anderen sich selbst Vor­ behalten: für letztere hat sie die vulgäre Bezeichnung Passage abgeschafft. Dieses Wort riecht nach gemeinem Volk; sein rauher Laut verletzte die feinen Nerven eines aristokrati­ schen Mundes: Das Wort Galerie paßte besser zu dem parfü­ mierten Dialog der feinen Gesellschaft.23 Nach Thiollet hatte die Galerie Vero-Dodat 1832 »den ersten Rang inne, was den Reichtum und die Einheitlichkeit der D e­ koration angeht«. Man bewundert »den schönen Eindruck, den die einheitliche Fassadenordnung der Läden mit ihren Glasfronten, deren brünierte Kupfereinfassungen wie Gold wirken, und ihren Türen hervorruft, die, ebenfalls aus Glas, in schöner Harmonie von vergoldeten Palmetten und Rosetten 22 Aragon, D er Pariser Bauer; S. 18 f. 23 (A. Luchet, »Les passages«, in: Nouveaux tableau de Paris au X lX e siecle (183 5), zitiert bei Lemoine, Les Passages couverts en France, S. 22.)

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überwölbt werden«.24 Hinzu kommen die Glasglocken der Gasbeleuchtung zwischen den Kapitellen zweier Pilaster, mit Landschaftsdarstellungen und mythologischen Szenen bemal­ te Decken, die Verbindung von Pflaster und Marmor. A b 1820 nehmen sie immer größere Dimensionen an. Die Galerie d ’Orleans (1829) ersetzt die Holzgalerien des acht­ zehnten Jahrhunderts durch einen neuen, in Eisen gefaßten Raum, Es handelt sich nicht mehr nur um Galerien, sondern um wahrhaft »überdachte Straßen«, und Hector Horeau schlug sogar vor, sämtliche Pariser Avenuen zu überdachen. Zu den letzten Errungenschaften der Julimonarchie sollten die Passagen Jouffroy, Vcrdcau und Madeleine gehören, doch sie besaßen nicht mehr die Pracht und die Originalität der frü­ hen. Funktion der Passage Wachsender Gegensatz zwischen dem Stil der Ladengeschäfte in den Passagen - mit ihren Auslagen, die von Vorhängen ver­ deckt werden, der Seltenheit und Erlesenheit der verkauften Erzeugnisse und den entsprechenden Modalitäten des Ver­ kaufs - und den Warenhäusern, die sich mit Aristide Boucicaut ab 1852 entwickeln und völlig entgegengesetzten Prinzipien gehorchen: freier Zutritt ohne Kaufzwang, große Verkaufs­ stände, rascher Lagerumschlag, ausgeschilderte Preise, Rekla­ me. Die Passagen, die sich aufgrund ihrer Architektur dieser neuen Konzeption des Handels und der Ware nicht anpassen können, sehen ihre Kundschaft schwinden; an die Stelle der Ladengeschäfte treten ganz besondere, ein wenig absonder­ liche Gewerbe, die dort offenbar, gleichsam unter dem Schutz dieses besonderen Dekors, vor dem Vergehen der Zeit ihre Z u ­ 24 (Thiollct, zitiert bei Claude Mignot, VArchitecture au XIX* siecle, S. 240.)

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flucht gefunden haben. N och heute findet man dort den letzten Wappengraveur von Paris (Panoramas), Pfeifenfabrikanten (Princes), Geigenbauer (Vero-Dodat, G rand-C erf), Spielzeug­ händler (Havre, Verdeau), Antiquariate (Vivienne, Jo u ffroy), Briefmarkenhändler (Verdeau, Panoramas, Princes), Trödler für billigen Schmuck, Masken, Altwaren (Choiseul). Beziehung zwischen den Passagen und der Literatur der Epoche Sehr früh schon ziehen die Passagen Schriftsteller in großer Zahl an: Villiers de l’Isle-Adam , Theodore de Banville, der dort seine Freunde empfängt, darunter Baudelaire. Alexandre D u ­ mas entdeckte in der Papeterie Susse einen Delacroix. D ie Pas­ sage Choiseul, die literarischste, bleibt mit der gesamten G e ­ schichte der französischen Dichtung eng verbunden. Verlaine ruft sie wiederholt in Erinnerung (Dedicacesy Invectives). Nach den Parnassiens interessieren sich alle Surrealisten für die Pas­ sagen. Aragon, Breton und Philippe Soupault, der ein Gedicht »Passagers des Passages« schrieb25, ließen sich von ihrer unge­ wöhnlichen Schönheit, ihrem schon etwas angestaubten C har­ me, ihrer Fremdartigkeit, die der Träumerei so förderlich ist, betören. Jules Romains schreibt, die Passagen besäßen »den Vorzug ihrer Leichtflüssigkeit, ihrer geräuschlosen Unruhe. [...] Die Passagen sind eine friedliche Form der Menge. Sie ist dort beherrschter, dehnt sich, wärmt sich, reibt sich an den Wänden. [...] Die Passage schützt sie [die Fußgänger] und um ­ gibt sie mit beinahe häuslichen Annehmlichkeiten. Sie ist zu­ gleich Straße und Interieur, ein Raum, in dem die Menge sich ballt und wieder zerstreut.«26

25 (Erschienen 1975 in der Zeitschrift Ulm m ediatc; vgl. P. de Moncan, Guide litterairc des Passages de Paris, Paris: Hermd 1996, S. 20 f.) 26 (Jules Romains, Puissances de Paris, S. 27 f.)

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Ort der Flanerie Der Erfolg der Passagen ist von einem tiefen Wandel des Ver­ hältnisses zur Stadt nicht zu trennen. Seit der Französischen Revolution entwickelt sich in Paris eine zweifache, geistige wie physische Beziehung der Bewohner zu ihrer Stadt. Sie wird zum Gegenstand einer neu erwachten Neugier. Durch die ab­ gelagerten Schichten ihrer Monumente entdeckt man nach und nach ihre Geschichte. Das zeigt die rasche Zunahme der »Pa­ ris-Führer« und der Zeugnisse ihrer Bewohner. Alle wimmeln von Angaben, die sich weniger auf die Monumente als auf den Alltag, die Berufe, den Handel, die Schauspiele, die Sitten und Gebräuche beziehen. Diese Führer sind eng mit zwei neuarti­ gen Beschäftigungen verbunden: mit der Begeisterung für Spektakel und Zersteuungen, aber auch mit einem gewissen Vergnügen am Flanieren, das im Zweiten Kaiserreich seinen Höhepunkt erreicht. 1818 zählte Paris 13 Theatersäle, 28 Bälle, 6 Gärten mit Attraktionen, 15 Konzertsäle, 1 1 Cafes »für un­ terhaltsame Abende« und 60 »Sehenswürdigkeiten«.27 Außer Fußgängerwegen und Warengalerien waren die Passagen auch Orte von Attraktionen, so wie früher die Galerien des PalaisRoyal. Fünf von ihnen dienten Theatern als Zugang (die Pas­ sage Choiseul zum Theätre des Bouffes-Parisiens, die Passage des Panoramas zum Theätre des Varietes usw.). Schon der Be­ griff »Panorama«, der einer der berühmtesten Passagen seinen Namen gab, gehört zu dieser neuen A rt von Unterhaltung und war prägend für das ganze Leben der Epoche, eine Mode, die Balzac in Vater Goriot verspottete. Manche dieser Aspekte las­ sen bereits de Erfindung der Photographie erahnen, und es ist

27 (Daubcnton, Recherches statistiques en la ville de Paris (1821-1860 ), zi­ tiert bei Lemoinc, Les Passages converts en France, S. 35 f.)

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kein Zufall, daß selbst Daguerre, ehe er Photograph wurde, »Panoramen« malte. Auch wenn das Flanieren ein Erbe der Romantik ist, wird der Schaufensterbummel zu einer Mode des neunzehnten Jahr­ hunderts, die diese neuartige Neugier auf die Stadt belegt. Und der Erfolg der Passagen ist untrennbar von der Beliebtheit der großen Boulevards. Sie bieten zunächst einen sicheren Hafen, einen Ort, wo man gut flanieren kann, ohne die Unbilden des Wetters, den Morast, die Verstopfung der Straßen und die Fiaker fürchten zu müssen. Die Fußgänger, schreibt Jules Romains, »waten nicht mehr im Schlamm [...]. Die Passage schützt sie und umgibt sie mit beinahe häuslichen Annehm­ lichkeiten. Sie ist zugleich Straße und Interieur, ein Raum, in dem die Menge sich ballt und wieder zerstreut.«28 Alle Schilde­ rungen von Paris betonen die Verstopfung der Straßen mit Fuhrwerken und Fiakern, die jedes Fortkommen crschwert.2‘, Die oftmals ungepflasterten Straßen sind bei schlechtem Wet­ ter unpassierbar; die ersten Bürgersteige entstehen 1 825. In der Zeit vor den Passagen häufen sich in allen Berichten aus Paris Beispiele der vielfältigen Gefahren, die dem Spaziergänger drohen, oder von den Nöten des Händlers, der beim ge­ ringsten Windstoß seinen Drucken hinterherlaufen muß. Die Dichte der Fuhrwerke auf den Straßen, das Fehlen von Bürger­ steigen, der Rinnstein in der Straßenmittc machte vor dem Bau der Passagen das Flanieren fast unmöglich. Zahlreiche Straßen von Paris waren »unpassierbare Wege, schmutziger und mora­ stiger als auf den Dörfern«.30 Die Gasbeleuchtung wird erst

28 (Romains, Puissances de Paris, S. 27 k) 29 So der Band von C. P. de Kock (Hg.), La Grande Ville. Nouveau tableau de Paris. Comique, critique et philosophiqtte (1842). 30 (Chabrol, »Rapport au conseil general de la Seine«, 24. August 1822, zi­ tiert bei Lemoine, Les Passages couverts en France, S. 36.)

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nach 1850 gebräuchlich, die Passagen aber waren seit 18 17 be­ leuchtet.31 Lanzac de Laborie bemerkt: In einer Stadt des Luxus und der Gafferei, in der es unange­ nehm, wenn nicht gefährlich war, sich auf die Straße zu wa­ gen, mußte die Menge der Flaneure sich zu den wenigen O r­ ten ziehen, die ihr die Möglichkeit boten, vor den Geschäften zu verweilen, ohne Gedränge oder einen Unfall befürchten zu müssen. So erklärt sich nicht nur die wachsende Beliebt­ heit des Palais-Royal, sondern die Vermehrung der über­ dachten Passagen.32 Dank der Passagen wird das Flanieren zu einer zeitgenössi­ schen Form der mondänen Zerstreuung. Dabei nehmen spek­ takuläre Anlässe großen Raum ein: Konzerte, Theater, Bälle, Luxusläden (Parfümerien), Mode, frivole Nichtigkeiten, Kon­ fiserien, Patisserien, Cafes, Refugien für Merkwürdiges, Uner­ hörtes, Exzentrisches. Daher das Gefühl des Rätselhaften, das dabei entsteht und das auf die Spaziergänger der Epoche eine wahre Faszination ausübt, so wie später die Surrealisten von der bunten zusammengewürfelten Vielfalt der Gegenstände fasziniert sind, die man dort findet, von der Atmosphäre des Traums und des Ungewöhnlichen, die sie umgibt, von dem fast unwirklichen Licht, das sic erleuchtet. Das Fremdartige der an­ gebotenen Waren wird noch gesteigert durch die Schönheit des Dekors, eine gewisse Romantik, jenes »moderne Licht des U n ­ gewöhnlichen«, wie es bei Aragon heißt33: »Das Zwielicht, das aus dem Konflikt zwischen den Schaufensterlampen und der bleichen Helligkeit der Passagendecke entsteht, erlaubt alle Irrtümer und alle Deutungen.«34 Delvaille schreibt ganz ähnlich: 31 Vgl. Gourlier, Les Voies ptthliques (1853) (zitiert ebd., S. 40).

32 (Lanzac de Laborie, Paris soits Napoleon (1905), zitiert ebd.). 33 (Aragon, Der Pariser Bauer, S. 18.) 34 (Aragon, Anicct oder das Panorama, S. 43. - In seinem Vorwort bemerkt Aragon, das Thema der Passagen gehöre zu denen, die in seinen Schriften immer wiederkehren, so auch in Les Beaux Quartiers; übrigens verrät er,

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»Es sind Uterus- oder Kloakenlandschaftcn, die einen Teil un­ serer Phantasmen bewahren. Sie stehen außerhalb der Zeit und bieten uns Schutz, nicht nur vor dem Regen.«35 Champignculle bemerkt in Paris, architectares, sites et jardins, die Passagen sei­ en »nicht nur für Fußgänger bestimmt gewesen, die sich von einem Punkt zum anderen begeben, sondern für jene, die tau­ send Gründe fanden, dort zu flanieren. Deshalb waren sie ge­ wöhnlich von Anfang bis Ende mit Geschäften, Cafes, Spiel­ etablissements oder Theatern ausgestattet. «3ft Albert Callet beschreibt in L A gon ie du viettx Paris, welche Wirkung ihr Bau unmittelbar hatte: »Als man sie errichtete, herrschte allgemeine Begeisterung. [...] der Provinzler, eben angekommen und noch zerschlagen von der Postkutschenfahrt, stand staunend vor den gleißenden Schaufenstern der Passagen.«37 Ihre Struktur verändert in der Tat radikal das Verhältnis des Spaziergängers zur Stadt, indem sie zum ersten Mal das »Flanieren« erlaubt. Es wird zum Selbstzweck und erklärt sich aus der Schönheit die­ ser neuen Räume, der allgemeinen Verbreitung der Schaufen­ ster, die durch die Erfindung des gewalzten Gußglascs 1688 möglich wurden, vor allem aber aus der Konzentration von Luxuswaren auf engem Raum (eines der berühmtesten Bei­ spiele ist das Geschäft »Le Magasin de la Malle des Indes«, das, an der Nr. 24-26 der Passage Verdeau gelegen, den eleganten Damen Schals aus Indien und China sowie wertvolle Stoffe anbot; das Geschäft hatte während der Weltausstellung von 1867 außergewöhnlichen Erfolg und wurde von allen Ausländern besucht). Zu dieser Zeit verliert der Verkauf von Waren seine bloß nützliche Funktion und wird zur Attraktion, zu einem Spektakel. Der Rahmen, das Dekor spielen eine wesentliche daß für die von Anicet beschriebene Passage des Cosmoramas die Passage Jouffroy als Modell gedient habe.) 35 (Delvaille, Passages et Galeries du 19° siecle, S. 125.) 36 (Bernard Champigneulle, Paris, architectures, sites et jardins, 8 .4 17 .) 37 (Albert Callet, VAgonie du vieux Paris, »La mort des Passages«, S.96.)

