Existentielle Grenzerfahrungen: Tabubruch als Strategie in der zeitgenössischen Kunst 9783839448106

In der heutigen, von Tabubrüchen scheinbar freien Welt konfrontieren Künstler_innen wie ORLAN, Hannah Wilke und Gregor S

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Existentielle Grenzerfahrungen: Tabubruch als Strategie in der zeitgenössischen Kunst
 9783839448106

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
II. Tabu und Tabubruch
II.1 Das Tabu: Eine Definition
II.2 Der Tabubruch: Das Tabu und seine Übertretung
II.3 Tabubruch als Strategie
III. Existentielle Grenzerfahrungen: Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst
III.1 Das Ideal: Der unversehrte Körper
III.2 ORLAN – Der abjekte Körper
III.3 Hannah Wilke – Krankheit und Verfall: Der versehrte Körper
III.4 Gregor Schneider – Der pathologisierte Tod
IV. Die Grenzen des Ich: Begegnungen und Überschreitungen in der zeitgenössischen Kunst
IV.1 Vom Umgang mit der eigenen Existenz
IV.2 Transgression – Die Grenze überschreiten
V. Transgression in der Kunst. Eine Apologie
V.1 Was ist Kunst?
V.2 Contre l’art pour l’art: Kunst und ihre Funktion
V.3 Zur Relevanz von Kunst und ihrer Transgression
VI. Resümee
Dokumentenanhang
Literaturverzeichnis

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Barbara Oettl Existentielle Grenzerfahrungen

Image  | Band 161

Meiner Mutter, Ursula Barbara Oettl Ein anarchisches Gesellschaftssystem ist dem Untergang geweiht. Jedoch ist die Anarchie auch Kern jeder Gesellschaft und treibt diese an. Wenn ich wählen dürfte, wäre ich gerne Teil der Anarchie. Meine Mutter fände dies ganz grässlich. Gott sieht die Wahrheit, aber er wartet. (Leo Tolstoi) Ich danke dem geduldsamen und eigentlichen Keim meiner Familie: Helmut und Elisabeth

Barbara Oettl (PD Dr. habil.) lehrt an der Universität Regensburg, der Kunstakademie Düsseldorf und am Cologne Institute of Conservation Sciences der Technischen Hochschule zu Köln. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, der amerikanischen und italienischen Linguistik und Literatur sowie Kunst an den Universitäten Regensburg und Urbana-Champaign, Illinois, USA, promovierte sie an der University of Jyväskylä, Finnland. Nebst ihrer Forschung zur Farbfeldmalerei und farbtheoretischen Überlegungen arbeitet sie zur Geschichte der Fotografie, Kunst und Gender, Body Art, Materialerweiterungen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, Land Art, Kunst im öffentlichen Raum, Transgressionen in der Kunst, Ästhetik und Kunst-Ethik, Neue Medien, digitale Kunst, BioArt und Robotic Art.

Barbara Oettl

Existentielle Grenzerfahrungen Tabubruch als Strategie in der zeitgenössischen Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Helmut Hetzer und Barbara Oettl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4810-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4810-6 https://doi.org/10.14361/9783839448106 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I. Einleitung ..................................................................................................9 Der gedankliche Rahmen ......................................................................................... 9 Vorgehen und Zielsetzung ....................................................................................... 16 Zur Erweiterung des Kunstkanons: Ein Situationsbericht zum zeitgenössischen Kunstschaffen................................. 20 II. Tabu und Tabubruch ................................................................................... 27 Please Do Touch – Museum ohne Grenzen .................................................................. 29 II.1 Das Tabu: Eine Definition .......................................................................................... 35 Was ist ein Tabu? ................................................................................................. 35 Was ist tabu? .......................................................................................................37 Wozu brauchen wir Tabus?......................................................................................42 II.2 Der Tabubruch: Das Tabu und seine Übertretung........................................................... 43 II.3 Tabubruch als Strategie........................................................................................... 46 II.3.1 Der Tabubruch im historischen Kontext ............................................................. 48 Der geöffnete Körper: Auf der Suche nach dem Leben ................................................. 48 Die Überwindung des Todes im Christentum .............................................................. 52 Sexualität, Ekstase und der christliche Glaube ........................................................... 56 Die verkehrte und groteske Welt des Karnevals .......................................................... 59 II.3.2 Tabubruch als Strategie in der modernen Gesellschaft ......................................... 63 Das Drama des grotesken Körpers, oder: Das groteske Drama um den Körper .................. 66 Der ungezähmte Tod .............................................................................................. 74 Vom Leben suspendiert: Über die Unsterblichkeit der Toten........................................... 79 III. Existentielle Grenzerfahrungen: Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst... 89 III.1 Das Ideal: Der unversehrte Körper ............................................................................. 98 Das Schöne und der organlose Körper ..................................................................... 102 Ästhetik und Anästhetik ....................................................................................... 106 Das Sublime....................................................................................................... 109 III.2 ORLAN – Der abjekte Körper ...................................................................................... 111 Der Ekel vor dem Abjekten ..................................................................................... 113

ORLANs Körper: Die Künstlerin als Material............................................................... 120 Das Abjekte im Werk von ORLAN: Ein Spagat zwischen Medizin, Religion und ästhetischem Wohlgefallen ......................................................................... 131 III.3 Hannah Wilke – Krankheit und Verfall: Der versehrte Körper .......................................... 155 Formlosigkeiten: Alterung, Krankheit und Verfall ....................................................... 156 Der (un-)versehrte Körper im Werk von Hannah Wilke ................................................. 164 Eine Frage des Begreifens: Abbild und Performanz der Erkrankung ............................... 168 III.4 Gregor Schneider – Der pathologisierte Tod................................................................ 189 Vom Tod, den Toten und warum wir den Tod brauchen ................................................. 191 Totes Haus, Toter Raum, Sterbezimmer: Der Tod im Werk von Gregor Schneider ................. 197 Der Tod zu Gast im eigenen Heim ........................................................................... 203 IV. Die Grenzen des Ich: Begegnungen und Überschreitungen in der zeitgenössischen Kunst. 221 IV.1 Vom Umgang mit der eigenen Existenz ...................................................................... 223 IV.1.1 Der Voyeur im Betrachter: Über die Selbstwahrnehmung des Ich ............................ 226 Voyeurismus: Die Fremdschau ............................................................................... 227 Voyeurismus: Die Selbstschau ................................................................................231 IV.1.2 Zu einer kathartischen Funktion von grenzüberschreitender Kunst ........................ 238 Empathie: Katharsis als Seelentherapie ................................................................... 239 Spiegelneurone: Das auslösende Moment ................................................................. 243 Affekt: Katharsis durch Transgression..................................................................... 247 IV.2 Transgression – Die Grenze überschreiten.................................................................. 252 IV.2.1 Die Verwundbarkeit menschlicher Identität....................................................... 256 Die Identität und sein Selbst .................................................................................. 256 Transgression: Der Schnitt ins Gehirn...................................................................... 266 Das Selbst jenseits seines Selbst ............................................................................ 279 IV.2.2 Bio Art: Zu einem Leben nach dem Tod und jenseits des Selbst ............................. 286 Die Kunst einer unnatürlichen Auswahl: Bio Art und die Vorboten .................................. 288 Die posthumane Ära: Das Künstler-Genom im Zeitalter seiner technische Reproduzierbarkeit .................................................................................. 296 Gregor Schneider: Die Konservierung von Körper und Geist.......................................... 300 ORLAN: Die Konservierung des Leibes ..................................................................... 304 Am Ende der Zukunft: Eine Ära des Massenindividuums ...............................................314 V. Transgression in der Kunst. Eine Apologie ........................................................ 325 V.1 Was ist Kunst? ....................................................................................................... 326 V.2 Contre l’art pour l’art: Kunst und ihre Funktion .............................................................. 332 V.3 Zur Relevanz von Kunst und ihrer Transgression .......................................................... 337 Zur Relevanz von Kunst ........................................................................................ 338 Zur Relevanz von Transgressionen in der Kunst ......................................................... 342 V I. Resümee ............................................................................................... 351 Dokumentenanhang ......................................................................................357 I. ORLAN, La Réincarnation de Sainte ORLAN, 1990-93. Eine Chronologie ................................. 357

II. ORLAN, »Carnal Art Manifesto« (1989) ......................................................................... 364 III. ORLAN, »Intervention« (1995) ................................................................................... 365 IV. Michel Serres, Troubadour des Wissens. Versuch über das Wissen (Le Tiers-Instruit, 1991) [Auszug: Laizismus] .............................................................................................. 374 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 379 I. Allgemeine Literatur.................................................................................................. 379 II. Ausstellungskataloge ............................................................................................... 398 III. Artikel aus Zeitschriften, Zeitungen und Sammelwerken, Videomaterial ............................. 402 IV. Internetauftritte..................................................................................................... 407

I. Einleitung

Der gedankliche Rahmen Existentielle Grenzerfahrungen gelten als Allgemeinwissen. Sich lebensbedrohliche Szenarien auszumalen, die unseren Leib und unser Leben erheblich beeinträchtigen könnten, zumindest aber solcherlei im Einzelnen aufzuzählen, dürfte nicht allzu schwerfallen. Existentielle Grenzerfahrungen sind daher gleichzeitig auch Allgemeinplätze, die nur in theoretischer Hinsicht durchspielbar oder als Bewältigung traumatischer Erfahrungen der Überlebenden vorstellbar sind. Existentielle Grenzerfahrungen bewusst herbeizuführen, dies wollen die wenigsten unter uns. Und dennoch suchen manche den Kick einer physischen wie psychischen Ausnahmesituation, um dem Dasein umso intensiver nachzuspüren, dessen Belastbarkeit zu erproben und das nachfolgend wiedereinsetzende Lebensgefühl zu schärfen. Ein binärer, zwiespältiger Konflikt also. Um diesem Zwiespalt auf eine empfindsame Weise zu begegnen und um Grenzsituationen als läuternden oder befreienden Erfahrungswert verbuchen zu können, bedarf es eines geschützten Umfeldes, das per se nicht von existentiellen Ängsten besetzt ist. Der museale Raum etwa: Ein Ort, an dem Grenzerfahrungen gefahrlos stattfinden können; ein Raum der Entgrenzung, die eine vorübergehende ist; ein Bereich, in dem es möglich ist, Tabus in Form von Kunstwerken wissentlich zu brechen. Voraussetzung für dieses gedankliche Bindeglied zwischen Grenzerfahrung und Tabubruch ist die Tatsache, dass zwischen beiden ein kausaler Zusammenhang besteht: der existentiellen Grenzerfahrung geht zwingend ein Tabubruch voraus. Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht: denn nicht jedem Tabubruch folgt eine existentielle Grenzerfahrung. Indem nun Tabubrüche als strategisches Mittel in einem künstlerischen Umfeld zum Einsatz kommen, kann es Künstlern gelingen, den Betrachter mehr oder weniger nahe an Grenzsituationen heranzuführen, diese nachvollziehbar oder im besten Sinne denkbar und erlebbar zu machen. Tabubrüche fungieren dabei als mahnende und grenzdefinierende Fingerzeige in sehr unterschiedlichen Sektoren, etwa in philosophischen, ethischen und moralischen Fragen, in Religion, Politik und Geschichte, ganz allgemein in den Geisteswissenschaften, des Weiteren in der Psychologie, den Sozialwissenschaften, der Medizin und der Genforschung. Diesen Themenfeldern gemein ist,

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Existentielle Grenzerfahrungen

dass sie im Rahmen der hier vorliegenden Schrift und den darin ausgewählten Fallbeispielen in Form der bildenden Kunst von ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider zum Ausdruck gebracht werden. Über existentielle Grenzerfahrungen in der Kunstszene zu schreiben, bedeutet seit nunmehr geraumer Zeit auch, sich eines inflationär gehandelten Themas anzunehmen. Der allumfassende Begriff einer Kunstszene wird dabei in diesem Zusammenhang mit dem Bewusstsein genutzt, dass es sich mit dem ebenfalls gehäuft genannten Vokabular von Skandalkunst, Transgressionen in der Kunst oder tabubrechenden künstlerischen Auseinandersetzungen nicht mehr alleine um das Kunstschaffen dreht, sondern um einen komplexen Prozess, der sowohl das künstlerische Tun, jedoch vor allem die Rezeption dieses Tuns belangt, anders ausgedrückt, ein Geben und Nehmen involviert. Die an diesem Prozess Beteiligten sind zwar in der Tat nicht zuletzt die Künstler (Geber), die ein Ausgangsszenario in Form von tabubrechenden Artefakten schaffen. Jedoch entsteht der eigentliche Skandal erst durch die darauffolgenden Reaktionen (Nehmer). Auch hierbei gilt der anfänglich intime Austausch zwischen Kunstwerk und dem Rezipienten keinesfalls als das wichtigste Kriterium in Form eines emotiv anrührenden Zwiegespräches. In dieser Chronologie stehen der Künstler und der sich an den künstlerischen Akt anschließende Erfahrungsprozess durch einen Betrachter nämlich zwar am Beginn einer Aufeinanderfolge von Relationen, die sich aber im Verlaufe einer Auseinandersetzung alleine unter dem Schlagwort »Skandalkunst« als zweitrangig entpuppt. Wer Skandalkunst als solche ausruft, der will ganz bewusst Unbill erzeugen. Dies gilt wiederum sowohl für den Künstler, als auch für das sich am anschließenden Rezeptionsprozess und der Verortung des Werkes beteiligende Personal. Genauer: Galerien und Museen, Kunstkritiker, Kunstsammler, Kunsthistoriker und die Presse. Ziel dieses Marktes der Künste ist es, in erster Linie viel Aufsehen zu erzeugen und damit einhergehend in hohen Preissegmenten zu agieren, um zu diktieren, welche Kunst in die in den letzten Jahrzehnten exorbitant gewachsene Kunstblase Einzug hält. Bekanntes und von der Presse geliebtes Fallbeispiel ist die Kunst der YBAs, der heute nicht mehr ganz so jungen Young British Artists, deren Großteil mit den Exponaten der sagenumwobenen und von Damien Hirst 1988 organisierten »Freeze«-Ausstellung an den Londoner Docklands in der Kollektion von Charles Saatchi mündete, um wiederum fast eine halbe Million Besucher in die daraus bestückte »Sensation«-Ausstellung von 1997 in die Londoner Royal Academy of Arts zu locken. Der Skandal ging der zuletzt genannten Ausstellung voraus, was den enormen Besucherandrang erst verursachte. Oder man denke an den Düsseldorfer Kunsthändler und Manager Klaus Achenbach, dessen Lenkung und Beeinflussung des Kunstmarktes bis zu seiner Verhaftung im Jahr 2014 und der rechtskräftigen Verurteilung im darauffolgenden Jahr anhielt, indem es zu einer Versteigerung der in seinem Depot angehäuften Kunstgüter kam, deren erzielter Gewinn weit über dem ursprünglichen Schätzwert lag. Jüngster Fall ist die Versteigerung von 39 Kunstwerken des Auktionshauses Christie’s unter dem Motto »Bound to Fail«. Auf den Markt kamen im Mai 2016 Arbeiten, deren ursprüngliche Unverkäuflichkeit gepriesen wurde, gerade weil damit Grenzverstöße begangen wurden. Auch hier ging die Rechnung auf und die erzielte Verkaufssumme von 78,1 Millionen Dollar übertraf

Einleitung

die Erwartungen um ein Drittel ihres Schätzwertes.1 In diesen genannten Fällen sind neben dem Gehalt der Kunstwerke gerade auch die Art und Weise der Veräußerung der betroffenen Arbeiten mit Sicherheit als skandalträchtig zu bezeichnen.   Aber reicht ein Kunst-Skandal aus, um bleibende Kunstwerke zu erschaffen? Handelt es sich hierbei auch immer um Kunst, die mit Fug und Recht von sich behaupten kann, Anspruch auf einen dauerhaften Rang im Kunstkanon zu besitzen? Zum Teil mit Sicherheit. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass auch der Kunstkanon den oben genannten Interessen unterliegt. Erst ein Rückblick auf den Kanon in 100 Jahren wird es erweisen. Viel wichtiger ist die Frage, ob derartigen Skandalen in der Kunst jenseits der ersten und schnell wieder abflauenden Schockwirkung ein bleibender Faktor innewohnt. Was, wenn Anthony Julius mit seiner Prognose Recht behält: »While [transgressive] works may continue as material objects, and may even enjoy a continuing half‐life in art‐institutions, they will have lost their quality of resistance. It is as if the moment at which an artwork can safely be exhibited is also the moment at which it ceases to be transgressive. Its arrival in the gallery marks its retirement from subversion. […] transgressive art is not made to last.«?2 Anders ausgedrückt: Damien Hirsts fünf-Meter Hai hat keinen Biss mehr. Aber es war ausgerechnet Damien Hirst, der das folgende Statement zur Skandalkunst zum Besten gab: »I think if something is shocking and there is nothing underneath it is bad art. You can get people’s attention but you have got to say something to them when you get their attention or they are not going to come back.«3 Das stimmt und das tut der Engländer auch, indem er seinen Hai zum Botschafter einer durch und durch wahrhaften Kunde macht – der Titel der 1991 entstandenen Installation lautet The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich jedoch der Titel der Arbeit bereits auf eine unerwünschte Weise nicht bewahrheitet: das Tier musste 2006 aufgrund seiner langsamen Verwesung durch ein neues Exponat ersetzt werden. Gerade im Falle der Arbeiten Hirsts plaudert man kein Geheimnis aus, wenn man sagt, dass dessen Galerist Jay Joplin ganz bewusst und regelmäßig nicht nur die Fachpresse, sondern eben auch die Boulevardzeitschriften informierte, sobald neue, skandalträchtige Stücke auf den Kunstmarkt kamen. Kunst dient hier nur mehr als Alibi für eine Transgression und verwandelt sich in einem schnellen Kippmoment zum Klamauk, steht ein Journalist mit einer Chipstüte zur Fütterung vor einem der mit in Reih und Glied schwimmenden Fischen gefüllten Kabinettschränkchen eines Damien 1 Vgl.: http://m.welt.de/newsticker/news1/article155173453/Skulptur‐von-betendem-Hitler‐fuer-17-2Millionen-Dollar‐versteigert.html; [erschienen und zuletzt aufgerufen am 09. Mai 2016]; Maurizio Cattelans Skluptur eines betenden Hitler mit dem Titel »Er« aus dem Jahr 2001, das in keinem der als Coffeetablebooks angelegten Überblickswerken zur Skandalkunst fehlen darf, war ebenfalls unter den versteigerten Objekten; statt den geschätzten 10 bis 15 Millionen Dollar, erzielte die Figur 17,2 Millionen. 2 JULIUS, Anthony, Transgressions. The Offences of Art, London 2002, S. 172. 3 Damien Hirst, in: Damien Hirst interviewed by Mirta d’Argenzio, »Like Poeple, Like Flies«, in: NEAPEL (Ausst.kat.), Museo Archeologico Nazionale, Damien Hirst. The Agony and the Ecstasy. Selected Works from 1989-2004, 31. Oktober 2004 – 31. Januar 2005, hg. und mit Texten v. Eduardo Cicelyn, Mario Codognato und Mirta d’Argenzio, Neapel 2004, S. 50-250, hier S. 189.

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Existentielle Grenzerfahrungen

Hirst4 ; oder wenn der tschechische Künstler David Černý im Jahr 2005 eine lebensgroße Figur von Saddam Hussein »à la Damien Hirst« in einem Bassin mit Formaldehyd versenkt. Mit solcherart strategisch nach Ruhm und Kommerz heischenden Platzierungen und der Instrumentalisierung von Kunst im Zusammenhang mit einem Tabubruch, wird mittlerweile ein Klischee bedient: Kunst brauche die Transgression, heißt es da, und werde zum schicken Beiwerk in einer spätkapitalistischen, westlich geprägten Konsumwelt. Zugegeben lebt Kunst von Themen, die jenseits einer gängigen Alltagsnorm liegen und auch die Geschichte der Kunst präsentiert sich als eine Sukzession von erfolgreich verfochtenen Übertretungen, die immer wieder eine neu ansetzende Avantgarde rechtfertigte. Und so tritt ein, was der Kunst eigentlich zuwider sein dürfte: »[…] transgressions have been so successful that the idea of transgression has become normative for the arts – which is a self‐contradiction.«5 Und dennoch muss man sich über diesen Antagonismus nicht besonders beunruhigen, da gute Kunst niemals alleine um der Rebellion willen agiert. Transgression gilt der Kunst nämlich nicht als ein Wert an sich, sondern dasjenige, was die Transgression auszulösen vermag, die Empfindungen, die hinter der Transgression zum Vorschein kommen können. Deshalb ist es für alle weiteren Überlegungen zum Thema unabdingbar, die folgenden zwei Begriffspaare – einmal zum Wirkbereich, ein anderes Mal zum Werkbereich eines Kunstwerkes – sorgfältig voneinander zu scheiden. Den Wirkbereich betreffend gibt es dabei die differenziert zu bewertenden Rollen des Gegners und des Kritikers: während der Gegner von transgressiver Kunst lediglich pflichtbewusst und aus einem Automatismus heraus die Grenzüberschreitung moniert und danach trachtet, das Werk in seiner Gesamtheit zu unterdrücken und zu zensieren – so geschehen in den Culture Wars in den USA beginnend im Jahr 1989 –, setzt sich der Kritiker mit den Inhalten und Beweggründen der in Frage stehenden Werke auseinander, um sich der Herausforderung zu stellen.6 Basis für dieses Auseinanderdividieren beider Schiedsrichter über die Kunst ist, dass wir zukünftig auch bereits im Werkbereich beginnen zu unterscheiden, und zwar zwischen einer Skandalkunst, wie sie eben beschrieben wurde, und dem originären Kunstwerk, das tatsächlich etwas zum Ausdruck bringen will: Eine Kunst, die den ursprünglich emotional aufgeladenen Dialog zwischen Kunst und Betrachter eben nicht als ferner liefen abtut und im schlimmsten Fall verdrängt, sondern die von den Künstlern intendierte finale Zielsetzung einer Bewusstseinserweiterung zulässt. Eine Kunst, die Grenzen erfahrbar macht, indem sie Tabus überschreitet. Ein reflexartiges Sich-Ereifern ist jedoch auch dann nicht unerwünscht. Eine herbeigeführte Provokation ist sicherlich mit Bedacht gewählt und die darauffolgende negierende Abwehrreaktion eines Rezipienten ist als erwünschter Begleitfaktor miteinkalkuliert, wird oftmals sogar als eine Notwendigkeit zur Vervollständigung des Werkganzen genutzt. Denn unerwünscht im Sinne des Künstlers und gleichermaßen im Sinne der Sache Kunst wäre es, wenn nach dem obligaten Sich-Ereifern nicht mehr passierte, 4 Vgl. STALLABRASS, Julian, High Art Lite. British Art in the 1990s, London 1999, S. 130. 5 Susan Sontag, »On Art and Consciousness« (1977), in: POAGUE, Leland (Hg.), Conversations with Susan Sontag, Jackson, Mississippi, 1995, S. 79-87, hier S. 86. 6 Vgl. JULIUS, S. 8.

Einleitung

namentlich das Einsetzen eines gedanklichen Prozesses, der es vermag, das Kunstwerk weiterzudenken und damit erst zu vollenden.7 Eben dies gelingt den hier zur Debatte stehenden Kunstwerken. Jenseits ihres zunächst skandalös anmutenden Charakters, erheben diese den Anspruch, eine existentielle Grenzerfahrung und damit einhergehend einen bleibenden und nutzbringenden Erkenntniswert für den Betrachter zu erzielen. Warum dem so ist, begründet Thierry de Duve mit einem einfachen, aber sehr einleuchtenden Rückschluss: »But if you can discover something that really shocks people, the chances are that you have discovered something really fundamentally important about people at the same time.«8   Diese wunden Punkte einer Gesellschaft zu benennen, galt aber die längste Zeit über als unschicklich. Dies hängt einmal mit den der Kunst seit Mitte des 20. Jahrhunderts unterstellten Unzulässigkeiten vor allem hinsichtlich ihrer formalen Ausdrucksform zusammen, wie sie Hans Sedlmayr in seinem 1948 erschienen Werk »Verlust der Mitte« moniert und das zum Zeitpunkt vorhandene Stilchaos in den Künsten beklagt. Hiervon wird gleich noch die Rede sein. Zum zweiten begründet sich die Position von einer Unmöglichkeit der Kunst auf einen inhaltlichen Aspekt, ohne Belang dessen, was die formalen Kriterien betrifft, wie ihn Theodor Adorno 1949 zum Ausdruck bringt: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.«9 Dies war jedoch bereits geschehen, indem Paul Celan noch vor Kriegsende die »Todesfuge« verfasst hatte. Adornos Einwurf bewahrheitet sich freilich insofern, da es weder großartige faschistische Kunst geben kann, noch jemals ein Kunstwerk zugunsten von Auschwitz denkbar ist. Und dennoch – so Susan Sontag: »The Celan poem is a striking example. I would even hesitate to call it ›beautiful‹; it is a great poem. Not only because it refutes the famous quotation by Adorno, often taken out of context, that after Auschwitz one could no longer write poetry. Celan not only wrote after Auschwitz, but rather even a poem about Auschwitz, that is, about an indescribable subject that seemed to be beyond any poetic balance.«10 Auch deshalb findet ein Ende der Kunst erneut nicht statt. Die Furcht, im Rahmen dieses Kunstschaffens unsere Existenz auf dem Spiel stehen zu sehen, ereilt dabei jeden von uns, ohne noch die enorm existentiell gefährdenden und verbürgten Verbrechen und Katastrophen der Menschheitsgeschichte eigens bezeichnen zu müssen. Den Holocaust, Genozide jeglicher Art und Zeit und Kultur, Naturkatastrophen und das menschliche Leid, welches alleine die Tatsache unserer aller Sterblichkeit für jeden einzelnen bereithält, in Kunstwerken zum Ausdruck gebracht zu sehen, verspricht fürwahr keinen angenehmen Rezeptionsprozess. Und auch die Form und Gestalt manch dieser Werke sind nicht dazu geeignet, den erwünschten klassischen und von vielen als einzig möglich erachteten Kunstgenuss herbeizuführen. 7 Kieran Cashell beschreibt diesen Vorgang in seiner gleichnamigen Publikation als »Aftershock«: CASHELL, Kieran, Aftershock. The Ethics of Contemporary Transgressive Art, New York 2009, S. 12. 8 De DUVE, Thierry (Hg.), The Definitively Unfinished Marcel Duchamp, Cambridge, Massachusetts, und London 1991, S. 38. 9 ADORNO, Theodor, Kulturkritik und Gesellschaft (1949/1951), in: Gesammelte Schriften, Bd 10.1, Frankfurt a.M. 1977, S. 30. 10 Susan Sontag, in: Fritz J. Raddatz, »Does a Photograph of the Krupp works Say Anything about the Krupp Works?«, in: POAGUE, S. 88-96, hier S. 93.

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Existentielle Grenzerfahrungen

Gleichwohl sind Form und Ausdruck, den existentielle Grenzerfahrungen annehmen können einerseits verallgemeinernder Natur und gleichzeitig ein zutiefst im individuellen Sein des Einzelnen angesiedelter Prozess. Anhand welchen Ausdrucks, wie lange und wie oft, welcher Art und mit welcher Konsequenz der Betrachter davon betroffen ist, sei dahingestellt, da nur die jeweils subjektive Sicht darüber gebietet. Dass die existentielle Grenzerfahrung aber einen jeden einzelnen von uns anfasst, ist unbenommen und dabei unangreifbarer, immer unbegreifbarer Fakt. Diese Subjektivität ist dabei nicht als Schwachstelle im Sinne einer Un-Wissenschaftlichkeit aufzufassen. Vielmehr ist die Subjektivität einer Empfindung – sei diese psychischer oder physischer Natur – ein zwingender und gleichzeitig doch wissenschaftlich erforschbarer Sachverhalt. Nichts Anderes tut etwa Elaine Scarry sehr erfolgreich und verständig in ihrer vielfach zitierten Untersuchung zum »Körper im Schmerz« und der damit einhergehenden Nichtkommunizierbarkeit dieses Sachverhaltes. Sie kommt zu folgendem Schluss: »Die radikale Subjektivität von Schmerz anerkennen heißt, die schlichte und absolute Unvereinbarkeit von Schmerz und Welt anerkennen. Beide, Schmerz und Welt, haben nur so lange Bestand, wie sie voneinander getrennt bleiben. Wer sie zusammenbringt, wer den Schmerz in die Welt holt, indem er ihn in der Sprache objektiviert, der zerstört eines von beiden.«11 Genauso verhält es sich mit der existentiellen Grenzerfahrung: diese kann nicht objektiviert werden. Eine Objektivierung ist dem Kunstwerk jedoch ebenso fremd, weshalb es gerade hier gelingen kann, die jeweils subjektiven Empfindungen von Künstler und Betrachter, wenn schon nicht in Gleichklang zu bringen, so doch zumindest stattfinden zu lassen. Dieser Tatsache Respekt zu zollen, ist Anliegen der hier folgenden Untersuchungen: diese müssen zwangsläufig – wie allerorts – einer subjektiven Sichtweise Folge leisten, werden jedoch gestützt, indem sie mit den wissenschaftlichen Überlegungen der letzten Jahrhunderte aus den philosophischen, psychologischen, kunsthistorischen wie soziokulturellen Fächern zusammenfließen. Voraussetzung hierfür ist ein gegenseitiger respektvoller Umgang mit den jeweiligen Standpunkten und das objektive Wissen darum, dass die eigenen Erfahrungen und Reaktionen nicht diejenigen des anderen sein können, und darüber hinaus eine »openness to a mode of existence or experience beyond what is known by the self.«12 Um die Natur der oben genannten Empfindungen weiter zu ergründen, ist es auch hier sinnvoll, wieder in Begriffspaaren zu denken, denn nicht nur das binäre SichVerhalten von subjektiver und objektiver Erfahrung müssen unterschieden werden. Es bieten sich angesichts von Kunst, die unseren Blick erweitern soll, darüber hinaus fol11 SCARRY, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1992, S. 77. Scarrys Schlussfolgerung kommt natürlich nicht ohne die ursprünglich zum Thema gemachte Bemerkung eines Gotthold Ephraim Lessing aus: »Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht fähig, welches andere Übel erwecken. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die blosse Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns hervor zu bringen vermöchte.«, in: LESSING, Gotthold Ephraim, Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte (1766), Stuttgart 2012, S. 31. 12 BENNETT, Jill, Empathic Vision. Affect, Trauma, and Contemporary Art, Reihe: Cultural Memory in the Present, hg.v. Mieke Bal und Hent de Vries, Stanford, Kalifornien, 2005, S. 9.

Einleitung

gende Sichtweisen an, die zwischen dem eigenen Selbst und dem Gegenüber13 zu unterscheiden vermögen: Affekt und Empathie – genauer: die affektive Reaktion versus eines empathischen Sehens, denn beides kann nicht in‐eins fallen –, das Selbstempfinden versus eines nachvollziehenden Empfindens sowie die Identifizierung mit dem Erlebten im Gegensatz zu einer Distanzerfahrung. Damit eine affektive Identifikation zwischen dem Subjekt (Betrachter) und dem Objekt (Kunstwerk) überhaupt erst zu einer Grenz- und damit gleichzeitigen Denkerfahrung werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass Kunst dazu in der Lage ist, eine Empfindung auszulösen, die der Realität in nichts nachsteht. Zusätzlich ist festzuhalten – und vorausgesetzt, dass zwischen der Kunst und der Lebenswirklichkeit eine Verbindung hergestellt wird –, dass auch eine moralische Idee im Rahmen der Kunst formuliert werden kann und soll. Dies ist nicht gleichbedeutend mit der Reduktion von Kunst auf einen ausschließlichen Botschafter von Moral und Vernunft, wie man dies gerne zu tun versuchte, um sich Kants Diktum einer Kunst jenseits aller Zwecke zu widersetzen.14 Hieraus lässt sich schließen, dass eine in der Kunst dargebrachte existentielle Grenzerfahrung ein Wiedererkennen im Betrachter mit all den zu erwartenden Folgeerscheinungen auszulösen vermag. Sobald wir die extremen Empfindungen eines anderen dargestellt sehen, setzt nicht nur ein Wahrnehmungsprozess im Sinne eines Erkennens ein, sondern gleichfalls ein Kognitionsprozess, der den Betrachter jenseits des Erkennens zur Erkenntnis führt. Jill Bennett bezeichnet diesen Wahrnehmungsprozess als ein »seeing feeling«15 , wobei sie betont, dass es nicht alleine darauf ankommt, was man fühlt, sondern vor allem auf das, wodurch diese Empfindung herbeigeführt wurde – also: die im Betrachter widergespiegelte Grenzerfahrung durch ein der Realität sehr nahekommendes Kunstwerk. Sehen und das sich daran anschließende Empfinden werde als Katalysator für den letzten Endes einsetzenden Denkprozess in eben dieser Reihenfolge genutzt.16 Um diesen Gedankengang nochmals zu verkürzen: erst kommt der Affekt, dann der Verstand. Mit der Nutzung des Begriffes Affekt wird eine weitere Differenzierung notwendig: diejenige von Affekt und Empathie. Gemeinhin spricht man von einer empathischen Empfindung, wenn es uns möglich ist, die Gefühle und Beweggründe eines Gegenübers zu begreifen. Unser Einfühlungsvermögen veranlasst uns hierauf, entsprechend mitfühlende Reaktionen zu zeigen: wir spenden Trost, zeigen Verständnis, haben Mitleid und suchen die Lage des anderen damit leichter ertragbar zu gestalten. In all diesem Tun und Fühlen bewahren wir dennoch den gebührenden Abstand – denn: nicht wir sind es, die da Leid ertragen müssen. Anders verhält es sich mit unserem affektiven Verhalten, welches einen vielfach heftigeren Erregungszustand in uns wachruft. Der Sympathie für das leidende Gegenüber mischt sich eine zusätzliche Komponente bei: die des eigenen Betroffen-Seins. Wie die englischsprachige Begrifflichkeit verrät – sie lautet occurring emotion –, handelt es sich um eine Empfindung, die einem gleichzeitig selbst wiederfährt. Der Betrachter kann sein Mitgefühl nicht mehr aktiv offerieren, 13 In der englischsprachigen Literatur wird durchgängig wie fachübergreifend das Begriffspaar self/other genutzt, um die Eigenerfahrung des »Ich« von derjenigen des »Anderen« zu unterscheiden. 14 Vgl.: BEARDSMORE, R.W., Art and Morality, Edinburgh 1971, S. 4. 15 BENNETT, S. 22. 16 BENNETT, S. 7 und 8.

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sondern wird selbst zum Spielball in einer passiv zu ertragenden Situation des wiedererkannten Leids: »The effect, in that instance, is achieved through promoting the shock of recognition, so that one feels not simply a disinterested kind of pity‐at-a‐distance, but rather a jolting realization of one’s own connection to a death. This is, in essence, a nonvolitional identification that may engender, but is not prompted by, empathy.«17 Eine affektive Teilhabe am Geschehen kann neben der emotionalen auch körperliche Reaktionen wie Herzklopfen, Schweiß und Tränen, ja sogar physische Gewaltausbrüche nach sich ziehen. Freilich handelt es sich bei durch Kunstwerke ausgelöste existentielle Grenzerfahrungen nur um Erlebnisse aus zweiter Hand. Oder wie Deleuze dies formuliert: »Ebenso aber wie sich die Gewalt einer Empfindung nicht mit der Gewalt einer dargestellten Szene verwechseln lässt, lässt sich der immer tiefere Sturz in einer Sensation nicht mit einem im Raum dargestellten Sturz verwechseln, es sei denn aus Bequemlichkeit und auf humoristische Weise.«18 Immerhin können aber hierdurch extreme Empfindungen oder Erinnerungen – wenn auch in einer abgeschwächten Variation – erzielt werden. Es besteht sogar die Eventualität einer post‐traumatischen Erfahrung, einer nachträglichen Schockwirkung, die uns im musealen Kontext unter kontrollierten Bedingungen entgegentritt. Das Schockerlebnis wird nicht mehr nur als eine Aggression oder persönliche Kränkung empfunden, sondern zeigt Ertrag, indem erst dadurch ein kritisches Hinterfragen möglich ist.19 Das Kunsterlebnis wird so Teil unserer eigenen Realität, weil wir es uns aneignen. Entsprechend wirken die im Folgenden zu diskutierenden Werke jenseits der Brecht’schen Theorie des epischen Theaters. Die im Rezipienten ausgelösten Reaktionen möchte Brecht in einer Art Assimilation hervorgerufen wissen und nicht wie im dramatischen, genauer: aristotelischen Theater anhand einer Identifikation mit dem fiktiven Geschehen auf der Bühne. Dieser Einfühlung stellt Brecht eine Distanzhaltung des Betrachters gegenüber, die diesen befähigen solle, zu einer kritischen Reflexion und nicht zuallererst zu einer reinigenden Emotion zu finden. Für die in dieser Schrift kommenden Betrachtungen gilt aber weiterhin oben Gesagtes: erst kommt der Affekt, dann kann auch die verstandesmäßige Verarbeitung einsetzen. Und es ist die affektive Identifikationsfähigkeit des Betrachters, an welche die zu erläuternden Kunstwerke appellieren.

Vorgehen und Zielsetzung Die Fragerichtung der nun folgenden Überlegungen dürfte entsprechend klar sein: Ausgangspunkt sind Kunstwerke, die Tabus zu brechen gewillt sind, um den Betrachter zu einer affektiv motivierten existentiellen Grenzerfahrung zu führen. Hierzu ist es erforderlich, zunächst die Theorie des Tabus genauer zu beleuchten: nebst einer Definition 17 BENNETT, S. 82. 18 DELEUZE, Gilles, Francis Bacon – Logik der Sensation (1984), aus dem Französischen von Joseph Vogl, hg.v. Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle, Bd.2, München 1995, S. 53. 19 BENNETT, S. 11.

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des Begriffes, erscheint es notwendig, die Funktion wie die Konsequenzen eines Tabubruchs sowohl für den eine Transgression Begehenden als auch für die Rezipienten oder Mitwirkenden dieser Situation festzuhalten. Dass Tabubrüche je nach kulturellen und zeitbedingten Vorgaben einem Wandel unterworfen sind, ist selbstredend und wird beispielhaft veranschaulicht. Die Motive, die für Tabubrüche im Rahmen eines Kunstwerkes in Frage kamen und kommen, sind zahlreich, jedoch ist nichts so sehr dafür geeignet, eine Grenzerfahrung zu zeitigen als die menschliche Existenz in ihrer Vergänglichkeit als Gegenstand an sich zu thematisieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich viele Diskutanten aus den unterschiedlichsten Forschungsgebieten mit dieser Thematik auseinandersetzten und dies bis heute tun, seien es Philosophen, Anthropologen wie Futurologen, Soziologen und Psychologen, Kulturwissenschaftler und Mediziner gleichermaßen, Schriftsteller und Dichter. All diesen Disziplinen gemein ist, dass es schwerlich gelingen kann, eindeutige oder gar endgültige Antworten auf die anstehenden Fragen zu finden. Dies gerade weil man zu dem Übereinkommen gelangte, dass es sich mit dem Werden und Vergehen unseres Lebens um eine Domäne handelt, die zwischen den harten Fakten und den philosophisch motivierten Fragen kaum einen mit dem menschlichen Verstand verträglichen oder gar versöhnlichen Standpunkt einzunehmen vermag. Deshalb steht die Beantwortung der Frage aus, ob es Künstlern und Künstlerinnen gelingen kann, eine Annäherung aller Disziplinen untereinander zu veranlassen, sie in einem stimulierenden Denkanstoß zu weiteren, fruchtbringenden Diskussionen anzuleiten. Diese Arbeit ist ein erster Versuch, besagte Diskussion auf einer interdisziplinären Ebene zu führen, in der Hoffnung, einen ertragreichen Unterboden zu schaffen. Aus kunsthistorischer Sicht ist es unabdingbar, zunächst dasjenige zu benennen, was unsere Sinne betrifft, die gerade im zeitgenössischen Kunstschaffen in all ihren fünf Varianten gefordert werden, also das ›Was‹ und ›Wie‹ der fraglichen Kunstwerke in einer sie beschreibenden Sektion zu würdigen. Aisthesis inkludiert in diesem Kontext eben nicht nur den Sehnerv, sondern all unsere kulturell geformten Sinne, wie sie in einem zeitgenössischen ästhetischen Prozess gefordert sind. Es ist dabei selbstredend, dass sich die hier angewandte Aisthesis nicht auf das landläufig Ästhetische im Sinne einer Seherfahrung von lediglich als schön oder angenehm empfundenen Gegenständen belaufen kann: »It is intractably avant‐garde in the sense that [art on the edge and over] will never become something that pleases the eye and enlivens the spirit. It will never become the ornament of a museum’s collection. […] The art discussed here cannot easily be thought of as becoming good aesthetic citizens. They define, rather, a limit that will always be a limit. It is not part of their intention to be accepted in the way in which even avant‐garde art before has been accepted.«20 Höchstens wird der von Schiller befürworteten Kallistik im Sinne einer ansprechenden, besser: zu uns sprechenden Kunst stattgegeben. Dass die übermittelten Botschaften aber nicht immer nur einem schönen Ideal der Vollkommenheit Folge leisten, liegt in der Natur des Men20 Arthur C. Danto, »Why Does Art Need to Be Explained? Hegel, Biedermeier, and the Intractably AvantGarde«, in: WEINTRAUB, Linda, Art on the Edge and Over. Searching for Art’s Meaning in Contemporary Society, 1970s-1990s, Litchfield, Connecticut, 1996, S. 12-16, hier S. 15.

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schen und seiner Vergänglichkeit, deren – auch äußerlich wahrnehmbare – Zeichen sich im Verlaufe eines Lebens mehren. Um diesen Kontrast zur Geltung zu bringen, gebührt dem Ideal, wie es aus klassischer Sicht bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als angezeigt erschien und in den bildenden Künsten veranschaulicht wurde, ein die Ausgangssituation schilderndes Kapitel. Dem jungen, vollkommenen Körper, der in der Blüte seines Lebens steht, scheinen keine körperlich notwendigen Lebensfunktionen innezuwohnen. Dieses Innenleben wird von den makellosen Konturen, der Außenhülle des Leibes umschlossen und darf zu keiner Zeit nach außen dringen oder sonstwie erahnbar sein. Und dennoch ist es vorhanden. Das Abjekte, welches aus bildnerischer und gesellschaftlicher Sicht unter Verschluss gehalten werden muss, drängt es – normalerweise im Verborgenen oder im privaten Bereich – immer wieder nach außen, um eben unsere Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten. Vermehrt seit den 1980er Jahren kommen diese Materialien als Thema und auch in Form von Substanzen im Rahmen der »Abject Art« im Schaffen von Künstlern vor. So geschehen im Fall der Arbeiten der französischen Künstlerin ORLAN, welche als Fallbeispiel herangezogen wird. Der geöffnete Körper, dessen unleugbare Neigung zum Abjekten, die im Lebensverlauf sich nach und nach erschöpfenden Lebensfunktionen häufen sich im Krankheitsfall. Was zunächst einen unversehrten Körper lediglich im Verborgenen betrifft, belangt im Verlaufe unseres Lebens und im Falle der Erkrankung alle, das Selbst und die Anderen gleichermaßen, indem das Abjekte sichtbar wird. Die amerikanische Künstlerin Hannah Wilke zeigt keine Scheu davor, ihren zunächst jugendlich perfekten Körper zur Schau zu stellen und ebenso den versehrten Körper, zu dem er seit ihrer Krebserkrankung geworden ist. Das dritte Fallbeispiel liefert im Zyklus der Tabubrüche in der zeitgenössischen Kunst der deutsche Künstler Gregor Schneider, der sich mit zweierlei Übergängen auseinandersetzt, die sowohl unseren Körper als auch unsere geistige Auseinandersetzung mit unserem Körper im Todesfalle betreffen: einmal konfrontiert er den Besucher seiner ortsspezifischen Installationen und ideellen Architekturen mit konstruierten und sich stets baulich verändernden Räumen und Häusern, in denen der Tod fühlbar, sichtbar oder zur Umsetzung freigegeben wird. Zum anderen hält er für den Rezipienten nebst dem Hinübergleiten vom Leben in den Tod Überlegungen zu einem möglichen oder unmöglichen Leben nach dem Tod bereit. Die beiden Künstler Gregor Schneider und ORLAN berühren damit Themen, wie sie jüngst im Rahmen der so genannten »Bio Art« oder »(Trans)Genetic Art« vorkommen und umgesetzt werden. Es darf jedoch mit diesen Fallstudien nicht bei einer bloßen Benennung der Gegebenheiten bleiben, denn letzten Endes steht die Frage im Raum, warum Tabus und Grenzen von eben genannten Künstlern eigens gebrochen werden müssen, um unseren Intellekt zu stimulieren. Wohin soll dieser Denkprozess uns führen? Eben jenseits der uns gesteckten gesellschaftlichen wie selbst aufoktroyierten und uns vertrauten Grenzen. Eben zitierte Künstler sind sich der Ausformulierung einer Dichotomie wie sie von Helmuth Plessner geprägt wurde – nämlich einen Körper zu haben und gleichzeitig Leib zu sein – absolut bewusst. Beides fällt in den hier erörterten Kunstwerken in eins, indem die Künstler eine Vermengung von Körper, Seele und Geist vornehmen, indem sie absichtsvoll auf die Unverträglichkeit einer Unterscheidung von Körper-Haben

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und Leib-Sein in der Realität und angesichts unserer körperlichen Unzulänglichkeiten bis in den Tod und darüber hinaus verweisen. Um dies auch für den Rezipienten dieser Arbeit ersichtlich zu machen, beteiligen eben genannte Künstler den Betrachter in einem mehr oder minder ausgeprägten Maß an Prozessen, die sowohl unser psychisches wie körperliches Wohlbefinden umfassen. Diese im Einzelnen aufzurollen, damit befasst sich der zweite große Abschnitt dieser Schrift. Eine Beteiligung geschieht zuallererst anhand des für Kunstwerke üblichen visuellen Prozesses, welcher in den genannten Fallstudien gar einem voyeuristischen Interesse des Rezipienten entspricht. Die Anteilnahme an diesen Kunstwerken erschöpft sich jedoch nicht in einem rein optischen Ermessen der Situation, sondern die Beteiligung erfasst im Sinne einer »Relational Aesthetic«21 die aktive Teilhabe am Geschehen. Inwiefern beidem – der voyeuristischen wie sich beteiligenden Maßnahmen – eine kathartische Funktion innewohnt, untersucht das abschließende Kapitel zum Umgang mit der eigenen Existenz angesichts transgressiver Kunst. Existentielle Fragen nach unserem Körper und unserem Sein rühren zwangsläufig an Ängste, die unsere Identität betreffen. Diese unterliegt im Verlaufe unseres Lebens Veränderungen. Die Einsicht, dass es gelingen kann, sich dieser Veränderungen bewusst zu werden, erreichen Kunstwerke, die der Selbsterkenntnis eines Betrachters auf die Sprünge helfen. Denn nebst den automatisiert ablaufenden und neurobiologisch überschaubaren Entwicklungsstadien zur Ausbildung eines »Ich«, können die oben genannten Werke zu jedem weiteren Lebensabschnitt einen Spiegel der Selbsterkenntnis vorhalten. Die Erlangung der Selbsterkenntnis führt dazu, dass in einem anschließenden Denkprozess auch das Verhältnis zwischen dem Selbst und unserem Gegenüber, also den Mitmenschen neu verortet werden kann. Eben dies veranlasst auch die Zeitgenossen unter den Bio Art-Künstlern, Fragen nach künstlichen und künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten von lebender Materie und dem damit einhergehenden Potential für den Menschen und seiner (zukünftigen) Identität aufzuwerfen. Die Diskussion um eine Verbesserung von Lebensqualität, der Erweiterung menschlicher Kapazitäten bis zu dessen Befähigung zu einem Leben nach dem Tod, bildet den Höhepunkt der von ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider entschlüsselten Problematik und beschließt diesen zweiten großen Abschnitt. Das Überschreiten von Grenzen mag lediglich zu einer vorübergehenden EntMystifizierung führen, Affekt und Identifikation mit dem Erlebten mögen allemal nur messerscharf voneinander zu extrahieren sein. Benannt und erörtert werden kann dabei in der Tat nur eine feine Linie, ein liminales Stadium, das in Richtung auf beide Seiten – diesseits und jenseits der zu benennenden Demarkationslinie hin – zu kippen droht: die existentielle Grenzerfahrung.

21 Im Jahr 2000 prägte Nicolas Bourriaud diese Begrifflichkeit: BOURRIAUD, Nicolas, Relational Aesthetics (2000), Paris 2002.

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Zur Erweiterung des Kunstkanons: Ein Situationsbericht zum zeitgenössischen Kunstschaffen Tabubrüche in der Kunst stellen nichts Ungewöhnliches dar; eine damit einhergehende, vom Künstler intendierte existentielle Grenzerfahrung dahingegen sehr wohl. Nun wird letztere von Künstlern nicht erst in der zeitgenössischen Kunst bewusst herbeigeführt. Aber dank der bis in das 20. Jahrhundert hinein gültigen Ordnung der Kunstgattungen sind Grenzgänge, ausgelöst durch Kunstwerke, meist gedanklicher Natur. Ein Beispiel: Im Jahr 1915 ist das Schwarze Quadrat auf schwarzem Grund von Kasimir Malewitsch in seiner Radikalität mit Gewissheit erdacht worden, um dem Betrachter eine Bewusstseinserweiterung zu ermöglichen. Kennt man die Schriften des russischen Erfinders des Suprematismus, so zielt das Quadrat auf einen Neubeginn unserer Welt und Gesellschaft auch außerhalb unseres heute bewohnten Planeten ab. Es ist ein in der Realität nicht umsetzbares Konstrukt, das die Zeitgenossen planmäßig mit seiner rücksichtslosen Kühnheit und Weltfremdheit überfordern sollte. Die Gedankenströme, die sich angesichts der suprematistischen Bildwelten ausbilden lassen, sind jedoch kaum dazu in der Lage, unsere Psyche oder Physis in ein liminales Stadium zu versetzen. Das Quadrat verweilt in diesem Augenblick in der Fiktion. Die Grenzerfahrung post‐moderner und zeitgenössischer Kunstwerke dahingegen wird zu einer vorübergehenden Realität. Dem Quadrat und den damit einhergehenden erdachten zukünftigen Welten treten wir gegenüber. Die existentielle Grenzerfahrung in Form von Kunstwerken dahingegen passiert uns. Das Aktiv verkehrt sich hier in ein Passiv: Ein »Sich-Einlassen« wird zu einem »Es‐geschieht-mit‐mir«. Wann und wozu aber geschieht dieser Umschlag von einem die Bilder betrachtenden zu einem im Bild involvierten Zuschauer? Was den dafür notwendigen Inhalt anbelangt, so versuchte man diese Kehrtwende bereits vor dem Zweiten Weltkrieg durchzusetzen: »1. Vom Inhalt her gesehen _ Das heißt von den behandelten Sujets und Themen her: Das Theater der Grausamkeit wird Sujets und Themen auswählen, die der für unsere Zeit charakteristischen Erregtheit entsprechen.«22 So Antonin Artaud in seinem zweiten Manifest zum »Theater der Grausamkeit« bereits aus dem Jahr 1933 und in einem Brief an Jean Paulhan von 1936 erklärt er sich weiter: »Doch ›Theater der Grausamkeit‹ bedeutet zunächst einmal Theater, das für sich selbst schwierig und grausam ist. Und auf der Ebene der Vorführung handelt es sich nicht um jene Grausamkeit, die wir uns gegenseitig antun können, indem wir einander zerstückeln, indem wir unsere persönlichen Anatomien mit der Säge bearbeiten oder, wie die assyrischen Herrscher, indem wir uns mit der Post Säcke voll Menschenohren, voll säuberlich abgetrennter Nasen oder Nasenflügel zuschicken, sondern um die sehr viel schrecklichere und notwendigere Grausamkeit, welche die Dinge uns gegenüber üben können. Wir sind nicht 22 Antonin Artaud, »Das Theater der Grausamkeit«, (Zweites Manifest), als Broschüre 1933 veröffentlicht, in: ARTAUD, Antonin, Das Theater und sein Double. Das Théatre de Séraphin (1964), Frankfurt a.M. 1971, S. 131-137, hier S. 131.

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frei. Und noch kann uns der Himmel auf den Kopf fallen. Und das Theater ist dazu da, uns zunächst einmal dies beizubringen.«23 Wir wissen, dass sich Artauds »Theater der Grausamkeit« in mehrererlei Hinsicht bewahrheitete und auch weiterhin Gültigkeit besitzt. In diesem Zusammenhang ist es uns aber alleine um das Kunstschaffen zu tun und wie es diesem gelingt, dem Betrachter beizubringen, dass wir nicht frei, sondern – zumindest was unsere physische Existenz betrifft – unterlegen, da sterblich sind. Vorbei also mit dem von vielen nach wie vor in Öl auf Leinwand begehrten Landschafts-Idyll eines blauen Himmels über saftigen grünen Wiesen und Wäldern! Laut einer Anfang der 1990er von der Zeitschrift »The Nation« unterstützten und von Vitaly Komar und Alexander Melamid weltweit durchgeführten Umfrage ist aber genau dies die mehrheitliche Wunschvorstellung von Kunst. Danach gefragt, was für sie ein gutes Bild ausmache, wünschte sich die überwiegende Zahl der Probanden Motive, die sich zu folgender internationalen Schnittmenge eines als »schön« erachteten Gemäldes fügen würde: ein blauer, mit weißen Wolken durchwirkter Himmel sollte zwei Drittel des Bildes beherrschen; das untere Drittel würde von grüner Farbe in Form von Wäldern samt einer Lichtung und/oder dem Ausblick auf Wasser eingenommen werden. Zusätzlich verlangte man nach Tieren, wie sie in der unberührten Natur nun einmal vorkämen, die sich harmonisch zu den ihre Freizeit genießenden Großfamilien und den auf der Lichtung spielenden Kindern gesellen würden.24 So die Utopie. Tatsächlich sehen es Künstler aber nicht als ihre Aufgabe an, dem Geschmack und dem Schönheitsideal einer Mehrheit zu entsprechen, sondern unter den erschaffenen Werken findet sich durchaus – wie in den hier zur Sprache kommenden Transgressionen – die Umkehrung eines derartigen Musterbildes einer Mischung aus Kitsch, moralischer Erbauung und Liebreiz. Hierzu führen sowohl inhaltliche wie formale Bedingungen im Schaffen der Künstler seit der Post-Moderne, welche die Erweiterung eines Kunstbegriffes verursachen und damit einhergehend den in Auflösung befindlichen Gattungsbegriff und Kanon der Künste insgesamt bewirken. Zunächst zum inhaltlichen Aspekt: Künstlern nach der Post-Moderne liegt es zumeist fern, eine positive Imagination einer Welt zu suggerieren, die so nicht ihrem Umfeld entspricht. Weder die Künstler noch das Kunstwerk können ohne das sie umgebende Leben, die Gesellschaft samt ihrer Werte, Vorstellungen und Traditionen gedacht werden. Auch einer Autonomie von Kunst wird demnach widersprochen, indem Kunst und Wirklichkeit nicht mehr länger nur unabhängig voneinander co‐existieren, sondern einander zu entsprechen beginnen. Deshalb haben sich noch vor der inhaltlichen Entsprechung von Kunst und Leben bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Ausdrucksformen hierfür gewandelt: neben den tradierten Gattungen wie der Malerei, der Skulptur und der neu hinzugetretenen medialen Gattung der Fotografie, erobert 23 Antonin Artaud, »Schluß mit den Meisterwerken«, 2. Brief an Jean Paulhan, 6. Januar 1936 (kann bereits 1933 entstanden sein), in: ARTAUD, S. 79-88, hier S. 84-85. 24 Vgl.: FREELAND, Cynthia, But Is It Art?, New York 2002, S. 94ff. Die beiden Künstler eruierten für die unterschiedlichsten Nationen deren jeweiliges Lieblingsbild, welches sie malten und etwa America’s Most Wanted Paitning (wahlweise: India’s …, China’s …) betitelten. Die festgestellte Schnittmenge aus der People’s Choice-Serie von 1994 war dabei so groß, dass insgesamt oben beschriebenes Gemälde entstehen könnte.

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die bildende Kunst vermehrt das Genre des Theaters. Beginnend mit den AgitpropBestrebungen der Dada-Bewegung und der russischen Avantgarde, daran anschließend dem epischen Theater seit Mitte der 1920er Jahre in Deutschland, haben die einzelnen Gattungen angefangen, miteinander zu verschmelzen. Etwa ist der Malakt im Action Painting seit den 1940ern gleichberechtigter Teil des Schaffensprozesses wie das dabei entstandene Bild. Und auch die Objekte, Multiples, Foto-Dokumentationen und Videobänder der Fluxus-Aktionen, Happenings und aus der Performance-Kunst seit 1960 gelten als wichtige, die Ereignisse bestätigende Spuren der eigentlichen Aktivitäten. Auch die Teilhabe des Betrachters geriert seither zu einem wichtigen Bestandteil dieser Werke. Aktiviert wird der Rezipient nicht mehr nur als Zeuge des Geschehens, sondern zugleich als dessen Mitwirkender, indem er Teil des Kunstwerkes und damit auch Teil des Künstlerlebens wird. Und im Umkehrschluss veranlasst diese neue Wirkungsästhetik das Kunstwerk dazu, realer Bestandteil des Lebens zu werden. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen in‐eins und konstituieren darüber hinaus die jeweilige Lebenswirklichkeit, die Echt-Zeit, in der sich der Betrachter befindet.25 Hieraus könnte man schlussfolgern, dass die Produktion von Gesten noch vor der Produktion von materiellen Dingen, i.e. dem Kunstwerk rangiert. Dem ist aber nicht so, denn – wie bereits festgehalten – wird hiervon das Kunstobjekt nicht etwa abgelöst oder gar obsolet. Es hat für den ehedem Teilhabenden weiterhin Bestand in auratisch wie emotional aufgeladenen Relikten aus diesen Vorgängen und dem sie dokumentierenden Material, das sich aber freilich einem herkömmlichen Kunstmarkt und Ausstellungswesen widersetzt.26 Ihre aus dem Kontext gerissene, meist schmucklose Erscheinung einerseits und die andererseits lediglich mimetische Überlieferung dieser Ereignisse via einer zweiten Realität – namentlich medialer Mittel –, können das Erlebte zwar nachvollziehbar machen, aber nicht das Original ersetzen. Hinzu kommt die vermehrte Nutzung kunstfremder Materialien. Diese Erweiterung der künstlerischen Werkstoffe umfasst auch unbeständiges Material, das es der Nachwelt oft unmöglich macht, die daraus entstandenen Werke auf Dauer zu konservieren. Die organischen Materialien aus Flora und Fauna umfassen dabei durchaus auch abjekte Rohstoffe wie Lebensmittel, die mit der Zeit verderben, Fleisch, Haare und Haut oder Körperflüssigkeiten wie Speichel, Tränen, Schweiß, Blut, Ejakulat, Urin, Erbrochenes und Exkremente. Mit diesen Substanzen sind wir bei einer ganz grundsätzlichen Erweiterung des Materialkanons angelangt: derjenigen durch den menschlichen Körper, was im Rahmen der Body Art seit den 1960er Jahren insbesondere den Künstlerkörper selbst betrifft. Diese rein narzisstisch anmutende Entwicklung unter den performativen Künstlern nimmt jedoch nicht in allen Fällen nur Bezug auf den eigenen zur Schau gestellten, vielfach auch durch Selbstverletzungen malträtierten und geläuterten Körper, sondern ist auch nach außen hin, auf das Publikum ausgerichtet. Die Künstler heben die Distanz zwischen sich und dem Betrachter auf und wissen, dass sie in ihrem Tun auf direkte 25 Vgl. hierzu auch die beispielhaften Ausführungen in: FISCHER-LICHTE, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 296f. 26 Vgl. hierzu BOURRIAUD, S. 103-104.

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Reaktionen stoßen werden, zum Beispiel auf die physische, zumindest aber emotionale Teilhabe des Rezipienten am Geschehen.27 Dennoch bleibt die Frage, warum genau Künstler ein derartiges symbolisches Risiko zugunsten eines Betrachters auf sich nehmen sollten. François Pluchart bezeichnet dieses Risiko gar als der westlichen Kunst archetypisch zu eigen.28 Dem ist auch so, denkt man dabei alleine an die schmerzensreichen Darstellungen aus der christlich motivierten Kunst. In beiden Fällen – in der christlichen Kunst wie in der Body Art – wird der geschundene Körper sowohl in seiner Materialhaftigkeit, etwa in der Performance oder in Form von Reliquien, wie als symbolischer Körper in Abbildungen gezeigt. Und in beiden Fällen soll eine Abreaktion des Betrachters einsetzen. Aber nur in der Body Art werden dabei auch Tabus gebrochen. Dies fördert eine umso größere Unmittelbarkeit und Authentizität des Geschehens zu Tage: der Betrachter fühlt sich direkt angesprochen und kann reagieren, erlebt die Ereignisse aus erster Hand und sieht, wie andere darauf reagieren. Und er bürgt damit für die Glaubhaftigkeit des Sachverhalts. Auch das Verhältnis zwischen dem Rezipienten und dem Künstler ist im Vergleich zu schmerzhaften Abbildungen früherer Jahrhunderte ein vielfach engeres geworden. Da wäre einmal die physische Präsenz aller29 Beteiligten zur selben Zeit im selben Raum. Zum anderen – und wir erinnern uns an Elaine Scarrys Diktum über die Unmöglichkeit, Schmerz verbal zu vermitteln – wäre da nebst dem anwesenden Personal auch noch der unübersehbar stattfindende Schmerz. Wird uns Schmerz in noch so drastischen Worten übermittelt oder in abgebildeter Form, ist dieser weit weniger präsent, als wenn wir ihn zugleich sehen, hören und riechen. In der Body Art erreicht die Darstellung von Schmerz ihre konkreteste Form durch seine analogische Verifikation.30 Kunst hallt von nun an im Betrachter wider. Und es wird immer deutlicher, dass in der Kunstwelt eben nicht mehr nur ein Kunst-Objekt über den Ladentisch wandert, sondern die Betonung auf dem Erleben eines ästhetischen Augenblicks und der Erfahrung eines sensiblen Momentes liegt, den es zukünftig mit sich zu tragen gilt. Es darf behauptet werden, dass die Body Art eine der letzten großen Erweiterungen des Kunstkanons im ausgehenden Jahrtausend war. Das 21. Jahrhundert setzt den 27 Vgl. auch: JONES, Amelia, Body Art. Performing the Subject, Minnesota, Minneapolis, 1998, S. 25. 28 François Pluchart, »Risk as the Practice of Thought«, in: BATTCOCK, Gregory und Robert Nickas (Hgs.), The Art of Performance. A Critical Anthology, New York 1984, S. 125-134, hier S. 125. 29 Dieses enge Miteinander kann auch von Fotodokumenten und Videoaufzeichnungen einer in der Vergangenheit liegenden Performance hervorgerufen werden. Das Geschehen wird zwar nicht mit derselben Intensität empfunden, aber dennoch zeugt die Überlieferung von Ereignissen anhand medialer Mittel nach wie vor für deren Wahrhaftigkeit und davon, dass die Mitwirkenden real existier(t)en. 30 Vgl.: BENNETT, S. 60. Danach gefragt, welche Rolle für Marina Abramović Schmerzen und Gefahr in ihren Performances spielen, antwortet diese wie folgt: »Ah, it’s very important to me. Danger is important because it brings time to the point of the here and now, to the present. Your mind escapes every single second. Every time we blink there is another thought. So to stop time, to just be in the present, you have to be in an extreme, dangerous situation. That’s why I stage situations where I have to do some dangerous things – so that the public and I are in the space at the same time. […] Pain is the same thing.«; Marina Abramović, zitiert nach: »Interview, Klaus Biesenbach in Conversation with Marina Abramović«, in: BIESENBACH, Klaus, Chrissie Iles und Kristine Stiles, Marina Abramović, New York 2008, S. 7-30, hier S. 21-22.

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Akzent dahingegen wieder auf das optisch wie haptisch präsente Kunstobjekt, ohne diesem jedoch die Tauglichkeit für den Kunstmarkt oder das Ausstellungswesen zurückzugeben. Die Rede ist von der »Bio Art«, der »Transgenic Art«.31 Gemein mit der Body Art ist der Bio Art der in‐vivo-Charakter, das heißt, dass es sich um eine Kunstform handelt, die mit einem lebenden Medium als Werkmaterial umgeht. Die Bio Art beschäftigt sich, so Eduardo Kac als bahnbrechender Künstler und zuweilen Wortführer unter den Künstlern der Bio Art, mit den fundamentalen Lebensprozessen, der Genetik und der Biotechnologie und dies nicht in einer abbildenden Form, sondern in ihrer Ausführung: »[…] bio art creates not just new objects, but, more tellingly, new subjects«.32 Kunst also, die uns ins Auge blicken kann – so auch der Titel seines 2007 entstandenen Essays zum Thema. Kac unterscheidet betont zwischen der »Nass-Biologie«, die seiner Meinung nach in der Bio Art ausschließlich zur Anwendung kommt und die immer mit dem Hantieren von Flüssigkeiten in einem Laborsetting einhergeht, im Unterschied zur so genannten »Trocken-Biologie«, die mit Hilfe von Computer‐generierten Modellen und Analysen arbeitet. De facto aber pflegen viele der Bio Art-Künstler Umgang mit beidem. Der Kurator einiger der bislang stattfindenden Ausstellungen zur Bio Art Jens Hauser betont ebenfalls den Ding-Charakter der seit dem Jahr 2000 entstehenden transgenetischen Werke. Er spricht von einer Re-Materialisierung und Re-Imagination einer Kunst, die weiterhin – ganz wie die Body Art – auf eine Verringerung der Distanz zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk abziele. Gleichzeitig werfen beide Felder Fragen zur biopolitischen Zukunft des Menschen auf, indem sie auf direkte Weise in den Mechanismus und Organismus des menschlichen Körpers eingriffen.33 Die Thematisierung einer existentiellen Grenze führt dabei unweigerlich zu emotionalen Erfahrungen angesichts einer Kunst, die sich bewegt und lebt und ergo auch dem Tod unterlegen sein wird, denn: »The spectator experiencing Biotech Art […] must take a turn trip between the symbolic space of art and the real life of processes staged and highlighted by an organic presence.«34 Hier begegnen sich nun drei Forschungs- und Denkbereiche, die seit jeher um ein erweitertes Verständnis und die Sinnfragen des Lebens und des Todes bemüht sind: die Religion beziehungsweise Ethik, die Wissenschaft und die Kunst. Auch sie nehmen eine Unterscheidung von Körper-Haben und Leib-Sein vor. Nur beginnt man in all diesen Bereichen zu ahnen, dass – je weiter die Technologie und die moralisch‐ethische 31 Man könnte im Deutschen den Begriff »Genetische Kunst« einführen, was bislang aber nicht geschehen ist, weil es sich insgesamt doch um sehr disparate Betätigungsfelder handelt, die sich nicht alle nur auf genetische Prozesse beschränken lassen. Deshalb wird auch in deutschsprachigen Diskussionen meist der Terminus »Bio Art« als Begrifflichkeit verwendet, der manches Mal wegen seiner interdisziplinären Verquickung von Biologie und Kunst zusammengeschrieben wird: »BioArt«. 32 Eduardo Kac, »Introduction. Art That Looks You in the Eye: Hybrids, Clones, Mutants, Synthetics, and Transgenics«, in: KAC, Eduardo (Hg.), Signs of Life. Bio Art and Beyond, Cambridge, Massachusetts, 2007, S. 1-27, hier S. 19. 33 Jens Hauser, »Landscapes and Fragments. Holistic ›Natureculture‹ in the Era of Biotech Art«, in: KAC, S. 284-298, hier S. 295ff. Vgl. auch: Ivana Mulatero, »Afterword«, in: MULATERO, Ivana (Hg.), Dalla Land Art alla Bioarte. From Land Art to Bioart, Atti del Convegno internazionale di studi Torino, 20 gennaio 2007. Papers of the International study conference Turin, 20 January 2007, Turin 2007, S. 326-339, hier S. 331. 34 Ivana Mulatero, »Afterword«, in: MULATERO, S. 326-339, hier S. 331.

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Debatte fortschreiten – keine der bislang gewonnenen Erkenntnisse in Stein gemeißelt sein kann. Am Ende dieser einleitenden Worte muss darauf hingewiesen werden, dass dieses Buch weder einen Überblick zu einer Entwicklung der zeitgenössischen Kunst leistet, noch eine monographische Studie sein will. Es setzt sich auch nicht im Einzelnen mit der eben eruierten Erweiterung des Kunstkanons auseinander, sondern zielt vielmehr darauf ab, zu untersuchen, welche Tabubrüche im Rahmen der jüngsten Entwicklungen in der bildenden Kunst strategisch zum Einsatz kommen, um den Betrachter so sehr aus der Façon zu bringen, dass er einer existentiellen Grenzerfahrung nahe ist. Wenn schon die Künstler in den letzten Jahrzehnten um neue Darstellungs- und Ausdrucksmittel gerungen haben, so bedienen sich die in dieser Schrift vorkommenden Künstler wie selbstverständlich aller jemals dagewesener Gattungsformen und Medien: es werden Architekturen gebaut, verändert und installiert, die Künstler nutzen die Malerei und Bildhauerei, die Fotografie und Videokunst, Performances genauso wie Textproduktionen und vor allem auch ihren eigenen Körper. Entscheidend ist aber nicht das »Was« der Arbeiten, sondern das »Wie« und das »Warum« dieser Begegnungen zwischen dem Kunstwerk und dem Rezipienten und die daraus resultierenden Erfahrungen. Selbstverständlich können hierzu jeweils nur Probebohrungen vorgenommen werden. Es sei meinen Überlegungen deshalb verziehen, dass sie sich lediglich auf einige wenige Künstlerbeispiele beziehen können und auch darin dem gesamten Oeuvre des jeweiligen Künstlers nicht gerecht werden, da eine strategische Entscheidung die Auswahl der Werke bestimmt. Dass sich die Arbeiten der hier diskutierten Künstler nicht alleine auf den vorliegenden Themenbereich reduzieren lassen, sondern auch andere Schwerpunkte für eine Interpretation in Frage kommen, ist selbstredend. Gute Kunst besitzt nur sehr selten eine einzige Möglichkeit ihrer Deutung.

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II. Tabu und Tabubruch

»[D]as Tabu [besteht] eigentlich noch in unserer Mitte [fort]; obwohl negativ gefasst und auf andere Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur nach doch nichts Anderes als der ›kategorische Imperativ‹ Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewusste Motivierung ablehnt. […] Der soziale und technische Fortschritt der Menschheitsgeschichte hat dem Tabu weit weniger anhaben können als dem Totem.«1 Indem Freud das Tabu einem kategorischen Imperativ gleichsetzt und unterdessen ein damit verbundenes Verbot meint, gibt er dem Kant’schen Diktum – wie er selbst zugibt – eine negative Form bei, die es im ursprünglichen Wortlaut nicht besitzt.2 Das Tabu steht also für das »Du sollst nicht«, das Totem, welches Freud vom Tabu absetzt, das positiv formulierte »Du sollst«.3 Egal, welche Literatur man zu Rate zieht, fällt es den einzelnen Autoren schwer, das Tabu genauer zu klassifizieren, es sei denn, dieses als ein Verbot im weitesten Sinne zu umreißen. Jedoch kann man sich einig darüber sein, dass es sich mit dem Tabu um bestimmte Werte einer Gesellschaft handelt, die das Leben und die Prinzipien, nach denen es zu leben gilt, regeln. Und dennoch sind Tabus keine Gesetzmäßigkeiten: es sind weder juristisch verankerte Vorschriften, die sich als nationale, schon gar nicht international verankerte Bestimmungen geschrieben fänden, noch handelt es sich um ein ungeschriebenes Gesetz moralisch‐ethischer Natur, wie es etwa durch Kants kategorischen Imperativ vorgegeben wird. Anthony Julius tastet sich meiner Ansicht nach am besten an die schwer zu fassenden Codizes des Tabus heran, indem er schreibt: »[Taboos] are pieties, and relate to a certain aspect of our lives that tend not to be regulated, or not regulated exclusively, by moral rules. They are more than prohibitions, though they are often experienced in negative form.«4 Wir scheinen also unser Verhalten nach etwas auszurichten, das weder ausdrücklich in einem Regelwerk vermerkt steht, noch auf sonst einer prinzipiengetreuen Grundlage verteidigt werden 1 FREUD, Sigmund, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker (1940), Hamburg 1956, S. 6. 2 Zum Vergleich der ursprüngliche Wortlaut: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. 3 Anthony Julius überliefert eine knappe, aber sehr treffende Unterscheidung durch den Künstler David Smith: »A totem is a ›yes‹, a taboo is a ›no‹ […].«, in: JULIUS, S. 134. 4 JULIUS, S. 134, siehe auch S. 149.

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könnte. Es handelt sich bei Tabus um Relikte altertümlicher Konventionen, die noch heute Einfluss auf unsere Lebensweise haben und jenseits des Gesetzes und über eine ethische Maxime hinausreichend unser Verhalten bestimmen. Im Folgenden gilt es zu überlegen, welche Gesichtspunkte dem Tabu zu eigen sind, die einen Nutzen mit sich führen und die es gerade deshalb von Generation zu Generation weiterzugeben lohnt, oder ob der Bestand an Tabus mit jeder neuen Generation einem Wandel unterliegt, neu ausgebildet und thematisch bestückt wird. Fakt ist: »Die Praxis des Lebens ist nicht geschichtslos. Das Individuum ist immer bereits einer Unzahl von Werten, Gesetzen, Grenzen, Normen, Regeln und Tabus ausgesetzt, die schon da sind, bevor es zur Welt kommt, die in diesem Sinne außerhalb seiner selbst existieren und von dort auf es einwirken. Andererseits ist der Mensch in einem mehr oder weniger signifikanten Ausmaß von seiner inneren Gefühlswelt bestimmt und getrieben. Die menschliche Lebenswelt erweist sich bei genauerer Betrachtung also als ein kaum durchdringbares Gewirr von Außen und Innen, von Geschichte und Gegenwart, von Angst und Macht, von Trieben und Vernunft.«5 Das heißt: es gibt überliefertes Bestandsmaterial, das sich jeweils einer neuen Gesellschaft und dem Einzelnen darin mit der Zeit (und) den Gegebenheiten anpasst, ich möchte hinzusetzen: auch und indem sich Werte neu überliefern oder bilden. Gleichzeitig muss an dieser Stelle vermerkt werden, dass der Tabubegriff nicht nur dem Flux der Zeiten unterworfen ist. Es gibt durchaus Bestandsmaterial, das sich bis heute unveränderlich zu den Tabus gehörend bewährt hat. Karin Seibel unterscheidet deshalb sinnvoll zwischen den besonderen Tabus, die einen universellen Charakter aufweisen und damit immer Bestand hätten – hierzu zählt sie Nahrungs-, Körper- und Sexualtabus wie etwa Kannibalismus oder Inzest; die zweite Form des Tabus umfasst nach Seibel die situativ und kontextabhängigen Themen, die es lediglich zu einem alltäglichen Tabu schafften, indem sie in einem zeitlichen und kulturellen Verhältnis vom jeweiligen Gesellschaftssystem abhängig seien; diese Tabus werden als unbeständig bezeichnet.6 Auch diese Unterscheidung kann nicht immer sauber vorgenommen werden. Sie gibt den Anschein, als handele es sich bei mancherlei Entscheidung, ob ein Tabu verletzt wurde oder nicht, um eine reine Geschmackssache. Dem ist aber nicht so. Wird an ein Tabu gerührt, so werden wir dessen in unserem tiefsten Inneren gewahr. Die Reaktionen sind entsprechend. Es ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass auch der Rahmen, in dem das Tabu gebrochen wird, Berücksichtigung finden muss: es ist ein Unterschied, ob der Tabubruch öffentlich passiert, oder im privaten Bereich – in einer Eins‐zu-eins-Situation oder wenn es nur einen einzigen Zeugen des Tabubruchs gibt –, oder ob sich der Tabubruch in einem institutionalisierten Bereich, zum Beispiel im Museum, abspielt. Man möchte meinen, dass damit das Tabu weitestgehend erkannt, klassifiziert wie verstanden ist und ihm notfalls ausgewichen werden kann. In Wahrheit aber und obwohl wir uns als Mitglieder einer reichlich aufgeklärten, medialen Gesellschaft wähnen, wird uns die Transgression immer unverhofft antreffen. Alleine dieser Fakt er5 TABOR, Jürgen, Tabu und Begehren. Metaphern einer Revolte, Wien 2007, S. 22. 6 Vgl.: SEIBEL, Karin, Zum Begriff des Tabus. Eine Soziologische Perspektive (Dissertation), Frankfurt a.M. 1990, S. 3-4.

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zeugt auch heute noch emotionales Unbehagen, er macht Angst und ist darüber hinaus schwer erklärlich: »Some [emotions] appear as if from nowhere, and we only become aware of them when they are disturbed – when art disturbs them. […] [Art of the modern period] does not dismiss the pieties as illusory. It takes them seriously, as the enemy. […] It affirms their continued presence. It acknowledges that we need these pieties, indeed, that we are in some sense even constituted by them.«7 Um eben diesen Bezug zur Kunst nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, noch bevor das Tabu weiter definiert und seine Funktion beschrieben werden, möchte ich das tatsächliche Vorhandensein von Tabus sowie dessen Auswirkungen in einem einleitenden Kapitel anhand einer vergleichenden Betrachtung der Werke von Chris Burden, Marina Abramović und Valie EXPORT beispielhaft schildern.

Please Do Touch – Museum ohne Grenzen »Wie [die] Form [des Verbotes], so wechselt sein Gegenstand: ob jedoch die Sexualität oder der Tod in Frage steht, immer ist die Gewaltsamkeit gemeint, die Gewaltsamkeit, die erschreckt, aber fasziniert.« 8 Es mag sich auf den ersten Blick befremdlich lesen, wenn Bataille die Sexualität und den Tod in einem Atemzug mit der Gewaltsamkeit nennt. Gemeint ist damit schlicht das Werden und Vergehen des Lebens. Beides sind gewaltige wie gewaltsame Ereignisse im Leben eines jeden Menschen. Beides hat mit Verboten zu tun. Für den Moment wichtig erscheint mir allerdings Batailles Aussage dahingehend, dass er den verbotenen, tabuisierten Dingen einen Wandel unterstellt, der sowohl deren Form als auch deren Motive betrifft. Dieser Überzeugung ist auch Günther Patzig, der darüber hinaus von einem Wandel der moralischen wie strafrechtlichen Vorstellungen einer Gesellschaft spricht: »In den meisten dieser Fälle stand vor der späteren Veränderung der moralischen oder sogar strafrechtlichen Normen eine lange und meist heftige Auseinandersetzung, in der die Anhänger des Status quo für den Fall der Änderung bestehender Normen regelmäßig den Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaft oder wenigstens einiger ihrer wichtigsten Institutionen voraussagte.«9 Die Frage ist nun, ob und – wenn ja – inwiefern Werte und Normen einer Gesellschaft sowie Ethik und Ästhetik der Kunstproduktion in der Tat dem Wandel unterworfen sind und welche Debatten damit einhergehen. Deshalb zunächst zu zwei Szenarien, in denen je ein Beispiel aus der Post-Moderne und der zeitgenössischen Kunst einander gegenüberstehen. Sie zeigen, dass je nach zeitlichem Kontext eine Verschiebung sowohl der Auffassung als auch der Relevanz tabuisierter Themenkomplexe stattfindet. 7 JULIUS, S. 137-138. 8 BATAILLE, Georges, Die Erotik (1957), neu übersetzt und mit einem Essay versehen von Gerd Bergfleth, München 1994, S. 52. 9 Günther Patzig, »Gibt es Grenzen der Redefreiheit?«, in: BIRNBACHER, Dieter (Hg.), Bioethik als Tabu? Toleranz und ihre Grenzen, Münster 2000, S. 11-22, hier S. 18.

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Dies hat zur Folge, dass auch eine Reaktion auf und die Ahndung der jeweiligen Grenzüberschreitung Veränderungen unterworfen sind. Hier das erste Szenario: 1969 durchschreitet Valie EXPORT in ihrer Performance, mit der Aktionshose: Genitalpanik und einem Maschinengewehr ausgestattet die Sitzreihen des Kinosaals in den Augusta Lichtspielen in München, indem sie ihre durch einen Ausschnitt in der Hose entblößte Scham frontal dem Publikum zukehrt. Den Blick auf EXPORTS Geschlecht, kommentiert Martine Beugnet wie folgt: »Und damit wird auch dem Klischee ein Ende gesetzt, das unsere Sprache und unsere Vorstellungswelt so lange verseucht hat. Das weibliche Geschlecht ist alles andere als ein Loch (das gewaltsam penetriert oder gefüllt werden muss) und sein komplexes Erscheinungsbild widerspricht der Auffassung, es habe etwas mit Mangel zu tun.«10 Die provokative Aktion ist selbstverständlich dem Zeitkontext geschuldet und bemüht sich auf aggressive Weise um die Belange der zum Zeitpunkt aufflammenden Frauenbewegung und dem »Feministischen Aktionismus«, zu dem sich EXPORT bekennt. Valie EXPORT gilt zwar heute trotz zahlreicher weiterer Tabubrüche im Rahmen ihrer Aktionen und Filme als durchwegs rehabilitiert, jedoch kam ihr künstlerisches Tun nicht ohne strafrechtliche Konsequenzen aus: 1970 wurde der Künstlerin von der österreichischen Staatsanwaltschaft das Sorgerecht für ihre Tochter Perdita entzogen. Dem Mitführen eines Maschinengewehres wurde in den Prozessakten keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt.11 Die Verschiebung der strafrechtlichen wie moralischen Relevanz ist am 11. November 2005 im New Yorker Guggenheim Museum zu beobachten. Dort wiederholte Marina Abramović angedenk ihrer österreichischen Vorgängerin die Performance Aktionshose: Genitalpanik von 1969. Überraschenderweise galt im Amerika des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht die entblößte Scham der Künstlerin als Erregung eines öffentlichen Ärgernisses, sondern problematisiert wurde die Schnellfeuerwaffe, eine M16, wie sie von US-Streitkräften verwendet wird. Knappe vier Jahre nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center stieß die Waffe in den Händen Abramovićs nicht einmal als Zitat auf Verständnis.12 Während dem Mitführen einer Waffe in den Prozessakten Valie 10 Martine Beugnet, »EXPORTs Werden: MANN & FRAU & ANIMAL«, in: SZELY, Sylvia (Hg.), EXPORT Lexikon. Chronologie der bewegten Bilder bei Valie EXPORT, Wien 2007, S. 11-17, hier S. 13. 11 Hauptsächlicher Anklagepunkt war die zusammen mit Peter Weibel herausgegebene »unzüchtige Schrift« zur Dokumentation der am 7. Juni 1968 an der Universität Wien gezeigten Aktion »Kunst und Revolution« der Wiener Aktionisten. EXPORT war an der als »Uni-Ferkelei« in die Geschichte eingegangenen Aktion selbst nicht beteiligt, führte lediglich die Lichtregie für Weibels Auftritt. Siehe hierzu auch: SPIEGLER, Almuth, »Valie EXPORT: ›Da wäre ich ja im Irrenhaus!‹« (Interview), in: Die Presse online, http://diepresse.com/home/kultur/kunst/563913/Valie-Export_Da‐waere-ich‐jaim-Irrenhaus [erschienen am 08. Mai 2010, zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2016], sowie: TRENKLER, Thomas, »Valie REXPORT: ›Ich wollte raus!‹ (Interview), auf: www.thomastrenkler.at/interviews/valie‐export-ich‐wollte-raus/[erschienen am 14. April 2015, zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2016]. 12 Dies rührt mit Sicherheit auch daher, dass Abramović EXPORTs Handlung aus der ursprünglichen Aktion in einer relativ statischen Pose absolvierte, die sich am dokumentierten Fotomaterial zur Performance orientierte: indem sich Abramović auf einem zylindrisch geformten Podest befand und auf die Besucher entweder im Sitzen oder stehend herabblickte, fehlte die in den Kinoreihen von EXPORT erwirkte Eins‐zu-eins-Situation zwischen der Künstlerin und dem Kinobesucher. Die Situation in der Guggenheim wurde eher als bedrohlich und einer Überwachungssituation gleich empfunden. Vgl. hierzu: Mechtild Widrich, »Can Photographs Make It So? Several Outbreaks of VALIE EXPORT’s Genital Panic 1969-2005«, in: VAN GELDER, Hilde und Helen Westgeest (Hgs.), Photography Between

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EXPORTs keinerlei Bedeutung beigemessen wurde, erntete die Waffe im New Yorker Guggenheim Museum vielfach Kritik und man betrachtete deren Präsenz als Angriff auf die Werte der Gesellschaft und der Künste; kurz: als eine nicht legitime Form des künstlerischen Ausdrucks. Das zweite Szenario, welches ich zur Verdeutlichung der Verschiebung der Relevanzen heranziehen möchte, zeigt den tatsächlichen Gebrauch einer Waffe: Am 19. November 1971 lässt sich der Künstler Chris Burden in der Aktion Shoot in der Gallery FSpace in Santa Ana, Kalifornien, von seinem Freund vor laufender Kamera in den Arm schießen. Das 22-kalibrige Gewehr wird dabei aus 4,5 Metern Entfernung abgefeuert. Der ursprünglich geplante Streifschuss endete in einem glatten Durchschuss des linken Oberarmes des Amerikaners. Chris Burden sieht sich in diesem Zusammenhang als lebende Skulptur zu Zeiten des Einsatzes der amerikanischen Truppen in Vietnam. Wie viele Künstler seiner Generation nimmt der Performer Bezug auf die fragwürdige Rolle der USA innerhalb eines ungerechtfertigten Kriegszuges.13 Bei der anschließenden Versorgung der Schusswunde in einem Krankenhaus, prüft auch die Polizei routinemäßig ein etwaiges strafrechtliches Vorgehen sowie ob Chris Burden Anzeige gegen seinen Freund erstatten wolle. Man untersuchte hartnäckig die Rolle und Beteiligung des vermeintlichen Täters und war nur schwer davon zu überzeugen, dass alles im Rahmen einer Kunst-Aktion exakt nach den Instruktionen und mit Einwilligung des Künstlers vorgenommen wurde. Chris Burden erhob wiederum – wenn auch nicht innerhalb eines strafrechtlichen Verfahrens – Anklage, da er die Performance als gescheitert betrachtete und behauptete, alle Zuschauer hätten sich an diesem Gewaltakt beteiligt, indem diese nicht eingegriffen hätten.14 Der Vorwurf ist berechtigt, da ja tatsächlich sowohl das Publikum die Schießaktion verhindern hätte können15 – und dies in einem Kontext außerhalb des Kunstraumes sicherlich auch getan hätte – als auch der Schütze sich weigern hätte können, abzudrücken. Damit rührt Burden an die Frage, inwiefern eine Gewaltanwendung dem Kontext unterworfen ist: kann der Kunstraum etwas zulassen, was außerhalb dessen zu strafbaren Handlungen führt? Kathy O’Dell stellt in diesem Zusammenhang fest, dass in beiden Fällen zwischen allen Beteiligten ein Kontrakt geschlossen worden sei, bestehend aus einem Angebot und der Akzeptanz des Angebotes, dem eine Verhandlungsphase vorausginge. Komme man miteinander ins Geschäft, so akzeptiere man die Bedingungen, indem man diese schriftlich oder mündlich besiegele. Aber auch eine stillschweigende Akzeptanz sei möglich, etwa, wenn der Künstler zu einer Performance lud, die Gäste erschienen und ihre – wie bislang in der Kunstwelt üblich – passive Rolle als Zuseher einnähmen: »It is precisely this sort of passive Poetry and Politics. The Critical Position of the Photographic Medium in Contemporary Art, Leuven 2009, S. 53-68, hier S. 62-64. 13 Vgl. u.a.: WARR, Tracy (Hg.), Kunst und Körper, Berlin 2005, S. 122. 14 Doris Kolesch, »Die Schmerzen anderer betrachten. Zur Wahrnehmung von Performances«, in: CADUFF, Corina und Tan Wälchli, Schmerz in den Künsten, Zürich 2009, S. 88-101, hier S. 97-98. 15 So geschehen bei einigen Performances von Marina Abramović wie etwa in Lips of Thomas (erstmals 1975), als Zuschauer die Künstlerin vom Eisblock hoben, oder in Rhythm 5 (1974), als Abramović inmitten eines fünfzackigen brennenden Sterns am Boden lag und ohnmächtig wurde, da die Flammen den Sauerstoff aufgebraucht hatten.

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acceptance by onlookers going about their own daily lives that Burden felt most compelled to address. Converting his body into a limit‐text of dependency on others, Burden concretized the structure of the contract and its base in mutual understanding.«16 Insgesamt hatte die Überprüfung von Shoot durch die Polizei aber keinerlei juristische Konsequenzen nach sich gezogen. Auch der Kurator der Aktion, Paul Schimmel, wurde nicht belangt. Shoot ist eine der ersten und eine der bekanntesten Aktionen von Chris Burden. Die spektakuläre Performance fand Nachahmer. Eine davon führt zum Vergleichsbeispiel aus der zeitgenössischen Kunstwelt. Chris Burden war 1978 zum Professor an die University of California berufen worden. Er lehrte dort bis 2004 im Bereich »Neue Medien«. Seine Kündigung war am 20. Dezember des Jahres bei der Universitätsleitung eingegangen. Diesem Entschluss ging die Schießaktion des Studenten Joseph Deutch voraus: als Student in der Klasse des Künstlers Ron Athey hatte Deutch seinen Suizid vorgetäuscht. Zum Zeitpunkt war nicht eindeutig klar, ob er sich tatsächlich selbst getötet hatte, oder es sich um ein Schauspiel handelte. Das Leben aller wurde vorübergehend in das Kunstwerk integriert und Kunst damit zum Leben selbst erklärt, zu einem solchen Grad, dass keine Unterscheidungsmöglichkeit mehr bestand.17 Aufgrund dieses Vorfalls legte Chris Burden sein Amt als Professor nieder. Die Universitätsleitung hatte sich geweigert, Burdens Antrag stattzugeben und den Studenten zu exmatrikulieren. Burden verwehrte sich mit seiner sofortigen Kündigung vehement gegen die Argumentation, die Aktion habe niemanden verletzen wollen und diese sei lediglich als Zitat der früheren Performances des Lehrenden zu werten gewesen.18 Nun verlangt die durch eben genannte Beispiele belegte These – nämlich, dass Tabubrüche dem Zeitgeschmack unterlegen sind – im Hegel’schen Sinne nach einer AntiThese, die da lautet: Im Gegensatz zu eben ausgeführten Grenzüberschreitungen in den Künsten, handelt es sich im Falle der Würde und des Lebensrechtes des Menschen um ein unverrückbares und zeitlos relevantes Tabu, welches als unantastbar gilt. Zur Bebilderung dieser These sollen wieder die beiden Künstler Marina Abaramović und Chris Burden dienen. In beiden Beispielen wird gleichzeitig Licht auf das kollektive Verhalten der Beteiligten geworfen. Dieses tritt gemäß der soziologischen Forschung 16 O’DELL, Kathy, Contract with the Skin. Masochism, Performance Art and the 1970s, Minneapolis 1998, S. 53; s.a. S. 2 und S. 10. 17 Informationen zu den genauen Umständen der Aktion entstammen Gesprächen der Autorin mit der Künstlerin Analia Saban, die während der Performance zugegen war und alle Beteiligten kannte (22. November 2014 und 22. Januar 2015, Kunstakademie Düsseldorf). 18 Sarah Watson, Direktorin der Gagosian Gallery, Beverly Hills, bemerkte das Folgende: »[…] Burden’s work was controlled and […] the audiences never felt in jeopardy. The UCLA case is different […] because it was a surprise action and there was genuine fear.«; Sarah Watson, zitiert nach: BOEHM, Mike, »2 Artists Quit UCLA Over Gun Incident, in: Los Angeles Times online, January 22, 2005, n.p., auf: http://articles.latimes.com/2005/jan/22/local/me‐profs22 [zuletzt aufgerufen am 31. Mai 2016]. Mit der zweiten Person, die im Zuge dessen kündigte, war Burdens Frau Nancy Rubins gemeint. Immerhin fanden nach dem Vorfall einige Meetings zur Seelsorge mit den damals anwesenden Studenten statt und es wurde strikt auf das Waffenverbot auf dem Campus hingewiesen. Einige Studenten zweifelten die Sicherheitsmaßnahmen der Universität an, die große Mehrheit unter den Studierenden war jedoch darüber beunruhigt, dass die Freiheit der Kunst mit Füßen getreten würde. Siehe nochmals: BOEHM, Art., 2005, n.p.