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Rolle bei der Verführung durch die Waren. Balzac schrieb: »Das große Schaufenstergedicht singt seine farbenfrohen Stro­ phen von der Madelcine bis zur Porte Saint-Denis.«38 Die Lä­ den stellen vorzugsweise schöne junge Frauen in ausgesuchter Garderobe ein. Die Neuheit wird vorherrschend, vor allem in diesem Bereich des gehobenen Sortiments. Die »Geschäfte für die Neuheiten der Saison« bieten Modeartikel und Accessoires jeder Art, seltene und merkwürdige Dinge an. Die Passage ist ein wahres Reich der Mode, w o der Bourgeois des neunzehn­ ten Jahrhunderts all das fand, was nicht so sehr der Befriedi­ gung seiner wirklichen Bedürfnisse wie der Stillung seines Hungers nach Luxus und seiner Begierden dienlich war. Die Passage des Panoramas ist ebenso ihrer Schönheit wie des Reichtums ihrer Ladengeschäfte wegen berühmt (Cafe Veron, Papeterie Susse, Hüte von Mme. Lapostel, Goldschmiede­ kunst von Basin, Confiserie Duchesse de Courlande, Chocolaterie von Marquis, magisches Kindertheater usw.). Aldeguier erläutert 1826 in Le Flaneur. »Eine Luxusware, die nicht in der Hauptstadt hergestellt worden ist, wird in den Provinzen keine Wertschätzung finden.«39 So ist die Passage nicht bloß eine L a­ dengalerie - auch wenn gerade dies ihren Aufschwung beför­ derte - , sondern ein vollständig ausgefüllter Raum, der in die Welt der Schaufenster auch Cafes, Restaurants, Wechselstuben und Attraktionen einbezieht. Sie wird zu einem Modephäno­ men, was Architektur und Lebensstil angeht, einem mondänen Ort der Flanerie und des Vergnügens, w o man das Schauspiel der schönen Dinge genießt und sich selbst als Flaneur zum Schauspiel macht. Bei dieser Begegnung mit den Dingen spielt die Architektur der Passagen eine entscheidende Rolle. Das

38 (Honor6 de Balzac, »Les Boulevards de Paris«, in: Le Diable a Paris, Pa­ ris 1846, Bd. 2, S. 91; zitiert in Das Passagen-Werk, GS V.i, S. 84 (A 1, 4).) 39 (A. d’Aldeguier, Le Fläncnr 01t mon voyagc a Paris (1830), zitiert bei Lcmoinc, Les Passages cottverts cn l'rance, S. 34.)

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Glasdach isoliert die Passage von der übrigen Stadt. Es schließt den Raum ab und schafft zugleich ein neuartiges Licht. Die Passage bildet eine eigene Welt, doch im Herzen der Stadt. So kann es nicht ausbleiben, daß sie uns zum Träumen verleitet.40 Sie symbolisiert die Begegnung zwischen neuen städtischen Konfigurationen und neuen sozialen Praktiken. So schreibt Albert Callet noch 1 9 1 1 m L ’Agonie du vieux Paris: Zu dem Zauber, den das Paris der Jahrhundertmitte bot, ge­ hörten jene verglasten, von Lichtern erstrahlenden Galerien, wo man, geschützt vor Regen und Kälte, dem göttlichen Pariser Vergnügen des Flanierens sich überlassen und, den Spazierstock an den Lippen, begehrliche Blicke nach den hübschen Pamelas werfen konnte, jenen anmutigen und be­ törenden Püppchen, die Handschuhe, Modeartikel und Sei­ denbänder verkauften, nach den Porträts unserer modischen Damen en deshabille, und wo man irgendwelche flinken und leichtfertigen kleinen Modistinnen, irgend so eine Mimi Pinson mit ihrem offenen Blick, ihrem zerzausten Gesichtchen dabei bewundern konnte, wie sie ein wohlgestaltes Bein, ei­ nen straffgezogenen weißen Strumpf entblößt.41 Erotische Verführung ist ein wesentlicher Aspekt der Sym bo­ lik, der Phantasiewelt der Passagen. Alles, was dort verkauft wird, hat seinen Anteil daran (raffinierte Kleider, Deshabilles, Parfüms, Damenwäsche) - ebenso wie der Reiz der Verkäufe­ rinnen und die Schönheit der Klientinnen. So heißt es bei A l­ fred Delvau 1830 über die Passage du Saumon: Vielleicht gibt es keine andere Pariser Passage, durch die so viele verliebte Stiefel- und so viele kokette Stiefelettenpaare 40 (Vgl. folgende Bemerkung Benjamins: »Die Phantasmagoric, in der der Wartende seine Zeit zubringt, das aus Passagen erstellte Venedig, das das Empire den Parisern als Traum vorgaukelt, verfloßt auf seinem Mosaikband nur einzelne. Daher kommen bei Baudelaire keine Passagen vor.« »Über ei­ nige Motive bei Baudelaire«, GS 1.2, S.622L ) 41 (Callet, UAgonie du vieux Paris, »La mort des passages«, S. 95.)

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streifen. Es ist unglaublich, wie man zu jeder Nachmittägsoder Abendstunde, wann immer man dort vorbeikommt, junge Männer murmeln hört: »Mademoiselle, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten ?«, und wie junge Mädchen darauf ant­ worten: »Mein Herr, w ofür halten Sie mich? ,..« 42 Und Callet schildert die Passagen so: Eine Menge Läden mit Modeartikeln aller Art, Moden, Wäsche, Modeschmuck, Neuheiten, Handschuhwaren bo­ ten sich den entzückten Augen der jungen bürgerlichen Dandys und gaben hinter ihren glitzernden Schaufenstern den Blick frei auf liebenswürdige Verkäuferinnen mit trium­ phalen Schmachtlocken und Samtaugen.43 So findet der Flaneur in der Passage den idealen Ort, um sich seinen Träumereien zu überlassen. E r wird überwältigt vom Dekor, dem Licht, der Architektur, dem schwarzweißen W ür­ felmuster der Fliesen, dem Reichtum der angebotenen Waren, den Säulenreihen aus falschem Marmor, dem Spiel der Arka­ den, dem Kontrast zwischen H olz und Bronze oder Messing. Die Passage ist die Eingangshalle der kapitalistischen Gesell­ schaft, das Schaufenster ihres Reichtums, ihres Luxus, ihrer Reize. Hinzu kommt ein gewisser Exotismus, unterstrichen von architektonischen Details, von den ägyptisierenden Pila­ stern, den Sphinxköpfen und Basreliefs der Passage du Caire. Die Passage des Panoramas ( r 800), die limile Zola in Erstaunen versetzte, war mit riesigen Bildern an der Innenwand eines Rundbaus versehen, und Chateaubriand schrieb über das Pan­ orama von Jerusalem: »Die Illusion war vollkommen. Ich er­ kannte auf den ersten Blick sämtliche Monumente, sämtliche Orte bis hin zu dem kleinen H of, wo [...] ich im Kloster des Heiligen Erlösers wohnte. N ie wurde ein Reisender einer so 42 (Alfred Delvau, Les Plaisirs de Paris (1867), zitiert bei Callet, VAgonie du vieux Paris, »La mort des passages«, S. 99, und bei Lemoine, Les Passages couverts en France, S. 168.) 43 (Callet, L'Agonie du vieux Paris, »La mort des passages«, 8.98.)

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harten Probe ausgesetzt; ich konnte nicht darauf gefaßt sein, daß man Jerusalem und Athen nach Paris transportierte, um mich von Lüge und Wahrheit zu überzeugen.«44 D avid führte seine Schüler dorthin. Verbindung d er Passagen mit dem neunzehnten Jahrhundert Einem illustrierten Paris-Führer von 1852 zufolge sind die Pas­ sagen erst »eine neuere Erfindung des industriellen Luxus«.45 Und in der Tat ist das Auftreten der Passagen mit einer Reihe von bestimmenden Faktoren eng verbunden. A n erster Stelle wäre die übermäßig dichte Besiedelung des städtischen R au ­ mes zu nennen (Paris lebte noch in den Mauern Ludw igs XIV.). Es gab keine städtischen Transportmittel (Omnibusse erschei­ nen erst in der Restauration), daher die N otw endigkeit der Fortbewegung zu Fuß. Es handelt sich um eine Bauweise, die mit ihrer Funktion, ihrer Organisationsweise des Raumes von dieser Epoche nicht zu trennen ist. D er Bau der Passagen fällt in die Zeit eines tiefgreifenden Wandels der Hauptstadt. Unter der Julimonarchie betreiben die Immobilieneigentümer, in ste­ ter Sorge um die Wertsteigerung ihres Besitzes, den Bau neuer Stadtviertel. Von 1807 bis 1855 vermessen über 200 Architek­ ten und Geometer die Stadt neu und gehen dabei oft Haus für Haus vor (der sogenannte Vasserot-Belanger-Vcrmessungsplan). Plötzlich werden aus düsteren Hinterhöfen M ärchenrei­ che aus Glas und Licht; es entsteht eine Gewächshausarchitek­ tur mit rundum verglasten Bauten aus vergoldetem Gußeisen und mit gedämpft beleuchteten Galerien, die den Flaneuren und Dichtern Zuflucht bieten. Doch die Begeisterung für die 44 (R. F. de Chateaubriand, Vorwort zu Itineraire de Paris ä Jerusalemy zi­ tiert bei Lemoine, Les Passages couverts en France, S. 146.) 45 (Zitiert nach »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« (Expose von 1935), GS V.i, S.45; vgl. auch ebd., S.83-10 9 (Konvolut A - »Passagen, magasins de nouvcautc(s), calicots«).)

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Passagen ist auch ein Erbe der Romantik, einer gewissen N ei­ gung zum Träumen, eines neuen intellektuellen wie sinnlichen Verhältnisses zur Stadt. Amedee de Kermel schreibt in Paris, ou le Ih re des cent-et-un (18 3 1-18 3 4 ): »Der Flaneur kann über­ all geboren sein, leben kann er nur in Paris«46, und Lemoine bemerkt, »die Flanerie [sei] eine Pariser Erfindung aus der Zeit der Romantik«.47 Es gab ein sehr starkes Bedürfnis, die Stadt zu genießen. Bei Balzac heißt es in seiner Physiologie der Ehe: »Flanieren ist eine Wissenschaft, sie ist die Feinschmeckerei des Auges. Spazierengehen ist vegetieren; flanieren ist leben. [...] Flanieren heißt genießen [...], heißt, solange man jung ist, alles begehren, alles besitzen; heißt, wenn man alt ist, das Le­ ben eines Jünglings führen, die Leidenschaften eines Jünglings empfinden.«48 Rolle der Ware Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen die Passagen im Zuge eines gründlichen Wandels des damaligen Kapitalismus, seines Stils, der Vertriebsweise seiner Erzeugnisse. Ihre K on­ struktion ist eng mit einem sehr bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung verbunden, mit der Expansion von Industrie und Handel, insbesondere mit Textilwaren. Die ersten Passagen wurden in den Jahren nach der Revolution eröffnet, die von politischen Wirren und Unsicherheit geprägt waren. Das K ai­ serreich und die Napoleonischen Kriege ließen Paris zu einer großen Hauptstadt werden, doch die ökonomischen Ein-

46 (Amödec de Kermel, »Le fläneur de Paris«, in: Paris, ou le livre des centet-un, Bd. VI; zitiert bei Lemoine, Les Passages couverts en France, S.36. Zu derselben Sammlung (Bd. X ) hat Kermel einen Aufsatz »Les passages de Pa­ ris« beigetragen, der in dem Band von Johann Friedrich Geist, Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts vollständig abgedruckt ist.) 47 (Lemoine, Les Passages couverts en France, S. 36.) 48 (Honore de Balzac, Physiologie der Ehe, S.41.)