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als »nicht‐institutionalisiertes Handeln« ein, wenn eine Mehrzahl an Menschen zu Aktivitäten mobilisiert wird, »die im Allgemeinen von den Nicht-Beteiligten als außerhalb der herrschenden Normen liegend (d.h. ›nicht‐institutionalisiert‹) betrachtet werden.«19 Das heißt gleichzeitig, dass es jeden betreffen kann, indem das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen in der Masse herabgesetzt wird und eine Grenzüberschreitung in der Gemeinschaft leichter fällt.20 Etwa in der 1974 von Marina Abramović im Studio Morra, Neapel, veranstalteten Aktion Rhythm 0, in der sie dem geladenen Publikum die Dynamik von passiver Aggression vorzuführen gedachte. Zur Verfügung standen unterschiedliche Objekte und die Künstlerin selbst, welche die folgende Aufforderung machte: »There are 72 objects on the table that one can use on me as desired.«21 Nach sechs Stunden der von 20:00 bis 2:00 Uhr morgens andauernden Performance hatte man Abramović mit der Rasierklinge die Kleider vom Leib geschnitten, der Haut Schnitte beigefügt, ihr Blut getrunken, sie bemalt und wieder gesäubert, dekoriert, mit Dornen gekrönt und sie eine Waffe an den Hals halten lassen. Während der einzelnen Handlungsabläufe hatten sich zwei Gruppen herausgebildet: die »Aggresseure« und die »Befrieder«. Als die Waffe von einem Besucher mit der einzig zur Verfügung stehenden Patrone scharfgemacht wurde, griff der Galerist ein und warf die Pistole aus dem Fenster. Die Aktion endet weit später, um zwei Uhr morgens, indem Abramović sich selbständig zu bewegen begann und vom passiven Objekt wieder zur Künstlerpersona wurde. Die Veranstaltung löste sich unmittelbar danach auf, die Teilnehmer flohen im wahrsten Sinne des Wortes vor der Künstlerin.22 Trotz aller physischen Auseinandersetzungen auch zwischen den Teilnehmern, kam es im Nachgang zu keinen strafrechtlichen Untersuchungen der Aktion, weder auf Geheiß der Künstlerin, noch wurden diese, andere oder der Veranstalter zur Rechenschaft gezogen. Das zweite Szenario zeigt Chris Burden im September des Jahres 1971 an drei Tagen in Folge für jeweils zwei Stunden am Boden der Galerie F-Space in Santa Ana, Kalifornien, liegen. Für seine Performance Prelude to 220 or 110 ist der Künstler an den Handund Fußgelenken mit Kupferschellen am Boden verschraubt. Neben ihm – am Kopfende – steht links und rechts je ein Eimer gefüllt mit Wasser, die unter 110 Volt Strom 19 SMELSER, Neil J., Theorie des kollektiven Verhaltens (1963), Köln 1972, S. 14-15. 20 Vgl.: TABOR, S. 182. 21 NEW YORK (Ausst.kat.), MoMA New York, Marina Abramović. The Artist Is Present, 14. März – 31. Mai 2010, hg.v. MoMA und Klaus Biesenbach, Texte von: Klaus Biesenbach, Arthur C. Danto, Chrissie Iles, Nancy Spector und Jovana Stokić, New York 2010, S. 74. 22 Abramović: »[They] literally ran out of the space, they could not stand me as person, after all that they had done to me.«; Marina Abramović, zitiert nach: Kristine Stiles, »Cloud with its Shadow«, in: BIESENBACH, S. 33-94, hier S. 60. Der österreichische Künstler FLATZ machte nach seiner Performance Treffer von 1979, in der er das Publikum dazu aufforderte, mit Dartpfeilen nach ihm zu werfen, wofür der erste Treffer 500 DM erhalten sollte, eine ganz ähnliche Erfahrung: die Werfer, die man zunächst angefeuert hatte, wurden sofort nach dem Siegestreffer vom Publikum beschimpft und angegriffen; FLATZ berichtet aber auch von einer überraschenden Konsequenz im Nachgang seiner Aktion: »Alle, die geworfen hatten, haben im Laufe einer Woche – da waren Spanier, Engländer, Franzosen, Belgier dabei – mit mir Kontakt aufgenommen, entweder schriftlich oder telefonisch, und haben mir erklärt, dass es ihnen unerklärlich war, wieso sie das getan haben.«; FLATZ, zitiert nach: TABOR, S. 207.

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stehen. Burden erinnert sich: »[…] people were apprehensive about getting near me. It was almost as if the buckets were repulsive magnets. Most people stayed very far away. I would talk to people and they would sort of come up gingerly, but they all stayed really very far away as if the floor were littered with banana peels and they might at any point slip and kick the buckets over.«23 Das »Was‐wäre‐wenn«-Szenario tritt nicht ein: da während der drei Tage keiner der Eimer umgestoßen wurde, kam es auch niemals in einem zweiten Schritt zu einem tödlichen Stromstoß für Besucher oder den Künstler. Worauf der Titel der Performance verweist, ist, dass es sich mit dieser Aktion vom 10.-12. September 1971 nur um ein Vorspiel handelte und auch dazu diente, Teilnehmer für eine Folge-Performance zu rekrutieren.24 Am 9. Oktober 1971 wurde dafür selbige Galerie unter Wasser gesetzt. Chris Burden und drei seiner Freunde wateten durch das 30 cm tiefe Wasser und erklommen am anderen Ende des Raumes je vier Meter hohe Leitern. Sobald alle ihre Position eingenommen hatten, lässt Burden ein Stromkabel mit 220 Volt – so auch der Titel der Aktion: 220 – ins Wasser fallen. Von Mitternacht bis etwa 6:00 Uhr morgens verblieben die vier Männer alleine – teils miteinander plaudernd, teils schlafend – in Stellung, bis Burdens Frau am Morgen den Strom abdrehte.25 Innerhalb seines gesamten Oeuvres ist 220 wohl die am wenigsten kontrollierbare Performance. Sich selbst in Lebensgefahr zu bringen, seine physischen wie psychischen Kapazitäten zu testen und/oder dies in anderen herauszufordern, ist keinesfalls ein juristisches Problem wie in den oben erläuterten Fallbeispielen. Aber in ethischer Hinsicht bleiben Zweifel. Die letztgenannten Beispiele, Marina Abramovićs Rhythm 0 und Chris Burdens Prelude to 220 or 110, beziehungsweise 220, lassen erahnen, dass der Zeitgeschmack des Publikums irrelevant ist, was die Wertigkeit dieser besonderen Tabus belangt, die von universellem Charakter sind.26 Es werden hierin von beiden Künstlern Themen gewählt, welche auf das Jedermanns-Recht von Leben und Würde verweisen. Im hiesigen Kulturkreis ein zeitloses und unstrittiges Axiom. Überblicken wir an dieser Stelle die Beispiele in ihrer Gesamtheit, wird aber ebenfalls klar, dass die Vorstellung von Tabus und das Überschreiten von Grenzen eben auch dem jeweiligen Zeitgeist geschuldet sind und sich nach beliebig gesteckten und unterschiedlichen Empfindungen des Menschen zu Themen wie Moral, Gesetz und Vergehen richten. Tabus umfassen deshalb gleichzeitig auch unbeständige wie situativ und kontextabhängige Themen.27 Es wurde deutlich, 23 Chris Burden, zitiert aus: Chris Burden and Jan Butterfield, »Through the Night Softly« (Interview), in: BATTCOCK, S. 222-239, hier S. 227. 24 »It was also a way of getting recruits for a piece called 220 – to show them that I could do it and not be electrocuted, so that I could get others to participate in a piece with me.«; Chris Burden in: Chris Burden and Jan Butterfield, in: BATTCOCK, S. 222-239, hier S. 227. 25 »The piece was an experience in what could happen. It was a kind of artificial ›men in a life raft‹ situation. The thing I was attempting to set up was a hyped‐up situation with high danger, which would keep them awake, confessing, and talking, but it didn’t really. After about two and a half hours everybody got really sleepy. They would kind of lean on their ladders by hooking their arms around, and go to sleep. It was surprising that anyone could sleep, but we all did intermittently.« [kursive Hervorhebungen durch Chris Burden]; Chris Burden in: Chris Burden and Jan Butterfield, in: BATTCOCK, S. 222-239, hier S. 229. 26 Wie weiter oben: SEIBEL, S. 3-4. 27 Siehe wieder: SEIBEL, S. 3-4.

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dass sich Tabus weder einheitlich als ein juristisch absteckbares Feld präsentieren, noch rein ethisch motivierte Fragen damit berührt werden. Georges Bataille behält also Recht, wenn er dem Tabu eine Veränderung in Form und Gegenstand unterstellt, aber die lebenswichtigen Motive als immerwährende Verbote einstuft. Was also ist im ursprünglichen Sinne ein Tabu und wie funktioniert es ehemals und im Jetzt?

II.1 Das Tabu: Eine Definition Was ist ein Tabu? Jeder Gemeinschaft liegen standardisierte Richtlinien für ein Zusammenleben zugrunde, eine Art gesellschaftlicher Vertrag, der aus verschiedenen Übereinkommen über einen langen Zeitraum und von den Erfahrungen des Individuums gespeist entstanden war.28 Diese Übereinkommen umfassen sowohl rechtliche wie auch ethische Gebote und Verbote, i.e. Normen, Gesetze, Rituale und Werte. Zäumt man das Pferd von hinten auf, indem man die Werte an erster Stelle nennt, so trifft man hiermit auf die größtmögliche Schnittmenge all dessen, was für eine Gemeinschaft als wünschenswert erachtet wird. Die Vereinbarung von Werten beschreibt nämlich den angestrebten Endzustand eines handelnden Systems. Allerdings werden in einem Wertesystem keine bestimmten Normen oder Gesetze festgelegt, nach welchen im Speziellen zu verfahren ist, um dieses Optimum zu erzielen. Werte sind die »allgemeinste Komponente des sozialen Handelns. […] Das bloße Vorhandensein von Werten ermöglicht noch kein Handeln.«29 Letzteres wird erst durch das Hinzukommen von Normen und Gesetzen geregelt, die ein Wertesystem bestimmen und es in die Tat umsetzen lassen. Dabei spezifizieren die Normen äußerst exakt die einzelnen Richtlinien und Prinzipien, wie sie in einer Gesellschaft gebräuchlich – also: die Norm – sind, und die Gesetze bilden das Regelwerk, an das es sich zu halten gilt. Die Crux ist nun, dass einerseits einzelne Elemente einer Gesellschaft nicht immer der repressiven Norm entsprechen, sondern davon abweichen. Andererseits gibt es gerade deshalb sowohl das geschriebene, d.h. rechtswirksame Gesetz, aber auch das ungeschriebene Gesetz, da man eine Gesellschaft mit Gesetzen und Normen nicht überfrachten will und mit einer derartigen Überreglementierung auch nicht zu erwarten ist, dass eine ethische Verbesserung in einer Gesellschaft erzwungen werden kann.30 Um die bestmöglichen Ergebnisse im Sinne einer im Wesentlichen moralisch handelnden Gesellschaft zu erzielen, braucht es die Unterstützung weiterer, wiederum ungeschriebener Richtlinien: diejenigen von Ritualen und von Tabus. Erst die Summe von Werten, Normen und Gesetzen auf der einen Seite und Ritualen und Tabus andererseits bildet 28 Vgl. hierzu die ausführlichen Überlegungen von: DOUGLAS, Mary, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (1966), Berlin 1985, S. 57. 29 SMELSER, S. 44-45. 30 Jürgen Tabor gibt zurecht zu bedenken, dass zeitweise auch die Legislative Fehler begeht und/oder Gesetze nicht immer auch moralisch waren. Vgl.: TABOR, S. 19.

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den Unterbau zu einem gemeinsamen Kollektivbewusstsein, wie es von Émile Durkheim bezeichnet wurde. Uns ist es im Folgenden um das Tabu zu tun. Das Tabu – im Polynesischen ehedem tapu – wird den zivilisierten Kulturkreisen einst anhand der Reisetagebücher von James Cook übermittelt. Cook selbst fiel der versehentlichen Nichtbeachtung eines Tabus zum Opfer, indem er nach dem Bruch des Fockmastes wieder auf der Hawaiianische Insel anlegte, deren Bewohner ihn als Gott verehrten. Der Landgang geschah außerhalb des rituell vorgesehenen Zeitfensters, weshalb man Cook 1779 in der Bucht von Kealakekua tötete.31 Das Wort »Tabu« war Cook 1777 in weniger gefahrvoller Situation auf den Tonga-Inseln bekannt geworden und er überlieferte es als »the common expression when any thing is not to be toche’d, unless the transgressor will risque some very severe punishment as appears from the great apprehension they have of approaching any thing prohibited by it.«32 Noch heute gilt ein Tabu als ein unantastbares Verbot, etwas, was nicht berührt werden darf und daher zu meiden ist.33 James Cook hatte auf seiner dritten Südseereise aber nicht etwa einen Sachverhalt entdeckt, der uns zum damaligen Zeitpunkt gänzlich fremd gewesen wäre. Es scheint aber, dass sich jenseits der Südseeinseln noch keine geeignete Begrifflichkeit gefunden hatte oder aber dem Tatbestand des Tabus – zumal es so unaussprechlich ist – nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, um es auch zu benennen. Jedenfalls wurde der Begriff Tabu samt dessen Bedeutungsgehalt sehr schnell in allen Sprachen und Kulturen übernommen und hielt Einzug in den einschlägigen Lexika, Enzyklopädien und Nachschlagewerken.34 Die dem Tabu ursprünglich zu eigene Bedeutung des »Heiligen« hat sich dahingegen nicht überliefert, da ansonsten das Tabu in den meisten Kulturkreisen in einen ausschließlich religiösen Kontext gestellt und der gleichzeitig profan gemeinte Zusammenhang damit unterschlagen würde.35 Und dennoch gingen mit den Tabus ursprünglich magische Richtlinien, die den Naturvölkern zur Handhabung von abergläubischen Vorstellungen dienten, über in religiöse Praktiken und wurden erst später zum Teil in ein profanes Alltagsleben übergeführt.36 Aber auch in einer säkularisierten Welt verwischen noch heute die Grenzen zwischen der religiösen und profanen Altlast von Tabus, weswegen eine weitere Zweiteilung auf einer qualitativen Ebene stattfinden muss. Einmal treffen wir auf profane Tabus, wie wir sie im Alltag 31 Vgl. u.a.: SEIBEL, S. 62-63. 32 James Cook, The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776-1780, Bd.3 von: COOK, James, The Journals of Captain Cook on His Voyages of Discovery (1768-71), Cambridge 1967, S. 948. 33 Zur genaueren Bestimmung und Wortbedeutung vgl. u.a.: Claudia Benthien und Ortrud Gutjahr, »Interkulturalität und Gender-Spezifik von Tabus. Zur Einleitung«, in: BENTHIEN, Claudia und Ortrud Gutjahr (Hgs.), Tabu. Interkulturalität und Gender, München 2008, S. 7-16, hier S. 7; Lidia Guzy, »Tabu – Die kulturelle Grenze im Körper«, in: FRIETSCH, Ute, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John und Beatrice Michaelis (Hgs.), Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, Bielefeld 2008, S. 17-22, hier S. 17-18; KUBIK, Gerhard, Tabu. Erkundungen transkultureller Psychoanalyse in Afrika, Europa und anderen Kulturgebieten, Wien 2007, S. 16-17, oder SEIBEL, S. 4 34 Vgl. hierzu eine Listung an Eintragungen bei: KRAFT, Hartmut, Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit, Düsseldorf und Zürich 2004, S. 35-36. 35 Vgl.: SEIBEL, S. 84. 36 Siehe auch: Ortrud Gutjahr, in: BENTHIEN, S. 19-50, hier S. 39.

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ständig erleben und die wir zu umschiffen gelernt haben. Die Forschung spricht hier von Quasi-Tabus, die auch der Veränderung unterliegen und den jeweils aktuellen Stand einer Gesellschaft kennzeichnen.37 Viel seltener hingegen pflegen wir Umgang mit den tatsächlichen Tabus einer Gesellschaft, die Bataille mit der Sexualität und dem Tod als die gewaltsamen Einschnitte im Leben benennt, da sie die nicht‐alltäglichen Begebenheiten von Werden und Vergehen belangen. Es wäre freilich falsch, diese im Vergleich zu den profanen Tabus in einen rein religiösen Kontext stellen zu wollen. Sie sind allumfassend. Vereinfachend nennt der Duden das Tabu ein ungeschriebenes Gesetz, welches ein Verbot beinhaltet, bestimmte Dinge zu tun. Dieses Erklärungsmodell ist nur scheinbar ein vages. Es gibt keine Tabus, die nicht auch rational zu begründen wären.38 Allgemeiner Konsens herrscht darüber, dass Tabus Meidungsgebote sind, die verhaltensregulierend wirken. Gemieden werden soll alles, das als »heilig« und unantastbar gilt, was Personen, Gegenstände und Orte gleichermaßen betreffen kann.39 Sigmund Freud betont darüber hinaus, dass nicht alleine das Heilige ein Tabu auszeichnet, sondern das exakte Gegenteil der Fall sein kann: gerade auch das Unreine und Unheimliche gelten als gefährlich und werden vom Verbot eines Tabus miteingeschlossen und als unantastbar gehandhabt.40 Auch deshalb reagiert man auf Tabus mit Scheu und Unbehagen, ja sogar mit Ekel.41 Gertrud Koch schildert, was dies zur Folge hat: »Im ersten Fall würde die Verletzung des Tabus eine Beschmutzung des Heiligen hervorrufen, im zweiten Fall die Beschmutzung des Tabubrechers. Diese Schutzfunktion des Tabus ist sein rationaler Kern. Es funktioniert nach der kausalen Logik des Um‐zu. Und insofern es funktional eingesetzt ist, erfüllt es soziale Funktionen wie Riten und andere soziale Ordnungssysteme auch.«42 Das ein Tabu betreffende Meidungsgebot gebietet uns schlichtweg, nichts zu tun, eine Handlung kategorisch zu verneinen.43

Was ist tabu? Es stellt sich nunmehr die Frage, welche Themen das sind, die es zu meiden gilt. Im Folgenden wird dabei vom Kleinen ins Große argumentiert, d.h. von der eben getroffenen Differenzierung der Quasi-Tabus unseres Alltags hin zu den nicht‐alltäglichen, besonderen und universell gültigen Tabus. Es besteht zwar ein qualitativer Unterschied zwischen den so unterschiedenen Tabus, was jedoch nicht heißen kann, dass das jewei37 SEIBEL, S. 7 und S. 15. 38 Wenn Karin Seibel dies dennoch tut und beispielhaft auf die Frage verweist, warum wir keine Hunde essen, muss ihr mit einem Gegenbeispiel widersprochen werden, denn die Frage wäre dann auch umgekehrt zu stellen: Warum isst man in manchen asiatischen Ländern Hund? Für beide Fakten gibt es rationale Begründungen des jeweiligen Kulturkreises. Vgl.: SEIBEL, S. 28. 39 Vgl.: Ortrud Gutjahr, »Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung«, in: BENTHIEN, S. 19-50, hier S. 19 und S. 31, sowie FREUD, S. 29. 40 FREUD, S. 25 und S. 29. 41 Ortrud Gutjahr, in: BENTHIEN, S. 19-50, hier S. 34. 42 Gertrud Koch, »Zwischen Berührungsangst und Schutzfunktion. Das Tabu und seine Beziehung zu den Toten«, in: BENTHIEN, S. 191-201, hier S. 193-194. Vgl. auch: SEIBEL, S. 132-133. 43 SEIBEL, S. 49.

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lige Thema tauglich für die Öffentlichkeit wäre. In beiden Fällen ist man stets versucht, sich heiklen Dingen weder gedanklich noch verbal zu nähern. Tabus bleiben eben tabu. Tabus reichen in die verschiedensten Themenkomplexe hinein und berühren dabei Nahrungs-, Sexual- und Körpertabus. Julia Kristeva gruppiert diese Themen zu drei Verbünden: »[…] life and death, vegetal and animal, flesh and blood, hale and ill, otherness and incest. Keeping to the semantic value of those oppositions, one can group them under three major categories of abomination: 1) food taboos; 2) corporeal alteration and its climax, death; and 3) the feminine body and incest.«44 Die hier vorliegende Untersuchung möchte keinen Schwerpunkt auf explizit das weibliche Geschlecht betreffende Tabus legen, sondern vor allem gender‐neutrale Tabus beleuchten.45 Trotzdem sei darauf verwiesen, dass Frauen traditionell seit jeher häufiger von Meidungsgeboten betroffen sind. Auch das von Kristeva in dieser Verquickung sinnvoll angeführte Inzestverbot, dessen Zusammenhang sie in ihrer Schrift eindrucksvoll anhand biblischer Vorgaben belegt und dabei in ihrer Argumentation auf die Überlegungen eines Sigmund Freud zurückgreift46 , ist nicht Thema dieser Arbeit. Blicken wir aber auf die von ihr zuerst genannten Essenstabus, nähern wir uns dem eigentlichen Kern der Sache: dem menschlichen Körper, den Kristeva als zweiten Themenkomplex aufzählt und dem Mary Douglas folgende Rolle zuerkennt: »Der menschliche Körper spielt in den verschiedenen Symbolsystemen, Tabuvorstellungen und Ritualen eine ganz besondere Rolle. Einmal wird der Körper als Ausdrucksmittel benutzt – im Lachen, Weinen, Essen, Waschen, Sichzusammennehmen, Sichgehenlassen usw. –, wobei eine breite, gesellschaftlich determinierte Variabilität dieser Expressionen festzustellen ist; Körperkontrolle und soziale Kontrolle sind wechselseitig aufeinander bezogen. Zum anderen wirkt sich die Vorstellung vom eigenen Körper in Form der Körpersymbolik auf das Gesellschafts- und Weltbild aus: das Sozialsystem erscheint als Organismus, der Körper als mikroskopisches Abbild der Gesellschaft.«47 Der menschliche Körper, egal welcher Kultur und egal zu welchem Zeitpunkt, als pars pro toto für ein gesamtes Weltbild also.48 Wenn Kristeva in ihrer Nennung von Tabuthemen das Essensverbot an den Anfang stellt, so hat dies bereits entfernt mit den Schutzmechanismen zu tun, die wir unserem Körper angedeihen lassen. Für den westlich und christlich geprägten Kulturkreis kommt man dabei nicht umhin, eine der biblischen Quellen dieses Meidungsgebotes zu Rate zu ziehen: Du sollst nichts essen, was dem Herrn ein Greuel ist. (3. Buch Moses: Deuteronomium 14, 3). Damit wird dasjenige im Rahmen von Meidungsgeboten verboten, was zu essen als unrein 44 KRISTEVA, Julia, Powers of Horror: An Essay on Abjection (1980), New York 1982, S. 93. 45 Tatsächlich kann es das jedoch nicht geben, was sich auch in den einzelnen Fallbeispielen immer wieder zeigen wird. Dennoch ist es vorrangiges Ziel der ausgewählten Künstler und dieser Untersuchung, eine für jedermann erlebbare Grenzerfahrung durch Tabubruch zugänglich zu machen. Vgl. hierzu auch: DOUGLAS, Reinheit und Gefährdung, S. 12. 46 FREUD, S. 8 und S. 15. 47 DOUGLAS, Mary, Mary, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur (1970), Frankfurt a.M. 1974, S.VI-VII. 48 Dieser Gedanke liegt auch dem von Bachtin gezeichneten Bild der Rabelais’schen Welt zugrunde, worauf später noch zurückzukommen sein wird: BACHTIN, Michail M., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940), übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold, hg. und mit einem Vorwort von Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1987.

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gilt. Freilich basiert dieses Gebot heute meist nicht mehr nur auf religiösen Verhaltensregeln, sondern vor allem auf ästhetischen49 und hygienischen Vorstellungen. Das 19. Jahrhundert hat es in seiner Forschungstätigkeit erwiesen, dass Schmutz, Bakterien und damit unhygienische Bedingungen den Körper pathologischen Schaden nehmen lassen können. Das, was wir unserem Körper an Nahrung zuführen, wird diesen auch wieder auf den ein oder anderen Wege verlassen. Dies unzweifelhaft als abjekt geltende Substanz, sei es in Form von Exkrementen oder Erbrochenem. Niemand Geringeres als Jesus Christus hat dies gemäß Matthäus 15, 11 verlautbart: Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen. Hiermit wird nicht alleine eine Dichotomie zwischen dem Äußeren und dem Inneren des Körpers geschaffen, sondern gleichermaßen das Innenleben des Körpers als unrein quittiert. Das ursprünglich den Körper Nährende wird in dessen Inneren abjekt und zu Substanzen verarbeitet, die zwar unsere Lebenssysteme aufrechterhalten, aber deren Austreten durch seine Poren und andere Körperöffnungen kontrolliert werden muss.50 Sowohl kontrollierbare wie unkontrollierbare Vorgänge werden tabuisiert. Aber nicht nur die Exkretion der dem Körper zugeführten und nun überflüssigen Stoffwechselprodukte unterliegt dem Tabu, sondern auch diejenige der uns erhaltenden Lebenssäfte wie Sperma, Muttermilch und Blut, insbesondere Menstruationsblut.51 Der Ekel vor Blut ist von einer abergläubischen Scheu besetzt52 , die sich später – vornehmlich seit der Gefahr einer HIV-Infektion – mit einer medizinisch begründbaren Angst vor Ansteckung paart. Werden wir Blut ansichtig, so ist dies darüber hinaus immer auch ein Indikator für einen vorausgegangenen Gewaltakt.53 49 Mary Douglas verweist etwa darauf, dass unsere heutigen Schmutzvorstellungen mittlerweile eher mit einem Ordnungssystem zusammenhängen, das bereits Alarm schlägt, wenn etwas »fehl am Platz ist«: »Wir können an unseren eigenen Vorstellungen von Schmutz feststellen, dass wir eine Art Gesamtkompendium verwenden, das alle verworfenen Elemente geordneter Systeme umfasst. Schmutz ist etwas Relatives. Schuhe an sich sind nichts Schmutziges, sie werden aber dazu, wenn man sie auf den Esstisch stellt. Essen ist an sich nichts Schmutziges, es wird aber dazu, wenn man Kochgeräte im Schlafzimmer deponiert oder die Kleider damit befleckt.«, in: DOUGLAS, Reinheit und Gefährdung, S. 53. 50 Vgl.: KRISTEVA, S. 114 und auf S. 108 führt sie weiter aus: »Psychoanalysis has indeed seen that anal dejections constitute the first material separation that is controllable by the human being.« Sowohl Julia Kristeva als auch Mary Douglas sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Kontrollierbarkeit von Körperöffnungen und den Kontrollvorkehrungen, wie sie in unserer Gesellschaft regulierend vorkommen. S.a.: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 106-108. 51 Julia Kristeva nimmt eine noch detailliertere Unterscheidung des Bedeutungsgehaltes in der Ausscheidung von Exkrementen und Menstruationsblut vor: »Excrements and its equivalents (decay, infection, disease, corpse etc.) stand for the danger to identify that comes from without: the ego threatened by the non‐ego, society threatened by its outside, life by death. Menstrual blood, on the contrary, stands for the danger issuing from within the identity (social or sexual); it threatens the relationship between the sexes within a social agreement and, through internalization, the identity of each sex in the face of sexual difference.«; und: »But blood, as a vital element, also refers to women, fertility, and the assurance of fecundation.«, in: KRISTEVA, S. 71 und S. 96. 52 Vgl. auch: FREUD, S. 111. 53 Dies betrifft die dem Körper innewohnenden wie auch die auf den Körper von außen einwirkenden Kräfte.

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All dieses aus dem Körper nach außen dringende ist ein Zeichen von Gewalt und Unordnung und verweist zusätzlich auf einen inneren Verwesungsprozess, dem nicht Einhalt geboten werden kann. Was das Körperinnere täglich verwirft, weil es in uns aufgebraucht wurde und nicht mehr dort verweilen kann, lässt uns einen Blick darauf erhaschen, was unseren Körper in seiner Gesamtheit nach seinem Ableben ereilt: der Verfall. Die gemeine Ambivalenz liegt in einer Verkehrung des Zerstörungsprozesses, der für materialhaftes Chaos in Form von Ausscheidungen wie für ein gedankliches Rumoren sorgt: was in uns verwest, um uns am Leben zu erhalten, sorgt gleichzeitig für unseren Niedergang. Solange aber ein makelloses Äußeres diesen inneren Tumult zu beherrschen und von einer körperlichen Einheit zu zeugen vermag, werden keinerlei Tabus verletzt. Damit wären wir bei den Primärtabus angelangt: der Gewalt, der Sexualität und dem Tod. Gewalt anzuwenden ist niemals ein reflexartiges Tun. Gewalt passiert aktiv. Es macht dabei keinen Unterschied, ob sich die Gewalt gegen andere oder gegen die eigene Person richtet. Beides besitzt in unserer heutigen Gesellschaft einen hohen Tabu-Charakter und wird per Gesetz verboten, beziehungsweise die von Gewalt Betroffenen damit unter Schutz gestellt. Dass zuweilen die Grenzen zwischen dem Tabu und dem Gesetz diffus bleiben und nicht eindeutig zu bestimmen sind, zeigt der Fall von Kannibalismus aus dem Jahr 2003. Armin Meiweis, der als »Kannibale von Rotenburg« bezeichnet wurde, sagte zu seiner Verteidigung aus: »Dass das Schlachten von Menschen ein gesellschaftliches Tabu ist, war mir klar, nicht aber, dass es strafbar ist.«54 Und faktisch konnte der Täter nicht wegen Kannibalismus verurteilt werden, da es diesen Tatbestand de jure nicht gibt. Lediglich die dem kannibalistischen Akt zugrundeliegenden einzelnen Handlungen und Motivationen wurden unter Strafe gestellt: der Mord und die Störung der Totenruhe.55 In diesem extremen Beispiel vermischen sich ganz offensichtlich die Tabus von Gewalt, Tod und Sexualität, die jedoch auch im Alltag eine ständige – wenn auch weniger augenfällige – Bindung eingehen. Georges Bataille sucht eine Begründung hierfür, indem er Kriterien findet, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Diese betreffen die Arbeit, der der Mensch nachzugehen habe, sowie das Bewusstsein um die Sexualität und den Tod: »[Der Mensch] ging aus [der Animalität] hervor, indem er arbeitete, indem er begriff, dass er sterben müsste, und indem er von der Sexualität ohne Scham zur schamhaften Sexualität überging, aus der die Erotik entsprang.«56 Gewalt ebenso wie der Tod und die Sexualität werden demnach als Bedrohungen empfunden. Nach Bataille ist das ein nicht objektivierbarer Sachverhalt. Dennoch gibt er eine einleuchtende Erklärung dieser nur scheinbar weit hergeholten Verquickung. Wie weiter oben bereits festgehalten, beängstigt uns der Tod vor allem durch seinen formlosen Ausdruck im Verlaufe des Verwesungsprozesses. Der Leichnam wird deshalb von uns nicht mehr länger als ehemaliger Mensch, schon gar nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern er »trägt von Anfang an das Zeichen des Nichts«, das uns eine unbändige Angst 54 Armin Meiweis, in: TEUTSCH, Oliver, »Meiweis: Habe Opfer überredet«, in: Frankfurter Rundschau, 18. Januar 2006, S. 31. 55 TEUTSCH, Art., 2006, S. 31. 56 BATAILLE, Die Erotik, S. 33.

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einjagt. »[D]aher ist dieser Gegenstand weniger als nichts, schlimmer als nicht.«57 Um aber den Tod in einer gedanklichen Verbindung mit der Gewalt und der Sexualität sehen zu können, macht Bataille einen folgenschweren Rückschluss, der weder abwegig, noch künstlich erzeugt ist. Er entstammt lediglich den künstlich erzeugten Verhaltensweisen des Menschen, die ihn wiederum darin vom Tier unterscheiden: »Der Schrecken, den wir vor Leichen haben, ist nahe verwandt mit dem, was wir vor Exkrementen menschlicher Herkunft empfinden. Dieser Vergleich ist umso sinnvoller, als wir einen analogen Schrecken verspüren vor jenen Aspekten der Sinnlichkeit, die wir obszön nennen. Die Sexualkanäle haben Ausscheidungen; wir bezeichnen sie als ›Schamteile‹, und wir verbinden sie mit dem Anus. Der heilige Augustinus legte in peinlicher Weise Nachdruck auf die Obszönität der Fortpflanzungsorgane und ihrer Funktion. ›Inter faeces et urinam nascimur‹, sagte er: ›Zwischen Kot und Urin werden wir geboren‹.«58 Wieder finden demnach die Zerstörung der Körpergrenzen, der Unrat des Todes und die Sexualität zu einer gedanklichen Einheit, die in einem sozialen System, wenn schon nicht ausdrücklich reguliert, so doch gelebt wird. Auch Sigmund Freud spricht von Tabubeschränkungen, die den Tod und insbesondere den Leichnam und die mit ihm in Berührung kommenden betreffen. Es ist festzuhalten, dass es nicht nur Naturvölker sind, auf die sich Freud hier bezieht, die sich vor den Toten ängstigen. Befürchtet wird eine vom Toten ausgehende Bedrohung. Diese könnte sich sowohl in Form von Infektionen auswirken, die ein haptischer Kontakt nach sich zieht, als auch sich in einer übersinnlichen Bedrohung, in Form von Geistern und Dämonen zeigen.59 Dass in diesem Kontext natürlich wiederum der tote Körper als verwesender Gegenstand mit all den damit verbundenen Gräueln, den Gerüchen und der unübersehbaren Unähnlichkeit mit dem ehedem Lebenden definiert wird, ist selbstredend. An dieser Stelle tritt Freuds Ambivalenztheorie in Kraft.60 Nach Freud benimmt sich der Mensch gegenüber den Toten aus seiner Mitte neurotisch, indem er diese einerseits fürchtet, verabscheut und sich ihrer auf schnellem Wege entledigen möchte. Das funktioniere allerdings nicht, ohne den Toten gleichzeitig Respekt zu zollen. Deswegen tritt andererseits neben der Feindseligkeit gegenüber dem Leichnam eine davon divergierende, bei weitem feinfühligere Reaktion gegenüber der Person des Toten ein: die Trauer um seinen Verlust. Ich meine, dass dies nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass beide Gefühle gleichermaßen egoistischen Ursprungs sind. Freud spricht in diesem Sinne von einer Trauer als Befriedigung und erklärt diesen Antagonismus wie folgt: »[D]er Ausgang des Konfliktes [kann] nicht in einer Subtraktion der beiden Intensitäten voneinander mit bewusster Einsetzung des Überschusses bestehen, etwa 57 BATAILLE, Die Erotik, S. 57 [kursive Hervorhebungen durch Georges Bataille]. 58 BATAILLE, Die Erotik, S. 58. Auch in der extremsten Form des Tötungsdeliktes, nämlich während des Kriegsgemetzels, unterscheide sich der Mensch vom Tier in einer negativen Form: »Der Krieg, grundsätzlich verschieden von der animalischen Grausamkeit, entwickelte eine Grausamkeit, deren die Tiere nicht fähig sind. […] Die Grausamkeit ist der spezifisch menschliche Aspekt des Krieges.«, in: BATAILLE, Die Erotik, S. 77. 59 Vgl.: FREUD, S. 61, S. 63 und S. 68, sowie Julia Kristeva, die diesen Zwiespalt u.a. am Beispiel des Opfertodes festmacht: KRISTEVA, S. 109-110. 60 Vgl.: FREUD, S. 72f.

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wie man einer geliebten Person eine von ihr erlittene Kränkung verzeiht. Der Prozess erledigt sich vielmehr durch einen besonderen psychischen Mechanismus, den man in der Psychoanalyse als Projektion zu bezeichnen gewohnt ist. Die Feindseligkeit, von der man nichts weiß und auch weiter nichts wissen will, wird aus der inneren Wahrnehmung in die Außenwelt geworfen, dabei von der eigenen Person gelöst und der anderen zugeschoben.«61 Diese Projektion dient der Beherrschung des vorliegenden Tabus.

Wozu brauchen wir Tabus? Alles in allem muss festgestellt werden, dass Tabus zwar nicht regulierbar sind, aber – sobald vorhanden – strengen Regularien unterliegen. Dies erweist sich auch in den noch zu diskutierenden Ahndungen eines Tabubruchs. Für den Moment ist im Auge zu behalten, dass das Festhalten-Wollen an Tabus und eine damit einhergehende, kategoriale Denkstruktur grundsätzlich gewollte Eigenschaften einer Gemeinschaftsordnung sind. Diese wird gleichsam als gottgegebene und erwünschte Institution nicht hinterfragt. Vielmehr reagiert ein Gesellschaftssystem empfindlich, wenn hieran gerührt werden sollte. »Daraus folgt, dass wer Tabus brechen möchte, ebenso begründungslastig ist wie derjenige, der sie errichten möchte.«62 Tabus müssen also verwaltet werden. Dieser Verwaltungsapparat besteht aus den ehemaligen und neuen Tabugebern, den ein Tabu erfolgreich brechenden Tabunehmern und den Tabuwächtern. Die Tabuwächter sind es, die für den Erhalt oder das Verwerfen von bestehenden Tabus eintreten. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, was Tabuwächter von ihrem Tun haben: »Bei jedem Tabu, das wir in unserer Umgebung entdecken, lohnt es sich, nach dem Mana – der Macht – dieses Tabus zu fragen.«63 Der Begriff mana entspricht dem polynesischen Synonym für das Tabu: »Mana ist die den Dingen, Örtern [sic!] oder Personen anhaftende unerklärliche, göttliche Macht; Tabu ist eine Erscheinungsform des Mana, sofern es im Gegensatz zur profanen Außenwelt begriffen wird; Tabu hütet die Macht davor, berührt, durchschaut und entmächtigt zu werden. Grenzt das Mana aus und bewahrt es als Fremdes, Unverfügbares.«64 Ein Regelwerk an Tabus so beizubehalten, wie es ist, ist Ziel der jeweils vorherrschenden religiösen, feudalen oder herrschaftlichen Machtstrukturen. Fasst man diesen Willen zur Macht nicht als ein Negativum auf, so macht der Erhalt von Machtstrukturen durchaus Sinn. Tabus erfüllen dabei eine positive Funktion, indem sie Schützenswertes erhalten: »Denn Tabus beziehen sich zu einem Gutteil auf zu kanalisierende aggressive und sexuelle Energien und können als angstbesetztes Schwellenphänomen verstanden werden, weil sie wegen ihrer potentiellen Kraft zur Zerstörung und Vernichtung, zu Exzess und Auflösung überhaupt erst etabliert wurden.«65 Als ungeschriebener Gesetzeskodex einer Gemeinschaft dienen Tabus der Er61 FREUD, S. 73. 62 Gertrud Koch, in: BENTHIEN, S. 191-201, hier S. 193. 63 KRAFT, S. 15; die Begrifflichkeit von Tabugeber, Tabunehmer und Tabuwächter wird ebenfalls von Hartmut Kraft eingeführt: S. 130. 64 Dorothee Sölle, »Tabu und Protestantismus«, in: MAGNUM, Tabu, hg.v. Alfred NevenDuMonta, Heft 36 (Themenheft), Juni 1961, S. 15-16, hier S. 15. 65 Ortrud Gutjahr, in: BENTHIEN, S. 19-50, hier S. 48.

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haltung von gewachsenen sozialen Strukturen. Gerade indem sich das Individuum zurücknimmt und diesem Wertekanon unterordnet, sichert es seine Identität als Mitglied des Kollektivs. Und als Teil einer Gemeinschaft setzt man sich auch besser gegen einen Angriff auf das eigene Wertesystem zur Wehr. Das Tabu ist ein nicht‐institutionalisiertes Phänomen. Und dennoch besitzt jede Gemeinschaft einen derartigen, zum Teil offenkundigen, zum Teil latent vorhandenen Verhaltenskatalog, der lediglich nach kulturspezifischen Gesichtspunkten leicht voneinander abweichende Eigenheiten aufweist. Innerhalb eines Kulturgefüges halten wir uns weitestgehend an diesen Katalog, da er Teil unseres sozialen Miteinanders ist, egal, ob wir die jeweiligen Tabus als sinnvoll oder als überkommen erachten. Seibel spricht deshalb von einer »handlungsleitenden«66 Vereinbarung. Da Tabus also insgesamt unser Tun bestimmen, gilt das einmal für deren Einhaltung, aber ebenfalls dann, wenn wir diese verletzen. Auch letzteres kann impliziter Teil des Entwicklungsprozesses einer scheinbar soliden Struktur sein. »Tabus sind die Achillesfersen einer Gesellschaft.«67 Wir mögen darüber hadern und Tabus als beschämendes, rückschrittliches Element unserer Gesellschaft betrachten, oder aber eine Entzauberung unseres Lebens befürchten, sofern alle Tabus beseitigt würden. Fakt ist: Tabus sind fester Bestandteil unseres Lebens; Tabus zu brechen, zieht Konsequenzen nach sich.

II.2 Der Tabubruch: Das Tabu und seine Übertretung Das Tabu lässt lediglich eine Handlungsoption zu, die unbestraft bleibt: es ist ihm auszuweichen. Das Befolgen von Tabus, indem wir ihnen fernbleiben, dient der Sicherung bestehender Verhaltenskodizes. Das Brechen von Tabus hingegen kann zweierlei bewirken: einmal kann die bewusste Provokation, die das Rühren an ein Tabu bedeutet, zu einer Veränderung und Weiterentwicklung vorhandener Richtwerte in einer Gesellschaft führen; zum anderen kann ein Tabubruch dazu beitragen, bereits existierende Verhaltensregeln weiter zu festigen. Im Gegensatz zur oben eruierten aktiven Passivität und Untätigkeit, die wir dem Tabu entgegenbringen sollten, um es optimal zu umschiffen, bedeutet der Tabubruch einen willentlichen Akt, eine gezielte Offensive gegen ein vorhandenes System.68 Sofern ein derartig angegriffenes Gesellschaftssystem sich verteidigen will und kann, muss der Tabubruch geahndet werden. Die Sicherung der bestehenden Ordnung verlangt im Speziellen nach Sanktionen gegen denjenigen, der die Übertretung begangen hat, denn: »[…] wer es zustande gebracht hat, ein solches Verbot zu übertreten, selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen, gleichsam die ganze gefährliche Ladung auf sich genommen hat.«69 Der Täter wird selbst zum Tabu. Damit wird er für sein Tun nicht nur bestraft, sondern gleichfalls gemieden. Dessen ist sich der Grenzgänger auch bewusst. Die erste Sanktion, die sich dieser Erkenntnis im Normalfall anschließt, ist die Scham, nun selbst einem Meidungsgebot 66 67 68 69

SEIBEL, S. 12. Ralf Dahrendorf, »Politik im Garten der Tabus«, in: MAGNUM, S. 58-73, hier S. 73. Siehe auch: SEIBEL, S. 16 und S. 51. FREUD, S. 29.

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unterworfen zu sein. Ein schlechtes Gewissen, ein Gefühl der Peinlichkeit und Schuldbewusstsein ob der begangenen Grenzverletzung setzen entsprechend von selbst ein. Eben dies war im Anschluss an Marina Abramovićs Performance Rhythm 0 geschehen, indem sich die Rezipienten und Mittäter nach der Aktion beschämt und auf schnellem Wege den Folgen ihres Tuns entzogen, indem sie dem Tatort entflohen. Dieser automatische Mechanismus ist keinesfalls zu unterschätzen und Jürgen Tabor bezeichnet ihn als die »vielleicht wichtigste und mächtigste Technik des Tabus.«70 Darin klingt an, dass noch weitere Maßnahmen anstehen und wer ein Tabu bricht, sich in dem Bewusstsein der sich daran anschließenden Bestrafung schämt. Ein Tabu zu verletzen, rächt sich nämlich nicht alleine von selbst. Den internen Sanktionen gesellen sich meist noch externe Strafmechanismen seitens der Gemeinschaft hinzu. Es sind darin die verschiedenen Instanzen wie der Souverän, das Recht, die Kirche und nicht zuletzt das Volk, welche Strafen verhängen und ausüben. Da aus der Übertretung des Tabus gewisse Gefahren für eine Gemeinschaft entstehen, hat die resultierende Sanktion auch eine rechtlich‐politische Funktion, soll der verletzten Souveränität zur Rehabilitation verhelfen und darüber hinaus der Abschreckung dienen. Um diesen Gedanken Nachdruck zu verleihen, benötigt der Souverän das Volk zur Zeugenschaft.71 In religiösen Gemeinschaften geht man davon aus, dass die externe Bestrafung systemimmanent ist und von den Göttern und Dämonen automatisch ausgeübt wird.72 Dennoch verhängt man – und das gilt noch für alle zeitgenössischen Volksreligionen – zusätzliche gesellschaftliche Sanktionen, um das Mitglied aus der Gemeinschaft auszuschließen und dadurch zu läutern.73 Dies sorgt wiederum für ein Kontinuum der göttlichen Ordnung.74 Die meisten der für einen Tabubruch verhängten Strafen vergelten Gleiches mit Gleichem. Dabei können, sofern auch das Gesetz gebrochen wurde, die bestehenden strafrechtlichen Register gezogen werden.75 Unvermeidlicher Bestandteil der Strafmaßnahmen ist aber die Ausgrenzung der Person aus der Gemeinschaft. Der Tabubrecher wird dem Tabu gleich gemieden. Beide gelten als von nun an mit Angst besetzt, da sie der sozialen Ordnung in zerstörerischer Absicht zu nahegetreten waren.76 Aus dem System ausgeschlossen zu sein, bedeutete ehedem eine lebensbedrohliche Situation: der Delinquent befand sich von nun an außerhalb der Gesetzgebung, galt als vogelfrei und unterstand niemandem, der ihm Schutz hätte gewähren wollen oder können. Aber auch heute noch erscheint diese gesellschaftliche Sanktion als mehr oder weniger existenzgefährdend, da Verleumdung, Denunziation, das Unterstellen unlauterer 70 TABOR, S. 54. 71 Vgl. hierzu auch: FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt a.M. 1976, S. 64-65 sowie S. 75. 72 Vgl.: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 25-26, sowie FREUD, S. 27. 73 Vgl.: KUBIK, S. 69. Es gibt in den Religionen des Islam, des Christen- und des Judentums jedoch auch Maßnahmen der Reinigung und Rehabilitierung, sofern der Abtrünnige Buße tut; vgl. hierzu: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 197-198, sowie FREUD, S. 27. 74 Vgl.: BATAILLE, Die Erotik, S. 81-82. 75 Vgl.: KUBIK, S. 17 und TABOR, S. 54. 76 Siehe u.a.: FISCHER-LICHTE, S. 266-267; KRAFT, S. 42; sowie SEIBEL, S. 1.

Tabu und Tabubruch

Motive und die üble Nachrede automatisch folgen und öffentlich verlautbart werden.77 Hirnforscher stellten fest, dass die Furcht vor den sozialen Konsequenzen ähnliche Zentren im Gehirn aktiviert, wie dies bei der Empfindung von physischen Schmerzen der Fall ist.78 Dies beweist einmal mehr, welch immense Macht dem Tabu innewohnt. Und dennoch wird ein Tabu auch wissentlich gebrochen. Was also, wenn all dies in Kauf genommen, die Grenzüberschreitung ganz bewusst und trotz der daraus resultierenden Konsequenzen vollzogen würde, damit ein Wandlungsprozess initiiert wird? Die verhängten Sanktionen müssten zwangsläufig mildere sein, da sich infolge einer die Gesellschaft nachdenklich stimmenden Transgression auch die Identität der Gesellschaft neu herausbildet: »Gesellschaftliche Veränderungen führen stets zu Veränderungen der Tabus in dieser Gesellschaft, so wie umgekehrt Tabubrüche zu einer Änderung der Gesellschaft führen können.«79 Besteht die Möglichkeit eines nicht oder auch nur halbherzig geahndeten Tabubruches, ist dies ein untrügliches Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel. Dies kann verschiedene Ursachen haben: seien es überkommene Tabuvorstellungen, derer man sich entledigen möchte – oder umgekehrt –, sei es der Souverän, die Machtstrukturen oder das gesellschaftliche Gefüge, die als nicht mehr tragbar empfunden werden. »Sobald eine kollektive Grenze individuell überschritten wird, kann ein Individuum gesellschaftlich sanktioniert werden. Sobald aber ein Tabubruch kollektiv vollzogen wird, verschieben sich die gesellschaftlichen Werterahmen.«80 Indem das Individuum etwaige Sanktionen riskiert, besitzt es eben auch die Fähigkeit, das Kollektiv zu motivieren. Zu Gute kommt dem Initiator dabei die innere Verbundenheit, die sich zwischen ihm als zu Bestrafenden und dem Volk einstellt. Schon Foucault verweist auf diesen Zusammenhang, der mit der Abschreckungstheorie von Strafen einhergeht: die Macht des Gesetzes – darunter auch der ungeschriebenen – zeige sich nie so deutlich wie in der Strafausübung. Der Demonstration von Stärke wohne dabei oftmals eine derartige Gewalt inne, dass sich das Volk nicht mehr abgeschreckt sehe, sondern ein Erschrecken vor der bestrafenden Instanz eintrete.81 Damit einher geht Furcht, der sich der Wunsch anschließt, die bestehende Ordnung zu verändern. Die natürliche Kehrseite der Auswirkungen eines Strafrituals vor einem Kollektiv ist aber oft von ganz anderer Art. Es erweckt Neid! Den Tabubruch, der dem Zuschauer verwehrt ist, hat ein anderer begangen. Dafür muss eine Strafe in Kraft treten.82 Indem man dieser Bestrafung beiwohnt, begeht man eine befriedigende und damit gleichzeitig auch transgressive Ersatzhandlung. »Das ekstatische, gesellschaftliche Ereignis, das öffentliche Hinrichtungen lange Zeit waren, gestattet die gemeinsame Teilnahme an 77 Vgl. hierzu: KRAFT, S. 16, und Friedrich Heer, »Tabus im Katholizismus«, in: MAGNUM, S. 16-18, hier S. 16. 78 Vgl.: Hartmut Kraft, »Nigger und Judensau. Tabus heute«, in: BENTHIEN, S. 261-273, hier S. 265-266. 79 Hartmut Kraft, in: BENTHIEN, S. 261-273, hier S. 262. 80 Lidia Guzy, »Tabu – Die kulturelle Grenze im Körper«, in: FRIETSCH, S. 17-22, hier S. 20. 81 FOUCAULT, Überwachen und Strafen, S. 82: »Aber vor allem – und hier wurden diese Missstände zu einer politischen Gefahr – fühlte sich das Volk niemals den Bestraften näher als bei jenen Ritualen, welche die Abscheulichkeit des Verbrechens und die Unbesiegbarkeit der Macht zeigen sollten; niemals fühlte es sich, so wie jene, mehr von einer gesetzlichen Gewalt bedroht, die ohne Gleichgewicht und ohne Maß war.« 82 FREUD, S. 40.

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einer extremen Grenzüberschreitung. Der Verbrecher wurde gleichsam dem kollektiven Bedürfnis nach Triebbefriedigung geopfert. Das Verlangen nach Rache ist ja selbst nichts anderes, als ein maßloses inneres Verlangen nach Zerstörung.«83 An dieser Stelle wird klar, dass der Tabubruch sowohl gefürchtet als auch ersehnt wird. Auch hier setzt wieder Freuds Ambivalenztheorie an, indem er das Tabu als ein »verbotenes Tun« betrachtet, »zu dem eine starke Neigung im Unterbewussten besteht«.84 Dies muss unweigerlich zu einem Zwiespalt führen, da sich das Tabu wie ein Fächer an Begriffspaaren genießen wie verwerfen lässt, die allesamt als absolut unvereinbar gelten: Faszination hadert hier mit Abscheu, Lust und Furcht liegen ebenso nahe beieinander wie Anziehung und Abschreckung. Bataille beschreibt diese Zerrissenheit wie folgt: »Die Menschen sind gleichzeitig zweierlei Regung unterworfen: dem Schrecken, der sie zurückscheucht, und der Anziehung, die sie fasziniert und Ehrfurcht erzwingt. Das Verbot und die Überschreitung entsprechen diesen beiden gegensätzlichen Regungen: das Verbot schreckt ab, aber die Faszination verleitet zur Überschreitung.«85 Es gibt nur wenige Ausnahmen, bei denen eine vorübergehende Aussetzung der Strafmodalitäten eintritt und ein Ventil geöffnet wird, das den Druck aus dieser widersprüchlichen Konstellation nimmt. Dazu gehören über die Jahrhunderte hinweg gewachsene sozio‐kulturell und auch religiös motivierte Ereignisse, die in immer wiederkehrenden Intervallen das Tabu kurzzeitig außer Kraft setzen. Nach Beendigung des Rituals können eben diese Tabus – gemäß den oben genannten Reaktionen auf einen Tabubruch wie Scham und Schuldbewusstsein – wieder umso effektiver und glaubhafter etabliert werden. Das bestehende System ist auch deshalb nicht in Gefahr.86 Dringende Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass in diesen Momenten die Transgression lediglich als Strategie zum Einsatz kommt, ansonsten aber weiter Gültigkeit besitzt, denn: »Wenn das Verbot nicht mehr wirkt, wenn wir nicht mehr an das Verbot glauben, ist die Überschreitung unmöglich.«87

II.3 Tabubruch als Strategie Wenn Tabus die Ordnung bewahren, so sind Tabubrüche Angriffe auf selbige Ordnung. Tabus sind deshalb auch gleichzeitig strategisches Mittel des gesellschaftlichen Systems, sich selbst zu schützen, woraus folgt, dass wiederum Tabubrüche strategisch eingesetzt werden können, um ein System in Aufruhr zu versetzen und zu hinterfragen. 83 TABOR, S. 54. Jürgen Tabor verweist hier zurecht auf die Anwesenden bei der Hinrichtung eines Mörders. Erika Fischer-Lichte formuliert den Zwiespalt, der von einem Tabu hervorgerufen wird, wie folgt: »Der Wunsch, [Tabus] zu brechen, ist in der Regel ebenso brennend wie die Begierde maßlos, denjenigen, der tatsächlich ein Tabu gebrochen hat, bestraft und aus der Gesellschaft ausgestoßen zu sehen.«, in: FISCHER-LICHTE, S. 267. 84 FREUD, S. 40; siehe darin auch S. 39 und S. 42. 85 BATAILLE, Die Erotik, S. 68. 86 Zu diesen den Tabubruch gewährenden Episoden und rituellen Kulthandlungen zählen zum Beispiel der Karneval, das Opferritual und die Eucharistiefeier. Hiervon wird in den folgenden Kapiteln noch die Rede sein. 87 BATAILLE, Die Erotik, S. 135.

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Beide Interessen werden von der jeweiligen Seite strikt gehütet, beziehungsweise periodisch herausgefordert; beide Seiten stehen unter Beobachtung durch den jeweils anderen; die Grenzen müssen dabei für beide Seiten aufrechterhalten bleiben, um Klarheit zu schaffen und um die Interessen eindeutig voneinander unterscheiden zu können. Um diese Grenzlinie neu zu verorten, bedarf es großer Anstrengungen, aber letzten Endes auch des beidseitigen Willens, Strukturen zu verändern. Wenn wir nun, wie oben hergeleitet wurde, davon ausgehen, dass Tabus zum Teil kontext- wie zeitabhängig sind, dann heißt das, dass derlei Metamorphosen durchaus zustande kommen können und sich die Grenzen verschieben. Hier spricht Karin Seibel von unbeständigen, da alltäglichen Tabus, die zwar eine spezifische Kulturleistung bedeuten, aber einem »handlungsorientierten, soziokulturellen Modernisierungsprozess« unterliegen können. Tabus, die dahingegen eine über Jahrhunderte hinweg fortwährende Gültigkeit beibehielten und ungeachtet des jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrundes galten, das sind die besonderen Tabus und zeugen, laut Seibel, von einem universellen Charakter.88 Beide Tabuvorstellungen werden zu jeder Zeit und in jeder Kultur immer wieder strategisch übertreten. Im ersten Fall, um diese zu destabilisieren oder sogar abzuschaffen, im Fall der universellen Tabus, um kurzzeitig deren Faszination zu unterliegen, indem man sie begeht und hiernach wieder installiert. Die hiervon berührten Themen, staffeln sich in einer historisch gewachsenen Chronologie. Ausgehend von der polynesischen Bedeutung des Begriffes und den damit zusammenhängenden magisch‐abergläubischen wie apotropäischen Funktionen der Tabus, breiteten sich diese langsam in einem allgemeinen religiösen Kontext der verschiedenen Glaubensgemeinschaften aus. Noch bewegte man sich nur zwischen dem Ritual und dem Glauben. Erst im 18. Jahrhundert konnte man im Zuge der Aufklärung eine Erweiterung von Tabu-Themen konstatieren, die sich der Verteidigung von rationellen wie universellen Moralvorstellungen verschrieben haben und im darauffolgenden Jahrhundert wurde dieser Idealismus erneut auf einer ethischen Ebene in Frage gestellt. Moral und Gesetz in Einklang zu bringen, wurde entsprechend eine hinzutretende Konstellation. Die Psychoanalyse gebar ab 1900 einen neuen Aspekt ein inneres Tabu betreffend: die Selbst-Schau. Dem bereits recht ausgefeilten Tabugedanken gesellten sich damit noch das Individuum herausfordernde Fragen nach dem Du‐sollst und Du‐sollst-nicht hinzu. Aus einer generellen philosophischen Sichtweise changieren die Fragen seither auch immer zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse, dem Menschlichen und dem Animalischen, der Restriktion und der Befriedigung des Begehrens. Eine interessante Verschiebung ergibt sich, blickt man auf den Wandel der ehemals als heilig und der als profan geltenden Tabus. Diese sind nämlich von den sozialen Räumen und Örtlichkeiten und der uns darin umgebenden Gesellschaft abhängig. Auch diese erfuhren im Verlaufe der Jahrhunderte eine Neubewertung. In Stammesgemeinschaften, im höfischen Leben und in streng hierarchischen Ordnungen wurden Tabus noch mit einem hohen Grad an Affekt belastet und deren Einhalten galt als heiliges Gebot. Das private Leben dahingegen umfasste die profanen, alltäglichen Tabus, einen Ort, in dem das »Refugium der freien Affekte«89 noch Gültigkeit besaß. Diese 88 SEIBEL, S. 60. 89 SEIBEL, S. 100.

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Strukturen hoben sich mehr und mehr auf, während der private Bereich und damit die Selbstschau des Individuums an Bedeutung gewannen und geschützt werden wollten. Und so verkehrten sich auch die Wertigkeiten des heiligen und des als profan erachteten Tabus, bis schließlich uns heute ebenfalls als heilig gilt, was das Individuum betrifft.90 Beibehalten wird, dass der öffentliche Raum immer von einer Gemeinschaft anhand der entsprechenden Verhaltenskodizes reguliert wird. Ebenfalls Bestand hat, dass immer ein Anteil an als heilig erachteten Tabus der jeweiligen Gesellschaft zugrunde liegt. Der Wille und die Notwendigkeit, Tabus zu brechen, hat zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit bestanden. Denn in jeder Gesellschaft gibt es Tabuvorstellungen, deren Wertigkeit ambivalent betrachtet wird. Im Folgenden ist zu klären, ob – und wenn ja, inwiefern – sich historische Strategien des Tabubruchs von der Vorgehensweise des Tabubruchs einer modernen Gesellschaft unterscheiden. In thematischer Hinsicht ist zu eruieren, wann die Legitimität von bislang behüteten Sitten und Wertigkeiten strategisch hinterfragt wird und ob sich die Inhalte der Tabus dabei entsprechen.

II.3.1 Der Tabubruch im historischen Kontext Da die profanen Alltagstabus wie etwa Schamvorstellungen, Essenstabus, Rituale und abergläubische Handlungsmechanismen, die zum Teil auch religiöse Überzeugungen anbelangen, dem Wandel unterworfen und unbeständig sind, stehen an dieser Stelle vor allem universelle Tabus zur Debatte, die ein taktisches Vorgehen notwendig machen, will man diese strategisch umgehen und hinterfragen. Es bieten sich diejenigen tabuisierten Bereiche an, die für die Allgemeinheit eine unstreitige und essentielle Wertigkeit besitzen. Das Werden und Vergehen des Lebens gehört zu eben diesen wesentlichen Tabuzonen. Im Folgenden werden diese nicht flächendeckend eruiert, sondern beispielhaft einzelne Motive herausgenommen, die mit den nachfolgenden Künstlerstudien in einem engen Zusammenhang stehen.

Der geöffnete Körper: Auf der Suche nach dem Leben Das Werden und Vergehen des Menschen ist an sich weder ein Geheimnis noch ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Diese Aussage gerät seit geraumer Zeit ins Wanken. Futu90 Karin Seibel macht hierfür den sozialen Wandel verantwortlich und argumentiert beispielhaft anhand einer Unterscheidung zwischen Europa und den Südseevölkern: »Somit gibt es […] ein polynesisches und ein europäisches tabu. Aber war das polynesische tabu ein Zeichen von Fremdzwang, so ist das europäische tabu gerade entgegengesetzt, nämlich das Zeichen von Selbstzwang. War das polynesische tabu untrennbar mit der sozioreligiösen Struktur verknüpft, so ist das europäische tabu wiederum das Gegenteil, nämlich rein profan strukturiert und keineswegs institutionell gebunden. Mit der Profanierung der Alltagswelt geht eine Umkehrung der Bedeutung einher. War früher das Kollektiv das Geschützte, das Besondere, das ›Heilige‹, so wird nun das Private zum ›Heiligen‹. In diesem Paradox spiegelt sich deutlich der soziale Wandel.«, in: SEIBEL, S. 102. Hierfür ist sicher auch der Wandel der medialen Mittel einer zeitgenössischen Gesellschaft verantwortlich, die nun häufig ihre ganz individuell empfundenen Eklats streiflichtartig aus der Tagespresse, den Massenmedien und dem Internet bezieht. Vgl. hierzu auch: KUBIK, S. 19.

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rologen, die Genetik und die Biotechnologie arbeiten daran, den menschlichen Körper zu verbessern, seine Lebensspanne maßgeblich zu erweitern und diesen vielleicht sogar unsterblich werden zu lassen. Derartige Anstrengungen sind für den einzelnen von besonderem Interesse, sobald der Körper krank ist oder altert. Dies gilt wiederum nicht nur für zukünftige Generationen, sondern ist seit jeher das Ziel der Forschung und stellt dabei gleichzeitig die Neugier des Laien zufrieden. Da es unseren Vorfahren aber nicht möglich war, Untersuchungen in einem klinischen Kontext oder in Laboratorien vorzunehmen, suchte man nach Möglichkeiten, den menschlichen Körper vor allem nach seinem Ableben zu ergründen. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse durften aber den medizinischen Rahmen kaum verlassen und blieben so einer großen Öffentlichkeit unzugänglich, da man ansonsten gegen mehrere Tabus verstoßen hätte: die Zurschaustellung des nackten Körpers verbot sich von selbst, der Kontakt mit einem Leichnam eben sosehr, die Totenruhe wäre gestört und aus religiöser Sicht auch das Bestattungsritual, welches dem Toten den anschließenden unversehrten Aufstieg in das Himmelreich ermöglichen sollte. Vor allem aber galt der – auch abjekte – Blick in das Innere des Körpers und damit auf eine Ordnung göttlicher Schöpfungsgewalt als Tabubruch. Der fragmentierte und geöffnete Körper, ob lebendig oder tot, ist auch deswegen heute noch mit einem universell gültigen Tabu besetzt. Dennoch wurden die eben skizzierten Wege eingeschlagen. Sie folgen einmal perversen, ein andermal medizinisch unangreifbaren Beweggründen. Nero sagt man nach, seine Mutter Agrippa bei lebendigem Leibe sezieren haben zu lassen, um den Ort seiner Herkunft zu inspizieren und Kleopatra soll bei schwangeren Sklavinnen eine vorgeburtliche Diagnostik vornehmen haben lassen, um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen. Wenn auch derart grausige Legenden erst seit dem 14. Jahrhundert in Bildern überliefert sind, zeigen sich die abgebildeten physischen Details zumindest so kenntnisreich, dass sie tatsächliche vorausgehende Sektionen zur Voraussetzung haben mussten.91 Gräueltaten und Grusel, Schaulust und Neugier, medizinische Notwendigkeit und heilende Erfahrungen: der Blick in den Körper paart sich mit zahlreichen Affekten auf der einen und dem sinnvollen Verlangen nach Wissen auf der anderen Seite. Dieser Blick kann auch nicht anhand der offiziellen Schaustellung von Sektionen des »Theatrum Anatomicums« neutralisiert werden, wie sie seit dem 16. Jahrhundert vorgenommen wurden. Die daraus hervorgehenden Ganzkörperpräparate für belehrende Sammlungen warfen darüber hinaus immer wieder Fragen nach der nicht erfüllten Totenruhe auf.92 Entsprechend sann man nach Möglichkeiten, das hieraus gewonnene Wissen der Menschheit zu ihrem Besten zu überliefern, ohne dabei einen Leichnam nach der bestehenden Gesetzeslage und Tabus schänden zu müssen. Anschaulich wird es in 91 Vgl.: O’BRYAN, S. 45ff sowie SPRINGER, Peter, Voyeurismus in der Kunst, Berlin 2008, S. 373. Illustrationen zur Sektion der Mutter Neros finden sich im »Le Roman de la Rose«, 1300-1350, Biblioteca Laurenziana, Florenz (Ms.Acq. e Doni 153, fol. 77v) oder in der gleichnamigen flämischen Handschrift von um 1500 (British Library, Harley Ms. 4425, fol. 59r). 92 Vgl.: SPRINGER, S. 399-400: Peter Springer berichtet, dass es zu Konflikten zwischen der Bestattungsordnung und den davon ebenso betroffenen Mumien im Bleikeller des Petri-Doms in Bremen kam. Ich gebe darüber hinaus zu bedenken, dass eine derartige Bestattungsregel auch christliche Reliquien in Gefahr brächte.

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menschlichen Körpermodellen, die vor allem seit dem 18. Jahrhundert aus Wachs gefertigt wurden. Die berühmte florentiner Sammlung »La Specola« entstand 1771 durch die Initiative des jüngeren Sohnes der Habsburger Kaiserin Maria Theresia, Peter Leopold, und umfasst eine stattliche Zahl an Ganzkörpermodellen und kleineren Präparaten, die sowohl dem Fachpublikum als auch dem Laien zugänglich gemacht wurden. Eine ähnliche naturkundliche Sammlung beherbergt das Josephinum in Wien, unter Kaiser Joseph II. entstanden, indem er sich Inspiration wie Modelle aus der italienischen Sammlung seines Bruders holte. In beiden Ausstellungen sollten nur junge, gesunde Körper zu sehen sein.93 Und dennoch mussten die Präparate ihren Sinn erfüllen, indem sie einmal der Anschauung medizinischer Probleme im Krankheitsfall dienlich sein, ein anderes Mal dem voyeuristischen Schauder und der Belehrung von Unkundigen standhalten sollten. Auffällig ist, dass es sich vor allem um weibliche Modelle handelt, die – wie im Falle Neros – Aufschluss über ein vorgeburtliches Entwicklungsstadium von Embryos und damit den Entstehungsort von Leben geben. Es ist dabei selbstredend, dass die Skulpturen allesamt nackt sind und daher gleichzeitig dem voyeuristischen Verlangen nach einer sexuellen Begierde nachgeben.94 Herausragendes und auch kunstwürdiges Beispiel hierfür ist mit Sicherheit Clemente Michelangelo Susinis berühmte Anatomische Venus des Josephinums von 1782, die einer Venus pudica nachempfunden ist und in einem gläsernen Schneewittchensarg ausgestellt wird. Die der Lebenswirklichkeit erstaunlich nahekommende Figur95 , deren einmal abgenommene Bauchdeck sowohl ihr organisches Innenleben wie einen Embryo preisgibt, ist in der Tat nicht nur ein Lehrstück an Anatomie, sondern auch eine äußerst sinnliche Darstellung von bezaubernder Weiblichkeit, der man zur Bekräftigung ihrer Reize zusätzlich eine Perlenkette umhängte. Die tabuisierte Zurschaustellung echter und nachmodellierter menschlicher Körper verfehlte zu keiner Zeit ihre Wirkung. Mark Twain erzählte 1869 in seinem Reisebericht The Innocents Abroad von den Europareisen des aufgeschlossenen amerikanischen Bürgers, die diesen zu den Stätten der anatomischen Sammlungen und zu den reliquienträchtigen Orten des Heiligen Landes führten. Die Exotik wie Schauderhaftigkeit der dort wahrgenommenen Eindrücke in den Museen von Bologna, Florenz, Rom und Wien wie an den christlich geprägten Wallfahrtsorten, überraschten den Schriftsteller in ihrer ästhetischen Übereinstimmung von anatomischen Anschauungsobjekten und zur 93 Vgl.: SPRINGER, S. 381. Für den deutschen Raum erschließt der von Ernst Seidl herausgegebene Ausstellungsband die Moulagensammlung des Museums der Universität Tübingen: SEIDL, Ernst, Edgar Bierende und Peter Moos (Hgs.), Krankheit als (Kunst)Form. Moulagen der Medizin, Tübingen 2016. An dieser Stelle ist anzumerken, dass aus einer christlichen Tradition heraus im Krankheitsfall Wachsmodelle zum Einsatz kamen und heute noch kommen. Zu Wallfahrten, die man als Bittsteller zu den einschlägigen Orten unternahm, wurden in diesen Fällen Nachbildungen einzelner erkrankter Körperteile en miniature mitgeführt und in den jeweiligen Kapellen als Votivgaben gespendet, um für Genesung zu beten. 94 Vgl.: BRONFEN, Elisabeth, Over Her Dead Body: Death, Femininity, and the Aesthetic, New York 1992. 95 Um die Figuren lebensecht wirken zu lassen, wurden den Wachsmodellen echte Zähne und Glasaugen eingesetzt und menschliches Haar für die Lider, Brauen, die Scham und den Kopf genutzt; vgl.: SPRINGER, S. 379.

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Verehrung ausgestellten toten Märtyrern und Heiligen.96 Noch im Jahr 1930 versetzte Franz Tschackerts Gläserner Mensch für die Zweite Internationale Hygieneausstellung nicht nur das Fachpublikum in Erstaunen. Das menschliche Präparat, das dem Betrachter einen ansonsten verwehrten Einblick auf alle Organe und Blutbahnen, Venen und Nerven zulässt und sich heute im Deutschen Hygienemuseum zu Dresden befindet, galt als Sensation und führte international zu zahlreichen Nachahmungen.97 Der Blick in den Körper hält entsprechend einer langen Tradition stand, die weder erst mit den anatomischen Zeichnungen eines Leonardo da Vinci einsetzte, noch mit den Zeitgenossen enden wird: nicht nur die von Gunther von Hagens plastinierten Verstorbenen für dessen Körperwelten-Ausstellungen sorgen beim Publikum für ein banges Schaudern, sie entschuldigen gleichzeitig das voyeuristische Interesse, indem sie unter dem Deckmantel der medizinisch‐anatomischen Lehrveranstaltung daherkommen. Auch Damien Hirst setzt auf diesen Voyeurismus, wenn er Tierkadaver sezieren lässt und deren offene Leiber ausstellt oder – ganz in der oben angeführten Tradition – seine zehn Meter große Bronze The Virgin Mother von 2005 als halbseitig gehäutete Skulptur zeigt, unter deren abgenommener, schwangeren Bauchdecke zwei Ungeborene zum Vorschein kommen. Dass derlei neugierige Blicke auf den geöffneten Körper erwünscht sind, zeigen die überlieferten Beispiele; dass die Zurschaustellung des menschlichen Innenlebens gleichermaßen als tabuisiert gilt, beweist das animierte Musikvideo »Rock DJ« von Robby Williams aus dem Jahr 2000, welches lange Zeit zensiert wurde und auf dem Index stand, da sich darin der Musiker bei lebendem Leibe die Haut und darunter befindliche Schichten abzieht, bis sein pulsierendes Herz zu sehen ist. Aus medizinischer Sicht besteht die Notwendigkeit des geöffneten Körpers allerdings kaum mehr. Der minimalinvasiven Medizin sind heute Operationen möglich, die dem eben benannten Tabu – wenn auch nicht um des Tabus willen – Rechnung tragen und ein Öffnen der natürlichen Körperbegrenzung weitestgehend vermeiden können. Das symbolträchtige Vokabular, das für solcherlei Maßnahmen gefunden wurde, zeugt wiederrum von einem geheimnisvollen, voyeuristischen Tun, welches sich innerhalb eines umhegten und in sich abgeschlossenen Körpers abspielt: die Rede ist etwa von »anatomisch‐chirurgischen Fenstern« bei Operationen oder von »Knopfloch-, beziehungsweise Schlüsselloch-OPs«98 , bei denen nur mehr das zu chirurgischen Zwecken notwendige Werkzeug in den Körper eingeführt wird. Die kontrollierende Einsichtnahme in den Körper übernehmen gänzlich neuartige Gerätschaften: von innen heraus wirken Kameras, die Computerbilder übermitteln, und von außen lassen Computertomographien, Ultraschall und das Röntgenbild die Körpergrenze transparent werden. Wilhelm Conrad Röntgen, dem es am 22. Dezember 1895 mit dem Röntgenbild der Hand seiner Frau gelungen war, dem geschlossenen Körper zu seinem Recht zu verhelfen, entdeckte damit derartig Revolutionäres, dass Thomas Mann zu einer eindrücklichen Schilderung 96 Mark Twains Reise fand im Jahr 1867 statt. Der Reisebericht ist auch unter dem Titel The New Pilgrim’s Progress bekannt: TWAIN, Mark, The Innocents Abroad (1869), Knoxville 2010. 97 Vgl.: SPRINGER, S. 346. 98 Im englischsprachigen Raum spricht man von »keyhole surgery«. Vgl.: SPRINGER, S. 343.

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dieser Errungenschaft im »Zauberberg« gelangte. Darin sieht Hans Castorp im Durchleuchtungsraum die Resultate des »Triumphes der Neuzeit«, der »Lichtanatomie«99 , und sie machen ihm den Tabubruch einer Innenansicht des Körpers augenfällig: »Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab.«100 Wenn man bedenkt, dass die Röntgenaufnahme in der Tat der Gesundheit nicht zuträglich ist, ließe sich folgern, dass sich hier wieder die Essenz des Tabus bewahrheitet, das man auf strategische Weise zu umgehen sucht, was aber niemals ohne Folgen bleiben wird.

Die Überwindung des Todes im Christentum Die Scheu davor, unseres Innenlebens und damit unseres eigenen Grabes ansichtig zu werden, ist auf uns selbst gerichtet. Die Befangenheit und Furcht dem Tod gegenüber, richtet sich meist auf die anderen, die gestorben sind. Die Gründe hierfür können als natürlich entwickelte Tabus angesehen werden, wie sie weiter oben die Toten betreffend bereits festgehalten wurden. Dabei gilt der Tod uns allen. Dass jeder einmal sterben wird, ist jedoch zu Lebzeiten eine sehr abstrakte Vorstellung. Und je nachdem, welcher Glaubensrichtung man angehört, fällt auch der Charakter des Todes mehr oder weniger final aus. Das Christentum etwa sucht die Sorge um den Tod zu entkräften, indem es im Glauben einen Sieg über den Tod prognostiziert. So heißt es im Neuen Testament: Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. (1. Korintherbrief 15, 51-52). So setzt man alle Hoffnung auf diese wie auch immer geartete Verwandlung nach dem Tode. Dabei hatte das Christentum den Menschen ursprünglich als Ebenbild Gottes vorgesehen und damit als unsterblich im Sinne. Aber dann brachte Adam dem Menschen die Erbsünde101 : Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod. (Jakobus 1, 15). Indem die Sünde in die Welt kam, kam auch der Tod in die Welt (Römer 5, 12-14). All diese Vorgaben liegen im Widerstreit zueinander und betreffen doch allesamt den zunächst wenig Trost spendenden Gedanken an das Sterben. Es blieb entsprechend weiterhin Bestreben des Christentums, dem Tod nicht das letzte Wort zu erteilen. Und so setzte sich eine heterogen argumentierende Logik durch, die sich sowohl an Tabus orientiert und an diesen festhält, um an anderen Stellen strategischen Tabubruch zu begehen, damit dem Ursprungsgedanken des ewigen Lebens Tribut gezollt werde: Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn. (Römer 6, 23). 99 MANN, Thomas, Der Zauberberg (1924), Frankfurt a.M. 7 1999, S. 299, Kapitel: »Mein Gott, ich sehe!«, S. 283-305. 100 MANN, Der Zauberberg, S. 304. 101 Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. (1. Buch Moses, Genesis 2, 16-17)

Tabu und Tabubruch

Damit dem Menschen das ewige Leben zuteilwürde, musste dem ein Opfertod vorausgehen: Jesus starb am Kreuz, um die Menschheit zu erlösen. In der Kunst findet der Kreuzestod seinen Ausdruck in Form des Schmerzensmannes, dem crucifixus dolores. Dabei haben diese Darstellungen nicht den Anschein, als wäre das Leiden Christus menschlicher Natur. Drastische Schmerzensäußerungen werden vermieden, so Matthias Bleyl, denn: »Offensichtlich zeigen Kreuzigungen Christi überwiegend nur dessen verhaltenen Ausdruck, um den sakramentalen Gehalt des Kreuzestodes nicht zu sehr einzuschränken.«102 Dabei ist die Erfahrung von Schmerz kein unwichtiger Gedanke in der christlichen Heilsvorstellung. Er musste überwunden werden, um des ewigen Lebens würdig zu sein und um Christus nachfolgen zu können. Dies gilt vor allem für die Heiligen und Märtyrer, von denen weiter unten noch zu sprechen sein wird. Der schmerzhafte Ausdruck Jesus am Kreuz ist mithin nur in reduzierter Form abgebildet, um – wie Bleyl anmerkt – der sakramentalen Logik Folge leisten zu können: Jesus war so sehr von göttlicher Natur, dass ihm der Schmerz nichts anzuhaben vermochte und dennoch war er Mensch genug, um Schmerzen erleiden und am Kreuz sterben zu können. Sein Kreuzestod und die Darstellungen dessen sollten den Christen zu Mitleid im kathartischen Sinne bewegen, gar zu ebensolchen Tränen rühren, wie sie die am Kreuzestod Teilhabenden vergossen hatten. Aber auch die Schmerzensmutter Maria, mit ihr Magdalena und Johannes, leidet verhalten. »Auch dies ist freilich Strategie; […] Abermals geht es um die Gewissheit des eigenen Heils, die unerschütterliche Ruhe der christlichen Blutzeugen ist hierfür Verheißung und Vorbild.«103 Hieraus folgt ein heterogener theologischer Gedankenaustausch, der sich demnach Über die Leidensunfähigkeit und Leidensfähigkeit Gottes auseinanderzusetzen hat.104 Indem Jesus am Kreuz die Leiden der Menschheit stellvertretend auf sich genommen habe, also willentlich leide, könne ihm als Souverän des Schmerzes dieser kein tatsächliches Leid bereiten. In Christus bebildert sich für den Gläubigen also die rechte Art zu sterben: einerseits muss sein Tod als glaubwürdig erscheinen, andererseits darf ihn die Unsterblichkeit im Moment des Todes nicht gänzlich verlassen haben. »Diese geschlossenen Augen werden sich wieder öffnen, diese bleichen, schlaffen Lippen werden sich wieder regen, diese starren Hände werden wieder segnen und das Brot des Lebens brechen. […] Diese Möglichkeit muss nun vom Bildhauer oder Maler nicht als ein im Leichnam zurückgehaltenes Leben dargestellt werden, denn das wäre nur ein Scheintod, sondern sie muss als das Wunder erscheinen, das in diesem Leichnam einzig existiert.«105 102 Matthias Bleyl, »Der Schmerz als Thema der bildenden Kunst – Darstellungsmöglichkeiten von der Renaissance bis heute«, in: BERGDOLT, Klaus und Dietrich von Engelhardt (Hgs.), Schmerz in Wissenschaft und Kunst (Il dolore nella scienza, arte e letteratura), Stuttgart 2000, S. 70-93, hier S. 87. 103 Bernd Wolfgang Lindemann, »Die Bildlichkeit des Schmerzes in der Alten Kunst«, in: BLUME, Eugen, Annemarie Hürlimann, Thomas Schnalke und Daniel Tyradellis (Hgs.), Schmerz: Kunst + Wissenschaft, Köln 2007, S. 99-105, hier S. 100. 104 Über die Leidensunfähigkeit und Leidensfähigkeit Gottes umfasst einen Dialog zwischen Bischof Gregor und Theopompus; zitiert nach: Christoph Markschies, »Der Schmerz und das Christentum«, in: BLUME, S. 153-159, hier S. 156. 105 ROSENKRANZ, Karl, Ästhetik des Hässlichen (1853), mit einem Vorwort zum Neudruck von Wolfhart Henckmann, reprografierter Nachdruck der Ausgabe Königsberg von 1853, Darmstadt 1979, S. 291-292.

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Nicht vielen Künstlern gelingt der Spagat zwischen einem toten Christus und einem, der nach drei Tagen zur Auferstehung gelangt. Bedenkt man die Martyrien, die Jesus am Kreuz zu durchleiden hatte, ist dies nicht weiter verwunderlich. Die Überlieferung der Passion tut ihr Übriges und geizt nicht mit Details zum Kreuzestod. Die Wunden Christi werden in Art und Zahl genauestens dokumentiert, die Werkzeuge, die arma christi, als Zeugen der Tat bewahrt und immer wieder auf ein Neues beschworen und auch über den Vorgang der Marter wird genauestens Buch geführt. Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass der Opfertod Christi kein gemeiner Meuchelmord, sondern eine absichtsvoll geplante Gräueltat darstellt, die unter Mittäter- und Zeugenschaft vieler stattgefunden hat und die Wonnen der Schaulustigen befriedigte. Der Tabubruch wurde begangen. Und dennoch war er notwendig, um den Kreuzestod zu rechtfertigen und ihm einen Sinn zu verleihen, denn: »[…] das Göttliche gewährt erst dann Schutz, wenn sein oberstes Gesetz, verzehren und zerstören zu müssen, erfüllt ist.«106 Und so kann es sein, dass auch in der Malerei – etwa in einem Gemälde Giovanni Antonio da Pordenones, auf dem sich einer der am Begräbnis Christi Teilnehmenden die Nase zuhält107 – das Kreuzesopfer zu dem verkommt, was es ist: ein blutiger Mord108 , der einen Toten zur Folge hat. Der Geruch der Verwesung begleitet auch den Lazarus. Jesus, der dem kranken Freund zu Hilfe eilen möchte, trifft erst nach dessen Tod ein, woraufhin ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen mitteilte: Herr, er stinkt schon; denn er ist vier Tage gelegen. (Johannes 11, 39) Und dennoch lässt Jesus den Grabstein wegrollen und Lazarus auferstehen. Er würde in das Himmelreich auffahren, obwohl sein irdischer Leichnam bereits alle Merkmale des Abjekten zeitigte. Jesus Christus setzt ein Exempel und demonstriert, dass es alleine auf den rechten Weg zu Lebzeiten und das rechte Sterben ankommt, auf die artes bene moriendi, wie sie in der Liturgie, in Kirchenliedern und in theologischen Texten seit dem Mittelalter angemahnt werden. Mit der Bereitschaft zur Buße und dem Ablegen jeglicher Selbstsucht und Eitelkeit, könne es auch einen Tod geben, der am Ende nicht quält, sondern durch das Eingehen in das ewige Leben Sinnhaftigkeit erhält: »So konnte die Todesangst zugelassen werden; sie war instrumentalisiert im Dienste des Heils, führte also nicht ins Bodenlose.«109 Das Ziel der Erlösung des Christenmenschen nach seinem Tod war erreicht. Um jedoch sicher zu gehen, dass die Seelen auch wohlbehalten in das Himmelreich eingehen werden, suchte man vorsichtshalber nach Wegen, den Körper nach seinem 106 BATAILLE, Die Erotik, S. 177. 107 Lessing schildert seinen Ekel, den diese Szenerie in ihm hervorruft: »Pardenone [sic!] läßt, in einem Gemählde von dem Begräbnisse Christi, einen von den Anwesenden die Nase sich zuhalten. Richardson mißbilliget dieses deswegen, weil Christus noch nicht so lange todt gewesen, daß sein Leichnam in Fäulung übergehen können. Bey der Auferweckung des Lazarus hingegen, glaubt er, sey es dem Mahler erlaubt, von den Umstehenden einige so zu zeigen, weil es die Geschichte ausdrücklich sage, daß sein Körper schon gerochen habe. Mich dünkt diese Vorstellung auch hier unerträglich; denn nicht blos der wirkliche Gestank, auch schon die Idee des Gestankes erwecket Eckel.«, in: LESSING, S. 186. 108 Siehe auch: BATAILLE, Die Erotik, S. 87. 109 Carl Pietzcker, »Wahrhaftigkeit, Trost, Spiel und Vermeidung. Vom Umgang der Literatur mit Sterben und Tod«, in: BLUM, Mechthild und Thomas Nesseler (Hgs.), Tabu Tod, Freiburg i.Br. 1997, S. 103-124, hier S. 115.

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Tod intakt zu halten. Dies geschieht einmal aus instinktiven Gründen und aus dem logischen Rückschluss und dem Glauben heraus, dass nur der unverweste und unversehrte Körper auferstehen wird können: Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit. (1. Korintherbrief 15, 53) Besondere Maßnahmen sind deshalb zumindest bei den Monarchen und Päpsten, den Heiligen und Märtyrern zu treffen. Um einer Verwesung nach dem Tode länger standhalten zu können, ist es üblich, Päpste in einem Zypressensarg zu beerdigen, der von einem verschweißten Zinksarg umschlossen und nochmals in einen Sarkophag aus Nussholz gegeben wird.110 Davor wurde bereits über Jahrtausende hinweg die Präparation von Leichnamen wichtiger Persönlichkeiten vorgenommen. Indem man Mumien zusätzlich mit Grabbeigaben versah, wollte man möglichst günstige Voraussetzungen für ein Nachleben schaffen: nicht nur der Geist, sondern auch das Fleisch sollten in Gänze auferstehen.111 Eine besondere Form der Körperbewahrung nach dem Tod ist der Reliquienkult. Zum Teil baut man auch hier darauf, dass der Körper incorruptum und integrum, also unverwest und als Ganzes erhalten bleibt, um die Handlungsfähigkeit der Heiligen und Märtyrer im Jenseits nicht einzuschränken.112 Die Wirksamkeit und Anbetungswürdigkeit der Heiligen ist jedoch auch noch dann gegeben, wenn lediglich einzelne Körperteile des Verstorbenen zur Reliquienverehrung genutzt werden. Auch als Fragmente verkörpern sie noch »die reale Präsenz des Dargestellten«, so Thomas Baltrock, und weiter: »Wenn ein Mensch von göttlicher Energie erfüllt ist, dann sind es auch seine Gebeine, dann ist es sinnvoll, einen Arm abzutrennen, diesen einer befreundeten Kirche zu verschenken oder zu verkaufen, und dieses kraftvolle Körperfragment kostbar zu fassen, damit die Kraft des Heiligen an mehreren Orten wirksam werden kann. Die Seele ist in jedem Körperteil als ganze präsent, lehrt Thomas von Aquin; so ist die ganze Kraft in jedem Partikel gegenwärtig.«113 Trotz des hilfreichen Beistandes der Heiligen nach ihrem Tod, kann die Praxis, deren Körper in Einzelteilen zur Schau zu stellen und monetär zu veräußern, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich unter Berufung auf eine Glaubensvorstellung um einen barbarischen Akt der Zerstückelung handelt, der gegen jedes Bestattungsrecht verstößt. Und dennoch wird mit dem Tabu der Unberührbarkeit der Toten gebrochen, weil die Verheißung zu groß ist, in den Heiligen Fürbitter für das eigene Nachleben zu erhalten. »Wer bloß die Totengeister besänftigen und versöhnen wollte, wäre kaum jemals auf die Idee gekommen, einer 110 Diese Holzsorten erweisen sich als äußerst haltbar. Der Metallsarg ist luftdicht abgeschlossen und Zink besitzt darüber hinaus bakterizide Eigenschaften, die einer schnellen Verwesung entgegentreten. Vgl. hierzu auch: Dominic Olariu, »Johannes Paul Supertod. Ikone eines neuen Todesverständnisses?«, in: MACHO, Thomas und Kristin Marek (Hgs.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 59-78, hier S. 73. In den USA gehören ähnliche Maßnahmen zum Standard einer Bestattung, vgl.: Oliver Krüger, »Die Aufhebung des Todes. Die Utopie der Kryonik im Kontext der USamerikanischen Bestattungskultur«, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 224-225. 111 Vgl. hierzu: Thomas Macho, »Ästhetik der Verwesung. Zur künstlerischen Arbeit von Teresa Margolles«, in: MACHO, S. 337-353, hier S. 346-347. 112 Vgl.: Thomas Macho, in: MACHO, S. 337-353, hier S. 350, und Urte Krass, »Vom schönsten Heiligenkörper der Welt zur Herrin der Schlangen. Verlebendigung und Sichtbarmachung des Leichnams der Caterina Vigri von Bologna (gest. 1463)«, in: MACHO, S. 263-293, hier S. 272. 113 BALTROCK, Thomas (Hg.), Kiki Smith. Werke/Works 1988-1996, Köln 1998, S. 4.

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Leiche das Fleisch von den Knochen zu schaben, den Schädel abzutrennen und neu zu modellieren, alte Gräber zu öffnen, verweste Gerippe herauszuholen, um sie zu polieren, zu bemalen, zu schmücken oder zu beschriften.«114 Der christliche Glaube hantiert in all diesen Fällen auf einer liminalen Grenze, an der sich Tabubrüche gegen Tabus aufrechnen lassen. Begeht man den einen, bewahrt man damit das andere. Die genüssliche Darstellung eines feigen Mordes steht dem Tötungstabu entgegen und die anschließende Auferstehung des Gekreuzigten setzt das nächste Tabu außer Kraft, nämlich, die toten Wiedergänger eher zu fürchten als zu verehren. Dem Tabu der haptischen Kontaktaufnahme mit den Toten wird im Rahmen der christlichen Reliquienverehrung ein Ende gesetzt und geriert zu einem Berührungskult, der sich von einem Tabu in sein Gegenteil verkehrt. Winfried Menninghaus bestätigt diesen wagemutigen Bruch mit universellen Tabus wie folgt: »Das Sakrileg gehört damit zur Struktur des Heiligen selbst. Die periodische Überschreitung elementarer Verbote zerstört diese nicht, sondern erneuert sie und setzt im Wechselrhythmus von Repulsion und Attraktion, in der Transformation des Unreinen ins Reine, des Verworfenen ins Heilige starke affektive Energien frei.«115

Sexualität, Ekstase und der christliche Glaube Wo Gewalt und Tod als bestimmende Themen eine tragende Rolle spielen, da ist auch – wollen wir Bataille Glauben schenken – die Sexualität nicht fern. Verborgen in religiösen Praktiken der Verehrung zwischen den Heiligen und den Göttern und zwischen den Sterblichen und den Heiligen, wird der dabei ekstatisch empfundene Schmerz, der in unterschiedlichsten Formen erfahren wird, einmal in der Kunst bildhaft zum Ausdruck gebracht, ein andermal gegen sich selbst gerichtet. Ein viel zitiertes, tatsächlich aber einschlägiges Beispiel für ersteres, stellen die autobiographischen Skizzen116 der Heiligen Theresa von Avila dar und die skulpturale Umsetzung dieses Erfahrungsberichtes durch die gleichnamige Skulptur des Giovanni Lorenzo Bernini. Theresa von Avila, deren Kanonisation kurz vor eben erwähntem Bildnis im Jahr 1622 erfolgte, hatte als junge Nonne eine geistige Vision aufgezeichnet, die sie entweder 1559 oder 1560 überkam. Die von ihr durchlebte mystische Erfahrung der Transverberation durch einen Engel in leiblicher Gestalt liest sich wie folgt: »In den Händen des mir erschienenen Engels sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil, und an der Spitze des Eisens schien mir ein wenig Feuer zu sein. Es kam mir vor, als durchbohrte er mit dem Pfeil einigemal mein Herz bis aufs Innerste, und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten Herzteil mit heraus. Als er mich verließ, war ich ganz entzündet von feuriger Liebe zu Gott. Der Schmerz dieser Verwundung war so groß, daß er mir … Klageseufzer auspreßte; aber auch die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte, war so überschwänglich, daß ich unmöglich 114 Thomas Macho, in: MACHO, S. 263-293, hier S. 350. 115 MENNINGHAUS, Winfried, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M., 1999, S. 494. 116 Theresa von Avilas Aufzeichnungen waren als »Buch der Erbarmungen des Herrn« tituliert und mieden weitestgehend autobiographische Details. Dennoch ging ihre Schrift als »Das Buch meines Lebens« in das Verlagswesen ein.

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von ihm frei zu werden verlangen … konnte … . Es ist dies kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib, und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt. Der Liebesverkehr, der nunmehr zwischen der Seele und Gott stattfindet, ist so süß, daß ich zur Güte des Herrn flehe, er wolle ihm den zu kosten geben, der etwa meint, ich lüge hierin.«117 Der Auszug des Textes, wie er bei Bataille zu lesen ist, erscheint gerade ob der durch den Philosophen nicht ohne Grund beigefügten Kürzungen geeignet, die der geistigen Vision der Theresa zugrundeliegende augenfällige sexuelle Note zu betonen. Theresas spirituelle Versenkung, die wiederum von der Versenkung des phallischen Pfeils von Hand des Engels in ihr Herz verursacht wird, lassen den Akt einer liebenden Gottesverehrung zu seiner erotischen Entsprechung werden. Als Nonne hatte sich die Karmeliterin ehedem mit Jesus vermählt und – obwohl im zölibatären Sinne verboten – so setzt doch die Ehe auch den Gedanken an Sexualität frei. Batailles Einwurf muss entsprechend stattgegeben werden, wenn er festhält, dass die Begrifflichkeiten der Sexualität und des Heiligen hier unklar gefasst sind.118 Dies fiel nicht nur den Kritikern der skulpturalen Interpretation Berninis auf, sondern bereits den Zeitgenossen Theresas, die sich mit ähnlichen, das Ekstatische der Vision betonenden Bildideen konfrontiert sahen.119 Berninis Altarstück für Santa Maria della Vittoria in Rom ist ebenfalls dazu geeignet, eher die Verzückung der Heiligen Theresa (1645-1652) als deren späteren Heiligenstatus hervorzuheben. Das Tabu einer erotisch motivierten Liebe zu Gott und der Tabubruch einer möglicherweise sich erfüllenden sexuellen Liebe zu Gott angesichts und in den geistigen Wonnen der Hl. Theresa, erfüllen die hier zur Debatte stehenden strategischen Gesichtspunkte einer ersehnten Transgression. »So wie das einfache Verbot mit der organisierten Gewaltsamkeit der Überschreitung die ursprüngliche Erotik hervorbrachte, vertiefte das Christentum durch ein Verbot der organisierten Überschreitung seinerseits die Grade des sinnlichen Aufruhrs.«120 Vulgo: das Begehren wächst mit der Verweigerung. Die Gewaltigkeit der Ekstasen von Sexualität und Tod liegen in Berninis künstlerischer Ausformulierung nicht weit voneinander entfernt: Theresas geschlossene Augen und die zur Hälfte zu einem Seufzer geöffneten Lippen, der zurückfallende Kopf und ihre erschlaffende linke Hand bilden einen Gegensatz zur angespannten Haltung und dem Muskelspiel der unteren Körperpartien und den Fingern ihrer rechten Hand, die konvulsivisch aufzubegehren scheinen. Erschlaffung und Anspannung sind hier gleichermaßen als Vorboten höchster körperlicher Ekstase, aber auch des letztmaligen Auf117 Theresa von Avila, zitiert nach: BATAILLE, Die Erotik, S. 219. 118 Vgl.: BATAILLE, Die Erotik, S. 220. 119 Vgl. hierzu AUGSBURG, Tanya, Private Theatres Onstage: Hysteria and the Female Medical Subject from Baroque Theatricality to Contemporary Feminist Performance, Atlanta 1996, S. 26-27 und S. 28. Aber nicht nur Georges Bataille spricht sich als einer der berühmten Interpreten für eine auffallende Verquickung von Erotik und religiöser Ekstase aus (dessen englische Ausgabe der »Erotik« (1986) schmückt das Gesicht von Berninis Hl. Theresa), auch Jacques Lacan tut dies und die Erstveröffentlichung seiner Seminare »Buch XX« von 1975 zeigt Berninis Skulptur auf dem Umschlag. 120 BATAILLE, Die Erotik, S. 123: Dieser schafft hier einen Vergleich zu De Sade, welcher ebenfalls »die Idee der Regelwidrigkeit zu Hilfe nehmen [mußte], um die Auflösung der Wollustkrise darzustellen.«

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begehrens in der Agonie des Sterbenden zu lesen. Die Sexualität und der Tod besitzen dieselben Vorzeichen. Die lustvolle Verzückung des sexuellen Aktes und die leidvolle Exaltation von physischem Schmerz werden im christlichen Glauben jedoch als einander entgegengesetzte Pole betrachtet. Überraschenderweise verhält sich hier das Tabu und der Tabubruch umgekehrt zu den im profanen Bereich gültigen Gesetzmäßigkeiten. Das eine dient dem Lustgewinn, der nicht zielführend ist, das andere dient der Selbstgeißelung, die einem Nachempfinden des Leidens Christi gleichkommen soll. Das eine gilt der Kirche als Tabu, welches außerhalb des rechten Kontextes – etwa als Nonne – zu meiden ist, das andere gilt ihren Gläubigen als strategisch ausgeführter Tabubruch, der dem eigenen Heil nach dem Tode zuträglich sein kann. Daher ist das Versenken in die Passion Christi nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Das Nachempfinden der Leiden Jesu kann in Form der lauten Klage geschehen, wie dies in der Grabeskirche in Jerusalem zur Schau getragen wird, des Weiteren durch selbstauferlegte Kasteiung im Fasten oder aber durch das Erleiden sich selbst zugefügter Pein in Form der körperlichen Geißelung. All dies soll im Sinne einer Nachfolge Christi der Einfühlung in und der Erinnerung an dessen Schmerzen geschehen, der De Imitatione Christi. Nicht nur den Heiligen und Märtyrern stehen diese Maßnahmen der Versenkung zu Gebote. Deren Beispiel folgend erlebt auch der Gläubige die Nähe des Gottessohnes und tut gleichzeitig Buße, indem er dessen Leiden dankbar zu tragen gewillt ist. Den physischen Schmerzen geht dabei eine spirituelle Erleichterung einher, welche die selbst auferlegte Pein nicht mehr etwas Anstößiges und Unsittliches sein lässt, sondern von den irdischen Drangsalen befreien kann. Jedoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass derartiges Leid niemals alleine mit dem irdischen Elend gleichzusetzen ist, sondern ebenso nahe an eine irdisch empfundene Wollust grenzt. Für den Flagellanten entsprach »[d]ie exzessive Lust des Zügellosen […] dem Schrecken des Gläubigen. Für den Gläubigen war die Zügellosigkeit die Verurteilung des Zügellosen, sie bewies seine Verderbtheit. Doch die Verderbtheit, das Böse und der Satan wurden für den Sünder Objekte der Anbetung, die der Sünder oder die Sünderin liebte. Die Wollust versank im Bösen. Sie war ihrem Wesen nach Überschreitung, Überwindung des Schreckens, und je größer der Schrecken, desto tiefer war die Freude.«121 Bataille folgert der hier eruierten Argumentation entsprechend: »Die Überschreitung war organisiert und begrenzt.«122 Dies bedeutet nichts anderes, als dass das Tabu bestehen bleibt und die Transgression auf eine geordnete Art und Weise begangen werden darf. Gleiches gilt für das Messopfer wie es im Sinne der christlichen Eucharistiefeier begangen wird. Der Opfertod Christi, der hinweg nimmt die Sünden der Welt, wird als Glück und Schuld zugleich empfunden. Tabu und dessen Bruch ergänzen und bestätigen sich hier gegenseitig. Sündigen und Buße tun erfüllen den Gedanken einer als glücklich empfundenen Schuld, der felix culpa.123 Natürlich bestimmen die konfessionellen Unterschiede den Grad der Anwesenheit Christi, den dieser während der Konsekration in Form der Hostie und des mit Wein gefüllten Kelches erlangen wird. Die 121 BATAILLE, Die Erotik, S. 122. 122 BATAILLE, Die Erotik, S. 123. 123 Vgl. auch: BATAILLE, Die Erotik, S. 87.