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Schränkungen erlaubten kaum die Entfaltung von Luxus. So wurde die Expansion der Passagen vom Niedergang des Kai­ serreichs und von der Besetzung der Stadt durch alliierte Trup­ pen gebremst. Die Rückkehr Ludwigs XVIII. und der Beginn der Restauration eröffnen dagegen ein neues Goldenes Zeit­ alter des Kapitalismus. Ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung zeichnet sich ab, die Geschäftswelt entwickelt sich. Damit ent­ steht ein gewisser Luxus, eine gewisse Blüte - wenn auch noch auf unsicheren Grundlagen - , die nach 1820 von drei großen Neuerungen stabilisiert werden: dem Bau von Bürgersteigen (20000 m 1829), der Einführung der Gasbeleuchtung (1829) und der Schaffung der ersten Omnibus-Linien (1829). Die Pa­ riser Bevölkerung wächst zwischen 18 17 und 18 3 1 von 714000 auf 785 000 Einwohner. Gleichzeitig wird das soziale Leben vielfältiger; die Künste und insbesondere das Theater finden zunehmende Bedeutung, was sich, im Zuge von Lohnerhöhungen und vermehrter Frei­ zeit, unmittelbar auf das Leben der Passagen auswirkt. Die E u ­ phorie dieser Zeit schwindet ab 1830 wieder, als die Antagonis­ men zwischen den sozialen Klassen Wiederaufleben, auch wenn noch bis 1860 - trotz der Konkurrenz der Boulevards weitere Passagen errichtet werden. Nicht alle Passagen zehren von diesem Luxus. In Therese Raquin schildert Zola die Passa­ ge du Pont-Neuf (1823) mit ihren »dunklefn], niederefn], ver­ fallenein] Kaufläden, aus denen ein kalter Kellerhauch auf­ steigt«. E r beschreibt ihre »grau verstaubten Auslagen [, die] verschwommen im Dunkeln schlummern. D ie aus kleinen Glasvierecken zusammengerahmten Schaufenster sprenkeln seltsam die Waren mit grünlichem Widerschein; dahinter, hin­ ter den Auslagen, gähnen in ihrer Finsternis die Läden wie un­ heimliche Höhlen, in denen absonderliche Formen brauen und schwanken.« Dort findet sich keine Spur von Luxus, sondern »namenlose Gegenstände, seit zwanzig Jahren hier vergessene Waren«, die »sich darin auf schmalen, mit einer fürchterlichen

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braunen Farbe getünchten Brettern [breiten]«.49 Die Entwick­ lung des Textilhandels erlaubt das Auftreten von magasins de nonveautcSy das zu einer Weiterentwicklung des Typus der Lä­ den führt. An die Stelle der traditionellen Kramläden, wie sie von den Schriftstellern der Epoche beschrieben werden, in denen sich die Produkte türmen, treten Luxusboutiquen (zu­ meist Läden für Textilien, Damenwäsche, Süßwaren) mit gro­ ßen Schaufenstern, wo Masse und Nützlichkeit dem Ver­ schwenderischen und Erlesenen weichen. Die systematische Verwendung von Glas für die Schaufenster verändert das Ver­ hältnis zur Ware grundsätzlich.50 Von hohem symbolischen Wert sind deshalb die beiden folgenden Schilderungen von Schaufensterauslagen, die man bei Balzac findet. In Das Haus der ballspielenden Katze bescheibt er einen Verkaufsraum: »Durch die dicken Eisenbarrieren, die den Laden von außen schützten, unterschied man mühsam einen Haufen Pakete, die in braune Leinwand geschlagen waren; es gab ihrer so viele wie Heringe, die den Ozean durchqueren.«51 Und in Cäsar Birotteaus Größe und N iedergang schildert er das Modegeschäft »Le Petit Matelot« mit seinen »bemalten Schildern, flatternden Wimpeln, Schaufenstern voll von hängenden Schals, Krawat­ ten, die auf Kartenhäusern arrangiert waren, und tausend an­ dern verführerischen Waren, mit festen Preisen, Täfelchen, Anzeigen, optischen Täuschungen und Effekten [, die] eine solche Vollkommenheit erreicht haben, daß diese Schaufenster zu wahren kaufmännischen Gedichten geworden sind«.52 Bei49 (Emile Zola, Therese Raquin, S. 1 7 O 50 (Vgl. Benjamins Notiz: »Frage: Wann beginnt im Stadtbild die Ware her­ vorzutreten ? Entscheidend wäre, über das Eindringen der Schaufenster in die Fassaden statistisch unterrichtet zu sein.« »Zentralpark«, GS 1.2, Nr. 38, S.686.) 5 1 (Honor876 (Architekten: Laplanchc und Boilcau), La Samaritaine 1905. Ihre Architektur bezieht ihre Anregungen noch vom Bautyp der Passagen. Man findet dort das zentrale Schiff wieder, das durch ein Glasdach senkrecht von oben beleuchtet wird (wie die prachtvolle Glas­ kuppel, die damals das Warenhaus Dufayel erhellte, oder das Glasdach des 1865 von Jules Jaluzot gegründeten Kaufhauses Printemps). Sehr rasch ge­ lingt es ihnen, ein System des Warenvertriebs - das auf ausgcschildertcn Preisangaben, Fülle und Vielfalt des Angebots beruht - mit den jüngsten ar­ chitektonischen Errungenschaften zu verbinden. Dazu gehören die ersten horizontalen Fenster des Bon Marche sowie der Aufzug und die elektrische Beleuchtung des Printemps (19x0). Hier könnte man die Beschreibung eines Warenhauses anfügen, die Zola in seinem Roman Paradies der Damen gibt. (»Dieser Eingang, hoch und tief wie ein Kirchenportal, überragt von einer Gruppe - Industrie und Handel, die, umgeben von einer Vielfalt von Em ­ blemen, einander die Hand reichten - , war durch eine breite Markise ge­ schützt, deren frische Vergoldung die Bürgersteige mit einem Sonnenstrahl zu erhellen schien. Nach rechts und links erstreckten sich die Fassaden in ei-

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renz* denn sie repräsentieren eine neue Form des Warenver­ triebs. Diese Entwicklung läßt die Läden in den Passagen -

nem noch grellen Weiß, zogen sich dann die Ruc Monsigny und die Ruc de la Michodierc entlang, nahmen den ganzen Häuserblock ein, außer an der Ruc du Dix-Decembrc [...]. Wenn die kleinen Kaufleutc den Kopf hoben, gewahrten sie durch die Spicgclglasschcibcn, die vom Erdgeschoß bis zum zweiten Stock freien Einblick in das Haus gestatteten, den ganzen wie eine Kaserne großen Bau entlang die Anhäufung von Waren. [...] Mitten durch das Haus verlief, von der Ehrenpforte ausgehend, von einem Ende des G e­ bäudes bis zum andern eine breite Galerie, an die sich rechts und links zwei schmalere Galerien anschlossen, die Galerie Monsigny und die Galerie Michodifcrc. Man hatte die in Hallen verwandelten Höfe mit Glasdächern ver­ sehen, und aus dem Erdgeschoß führten eiserne Treppen nach oben, eiserne Brücken waren in beiden Etagen von einer Seite zur anderen geschlagen worden. Der Architekt, ein glücklicherweise intelligenter junger Mann, der auf alles Neuzeitliche versessen war, hatte Steine nur für die Untergeschosse und die Eckpfeiler verwendet und dann das ganze Gerippe aus Eisen errich­ tet; die Vcrbundstcllcn der Giebel- und Deckenbalken stützten Säulen. Die Vouten an den Decken und die inneren Zwischenwände bestanden aus Zie­ gelsteinen. Überall hatte man Platz gewonnen, Luft und Licht hatten freien Zutritt, das Publikum bewegte sich unbehindert unter dem kühnen Wurf der nur in weiten Abständen abgestützten Dachkonstruktion. Es war die Kathedrale des neuzeitlichen Handels, fest und leicht zugleich, für ein gan­ zes Volk von Kunden geschaffen. [...] Weit wie eine Bahnhofshalle war diese Galerie, umgeben von den Balustraden der beiden Stockwerke, durch­ schnitten von freitragenden Treppen, überspannt von schwebenden Brükkcn. [...] die über die Leere geworfenen eisernen Brücken zogen sich in gro­ ßer Höhe schnurgerade dahin; und all dieses Eisen bildete unter dem weißen Licht der Glasdächer eine schwerelose Architektur, ein dem Tageslicht Zugang gewährendes Spitzengewebe, die moderne Verwirklichung eines Traumschlosscs, eines Babel, das Etagen aufeinandertürmte, Raum für gro­ ße Säle schuf und bis ins Unendliche Ausblick auf andere Etagen und andere Säle auftat. Übrigens herrschte das Eisen überall vor, der junge Architekt war ehrlich und mutig genug gewesen, es nicht unter einer Stein oder Holz imitierenden Mörtelschicht zu verbergen. Unten hatte man, um nicht der Wirkung der Waren Abbruch zu tun, die Ausschmückung nüchtern, in gro­ ßen einheitlichen Flächen von einem neutralen Farbton gehalten; mit der zunehmenden Höhe des metallenen Gerüstes aber wurden die Kapitäle der Säulen reicher, die Niete entfalteten sich zu Blumen, die Konsolen und die Kragsteine waren mit Skulpturen geschmückt; oben schließlich funkelte es von Farben, von Grün und Rot zwischen freigebig verwendetem Gold, gan­ ze Fluten von Gold, Schwaden von Gold, bis zu den Verglasungen, deren

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verglichen mit der ungeheuren Fülle und Vielfalt des Wa­ renangebots in den Kaufhäusern - veraltet erscheinen und beschränkt sie auf abseitige Branchen (Spielzeug, Briefmarken, Münzen, Stiche, Bücher usw.). Sie konnten der Entwicklung eines bestimmten Verhältnisses zur Ware und zum Konsum, aber auch dem Verschwinden eines bestimmten Lebensstils, der mit dem Entzücken und dem Flanieren verbunden war, nicht trotzen. Verändert hat sich auch das Verhältnis zur Z eit.105 D er Bau der neuen Haussmannschen Verkehrsadern erübrigt die Existenz bevorzugter Orte der Flanerie. Die Stra­ ßen haben von nun an Bürgersteige, sind gepflastert und be­ leuchtet, und die Entwicklung der Gasbeleuchtung - die den Erfolg der Galerie Vero-Dodat ausgemacht hatte - hat nichts Überwältigendes mehr. Von da an war ihr Abstieg unausweichlich, zumal sie ihren Glanz nicht erhalten konnten. D er offensichtlichste Grund da­ für ist die Vielzahl der Eigentümer (Galerie Vero-Dodat: 95, Passage du Caire: 48, Passage Choiseul: 63 Eigentüm er!106). Ihre Dekorationen wurden schadhaft, ihre Pracht ging dahin, und oft wurden sie eher zu Warenlagern als zu Orten der Fla-

Scheibcn in Gold emailliert und nielliert waren. Unter den gedeckten Gale­ rien waren die sichtbaren Mauersteine der Voutcn ebenfalls in leuchtenden Farben glasiert. Ein Teil der Ausschmückung bestand aus Mosaiken und Fa­ yencen, die die Friese heiterer machten, mit ihren frischen Tönen die strenge Note des Ganzen aufhellten, indes die .Treppen, deren Geländer mit rotem Samt bezogen war, eine Leiste von ausgeschnittenem und poliertem Eisen zierte, das schimmerte wie der Stahl einer Rüstung.« Zola, Paradies der D a­ men, S. 366-368, 390L) 105 (Vgl. zu diesem Thema Benjamins Bemerkung: »Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur dar­ stellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.« »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, GS 1.2, S. 557.) 106 (Zahlenangaben bei Dclvaillc, Passage et Galeries da 19 ° siecle, S. 124.)

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ncric (Passage Brady). N u r diejenigen sollten überleben, die eine wirklich nützliche Rolle als Wegabkürzung behielten (wie die Passage du Havre, die die Grands Magasins mit dem Boule­ vard Haussmann verbindet), doch wenn sich eine praktischere Verbindung bot, zögerte man nicht, die Passage abzureißen (wie die Passage de l’Opera). Was von den Passagen bleibt Eine gewisse Fin-de-siecle-Atmosphäre, eine Lust am Träu­ men, eine gewisse Poesie, ein Zufluchtsort für die merk­ würdigsten Geschäfte - Kräuterhandlungen, kleine Theater, Parfüms, Altwaren, Bouquinisten, Bilder- und Antiquitäten­ händler, Spielzeug-, Briefmarken-, Marionetten-, Masken- und Porzellanfigurenhändler - ein gewisser Ruch heimlicher Fri­ volität durchzieht noch immer diese langen, glasgedeckten Räume. N och immer stirbt dort das neunzehnte Jahrhundert einen langsamen Tod. Heute gibt es noch siebzehn Passagen. Und selbst wenn sie keine lebenswichtige Funktion mehr er­ füllen, regen sie noch zum Träumen an, erinnern an eine ver­ schwundene Welt, eine gewisse Kultur, einen bestimmten Le­ bensstil. Eine Aura des Rätselhaften schwebt noch heute über ihrem riesigen Glasdach. Die Passagen sind wahre Speicher von Bildern. So schrieb Aragon in D er Pariser Bauer: Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Drang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern eines Kults des Ephemeren geworden, sind sie zur gespensti-

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sehen Landschaft der Vergnügen und der verruchten Berufe geworden, gestern noch unverständlich, morgen völlig unbe­ kannt.107

107 (Aragon, Der Pariser Bauer, S. 18 f. Johann Friedrich Geist (Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts) verweist darauf, daß Walter Benjamin auf Empfehlung seines Freundes Hessel den Teil über das Cafe Ccrta übersetzt hat; der Text erschien am 15. Juli 1928 in der Literarischen Welt [GS, Suppl.B d .I,S . 25-33]. Am Ende dieser »Geschichte der Passagen« findet sich eine kurze, von JeanMichel Palmier erstellte Bibliographie, die vom Herausgeber in den Fußno­ ten konsultiert und ergänzt wurde. Die wichtigsten Werke wurden in das allgemeine Literaturverzeichnis aufgenommen.)