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Transsubstantiation in der römisch‐katholischen Ausprägung bedeutet hierbei die tatsächliche Präsenz des Leibes und Blutes Christi in der Eucharistie und übergeht deshalb ein Nahrungstabu, welches an anderer Stelle bereits zur Sprache kam: das des kannibalischen Aktes, der in diesem Zusammenhang zu einem religiösen Ritual und zu einer Ersatzhandlung wird. Deshalb gibt Bataille zu bedenken, dass »[w]ie quälend auch das Bild des Gekreuzigten sei, die Vorstellung eines Blutopfers […] mit der Messe nicht leicht zu vereinen [ist].«124 Wie man es auch drehen und wenden möchte, so widersprechen sich hierin die rituelle Kulthandlung mit den Geboten des sie formierenden Glaubensbekenntnisses: »In der religiösen Orgie vor dem Christentum war die Überschreitung gewissermaßen erlaubt: die Frömmigkeit erforderte sie. Gegen die Überschreitung richtete sich das Verbot, aber dessen Aufhebung blieb möglich, unter der Bedingung, daß man die Grenzen beachtete. In der christlichen Welt wurde das Verbot absolut. Die Überschreitung hätte aufgedeckt, was das Christentum verschleierte: daß das Heilige und das Verbot verschmelzen, daß der Zugang zum Heiligen in der Gewaltsamkeit seines Verstoßes liegt.«125

Die verkehrte und groteske Welt des Karnevals Der Karneval eint nun das weltliche und religiöse Gebaren eines strategischen Tabubruchs aus einem wichtigen Beweggrund heraus. Denn indem der Karneval die Gewaltenverteilung zwischen Herrscher und Volk in sein Gegenteil verkehrt, ist das Interesse seitens der Machthabenden groß, diesen Tabubruch nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen zuzulassen. Die Angst der herrschenden Instanzen vor den Auswirkungen der doppelsinnigen und meist als anstößig erachteten Rituale führte zu Zeiten zu einem Verbot von karnevalsähnlichen Zuständen, wie diese während der Fastnacht, im Mummenschanz oder auf Jahrmärkten zu Tage traten.126 Die hierbei zelebrierte groteske Geste begreift sich auch in Opposition zu den kirchlichen Instanzen. »Das ängstliche Leben und das intensive Leben«127 treffen hier ungebremst aufeinander. Das Profane des Karnevals steht der Religion diametral entgegen. Auch hier führte eine Opposition nicht nur zu einem allmählichen Dahinschwinden 124 BATAILLE, Die Erotik, S. 87. Julia Kristeva hegt dieselben Bedenken wie Bataille: »The tie between the multiplication of loaves and the Eucharist is well known; it is established by another of Christ’s statements, this time bringing together body and bread, ›This is my body‹. But surreptitiously mingling the theme of ›devouring‹ with that of ›satiating‹, the narrative is a way of taming cannibalism. It invites a removal of guilt from the archaic relation to the first pre‐object (ab‐ject) of need: the mother. Through oral‐dietary satisfaction, there emerges, beyond it, a lust for swallowing up the other, while the fear of impure nourishment is revealed as deathly drive to devour the other. A primal fantasy if ever there was one. That theme unremittingly accompanies the tendency toward interiorizing and spiritualizing the abject. […] The division within Christian consciousness finds in that fantasy, of which the Eucharist is the catharsis, its material anchorage and logical node.«, in: KRISTEVA, S. 118. David Cronenberg greift in seinem Roman »Consumed« eben diesen Gedanken wieder auf. 125 BATAILLE, Die Erotik, S. 122. 126 Peter Stallybrass und Allon White führen Buch über den aus politischen Gründen motivierten Niedergang etwa der Jahrmarktsveranstaltungen und Volksfeste in: STALLYBRASS, Peter und Allon White, The Politics and Poetics of Transgression, Ithaca, New York, 1986, S. 32-33. 127 BATAILLE, Die Erotik, S. 177.

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derartiger Rituale, sondern gleichermaßen zu einem Verkümmern der darin ausgeübten Ausschweifungen und Hemmungslosigkeiten. Dabei ist es ausgerechnet die Kirche, die den zeitlichen wie thematischen Rahmen innerhalb des Kirchenjahres steckte, um dem Zwiespalt zwischen Demut und Exzess Betonung zu verleihen. Der Karneval trägt alle Eigenschaften der Saturnalia, einer bestialischen wie sexuellen Grenzüberschreitung der Götter, gleichzeitig frönt er der Groteske, wie sie bei Rabelais in unersättlichen Fressgelagen und den hemmungslosen Gebär- und Sterbeszenen ausformuliert wird, um anhand von Michael Bachtins Deutung in den Flux der Lachkultur und der Faschingsmodalitäten einzugehen. Und dennoch ist er vor allem ein religiös motiviertes Fest: Carne levare128 , die Aufhebung des Fleisches, Mardi Gras, der fette Dienstag vor dem 40 Tage andauernden und mit dem Aschermittwoch beginnenden Fasten, Carne vale!, der Abschied vom Fleisch. Die im Karneval praktizierte rituelle Inversion der Ordnung umreißt die Motive des Fressens und der Ausscheidungsprozesse, der sexuellen Verausgabung, des Gebärens und des Sterbens. Das unterste wird zuoberst gekehrt, der Kopf wird zum Hintern, die Alte wird schwanger, der Jüngling ist dem Tode geweiht, der Papst wird zum Narren gemacht und der Bettler zum König. Die Welt ist verkehrt. »Carnival gives symbolic and ritual play, and active display, to the inmixing of the subject, to the heterodox, messy, excessive and unfinished informalities of the body and social life. It attacks the authority of the ego (by rituals of degradation and by the use of masks and costume) and flaunts the material body as a pleasurable grotesquerie – protuberant, fat, disproportionate, open at its orifices.«129 Dass dabei die Kontrolle der Körperöffnungen und die soziale Kontrolle einen grundlegenden Kausalzusammenhang darstellen, wurde bereits an anderer Stelle hervorgehoben: »Wo die sozialen Kontrollen stark ausgebildet sind, sind auch die Anforderungen an die Körperkontrolle besonders hoch.«130 Mary Douglas geht entsprechend nicht nur von einer Inversion des festgelegten Regelwerkes während des Karnevals aus, sondern sogar von einem zeitweiligen Außer-Kraft-Treten der Gesellschaftsordnung. Dies findet in Michail Bachtins Ausführungen eine Bestätigung, der »die zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus« feststellt. »[Der Karneval] war ein echtes Fest zu Ehren der Zeit, ein 128 Vgl. hierzu auch: STALLYBRASS, S. 184. 129 STALLYBRASS, S. 183. Vgl. auch: BACHTIN, S. 59-60, sowie JENKS, Chris, Transgression, London und New York 2003, S. 162. 130 DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 108. Mary Douglas’ Fazit folgt der Begründung, »dass der menschliche Körper immer und in jedem Fall als Abbild der Gesellschaft aufgefasst wird, dass es überhaupt keine ›natürliche‹, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben kann. Das Interesse an den Körperöffnungen ist eng mit dem Interesse an sozialen Ein- und Austrittsvorkehrungen, Flucht- und Zugangswegen gekoppelt. Wo es nicht darauf ankommt, körperliche Schranken intakt zu halten, dürfte eine besonders intensive Beschäftigung mit den dem Körper gesetzten Schranken kaum zu erwarten sein. Das Verhältnis zwischen Kopf und Füßen, zwischen Gehirn und Sexualorganen, zwischen Mund und After wird meist so behandelt, dass in ihm die relevanten Abstufungen der sozialen Hierarchien zum Ausdruck kommen. Deshalb möchte ich jetzt die Hypothese vertreten, dass es sich bei der Körperkontrolle um einen Ausdruck der sozialen Kontrolle handelt und dass das Aufgeben der Körperkontrolle in gewissen Ritualen den Erfordernissen der in ihnen zum Ausdruck kommenden sozialen Erfahrung entspricht.«, in: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 106. Hiermit begründet sich gleichzeitig der Tabubruch.

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Fest des Werdens, des Umbruchs und der Erneuerung. Jede Verewigung, Vollendung, jedes Abgeschlossene wurde von ihm zurückgewiesen. Er orientierte sich an der unvollendeten Zukunft.«131 Dies bedeutet eben auch, dass der Exzess samt seinen symbolhaft gelebten Prozessen der Inversion, Dämonisierung und Hybridisierung – dies die drei Hauptkriterien des Karnevals nach Peter Stallybrass und Allon White132 – zum einen durchaus eine Verbesserung der bestehenden Ordnung verspricht, wovon auch Rabelais in seiner Groteske ausgeht, um zum anderen diese Ordnung in korrigierter Form wieder instand setzen zu können. Dieses erneuerte System verlangt auf seinem Weg der Herausbildung die Umkehrung von Hochkultur und Alltagskultur, high und low müssen sich verkehren, um ihre Stabilität oder Instabilität unter Beweis zu stellen.133 Auch deshalb wird der Verlauf dieser Transgression von allen Seiten strategisch geplant, vollzogen und als spannungsvoll empfunden. Wie eben bemerkt, geht François Rabelais’ 1532 erschienenes groteskes Ritterepos über den sagenumwobenen Riesen Pantagruel und dessen Vater Gargantua von einem zyklisch stattfindenden Erneuerungsprozess aus.134 Bachtin beschreibt die darin begangenen mittelalterlichen Narrentage als janusgesichtig: man feiere die Übertretung, sanktioniere und degradiere damit das Herrschaftssystem. Das groteske Motiv bestehe einerseits im Auskosten der Lebensfülle durch den ansonsten nicht genehmigten Exzess und andererseits in der Akzeptanz der Vernichtung durch den Tod.135 Denn dem Tod wohne nicht ein Endpunkt inne, sondern er bilde den Drehpunkt einer zyklisch wiederkehrenden Reform des Lebens: »Mit jeder Generation erneuert sich das Menschengeschlecht nicht bloß einfach, es erreicht jedesmal eine neue, höhere Stufe seiner historischen Entwicklung. […] So verschmilzt bei Rabelais das Thema ›kollektiver Körper‹ mit dem Thema und der lebendigen Empfindung der historischen Unsterblichkeit des Volkes. Das Wissen des Volkes um seine historische Unsterblichkeit bildet den Kern des gesamten volkstümlich‐festlichen Motivsystems. Die groteske Körperkonzeption ist integraler Bestandteil dieses Systems. Deshalb verbindet sich in Rabelais’ Motiven der groteske Körper nicht bloß mit dem Kosmos, sondern auch mit einer gesellschaftlichen Utopie und mit der Geschichte, und hier vor allem mit dem Gedanken des Epochenwechsels und der kulturellen Erneuerung.« Und Bachtin folgert: »Das Leben wiederholt sich nicht in der Erneuerung, es geht weiter in Richtung Vollendung.«136 Die Unsterblichkeit des Volkes inkludiert natürlich alle Instanzen desselben – ob Herrschaft oder Proletariat. Im Gegensatz zu der ambivalent gelagerten Furcht vor einem hierdurch ausgelösten Umbruch, erfasst die Symbolträchtigkeit der im Exzess des Karnevals sich zutragenden Ereignisse demnach jeden. 131 BACHTIN, S. 61. 132 STALLYBRASS, S. 56. 133 Vgl. hierzu: STALLYBRASS, S. 19, sowie S. 58: »Hybridization, a second and more complex form of the grotesque than the simply excluded ›outside‹ or ›low‹ to a given grid, produces new combinations and strange instabilities in a given semiotic system. It therefore generates the possibility of shifting the very terms of the system itself, by erasing and interrogating the relationships which constitute it.« 134 Die erste deutschsprachige Übersetzung erschien 1575 mit dem Titel »Abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichtsschreibung vom Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel«. 135 Vgl.: BACHTIN, S. 113 und S. 131. 136 BACHTIN, S. 366 und S. 452 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin].

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Die Kompetenz des Volkes bestehe nun darin, dem Verderben mit einem ebenso verderbten Lachen zu begegnen. Bachtin betont die von Rabelais angemahnte und notwendige Dringlichkeit, sowohl der Überschreitung als auch dem Sterben mit einem grotesken Gelächter zu entgegnen.137 Es sei schlichtweg ein probates Mittel der Angstbewältigung: »Es war der Sieg über die Angst, den der Mensch des Mittelalters am Lachen besonders deutlich fühlte, Sieg nicht nur über die mystische Angst (Gottes-Furcht) und die Angst vor den Naturkräften, sondern vor allem Sieg über die moralische Angst, die das Bewußtsein fesselt, unterdrückt und verdunkelt. Die Angst vor allem Heiligen und Verbotenen (›Mana‹ und ›Tabu‹), vor göttlicher und menschlicher Macht, vor Geboten und Verboten, vor dem Tod und der Sünde nach dem Tod, vor der Hölle, vor allem, was furchterregender ist als die Erde, schien im Lachen besiegbar.«138 Derbheit und Tollheit sind also die strategisch eingesetzten Maßnahmen, um den Tabubruch herbeizuführen. Eine Verkehrung der Welt, das Ausleben der Überschreitung in der Groteske und damit die Kritik an den vorherrschenden Rollenverhältnissen und die eine Gesellschaft regulierenden Tabus kann jedoch nur dann von Wirkung sein, wenn diese nicht auf Dauer angelegt sind. Die Narrheiten des Karnevals stellen eine aus der Realität geborene Utopie dar, welche die notwendigen, wenngleich zerstörerischen Kräfte des Lebenszyklus zelebriert. Die binär anmutenden Paarungen sind dabei zwangsweise aufeinander angewiesen. Herrscht das eine, fordert es sein Gegenteil und umgekehrt. Sich einander zyklisch abwechselnd folgt das Oben dem Unten, die Macht der Ohnmacht, die Ordnung dem Tohuwabohu, die Völlerei dem Fasten, sexuelle Maßlosigkeit der Enthaltsamkeit, die Geburt dem Tod, die Zugänglichkeit aller Körperöffnungen der Rückkehr zum unversehrten und sittsamen gottesfürchtigen Geschöpf. So gesehen muss dem zyklischen Treiben – wie jedem Zyklus – eine strukturelle und zeitliche Ordnung einhergehen, die diesen immer wiederkehrend sein lässt, aber auch einen Zustand der unaufgeregten Ruhezeit vorsieht. Deshalb findet der Exzess nach gegenseitigem Einvernehmen immer im Rahmen einer orchestrierten Überschreitung statt. Der Karneval des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit139 bedeutet demnach einen strategisch kontrollierten Tabubruch. 137 Bereits einleitend verweist Michail Bachtin auf die »jahrtausendealte volkstümliche Lachkultur, deren großartigster Ausdruck [Rabelais’ Werk] zugleich ist.«, in: BACHTIN, S. 51. Der Bezug zum Derben und dem explizit Körperlichen seien ebenfalls signifikante Merkmale der kulturellen Errungenschaft der Groteske: »Doch nicht nur die Parodie im engeren Sinne, auch alle übrigen Gattungen des grotesken Realismus degradieren, stellen einen Bezug zur Erde und zum Körper her. Dies ist sein zentrales Merkmal und unterscheidet ihn von allen Formen der hohen Kunst und Literatur des Mittelalters. Das Lachen des Volkes, das alle Formen des grotesken Realismus prägt, war von alters her mit der materiell‐leiblichen Basis verbunden.«, in: BACHTIN, S. 70. 138 BACHTIN, S. 140 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin]. 139 Der zeitgemäße Geschmack lässt karnevalistisches Verhalten nicht mehr in seiner ursprünglichen Form zu. Die ehemals als Exzess zelebrierten Festivitäten gerieren heute zu einem eher sentimentalen Spektakel und die Nicht-Teilnahme oder Teilnahme daran wird darüber hinaus als Unterscheidungskriterium für eine höhere und niedere soziale Schicht genutzt. Vgl. hierzu auch: STALLYBRASS, S. 178, S. 183 und S. 191.

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II.3.2 Tabubruch als Strategie in der modernen Gesellschaft An dieser Stelle und ob der eben gewonnenen Erkenntnisse sei vorweggenommen, dass Sigmund Freuds Behauptung zu Beginn der theoretischen Erörterungen zum Tabu, nämlich, dass das Tabu noch in unserer Mitte fortbesteht, Gültigkeit besitzt. Auch beinahe achtzig Jahre nach Veröffentlichung seiner Schrift »Totem und Tabu« hat der soziale und technische Fortschritt dem Tabu nichts anhaben können.140 Und das, obwohl unsere Welt scheinbar kaum mehr Motive bereithält, die unsere westlich aufgeklärte und rationale Gesellschaft zu schockieren vermögen. Vielmehr gibt sich diese Gesellschaft gelangweilt ob der in regelmäßigen Abständen in den Medien erörterten Skandale, die ehedem zwar als an Tabus rührend gehandelt worden wären, aber heute auf ein abgeklärtes Publikum stoßen. Nacktheit auf der lokalen Theaterbühne, die schmutzige Wäsche der Politiker, der in allen Medien zugängliche Sex, die Toten der immer wiederkehrenden Kriege und die Nachrichtenbilder vom Elend der Welt funktionieren nicht mehr als Provokation des Betrachterauges und -gemüts oder sind der Ereiferung dienlich, sondern laufen aufgrund ihrer ständigen Wiederholung als Dauerschleife ins Leere. Gerade weil damit Themen nicht mehr gemieden werden, sondern allgegenwärtig sind, kann nicht mehr von einem Tabu die Rede sein. Und dennoch hat der Begriff Konjunktur und erscheint im Zusammenhang mit Inhalten, die freilich einem Skandal zuzuordnen sind, die aber nicht den oben erörterten Kriterien des Tabus entsprechen. Hans Paul Bahrdt spricht in diesen Fällen bereits 1961 von »WohlstandsTabus«, denen er einen religiös anmutenden Verbots-Charakter zueignet: »Auch da, wo wir eiserne Verbote aufstellen und deren Übertretung streng ahnden, meinen wir doch, dass man über die Sachverhalte offen sprechen und diskutieren und die notwendigen Regulierungen rational unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vornehmen könnten und sollten. Da wir nun entdecken, dass uns das oft nicht gelingt, dass wir uns in bestimmten Fragen ganz ähnlich irrational verhalten wie Polynesier, deshalb verwenden die Gesellschaftskritiker gern den ins Polemische gewendeten und säkularisierten Tabu-Begriff.«141 Vieles, was heute mit neugierigem Behagen als Tabu bezeichnet wird, besitzt zwar alle Kennzeichen eines Skandals, weder aber den weiter oben definierten profanen Alltagscharakter von Tabus, geschweige denn die universell gültigen Merkmale desselben. Oftmals liegt es also an der fälschlich geführten Begrifflichkeit, die uns glauben macht, dass sich einerseits zwar die heutige Gesellschaft von Tabus nicht Bange machen lassen will und andererseits damit vortäuscht, gar keine mehr zu besitzen. Hinzu kommt, dass die »exhibitionistische Gesellschaft«, als welche sie von Peter Springer benannt wird, 140 Vgl.: FREUD, S. 6. 141 Hans Paul Bahrdt, »Wohlstands-Tabus«, in: MAGNUM, S. 54-56, hier S. 54. Grund und Beispiel hierfür lauten wie folgt: »Während [der Tabu-Begriff] ursprünglich stets einen religiösen Sinn besaß, bezieht sich die modische Anwendung zumeist gerade auf säkularisierte Verhältnisse. Allerdings denkt man an solche Verbote, Schranken und Sanktionen, die uns anmuten, a l s o b hinter ihnen eine religiöse Forderung stünde. Diese ›Als‐ob‹-Vorstellung gibt nun der heute üblichen Verwendung des Wortes ›Tabu‹ einen speziellen Sinn, den der wertfreie ethnologische Tabu-Begriff nicht besitzt. Das Verbot für Autofahrer, bei Rotlicht über eine Kreuzung zu fahren, ist kein Tabu.« [Hervorhebungen durch Hans Paul Bahrdt].

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Skandale will und selbst für deren Bereitstellung sorgt. Dabei verliere der ehedem voyeuristische und im geheimen ausgeführte Blick durch das Schlüsselloch an Bedeutung und erhalte eine neue Qualität in seiner exhibitionistischen Eigenart.142 Insbesondere die Angelegenheiten der Anderen werden mit aufmerksamen Genuss und voyeuristischer Indiskretion verfolgt und konsumiert. Das Private und Intime werden allzu gerne in der Öffentlichkeit gesehen, aber auch mit ebensolcher Lust demonstrativ zur Schau gestellt. Will heißen: der sich selbst Entblößende erwidert den Blick des Voyeurs. In der Tat handelt es sich hierbei um ein Phänomen der modernen Gesellschaft und bedeutet darin wiederum eine vom aktuellen Tagesgeschehen abhängige Erscheinung. Die Tagespresse und das Mediengeschehen, die beide in aufklärerischer Funktion tätig sein wollen, prägen solcherlei Wohlstands-Tabus. Das debattierte Spektrum umfasst dabei ein recht weites Feld an tatsächlichen wie vermeintlichen Tabus. Sucht man – etwa im Internet, aber auch in Statistiken und Lexika – nach als Tabus titulierten Themen, finden sich sowohl Schwerpunkte zur Gewalt und Sexualität sowie ein in abstrakter Form diskutierter Todes-Begriff. All dies sind tatsächlich universell gültige Tabus. Davon kaum unterschieden mischen sich aber beliebig austauschbare Angelegenheiten darunter, deren zum Teil absurd wirkende Charaktereigenschaften einen profanen oder skandalumwitterten Sachverhalt voraussetzen. So trifft in alphabetisch gelisteten Aufzählungen etwa die »Maffia« auf »Menstruation«, der wiederum die Schlagwörter »Missgeburt« und »Mohammed« folgen, und das Thema »Läuse« wird der Richtigkeit der Buchstabenfolge halber vor der »Lesbischen Liebe« aufgeführt.143 Der Begriff »letzte Tabus« erzielt bei einer Internetrecherche keinerlei Treffer, die zu den wahrhaften Tabus gerechnet werden können. Die Bandbreite besticht auch hier wieder in seiner Beliebigkeit und diskutiert werden – um nur zwei ebenfalls willkürliche Beispiele zu nennen – die »Homosexualität in der Vorstandsebene« oder eine neue Generation von »Frauenhygiene«, die sich unter dem Schlagwort »Erdbeerwochen« versammelt.144 Auch in wissenschaftlich angeordneten Versuchsreihen stellt sich heraus, dass sich Tabus nicht mit den Mitteln der Befragung ergründen lassen, da vom Probanden nicht in der Begrifflichkeit von Tabu und Skandal unterschieden wird, auch weil wahrhaftige Tabus dem Schweigen unterliegen und wiederum die in den Sinn kommenden Themen stark dem jeweiligen Zeitgeist verhaftet sind.145 Es ist anzunehmen, was weiter oben bereits zur Sprache kam, dass es besonders im Bereich der profanen Tabus in der Tat zu Verschiebungen der Relevanzen kommt, die dem Zeitgeist und den kulturellen Gepflogenheiten unterliegen. Ein weiterer Grund 142 Vgl.: SPRINGER, S. 279. 143 Vgl.: GRAUPMANN, Jürgen, Das Lexikon der Tabus, Gladbach 1998. Ähnlich, wenn auch mit einem Kommentar versehen, funktioniert: HOFFMANN, Arne, Das Lexikon der Tabubrüche, Berlin 2003. 144 Dieses Experiment folgt demjenigen Hartmut Krafts, der noch im Jahr 2008 unter dem Stichwort »letzte Tabus« auf Themen wie »rosa Turnschuhe für Männer« stieß. Im Jahr 2016 – wohl auch angesichts der entsprechenden modischen Ausstattung der Fußballer während der Europameisterschaft – erhält man mit diesem Begriff ausschließlich Links zum Kauf von aktueller Männermode. Siehe auch »These 8« zu den Tabus bei: Hartmut Kraft, in: BENTHIEN, S. 261-273, hier S. 265. Zu den »Erdbeerwochen« vgl. wie folgt: www.erdbeerwoche.com/[zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2016]. 145 Siehe hierzu die Umfrageergebnisse in: SEIBEL, S. 278ff. Hans Wagner führt »Hitlisten« der Tabus an, die demselben Manko unterliegen: WAGNER, Hans, Medien-Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierbare Wirklichkeit, München 1991, S. 28ff.

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hierfür dürfte auch der Bedeutungsverlust der kirchlichen Instanzen und deren Personal sein: »Als Reaktion leugneten die ›Freigeister‹, was die Kirche allgemein für göttlich hielt. Durch ihre Verneinung verlor die Kirche schließlich zum Teil die religiöse Macht, die Gegenwart des Heiligen zu beschwören: sie verlor sie hauptsächlich insofern, als der Teufel, das Unreine, keine tiefe Unruhe mehr erzeugte.«146 Mit Beginn einer aufgeklärten Säkularisation, besitzt der Teufel nicht mehr die alleinige Autorität über die menschliche Verderbtheit, nur noch weniges wird als heilig erachtet und das Drohmittel der Sündhaftigkeit geht fehl. Damit scheint auch das Tabu überwunden. In Wirklichkeit jedoch hantiert man lediglich mit veränderten Begrifflichkeiten: Skandale kommen und gehen; das Tabu bleibt davon unberührt. Dass wir heute weder dazu genötigt werden können, der Buße Halber zwanzig Vater-Unser und Ave-Maria zu beten und auch nicht mehr Gleiches mit Gleichem vergolten wird oder entsprechende todbringende Strafmaßnahmen den Tabubruch begleiten, bedeutet nicht automatisch, dass es keine Tabus mehr gibt. Die Wertigkeit von Gesetzesübertretungen sowie deren Ahndung und Anwendungsbereiche unterliegen aber einem Wandel.147 Die Verschiebung findet dabei auch zwischen dem Bereich der Öffentlichkeit und demjenigen der Privatsphäre statt. Das Skandalon, das wir aus voyeuristischen Gründen gerne in die Öffentlichkeit gezerrt sehen, wäre, sofern es unser Privatleben beträfe, eine unaussprechliche Peinlichkeit. Die Nicht-Thematisierung dieses Sachverhaltes liegt dabei in der Natur der Sache. Aber empfände man ein Thematisieren lediglich als Peinlichkeit, handelte es sich nicht um ein Tabu.148 Was hier fehlt, ist der Anreiz, das Tabu dennoch zu begehen. Das heißt, dass heute und zukünftig der Ambivalenzcharakter des Tabus ausschlaggebend und nur hierdurch die Möglichkeit zur Transgression gegeben ist. Denn: Erst wenn wir nichts mehr als Grenzüberschreitung empfänden, wäre diese Grenze uninteressant und unwirksam geworden. Auch heute noch empfinden wir Sex, Gewalt und den Tod als diejenigen liminalen Grenzbereiche unseres Werdens und Vergehens, die es zu begreifen, zu be- und überwältigen und damit zuweilen zu überschreiten gilt. »Die Verletzung eines Tabus durchbricht also das Selbstverständliche. […] Der Tabubruch erscheint so gefährlich, weil er den gesellschaftlichen Konsens auflöst und Kräfte freilässt, die sich gegen das Gewohnte richten, ohne dass an deren Stelle eine neue Ordnung sichtbar würde. […] Ein Tabu ist für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr von Belang, wenn diese ungefährdet ist. Solange wir nicht im Paradies leben, werden wir auf Grenzen nicht verzichten können. Die Verletzung eines Tabus, die Überschreitung einer verbotenen Grenze wird persönlich als schuldhaft, als Sünde empfunden. Umgekehrt bedeutet das Fehlen von Schuldgefühlen und der Empfindung der eigenen Sündhaftigkeit einen paradiesischen Zustand.«149 Diesen haben wir freilich noch nicht erreicht. Im Folgenden wird zu klären sein, warum dem so ist. 146 BATAILLE, Die Erotik, S. 124. 147 FOUCAULT, Überwachen und Strafe, S. 26. 148 Vgl. auch: SEIBEL, S. 275, sowie FRIETSCH, S. 10. Und Thomas Zaunschirm hierzu: »Gerade dadurch, dass man über Tabus spricht, verlieren sie an Kraft.«, in: ZAUNSCHIRM, Thomas, Kunst als Sündenfall. Die Tabuverletzungen des Jeff Koons, Freiburg i.Br., S. 67. 149 ZAUNSCHIRM, S. 67.

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Das Drama des grotesken Körpers, oder: Das groteske Drama um den Körper Körpertabus gehören seit jeher zum Kanon der universell gehandelten Tabus. Die physischen Unzulänglichkeiten des Körpers aushalten zu können, beherrschen zu (er)lernen, mit ihnen umzugehen und gegebenenfalls Verbesserungen daran vorzunehmen, ist so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst. Man möchte meinen, dass davon beiderlei Geschlechter gleichermaßen betroffen sind. Gehen wir von einem grotesken oder durch Krankheit geschwächten, am Ende gar moribunden Körper aus, dann ist dem mit Sicherheit so. Sprechen wir dahingegen von dem physischen Ideal und dem diesem entgegengesetzten Alterungsprozess des Körpers, ist es bislang meist die Frau, die weitaus heftigere Versuchungen zur und Ängste um eine Transgression von Körpertabus zu bewältigen hat.150 Bleiben wir zunächst bei dem ganz allgemeinen »Drama, das den Körper zum Szenario hat«151 . Die Inhalte und Funktionen dieses Schauplatzes unterliegen keinem Wandel und kennzeichnen in absolut zeitloser Manier den menschlichen Körper, dessen groteske Handlungen von einem zyklischen »Hinausstülpen – Eindringen – Ausstoßen – Zerstückeln – Entleeren – Verschlingen«152 zeugen. Das, was Michail Bachtin als die »Akte des Körperdramas«153 bezeichnet, sind soweit keine ungewöhnlichen Tätigkeiten, denn der Mensch muss Essen und Trinken, jenes verdauen und wieder ausscheiden; dies in allerlei Formen wie Schweiß, Schleim, Speichel, Urin, Kot, Erbrochenem, Ejakulat, Menstruationsblut. Von diesen abjekten Substanzen zehren nicht nur die eigenen lebenserhaltenden Funktionen, sondern auch die lebensspendende Bestimmung des Menschen erhält sich dadurch im Beischlaf, in der Schwangerschaft, in der Entbindung, im gesamten Wachstum, sogar im Alter und in der Krankheit bis hin zum Tod und der Verwesung, in der Zerstückelung und dem Verschlungenwerden des Körpers.154 Der solcherart frank und frei beschriebene Körper, von dessen grotesker Funktionstüchtigkeit man sich am liebsten voller Ekel abwenden möchte, bedeutet demnach aber auch das Folgende: Es geht nichts verloren; der abjekte Kreislauf umfasst erfüllendes Werden und einen erfüllten Tod gleichermaßen: »In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten. […] Der groteske Körper besteht aus Einbrüchen und Erhebungen, die schon den Keim eines anderen Körpers darstellen, er ist eine Durchgangsstation für das sich ewig erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß von Tod und Befruchtung.«155 Damit gelingt Bachtin in der Manier Rabelais’ eine Aufwertung des mitunter verschlackten, abjekten und dem Materialhaften verpflichteten Körpers. Renate Lachman begründet diese positive wie positivistische 150 Erwiesenermaßen ist ein diesbezüglicher Druck auch bei Männern im Ansteigen begriffen. Frauen unterliegen diesem Druck im Vergleich dazu jedoch seit Jahrhunderten und weitaus häufiger, weswegen man hier von einer Normierung sprechen muss. 1995 hat Kathy Davis für die USA entsprechende Daten erhoben und musste feststellen, dass beinahe 90 % der Schönheitsoperationen an Frauen vorgenommen werden. Vgl.: DAVIS, Kathy, Reshaping the Body. The Dilemma of Cosmetic Surgery, London und New York 1995, S. 21. 151 Renate Lachmann, »Vorwort«, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 39. 152 Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 39. 153 BACHTIN, S. 359. 154 Vgl.: BACHTIN, S. 359. 155 BACHTIN, S. 359 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin].

Tabu und Tabubruch

Herangehensweise an das Körperliche bei Bachtin und Rabelais wie folgt: »Soteriologische Lehren und asketische Praktiken der Körperablehnung sind für Bachtin, da sie die Einstellungen auf das ›Ende‹ des Materiell-Manifesten und Wirklichen sind, nicht utopiefähig.«156 Denn auch wenn etwa die christliche Lehre ein seelisches Fortleben nach dem physischen Ableben bei rechter Lebensführung verspricht, so betont sie doch die Endlichkeit des irdischen Daseins. Bachtin dahingegen betont das in die Endlosigkeit reichende Irdische, welches sich in einem allumfassenden Gedanken auf eine geradezu kosmische Ewigkeit hin ausrichtet: das, was einst geboren wurde und daraufhin vergehen musste, wird wieder dem Kreislauf von Leben und Tod zugeführt, indem es erneut zur Nahrung dient, verschlungen wird und Leben gebiert. Dabei bleibt der Körper – auch der menschliche – allzeit als Material sicht- und greifbar. Um an diesen Punkt zu gelangen, wird eine Grenzüberschreitung notwendig, wie sie vom Menschen des Mittelalters und der Neuzeit – also wie in Rabelais und Bachtin beschrieben – im Karneval und im Ausleben des Grotesken begangen wurde. »Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Kanons ist der groteske Körper von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen. Er betont diejenigen Körperteile, die entweder für die äußere Welt geöffnet sind, d.h. durch die die Welt in den Körper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, als die Öffnungen, die Wölbungen, die Verzweigungen und Auswüchse: der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Brüste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase. Das Wesen des Körpers als das Prinzip des Wachstums und über‐sich-hinaus-Wachsenden enthüllt sich nur in Momenten wie dem Koitus, der Schwangerschaft, der Geburt, dem Todeskampf, dem Essen, Trinken und Sich-Entleeren. Er ist das ewige Unfertige, ewig Entstehende und Erschaffende, ein Glied in der genetischen Entwicklung, genauer gesagt zweier Glieder an einem Punkt, an dem sie sich vereinen, ineinander übergehen. Dies wird besonders deutlich in der grotesken Archaik.«157 Jedoch: diese Groteske im Karneval nachzuahmen, dieses Schauspiel darzustellen, bleibt dem Menschen nach der von Bachtin beschriebenen Zeit verwehrt.158 Was war seitdem geschehen? Es hatten sich der Blick auf und die Einstellung zur grotesken Trope des lediglich transformativen Vorgangs von Geburt und Ableben verändert. Der von der Neuzeit und später der Aufklärung geprägte Mensch hat es verlernt, in Zyklen zu denken. Er ist seither dem Hier und Jetzt verhaftet, trennt zwischen dem einst Gewesenen und dem noch Kommenden. Dabei steht er selbst im Mittelpunkt des Daseins. Blickt er zurück, erkennt er die Zeit vor ihm als eine historische; blickt er nach vorne, möchte er 156 Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 16. 157 BACHTIN, S. 76 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. 158 Bachtin kennzeichnet für diesen Niedergang der archaischen Groteske den Zeitpunkt der Romantik: »Daher verlieren die Motive des materiell‐leiblichen Lebens – Essen, Trinken, Sich-Entleeren, Koitus und Geburt – in der romantischen Groteske ihren erneuernden Sinn fast völlig, hier gehören sie zum ›gemeinen Alltagsleben‹. Die Motive der romantischen Groteske sind Ausdruck der Angst vor der Welt und zielen darauf, auch dem Leser diese Angst zu suggerieren (ihn zu ›erschrecken‹). Die grotesken Motive der Volkskultur kennen keine Angst und lassen alle an dieser Angstlosigkeit teilhaben.«, in: BACHTIN, S. 90.

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weit in die Zukunft reichen, am liebsten für immer im Irdischen verweilen. Die »Parallelität (im Grunde Gleichzeitigkeit) zweier Entwicklungsphasen«, wie es Bachtin zum Ausdruck bringt, wird vom heutigen Menschen nicht mehr als solche wahrgenommen, da er, sofern er in der Gegenwart lebt, nicht gleichzeitig geboren werden und sterben, nicht gleichzeitig den Frühling und den Herbst des Lebens durchschreiten kann. Der »biokosmische Kreis [der] zyklische[n] Phasenwechsel [der] Natur« wurde somit zugunsten des »neugewonnene[n] Gefühl[s] für das Historische«159 verlassen. Dies bedeutet, dass es dem Menschen heute unmöglich geworden ist, das Drama des grotesken Körpers zu überwinden. Strategien zu einer Transgression der Körpertabus werden weder angestrebt noch bei anderen unterstützt. Ganz im Gegenteil entwickelt der zeitgenössische Mensch Strategien, das Körpertabu aufrechtzuerhalten. Dies geschieht anhand der von Mary Douglas eruierten und weiter oben bereits genannten Anforderungen an die Körperkontrolle, die den sozialen Kontrollen einer Gesellschaft gleichgeschaltet werden.160 Wirkt das eine, bleibt auch das andere aufrechterhalten. Entsprechend dieser These, wundert es wenig, dass in unserem kultivierten Gesellschaftssystem, in dem hoch entwickelte Standards herrschen, auch in den Hygienemaßnahmen eine Aufrüstung zu beobachten ist, da – nach Mary Douglas – gerade dort »strikte Körperkontrolle« vorherrscht, »wo die Kultur der Natur mit Entschiedenheit übergeordnet wird.«161 Zu erklären sei dies mit dem Schmutzverständnis der westlichen Welt: »Für uns ist der Schmutz wesentlich Unordnung. Schmutz als etwas Absolutes gibt es nicht: er existiert nur vom Standpunkt des Betrachters aus. Wenn wir uns davon fernhalten, so geschieht das nicht aus feiger Furcht und noch weniger aus Grauen oder heiligem Schrecken. Ebenso wenig lassen sich alle unsere Maßnahmen zur Beseitigung und Meidung von Schmutz mit unseren Vorstellungen über Krankheitsverursachungen erklären. Schmutz verstößt gegen die Ordnung. Seine Beseitigung ist keine negative Handlung, sondern eine positive Anstrengung, die Umwelt zu organisieren.«162 Wenn Schmutz nun das Abjekte inkludiert, muss der Wille zur Sauberkeit entsprechend auch dem grotesken Körper gewidmet sein, diesem entgegenwirken und ihn unter Verschluss halten, zumindest aber unter Kontrolle bringen. Es ist festzustellen, dass der Stand der westlichen Zivilisation einem »zunehmenden Prozess der Etikettierung«163 verhaftet bleibt, dessen eindeutiges Ziel es ist, seine Systeme und Körpertabus aufrechtzuerhalten. Ein Tabubruch findet nicht statt und die Körpertabus werden zu einem grotesken Drama um den Körper. Dies wird besonders deutlich, wenn der Körper – jenseits seiner eben erörterten grotesken und doch notwendigen Funktionen – nicht mehr dem Ideal der jeweiligen Gesellschaft entspricht. Wenn »die künstlerische Logik des grotesken Motivs die ge159 BACHTIN, S. 75 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin]. 160 Vgl.: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 108. 161 DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 107. 162 DOUGLAS, Reinheit und Gefährdung, S. 12. Einige Seiten später macht sie folgende Hinzufügung: »Kurz, unser Verhalten gegenüber Schmutz ist eine Reaktion, die alle Gegenstände und Vorstellungen verdammt, die die gängigen Klassifikationen durcheinanderbringen oder in Frage stellen könnten.«, in: DOUGLAS, Reinheit und Gefährdung, S. 53. 163 SEIBEL, S. 95.

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schlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-)Fläche des Körpers [ignoriert]«164 , so wird dieser heute zu ihrem vermeintlichen Recht verholfen. Dies gilt vor allem für Frauen, speziell dann, wenn ein sichtbarer Alterungsprozess einzutreten beginnt und »[d]as hedonistische Ideal des jugendlichen, unbeschwerten und erfolgreichen Lebens, der Kult der Schönheit und Jugendlichkeit, von Karriere und Konsum«165 dem äußeren Anschein nach keine Glaubwürdigkeit mehr besitzt. Das richtungsweisende Zeitmaß, zu dem die die Jugend verlängernden und berichtigenden Maßnahmen einsetzen, errechnet sich gemeinhin gemäß der Menstruationsphase einer Frau: »While the onset of menstruation is an erotic passage, and […] culture deems women erotically appealing for the next thirty‐five to forty years of their lives, the process of menopause may initiate a woman into invisibility and extreme subhumanity.«166 Im Falle einer Erkrankung und dem damit zu befürchtenden Niedergang des idealtypischen Körpers, trifft das Schweigen zwar beide Geschlechter. Hiervon wird gleich noch die Rede sein. Jedoch zeigt sich bei weiblichen Patientinnen ein vielfach höheres Bedürfnis, zumindest nach außen hin der Normalität zu genügen. Krankheiten, die das optische Erscheinungsbild beeinträchtigen können, sowie natürlichen Alterungsprozessen ist unbedingt entgegenzuwirken. Krank sein und Altern werden eins: »The cultural dread of old age is worse for women, for sexism and ageism walk hand in hand. […] Old women are ugly, imperfect. For the female sex aging itself is a malady, something that society encourages women to (try to) prevent.«167 Erkrankungen, die speziell den weiblichen Körper heimsuchen, werden nicht nur verschwiegen, sondern es wird gleichzeitig darauf hingewirkt, die sichtbaren Zeichen dieser Bürde wettzumachen, um den Körper erkennbar weiblich beizubehalten. Dies ist etwa der Fall bei Brustkrebserkrankungen und den Folgen einer Mastektomie. Solidarität mit entsprechenden Patientinnen äußert sich auf zweierlei Weise: zahlreiche medizinische Zentren bieten Brustimplantate feil, deren euphemistisches Vokabular der wiederherstellenden Maßnahmen darüber hinwegtäuscht, dass der vorausgehende operative Eingriff überlebenswichtige Notwendigkeit war und dem nun ein weiterer, nicht ungefährlicher Eingriff folgt.168 Darüber hinaus äußern Betroffene ihre Verbundenheit mit den Erkrank164 BACHTIN, S. 359. 165 Leopold Glaser, »Wir verdrängen die eigene Endlichkeit und schaffen gleichzeitig nekrophile, selbstzerstörerische Strukturen«, in: BLUM, S. 9-14, hier S. 12. Vgl. hierzu auch: FRUEH, Joanna, Erotic Faculties, Berkeley, Los Angeles, und London 1996, S. 145-146. 166 FRUEH, S. 150. Und Jane Fonda hierzu: »A man has every season while a woman only has the right to spring. That disgusts me.«, Jane Fonda, zitiert nach: KAPLAN, E. Ann, Looking for the Other. Feminism, Film, and the Imperial Gaze, New York 1997, S. 256. 167 Joanna Frueh, »Hannah Wilke«, in: ST. LOUIS, MISSOURI (Ausst.kat.), Gallery 2010, University of Missouri, St. Louis, Hannah Wilke – A Retrospective, 03. – 28. April 1989, hg.v. Thomas H. Kochheiser, Texte von: Joanna Frueh, Thomas H. Kochheiser und Hannah Wilke, Columbia, Missouri, 1989, S. 11-103, hier S. 86. 168 Beispielhaft sei hier auf die »American Society of Plastic Surgeons« verwiesen. Angeboten werden unter anderem »Gummy bear breast implants«, die auch bei Platzen des Implantats ihre Form nachweislich nicht verändern. Erst im Impressum ist zu lesen: »Breast implants do not impair breast health.«, vgl.: https://www.plasticsurgery.org/cosmetic‐procedures/breast‐augmentation.html? sub=Types+of+breast+implants [zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2016]. Tanya Augsburg recherchierte darüber hinaus auch diejenigen juristischen Fälle, die übereinstimmend in ihren Entscheidungen belegen konnten, dass Silikon-Brustimplantate erhebliche gesundheitliche Schäden mit sich brin-

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ten, indem sie sich der Organisation »Pink Ribbon« zugehörig zeigen, die rosa Schleife als internationales Symbol tragen, um auf die tückische Erkrankung hinzuweisen.169 In beiden Fällen konzentriert sich das Bewusstsein für den Krebs vor allem auf die äußerlich sichtbaren Merkmale der Erkrankung, die wieder wettgemacht werden sollen, um ganz Frau sein zu können. Der Aufruf »Check it before it’s removed«170 der auf der Homepage von Pink Ribbon Deutschland abgebildeten idealtypischen Frauen übt sich damit in der Art von Solidarität, die in unserer Gesellschaft der Körpernorm auf die Sprünge und den Tabubruch zu beheben hilft: einer Frau mit fehlender Brust.171 Eine strategische Vermeidung des Androgynen kann man der Künstlerin ORLAN nicht unterstellen. Sie macht in ihren Performances öffentlich, was auf TV-Sendern und im Internet längst zugänglich geworden ist: den kosmetischen Eingriff der Chirurgie zum Erhalt oder zur Verbesserung weiblicher Schönheit. Dass sie diesen als eine Art öffentliche Parodie172 vorführt, wird weiter unten noch erörtert. Vorweggenommen sei gen. Es konnte – sowohl in den USA als auch in Deutschland – nachgewiesen werden, dass sowohl wissenschaftliche Daten zurückgehalten wurden, um dies zu vertuschen, als auch die Tatsache, dass die nebst dem Silikon enthaltenen Stoffe gesundheitliche Risiken bergen. Vgl.: AUGSBURG, S. 273ff. Augsburg urteilt: »Silicone breast implants were merely presumed by medicine to be safe; consequently, plastic surgeons privileged in their professional journals the technological history of implants with its utopian teleology of surgeons creating aesthetic, perfect, healthy cyborg bodies over the messy, biological reality of the human body.«, in: AUGSBURG, S. 279. 169 Vgl.: https://www.pinkribbon‐deutschland.de/[zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2016] 170 https://www.pinkribbon‐deutschland.de/botschafterinnen/17-mutige‐frauen.html [zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2016] 171 Sara K. MacLellan verurteilt den fehlenden kritischen wie realistischen Blick auf den Brustkrebs, wie er von und anhand der »Pink Ribbon« dargestellt wird. Sie zeigt entsprechend die Kehrseite der Erkrankung – unter anderem mit Bildern der in dieser Schrift zur Debatte stehenden Künstlerin Hannah Wilke – in ihrem Aufsatz: MacLELLAN, Sara K., Not‐so pretty & pink, in: forestière, 26. Oktober 2012, auf: http://blog.forestiere.ca/2012/10/not‐so-pretty‐pink.html [zuletzt aufgerufen am 05. Oktober 2016] David Cronenberg, der in enger Zusammenarbeit mit ORLAN die Serie ihrer fiktiven Filmplakate entwickelte und gestaltete, lässt den Ich-Erzähler aus seinem beeindruckenden Erstlingswerk »Consumed. A Novel«, der um die Motive von Kontrolle, Fetisch und Kannibalismus kreist, über die Folgen der Brustamputation bei seiner Frau berichten: »Afterward we fitted Célestine with a special mastectomy bra. It had a pocket on the left side for a prosthetic breast. It was called Amoena, I think, a very beautiful, classical name. Actually two pockets, as though it were waiting for her to lose the other breast. The breast form called Energy Line, Size 4, seemed to match her remaining breast perfectly, though the missing one had been larger. All a question of balance and symmetry and weight and social appearance. The inside of the prosthetic had a transparent bubble surface, like bubble wrap, to allow breathing, but it still got hot and sweaty, though there was the promise of a NASA-developed material which could maintain normal breast temperature. The outside was flesh‐colored and had a not very enthusiastic nipple at the tip, and its consistency was remarkably malleable and lifelike, though too homogeneous in feel to be a real breast. She wore it twice, I think, and then abandoned it. I used to find it perched on a bottle of liquid paracetamol in our laundry closet next to the washing machine, like a conical Chinese hat. In fact, she stopped wearing bras altogether, and made a fetish of wearing tight sweaters and T-shirts that emphasized her amputation, saying that as a child she had a cat with one ear, and now she was one herself.«, in: CRONENBERG, David, Consumed. A Novel, New York 2014, S. 249. 172 Vgl.: AUGSBURG, S. 336-337: »Orlan’s very public parody of plastic surgery as covert event, as a secret yet highly cultural performance, is an ironic slap in the face for us all, since our culture currently glamorizes plastic surgery as well as those celebrities who undergo it to the extent that for many

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an dieser Stelle die Problematik der operativen Gestaltung eines Frauenbildes, wie es heute vielfach praktiziert wird. Auch hier beweist das zeitgenössische Verhalten Gültigkeit, indem man zwar gerne zum voyeuristischen Mittäter wird, sofern es die Anderen betrifft, jedoch das Tabu eines Eingriffs am eigenen Leibe zur absoluten Privatsache erklärt. Eine derartige Intervention bedeutet auch heute noch, an ein Tabu zu rühren. Nicht nur, indem in der plastischen Chirurgie in den meisten Fällen die medizinische Notwendigkeit fehlt, sondern weil hier in den göttlichen Schöpfungsplan und dabei in den einst von Gott nach seinem Wohlgefallen erschaffenen menschlichen Körper eingegriffen wird. Jedoch greifen zum einen die religiös begründeten Loyalitäten heute kaum mehr, was nicht nur im Bereich der Humanmedizin häufig zu Einmischungen in das Kreatürliche führt. Zum anderen kann hier nicht von einem strategischen Vorgang die Rede sein, Gott offensiv zu lästern, sondern der Tabubruch wird begangen, um den Körper eine gefühlte Verbesserungsmaßnahme angedeihen zu lassen, die einem gültigen Schönheitsideal genüge tut. Der strategisch motivierte Tabubruch konnte in diesem Sinne nur in der Zeit vor der Aufklärung begangen werden. Der groteske Körper wurde ausgestellt, nachgebildet und gefeiert, gerade weil man sich des Zyklus von Werden und Vergehen bewusst war. So zeigt die verkehrte Welt früherer Zeiten auch gerne die Motive von gebärfähiger Weiblichkeit und entstellenden Alterungsprozess in einer einzigen Person: derjenigen der schwangeren Alten. Interessanterweise diente in einem Zeitalter, in dem dieser Status in biologischer Hinsicht am wenigsten denkbar war, dieses Sujet als Strategie der Überwindung von Zwängen. Bachtin schildert den grotesken, wenngleich fröhlich anmutenden Charakter dieser Figur wie folgt: »Unter den berühmten Terrakotten aus Kerč, die in der Leningrader Ermitage zu sehen sind, gibt es eigenartige Figuren von schwangeren Alten, an denen die Häßlichkeit des Alters und die Kennzeichen der Schwangerschaft grotesk hervorgehoben sind. Diese schwangeren Alten lachen. In diesen Figuren finden wir eine sehr charakteristische und ausdrucksvolle Groteske. Sie ist ambivalent, zeigt den schwangeren und gebärenden Tod. Der Körper der schwangeren Alten hat nichts Fertiges, Dauerhaft-Ruhiges. Das Groteske vereint den verfallenden, schon deformierten Körper mit dem noch nicht entwickelten, gerade gezeugten, neuen Leben. Hier wird das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit gezeigt, nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns. Genau darin besteht die groteske Körperkonzeption.«173 Ausgerechnet heute aber, da die Phase der Gebärfähigkeit der Frau immer weiter ausgedehnt wird, ist dieses Motiv der lachenden Figur, die bereits dem Tode nahe ein Kind in sich trägt, undenkbar geworden. Joanna Frueh schlussfolgert hieraus folgende Konsequenz für das Alt werden von Frauen: »Womb and tomb: old women, despite the fact that they are beyond their reproductive individuals it has become a necessity not only for self‐esteem but for employment and ›personal happiness‹ – whatever that means. Paradoxically, admitting to having had such surgery is strictly taboo. Consequently, the patient’s post‐surgery disavowal or silence has become an integral part of our acceptance for the cultural performance practice of cosmetic surgery.« 173 BACHTIN, S. 76.

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years, more terrifyingly represent life and death than do young women. The old woman is a more provocative womb/tomb image because our culture neglects and denies her.«174 Die schwangere Alte ist heute ein gesellschaftliches Tabu, welches strategisch beibehalten wird. Zusammen mit dem Alterungsprozess stellen sich gegebenenfalls vermehrt Krankheiten ein, die im schlimmsten Fall zum Tode führen. Davon einmal abgesehen, dass Krankheit zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte als begrüßenswerter Fakt – und dies für beiderlei Geschlecht – hingenommen wurde, so hat sich doch im Verlauf der Jahrhunderte der Umgang damit in erheblichem Maße verändert. Der Erkrankte wird häufig nicht mehr wie ehedem im Kreise seiner Familie umhegt und gepflegt, sondern gemieden. Dies deutet sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert an, etwa im Fall des von Tolstoi geschilderten »Tod des Iwan Iljitsch«, der – obwohl er zu Hause in seinem Sterbebett liegt – ganz deutlich das Unbehagen fühlt, das er sich und damit den anderen bereitet, indem er zu Hause seinem Ableben entgegensiecht: »Auch für die Entleerung wurden besondere Vorrichtungen angeschafft, und jedes Mal war es eine Qual. Eine Qual waren für ihn die Unreinlichkeit, das Unanständige, der üble Geruch und das Bewußtsein, daß eine zweite Person sich daran beteiligen mußte.«175 Iwan Iljitsch sehnt sich schon im 19. Jahrhundert nach anonymem Fachpersonal, dessen entpersonalisierte Dienste er entgegennehmen könnte, ohne sich dafür schämen zu müssen. Im Kreise seiner Familie bedeuten die während der Krankheit immer grotesker werdenden Körperfunktionen ein immer weniger akzeptierbares, da offenbartes Tabu. Während man hier beginnt, das Geschäft mit dem kranken Körper eher einer fremden Person zu überlassen als den eigenen Familienangehörigen, war das Verhältnis ehedem genau umgekehrt. Ebenso wie mit der Darstellung des grotesken Körpers, ging man auch mit der künstlerischen und literarischen Bebilderung von Krankheiten um, was wiederum Rückschlüsse auf den realen Sachverhalt zulässt. Dies mag mit der zunehmenden Erkenntnislage zu allem Körperlichen und den dem Körper innewohnenden Funktionstätigkeiten zusammenhängen, wie dies weiter oben bereits geschildert wurde. Besonders für das ausgehende Mittelalter bemerkte Philippe Ariès ein makabres Interesse an den Alterungsprozessen und Krankheiten, die zum Tode führten. Nebst dem Eindruck des Ekels gegenüber dem menschlichen Verfall, sammelte Ariès deutliche Indizien dafür, dass »angesichts der Abgelebtheit des Alters, der Verunstaltungen der Krankheit, der Schlaflosigkeit, die die Wangen aushöhlt, der ausfallenden Zähne und des stinkenden Atems«176 nicht nur ein Abwehrmechanismus einsetzte, sondern ein übersteigertes Interesse die Thematik begleitete. Den erbarmungslosen Schilderungen des Mittelalters und der Neuzeit folgte ab dem 17. Jahrhundert eine vergleichsweise respektvolle Herangehensweise an die todbringenden Erkrankungen, was bis hin zu 174 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 82. Vgl. hierzu auch: RUSSO, Mary, »Female Grotesque: Carnival and Theory«, in: De Lauretis, Teresa (Hg.), Feminist Studies. Critical Studies, Bloomington und Indianapolis 1986, S. 213-229, hier S. 214 sowie S. 219. 175 TOLSTOI, Leo, Der Tod des Iwan Iljitsch (1886), Köln 2008, S. 72. 176 ARIÈS, Philippe, Geschichte des Todes (1975), München 1993, S. 728.

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romantisierenden Darstellungen in gleichnamiger Epoche führte.177 Makaber‐realistische Elemente begannen sich erst wieder im ausgehenden 19. Jahrhundert Geltung zu verschaffen, wofür eben genannte literarische Figur des Iwan Iljitsch exemplarisches Zeugnis ablegt. Die Angst und die Ehrfurcht vor Krankheit und Tod wichen nun dem Ekel und der Abscheu. Nicht das zukünftige Abwesend-Sein des geliebten Menschen stand mehr im Vordergrund, sondern dessen Übelkeit erregende Präsenz noch zu seinen Lebzeiten. »Er wird unschicklich, wie die biologischen Vorgänge im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es ist unanständig, ihn vor der Öffentlichkeit auszubreiten. Man erträgt es nicht mehr, daß jeder beliebige in ein Zimmer eintreten kann, das nach Urin, Schweiß, Wundbrand oder schmutzigen Bettlaken riecht. Man muß den Zutritt unterbinden, außer für einige Nahestehende, die in der Lage sind, ihren Abscheu zu überwinden, oder für die unabdingbaren Krankenpfleger. Ein neues Bild des Todes ist im Entstehen begriffen: der gemeine und heimliche Tod, heimlich eben deshalb, weil er gemein und schmutzig ist.«178 Die Stoßrichtung des Umgangs mit dem erkrankten Körper verlief weiter in dieselbe Richtung: dessen Gerüche und Sekrete wurden verschwiegen, er wurde von der Öffentlichkeit separiert und schlussendlich den aseptischen Händen der Medizin übergeben. »Indessen ertrugen die Mitbewohner des Hauses, Familie und Domestiken, diese Promiskuität der Krankheit immer schlechter. Je weiter das 20. Jahrhundert vorrückte, desto lästiger wurde die Anwesenheit des Kranken im Hause. Das rasche Wachstum in Sachen Komfort, Intimität und persönlicher Hygiene hat uns alle empfindlicher gemacht: ohne daß wir etwas dafür könnten, ertragen unsere Sinne nicht mehr die Anblicke und Gerüche, die, im Verein mit dem Leiden und der Krankheit, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Bestandteil der Alltagswirklichkeit waren.«179 Diese Haltung dem Erkrankten gegenüber ergab sich wohl auch zwangsläufig anhand der ehedem nicht vorhandenen, aber bis heute weit verzweigten und hoch entwickelten Möglichkeiten, den Erkrankten damit nicht nur abzuschieben, sondern gleichzeitig auch den Fachkundigen zu überlassen. Dennoch kann diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass ganz allgemein das Verhältnis zwischen dem gesunden und dem sich in seinen grotesken Funktionen offenbarenden Körper an Nähe einbüßte und bis hin zum Verlust einer emotionalen Innigkeit führte, die ehedem gang und gäbe war. Die Verdrängung von Krankheit und des grotesken Körpers gestalten alle Beteiligten heute gleichermaßen: da ist einmal die Medizin, die das Versagen des menschlichen Körpers nicht mehr als Teil des Lebens annimmt, sondern Krankheit geradezu als Affront gegen die kompromisslose wissenschaftliche wie soziale Körperkontrolle ansieht; dann ist da der Kranke selbst, der an seinem eigenen Körper zu Grunde geht und sich diesem Vorgang aber aus Gründen der Schicklichkeit und Scham nicht ausnahmslos hingeben kann und darf; und zuletzt ist da sein Gegenüber, der ihm all diese Zwänge suggeriert: »Und diese Lüge quälte [Iwan Iljitsch], es quälte ihn, daß keiner aus seiner 177 Ariès nimmt hier gleichermaßen Bezug auf Krankheit und Tod, in: ARIÈS, S. 728: Im »18. und beginnenden 19. Jahrhundert [hat] der würdige Patriarch […] den verhutzelten Greis des ausgehenden Mittelalters verdrängt: er steht dem romantischen Motiv des schönen Todes näher.« 178 ARIÈS, S. 728 [kursive Hervorhebung durch Philippe Ariès]. 179 ARIÈS, S. 729-730.

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Umgebung ihm bekennen wollte, was alle und er selbst wußten, daß sie im Gegenteil angesichts seiner entsetzlichen Lage ihn belogen und ihn selbst dazu zwangen, sich an dieser Lüge zu beteiligen.«180 Im Gegensatz zur Rabelais’schen Welt und der kosmisch geprägten allumfassenden Deutung derselben bei Bachtin, scheitert die strategische Überschreitung des Körpertabus heute an der strikten Separierung des intakten, gesunden wie idealen vom grotesken oder kranken Körper. Man ist peinlich darauf bedacht, die installierten Tabus beizubehalten.

Der ungezähmte Tod Einen Tag vor dessen Dahinscheiden lässt Leo Tolstoi seiner Figur Iwan Iljitsch die folgenden, verbitterten Gedanken durch den Kopf gehen: »Die größte Qual für Iwan Iljitsch war die Lüge, jene von allen sanktionierte Lüge, die ihm weismachen wollte, er sei bloß krank und von Sterben sei keine Rede, er solle sich bloß ruhig verhalten und alle ärztlichen Anordnungen befolgen, dann könne er bestimmt alles Beste erwarten. Er aber wußte, daß er, was man auch immer unternehmen würde, nichts zu erwarten hatte außer noch entsetzlicheren Qualen und dem Tod. […] Diese am Vorabend seines Todes angewendete Lüge, diese Lüge, die dazu bestimmt war, jenes fürchterliche, feierliche Ereignis seines Todes auf das Niveau aller ihrer Besuche und nichtigen Gespräche herabzuwürdigen […] war für Iwan Iljitsch entsetzlich qualvoll. Und sonderbar: Wiederholt, wenn er so gefoppt wurde, war er auf ein Haar nahe daran gewesen, ihnen zuzurufen: ›Hört auf zu lügen, Ihr wißt und ich weiß es auch, daß ich sterbe, so hört doch wenigstens auf zu lügen!‹ Und dennoch fand er nie den Mut es zu tun. Er sah, wie der fürchterliche, entsetzliche Vorgang seines Sterbens von seiner ganzen Umgebung auf die Stufe einer zufälligen Unannehmlichkeit, teilweise einer Unanständigkeit gebracht worden war, und zwar durch jenen Anstand, dem er sein ganzes Leben lang gehuldigt hatte. (Das Ganze erinnerte ihn daran, wie man mit einem Menschen verfährt, welcher, nachdem er einen Empfangssalon betreten hat, einen üblen Geruch um sich verbreitet.) Er sah, daß niemand ihn bedauern würde, denn niemand bemühte sich, seine Lage zu verstehen.«181 Die wegen ihrer Stringenz und Klarheit in Gänze wiedergegebene Passage aus Tolstois »Tod des Iwan Iljitsch« stellt unter Beweis, dass, ähnlich wie der Kranke, jedoch ob der finalen Situation in weit schlimmeren Ausmaße, der Sterbende das Tabu des Todes am eigenen Leibe erfährt. Es handelt sich dabei um ein Tabu, welches »während nahezu zweier Jahrtausende allen Entwicklungsschüben widerstanden« habe, es mache in seiner »traditionelle[n] Einstellung zum Tode den Eindruck eines Walles von Trägheit und Kontinuität.«182 Allerdings hat sich die Schwerpunktsetzung dieses Tabus erheblich gewandelt: während ehedem – sagen wir, bis zu dem Einschnitt wie er von Tolstoi beschrieben wurde – die Angst dem Toten selbst galt, man Berührungshemmnisse hatte und dessen wiederkehrenden Geist scheute, auch aus Gründen der Besänftigung der Toten an den Begräbnisritualen teilhatte, um die Toten weinte, für diese betete und 180 TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 77. 181 TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 76-77. 182 ARIÈS, S. 42.

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anschließend den Leichenschmaus zu sich nahm, gelten das Tabu und die Angst heute eher dem Sterbenden. Eine Angst vor einem Tabu und dem Tod, die uns sprachlos werden lässt – schlechterdings die offensichtlichsten Merkmale aller drei Positionen. »Die alte Einstellung, für die der Tod nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar war, steht in schroffem Gegensatz zur unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, daß wir ihn kaum beim Namen zu nennen wagen. Aus diesem Grunde meinen wir, wenn wir diesen vertrauten Tod den gezähmten nennen, damit nicht, daß er früher wild war und inzwischen domestiziert worden ist. Wir wollen im Gegenteil sagen, daß er heute wild geworden ist, während er es vordem nicht war. Der älteste Tod war der gezähmte.«183 Der von Ariès als gezähmt bezeichnete Tod zeugt dabei von einer Vertrautheit mit den den Tod begleitenden Ereignissen und Maßnahmen, die zu treffen waren.184 Dazu zählte die Sterbebegleitung im Kreis der Familie, das Waschen der Toten und die anschließende Totenwache, die Grablegung und Trauer um den Toten samt den Trauerfeierlichkeiten und im Anschluss daran die Ehrung der Toten im Rahmen des fortdauernden kirchlichen Memorierens, der Gebete und der Grabpflege. All dies wird mit einer naiven Ratio und gutgläubigen Fürsorge ausgeführt und deutet von der Vertrautheit mit den Modalitäten des Todes. Vor etwa 200 Jahren setzte eine Phase des schleichenden Überganges zwischen diesem gezähmten und den sich anbahnenden geheimen und gemeinen Tod ein. Vielerlei Gründe zeichnen hierfür verantwortlich, darunter alles, was unter dem Oberbegriff der Säkularisation verzeichnet wird. Die religiös motivierte Überzeugung von einem Jüngsten Gericht am Ende aller Tage und damit die Auferstehung aller guten Seelen in das Himmelreich wurde zunehmend überschattet von der Handfestigkeit und Unwiderruflichkeit des faktischen physischen Todes auf Erden. Hinzu kam ein sich verfestigender Glaube an die irdischen Güter wie Errungenschaften und ein Festhalten-Wollen an den weltlichen Genüssen noch zu Lebzeiten. Man begann, sich von den religiösen Glaubensvorstellungen zu lösen, da sich der Mensch als sterblich erkannt hatte. Aber er hing und hängt zu sehr am Leben! »So hat sich […] der Übergang von einem Tod als Bewußtsein und Verdichtung des Lebens zu einem Tod als Bewußtsein und verzweifelter Liebe zu diesem Leben vollzogen.«185 Auch auf einer medizinischen Ebene hat sich eine Verschiebung der Interessen ergeben. Während man ehedem dazu gezwungen war, den toten Körper für medizinische Kenntnisse zu erforschen, um den Tod an sich verstehen zu lernen, geschieht dies heute vor allem am erkrankten Leib, um den Tod vermeiden zu können. Tod und Krankheit werden heute in ihrer Kausalität als untrennbar miteinander verbunden erachtet, gerade weil am Ende immer das Ziel der Heilung stehen muss. Der Tote an sich ist für die Medizin nutzlos geworden. Am Ende dieser Entwicklung stehen heute für jeden einzelnen die Interessen des Individuums im Vordergrund, die man vor allem durch Wissenschaft und Wirtschaft vertreten sieht, während man sich von einem Leben im 183 ARIÈS, S. 42. 184 Den »gezähmten Tod« bemisst Ariès ziemlich exakt auf den Zeitraum zwischen dem 5. und 18. Jahrhundert. Vgl.: ARIÈS, S. 43. 185 ARIÈS, S. 180 [kursive Hervorhebungen durch Philippe Ariès].

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Einklang mit der Natur und im Glauben an religiöse Schutzvorstellungen immer weiter entfernt. Der heute somit in der Regel angstbesetzte Tod wird jedoch im Falle seines Eintretens bei anderen durchaus mit absoluter Gleichgültigkeit oder aber – ganz im Gegensatz hierzu – mit großem voyeuristischen Interesse bedacht. Dies gilt einerseits für die anonymen Toten aus den Nachrichten, den Dokumentationen, den Chroniken an Bildern im Internet186 wie für die Toten aus den TV-Serien, in denen man sich unter anderem in minutiöser Manier mit deren Sektion in den zahlreichen gerichtsmedizinischen Sendungen beschäftigt. Es gilt andererseits aber auch für die uns namentlich bekannten Toten, die als Ikonen in die Geschichte eingehen. Auch diese werden noch in ihrem Tod ostentativ der Sichtbarkeit preisgegeben. Man denke zum Beispiel an die vier Tage währende Aufbahrung des Leichnams von Johannes Paul II. im vatikanischen Petersdom vor seiner Beisetzung am 8. April 2005.187 Oder an die Hl. Bernadette, die seit ihrer Exhumierung in einem Kristallsarg in der Kapelle Sainte-Hélène des Klosters Saint-Gildard zu Nevers liegt und jährlich 200.000 bis 300.000 Besucher anzieht.188 Den direktesten und deshalb äußerst kontrovers diskutierten Zugang zu den Toten bieten nach wie vor die menschlichen Plastinate, die in den Körperwelten-Ausstellungen des Gunther von Hagens gezeigt werden. Die Besucherzahlen beweisen auch hier, dass ein geradezu makabres Interesse und voyeuristische Gier mit der Sichtbarmachung der Toten einhergeht, welche unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Wissensdurst des Laien weitestgehend im Verborgenen bleiben.189 In all diesen Beispielen scheint der Tod ein leicht konsumierbarer zu sein. Eine Art Gewöhnung an derlei Bilder und die damit einhergehenden diskutierten Fragen hat sich eingestellt. Und es könnte der Eindruck entstehen, als hätte man es heute in der Tat geschafft, den Tod auf rationale Art und Weise zu zähmen, ähnlich, wie ehedem die Vorfahren den Tod aufgrund seiner Selbstverständlichkeit und im Glauben ruhend entgegensahen. Jedoch kann die Flut an medialen Bildern zum Tod der Anderen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir als Individuen diesen wahrhaftig zu fürchten begonnen haben. Die Quantität der »Neuen Sichtbarkeit des Todes«190 ist nicht gleichzu186 Zum Teil betrifft dies recht schockierende Bilder des Todes, aber auch die damit einhergehende Geräuschkulisse. So wurden 2001 Bilder der aus dem attackierten World Trade Center Springenden gezeigt und auch die Geräusche des Aufpralls veröffentlicht. Ein letztes moralisches Gebot scheint es zu geben, nämlich, den Aufprall auch zu zeigen. Dieses Tabu hat man bislang aufrechterhalten. Vgl.: SPRINGER, S. 408. 187 Während der Aufbahrung des Leichnams wurden 21.000 Besucher pro Stunde gezählt, das sind ca. 350 Personen pro Minute, welche die Leichenschau alleine in situ begingen. Die Totenmesse wurde darüber hinaus von 137 Fernsehsendern in 81 Ländern übertragen. Vgl.: Dominic Olariu, in: MACHO, S. 59-78, hier S. 59. 188 Bernadette Soubirous verstarb am 16. April 1879, wurde mehrfach exhumiert und ist seit 1925 in einem gläsernen Sarg zur Verehrung aufgebahrt. Vgl. u.a.: Dominic Olariu, in: MACHO, S. 59-78, hier S. 70. Sie ist einer der Leichname, die als unverweslich gelten. 189 Andreas Pesch spricht von »quasireligiösen Argumentationsmustern«, die Gunther von Hagens der Rechtfertigung dienen; vgl.: Andreas Pesch, »Die Auferstehung des hautnackten Leibes. Legitimationsstrategien der Ausstellung ›Körperwelten‹«, in: MACHO, S. 371-395, hier S. 371ff. 190 So der Titel des durchwegs einsichtsvollen Aufsatzbandes von Thomas Macho: MACHO, Thomas und Kristin Marek (Hgs.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007.

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setzen mit seiner qualitativen Bewältigung! Die Abgeklärtheit, mit der wir diese Bilder tagtäglich konsumieren, hat lediglich dazu geführt, dass der Begriff, den wir uns von der Bedeutsamkeit des Todes der Anderen machen, ein anderer ist als derjenige, der das eigene Leben und das unserer Lieben betrifft. Jene Toten aber werden nicht mit dem eigenen Leben und Sterben in Verbindung gebracht. Dies ändert sich fraglos angesichts derjenigen Bilder, die direkt zu uns sprechen wollen und keinerlei wie auch immer geartete Entschärfung des Themas bieten wie im Falle der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Künstler; diejenigen Bilder des Todes, die einen individuellen Adressat im Auge haben und an diesen rühren; diejenigen Bilder, die unseren eigenen Tod meinen. Dass der Tod heute nicht mehr als ein gezähmter gelebt wird, zeigt auch die ausgefeilte Maschinerie, die eine hochartifizielle Chronologie des Sterbens vorgibt. Denn noch bevor der Tod eintritt, erfolgt das Sterben an sich. Der alte und kranke Körper steht dabei am Beginn einer Kette von bürokratisch gehandhabten Vorgängen, die oftmals in Alten- und Pflegeheimen einsetzen und in Krankenhäusern und Hospizen ihr Ende finden. Philippe Ariès spricht im Zuge dessen von einer »Medikalisierung des Todes«, die sowohl medizinische Eingriffe als auch entsprechende lebenserhaltende Apparaturen und Medikamente umfasst, deren Anwendung den Aufenthalt in einem Krankenhaus zwingend werden lässt und »der ärztlichen Dienstleistung ein lokales Monopol sicher[t]«.191 Im Stadium des Sterbens zielen all diese Maßnahmen nun nicht mehr darauf ab, eine Heilung herbeizuführen, sondern die Agonie des Todes zu lindern. Und so wurde »[u]nmerklich und immer schneller […] der normale Sterbende einem Schwerkranken nach der Operation gleichgestellt.«192 Die Vorboten des Todes als solche werden hierbei ignoriert. Erschwert wird die Situation für den Sterbenden und die Angehörigen, indem der ehemals in Stadien verlaufende Tod nicht mehr als solcher gewürdigt wird, beziehungsweise man die dem Tod vorausgehenden Zeichen nicht wahrhaben will. Alleine der letzte Atemzug wird zum endgültigen Moment des Todes erklärt. Diese erschreckende Punktualität, die dem gezähmten Tod in seinem kontinuierlichen Verlauf fehlt193 , wird heute wieder zugunsten einer verlängernden Lebensspanne aufgebrochen, indem sich der Tod neuer Definitionen unterordnen musste: es gibt da den zerebralen Tod, den klinischen oder biologischen Tod, der durch das Versagen der lebenswichtigen Organe eintritt, und zuletzt den Zelltod. »Die Dauer des Todes hängt somit von einem Zusammenspiel zwischen Familie, Krankenhaus und Justiz oder von einer souveränen Entscheidung des Arztes ab.«194 Und Werner Wandschura urteilt: »Patienten sterben nur selten deshalb, weil sie gerade zu diesem Zeitpunkt sterben müssen, sondern weil, bewusst oder nicht, Mediziner sich entschlossen haben, nichts mehr zu tun.«195 Der faktische Todeszeitpunkt erfährt eine erhöhte Fragwürdigkeit und dies nicht nur, weil er nun auch wissenschaftlich diskutiert wird, sondern weil er nicht mehr mit dem als 191 192 193 194 195

ARIÈS, S. 747. ARIÈS, S. 748. Vgl. hierzu: ARIÈS, S. 749. ARIÈS, S. 750. Werner Wandschura, »Wenn Augen sprechen könnten«, in: BLUM, S. 55-64, hier S. 60. Man muss hinzufügen, dass dieser Entschluss heute im Rahmen einer Patientenverfügung auch die engsten Vertrauten betreffen kann.

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natürlich empfundenen Todeszeitpunkt übereinstimmt. Es hat also nicht nur den Anschein, als reihe sich eine Strategie der Vermeidung an die andere. Diese bringen es dennoch nicht zustande, die einstige Normalität des Sterbeprozesses wiederherzustellen. Aber ganz egal, wie der Todeszeitpunkt definiert wird, so steht für diesen und auch die darauffolgenden Notwendigkeiten meist nicht die taugliche Umgebung zur Verfügung, um Abschied zu nehmen. Diese definiert sich wiederum aus den geeigneten Räumlichkeiten wie den dort zugelassenen Personen, die den Sterbenden und später den Toten auf den Weg zur Beisetzung begleiten. Die ehemals intimen Erfordernisse werden vermehrt in professionelle Hände gegeben: seien es die Sterbebegleitung selbst oder das Waschen und Ankleiden des Toten beim Bestatter, die Behördengänge und der Transport des Leichnams, all diese Übergänge vom Leben hin zum Tod sind uns heute fremd geworden. Man möchte meinen, dies ließe uns zumindest genügend Zeit, die für eine intensive Trauer um den Toten genutzt werden könnte, jedoch haben die in die Hände anderer gelegten Verrichtungen lediglich den Sinn, »schnell und unauffällig abzuwickeln […], was einem strengen Zeitplan und wirtschaftlichen Abwägungen unterliegt.«196 Denn selbst zu trauern haben wir verlernt. Trauerbräuche und die damit einhergehenden Rituale, ja, die Trauer selbst, sind heute dem Verfall preisgegeben. Dies beginnt mit der Scheu, Emotionen und Schmerzen öffentlich zur Schau zu tragen. Aus diesem Grunde wird auch die Totenwache wie die Aufbahrung des Leichnams abgeschafft und von Beileidsbekundungen am Grab ist abzusehen. Ebenfalls der explizit intonierte religiöse Ausdruck von Trauer verliert an Bedeutung und Wirksamkeit.197 Die Soziologie spricht hier von einer »Überdistanzierung«, die dem Niedergang von Ritualen und religiösen Bräuchen geschuldet ist und sich in Folge dessen in einem »Verlust emotionaler Lebendigkeit« zeige.198 Das eigentliche Problem sei, dass ein 196 Antje Kahl, »Das Design bestimmt das Bewusstsein? Die neue Sichtbarkeit im Bestattungswesen«, in: MACHO, S. 151-163, hier S. 159. Der in Deutschland immer seltener werdende Brauch, sich bei den Trauerfeierlichkeiten nochmals am offenen Sarg zu verabschieden, hält in den USA weiter stand. In diesem Fall gilt es als besonders wichtig, den Leichnam so zu präparieren, dass zwischen dem Toten und dem ehemals Lebenden kaum eine Unterscheidung möglich ist. Hierzu »wird der Verstorbene entkleidet und gewaschen, wird ihm der Mund zugenäht, die Augen mit Fixierungskapseln geschlossen und austretende Gerüche und Flüssigkeiten aufgehalten und bereinigt. Dann wird die Leiche wieder angekleidet. Aufgabe der Bestatter ist es, die Konfrontation der Überlebenden mit der als physikalisch beschmutzt wahrgenommenen Leiche auf ein Mindestmaß an Unannehmlichkeiten, die mit den hygienischen, ästhetischen oder olfaktorischen Problemen einhergehen, zu reduzieren. Sie schirmen Lebende und Leichen voneinander ab. Dazu gehört auch, potenziell irritierende Merkmale zu beseitigen, die bei den Trauerfeierlichkeiten auf die Leblosigkeit des Leichnams hinweisen könnten. Die Arbeit der Bestatter […] zielt darauf ab, die Leiche derart zu präparieren, dass die Kontinuität der Bedeutung des einstmals lebenden Körpers und die Verlängerung seiner Identität gewährleistet werden.«, in: Tina Weber, »Codierungen des Todes. Zur filmischen Darstellung von Toten in der amerikanischen Fernsehserie ›Six Feet Under‹«, in: MACHO, S. 541-557, hier S. 546. 197 Vgl. hierzu auch: ARIÈS, S. 738 und S. 740; Leopold Glaser, »Wir verdrängen die eigene Endlichkeit und schaffen gleichzeitig nekrophile, selbstzerstörerische Strukturen«, in: BLUM, S. 9-14, hier S. 11; Eberhard Schockenhoff, »Vom Leben vor und nach dem Tod. Wie reagiert die Theologie auf die Herausforderungen von Naturwissenschaften und Medizin?«, in: BLUM, S. 69-85, hier S. 71. 198 Vgl.: SCHEFF, Thomas J., Explosion der Gefühle. Über die kulturelle und therapeutische Bedeutung kathartischen Erlebens, Weinheim und Basel 1983, S. 114 und S. 120.

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Leugnen dieser traditionellen Gepflogenheiten und im Normalfall selbstverständlichen Gefühle gleichzeitig soziale Konsequenzen zeitige. Thomas J. Scheff zählt hierzu die »zunehmende öffentliche Gleichgültigkeit über den Verlust menschlichen Lebens und ein Vorherrschen von Gewalt in den Massenmedien.«199 Dies führe unweigerlich zu einer Verarmung der Persönlichkeit. Mit der Ausbürgerung des Todes aus unseren tradierten gesellschaftlichen Verhaltensmustern geschieht eine Verdrängung eines ehemals als natürlich erachteten und getragenen Sachverhaltes. »Diese Formen unseres institutionalisierten Umgangs mit dem Sterben sind ihrerseits Symptome einer tiefergehenden sozialen Verdrängung des Todes, die mit den Strukturbedingungen des modernen Lebens einhergeht.«200 Die von Mary Douglas für dieses Symptom genannte Begrifflichkeit der sozialen Kontrolle, die der Körperkontrolle in reziproker Abhängigkeit entspricht, kommt auch hier wieder zum Tragen. Aber auch wenn der eben geschilderte zeitgenössische Umgang mit dem Tod einen psychisch ungesunden Ausgang prognostizieren lässt, bleibt das Tabu Tod unbenommen. Ein strategisches Überschreiten der Grenzen von Sterben und Tod ist nicht nur gefürchtet, sondern als Bruch mit dem Ziel einer vorübergehenden Entbindung von den derzeit gepflegten Modalitäten kategorisch ausgeschlossen, denn: »Was wir heute den guten Tod, den schönen Tod nennen, entspricht genau dem einstmals verabscheuten Tod, der mors repentina et improvisa, dem unmerklichen Tod.«201

Vom Leben suspendiert: Über die Unsterblichkeit der Toten An dieser Stelle könnten wir nun getrost auf das Körpermodell Bachtins zurückgreifen und behaupten, dass das Nachleben des Menschen in seiner materiellen Form und in dem von Bachtin prognostizierten Kreislauf seiner Materialität bereits gesichert sei. Jedoch sinnt der Mensch nicht alleine nach Möglichkeiten eines materiell verbürgten Nachlebens oder einer alleine seelischen Auferstehung im Himmelreich, sondern nach einer Chance, Körper samt Geist am Leben zu erhalten oder sogar unsterblich werden zu lassen. Dass wir den Tod heute nicht mehr als einen gezähmten empfinden, hat auch damit zu tun, dass wir für unser Nachleben noch nicht die rechte, zeitgenössische Lösung gefunden haben. Die Aktionen, die früher dem Wohlbefinden des Sterbenden, der Ehrbezeugung an den Toten und der Trauer um ihn galten und in der Jetzt-Zeit eher verstummen, gehen über in einen Aktionismus, der den Tod an sich ausblendet und gedanklich nach Wegen sucht, wie es gar nicht erst soweit kommen oder danach weitergehen könnte. Der Futurologe Ray Kurzweil, der eben diesen Bestrebungen nachforscht, wurde in einem Interview gefragt, ob er nicht denke, dass ihm als Wissenschaftler mit dem Tod vielleicht eine interessante Erfahrung entginge: »Denken Sie manchmal, Sie könnten etwas verpassen, wenn Sie nicht sterben?« Und Kurzweil antwortete nach sieben Sekunden des Schweigens: »Nun, man kann kaum wissen, wie diese Erfahrung ist. Ich habe einen Freund, der sagt, es wird eine großartige Erfahrung, die er nicht 199 SCHEFF, S. 115. 200 Eberhard Schockenhoff, in: BLUM, S. 69-85, hier S. 73. 201 ARIÈS, S. 751.

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missen möchte. [Lacht] Und dann, was macht er damit?«202 Es scheint also alles dafür zu sprechen, dass uns der Tod – zuzüglich des Faktes, dass er unsere irdische Existenz auslöscht – nicht den geringsten Nutzen bringen kann. Deshalb wollen wir weder altern noch sterben. Jedoch gelten solche Bestrebungen als Tabu, die jenseits einer religiös oder positivistisch‐wissenschaftlich motivierten Anerkennung des Todes, an ein faktisch mögliches Leben nach dem Tod glauben und an dessen Realisierung arbeiten. Einfluss auf die Sterblichkeit des Menschen nehmen zu wollen, bedeutet ergo ipso einen Tabubruch. Arbeiten Wissenschaftler und Mediziner hieran, indem sie die Methoden der Genetik und Biotechnologie zu Hilfe nehmen, so muss dieser Tabubruch außerdem als ein strategischer begriffen werden, denn: diese Grenzüberschreitung rührt an ein universelles Tabu und es ist zum Zeitpunkt nicht abzusehen, ob diese für viele als verkehrte Welt erachtete Option eines verlängerten oder ewig dauernden Lebens eine erstrebenswerte Veränderung für uns alle herbeiführen würde und ob diese auch für jeden, der dies will, möglich wäre. Aber die Versuchung ist und bleibt zu groß. Und die Beweggründe dafür, unsterblich sein zu wollen, so zahlreich wie die Beweggründe, nicht sterben zu wollen. Dennoch verbleibt die heikle Frage, ob, indem wir Hydra einen Kopf abschlagen, daraus nicht mehrere entstehen, die uns am Ende lebenszerstörend zu bedrohen vermögen. So die mythologische Deutung der Geschichte. Aus biologischer Sicht ist die Hydra jedoch kein Fabelwesen, sondern ein Süßwasserpolyp, den man aus der Perspektive der Evolutionsgeschichte als quasi unsterblich einstufen muss. Dies ist für die Regeln der durch Darwin geprägten Evolutionstheorie äußerst untypisch, bedeutet doch jede Stufe der Weiterentwicklung eine Verbesserung der daraus erwachsenden Spezies. Darin entspricht die Evolutionstheorie der von Rabelais und Bachtin mit Überzeugung vorgetragenen Idee des ewig zyklisch stattfindenden Erneuerungsprozesses von Natur, Tier und Mensch, der im jeweils nächsten Stadium einen Fortschritt erfährt. Das Alte stirbt, da es seinen Zweck für die nächste Generation erfüllt hat: »Hat die bestehende Population ihr Erbgut erfolgreich weitergegeben, hat sie, genetisch gesprochen, ihren Dienst getan und kann abtreten.«203 Die Crux mit der Hydra ist, dass sie dies nicht tut. Aber ist sie hierdurch im Besitz eines Vorteils? Zumindest was ihr Überleben anbelangt, ja: sie altert nicht und ist damit unsterblich. Dies jedoch – überspitzt formuliert – auf Kosten zum Beispiel von uns Menschen, denn: »Wenn sich auf der Erde nur eine nichtalternde Spezies entwickelt hätte, gäbe es uns nicht. Dann wäre es bei einer Spezies geblieben.«204 Die Evolution im Sinne Rabelais besitzt also doch mindestens eine sinn202 Ray Kurzweil, »Werden wir ewig leben, Mr. Kurzweil?« Tobias Hülswitt im Gespräch mit dem Erfinder und Futurologen Ray Kurzweil, Boston, 10. Januar 2008, in: HÜLSWITT, Tobias und Roman Brinzanik (Hgs.), Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Menschen und Technologie, Berlin 2010, S. 15-34, hier S. 33. 203 Peter Gruss, »Bio, Nano, Info, Neuro – Ein Panoptikum.« Im Gespräch mit Peter Gruss, Zellbiologe und ehemaliger Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, München, 18. September 2009, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 43. 204 Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 43. Derzeit könnte allerdings die Menschheit zur Hydra des weiterhin gesicherten Bestandes aller Lebewesen auf diesem Planeten werden. Menninghaus geht nach Darwin davon aus, dass wir uns dank der technischen wie kulturellen Errungenschaften gar nicht mehr zu adaptieren brauchen: »Mehr noch: die kulturelle Beschleunigung der Änderungsprozesse schließt es weithin geradezu aus, dass überhaupt noch tausendjährige Perioden mit

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gebende Komponente, diejenige des immerwährenden Fortgangs und der Entwicklung. Es ist also gut zu überlegen, ob man Hydra – um an dieser Stelle wieder den mythologischen Kontext zu bemühen – zu Leibe rücken sollte oder nicht. Man bedenke, dass es Widerstände und Fesseln im Leben gibt, die man am besten im Zaum hält, indem man nicht an sie rührt. Dies kann auch für ein Tabu Wirksamkeit besitzen. Die Verlockung aber bleibt. Auch wenn dafür in die natürliche Auslese eingegriffen werden muss. Dieser Versuch wird bereits unternommen, seitdem es die technischen Möglichkeiten dazu gibt. Während man nun an der fortwährenden Verbesserung der körperlichen Befindlichkeit des Menschen feilte und man vor etwa zweihundert Jahren damit begonnen hatte, auf den physischen wie psychischen Organismus auch genetisch Einfluss zu nehmen, so hat man erst seit circa einem halben Jahrhundert die Möglichkeit, zwischen den mechanisch‐biologischen und den genetisch verändernden Mitteln zu wählen.205 Für erstere Methode kommt der von Nathan S. Kline und Manfred Clynes 1961 erstmals so benannte und theoretisch entwickelte Cyborg ins Spiel.206 Ohne in das Erbgut des Menschen eingreifen zu können oder zu wollen, entwerfen und beschreiben sie den Menschen in einem zukunftsweisenden modus vivendi, der sowohl die Lebensspanne als auch den Lebensraum von Menschen erweitern soll. Hierzu müsse der menschliche Organismus nicht in seinen ererbten Grundlagen verändert werden, sondern biochemische, physiologische und elektronische außerkörperliche und eingepflanzte Apparaturen würden es ermöglichen, außerhalb der Erdatmosphäre zu leben und dorthin zu gelangen.207 Bedacht werden sämtliche hierfür notwendigen Modifikationen und Anpassungsmöglichkeiten der Physis und der Psyche des Menschen sowie alle unwägbaren Momente von Krankheit bis hin zu noch nicht abschätzbaren neurologischen Prozessen, inklusive des Sehapparates. Damit greifen sie in die normalerweise nach der darwinschen Theorie verlaufenden Evolution ein: »Such a step, previously gleichbleibenden Adaptionsproblematiken vorkommen – der Mindestzeitraum, in dem sich genetische Mutationen beim Menschen verbreiten könnten. Wir sind, wie Darwin sagte, dank unserer Kultur die einzige Spezies, die bestens mit einem gleichbleibenden Körper in einer sich ändernden Welt leben und überleben kann. Oder anders: Unsere genetisch fixierten Körpermerkmale und viele unserer evolvierten Verhaltensprogramme sind mit dem Einsetzen der Kultur – und also sehr früh in der gesamten Menschheitsgeschichte – gleichsam eingefroren worden.«, in: Winfried Menninghaus, »Schönheit – Leben – Tod. Zur Evolutionstheorie von Aussehenspräferenzen«, in: HAUSTEIN, Lydia und Petra Stegmann (Hgs.), Schönheit. Vorstellungen von Kunst, Medien und Alltagskultur, Göttingen 2006, S. 151-164, hier S. 153. 205 Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang zwischen der Genetik und der Gentechnik zu unterscheiden: Die Genetik befasst sich seit Gregor Mendel ganz allgemein mit den Gesetzmäßigkeiten der Vererbungslehre; gentechnische Maßnahmen greifen darüber hinausgehend mit biotechnologischen Mitteln verändernd in das Erbgut, d.h. das Genom ein. 206 KLINE, Nathan S. und Manfred Clynes, Drugs, Space, and Cybernetics: Evolution to Cyborgs, New York 1961. 207 Vgl.: KLINE, S. 346. Auf Seite 371 gehen Kline und Clynes in die Details der heute bereits praktizierten und gleichzeitig utopisch‐naiv anmutenden Maßnahmen, die im extraterrestrischen Raum zu treffen sind: »Methods applicable to several control systems are suggested. Particular use is made of the Rose osmotic pump for the continuous injection of drugs at biological rates, simulating secretory activity. The object of these controls is to achieve a biological optimum, considerably different for various extra‐terrestrial conditions from the earth‐normal. Control of levels of cardiovascular operation, body temperature, metabolic systems and psychic energy are discussed.«