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Einige Bem erkungen zu B eg riff und Funktion des dialektischen Bildes bei W alter Benjam in Ich werde in groben Zügen das Expose zusammenfassen, das ich zu diesem Thema vorgesehen hatte, da das Expose selbst den zeitlichen Rahmen überschreiten würde, der jedem Refe­ renten bewilligt ist. Es gehört in den Kontext eines Buches über Walter Benjamin, das ich vorbereite. Auch wenn Ben­ jamins Lebensspanne kurz war und die Anzahl seiner Veröf­ fentlichungen begrenzt blieb, zählt er doch zweifellos zu den größten Literaturkritikern des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich werde mich auf fünf grundlegende Texte beziehen: sein großes unvollendetes Projekt, die P a r i s e r P a s s a g e n , seinen Essay über Baudelaire, seine Habilitationsschrift über den U r s p r u n g d e s d e u t s c h e n T r a u e r s p ie ls , in der er sein Verständnis der Allegorie erläutert, die E in b a h n s t r a ß e und die B e r l i n e r K i n d h e i t , in de­ nen er seine Konzeption der prophetischen Zeit mitten in die Bilder selbst hineinverlegt. Schließlich werde ich, leider nur kurz, auf die entscheidenden Diskussionen zu sprechen kom­ men, die er mit Theodor W. Adorno über die genaue Struktur des dialektischen Bildes führte und in denen die Unterschiede ihrer Wahrnehmungsweisen und ihrer Methode hervorbra­ chen. /

Das P a s s a g e n -'W e r k y dieses mythische Buch, bedeutet die theo­ retische Krönung des Benjaminschen Werkes - und zugleich sein endgültiges Scheitern. Das bucklicht Männlein, jene M är­ chenfigur, die er zum Symbol des Mißlingens seiner Existenz, der zahllosen Niederlagen in seinem Leben gemacht hatte, er­ wartete ihn 1940 an der spanischen Grenze, als er zusammen mit einer Gruppe von Flüchtlingen dem besetzten Frankreich

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zu entkommen versuchte. Sein Selbstmord in Port-Bou, dik­ tiert von dem Willen, nicht der Gestapo in die Hände zu fal­ le n -e in Selbstmord, den Brecht als den ersten kulturellen Sieg des Faschismus betrachten sollte - , verurteilte das Werk, dem er so viele Jahre gewidmet hatte, dazu, im Stadium von N o ti­ zen zu bleiben. Und selbst diese galten lange als verloren und wurden nur gerettet, weil Georges Bataille, damals Bibliothe­ kar an der Bibliotheque nationale, sie in Sicherheit brachte, nachdem Benjamin sie ihm anvertraut hatte. Einzig dem geisti­ gen Einvernehmen und der Geduld R o lf Tiedemanns, eines Schülers von Adorno, der an der Herausgabe von Benjamins Gesammelten Schriften maßgeblich beteiligt war, ist cs zu ver­ danken, daß diese Pläne, diese Tausende von Reflexionen und Zitaten, wieder ein wenig lebendig geworden sind in der G e ­ stalt eines Buches, dessen Tiefe, Fremdheit und Schönheit in der gegenwärtigen Philosophie ohnegleichen sind. Die Ü ber­ setzung von Jean Lacoste gibt den deutschen Text getreu wie­ der1, seine Windungen, seine Tiefe, seine plötzlichen K urz­ schlüsse, auch wenn man bedauert, daß der gekürzte kritische Apparat es dem französischen Leser - so er nicht gerade Benja­ min-Spezialist ist - kaum gestattet, die komplizierte und qual­ volle Entstehung dieses Werkes zu verstehen. Dieses postume Buch, das in seiner Weite und Tiefe einem Ozean gleicht, ist nicht ganz leicht zugänglich. Niemand weiß, wie die Land­ schaft zuletzt ausgesehen hätte, die aus den Steinen, aus den Sandkörnern dieses Werkes gefügt werden sollte. Völlig zu Recht vergleicht Tiedemann diese »Fragmente des eigentlichen Passagenwerks [mit] den Baumaterialien für ein Haus [...], von dem nur gerade erst der Grundriß abgesteckt oder die Baugru­ be ausgehoben ist«.2 Hier und da erheben sich einige Gerüste, wie die beiden Exposes von 193 5 und 1939, die die geplante Sil1 [Die französische Übersetzung des Passagen-Werks erschien 1989 unter dem Titel Paris, capitalc du XIX* siecle, Paris: ßditions du Cerf.] 2 (RolfTiedemann, »Einleitung des Herausgebers«, CSV. 1 , S. 12.)

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houette des Gebäudes vermuten lassen. Doch was wäre von all diesen liebevoll gesammelten Notizen und Zitaten zu sagen, deren Anordnung sich unmöglich erahnen läßt? So verwirrend die Komposition des Bandes sein mag, sie er­ klärt sich aus der langen Entstehungszeit des Projekts. Benja­ min arbeitete mehr als dreizehn Jahre daran, von 1927 bis 1940. Es gibt kaum einen wichtigen Text aus dieser Zeit, der nicht in mehr oder weniger direkter Beziehung zu den P a s s a g e n stün­ de: sei es »ein kleines Stück aus Passagenzusammenhängen«3 wie der Franz Hessel gewidmete Essay »Die Wiederkehr des Flaneurs«; seien es Weiterführungen, denen eine gewisse Selb­ ständigkeit zukommt, wie das Expose »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« oder der Aufsatz über »Das Kunst­ werk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« von 1935, der zwar nicht thematisch, wohl aber als Entwurf einer materialistischen Methodologie mit den P a s s a g e n zusammen­ hängt, ähnlich wie die Studie über Goethes W a h l v e r w a n d t ­ s c h a fte n die Grundlage für den methodischen Ansatz im T r a u ­ e r s p i e l - B u c h liefert. Schließlich der Baudelaire-Essay, der zwar kein bloßes Fragment aus den P a s s a g e n ist, aber eine Reihe von deren philosophischen Kategorien verdeutlicht und - ähnlich jenen Landschaften unter einer Glaskugel, die Benjamin in sei­ nem Hang zu einer »Liliputwelt« so sehr mochte - im Minia­ turmodell vorführt. Was die Philosophie angeht, die der end­ gültigen Konstruktion zugrunde liegen sollte, mit ihrem Zweifel am geschichtlichen Fortschritt, den die Lektüre von Blanquis U E t e m i t e p a r le s a s tr e s noch bestärkte, so sollte sie ihren schönsten Ausdruck in seinem letzten Text finden, den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940, die er nach der Verkündung des Hitler-Stalin-Pakts schrieb.

3 (Brief an Scholem vom 18. September 1929, G B III, 8.485.)

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Auch wenn man sich nicht ausmalen kann, wie die endgültige Struktur des Werkes ausgesehen hätte - das, im Gegensatz zu Adornos These, keinesfalls aus einer bloßen Zitatmontage be­ standen hätte erlaubt es die Nachzeichnung seiner Archäo­ logie, eine Ahnung von der Komplexität seiner Ausarbeitung zu bekommen. Die Entdeckung der Pariser Passagen ist untrennbar von der Leidenschaft zum Flanieren, die Franz Hessel, der A utor von Spazieren in Berlin, bei Benjamin weckte, der ihm in der Berli­ ner Kindheit Ehre erwies. Zusammen konzipierten sie das erste Projekt eines Artikels über die Passagen. N icht minder bedeut­ sam war die Entdeckung des Surrealismus, für den sich Benja­ min ab 1927 begeisterte. Die Lektüre von Aragons Paysan de Paris (1926), worin das Verschwinden der Passage de l’Opera beklagt wird, wirkte auf ihn wie eine Erleuchtung. Seit dieser Zeit (Herbst 1929) dachte er daran, eine kurze Arbeit unter dem Titel »Pariser Passagen. Eine dialektische Feerie« zu ver­ fassen, um - vermittelt durch ein architektonisches Sym bol eine Epoche und ihren Lebensstil in ihrer ganzen Konkretion zu erfassen, wie sie der Geschichtsphilosophie des neunzehn­ ten Jahrhunderts innewohnt. Seit diesem Entw urf standen die Hauptthemen fest: jene Umwälzung, die die gedeckten G ale­ rien und die Warenhäuser, die Panoramen und die Weltausstel­ lungen, die Gasbeleuchtung und die Mode, die Reklame, der Sammler, die Prostituierte und der Flaneur für die Stadtland­ schaft bedeuteten. Es ging bereits darum, vermittels ihrer ver­ steinerten Produktionen und ihrer Bilder ein bestimmtes A nt­ litz der Moderne zu erfassen. D er Einfluß des Surrealismus ist deutlich. Und man braucht nur die Einbahnstraße mit ihrer Vorliebe für Reklameschilder, mit ihrer Sicht auf die Stadt als zu entzifferndes Rätsel zu lesen, man braucht nur an den Text zu denken, den Benjamin über seine Haschischerfahrungen in Marseille schrieb, um die Tiefe ihrer Wesensverwandtschaft zu ermessen. In dem Essay, den er 1929 dem Surrealismus als der

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»letzte[n] Momentaufnahme der europäischen Intelligenz« widmet, überschätzt er sowohl die philosophischen Grundla­ gen als auch die politische Dimension dieser Bewegung, betont aber zu Recht »die revolutionären Energien, die im »Veralteten« erscheinen«4, zum Beispiel in der von Aragon gefeierten Pas­ sage de l’Opera und dem »modernefn] Licht des Ungewöhn­ lichen«, oder in Bretons N adjay seiner Leidenschaft für den Flohmarkt und für die großen Boulevards. Sehr rasch gewinnt Benjamin Abstand von dieser M ytho­ logie, die die Surrealisten ausgegraben hatten. Seine philoso­ phische Radikalität, die politische Dimension, die sein Werk kennzeichnete, verlangten eine Kritik und zugleich eine Über­ windung dieser surrealistischen Sicht. Wie er am 15. März 1929 an Scholem schrieb, war diese Arbeit nur »ein Paravent vor den »Pariser Passagen««.5 Anfangs ein Ort, wo das Ungewöhnliche Zuflucht fand, nahmen die Passagen für Benjamin nach und nach eine phantastische Dimension an: Sie symbolisierten die Geburt der Moderne, und ihrer Erforschung sollte kein gerin­ gerer Rang zukommen als der einer Geschichtsphilosophie. Die an Theodor W. Adorno gerichteten Briefe erlauben es, die langsame theoretische Entwicklung dieses Projekts zu rekon­ struieren. Sie vollzog sich unter größten Schwierigkeiten. Nach der Ablehnung seiner Habilitationsschrift über den Ur­ sprung des deutschen Trauerspiels mußte Benjamin als »unab­ hängiger Schriftsteller« leben. Doch die katastrophale wirt­ schaftliche Situation, die Deutschland durchmachte, ließ ihm kaum Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hätte er, wie Scholem es wollte, sich bereit gefunden, nach Pa­ lästina auszuwandern, Hebräisch zu lernen, so hätte er auf das Passagen-Projekt verzichten müssen. Die Langsamkeit der theoretischen Ausarbeitung des Werkes erklärt sich zum Teil 4 (»Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intel­ ligenz«, GS II. 1, S.299.) 5 (GB 111, S .4 53 .)