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carried out by evolution through selective survival, would now eventuate through the purposeful construction of Cyborgs.«208 Gleichzeitig wird der göttliche Plan bemüht, der es vorsehe, dass der Mensch sich in seinem Erfindungsreichtum seines Verstandes bedienen solle und deshalb eben diese Maßnahmen zu ergreifen seien: »It is proposed that man should use his creative intelligence to adapt himself to the space conditions he seeks rather than take as much of earth environment with him as possible. This is to be achieved through Cyborg, an extension of organic homeostatic controls by means of cybernetic techniques. Both chemical and electronic means are to be used in the control system to be built, which will cooperate with the body’s own automatic controls. The necessary change of these controls for space survival cannot be conveniently supplied for us by evolution; they have to be created by man himself, using his acquired knowledge of cybernetics and physiology. Thus, man’s activity in this regard complements evolution, freeing him from the need of conscious attention to the regulation of his own internal environment.«209 Zu erwarten sei eine »new, larger dimension for man’s spirit as well.«210 Obwohl 1961 notiert und trotz der zeitgenössischen Anpassungsmöglichkeiten an das Weltall, sind Klines und Clynes Visionen heute noch Zukunftsmusik, wenn auch für manch einen nicht weniger erwägenswert. Unsere Überlebensstrategien zu steigern und neue Räume für das menschliche Dasein zu erschließen, sind aber heute noch Ziele einer realistischen Forschung, die unter anderem das Folgende zu bedenken hat: Was und wohin, wenn wir zukünftig alle länger leben oder sogar den Tabubruch begehen und unsere Sterblichkeit überwinden? Eine mögliche Antwort hierauf geben Institutionen, die ein strategisch geplantes Überschreiten-Müssen unserer endlichen Grenzen zukünftig aus der Welt geschafft sehen. Das Cryonics Institute, begründet von Robert C.W. Ettinger, und die Alcor Life Extension Foundation, ein von Max More geführter Ableger von Cryonics, vertreten die Überzeugung, dass es sich mit unserer Unsterblichkeit nur noch um eine Frage der Zeit handle, die es zu überbrücken gelte. Dem selbstbestimmten Individuum soll es dabei überlassen sein, diese Zeitspanne zu überdauern, indem man sich auf einen unbestimmten Zeitraum und nach vorausgehender Präparation in Tanks einfrieren lasse, bis sich der Fakt einer unbegrenzten Lebensdauer bewahrheitet habe. Bis zum Zeitpunkt einer Wiederbelebung gelte der Verstorbene nicht als tot, sondern als »suspendiert«, beziehungsweise »cryopreserved«.211 Eine Wiedererweckung des »Patienten« erfolge erst, wenn die medizinischen Mittel soweit gereift seien, dass der Suspendierte aus dem Tiefschlaf aufgeweckt, von seinem bisherigen Leiden geheilt werden könne und zukünftig überhaupt nicht mehr zu sterben brauche.212 Um die bestmöglichen Voraussetzungen für 208 KLINE, S. 361. 209 KLINE, S. 370. 210 KLINE, S. 371. 211 Laut Statistik erfreut sich das Cryonics Institute derzeit eines laufenden Zuwachses. Insgesamt verzeichnet man 1273 Mitgliedschaften, die alle notwendigen Vereinbarungen für ein Einfrieren nach ihrem Ableben getroffen haben; alleine 2016 kamen 37 neue Mitglieder aus Deutschland hinzu. Es sind im Moment 137 Patienten und 120 Haustiere in Tanks »suspendiert« oder »deanimated«. Vgl.: www.cryonics.org/ci‐landing/member‐statistics/[Stand: April 2016; zuletzt aufgerufen am 20. Juli 2016]. 212 Diese erstmals von Robert Ettinger (suspendiert am 28. Juli 2011) verlautbarte Idee, führte 1966 zur Firmengründung der Cryonics Society of Michigan, das spätere Cryonics Institute in Michigan. Mit der

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ein zweites Leben nach der Suspendierung zu gewährleisten, wird der Sterbende schon zu Lebzeiten in seinem Zuhause von einem Kryonik-Team begleitet, das Vorkehrungen für ein schnelles Einfrieren nach dem von einem unabhängigen Arzt festgestellten Ableben des Patienten trifft. Da die ersten Schäden an den menschlichen Organen und dem Gewebe bereits kurz nach dem Hinscheiden eintreten, will man rechtzeitig dafür Sorge tragen, den Körper unmittelbar nach Eintritt des Todes sorgsam zu präparieren: das Blut wird durch organschonende Substanzen ersetzt und der Verstorbene im Verlauf von zwei Wochen in flüssigem Stickstoff auf eine Temperatur von -196 °C heruntergekühlt, um anschließend an den jeweiligen Standorten der Kryonik in einem Tank aufbewahrt zu werden.213 Ein unerwarteter Tod könnte diese notwendigen Vorkehrungen vereiteln: »Der plötzliche Tod, der keine kryonischen Vorbereitungen zulässt, wird wie in lange vergangenen Jahrhunderten gefürchtet.«214 Das heißt, dass man in der Kryonik dem gezähmten Tod mit eher gelassenem Auge entgegenblickt und in gewissem Sinne die Vorboten des Todes wieder in den Vordergrund rücken. Der unmerkliche, schöne Tod, wie er eben noch von Ariès für uns Zeitgenossen als schicklich und verträglich beschrieben wurde215 , wäre für den zukünftigen Kryonik-Patienten furchterregend. Vorstellungen zu einer an die Suspendierung anschließenden Unsterblichkeit müssen bislang in der Fiktion verbleiben. Zu bedenken sind die kulturelle Orientierungslosigkeit216 in einer neuen Umgebung und Generation, der ökonomische Aspekt wie demokratische Handhabe der zur Verfügung gestellten Mittel und nicht zuletzt die Frage nach dem Wohnraum und den Ressourcen für die reanimierten Personen samt derer, die zu diesem Zeitpunkt auch ohne vorhergehende Suspendierung wohl ein ewiges Leben vor sich hätten. Was für den bisher praktizierten Stand der Dinge – nämlich, dass derzeit 137 suspendierte Leben ihrer Wiedererweckung harren – viel wichtiger ist, sind realistisch betrachtet die Angehörigen. Deren Status ist aus ethischer Sicht weder als Hinterbliebene,

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namengebenden Bezeichnung »cryonics« bezieht man sich auf das griechische Wort für »Eis«. Zusätzlich und als Ableger der erstgenannten Institution, entstand die von Saul Kent, Fred und Linda Chamberlain 1972 gegründete Alcor Life Extension Foundation in Scottsdale, Arizona, heute geleitet von Max More. Vgl.: www.cryonics.org/und www.cryonics.org/ci‐landing/patient‐details/[zuletzt aufgerufen am 20. Juli 2016]. Aufbewahrt werden entweder der ganze Körper (whole body preservation, $ 150.000) oder lediglich der Kopf als neuralgisches Zentrum von Wissen und Emotion (neuropreservation, nur bei Alcor, Arizona, möglich, $ 80.000). Vgl.: Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 218-219. Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 218. Die Vorkehrungen beruhen auf Erfahrungswerten, die seit dem ersten Einfrieren im Jahr 1967 zusammengetragen worden waren. Man hatte den ersten Patienten einbalsamiert und dabei alle Organe entfernt, weswegen sich die Angehörigen nach geraumer Zeit doch für eine Erdbestattung entschieden. Für die Kryonik gilt James H. Bedfords Einfrieren am 12. Januar 1967 als erste tatsächliche Suspension. Der Psychologieprofessor hat seither eine lange Odyssee mit verschiedenen Aufenthaltsorten hinter sich gebracht, unter anderem wurde er dabei von den Angehörigen wegen der hohen Wartungskosten zwischenzeitlich privat gekühlt. Da das Behältnis, in dem man Bedford mehrfach transportiert hatte, einer Erneuerung bedurfte, wurde dieser 1991 an Ettingers Institut ausgetauscht. Dabei stellte man fest, dass »größere Mengen gefrorenen Blutes und zahlreiche Gefrierfrakturen an dem Leichnam« entstanden waren. Alle Fakte stammen aus: Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 222 und S. 224-225. Vgl.: ARIÈS, S. 751. Vgl. auch: Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 213.

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noch als Trauernde geklärt und gewährleistet.217 Wer sich in einem Kryonik-Tank befindet, ist ein Untoter in einer Utopie, einem Nicht-Ort.218 Für die Gesellschaft nicht mehr sichtbar, ist er höchstens für diejenigen Personen von symbolhafter Präsenz, die sein Einfrieren veranlasst haben. Der traditionelle Abschied zwischen dem vorübergehend Toten und der Familie und Freunden kann nicht passieren, da jenseits der Überzeugung einer erfolgreichen Reanimation nicht geklärt ist, ob und wann ein Wiedersehen der Beteiligten stattfinden wird. Wie weiter oben diskutiert, geschieht auch hier eine uns zu eigen gewordene Verdrängung der mit dem Tod einhergehenden Modalitäten von Bestattung und weiteren, auch religiös motivierten Trauerritualen, die immerhin ein ideelles Fortleben nach dem Tode versprechen. »In einem allgemeinen Verständnis kann die Kryonik als eine sehr ausgeprägte Form der Todesverdrängung angesehen werden, die oftmals als Ausdruck der Tabuisierung des Todes bewertet wird.«219 Im Gegensatz zur oben festgestellten, überhandnehmenden Sichtbarkeit des Todes, verschwindet der als un‐tot gehandhabte Körper in einem Behältnis, um in einem passiven Zustand seine Wiedererweckung zu erwarten. Für die Hinterbliebenen kann jedoch eine mit Silobehältern gefüllte Lagerhalle keinen Ersatz für eine Stätte des Erinnerns bieten, wie dies etwa an einem Grab gegeben ist. Ob des Fehlens all dieser uns gewohnten, wenn auch heute auf ein Mindestmaß reduzierten emotionalen und rituellen Bedürfnisse, fällt es am Ende schwer, an eine tatsächliche Auferstehung zu glauben. Dies, zumal nicht nur ganze Körper präserviert werden, sondern auch Köpfe zu ihrer Aufbewahrung vom Rumpf getrennt wurden.220 Sowohl eine Auferstehung in einem irdischen Kontext als auch ein Auffahren in den Himmel setzen jedoch die Unversehrtheit eines intakten Körpers voraus. Grundsätzlich aber wohnt dem kryonischen Gedanken ein quasi‐religiöser Aspekt inne: dem Heimgegangenen, der das Irdische hinter sich lässt, um in den Himmel aufzufahren, nachdem er das Purgatorium überstanden hat, oder – je nach Glaubenskontext – seine Reinkarnation erwartet, wird einst ein vollkommener Körper zuteil. Kritik an dieser recht einfältigen und undifferenzierten Glaubensvorstellung übt Oliver Krüger: »Der entscheidende Unterschied zwischen der Kryonik und dem christlichen Glauben ist das Fehlen einer moralischen Dimension in der Kryonik: Die erhoffte Reanimation ist weder von der Dauer eines Fegefeuers, um für die Sünden des Lebens zu bezahlen, noch von einem göttlichen Gnadenakt abhängig. Die Kryonik rezipiert nur die positiven und unverbindlichen Aspekte des christlichen Musters der Auferstehung 217 Aus biologischer und juristischer Sicht sind »suspendierte Körper« tot, gelten als »konservierte Leichen«. Vgl.: Birgit Richard, »Inkarnation der Untoten? Virtueller Tod und Leichen in den digitalen Medien«, in: MACHO, S. 579-595, hier S. 586. 218 Vgl. hierzu: Birgit Richard, in: MACHO, S. 579-595, hier S. 594, und Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 226. Zu verweisen ist hier auf den Wortursprung von Utopie, der so viel bedeutet wie »Land, das nirgendwo existiert«. 219 Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 222. 220 Weitere Institute sammeln von den unter Vertrag stehenden zukünftigen Toten lediglich Computerdaten: gespeichert werden tagebuchähnliche Aufzeichnungen, Gedankenströme, Notizen und Fakten über die Person und deren Familie und Freundeskreis, um im Falle der Reanimation dieser virtuellen Person in Form eines größtmöglichen Datenstroms wieder einen Körper zur Verfügung zu stellen. Die Künstlergruppe Etoy macht sich diese Variation des Glaubens an die Unsterblichkeit in ihren ausgezeichneten Projekten zunutze: www.etoy.com/[zuletzt aufgerufen am 21. Juli 2016].

Tabu und Tabubruch

– ohne ein Wort über die Verpflichtungen des Einzelnen zu verlieren, so sie denn nicht finanzieller Natur sind.«221 Die für die Unsterblichkeit konzipierten Körper- und Gedächtniscontainer tradieren in einem historisch überlieferten und somit gefestigten Zusammenhang das Bild des unvollkommenen Menschen, den es zu verbessern und in idealtypischer Form wiederherzustellen gilt. Diese Vorstellung operiert »mit einem vormodernen Leib-SeeleBild«, das den Körper als mangelhaft und sündhaft erachtet: unser Leib ist abjekt und Strafen ereilen diesen in Form von Krankheit und Tod.222 Weil wir somit Schuld auf uns geladen haben, deutet diese Thematik ein Tabu an, an das weder der Einzelne noch die Gemeinschaft zu rühren gedenkt. Die Verheißung der Kryonik bedeutet einen strategischen Bruch dieses Tabus. Unsterblich sein zu wollen, bringt schon grundsätzlich eine eindeutige Missachtung der Natur, der Schöpfungsgeschichte und des Menschen selbst zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass die Argumentation der Kryonik nur stringent verläuft, wenn die derzeitigen und noch kommenden Errungenschaften der Gen- und Biotechnologie erfolgreich zum Einsatz gebracht werden können. Auch dies eine Grenzüberschreitung von derzeit noch gesetzlich und ethisch verankerten Tabus. Doch wir haben bereits begonnen, uns sachte auf diesen Tabubruch einzulassen und nutzen fraglos die Erkenntnisse der Alterungsforschung.223 Die Wissenschaft ist deshalb zuversichtlich, dass sich die moralischen Vorstellungen und damit die Gesetzeslage unserer Gesellschaft weiter verändern werden. Der Biogerontologe David Gems formuliert seine Forderung nach Fortschritt, über den die Menschen zu entscheiden haben, wie folgt: »Ein weiterer steiler Anstieg, eine weitere Verdoppelung der Lebensspanne würde die Leute aber meiner Meinung nach beruhigen. Sie könnten denken, dass man den Menschen auf eine Art und Weise übermenschlich machen will. Enhancement-Technologien können Menschen verändern und so in Konflikt mit der bestehenden Gesellschaft bringen. Es ist also wichtig, dass sich auch die Gesellschaft verändert. Die Probleme, die sich aus Enhancement ergeben, sind also Probleme der Gesellschaft, sich an sie anzupassen, denn diese Technologien verstoßen gegen geltende Normen und Gepflogenheiten. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass die Menschen selbst entscheiden, ob sie Alternsforschung für richtig halten.«224 Wir sind an einem Punkt der wissenschaftlichen Möglichkeiten angelangt, an dem sich Grenzüberschreitungen entsprechend nachhaltig verändernd auf eine Gesellschaft auswirken werden. Ob dieser Bruch eines zum Zeitpunkt universell geltenden Tabus erstrebenswert ist, wird die Zukunft 221 Oliver Krüger, in: MACHO, S. 211-228, hier S. 226. 222 Birgit Richard, in: MACHO, S. 579-595, hier S. 590. Dieses Leib-Seele-Bild hat auch in den Zeiten von HIV wieder Konjunktur; vgl. hierzu: SONTAG, Susan, Illness as Metaphor (1977/78) and AIDS and Its Metaphors, London 1991. 223 Alleine die Unkenntnis über die Zusammensetzung und Abstraktion der Darreichungsform heutiger bereits weit verbreiteter Zusatzstoffe in Lebensmitteln und Medikamenten, lässt uns dieses Tabu getrost brechen. In Form von Tabletten und Injektionen ist es mittlerweile gang und gäbe, zum Beispiel das Hirn oder die Plazenta eines Lammes und Teile menschlicher Embryonen dem Körper zur Frischzellenkur zuzuführen. Vgl. hierzu: SEIBEL, S. 259. 224 David Gems, »Wenn Mao noch lebte – Vom Segen und Unsinn des Alterns.« Im Gespräch mit dem Biogerontologen David Gems, London, 25. September 2009, in: HÜLSWITT, S. 81-99, hier S. 95-96.

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erweisen. »Die Versprechungen der Kryonik und der Alcor Life Extension Foundation mögen lächerlich erscheinen, es ist aber unmöglich, sie hundertprozentig von der Hand zu weisen. Eigentlich handelt es sich um eine Version der Pascal’schen Wette. Mir persönlich scheint die Möglichkeit, dass Saul Kent225 seine Mutter wieder lebendig machen kann, viel wahrscheinlicher, als dass Jesus auf die Erde zurückkehrt.«226 Der Komparativ garantiert aber nicht für das tatsächliche Eintreten des Erwünschten. Jedoch bedeutet alleine der Glaube an eine Realisierung der Wiedergeburt den positiven Moment eines Erwartungswertes, der eine vielfach größere innere Befriedigung für uns bereithält, als wenn wir an gar nichts glaubten. Es beweist noch lange nicht die Unsterblichkeit an sich, aber es beweist, dass wir daran glauben können. Das Gros unserer Gesellschaft liebäugelt schon heute mit der ewigen, zumindest aber verlängerten Fortdauer des Lebens. Die Wissenschaft äußert sich auch hierzu, in diesem Fall nun die Geisteswissenschaften in Form der Philosophie, der Ethik und der Theologie. Da gibt man zum Beispiel zu bedenken, welchen Antrieb wir im Leben noch hätten, ob es noch bedeutsam für uns sein könnte, wäre dieses unendlich.227 Rainer Martin stiftet demgemäß den folgenden Sinnzusammenhang zwischen dem Leben und der begrenzten Zeit, die uns darin zur Verfügung steht: »Der Tod macht die Zeit kostbar. Er instrumentalisiert sie nicht, sondern gibt ihr selbst einen Sinn.«228   Damit sollen die theoretischen Überlegungen zum Tabu beendet werden. Es bleibt für alle weiteren Ausführungen in Erinnerung zu behalten, wie das Tabu und dessen Bruch funktionieren und zu welchem Zweck Überschreitungen unternommen werden, denn auch die im Folgenden zu bewertenden Künstler ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider tun dies in vollem Bewusstsein. Während die Tabus der Vergangenheit zahlreicher sind, so ist man doch eher und grundsätzlicher dazu gewillt, diese in einem 225 Saul Kent (geb.1940) ist der Begründer der Alcor Life Extension Foundation, American Cryonics Society. 226 David Gems, in: HÜLSWITT, S. 81-99, hier S. 98. 227 Lesenswerte Überlegungen zu diesen Fragen finden sich u.a. in den folgenden Beiträgen: Bert Gordijn, »Das gute Leben.« Im Gespräch mit dem Ethiker Bert Godijn, Dublin, 05. Oktober 2009, in: HÜLSWITT, S. 187-211, besonders S. 199, und Rainer Marten, »Der Tod und der Philosoph«, in: BLUM, S. 15-29, besonders S. 24. Beispielhaft sei an dieser Stelle Eberhard Schockenhoff zitiert: »[Man vergisst oft,] dass mit der Verdrängung des Todes auch das Leben seinen Wert verliert. Der Tod ist im Leben nicht nur mit seinen negativen Vorboten zugegen, in der Gestalt der vielen kleinen Tode, die das Dasein als Schmerz, als Krankheit und Alter, in jeder Art von Entzug, Scheitern und Abschied seine Endlichkeit erfahren lassen. Er gibt ihm zugleich sein Gewicht, denn erst dadurch, dass es nicht beliebig wiederholbar ist und dass nicht auf jeden misslungenen Versuch ein neuer folgen kann, gewinnt das Leben seine Richtung und sein Ziel. Wie der Anfang auf das Ende vorausweist, so wirkt dieses umgekehrt auf die vorangehende Lebenszeit zurück. Vom Tod geht eine rückwirkende Kraft auf das Leben aus, die uns dazu anhält, so zu leben, wie wir am Ende gelebt haben wollen. Es ist das Wissen um die eigene Sterblichkeit, diese gewisseste Wahrheit über das eigene Dasein, das der individuellen Lebenszeit ihren ganzen Ernst gibt. Nur wenn ein gewagter Einsatz für immer gewonnen ist und vertane Möglichkeiten uns nicht beliebig wiedergeschenkt werden, haben die Entscheidungen unseres Lebens wirkliche Bedeutung. […] Das Fernhalten des Todes führt nicht dazu, dass der Mensch seine Lebenszeit intensiver erlebt, sondern es verführt ihn zu einem unernsten Spiel mit immer neuen illusionären Möglichkeiten.«, aus: Eberhard Schockenhoff, in: BLUM, S. 69-85, hier S. 76-77. 228 Rainer Marten, in: BLUM, S. 15-29, hier S. 28.

Tabu und Tabubruch

zyklisch wiederkehrenden Rhythmus zu brechen; umgekehrt findet sich in heutiger Zeit eine reduziertere Zahl an Tabus, die verletzt werden könnten, aber die Bereitschaft, die bestehenden zu brechen, ist kaum mehr vorhanden. Dies betrifft vor allem die universell gültigen Tabus, die zu allen Zeiten unveränderlich in ihrer Anzahl sind und sich allesamt auf den menschlichen Körper, dessen Verfall und Vergehen beziehen lassen. Auch hierin wahren die ausgewählten Künstlerbeispiele Einigkeit und rühren ausgerechnet an diejenigen Grenzen, die uns voraussichtlich bis in die Ewigkeit gesetzt sind. Sollten sich diese Grenzen also verschieben, dann möglicherweise durch die Kunst und den damit angeregten Diskurs. So argumentierte bereits Friedhelm Mennekes: »Es ist immer falsch, etwas zum Tabu zu erklären. Man muss im Diskurs bleiben. Ich glaube an den Wert des offenen Denkens, auch wenn nicht gleich ein Ergebnis herauskommen kann.«229 Die folgenden Kapitel eröffnen diesen Diskurs.

229 Friedhelm Mennekes SJ, »Denken, als gäbe es Gott – Kunst, Religion und der technische Fortschritt.« Im Gespräch mit dem Seelsorger und Theologen Friedhelm Mennekes SJ, Frankfurt, 26. Mai 2009, in: HÜLSWITT, S. 243-261, hier S. 248.

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III. Existentielle Grenzerfahrungen: Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

Es gibt zwei Varianten, das Leben zu betrachten, die beide gleichermaßen konsistent und wahrscheinlich sind: Das Leben ist endlich und/oder das Leben ist endlos. Beides ist verifizierbar, je nachdem, welchen Begriff von Leben man zugrunde legt: denjenigen, der eigenen Lebensdauer, oder aber denjenigen der Lebensspanne jeglichen Lebens auf diesem und allen anderen Planeten. Die Kontexte, die hier bemüht werden, sind die beiden Lebensvorstellungen einmal der zeitgenössischen Gesellschaft, die das Endlichkeitsprinzip des Menschen fürchtet, und das andere Mal die der Rabelais’schen Lachkultur, die den ewiglich währenden Zyklus des Werdens und Vergehens aller Lebewesen feiert. Um sich in beides einfühlen zu können, muss die Zeitlichkeit unseres individuellen Daseins in Abhängigkeit zur Zeitlosigkeit des Daseins der ganzen Menschheit betrachtet werden. Dies hat wiederum Friedrich Schiller durch einen einfachen Rückschluss 1795 getan: »Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, gibt es überhaupt keinen Raum für uns; aber ohne den absoluten Raum würden wir nimmermehr einen Ort bestimmen. Ebenso mit der Zeit. Ehe wir den Augenblick haben, gibt es überhaupt keine Zeit für uns; aber ohne die ewige Zeit würden wir nie eine Vorstellung des Augenblicks haben. Wir gelangen also freilich nur durch den Teil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum Unbegrenzten; aber wir gelangen auch nur durch das Ganze zum Teil, nur durch das Unbegrenzte zur Grenze.«1 Der in einer historischen Zeitlinie denkende Mensch wird sich entsprechend an einem bestimmten Punkt dieser Chronologie sehen, die davor ohne ihn stattfand und danach ohne ihn stattfinden wird; der zyklisch denkende Mensch kann für seine Person nicht mehr Zeit auf Erden in Anspruch nehmen, jedoch goutiert er den Fortgang der Zeitlinie, die zu seiner Entstehung führte, sowie die nach ihm weiter fortschreitende, höher entwickelte Epoche, zu der er im Hier und Jetzt beizutragen vermag. Wie alt wir sind – im Geiste wie körperlicher Natur – hängt laut Luce Irigaray auch davon ab, welcher Zeitrechnung wir uns zugehörig fühlen, von der »relationship between how old I am and the time of the universe. One year of my life consists of a spring, a summer, an autumn, and a winter. During these seasons, many things 1 SCHILLER, Friedrich, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Bad Heilbronn 1960, S. 49.

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happen which cannot be reduced to one. Neither days, nor season, nor years are alike. And their progress can’t be confused with a simple addition.« Das sei es aber gerade, wozu unser zeitgenössischer Lebensalltag verkommen ist – zu einer Addition von Zeit: »In this sense, one year = 365 or 366 days, and being a year older amounts to having accumulated repeated hours, days, and years that are all very similar. Repetition without progression is wearisome, exhausting, and damaging. It’s as every birthday marks a stage of this futureless becoming, or else a fairly abstract sum of facts that are practically devoid of sense and continuity. The individual celebrating her or his birthday no longer holds the key to understanding these facts.«2 Die Endlichkeit wie Endlosigkeit des Lebens ist ferner verifizierbar, je nachdem, wie man das Selbst seiner eigenen Persona positioniert: in denjenigen Bereich, der das Selbst betrifft, oder denjenigen, der die Anderen umfasst. Es ist eben ein Unterschied, ob sich die fragliche Lebensdauer auf das eigene Leben bezieht und sich darin die unabänderliche und sichtliche Chronologie der Lebenszeit zuträgt, oder ob wir vergleichsweise unbeteiligt den Fortgang des Lebens an den Anderen beobachten. Der Fotograf Jeffrey Silverthorne, dessen kontrovers diskutierte Bekanntheit unter anderem auf seinen wenig beschönigenden Aufnahmen in den Leichenschauhäusern Mexikos beruht, trifft deshalb eine Unterscheidung zwischen dem Wissen um die eigene Sterblichkeit und der Veranschaulichung dieses unabwendbaren Zeitpunktes anhand einer Abbildung des Gegenübers, was freilich in seinem fotografischen Werk so manches Mal in‐eins fällt: »Ob im Leichenschauhaus, an der texanisch‐mexikanischen Grenze oder in meinem Atelier, der überwiegende Teil meiner Arbeit setzt sich mit dem Körper und Grenzen auseinander […]. Große Kunst führt den Künstler in Extreme und hält ihm einen Spiegel entgegen, der das Zentrum erfasst, das sich im Lauf der Zeit allerdings verändert. Zu leben ist eine wunderbar vertrackte Sache, und ich bin noch nicht bereit für die ewige Alternative. […] Es existiert ein enormer Unterschied zwischen der Veranschaulichung von etwas und dem Wissen von etwas; zwischen Licht in etwas bringen und dessen eigentlichem Sein.«3 Erst anhand unseres eigenen Alterungsprozesses und den uns betreffenden Krankheiten sind wir daher in der Lage, unserer Existenz nachzuspüren. Viel seltener ist dies aber der Fall, wenn wir selbiges an anderen beobachten. Dasselbe gilt, wenn wir – in dem Rahmen, in dem es diese tabuisierten Themenbereiche überhaupt zulassen – über den Körper, die Krankheit und den Tod sprechen, ohne das Possessivpronomen zu nutzen. Auf diese Weise gelingt uns die Abstraktion von Körperprozessen, die eine Distanzierung oder sogar Verdrängung erforderlich machen. Mit dieser Auffassung kokettiert auch Damien Hirst, der seinen riesenhaften, in Formaldehyd konservierten Hai im Museum so platzieren ließ, dass der in den betreffenden Ausstellungsraum flanierende Besucher unerwartet und unmittelbar dem weit aufgerissenen Maul der Bestie gegenüberstand. Damien Hirst nennt sein Kunstwerk aus dem Jahr 1991 The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living. Es sind also im2 IRIGARAY, Luce, Je, Tu, Nous: Toward a Culture of Difference (1990), New York und London 2 2007, S. 106-107. 3 Jeffrey Silverthorne, »Meiner Geliebten das Essen bereiten«, in: MACHO, S. 477-480, hier S. 478.

Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

mer die Anderen, die sterben.4 So entlarvt Tolstoi in seinem einführenden Kapitel, das den »Tod des Iwan Iljitsch« vorwegnimmt, den Tod als etwas, das in erster Linie Erleichterung verursacht, wenn er nicht uns selbst betrifft. Tolstoi schrieb: »Dieser Tod eines guten Bekannten hatte bei allen, die davon Kunde erhalten hatten, außer den bei jedem Einzelnen hervorgerufenen Kombinationen über Versetzungen und Avancements, wie es in solchen Fällen immer geschieht, ein gewisses freudiges Gefühl hervorgerufen, weil jener gestorben war und nicht sie.«5 Unser Leben und das der Anderen geht weiter, sofern jener, folglich ein Anderer stirbt. Auch den Iwan Iljitsch selbst lässt Tolstoi eine De-Konstruktion seines Lebens und Sterbens gemäß dieser Logik vornehmen: »Er war fest davon überzeugt, dass er im Begriff war, zu sterben, trotzdem konnte er sich an diesen Gedanken nicht nur nicht gewöhnen, er konnte ihn sogar nicht begreifen, er war ihm ganz unfassbar. Aus der Schulzeit kannte er den Syllogismus: Kain ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, folglich ist auch Kain sterblich; doch dieses Beispiel schien ihm sein ganzes Leben lang nur in Bezug auf Kain richtig, auf ihn selbst aber nicht anwendbar. Das war Kain, und Kain war im Allgemeinen ein Mensch, und deshalb war das Beispiel richtig; er aber war nicht Kain und auch nicht ein Mensch im Allgemeinen, er war stets ein ganz besonderes, von allen anderen grundverschiedenes Individuum gewesen.«6 An dieser Stelle notiert Iwan Iljitsch im Geiste eine ganze Reihe von Personen in seinem Leben, Erinnerungen und konkrete Beispiele, die ihn als ein spezifisches Einzelwesen ausmachen, all das in seinem persönlichen Leben, was ihn von Kain dezidiert unterscheiden müsste. Der Fehlschluss, den Iwan Iljitsch dabei begeht, ist, dass das Individuum im Zyklus von Leben und Tod nicht mitinbegriffen ist. Lediglich der Mensch als Mensch hat darin seine Daseins- oder Nicht-Mehr-SeinsBerechtigung. Indem Kain sterblich war, kündet er deshalb auch vom Tod derjenigen, die ihm nachfolgenden werden und damit auch vom Tod des Iwan Iljitsch und unserem. Diese unüberwindliche Logik wird uns jedoch zu Lebzeiten kaum überzeugen, denn: »Dass unser Tod normal ist, hat offenbar damit nicht das Mindeste zu tun, denn aus der Tatsache, dass ein jeder von uns unausweichlich nach ein paar Dutzend Jahren sterben wird, folgt ja keineswegs, dass es nicht gut wäre, weiterzuleben.«7 Insofern enthält dieser Syllogismus auch die von Helmuth Plessner begrifflich gefasste Zweiheit von Körper-Haben und Leib-Sein, die hier eben nicht mehr der cartesianischen Erkenntnis über die zwingende Einheit von Körper und Geist folgt, sondern – zumindest für den eben diskutierten Kontext – nahezu eine Konkurrenz zwischen beidem anmahnt.8 Dieser Gedanke lässt sich wiederum dem Begriffspaar des historisch gewachsenen linearen Zeitverlaufs, in dem wir uns punktuell verorten (Körper4 Auch auf Marcel Duchamps Grabstein in Rouen steht zu lesen: D’ailleurs c’est toujours les autres qui meurent. 5 TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 7 [kursive Hervorhebungen durch Leo Tolstoi]. 6 TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 66. 7 NAGEL, Thomas, Letzte Fragen, Bodenheim bei Mainz 1996, S. 28. 8 Die englische Entsprechung von Körper-Haben und Leib-Sein lautet to have and to be a body, was eine Unterscheidung zwischen der Physis des Körpers einerseits und dessen seelischer Befindlichkeit andererseits klar hervortreten lässt. Bryan S. Turner veranschaulicht beide Positionen in ihrer Verschränktheit wie folgt: »We have a body, but we are also, in a specific sense, bodies; our embodiment is a necessary requirement of our social identification so that it would be ludicrous to say ›I have arrived and have brought my body with me.‹«, in: TURNER, Bryan S., The Body and Society, London 2 1996,

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Haben), und der zyklisch verlaufenden Zeit, in der sich die Menschheit immer weiter erneuert (Leib-Sein), gleichschalten. Wir sind entsprechend im Besitz eines Körpers, der Materie und Metapher in einem ist.9 Ein scheinbares Paradoxon, das angesichts unserer Vergänglichkeit nur schwer zu fassen ist und uns oft genug auf Thomas Hobbes’ Exklamation zurückwirft: »And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.«10 Denn im Gegensatz zur Makrostruktur des Weltganzen, zwingt uns die Mikrostruktur des Lebens dazu, als Individuen zu denken. Angesichts eines Lebens mit all seinen negativen Begleiterscheinungen wie Alterung, Krankheit und Tod, packt einen jeden Einzelnen in seiner Einzigartigkeit weiterhin die Furcht. Die Widersprüchlichkeit zwischen der starrköpfigen Tatsache unseres bevorstehenden individuellen Todes einerseits und andererseits dem Fakt der physiologischen Datenüberlappung innerhalb der Spezies Mensch, die uns nicht nur bis zu einem gewissen Grad gleich sein, sondern in nachfolgenden Generationen weiterleben lässt, drängt uns dazu, jenseits der Medizin und der Wissenschaften nach Angeboten zu suchen, diesen Zwiespalt auf eine befriedigende Weise auszugleichen. Damit sind wir auf unsere mentalen und intellektuellen Fähigkeiten verwiesen und es wundert wenig, dass gerade die Geisteswissenschaften und nicht zuletzt die Kunst dieser Gedanke um- und antreibt. Antonin Artaud ist einer dieser Künstler des 20. Jahrhunderts, die einen neuen Weg einzuschlagen gedenken, um nicht mehr nur den Makrokosmos unseres Daseins ins Visier zu nehmen, sondern das sich darin befindliche Individuum in seinem Mikrokosmos zu sichten. Erst diese neue Methode könne es ermöglichen, das Leben in all seinen Facetten und uns selbst zu verstehen: als Totalität. Artaud entwickelte hierfür das »Theater der Grausamkeit«: »Es wird auf den psychologischen Menschen mit seinen wohlunterschiedenen Gefühlen und Charakterzügen verzichten und sich an den totalen Menschen richten, nicht an den sozialen, den Gesetzen unterworfenen und durch Religionen und Vorschriften entstellten. Und es wird nicht nur das Rekto, sondern auch das Verso des Geistes in den Menschen einführen; die Wirklichkeit der Vorstellungskraft und der Träume wird dabei auf der gleichen Ebene mit dem Leben stehen. Außerdem werden sich in ihm die großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die Konflikte zwischen Volk und Volk, zwischen Rasse und Rasse, Naturkräfte, das Eingreifen des Zufalls, die Anziehungskraft des Schicksals entweder direkt äußern, in Form von Erregung und Gebärden der Figuren, die den Riesenwuchs von Göttern, von Heroen oder Ungeheuern haben, mythische Ausmaße, oder direkt, in Form von stofflichen Äußerungen, die neuen wissenschaftlichen Mitteln entstammen.«11 S. 42. Angesichts unseres Todes befürchten wir heute allerdings eben dies: Hier bin ich und ich habe meinen Körper dafür mitgebracht. 9 Kathy O’Dell formuliert dies so: »The body is a material organism, but also a metaphor; it is the trunk apart from head and limbs, but also the person (as in ›anybody‹ and ›somebody‹). […] The body is at once the most solid, the most elusive, illusory, concrete, metaphorical, ever present and ever distant thing – a site, an instrument, an environment, a singularity and a multiplicity.«, in: O’DELL, S. 39. 10 HOBBES, Thomas, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil (1651), London 1909, §12. 11 Antonin Artaud, in: ARTAUD, S. 131-137, hier S. 132.

Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

Das »Theater der Grausamkeiten« steht nicht am Beginn eines Unterfangens, das den künstlerischen Tabubruch strategisch herbeiführt. Aber dessen Schritt, den Zuschauer einer kathartischen Erfahrung zu unterziehen, indem er ihn das Unbill und die Grausamkeit des Lebens ansichtig werden lässt, bedeutet einen großen, wenn nicht den ausschlaggebenden Entwicklungsschub hinsichtlich eines strategisch motivierten und künstlerisch ausformulierten Tabubruchs. Noch ist unter Artaud dieses Theater ein inszeniertes. Um den Effekt und damit die Glaubwürdigkeit ihres Tuns weiter zu steigern, ziehen es die in dieser Arbeit zur Sprache kommenden zeitgenössischen Künstler vor, von der Inszenierung abzusehen und das Leben selbst als Kunst zu inszenieren. Alle Beteiligten – Künstler wie Betrachter – werden Teil dieses Vorhabens. Die ehedem gezogenen Grenzlinien werden damit überschritten, Wertvorstellungen und kultureller Brauch auf die Probe gestellt, abgeklopft, hinterfragt und mit Tabus strategisch gebrochen; es werden Brücken geschlagen zwischen den sichtbar werdenden Differenzen von Schönheit und Hässlichkeit, Unversehrtheit und Versehrtheit, lachender Dekadenz und ernsthaft gemeintem Fortschritt; die Löchrigkeit der Grenzen zwischen Erotik und Ekel, Dasein und Nicht-Sein, Körper-Haben und Leib-Sein, Innovation und Verwerfung zeugen von Kräften in uns, derer wir entweder nicht gewahr sind oder aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht wahrhaben wollten. Die Künstler benehmen sich dabei absolut frei in ihrer Absicht, die Zensur aufzuheben, Abgründe auszuleuchten, eine Perspektive zur Neuorientierung zu schaffen oder aber den Willen zu stärken, Altbewährtes zu neuer Blüte zu verhelfen oder aufrechtzuerhalten. Es ist freilich nicht das erste Mal, dass Künstler ihren Blick auf den Zyklus des Lebens richten und ihre Kunstwerke in allegorischer wie realistischer Manier von der Geburt bis hin zum Tod reichen lassen. Sie vermitteln eine erzählte Zeit. Sie zeugen dabei jedoch kaum vom tatsächlichen Leben und Sterben als einen zeitumfassenden und über die Präsenz-Zeit hinausreichenden Vorgang. Die Werke von ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider vermitteln deshalb in der Erzählzeit.12 Hierzu nutzen sie ihren eigenen Körper und auch denjenigen des Anderen, des Betrachters. Sie tun dies, weil sie wissen, dass unsere Körper ein soziales Konstrukt sind, in deren Wahrnehmung sich eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifestiert.13 Diese Auffassung ist ein uns alle integrierender Faktor, den es zu nutzen gilt, gerade weil wir ihn teilen. Das Körperdrama ist ein Drama, welches uns alle angeht: »Love, grief, fear, anger, joy, all these passions have in their turns affected every mind; and they do not affect it in any arbitrary or casual manner, but upon certain, natural, and uniform principles.« Und Edmund Burke weiß gleichfalls, dass diese Bedürfnisse vollkommen unabhängig von Geschmacksfragen bestehen: »And such principles of taste I fancy there are; however paradoxical it may seem to those who, on a superficial view, imagine that there is so great a diversity of Tastes, both in kind and degree, that nothing can be more indeterminate. […] for, if we deny this, we must imagine that the same cause, operating in the 12 Sander L. Gilman spricht dieser Art von Repräsentation eine das Leben und Sterben kontrollierende Funktion zu: »But it is not birth and death but living and dying that we struggle to understand, that we must control through our world of representations.«, in: GILMAN, Sander L., Picturing Health and Illness. Images of Identity and Difference, Baltimore und London 1995, S. 176. 13 Vgl. hierzu: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 99.

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same manner, and on subjects of the same kind, will produce different effects, which would be highly absurd.«14 Es gibt vier Beweggründe dafür, so zu verfahren wie dies die drei oben genannten Künstler tun und damit sich und uns mit den Leidenschaften und Drangsalen des Lebens konfrontieren: Erstens sind sie selbst davon betroffen. Zweitens wissen sie, dass sie nicht die einzigen sind, sondern alle gleichermaßen damit umzugehen haben. Um dies zum Ausdruck zu bringen, nutzen sie drittens alle Freiheiten, die die Kunst ihnen gewähren kann, auch diejenige, Tabus zu brechen. Und viertens urteilen sie, dass wir kein Recht darauf haben, uns der von ihnen artikulierten Problematiken zu entziehen. Das Leid hat somit die Pflicht erlangt, sich mitzuteilen, denn – so Susan Sontag: »Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf so viel Unwissen oder Vergesslichkeit.«15 Ob wir also wollen oder nicht: unserer Ignoranz wird abgeholfen. Was die im Folgenden besprochenen Künstler jedoch nicht tun und auch nicht können, ist, eine planmäßige Lösung der drängenden und beängstigenden Fragen aufzuzeigen. Sie erarbeiten für den Betrachter lediglich den ersten Schritt zu einer Vergegenwärtigung tabuisierter Bereiche: »Wer eine Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholt und das Höllenfeuer eindämmen kann.«16 Indem sich diese Künstler offenbaren, unterbreiten sie immerhin den Vorschlag, sich der Thematik zu stellen. Die Realisation eines Sachverhalts ist bekanntlich Grundvoraussetzung für dessen Klärung, samt dem anschließenden Umgang damit. Und dennoch entsteht Missbill ob der unverblümten Benennung des menschlichen Elends: Es sei unschicklich, heißt es da, weil es Tabus breche, zumindest aber die Grenzen des guten Geschmackes überschreite. Auch damit offenbart sich, dass Künstler den wunden Punkt zu treffen im Stande und gewillt sind. Noch einmal urteilt Susan Sontag, dass wir nicht berechtigt sind, den Umstand an sich zu ignorieren: »Die Enttäuschung darüber, dass man gegen das, was die Bilder zeigen, nichts zu unternehmen vermag, kann sich in den Vorwurf verwandeln, es sei anstößig, solche Bilder zu betrachten, oder die Art, wie sie verbreitet werden sei anstößig […]. Könnten wir gegen das, was die Bilder zeigen, tatsächlich etwas unternehmen, wären uns solche Fragen wahrscheinlich viel weniger wichtig.«17 Dass diese Fragen jedoch Gewicht haben, rechtfertigt auch ihre unerwartete, da tabuisierte Präsenz im Kontext des musealen Raumes. Und so analysieren ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider mit ihren Werken die Sexualität, den Tod und die Gewaltsamkeiten des Werdens und Sterbens sowie der Eventualität einer erneuten Existenz nach dem Lebensende. Jene Körperdramen 14 BURKE, Edmund, A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1756/57), with an introductory discourse concerning Taste, and several other additions, by the Right Hon. Edmund Burke, London 1820, S. 16 und S. 4-5. 15 SONTAG, Susan, Das Leiden anderer betrachten (2003), Frankfurt a.M. 2005, S. 133. 16 SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 133. 17 SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 136-137.

Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

und »Hauptskandale körperlichen Lebens«18 , die den Gattungs-Körper der gesamten Menschheit betreffen, geschichtslos und von kollektiver Gültigkeit sind und dabei immer auch mit einem »festlichen Weltgefühl« verknüpft werden – und dennoch der Unaussprechlichkeit des Tabus unterliegen.19 Den Kreislauf von Geburt – Altern – Krankheit – Tod in einer Chronologie erschließen zu wollen, verbietet sich schon insofern, da der Kreis in seinem Lauf weder Anfang noch Ende besitzt. Berücksichtigt man darüber hinaus Bachtins Untersuchungen zum niemals fertigen oder in sich abgeschlossenen Körper, der sich in einem zyklischen Erneuerungsprozess befindet, die »Welt [verschlingt] und sich von ihr verschlingen lässt«20 , dann ereignen sich Werden und Vergehen in einer austauschbaren Reihenfolge. Wenn das Leben mit der Geburt beginnt, so ist zugleich der Tod mitzudenken – und umgekehrt. Dieser rationale Gedanke ist jedoch heute von einem Tabu besetzt, welches von Bataille – ähnlich wie in der Welt Rabelais’ – annulliert wird: »[D]ie Verbote, die mir grundlegend erscheinen, bezogen sich auf zwei Bereiche, die in radikalem Gegensatz zueinander stehen. Tod und Fortpflanzung sind einander entgegengesetzt wie Negation und Position. Der Tod ist grundsätzlich das Gegenteil einer Funktion, deren Zweck die Geburt ist; aber der Gegensatz ist auflösbar. Der Tod des einen steht in Wechselbeziehung zur Geburt des anderen, die er ankündigt und deren Bedingung er ist. Das Leben geht immer aus der Zersetzung des Lebens hervor. Es ist in erster Linie dem Tod verpflichtet, der ihm Platz schafft; dann der Verwesung, die auf den Tod folgt und die für das ununterbrochene Auf‐die-Welt-Kommen neuer Wesen die notwendige Substanz in Umlauf setzt.«21 Dies könnte als eine Strategie gelesen werden, den Tod gänzlich leugnen zu wollen. Für die historische Welt ist das Gegenteil der Fall, wie weiter oben gezeigt wurde. Der eben unterstellte Mechanismus der Verdrängung ist aber heute umso präsenter und macht den Tod zu einem ausschließlich angstbesetzten Ereignis eines Kreislaufes, der für das Individuum nun doch einen Endpunkt bereithält. Der archaische Gedanke eines Zyklus kann heute wenig Trost spenden, zumal er mit dem Abjekten der Verwesung und der 18 Dietmar Kamper und Christoph Wulf, »Die Parabel der Wiederkehr. Zur Einführung«, in: KAMPER, Dietmar und Christoph Wulf (Hgs.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, S. 9-39, hier S. 20. 19 Vgl. hierzu: Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 14 und S. 39, sowie BACHTIN, S. 322-323 und S. 325, S. 57: »Auf jeder historischen Entwicklungsstufe war [das Fest] an Krisen und Wendepunkte im Leben der Natur, der Gesellschaft und des Menschen gebunden. Immer war das Moment von Tod und Wiedergeburt, von Ablösung und Erneuerung bestimmend für ein festliches Weltgefühl.« 20 BACHTIN, S. 358. Der archaische Lebenszyklus ziehe auch deshalb die Motive von Kindern und Greisen denjenigen vor, die in der Blüte ihres Lebens stehen und gleich weit vom Mutterschoß und dem Grab entfernt sind: »Auch von den verschiedenen Altersphasen des Körpers werden, im Gegensatz zu den neuen Kanons, bevorzugt jene dargestellt, die Tod und Geburt am nächsten stehen, also Kindheit und Greisenalter, mit deutlicher Betonung ihrer Nähe zu Mutterleib und Grab, zum gebärenden und verschlingenden Schoß. Aber tendenziell (sozusagen im Extremfall) vereinigen sich diese beiden Körper zu einem. Individualität wird im Übergangsstadium gezeigt, als schon sterbende oder noch nicht ausgeprägte; dieser Körper steht gleichzeitig an der Schwelle zum Sarg und zur Wiege; er ist nicht mehr nur ein, aber auch noch nicht zwei Körper. In ihm schlagen zwei Pulse, und einer der beiden, der mütterliche, stockt.«, in: BACHTIN, S. 77. 21 BATAILLE, Die Erotik, S. 56.