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daraus, daß er sich seiner Untersuchung nicht mit aller Kraft widmen konnte, sondern oft gezwungen war, Rezensionen als Brotarbeit zu verfassen. Ausgerüstet mit seinem erstaunlichen metaphysischen Sinn für die Dinge, wollte er mit Hilfe der surrealistischen Theorie des Traumes diese Bilder des Gewesenen auseinanderlegen, um in ihnen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nachzu­ weisen, und jener »profanen Erleuchtung«, die er im Surrealis­ mus gefunden hatte, ihren vollen Sinn geben. Doch gegen die von Breton und Aragon gefeierte Verschmelzung von Traum und Leben setzt er die Kategorie des Erwachens; statt sich der Faszination durch das O bjekt zu überlassen, will er cs entzif­ fern - ausgehend von einer Philosophie, die Marxismus und Theologie miteinander versöhnen möchte. Geschaffen wurden all diese Träume vom Kapitalismus des neunzehnten Jahrhun­ derts für eine Bourgeoisie, die sich mitten im Aufstieg befand. Daraus war für heute eine Lehre zu ziehen, statt diese Träume mythisch wiederzubeleben. So wurde dieses Projekt, da allzu romantisch, im Herbst 1929 aufgegeben. D ie Diskussionen, die er im Oktober mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatte, veranlaßten ihn dazu, die marxistische Analyse des Kapi­ talismus zu berücksichtigen und die geplante »dialektische Feerie« durch eine auf Hegel und Marx gestützte Erkenntnis­ theorie zu ersetzen, mit der es möglich wäre, eine Archäologie der Moderne zu entwickeln. Vier Jahre später, im März 1934, wurde das Passagen-Vro)ekx. wiederaufgenommen. Während im ersten Entw urf die Ö ko ­ nomie eine gewisse Romantisierung erfuhr, folgten nun neue Themen: die Bedeutung der Haussmannschen Arbeiten, K on ­ spiration, Arbeitervereine, Wirtschaftsgeschichte, die C om ­ mune sowie Überlegungen, die sich auf Marx, Fourier und Saint-Simon stützten. So entstanden 1935 das Expose »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« auf Anforderung des

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Instituts für Sozialforschung, dessen Zuwendungen sein ein­ ziger Lebensunterhalt waren, und 1939 dessen französische Fassung. Was er nun zu analysieren gedachte, war der gesamte kulturelle Überbau des neunzehnten Jahrhunderts. Marxisti­ sche Begriffe wie der des »Fetischismus« nahmen in dem E x­ pose einen zentralen Platz ein. Der Ausstrahlung des Rätsel­ haften, von der die Surrealisten hingerissen waren, entsprach eine Theorie der Phantasmagorie als Synthese der magischen Bilder des Jahrhunderts, die er in den Weltausstellungen, im Kult der Waren und des Neuen, im Vergnügen an Schaufen­ sterauslagen konkretisiert fand. Die Lektüre des Buches L 'E t e r n ite p a r les astreSy das Blanqui im Gefängnis geschrieben hatte, bestätigte ihn in seiner Sicht des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle. Vermittels seiner Theorie der »dialektischen Bilder«, der »Dialektik im Stillstand« als Synthese von Einst und Jetzt, wollte er eine Analyse des kollektiven Unbewußten einer Epo­ che im Medium ihrer Bilder leisten. Aus dem Passagen-Projekt sollte ein Buch werden. Während der ganzen Pariser Exiljahre arbeitete er verbissen daran, gepeinigt von der alljährlichen Schließung der Bibliotheque nationale im Sommer. In seinem Brief vom 2. August 1935 unterzog Adorno das Expose einer scharfen Kritik. Er lehnte Benjamins Auffassung des »dialektischen Bildes«, der »Konfiguration von Mythos und Moderne«6, ab, die aus dem Warenfetischismus eine bloße kollektive Vorstellung zu machen schien. Benjamin billigte das Wesentliche dieser Kritik und berücksichtigte sie in seiner neu­ en, 1939 verfaßten Version des Exposes. Unterdessen schlug ihm Max Horkheimer vor, seinen Essay über Baudelaire - der ursprünglich nur ein Kapitel der Passa­ gen,, das vorletzte, werden sollte - gesondert zu veröffentli­ chen. Publizieren war für Benjamin im Exil zu einer Frage auf Leben und Tod geworden. Er nahm den Vorschlag an und feilte 6 (Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 138.)

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während des ganzen Jahres 1938 daran, als er bei Brecht in D ä­ nemark Aufnahme gefunden hatte. Wie die geplanten Kapitel zeigen (Idee und Bild, Antike und Moderne, das N eue und die Wiederkehr des Gleichen), waren die Themen eng mit dem Awwgew-Projekt verbunden. Auch hier stößt man wieder auf Evokationen des Flaneurs, der Prostituierten, der Menge, der Neuheit und der Ware. II Walter Benjamin hat drei grundlegende Texte über Baudelaire verfaßt: »Das Paris des Second Em pire bei Baudelaire«, »Uber einige M otive bei Baudelaire« und die Fragmente des »Zentral­ park«. Sie sind gesammelt in dem Band Charles Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus erschienen. Doch die untergründige Beziehung, die ihn mit Baudelaire verbindet, durchzieht sein ganzes Werk und sein Leben. Von Jugend an gegenwärtig, spielte diese Beziehung eine entscheidende Rolle bei seiner Entdeckung der Stadt Paris und der französischen Literatur. Ganze Konvolute der Passagen-Notizen sind ihm gewidmet. Und wenn man liest, was Benjamin über den Fla­ neur, die Prostituierte, die Ware und die Neuheit sagt, kommt man nicht umhin, an die Fleurs du m al oder die Tableaux parisiens zu denken. In der Auseinandersetzung mit der Baudelaireschen Welt hat Benjamin die wichtigsten Begriffe seiner Geschichtsphilosophie reifen lassen, handele es sich um die ba­ rocke Verwendung der Allegorie im Alltäglichen, um das dia­ lektische Bild oder die Logik der Ware, die der Moderne zu­ grunde liegt. Die Bewunderung Benjamins für Baudelaire ebenso wie für Hölderlin ist wahrscheinlich aus dem kritischen, zutiefst ambi­ valenten Interesse erwachsen, das er für den Kreis um Stefan George hegte. Mit seiner Leidenschaft für die Sprache, dem Charisma seiner Gedichte brachte George Hölderlin wahrhaft

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kultische Verehrung entgegen, mit der seine Wiederentdekkung im Deutschland der zwanziger Jahre bei Benjamin eben» so wie bei Heidegger begann. E r hat auch erheblich zur Be­ kanntheit der Fleurs du m al beigetragen. Ihre Übersetzung, um die er sich von 1891 bis 1900 bemühte, fand beträchtlichen Wi­ derhall. Und wenn auch Benjamin viel daran lag, dieses Werk zu übersetzen, so vielleicht um dem George-Kreis ebensowohl entgegenzutreten wie sich mit ihm zu messen. Nach den Erinnerungen Scholems beschäftigte er sich ab 1 9 1 4 -1 91 5 mit den Fleurs du m al und hatte bis 1 91 7 mehr als zwanzig Gedichte übersetzt, während er gleichzeitig an seinem Essay über Hölderlin arbeitete. Während des Krieges nahm er in Bern an einem Baudelaire-Seminar teil; im Januar 1918 er­ warb er Georges Übersetzung des Spleen de Paris und der Paradis artificiels, die vielleicht eine erste Anregung zu seinen Haschisch-Experimenten lieferten. Benjamin wandte sich sei­ nen Übersetzungen erneut im Januar 1919 zu und dachte dar­ an, sie zu veröffentlichen. So ließ er 1921 mehrere Gedichte Ernst Blass zukommen, dem Herausgeber der Zeitschrift D ie Argonauten, der sie an den Verleger Richard Weißbach weiter­ gab. Dieser schlug ihm sofort vor, die Tableaux parisiens voll­ ständig zu übersetzen, ein Werk, das Benjamin stets faszinierte. Bei Gelegenheit dieser Veröffentlichung verfaßte Benjamin statt eines Vorworts einen der tiefgründigsten Essays, die sein Verständnis von Sprache und Literatur grundsätzlich klären, »Die Aufgabe des Übersetzers« (April 1921). Benjamins Brief­ wechsel bezeugt die ganze Breite des Interesses, das er an Bau­ delaire hatte: E r denkt über seine Werke nach, liest die wichtig­ sten Biographien, die ihm gewidmet wurden, sammelt Notizen für einen Vortrag, den er als Einführung zu einer Lesung aus seiner eigenen Übersetzung über ihn halten wollte. Dieser Vor­ trag fand am 15. März 1922 statt, vermutlich auf der Grund­ lage von Aufzeichnungen. Die Briefe, die er an Weißbach rich­ tet, zeigen die minutiöse Sorgfalt, die er seinen Übersetzungen

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widmete, die er noch in den Fahnen verbesserte. Das Buch er­ schien im O ktober 1923 als Luxusausgabe mit einer Auflage von 500 Exemplaren. Benjamin erhielt davon sieben als einzige Entlohnung. Es ist recht unwahrscheinlich, daß das Buch ihn als Übersetzer bekannt machte: N och zehn Jahre später, 1933, war der Band nicht vergriffen. Dagegen brachte ihm die Ü ber­ setzung eine ziemlich negative Besprechung von Stefan Zweig in der Frankfurter Zeitung ein. Allerdings sah Benjamin in Zw eig den Verfasser der »drittschlechtestefn] deutschefn] Baudelaire-Übersetzung«.7 E r selbst stand, wie seine Briefe an Hugo von Hofmannsthal zeigen, seiner eigenen durchaus kri­ tisch gegenüber und w arf sich vor, die so eigentümliche Metrik und den Stil Baudelaires nicht genügend berücksichtigt zu ha­ ben. Keineswegs entmutigt, dachte er daran, eine Auswahl der Gedichte der Fleurs du m al zu übertragen, und veröffentlichte einige in Franz Hessels Zeitschrift Vers und Prosa, deren Titel von derjenigen Paul Forts inspiriert wurde. Die Übersetzungen Benjamins veranschaulichen die Thesen, die er in seinem Essay von 1921 aufgestellt hatte. Man über­ setzt ein Werk nicht im Gedanken an das Publikum, welches das Original nicht liest. Die Übersetzung muß sich vor allem bemühen, eine Form wiederzugeben, indem sie die Verwandt­ schaft der Sprachen jenseits jeder Idee einer Nachahmung wie­ derentdeckt. Die Übersetzung, die dem Text Wort für Wort folgt, kann fast nie den Sinn wiedergeben, den das Wort im Original hat. Ein Vergleich zwischen seiner und Georges Ü ber­ setzung der Baudelaire-Gedichte ist lehrreich. Es fiele schwer, die Überlegenheit der einen über die andere zu behaupten, denn sie sind beide bemerkenswert. Dort, wo George den Stil Baudelaires wiederzugeben sucht, indem er Bedeutungsent­ sprechungen im Deutschen findet, bemüht sich Benjamin viel

7 (Brief an Scholem vom 7. Juli 1924, CB II, 8.474.)

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mehr um eine bestimmte Bewegung des Gedichts. So werden die berühmten Verse des Victor H ugo gewidmeten Cygne Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville Change plus vite, helas! que le coeur d’un mortel) von George folgendermaßen wiedergegeben:

Die Stadt wird mir fremd vor lauter Veränderungen. Ein menschenherz ach! verändert sich nicht so schnell.8 und von Benjamin: Die Altstadt ist dahin - wenn Neuerungen Uns wandeln sinken Städte doppelt schnell.9 Benjamins Gewandtheit bestand darin, für »Le vieux Paris n’est plus« ein ebenso dichtes deutsches Äquivalent zu finden, das die Klage, den Seufzer, das Bedauern darin vernehmbar macht: »Die Altstadt ist dahin« - wofür George eine recht holprige Verszeile benötigt. Der Band, den Benjamin unter dem Titel Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus plante, blieb im Entwurfszustand. N u r drei Bruchstücke, die soziologische Studie »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, der E s­ say »Über einige Motive bei Baudelaire« und die »Zentral­ park«-Fragmente, vermitteln eine Ahnung von seiner Gestalt. In der Zeit zwischen seinen Übersetzungen und diesen Studien verfaßte er seine Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels. So fern die darin entfalteten Problem­ stellungen zueinander stehen mögen, sind sie sich jedoch nicht völlig fremd. Benjamin hat ein feines Gespür für eine A rt »Ba­ rock der Banalität«10 bei Baudelaire und sieht in ihm einen gro­ ßen allegorischen Dichter. Dennoch rückt er erst 1935 wieder in den Mittelpunkt seiner Beschäftigungen. 8 [Stefan George, »Der Schwan«, in:

Die Blumen des Bösen. Umdichtun­

gen, S.130 .] 9 [»Baudelaire, Tablcaux parisiens«, GS IV.i, S. 27.] 10 [Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 13. Januar 1924, G B II, S . 4 1 1.]

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D ie Lektüre von Aragons Paysan de Paris und sein Interesse am Surrealismus lenkten Benjamins Blick von 1927 an auf die Pariser Passagen. 1929 hatte er vor, ihnen einen kurzen Essay unter dem Titel »Pariser Passagen. Eine dialektische Feerie« zu widmen, den er zusammen mit Franz Hessel schreiben wollte. M it H ilfe dieses architektonischen Sym bols wollte er die K on ­ kretheit einer Epoche, einen bestimmten Lebensstil erfassen. In dieser Bemühung, die Geburt der Moderne vermittels be­ stimmter Bilder zu begreifen, durchlief er die Welt Baudclaires und verfolgte die vom Surrealismus entdeckten »revolutionä­ ren Energien, die im »Veralteten« erscheinen«. Sehr bald aber ließ er diese philosophischen Positionen kritisch hinter sich und erhob seine Betrachtung der Passagen in den Rang einer Geschichtsphilosophie. Horkheimer, von dessen Institut für Sozialforschung Benjamin finanziell abhängig war, schlug ihm 1935 vor> ein erstes Expose mit dem Titel »Paris, die Haupt­ stadt des XIX. Jahrhunderts« zu verfassen. Bereits in diesem Entwurf waren alle wichtigen Themen zur Stelle: die U m w äl­ zung der Stadtlandschaft durch die gedeckten Galerien, die Warenhäuser, Panoramen, Weltausstellungen, die Gasbeleuch­ tung, die Mode und die Reklame, der Sammler, die Prostituier­ te und der Flaneur. D er fünfte Abschnitt »Baudelaire oder die Straßen von Paris« hebt Baudclaires »allegorisches [...] In­ genium« hervor, das Paris zum Gegenstand lyrischer Dichtung erhebt. Seine Kunst ist untrennbar vom Blick des Flaneurs, der »noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürger­ klasse [steht]«." Als zentrale Gestalt der Passagen und der Baudeiaireschen Welt vermag er A syl nur in der Menge zu fin­ den, ein wahrhafter Schleier, durch den hindurch ihm die Stadt als Phantasmagorie erscheint. Benjamin weist darauf hin, daß die Luxusgeschäfte und der Anarchismus historisch gleichzei­ tig erscheinen; in Baudelaires Dichtung verspürt er »rebelli-1 1 1 (»Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, GS V. 1, S. 54.)

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sche[s] Pathos«.12 In seinen Gedichten verschmelzen die Frau, der Tod und die Stadt zu einem einzigen Bild, und Benjamin unterstreicht »das Moderne« seiner Poesie. In einer bedrohten Welc stellt sich der Luxus zur Schau. Daher die Zweideutigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Epoche, eine Zw ei­ deutigkeit, die Benjamin um den Begriff der »Dialektik im Stillstand« kristallisiert. Den verschärften Gegensätzen der klassischen Dialektik stellen sich die utopischen Bilder entge­ gen, die nur Träume sind. Die Passagen verkörpern sie, ebenso wie die Prostituierte, die Verkäuferin und Ware in einem ist. Die Gedichte der Fleurs du m al mit ihrem Kult des Todes, der Mode und des Neuen spiegeln die höllische Logik der Ware und ihres falschen Scheins. Das Neue spielt im neunzehnten Jahrhundert die gleiche Rolle wie die Allegorie im Barockthea­ ter. D er M ythos des Gesamtkunstwerks versucht mit seinen weihevollen Initiationsriten die Kunst vor der Technik zu be­ wahren. Baudelaire erliegt dem Zauber Wagners. In diesem Expose von 1935 ist Baudelaire ein Juw el, doch kein Solitär, gefaßt in der Krone der Prfs^gew-Kapitel. H orkheimer schlug Benjamin vor, dieses Kapitel gesondert zu veröf­ fentlichen. Von Brecht in Dänemark beherbergt, arbeitete er das ganze Jahr 1938 über daran. Wie die geplanten Kapitel zeigen (Idee und Bild, Antike und Modernes, das Neue und die Wiederkehr des Gleichen), waren die Themen eng mit der Ptfsstfgen-Untersuchung verbunden. Schließlich erläuterte Benjamin darin erstmals bestimmte Grundkategorien im Z u ­ sammenhang mit der Lektüre von Blanquis trostloser Phantasmagorie U Etem ite par les astres, die seinen Zweifel am ge­ schichtlichen Fortschritt bestärkte. Den Briefen Benjamins an Horkheimer zufolge sollte das Werk drei Teile umfassen: Der erste sollte »Baudelaire als Allegoriker« beschreiben, der dritte die Ware als »poetischefn] Gegenstand« analysieren. Was den 12 (Ebd.)

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zweiten Teil angeht, der als einziger ausgearbeitet wurde, so sollte er - in »Antithesis« zum ersten - »die gescllschaftskritische Interpretation des Dichters« unternehmen.13 Diese Studie unter dem Titel »Das Paris des Second Em pire bei Baudelaire« setzt sich aus drei Kapiteln zusammen, die der Boheme, dem Flaneur und der Moderne gewidmet sind. Darin behauptet Benjamin eine tiefe Verwandtschaft zwischen der Boheme zur Zeit Baudelaires und den Verschwörern; cs geht ihm darum, einen bestimmten, dem Zweiten Kaiserreich eigentümlichen politischen Stil herauszuarbeiten, der - sprunghaft, apodik­ tisch, widersprüchlich - die politische Haltung Napoleons III. ebensosehr charakterisiert wie die ästhetischen Urteile Baudclaires. Wie Flaubert ist er ein Aufrührer, kein Revolutionär. Von daher rührt die Magie, die sich bei ihm mit den Pflaster­ steinen und den Barrikaden verbindet. Ü ber diesen Gedichten schwebt eine Gestalt, die Blanquis, dessen K o p f Baudelaire ge­ zeichnet hat. Beide ähneln sich: dem »Rätselkram der Allegorie beim einen« entspricht »die Geheimniskrämerei des Ver­ schwörers beim anderen«.14 Eine sozial aufschlußreiche Figur bei Baudelaire ist der Lumpensammler. Als extreme Gestalt des Elends einer Epoche steht er dem Dichter wie dem Ver­ schwörer nahe. E r wird bei Benjamin zu einem Sammler dia­ lektischer Bilder, eine Figur im Morgengrauen des Revolu­ tionstages, die er in seinem Essay über Siegfried Kracauer beschwor. In seinen Kommentaren zu Baudelaires Gedichten über den Wein sieht er darin »Träume von künftiger Rache und künftiger Herrlichkeit«15 zum Ausdruck gebracht. Und in Sa­ tans »luziferischefm] Strahlenkranz« entdeckt er erneut »das finstere Haupt Blanquis«.16 Baudelaire, der Dichter der Ent­ erbten? Benjamin betont die tiefgreifende Veränderung der 13 14 15 16

(Brief an Horkheimer vom 28. September 1938, GB VI, S. 162E) (»Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, GS 1.2, S. 519.) (Ebd., S. j2o.> [Ebd., S. J24.]

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Lage des Schriftstellers zu dieser Zeit. Mit der Entwicklung der Presse beginnt er auf die Geräusche der Stadt zu horchen. Doch Baudelaire hat an diesem Reichtum nicht teil. Es ist das Straßenmädchen, das ihm sein Bild zurückspiegelt. Die Analyse des Flaneurs, die mit dem Thema der Passagen enger verbunden ist, beschwört das Vergnügen, das die Epoche an »Physiognomien« und an den Panoramen Daguerres hatte. Aus dem politischen Leben verdrängt, nimmt der Karikaturist Zuflucht zur satirischen Skizze der Gesellschaft. Die Beschrei­ bung, die er - wie Daumier - von ihr liefert, erinnert an das Verfahren des Flaneurs. Die Leidenschaft Baudelaires für Pa­ ris, für die Großstadt, ist untrennbar vom Bau der Bürgersteige durch Haussmann und die Entstehung der Passagen. Die Stra­ ße wird zum Innenraum. Der Mensch verliert sich in der Men­ ge, und Benjamin verbindet sehr geistreich mit diesem Thema die Geburt des Detektivromans und Baudelaires Leidenschaft für Edgar Allan Poe. Die Menge ist der Zufluchtsort des K ri­ minellen ebenso wie der flüchtigen Liebe des Dichters, die das Sonett »A une passante« heraufbeschwört.17 Bei Prostituierten und vor Schaufenstern fühlt Baudelaire sich zu Hause. Das der Moderne gewidmete Kapitel beschäftigt sich genau­ er mit dem Baudeiaireschen Verständnis des Künstlers. Künst­ lerische Schöpfung ist eine heroische Tat, und Baudelaire ver­ gleicht sich selbst mit einem Fechter. Seine Leidenschaft der Beobachtung scheint ihn vom Flaneur und seiner Zerstreuung zu entfernen. Die Straße war für ihn weniger Vergnügen als Refugium, als seine bürgerliche Existenz zusammenbrach. Baudelaire, dem man eine gewisse Unbildung vorgeworfen hat, hatte weder Wohnung noch Bibliothek. Während der Fla­ neur gierig nach Neuem, gebannt von der Mode ist, beschränkt sich der Autor der Fleurs du mal oft darauf, mit verstohlenem Blick den »alten Frauen« zu folgen, wie sie den Blechkapellen 17 [ln Benjamins Übersetzung: »Einer Dame«, GS IV.i, S.41.]

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in öffentlichen Parks lauschen.18 D er Tristesse und Arm ut sei­ nes Lebens entspricht die Suche nach emblematischen Figuren: dem Gesetzlosen, dem Apachen, dem Lumpensammler, der, Abfälle sammelnd, sich aus dem Elend zu ziehen versucht. Sein Bild der Moderne - als triumphale und vergängliche Epoche - ist dennoch von ungewöhnlicher Zweideutigkeit, denn wenige Menschen waren so fasziniert von der Antike wie Baudelaire. Dieses Paris, das von den Haussmannschen A rbei­ ten aufgewühlt wird, stellt er sich bereits als Ruine vor. Und während er die Moderne feiert, träumt er davon, daß man sie eines Tages als vergangene Epoche ansehen kann, wenn sie denn überhaupt wert ist, in die Geschichte einzugehen. Benja­ min bedauert, daß die Ansichten Baudelaires über die moderne Kunst gleichwohl nicht auf der H öhe seiner Konzeption der Moderne sind. Vielen seiner Gedichte geht cs weniger darum, das Moderne zu feiern, als den flüchtigen Charakter der Dinge, ihre Gebrechlichkeit, die fehlende Zukunftshoffnung und den Schmerz. Zwischen zwei widersprüchlichen Welten schau­ kelnd wie die Schiffe, deren Bild er heraufbeschwört, macht er den Dandy zum Helden der Dekadenz. Doch wie der Apache und die Prostituierte sind das Masken, mit denen er spielt. Sein alchimistischer Stil mit seiner ungeheuren allegorischen Kraft, der das Triviale mit dem Poetischen verbindet, vermochte es, dem Tod und dem Bösen ebenso wie der Reue und der Erinne­ rung eine greifbare Gestalt zu geben. In seiner Antwort vom 2. August 1935 auf die Zusendung des Passagen-Exposes sparte Adorno nicht mit Kritik und nahm Benjamins Konzeption des dialektischen Bildes, der Phantasmagorie, unter die Lupe. E r w arf ihm vor, den Waren­ fetischismus, wie er sich hinter dem Baudeiaireschen Kult der Neuheit und der Moderne abzeichnet, nicht als soziale Tatsa-

j 8 [In Benjamins Übersetzung: »Alte Frauen«, ebd., S. 33-39.]

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che, sondern als Bewußtseinsinhalt zu fassen.19 Nicht weniger heftig w ar seine Kritik, als ihm Benjamin 1938 das BaudelaireKapitel zukommen ließ. E r sah in Benjamins methodischem Ansatz mehr eine Stoffsammlung als eine Theorie, weniger ein Modell der Passagen als ein Präludium, und w arf Benjamin ve­ hement vor, Motive und Materialien versammelt zu haben, ohne sie miteinander dialektisch zu vermitteln. Bei seinem kri­ tischen Durchgang durch die drei Teile des Essays beklagte er das Fehlen hegelscher Vermittlungen, prangerte Benjamins Tendenz an, »die pragmatischen Inhalte [...] unmittelbar auf benachbarte Züge der Sozialgeschichte [...] zu beziehen«20, vor allem aber, daß er sich selbst Gewalt angetan habe, indem er seine persönlichsten Einsichten in ein ziemlich orthodoxes marxistisches Schema gepreßt habe, gegen das sich die eigene Hand zu sträuben scheine. D er Ton von Adornos Kritik an dem Baudelaire-Essay hat etwas Ärgerliches, denn es ist klar, daß er von seiner eigenen Methode, seiner eigenen Wahrneh­ mungsweise her über ihn urteilt, während es gerade die A u f­ merksamkeit für die Details ist - das, was Bloch »mikrologi­ sche Lektüre« genannt hat - , die Benjamin davor bewahrt, eine trübselige Soziologie des Zweiten Kaiserreichs zu schreiben. Getragen wird die Adornosche Kritik von einer Erörterung des Begriffs des dialektischen Bildes. E r wirft Benjamin vor, diesen Begriff im Verhältnis zum Traum nicht hinreichend theoretisch und soziologisch fundiert zu haben und aus der Realität des »Warenfetischismus« einen bloßen »Bewußtseins­ inhalt« zu machen. Der Rückschluß von bestimmten Baude­ laire-Gedichten - wie »Die Seele des Weins« - auf die berühm­ te Weinsteuer und die Barrikaden erscheint ihm künstlich, der Auftritt des Lumpensammlers zu romantisch. Benjamin hätte, so Adorno, zeigen müssen, daß dessen Funktion darin besteht, 19 [Brief Adornos an Benjamin vom 2. August 193 j, in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1 9 2 8 - 1 9 4 0 , S. 139.] 20 (Brief Adornos an Benjamin vom 10. November 1938, ebd., S. 367.)

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»noch den Bettel dem Tauschwert zu unterwerfen«.21 Daher weigerte er sich, den Text über Baudelaire in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. In seiner A ntw ort vom 9. Dezember 1938 erkannte Benjamin die Berechtigung der Adornoschen Kritik in einigen Punkten an, versuchte aber sein methodisches Vorgehen zu verteidigen. Mit gutem Grund hielt er eine unmit­ telbare Korrektur für ausgeschlossen.22 Prüft man die Kritiken Adornos aufmerksam im Lichte all des für die Passagen gesam­ melten Materials, so ist klar, daß er die Benjaminschcn K o n ­ zepte in seiner kritischen Zusammenfassung simplifiziert. Der Vorwurf mangelnder dialektischer Vermittlung ist jedoch nicht unbegründet. Benjamin hat eine beträchtliche Anzahl von Werken über Baudelaire und das Paris des Zweiten Kaiser­ reichs gelesen, denen er die Einzelheiten entnahm, die ihm am bedeutsamsten schienen, weil sich in ihnen ein bestimmter Lebensstil auskristallisiert. In dieser Oszillation zwischen den Gedichten Baudelaires und dem Paris seiner Epoche liegt der Reichtum von Benjamins Vorgehen. E r möchte Baudelaire in eine ausgesprochen pessimistische, von der Lektüre Blanquis geprägte Geschichtsphilosophie einbetten und zugleich in den allgemeinen Rahmen des dialektischen Materialismus stellen. D ie abrupten Rückschlüsse, die ihm Adorno kritisch vorhält, sind manchmal berechtigt, manchmal fragwürdig. Adorno hat gewiß unrecht, wenn ihm die Verbindung zwischen dem A u f­ treten des Flaneurs und der Verwandlung der Stadt Paris, ins­ besondere der Schaffung von Bürgersteigen, abwegig scheint. Für Benjamin, der die zeitgenössischen Beschreibungen ge­ lesen hat, handelt es sich um eine unbestreitbare Evidenz. A n ­ dere Deutungen der Gedichte Baudelaires - die Adorno selt­ samerweise nicht anspricht - wecken jedoch nachdenkliche Zweifel, etwa die Verknüpfung zwischen der Faszination, die 21

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Baudelaire in den Fleurs du m al gegenüber Lesbierinnen zeigt, mit dem Auftreten viriler Züge bei der Frau infolge ihrer Ein­ beziehung in den industriellen Produktionsprozeß. Die stän­ dige Bemühung Benjamins, die Baudeiairesche Welt bis ins Detail mit Marx-Zitaten zur politischen Lage Frankreichs in Zusammenhang zu bringen, ist manchmal gar zu fadenschei­ nig. D ie Umarbeitung des Essays, die 1939 in der Zeitschrift fü r Sozialforschung erschien, war das einzige Bruchstück seines ungeheuren Arbeitsprojekts, das ins Licht der Öffentlichkeit gelangte. Alles übrige blieb im Stadium von Notizen und Ent­ würfen, an denen er mit der Energie der Verzweiflung bis zum Beginn des Krieges arbeitete, ehe er sie Georges Bataille anver­ traute. Welchen Platz hätte Baudelaire in dem Werk über die Passagen endgültig eingenommen ? Man kann versuchen, sich eine Vorstellung davon zu machen, wenn man die Konvolute von Aufzeichnungen und Plänen studiert, die Benjamin hin­ terließ. Sein Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« (1939) beschäftigt sich spezieller mit den Fleurs du maly mit einer bestimmten Erfahrungsweise, die am Ausgangspunkt seiner Dichtung steht. Dabei liefert Benjamin bemerkenswerte A na­ lysen der Beziehungen zwischen der allegorischen Kraft der Baudeiaireschen Motive, der unwillkürlichen Erinnerung bei Proust und der gelebten Erfahrung bei Bergson. Die Menge, der Spleen, das spiegelnde Auge werden darin Gegenstand neuer Überlegungen. Und die Fragmente des »Zentralparks« lassen die Konzeption der Allegorie schärfer hervortreten.

Wie die Lektüre der Passagen zeigt, gibt es praktisch kein Notizenkonvolut, in dem nicht Fragmente von BaudelaireTexten erschienen. Ausgehend von Baudelaires Essay über die romantische Kunst, von seinem Briefwechsel und von seinen Gedichten evoziert Benjamin die künstlerischen Strömungen des Zweiten Kaiserreichs, den Stil der Schaufenster, den Luxus der Passagen ebenso wie die Figuren, die sie besuchen, Dandys,

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Flaneure oder Prostituierte. So wie Benjamin hinter Baudelaire die schmerzvoll verzerrten Züge Blanquis und das Bild seiner einander verschlingenden Sterne erahnt, schwebt über der gan­ zen Passagen-Architektur die Gestalt Baudelaires mit ihrer kraftlosen Revolte, ihrer Traurigkeit, ihrem kindlichen Erstau­ nen vor der Stadt und der Angst vor deren Veränderungen. Was tut es, daß Baudelaire darüber eigentlich nie gesprochen hat. In der Form seiner Gedichte, so Benjamin, schreitet der Leser voran wie in einer von Schaufenstern gesäumten Galerie. E r träumt in ihnen. Und immer sind es die Augen Baudelaires, mit denen er sie betrachtet, mit denen er den Bewegungen der Menge folgt, die Warenhäuser besucht, als wäre dieser unver­ geßliche, verstörende Blick, den N adar unsterblich gemacht hat, das pulsierende Herz seiner Epoche, ihre äußerste A llego­ rie. III Was den Baudelaire-Essay eng mit dem Passagen-Werk verbin­ det, ist nicht nur die Mythologie der Moderne des Zweiten Kaiserreichs, sondern ein begriffliches Universum von seltener Reichhaltigkeit, das sich um die Begriffe des dialektischen B il­ des und der Dialektik im Stillstand anordnet. Die Philosophie der Passagen und ihr Analyseverfahren ver­ weisen wie alle Benjaminschen Essays auf eine äußerst strenge Erkenntnistheorie. Im Falle der Passagen ist diese von den Be­ griffen des Bildes, des Traumes, der Schwelle, des Erwachens und Wiedererwachens nicht zu trennen. Sie läßt sich in einer einzigen Frage zusammenfassen: Unter welcher Bedingung ist es möglich, die geschichtliche Erfahrung zu entziffern ? Die enge Verbindung zwischen Bild, Traum und Moderne hat Benjamin dem Surrealismus entliehen. E r hat sich für die Schriften Bretons und Aragons begeistert, für ihre Fähigkeit, die Stadt zu verrätseln, die revolutionären Energien des Veral­

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teten emporzuholen. Die Einbahnstraße mit ihren Montagen von Schildern, Schriftzügen, dieser philosophische Basar, wie Ernst Bloch ihn nannte, lieferte dafür eine verblüffende A n ­ schauung. Was sich dort aus Details entziffern ließ, war nicht weniger als die gesamte Geschichte. In seiner Habilitations­ arbeit über das Barockdrama zeigte Benjamin ein feines G e­ spür für die Struktur des barocken Bildes und dessen allegori­ sche Verwendung. Die Berliner Kindheit mit ihrem Sinn für architektonische Details, für unbedeutende Ereignisse, die das Leben des Kindes prägten, ließ unter der vermeintlichen Si­ cherheit des Wilhelminischen Zeitalters bereits Risse sichtbar werden, Ankündigung eines Bebens, das diese Welt in den A b ­ grund stürzte. Das Kind, an der Schwelle der bürgerlichen Klasse, träumt noch. Es ist empfänglich für Zeichen. Benjamin greift das Verfahren der Suche nach der verlorenen Zeit auf und läßt in die Proustschen Erfahrungen seine eigenen einfließen. Doch in die Proustsche Begegnung mit sich selbst im Bild der Vergangenheit führt er eine andere zeitliche Dimension ein. In all diesen Zeichen, die das Kind registriert hat, ohne sie zu ver­ stehen, in diesen Bildern entdeckt der Erwachsene, der proletarisierte Intellektuelle, Vorzeichen des Unglücks oder, genauer, Glücksversprechen, die das Leben nicht eingelöst hat. Die Stadt und die Moderne sind der Speicher dialektischer Bilder. Es sind Bilder, in denen sich Altes und Neues durch­ dringt, in denen die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Pro­ dukts verklärt wird. Es sind Bilder, in denen jede Generation die nächste träumt, die die kollektiven Erfahrungen einer Epo­ che fortführen. Und genau diese Bilder sind es, die Benjamin in den Passagen entziffert. In diesem architektonischen Symbol, diesem Sarg aus Glas und Stahl, in den das moderne Licht des Ungewöhnlichen fällt, findet er weniger die Überreste einer Epoche als seine totgeborenen Träume, die an der infernali­ schen Logik der Ware zerbrachen - einer Logik, die er aus der Phantasmagorie Blanquis und der ewigen Wiederkehr N ietz­

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sches entziffert. Daher zerfällt das surrealistische M otiv der Verzauberung in zwei Kategorien: die des Traums und die des Erwachens. An diesem entscheidenden Punkt ist die Kritik Adornos treffend, wenn er Benjamin vorw irft, ein kollektives gesell­ schaftliches Produkt als Bild und als Traum ins Bewußtsein zu übertragen. Z w ar hat Benjamin nie behauptet, der Warenfeti­ schismus sei nichts Reales. Doch er entziffert die Ware von der Phantasmagorie aus, die sie hervorruft. D ie Phantasmagorie ist selbst ein Bild des Universums im kleinen. Weit davon ent­ fernt, das Detail der dialektischen Theorie zu subsumieren, sieht er in ihm eine Kristallisation, eine Konstellation, in der sich die Gesellschaft als ganze enthüllt. Daher die Bedeutung, die er in den Passagen noch den kleinsten Einzelheiten aus die­ sem Paris des Zweiten Kaiserreichs zuspricht, handele es sich um Schaufenster, Reklame oder Schilder. D er Flaneur wird zum Lumpensammler, zum Sammler dialektischer Bilder, der Abfälle [ rebuts] in Rätsel [rebus] verwandelt. In dieser Fähig­ keit, das gesellschaftliche Universum in jedem seiner Bilder zu entziffern, so wie die Ruine in ihrer Gesamtheit das Wesen der barocken Allegorie offenbart, liegt die ganze Originalität sei­ ner Methode. Denn in der theologischen Perspektive, die sein Vorgehen lenkt, darf kein Bild und keine Erfahrung, in denen sich ein messianischer Splitter festgesetzt hat, vergessen w er­ den. Sie verlangen vielmehr, gerettet zu werden. Ebendies lehrt uns seine letzte These »Über den Begriff der Geschichte«, ge­ schrieben 1940, kurz vor seinem Selbstmord23:

Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren. Aber kein Tatbestand ist als Ursache ebendarum bereits ein 23 (Das Vortragsmanuskript endet hier. Wir ergänzen im folgenden die letzten beiden Thesen »Über den Begriff der Geschichte« (GS 1.2, S. 704) ge­ mäß dem Separatdruck des Vortrags in: TLE. Theorie - Litterature - Enseignement, Saint Denis: Presscs Univcrsitaircs de Vinccnncs, Nr. 8,1990.)

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historischer. E r ward das, posthum, durch Begebenheiten, die durch Jahrtausende von ihm getrennt sein mögen. Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz. E r erfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der »Jetztzeit«, in welche Splitter der messianischen eingesprengt sind. Sicher wurde die Zeit von den Wahrsagern, die ihr abfragten, was sie in ihrem Schoße birgt, weder als homogen noch als leer erfahren. Wer sich das vor Augen hält, kommt vielleicht zu einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene Zeit erfahren worden ist: nämlich ebenso. Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Tho­ ra und das Gebet unterweisen sic dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.

Literatur

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Literatur i. Schriften Walter Benjamins Gesamtausgaben Benjamin, Walter, Schriften, hg. von Theodor W. Adorno und Gretcl Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Bdc. 1-2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1955. - , Gesammelte Schriften (GS), unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gcrshom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bdc. I-VII und Suppl.-Bde. I-II1, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 19 72-198 9 . -, W erke u n d Nachlaß. Kritische Gesam tausgabe (KG), im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hg. von Christoph G öddc und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 ff. Briefe Benjamin, Walter, Briefe, Bde. I-II, hg. und mit Anmerkungen versehen von Gcrshom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966. - , Gesammelte Briefe (G B ), hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Bde. IVI, Frankfurt am Main: Suhrkamp 199J-2000. - und Gcrshom Scholem, Briefwechsel 19 33-19 4 0 , hg. von Gcrshom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. - , Briefe an Siegfried Kracauer. Mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv (Marbachcr Schriften 27), Marbach am Neckar 1987. - und Jean Selz, »Carteggio W. Benjamin e J. Selz (19 32-19 34 )«, hg. von Giorgio Agamben, in: aut aut, Mailand, Jg . 1982, Nr. 189/190, M ai-A u gust. - und Jean Ballard, »Corrcspondance ineditc avcc Jean Ballard, 19341940«, in: Les Cam ps en Provence. E xil, intem em ent, deportation 1 9 3 3 19 4 4 . Sondernummer der Zeitschrift E x , hg. von Jacques Grandjonc, Aix-en-Provence: Alinea 1984. Adorno, Theodor W., und Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Adorno, Grctel, und Walter Benjamin, Briefwechsel 1930-1940, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Arendt, Hannah, und Walter Benjamin, »Briefwechsel 1936-1940«, in: Detlev Schöttkcr und Erdmut Wizisla (Hg.), A ren d t u nd Benjamin.

1300

Anhang

Texte, B riefe, D o k u m en te, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 1 2 1 -

14 1. E in zelbä n de

Benjamin, Walter, D er B egriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Bern: Francke 1920; GS I.i, S .7 - 1 2 2 ; KG 3. - , Einbahnstraße, Berlin: Rowohlt 1928; Frankfurt am Main: Suhrkamp 19 55; Faksimile der Erstausgabe: Berlin: Brinkmann & Bose 1983; GS IV.i, S .8 3 -14 8 ; /CG 8. - , Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin: Rowohlt 1928; GS I.i, S . 2 0 3 -4 30 .-Teilvorabdruck in: N e u e Deutsche Beiträge, II. Folge, Heft 3, August 19 27, S .8 9 - 1 10; GS I.i, S .3 1 7 - 3 3 5 . -, Deutsche Menschen. E in e Folge vo n Briefen. Auswahl und Einleitungen von Detlef H olz, Luzern: Vita N o va 1936; Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 1962; Leipzig: Kiepenheucr 1979; GS IV.i, S. 14 9 -2 3 3 ; KG 10. - , B erliner Kindheit um neunzehnhundert, hg. von Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1950; GS IV.i, S. 235-30 4 ; Fassung letzter Hand, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 1987; GS VII.1, S. 38 5-4 33. - , Illum inationen. Ausgew ählte Schriften 1, hg. von Siegfried Unscld, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1961. - , Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, hg. von Siegfried Unscld, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966. Ü b e r Kinder, Ju g e n d u n d E rzieh u n g, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969.

-,

Charles Baudelaire. E in L y rik er im Zeitalter des H ochkapitalism us, hg. von R olf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969; GS 1.2, S. 5 11-6 5 3 .

-, B erliner

C h ro n ik , mit einem Nachwort hg. von Gershom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970; GS VI, S. 4 6 5-519 . Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, hg. von Gerhard Seidel, Leipzig: Philipp Rcclam jun. 1970. - , D rei Hörmodelle, Frankfurt am Main: Suhrkamp 19 7 1. -, D as Paris des Second Em pire bei Baudelaire, Potsdamer Manuskriptfas­ sung, hg. von Rosemarie Heise, Berlin, Weimar: Aufbau 19 7 1. Ü b e r Haschisch. Novellistisches, Berichte, M aterialien, hg. von Tilmann Rexroth, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. - , M oskauer Tagebuch , aus der Handschrift hg. von G ary Smith, mit ei­ nem Vorwort von Gershom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980; GS VI, S. 292-409. -, D a s Passagen-W erk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982; GS V.1-2. - , Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 19 20 -19 40 , hg. von Sebastian Kleinschmidt, Leipzig: Philipp Rcclam jun. 1984.

Literatur

1301

Aufklärung fü r Kinder: Rundfunkvorträge, hg. von Rolf Tiedcmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Sonette, hg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedcmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986; GS VII. 1, S. 27-64. ~ ,D a s Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [»Vierte« Fassung], Kommentar von Detlev Schöttkcr, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; GS 1.2, S .4 71-50 8. Artikel, Essays, Manuskripte, Fragmente - , »Die drei Rcligionssuchcr«, in: D er Anfang. Zeitschrift fü r kommende Kunst und Kultur (hektographiert), Berlin 1910; GS II.3, S. 892-894. - , »Das Dornröschen«, in: D er Anfang. Vereinigte Zeitschriften der J u ­ gend, Jg . 1 9 1 1 , Heft 3, S. 51-54 ; GS II. 1, S .9 -12 . - , »Die Schulreform, eine Kulturbewegung«, in: Student und Schulreform, hg. von der Abteilung für Schulreform der Freien Studentenschaft Frei­ burg i.B., Freiburg i.B.: R. Stcppacher 19 12; GS II.i, S. 12 -16 . - , »Dialog über die Religiosität der Gegenwart« (19 12 ), GS II.x, S. 16-35. - , »Der Moralunterricht«, in: Die Freie Schulgemeinde, hg. von Gustav Wynckcn, Jg. 3, 19 13 , Heft 4; GS II. 1, S.48-54. - , »Die Jugend schwieg«, in: D ie Aktion, Jg. 3 ,1 9 1 3 , Nr. 42; GS II. 1, S.66f. - , »Metaphysik der Jugend« (19 13 ), GS II. 1, S .9 1-10 4 . - , »Unterricht und Wertung«, in: D er Anfang. Zeitschrift der Jugend, Jg. 1, 1 9 1 3 / 1 4 , Heft 1; GS II.i, S .3 5-4 2 . - , »Romantik«, in: D er Anfang. Zeitschrift der Jugend, Jg. 1 ,1 9 1 3 / 1 4 , Heft 2; GS II.i, S .42-47. - , »»Erfahrung««, in: D er Anfang. Zeitschrift der Jugend, Jg. 1, 19 13 /14 , Heft 6; GS II.i, S. 54-56. - , »Gedanken über Gerhart Hauptmanns Festspiel«, in: D er Anfang. Zeit­ schrift der Jugend, Bd. 1, 19 13 /14 , Heft 4; GS II.i, S. 56-60. - , »Studentische Autorenabende«, in: D er Student. Neue Folge der Berli­ ner Freistudentischen Blätter, J g .6 ,1 9 1 3 / 1 4 , N r .9; GS II.i, 6 8 -71. - , »Ziele und Wege der studentisch-pädagogischen Gruppen an reichsdcutschen Universitäten«, in: Student und Pädagogik. Erste studen­ tisch-pädagogische Tagung zu Breslau am 6. und 7. Oktober 1 9 1 3 , Leipzig/Berlin: B .G . Teubner 19 14; GS II.i, S .60-66. - , »Erotische Erziehung«, in: Die Aktion, Jg. 4, 19 14, Nr. 3; GS II.i, S .7 1 f. - , »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin« (19 14 /15 ), GS II.i, S. 10 5-129 . - , »Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie« (19 14 /15 ), in: GS VII. i ,S . 19-26. - , »Die religiöse Stellung der neuen Jugend«, in: D ie Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift fü r deutsche Kultur, Jg. 6 , 1914/x 5, Heft 2; GS II. 1, S. 72-74. »Das Leben der Studenten«, in: Der Neue Merkur, Jg .2 , 19 15 , Heft 6, S. 7 2 7-7 37 ; wieder in: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, hg. von Kurt Hiller, Berlin: Georg Müller 1916, S. 1 4 1 - 15 5 ; GS II.i, S .75-87.

1 302

A n h an g

- , »Das Glück des antiken Menschen« (19 16 ), G S II. 1, S. 12 6 -12 9 . »Sokrates« (19 16 ), GS II.i, S. 12 9 -13 2 . - , »Über das Mittelalter« (19 16 ), G S II. 1, S. 13 2 f. »Trauerspiel und Tragödie« (19 16 ), G S II.1, S. 1 3 3 - 1 3 7 . »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« (19 16 ), GS II.i,S . 137 -14 0 . - , »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (19 16 ), G S II. 1, S. 14 0 -157 . »Malerei und Graphik« (19 17 ), GS II.2, S .6 o 2f. »Über die Malerei oder Zeichen und Mal« (19 17 ), G S II.2, S. 603-607. - , »Bemerkung über Gundolf: Goethe« (19 17 ) , G S I.3, S. 826-828. »Überdas Programm der kommenden Philosophie« ( 1 9 17 / 18 ), GS U .i, S. 1 5 7 - 1 7 1 . »Stifter« (19 17 /18 ), GS II.2, S .608-610. »Wahrnehmung und Leib« (19 18 bis etwa 19 20 /19 2 1), GS VI, S.66 f. (fr

46). - , »Zur Kritik der Gewalt«, in: A rc h iv f ü r Sozialwissenschaft u n d Sozial­ politik 47, 19 20 /21, Heft 3; GS II.i, S. 179 -203. - , »Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt« (19 2 1), GS VI, S. 97 f. ( f r 7 1 ). - , »Kapitalismus als Religion« (bis um Mitte 19 21), GS VI, S. 100-103 (fr

74). - , »Theologisch-politisches Fragment« (19 20 /2 1), GS II. 1, S.203 f. - , »Schicksal und Charakter«, in: D ie A rgon au ten , 1. Folge, 19 2 1, Heft 1012, S. 187-19 6; GS II.i, S. 17 1-1 7 9 . - , »‘Der Idiot< von Dostojewski)« ( 19 17 / 18 ) , in: D ie Argonauten* 1. Folge, 19 2 1, Heft 10 -12, S .2 3 1 - 2 3 J ; GS II.i, S. 2 3 7 -2 4 1. - , Selbstanzeige der Dissertation, in: K an t-Stu dien 2 6 ,1 9 2 1 , S. 2 19 ; GS 1.2, S. 707-708; K G 3, S. 16 0 -16 1. »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus N ovus« (19 22), GS II.i, S. 2 4 1246. - , »Die Aufgabe des Übersetzers«, Vorwort zu: Charles Baudelaire, Tableaux parisiens. Deutsche Übersetzung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin, Heidelberg: Verlag von Richard Weißbach 1923; GS IV. 1, S .9 -2 1. - , »Karl Hobreckcr, A lte vergessene K in derbü cher «, Rezension, in: D as Antiquariats-Blatt, Berlin, N r. 22, Dezember 1924; GS III, S. 12 -14 . - , »Alte Kinderbücher«, in: Illustrierte Zeitung, Leipzig, Bd. 163, 1924, N r .4 1 6 1 ; GS III, S. 14-22. - , »Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: N e u e Deutsche Beiträge, II. Folge, Heft 1, April 1924; Heft 2, Januar 1925; GS I.i, S. 12 3 -2 0 1. - , »Die Waffen von morgen. Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphcnylaminchlorasin und Dichloräthylsulfid«, in: Vossische Zeitung vom 29. Juni 1925, Abendausgabe; GS IV. 1, S.4 73-4 76 .

Literatur

1303

- und Asja Lacis, »Neapel«, in: Frankfurter Zeitung, Jg. 70, Nr. 6 13 vom 19. August 19 2$; GS IV. 1, S. 30 7 -316 . - und Bernhard Reich, »Revue oder Theater«, in: D er Querschnitt, Jg. 5, 19 25, Heft 12; GS IV.2, S . 796-802. »H ugo von Hofmannsthal, D er Turm*, Rezension, in: D ie literarische Welt, Jg . 2, Nr. 15 vom 9. April 1926, GS III, S. 29 -33. - , »Friedensware«, Rezension, in: Die literarische Welt, Jg .2 , Nr. 2 1/2 2 vom 2 1. Mai 1926; GS III, S. 23-28. - , »Pariser Theaterskandalc II«, in: D ie literarische Welt, Jg .2 , N r .23 vom 4. Juni 1926; GS IV. 1, S .4 5 2 L - , »Carl Abrecht Bernouilli, Johann Jacob Bachofen und das Natursym­ bol*, Rezension, in: Die literarische Welt, Jg .2 , N r .37 vom 10. Septem­ ber 1926; GS III, S .4 3-4 5. - , »D er Kaufmann im Dichter«, Rezension, in: D ie literarische Welt, Jg .2 , N r .42 vom 15. Oktober 1926; GS III, S.46-48. - , »Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk* [Rezension], in: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, Jg. 59, Nr. 45 vom 7. Novem ber 1926; GS III, 5. 50 f. - , »Aussicht ins Kinderbuch«, in: D ie literarische Welt, Jg . 2, N r.49 vom 3. Dezember 1926; GS IV.2, S. 609-615. - , »Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller«, in: D ie lite­ rarische Welt, Jg. 3, Nr. 10 vom 11 . M ärz 1927; GS II.2, S. 743-747. »Zur Lage der russischen Filmkunst«, in: Die literarische Welt, Jg. 3, Nr. 10 vom 1 1 . M ärz 1927; GS II.2, S. 7 4 7 -7 5 1. »Erwiderung an Oscar A .H . Schmitz«, in: D ie literarische Welt, Jg. 3, Nr. 10 vom 11 . M ärz 1927; GS II.2, S .7 5 1 -7 5 5 . - , »Verein der Freunde des neuen Rußland - in Frankreich«, in: Die litera­ rische Welt, Jg .3 , Nr. 23 vom 10. Juni 1927; GS IV.2, S.4 8 6 L - , »Neue Dichtung in Rußland«, in: i 10. Internationale Revue, Am ster­ dam, Jg . 1, 19 27, Nr. 7; GS 11.2, S. 7 J 5-762. - , »Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke«, in: D ie literarische Welt, Jg. 3, Nr. 31 vom 5. August 1927; GS II.1, S. 283-29 5. - , »Moskau«, in: Die Kreatur 2 ,19 2 7 , Heft 1; GS IV. 1, S. 316 -34 8 . - , »Tagebuch meiner Loire-Reise« (1927), GS VI, S. 409-413. - , »Ein bedeutender französischer Kritikerin Berlin. Gespräch mit Benja­ min Crcmieux«, in: Die literarische Welt, Jg. 3, N r. 48 vom 2. Dezember 19 27; GS IV. 1, S .4 9 6 L - , »Aus Gottfried Kellers glücklicher Zeit« [Rezension], in: D ie literari­ sche Welt, Jg. 3, N r.4 9 v°n i 9- Dezember 1927; GS III, S. 8 4 f. - , »Gespräch mit Andre Gide«, in: Die literarische Welt, Jg .4 , N r. 7 vom 17. Februar 1928; GS IV. 1, S. 502-509. - , »Altes Spielzeug«, in: Frankfurter Zeitung, Jg . 72, Nr. 2 1 7 vom 2 1. März 1928; G 5 IV .i,S . 5 1 1 - 5 1 5 .

1304

An h an g

- , »Karl Kraus liest Offenbach«, in: D ie literarische Welt, Jg. 4, Nr. 16 vom 20. April 1928; GS IV. 1, S. 5 1 5 -5 1 7 . »Kulturgeschichte des Spielzeugs«, in: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, J g .6 1, N r .20 vom 13. Mai 1928; GS III, S. 1 1 3 - 1 1 7 . - , »Notizen von der Reise nach Frankfurt 30. Mai 1928«, GS ¥ 1 ,8 .4 1 3 - 4 1 5 . - , »Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung«, in: D ie literari­ sche Welt,Jg .4 , N r .2 7 vom 6 .Juli 1928; GS IV.2, S . 6 1 5-619. -»»Spielzeug und Spielen«, in: Die literarische Welt, Jg .4 , N r .2 7 vom 6. Juli 1928; GS III, S. 1 2 7 -13 2 . - , »Über Stefan George«, Antwort auf eine Rundfrage, in: D ie literarische Welt, Jg .4 , N r.28 vom 1 3 . Juli 1928; GS II.2, S.622-624. -.»W eim ar«, in: Neue Schweizer Rundschau, J g . 2 1, Heft 10, Oktober 1928; GS IV. 1, S .3 5 3 -3 5 5 . - , »Goethe«, Artikel für die Große Sowjetenzyklopädie (1928), GS II.2,

S-705-739- , »Feuergeiz-Saga«, Rezension, in: D ie literarische Welt, Jg .4 , N r .46, 16. November 1928; GS III, S. 14 4 -14 8 . - , »Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre«, Rezension, in: D ie litera­ rische W