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anschließenden Wiederverwertung im Gefressen-Werden einhergeht und damit weitere zeitgenössische Tabuverletzungen wachruft. Dass diese Grenzerfahrung negiert, bei Eintreten ignoriert und weiter mit einem Tabu besetzt bleiben soll, diese Erfahrung machte auch die Künstlerin Sue Fox, deren fotografische Serie Vile Bodies den Toten gewidmet ist: »Der Geist hat die Tendenz, den Tod auszuschließen – er will sich nicht mit dem Ende von ›Etwas‹ befassen. Er beschäftigt sich gern mit dem Anfang und der Mitte der Dinge, aber über das Ende der Dinge nachzudenken, über den Verlust seiner selbst, seines Körpers und all dessen, was man besitzt und weiß, ist für die meisten Menschen eine Katastrophe. Als ich den Tod zum ersten Mal sah, war ich neugierig, aber ich hatte auch eine Scheißangst.«22 Eine Konfrontation mit dem Tod ist das eine. Diese Erkenntnis in Bezug auf den eigenen Tod bewusst zuzulassen, ist das andere. Es ist die maximalste Grenzerfahrung, die von den hier besprochenen Kunstwerken eingefordert wird. Es ist aber gleichzeitig eine Grenzerfahrung, die den Kreislauf des Lebens wieder als einen ununterbrochenen und fortwährenden zu schließen vermag: »In ihr liegt ein enormes Potential für Reife und Wachstum. Sie hat die Macht, die Art und Weise grundlegend zu verändern, wie wir in der Welt leben. Die Idee des Todes wirkt wie ein Katalysator: durch sie können wir uns von einem Zustand des Seins zu einem höheren bringen. Wir können wechseln von einem Zustand des Staunens darüber, wie die Dinge sind, zu einem Zustand des Staunens darüber, dass sie sind. Die Bewusstheit des Todes bringt uns weg von trivialen Beschäftigungen und verleiht dem Leben eine tiefe Intensität. Sie fördert einen völligen Wechsel der Perspektive, durch den es möglich wird, zwischen dem, was wichtig und unwichtig ist, zu unterscheiden.«23 Angesichts des Todes mag diese Aussicht zu billig klingen. Man ist versucht, ähnlich wie Ray Kurzweil danach zu fragen, wie das Selbst als Individuum die Erkenntnis von Reife und Wachstum nach dem Ableben noch gewinnbringend zum Einsatz bringen könnte. Vielleicht ist daher ja der Inbegriff des von Randolph Ochsmann prognostizierten »höheren Seins« in einem Leben nach dem Tod auf irdischer Basis oder sogar einem endlosen Leben zu suchen? Auch hierfür unterbreitet die zeitgenössische Kunst Vorschläge, indem sie sich mit dem Feld der Gentechnologie nicht nur auseinandersetzt, sondern dieses auch im Rahmen der Bio Art in den Kunstwerken zur Anwendung bringt. Die Natur- und Geisteswissenschaft waren nie so eng miteinander verquickt und zu einer – im wahrsten Sinne des Wortes – produktiven Zusammenarbeit bereit, wie in diesem, vor wenigen Jahren geschaffenen Zusammenschluss von Künstleratelier und Labor. Das im Jahr 1990 ausgelobte Human Genome Project konnte im April des Jahres 2003 die abschließende Sequenzierung des menschlichen Genoms verkünden. Seither gilt das Erbgut des Menschen als vollständig entschlüsselt. Dieses ungeahnte neue Potential eines Wissensfundus über die Entstehung, Veränderbarkeit und mögliche Fortdauer des Menschen jenseits dessen aktueller Lebensdauer hinaus, setzte seitdem enorme Kräfte frei und veranlasste Ray Kurzweil bereits 2010 zu folgender Progno22 Sue Fox, »Kontemplationen zum Leichnam«, Berlin, November 2005, in: MACHO, S. 105-149, hier S. 106. 23 Randolph Ochsmann, »Wenn die eigene Sterblichkeit bewußt wird. Ergebnisse experimenteller soziopsychologischer Forschung«, in: BLUM, S. 87-101, hier S. 99 [kursive Hervorhebungen durch Randolph Ochsmann].

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se: »Und damit unterliegen auch [unsere Gesundheit, unsere Biologie, unsere Medizin] dem Gesetz der beschleunigten Erträge und des exponentiellen Wachstums. Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit werden nun als Informationsprozesse begriffen, und damit verfügen wir über die praktischen Mittel, das Ende des Todes abzusehen, da unser Wissen über diese Dinge exponentiell wächst.«24 Auch die Kunst bedient sich dieses Wissens, nicht so sehr, um das von Kurzweil vollmundig verkündete Ziel weiter voranzutreiben, sondern eher, um die damit einhergehenden Möglichkeiten wie Probleme zu thematisieren, die mit der Behebung der »Fehlkonstruktion [Körper, die] auf Dauer gestellt werden kann«25 verknüpft sind. Viele der heute virulenten Tabus wären damit gebrochen, ohne dass sie strategisch hätten beseitigt werden müssen. Sollten die von Kurzweil genannten Bestrebungen Wirklichkeit werden, so verlöre darüber hinaus der Zyklus des Lebens unweigerlich die Bedeutsamkeit in seiner unendlichen Vorwärtsbewegung. Obwohl an seiner Stelle dann der Mensch in die Unendlichkeit reichen würde, so bedeutet dies doch das Ende eines zyklisch verlaufenden Kreises, der sich einer Spirale gleich immer weiter verbessert und erneuert. Zugleich wäre auch der vom Menschen derzeit mit Angst besetzte lineare Zeitverlauf unserer begrenzten Lebensdauer beseitigt. Das dauerhafte Überleben der gesamten Menschheit könnte nurmehr in ungerichteten und beliebig verstreuten Vektoren in Wellenformation zwischen den Sektoren eines Koordinatensystems von Raum und Zeit zum Ausdruck gebracht werden. Die Angst um das Körperdrama würde aber keine Rolle mehr spielen. Da wir noch nicht an diesem Punkt von Kunst und Wissenschaft angelangt sind, sehen wir uns weiter entweder mit dem gewaltigen und gewalttätigen Kreislauf des Schlingens und Verschlungen-Werdens konfrontiert, oder aber mit der leidvollen Endlichkeit unseres Daseins, das uns zu einer ständigen Selbsterhaltung nötigt, die sich nicht erfüllen wird. Und so zeigt die zeitgenössische Kunst ebenfalls weiterhin die mit beiden Sichtweisen verbundenen Szenarien der Hoffnung und des Elends. Dies hat den Vorteil, dass derartige Kunst eine noch nie dagewesene affektive Identifikation in ihrer Darstellung und Zurschaustellung der am stärksten und leidenschaftlichsten besetzten Tabus von Sein und Nicht-Sein bewirkt, gerade weil wir an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter zu stehen scheinen. Der Terror und das Sublime liegen dabei nahe beieinander, wie Edmund Burke beobachtete: »The ideas of pain, sickness, and death, fill 24 Ray Kurzweil, in: HÜLSWITT, S. 15-34, hier S. 21. 25 Dietmar Kamper und Christoph Wulf, in: KAMPER, S. 9-39, hier S. 16-17. In Gänze argumentieren sie wie folgt: »Eher aber sind mit dem Körper die Angst des Sterbens und Verwesens, der Schrecken der Geschlechtlichkeit und der Gewalttätigkeit und die Furcht der Geburt verbunden. Derartige präzivilisatorische Erfahrungen der Unvollkommenheit scheinen dem Hang zur Verbesserung der körperlichen Ausstattung der Menschheit bis auf den heutigen Tag Nahrung zu geben. Zumindest beginnt man dort, an der Grundlinie der Gebrechlichkeit und der Hinfälligkeit, einer der Hauptstränge der Zivilisation, der die Konzession, die vom Menschen als Teil der Natur verlangt werden, systematisch überflüssig zu machen bestrebt ist. […] Nicht nur die Sterblichkeit und das Siechtum sind dabei auszumerzende Momente der Unvollkommenheit, sondern auch die durch Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt verhängte Verwicklung der menschlichen Natur ins Vegetative. […] Meldungen von der Forschungs-Front werden mit großem Interesse und mit viel Beifall bedacht; was technisch möglich ist, wird auch – auf kurz oder lang – gemacht. Zu wichtig ist die projektierte Erlösung der Natur, die als einzig adäquate Antwort auf die vorgeschichtliche und geschichtliche Abhängigkeit vom Naturzwang angesehen wird.«

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the mind with strong emotions and horror; but life and health, though they put us in a capacity of being affected with pleasure, they make no such impression by the simply enjoyment. The passions, therefore, which are conversant about the preservation on the individual, turn chiefly on pain and danger, and they are the most powerful of all passions. […] Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger; that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.«26 Deshalb drängt sich dem künstlerischen Schaffen seit langem eben nicht mehr nur der Gedanke zur Darstellung des Guten und ästhetisch Schönen auf, sondern – im Rahmen seines die Totalität dieses Gedankens umfassenden Tuns – auch die Bebilderung der hässlichen und unansehnlichen, der elenden und ekelhaften wie existenzgefährdenden Kehrseite, denn – so bereits 1853 Karl Rosenkranz: »Es gehört zum Wesen der Idee, die Existenz ihrer Erscheinung frei zu lassen und damit die Möglichkeit des Negativen zu setzen. […] Will also die Kunst die Idee nicht blos einseitig zur Anschauung bringen, so kann sie auch des Häßlichen nicht entbehren. […] Sollen aber Natur und Geist nach ihrer ganzen dramatischen Tiefe zur Darstellung kommen, so darf das natürlich Häßliche, so darf das Böse und Teuflische nicht fehlen.«27 Die nachfolgend erörterten Künstler begehen diesen strategisch geplanten Tabubruch. Im Zuge ihrer Grenzüberschreitungen nehmen sie den Betrachter an der Hand, damit er sie begleiten möge. Sofern dies geschieht, implodieren die Grenzen zwischen dem Wahrgenommenen und der eigenen Selbstwahrnehmung. Das Kunstwerk impliziert dann nicht mehr nur einen bestehenden Sachverhalt für das jeweils Dargestellte, sondern auch ein So‐ist-es und So‐wird-es‐sein für den Betrachter. Es handelt sich um Veranschaulichungen unseres Daseins, die der Bewusstmachung dienen.

III.1 Das Ideal: Der unversehrte Körper Um das Schöne zu veranschaulichen, bedarf es als vergleichendes Element das Wissen um die Hässlichkeit, und umgekehrt, kann man das Hässliche nicht begreifen, sofern wir uns keinen Eindruck davon verschaffen, was erklärtermaßen als schön gilt. Karl Rosenkranz gibt aber auch zu bedenken, dass daraus nicht folgt, dass »das Hässliche mit dem Schönen ästhetisch auf gleicher Stufe stünde«28 und erteilt damit dem Ideal das Primat. Das Idealtypische, von dem er und diese Schrift ihren Ausgangspunkt nehmen, ist freilich diejenige Vorstellung einer auf dem eurozentrisch geprägten Humanismus basierenden weißen, heterosexuellen und patriarchalen Gesellschaft. Nimmt das Ideal auf ein Menschenbild Bezug, so ist dieses dem zeitlichen wie kulturellen Wandel unterlegen. Bleibender Fakt dabei ist, dass wir zu allen Zeiten und in 26 BURKE, S. 32-33. 27 ROSENKRANZ, S. 38-39. 28 ROSENKRANZ, S. 39. Ausgangspunkt war die folgende Verschränkung: »Aus diesem Grunde also, die Erscheinung der Idee nach ihrer Totalität zu schildern, kann die Kunst die Bildung des Häßlichen nicht umgehen. Es wäre eine oberflächliche Auffassung der Idee, wollte sie sich auf das einfach Schöne beschränken.«

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allen Kulturen eine Vorstellung von Wohlgefallen und Hässlichkeit haben, und wir jeweils darüber übereinstimmen, dass es beides gibt.29 Es wäre in diesem Sinne falsch, wie so oft in den letzten Jahrzehnten geschehen, zu behaupten, dass Schönheit heute neu gedacht oder definiert werden müsse, weil uns eine idealtypische oder idealisierte Schönheit im Verlauf des letzten Jahrhunderts abhandengekommen sei.30 Die Hässlichkeit habe während der letzten 100 Jahren überhandgenommen, seit dem Verlust der Menschlichkeit in den großen und andauernden Kriegen, den damit einhergehenden Epochen- und Stilwechseln in den Künsten, dem Aufbäumen gegen die überlieferten Normen und Herrschaftssysteme, gegen die tradierten und idealtypischen Rollenverhältnisse von Oben und Unten, Weiß und Dunkelhäutig, von Mann und Frau.31 Dieser vorherrschenden Meinung muss widersprochen werden: Erstens sind die grundlegenden Attribute der Schönheit über die Jahrtausende hinweg gleichgeblieben und beziehen sich beharrlich auf den unversehrten Körper und zweitens ist das spezifische Ideal von Schönheit seit wenig mehr als 200 Jahren dasselbe geblieben. Letzteres mag uns erstaunen, aber die heute gültigen Tabus zum Körperdrama, welche weiter oben auseinandergesetzt wurden, dürften es hinreichend unter Beweis gestellt haben, wie sehr man seither den in sich geschlossenen, anmutigen und makellosen, letzten Endes ephemeren Körper anstrebt. All dies ein Bild, das sich Ende des 18. Jahrhunderts einzustellen begann. Entwickelt wurde es in enger Anlehnung an die künstlerische Ausformulierung des menschlichen Körperideals im griechischen Altertum. Laut Lessing war dem weisen Griechen nur der schöne Körper einer Abbildung und Nachahmung würdig und alles, was dieser Schönheit zu widersprechen im Stande ist, sei vermieden worden: »Ich wollte bloß festsetzen, daß bey den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sey. Und dieses festzusetzen, folget nothwendig, daß alles andere, worauf sich die bildenden Künste zugleich miterstrecken können, wenn es sich mit der Schönheit nicht verträgt, ihr gänzlich weichen, und wenn es sich mit ihr verträgt, ihr wenigstens untergeordnet seyn müssen.«32 Die Schönheit, wie sie von der 29 Marcia M. Eaton urteilt deshalb ganz richtig über das interesselos motivierte und die Kulturen und Epochen übergreifende Potential von Schönheit wie folgt: »What does one have to know about that sunset or that song to sense the beauty? […] 1. One feels the pleasure required for the judgement that something is beautiful independently of what one knows or values. 2. The pleasure required for the judgement that something is beautiful diminishes, disappears, or is even replaced by displeasure as one’s beliefs or values change.«, in: Marcia M. Eaton, »Kantian and Contextual Beauty«, in: BRAND, Peg Zeglin (Hg.), Beauty Matters, Bloomington 2000, S. 27-36, hier S. 33. 30 Natürlich denkt man an dieser Stelle an den von Kant ausgearbeiteten Begriff des Erhabenen, welches kulturell und zeitlich übergreifend uns alle zu beeindrucken vermag. Kant argumentiert hier anhand des interesselosen Eindrucks einer von jedermann gleichermaßen als erhaben empfundenen Situationen, der vor allem angesichts von Naturereignissen hervorgerufen wird. Ein ideales Körperbild werde der Begrifflichkeit des Erhabenen jedoch nicht gerecht. Vgl.: KANT, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (1790/91), Hamburg 2001, § 26 Von der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist, S. 114ff. 31 Das Pro und Contra dieser These werden am differenziertesten besprochen in: HAUSTEIN, Lydia und Petra Stegmann (Hgs.), Schönheit. Vorstellungen von Kunst, Medien und Alltagskultur, Göttingen 2006. 32 LESSING, S. 19-20, vgl. auch S. 16.

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Natur vorgegeben war, suchte man im Altertum noch weiter zu vervollkommnen, indem ein kunstwürdiges Idealbild angestrebt wurde. Sofern anhand dieses eklektizistischen Vorgehens nicht der Eindruck der Natürlichkeit leide, sei es durchaus angezeigt, der ungekünstelten Schönheit auf die Sprünge zu helfen, um diesem Ideal nahezukommen.33 So argumentiert Johann Joachim Winckelmann, dass sich der Künstler jenseits des Naturstudiums und der anatomischen Zeichenschule einen eigenen, vollkommeneren Begriff der Schönheit zurechtzulegen hatte: »Das Gesetz aber, ›die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen‹, war alle Zeit das höchste Gesetz, welches die Griechischen Künstler über sich erkannten, und setzet nothwendig eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus. […] Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die Idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.«34 In realitate ist das Mischwesen aus Mensch und Gott in mehrererlei Hinsicht eine Mär. Das sahen sowohl die Griechen wie auch die ihnen nacheifernden Klassizisten ein. Und bedenkt man alles, was dem oben erörterten Körperdrama anhaftet, tut man gut daran, dieses Körper-Haben zu unterschlagen, sofern man ein ideales Bild des Menschen im Sinne führt. Nun hat die Kunst zweierlei Möglichkeiten, diesen konkreten Körper zu umgehen: entweder sie konzentriert sich auf die alleinige Darstellung des Kopfes, oder der Künstler erschafft den überirdisch-ätherischen Körper. Beide Male kann es so gelingen, ein entkörperlichtes Extrakt des menschlichen Abbildes zu erzeugen, welches einen unverweslichen, distanzierten, geruchs- wie geräuschlosen Leib zum Ausdruck bringt.35 Beide Formen der Darstellung finden Beachtung in der Kunst des griechischen Altertums wie im Klassizismus und auch danach. Widmet man sich zunächst dem körperlosen Menschen, dessen Innenleben negiert wird, indem der Akzent auf der Betonung des Kopfes liegt, dann müssen alle Gemütsbewegungen und leiblichen Befindlichkeiten auf ein Mindestmaß reduziert sein – auch im Gesicht.36 Das heroische Ertragen der schlimmsten Agonie, das angestrengteste kör33 Friedrich Schiller definiert die Vollkommenheit der alten griechischen Meister wie folgt: »Vollkommen ist ein Gegenstand, wenn alles Mannigfaltige an ihm zur Einheit seines Begriffs übereinstimmt; schön ist es, wenn seine Vollkommenheit als Natur erscheint. Die Schönheit wächst, wenn die Vollkommenheit zusammengesetzter wird und die Natur dabei nicht leidet.«, in: SCHILLER, Friedrich, Kallias oder über die Schönheit (1793) – Über Anmut und Würde (1793), hg.v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2010, S. 47. 34 WINCKELMANN, Johann Joachim, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755), hg.v. Max Kunze, Stuttgart 2013, S. 18. Und auf S. 111 erläutert Winckelmann in einigen Sendschreiben seine Gedanken weiter: »Die sorgfältigste Beobachtung der Natur muß also allein nicht hinlänglich seyn zu vollkommenen Begriffen der Schönheit, so wie das Studium der Anatomie allein die schönsten Verhältnisse nicht lehren kann.« 35 Hier ist wiederum derjenige Körper und dessen strikte Kontrolle gemeint, den Mary Douglas einem komplexen Sozialsystem zuordnet, dessen »geltende Regeln […] den Eindruck […] erwecken, dass der Verkehr zwischen Menschen – im Gegensatz zu dem zwischen Tieren – ein Verkehr zwischen körperlosen Geistern ist; die Stufen der ›Entkörperlichung‹ werden benutzt, um die Stufen der sozialen Hierarchie zu markieren.«, in: DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 110 und S. 107. Vgl. auch: Volker Rittner, »Krankheit und Gesundheit. Veränderungen in der sozialen Wahrnehmung des Körpers, in: KAMPER, S. 40-51, hier S. 41. 36 BACHTIN, S. 363: »Im neuen Körperkanon konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Kopf, das Gesicht, die Lippen, das Muskelsystem und auf die Haltung des Körpers gegenüber der Außenwelt.«

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perliche Aufbegehren noch im Todeskampf und die gewaltsame Beherrschung jeglicher Schmerzen und seiner physischen wie psychischen Konsequenzen, kommt – laut Winckelmann – in der Figurengruppe des Laokoon ganz ausgezeichnet zur Geltung: »Diese Seele schildert sich im Gesichte des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket, und den man gantz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten, an den schmertzlich eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet: Die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie Sophocles Philoctetes: Sein Elend gehet uns bis in die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.«37 Diese Passage wurde gut zehn Jahre später nochmals in Gänze bei Lessing zitiert, um bewundernd auf des Helden verhaltenes Geschrei noch im Todeskampf zu verweisen, welches im Gegensatz zu den heroischen Ausführungen in der Dichtkunst stünde, in denen der körperliche Schmerz, Wut und Trauer durchaus mit dem grässlichsten Geschrei, gebrülltem Zorn und Tränenfluss einherginge. Lessing ist es dann auch, der im Anschluss daran eine Verknüpfung zwischen dem anmutigen Laokoon und dem für seine eigene Zeit gängigen Typus des maßvoll dargestellten, leidenden Körpers seit Mitte des 18. Jahrhunderts herleitet: »Ich weis es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt, wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrey und Thränen.«38 Und es lässt sich eine weitere Verbindung zwischen der griechischen Manier des Laokoons und der christlichen Kunst der Neuzeit herstellen: die Taten und der Heldenmut der göttlichen Geschöpfe macht diese zu überirdischen Wesen, deren Empfinden jedoch ein menschliches zu sein hat. Nicht nur die Götter der Griechen, die auf die Erde niedergekommen waren, um davon zu zeugen, sondern auch Jesus Christus haftete – wie weiter oben festgehalten – diese Dichotomie des GöttlichMenschlichen an, indem er zu Lebzeiten und nach der Auferstehung seine geheiligte Herkunft unter Beweis stellt und zugleich wie ein Mensch zu sterben vermochte. Die körperlich reduzierte Gestik wie die verhaltene Mimik überzeugen in beiden Fällen in ihrem maßvollen Umgang mit dem gezeigten Schmerz. Dazu gehört eben auch, dass sich die Körperöffnungen des Gesichtes nicht über die Maßen preisgeben: weder die dem Entsetzen entgegenblickenden Augen, noch die scharf eingesogene letzte Atemluft durch die geblähten Flügel der Nase und schon gar nicht das durch das erlittene Leid einem weit aufgerissenen Mund entfliehende Gebrüll dürfen sichtbar sein. Ein Seufzen bei niedergeschlagenem oder gen Himmel gerichtetem Blick ist das Höchstmaß der zum Ausdruck gebrachten Pein. Rein optisch lindert sich so das Todesentsetzen in der Agonie, der Schmerz wird zur Überwindung desselben, das Leid wird zur Unerquicklichkeit. Dies mag auch daher rühren, dass der innere körperliche Tumult im Verborge37 WINCKELMANN (1755), S. 28 und LESSING (1766), S. 10-11. 38 LESSING, S. 13.

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nen bleibt. Wo keine Öffnungen sind, da kann auch nicht hineingeschaut werden: nicht in die blutunterlaufenen Augen, die triefende Nase und nicht in den bebenden Rachen, den Schlund, der ins Innere des Körpers führt. Die geschlossenen Körperöffnungen vermögen das leibliche Innenleben zu verleumden.

Das Schöne und der organlose Körper Die Negation des Organismus führt zum organlosen Körper.39 Dieser leugnet eine Organisation der Organe, die zusammenwirken, deren Abhängigkeit voneinander das körperliche Wohl oder Unwohlsein bestimmen und nach außen tragen könnten. Der organlose Körper ist »[e]in geradezu nicht‐organisches Leben, denn der Organismus ist nicht das Leben, er sperrt es ein. Der Körper ist ganz und gar lebendig und dennoch nicht organisch«40 , so Deleuze. Die mit der Darstellung des Organismus einhergehenden unschönen Veräußerlichungen unseres Innenlebens wird im organlosen Körper vermieden. Sowohl das griechische Altertum wie auch der Klassizismus hüten sich vor dieser Zurschaustellung: Deren Figur »ist exakt der organlose Körper (den Organismus zugunsten des Körpers, das Gesicht zugunsten des Kopfes auflösen); der organlose Körper ist Fleisch und Nerven; eine Welle durchströmt ihn und zeichnet Ebenen in ihn ein; die Sensation ist gleichsam das Zusammentreffen der Welle mit Kräften, die auf den Körper einwirken, ›affektive Athletik‹, gehauchter Schrei; wenn sie derart auf den Körper bezogen ist, bleibt die Sensation nicht länger repräsentativ, sie wird real; und die Grausamkeit wird immer weniger an die Darstellung von etwas Schrecklichem gebunden sein, sie wird nur die Einwirkung der Kräfte auf den Körper oder die Sensation (das Gegenteil des Sensationellen) sein.«41 Damit erübrigt sich auch das explizite Gebrüll des zu Tode Gemarterten. Denn wenn die Zusammenhänge fehlen, wenn etwa der Organismus verletzt wird, so fehlt ihm doch das direkte Sendeorgan, das den Schmerz nach außen tragen kann. Das Gesicht, das den Organismus widerzuspiegeln vermag, wird aufgegeben zugunsten eines Kopfes, dessen Sitz am anderen Ende des Organismus verortet wird. Deleuze bedient sich zum Zwecke der Argumentation an dieser Stelle des Einwurfes von William S. Burroughs aus »Naked Lunch«: »The human body is scandalously inefficient. Instead of a mouth and an anus to get out of order why not have one all‐purpose hole to eat and eliminate? We could seal up mouth and nose, fill in the stomach, make an air hole direct into the lungs where it should have  been in the first place.« 42 Gilles Deleuze widerspricht dieser Dezimierung von einzelnen Organen, in dem er zu Recht nachhakt: »Wie aber kann man behaupten, es handele sich um eine vielfach verwendbare Schleimhaut oder ein bestimmtes Organ? Gibt es nicht einen Mund und einen Anus, die ganz deutlich voneinander unterschieden sind 39 Gilles Deleuze stützt sich im Folgenden auf den von Antonin Artaud erstmals 1947 im Hörspiel »Pour a finir avec le jugement de dieu« genutzten Begriff des corps sans organes und einem hierzu schriftlich ausgeführten Beitrag: Artaud, Antonin, »Suppôts et supplications«, in: 84, Nr.576, in: DELEUZE, Francis Bacon, S. 32. 40 DELEUZE, Francis Bacon, S. 32. 41 DELEUZE, Francis Bacon, S. 32-33. 42 BURROUGHS, William S., Naked Lunch (1959), New York 1990, S. 119.

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und einen Weg oder einen Zeitraum abverlangen, um von einem zum anderen zu gelangen? […] Folgendes muss begriffen werden: Die Welle durchströmt den Körper; auf dieser oder jener Ebene wird sich ein Organ bestimmen, je nach angetroffener Kraft; und dieses Organ wird sich verändern, wenn sich die Kraft selbst ändert oder wenn man auf eine andere Ebene gelangt. Kurz, der organlose Körper definiert sich nicht durch die Abwesenheit von Organen, er definiert sich nicht durch die Existenz eines unbestimmten Organs, er definiert sich schließlich durch die vorübergehende und provisorische Gegenwart bestimmter Organe.«43 Die Reduktion des Körpers auf ein Mindestmaß an Organischem, wie sie in dem Vorschlag von Burroughs zur Sprache kommt, ein Körper, dessen Mund und Anus eins würden, wo es kein Oben und kein Unten mehr gäbe, könnte, wie ich meine, aber auch weder in‐sich-verkehrt noch in seinen abjekten Einzelteilen gemieden werden. Derjenige strategische Tabubruch, der in Rabelais’ Welt erlaubt war und – wie oben gezeigt und begründet – nun geflissentlich gemieden wird, würde so keine Grenzerfahrung mehr darstellen. Denn der organlose Körper setzt das Tabu an sich außer Kraft: etwas, was nicht vorhanden ist, muss weder vorübergehend gebrochen und später neu installiert, noch kann es gemieden werden. Deshalb ist es seit dem Klassizismus erklärtes Ziel, den Körper organlos wirken zu lassen: die Grausamkeit verliert ihren Schrecken, der Schrei verkommt zum Seufzer und die Sensation wird zwar wahrgenommen, ist jedoch nichts Sensationelles mehr im Sinne eines Skandalons. Die Unzulänglichkeiten des Körpers sind vorübergehend und provisorisch. In der Darstellung der menschlichen Figur samt Kopf und Körper können so »die hässlichsten Verzerrungen«, »gewaltsame Stellungen« und eine »grobe Verletzung der Proportion« umgangen werden.44 Das in‐sich-geschlossene und darin wiederum organlose Körperideal zeigt sich zu Zeiten Winckelmanns noch in den Kinderschuhen, wenn auch auf einem guten Wege, das griechische Vorbild einzuholen. Winckelmann traf 1755 eine anschauliche und deshalb hier ausführlich zitierte Abwägung zwischen den Feinheiten in der Darstellung eines gerade‐so vollendeten Körpers bei seinen Zeitgenossen und dem idealtypisch gesunden und erhabenen Menschen bei den Griechen: »In den meisten Figuren neuerer Meister siehet man an den Theilen des Cörpers, welche gedruckt sind, keine gar zu sehr bezeichnete Falten der Haut; dahingegen, wo sich eben dieselben Falten in gleichgedruckten Theilen Griechischer Figuren legen, ein sanfter Schwung eine aus der andern wellenförmig erhebt, dergestalt, daß diese Falten nur ein Gantzes, und zusammen nur einen edlen Druck zu machen scheinen. Diese Meisterstücke zeigen uns eine Haut, die nicht angespannt, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdehnung füllet, und bey allen Begegnungen der fleischigen Theile der Richtung derselben vereinigt folget. Die Haut wirft niemals, wie an unsern Cörpern, besondere und von dem Fleisch getrennte kleine Falten. Eben so unterscheiden sich die neuern Wercke von den Griechischen durch eine Menge kleiner Eindrücke, und durch gar zu viele und gar zu sinnlich gemachte Grübchen, welche, wo sie sich in den Wercken der Alten befinden, mit einer sparsamen Weißheit, nach der Maaße derselben in der vollkommenern und völligern 43 DELEUZE, Francis Bacon, S. 33. 44 Vgl.: LESSING, S. 20, sowie SCHILLER, Kallias oder über die Schönheit, S. 48.

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Natur unter den Griechen, sanft angedeutet, und öfters nur durch ein gelehrtes Gefühl bemercket werden. Es bietet sich hier allezeit die Wahrscheinlichkeit von selbst dar, daß in der Bildung der schönen Griechischen Cörper, wie in den Wercken ihrer Meister, mehr Einheit des gantzen Baues, eine edlere Verbindung der Theile, ein reicheres Maaß der Fülle gewesen, ohne magere Spannungen und ohne viel eingefallene Höhlungen unserer Cörper.«45 In Konsequenz zeigt das Abbild des Körpers schon bald einen streng von glatten Oberflächen begrenzten Körper, auf den Kräfte einwirken, diese Strapazen sich aber nicht sichtbar auswirken. Dieser Körper wird zwar – wie nach Deleuze eben zitiert – von Wellen durchströmt, aber der Aufruhr im Inneren geschieht im Verborgenen, da »alle ins Körperinnere führenden Öffnungen geschlossen« gehalten werden. Aber nicht nur der Einblick in das Innerkörperliche bleibt verwehrt, umgekehrt werden alle darin befindlichen Merkmale des Unfertigen eingeschlossen und unterdrückt: »Alles, was abstrakt und vom Körper ausgeschieden wird, alle deutlichen Ausbuchtungen, Auswüchse und Verzweigungen, d.h. all das, womit der Körper anfängt, wird abgetrennt, beseitigt, verdeckt und gemildert.«46 Der nach außen hin rein wirkende Körper, lässt rückwirkend auf eine innere Reinheit im übertragenen Sinne schließen und zugleich auf ein Überdauern, wenn schon nicht im Irdischen, so doch in einem erlösten Zustand nach dem Tode. Nicht nur »die Grenze zwischen Körper und Außenwelt [ist] prinzipiell unverrückbar.«47 Innerhalb des Körpers finden sich auch keinerlei Anzeichen für einen von Bachtin als Zweileibigkeit bezeichneten Zustand. Merkmale der Fortpflanzung als Akt und Folge, der Schwangerschaft und der Geburt, der Erkrankung und des Todes sind in der künstlerischen Ausformulierung der Figur nicht vorgesehen.48 Seit geraumer Zeit haben unsere Körper aufgehört, diejenigen grotesken Symptome zu zeigen, die ehedem das Motiv der schwangeren Alten rechtfertigten. Michail Bachtin beschreibt den vor 200 Jahren entstandenen neuen Körperkanon als einen, der keine Schnittstellen mehr zulässt: »[D]er Tod ist hier nur Tod, er fällt nie mit der Geburt zusammen, das Alter ist von der Jugend getrennt, Schläge verwunden nur und befördern keine Geburt. Alle Handlungen und Ereignisse sind eingeschlossen in den Zeitraum zwischen Geburt und Tod des einen individuellen Körpers. Diese Grenzen markieren den absoluten Anfang und das absolute Ende. Innerhalb eines Körpers können Anfang und Ende sich niemals 45 WINCKELMANN, S. 18-19. Aus Winckelmanns Beschreibung folgert Menninghaus: »[Der idealschöne Körper nach Winckelmann] […] leistet Ekelvermeidung durch konsequente Sublimierung jeder Materialität und Schriftlichkeit auf und unter der Haut des Schönen. […] Die Gestalt muss so aussehen, als ob sie kein Körperinneres habe; oder anders: sie muss so aussehen, dass jeder Gedanke an ein Körperinneres suspendiert wird.«, in: MENNINGHAUS, S. 85. 46 BACHTIN, S. 361. Über ein halbes Jahrhundert später bestätigt Chris Townsend, dass dieser Sachverhalt weiter Bestand hat: »The absence of marks, the near symmetry, are symbols for an interior purity, a denial of the fallibility of organs, a refusal of the mess of the interior. […] Certainly there should be no thought of bodily functions: no ingesting, no digesting, no excreting – no hint of sickness or fallibility should mar the form.«, in: TOWNSEND, Chris, Vile Bodies: Photography and the Crisis of Looking, München und New York 1998, S. 97. Die Einschätzung über eine Widerwärtigkeit des Körpers hat sich, meines Erachtens, in den letzten beiden Jahrzehnten weiter verfestigt. Eine gegenläufige Entwicklung ist in einer sich weiter zu kultivieren suchenden Gesellschaft nicht zu erwarten. 47 BACHTIN, S. 363. 48 Vgl.: BACHTIN, S. 363.

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treffen.«49 Der seit dem Klassizismus generierte und bis heute hofierte Körper gerät jedoch bereits mit dem Einsetzen sichtlicher Alterungsprozesse ins Abseits. Was heute mit bitterem Humor – vor allem bei Frauen – als das Einsetzen der Schwerkraft im Alter bezeichnet wird, ist ein Entwicklungsgang, der zwar natürlich ist, dem es aber entgegenzuhalten gilt, weswegen sich schon Friedrich Schiller eines ähnlichen, ganz und gar nicht humoristisch gemeinten Wortlautes hierfür bediente: »Aber die allgemeinen Naturkräfte führen, wie man weiß, einen ewigen Krieg mit den besondren, oder den organischen, und die kunstreichste Technik wird endlich von der Kohäsion und Schwerkraft bezwungen. Daher hat auch die Schönheit des Baues, als bloßes Naturprodukt, ihre bestimmten Perioden der Blüte, der Reife und des Verfalls, die das Spiel zwar beschleunigen, aber niemals verzögern kann; und ihr gewöhnliches Ende ist, daß die Masse allmählich über die Form Meister wird und der lebendige Bildungstrieb in dem aufgespeicherten Stoff sich sein eigenes Grab bereitet.« Und in einer Nebenbemerkung fügt er als Fußnote die folgende pejorative Illustration dessen hinzu: »Daher man auch mehrenteils finden wird, daß solche Schönheiten des Baues sich schon im mittleren Alter durch Obesität sehr merklich vergröbern; daß, anstatt jener kaum angedeuteten zarten Lineamente der Haut, sich Gruben einsenken und wurstähnliche Falten aufwerfen, daß das Gewicht unvermerkt auf die Form Einfluß bekömmt und das reizende mannigfache Spiel schöner Linien auf der Oberfläche sich in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fetten verliert. Die Natur nimmt wieder, was sie gegeben hat.«50 Das heißt wiederum, dass der Körper nur im Idealfall aussieht wie im Idealfall und zwar Schiller und anderen zufolge nur dann, wenn er ungefähr gleich weit entfernt von der Wiege und dem Grab ist. Nebst dem Alterungsprozess werden alle weiteren Arten der Deformierung, Unförmigkeit und Funktionsunfähigkeit, der Disproportion, der Krankheit und Infektion, des Ringens mit dem Tod sowie der damit verbundenen Schmerzen als kontraproduktive Elemente in der Aufrechterhaltung des makellosen Körpers erachtet. Alles, was der gesunden Norm widerspricht, wird ausgeklammert, gerade so »as if the changes of the body, labelled as illness or ageing or disability, were foreign to the definition of the ›real‹ human being.«51 Zusätzlich noch physischen Schmerz zum Ausdruck zu bringen, wäre dabei die unschicklichste aller Möglichkeiten des Gebarens. Besinnen wir uns an dieser Stelle auf die Figurengruppe des Laokoons, der dem Schmerz in einer auch vom Klassizismus angestrebten verhaltenen Geste begegnet, einer Umschiffung der Pein, die Lessing wie folgt beschreibt: »Der Meister arbeitet auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in all seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab setzen; er mußte Schreyen in Seufzen mildern; nicht weil das Schreyen eine unedle Seele verräth, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reisse dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urtheile. Man lasse ihn schreyen, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust 49 BACHTIN, S. 363. 50 SCHILLER, Kallias oder über die Schönheit, S. 97 samt Fußnote. 51 GILMAN, S. 53.

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erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süsse Gefühl des Mitleids verwandeln kann. Die bloße weite Öffnung des Mundes, – bey Seite gesetzt, wie gewaltsam und eckel auch die übrigen Theile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Mahlerey ein Fleck und in der Bildhauerey eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt thut.«52 Flecken und Vertiefungen aber sind dem idealistisch geprägten Menschenbild das, was der zeitgenössischen Kunst das Abjekte ist. Der Fleck und die Vertiefung verweisen auf Krankheit und Verfall, keinesfalls jedoch auf den unversehrten Körper.

Ästhetik und Anästhetik Nun darf man aber nach all diesen Schilderungen nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass nur das Vollkommene und Schöne in der Kunst zur Darstellung gelangt. Dies anzunehmen, verbietet sich von selbst, bedenkt man nicht nur die letzten 100 Jahre, sondern gleichfalls die vorausgehenden Jahrhunderte. Das Idealbild des Menschen wäre zweifellos in der Kunst wie auch sonst niemals ein tadelloses, würde es nicht durch sein Pendant, dem Hässlichen, vervollkommnet. Lediglich ein Vergleich beider vermag dem Einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen: das Ideal wirkt umso eindrücklicher, je mehr es aus seiner Umgebung hervorsticht, zumal, wenn sich darunter auch Hässliches befindet. Und umgekehrt ist auch die Hässlichkeit eine pointiertere, ist diese von Anmut und Reiz umzingelt. Eine Isolierung beider würde dem einen wie dem anderen kontraproduktiv entgegenwirken. Karl Rosenkranz, der dieses Phänomen in seiner Schrift »Die Ästhetik des Hässlichen« untersucht, gibt dabei zu bedenken, dass das Hässliche – ganz im Gegensatz zum Schönen – niemals in isolierter Form gerechtfertigt werden könne.53 Sofern es aber sogar den allgemeinen Gesetzen des Schönen in den Künsten vollkommen zuwiderhandele, müsse es in abgeschwächter und gereinigter Form in Erscheinung treten. Das Hässliche sei demnach Mittel zum Zweck und erweise sich in seiner moderaten Ausführung als probates Mittel, zu einem harmonischen Ganzen beizutragen.54 Darin stimmt Immanuel Kant mit Karl Rosenkranz und mit der griechischen Klassik überein. Kant hatte jedoch den Denkansatz über das Schöne und Ideale noch um einen weiteren Faktor erweitert: den der Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Er geht dabei nicht im Speziellen auf die Darstellung der menschlichen Figur in der Kunst ein, sondern befasst sich mit dem Schönheitsbegriff, wie er ihn aus der Natur herleitet. Von den Künsten, die diesen Begriff als Nachbildung greifbar machen, erwartet er dabei nicht, dass sie immerzu nach dem herkömmlichen Ideal streben. Vielmehr interessiert Kant für seine Definition des Schönen die intellektuelle wie emotionale Empfindung, die der 52 LESSING, S. 23. 53 »Eine […] Vereinzelung würde dem Häßlichen eine Selbständigkeit zugestehen, die gegen seinen Begriff ist, während das Schöne in der Malerei bis zum Stilleben herunter isoliert werden kann. […] Eben deshalb würde eine isolierte Darstellung des Häßlichen dem Begriff der Kunst widersprechen, weil es durch sie als Selbstzweck erschiene.«, in: ROSENKRANZ, S. 41 und S. 44. Winckelmann hatte ehedem notiert, dass »[s]chlechte Maler, die das Schöne aus Schwachheit nicht erreichen können, […] es in Warzen und Runzeln [suchen].«, in: WINCKELMANN, S. 120. 54 Vgl.: ROSENKRANZ, S. 44, sowie KANT, § 48 Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack, S. 199-200.

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Betrachter dem ästhetischen Gegenstand entgegenbringt. Nach Kant würde das äußere Erscheinungsbild, dessen Form und Gestalt, unsere Sinne in positiver oder negativer Weise ansprechen. Ohne dabei dessen Inhalt zu beurteilen, ohne also dessen Zweck abzuwägen, könnte so auch dessen Schönheitsgrad bemessen werden: »Um etwas gut zu finden, muß ich jederzeit wissen, was der Gegenstand für ein Ding sein soll, d.i. einen Begriff von demselben haben. Um Schönheit woran zu finden, habe ich das nicht nötig.«55 Um dies zu bebildern, nennt er das Beispiel der Rose, die wir nicht unbedingt zum Zwecke eines Bouquets oder ihres feinen Geruches wegen als schön empfänden, sondern uns gleichzeitig von der Rose an sich, will heißen der Gattung Rose als Blumengewächs, ein allgemeines Bild des Schönen machen, ohne den einzelnen Gegenstand – die einzelne, geschnittene Rose – zugleich einem bestimmten Zweck zuführen zu wollen.56 Entsprechend könne »das Schöne« nicht mit einem bloßen subjektiven Geschmacksempfinden zu begründen sein und sei ferner vom Begriff der Vollkommenheit abgekoppelt. Es geht also weiterhin um ein interesseloses, da keinen Zweck erfüllendes positives oder negatives Urteil über den ästhetisch wahrgenommenen Gegenstand: »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder ein Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.«57 Dieses interesselose Wohlgefallen neigt zu Missverständnissen. Es geriert sich kurz danach – ja, sogar noch während der Zeit der kantischen Erläuterungen – zu einer Rechtfertigung der Schönheit und ihres idealistischen Bildes, welches nunmehr als Standard gesetzt wird. Das sich an einer griechisch‐klassizistischen Norm orientierende Idealbild wird bis heute als »klassische« Schönheit geltend gemacht. Dabei ist man penibel darauf bedacht, dieses Schönheitsideal einmal mit dem von der Klassik eingeforderten natürlichen Erscheinungsbild korrelieren zu lassen, welchem es lediglich auf die Sprünge zu helfen gilt, indem man anhand einer eklektizistischen Auswahl das vollkommene Abbild zu erreichen sucht;58 zum anderen sollte diese Art des Vorgehens möglichst unter Verschluss gehalten werden, denn nichts ist der Natürlichkeit abträglicher, als wenn sie auf unnatürliche Weise zustande kommt. Paradoxerweise wird deshalb das Erreichen eines Schönheits-Standards im Geheimen praktiziert und qua Aneignung der Kantischen Formel von der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« zu einem scheinbar interesselos angestrebten Zustand des allseitigen Wohlgefallens.59 Ebenso wie man darüber ein Übereinkommen finden kann, dass sich lediglich der Inhalt dieser Standards über die Jahrtausende verändert hat, das Vorhandensein eines Schönheitsstandards jedoch immer gegeben war, gilt dieser Konsens auch für eine damit einhergehende Normierung dieses Standards: die Norm an sich ist dem Wandel unterlegen, die fortwährende 55 KANT, § 4 Das Wohlgefallen am Guten ist mit Interesse verbunden, S. 53. 56 Vgl.: KANT, § 8 Die Allgemeinheit des Wohlgefallens wird in einem Geschmacksurteile nur als subjektiv vorgestellt, S. 64. 57 KANT, § 5 Vergleichung der drei spezifisch verschiedenen Arten des Wohlgefallens, S. 58. 58 Vgl. hierzu nochmals SCHILLER, S. 47. 59 Vgl.: DAVIS, S. 53. Diese Regel beginnt sich geschlechter‐unabhängig zu verbreiten. Auch hier haben allerdings Frauen einen historischen »Vorsprung«, indem einmal vor allem für das »schöne« Geschlecht die Standards einzuhalten waren und sich zum anderen tatsächliche physische Eingriffe in dieses Schönheitsbild auf eine längere Tradition berufen können.

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Existenz einer Norm ist aber keinesfalls zu bezweifeln. Die nur scheinbar gelebte Indifferenz gegenüber der reglementierten Schönheit, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zu keiner Zeit eine absolut freiwillig motivierte Wahl gab, sondern bis heute das Erfüllen einer Konformität angestrebt oder eben auch kritisiert wird.60 Entsprechend muss das Ideal der Schönheit unter zweierlei Gesichtspunkten diskutiert werden: als ein den natürlichen Zustand und das Vergehen der Zeit unterdrückendes Ideal und als einen kulturell sich weiterentwickelnden Diskurs, der unsere Vergänglichkeit betrifft. Hierunter fallen die aktuellen Diskussionen zu einer biologischen Norm, deren Gesetzmäßigkeit einer – in alle Richtungen, also zeitlich ebenso wie formal – natürlichen Begrenztheit man seit geraumer Zeit sowohl auf einer lebenswissenschaftlichen (Gentechnologie) wie kulturwissenschaftlichen (Genetic Art/Bio Art) Ebene in Zweifel zieht. Auch hier ist zunächst das Maß aller Dinge die normierte und einem Schönheitsideal folgende menschliche Figur, deren Glaubwürdigkeit für die Zukunft auf den Prüfstand gestellt wird. Angestrebtes Ziel der Wissenschaften und der Künste ist es, die Akzeptanz gegenüber derzeit noch als atypisch geltenden Lebensformen und deren uneinheitlichem Äußeren zu beschleunigen und intensivieren, da die Einordnung in normative und abartige Kategorien bislang de facto zu einem Erhalt des bestimmenden menschlichen Ideals beigetragen habe. Auch hier verteufelt man nicht die Anwesenheit einer reformierten Norm an sich. Schließlich geht man davon aus, dass der gentechnologisch gestalt- und veränderbare Mensch für jedermann positiv nutzbare Konsequenzen zeitigt. Man glaubt aber gleichwohl daran, dass der Einstieg in eine junge und flexiblere Kategorisierung von Schönheit und Vollkommenheit erneut in einer modernisierten Generation von Normen münden wird.61 Diese neue Generation von Normen, die aus heutiger Sicht das Groteske und das Vollkommene umschließen, vielleicht sogar in sich einen wird, lässt an die anfänglich genannte Überlegung von Karl Rosenkranz zurückdenken: »Der Begriff des Häßlichen als das Negativschöne, macht also einen Theil der Aesthetik aus.«62 Damit relativiert sich zwar nicht der Begriff des Schönen in seinen eng bezifferbaren Grenzen des jugendlich fitten, makellos glatten, hellhäutigen und unversehrten Körpers, aber das Hässlich-Groteske wird in seiner Abhängigkeit zur Norm gerechtfertigt, indem es dadurch seine Existenzberechtigung erhält: »Das Schöne ist die positive Bedingung seiner Existenz und das Komische ist die Form, durch welche es sich, dem Schönen gegenüber, von seinem nur negativen Charakter wieder erlöst. Das einfach Schöne verhält sich gegen das Häßliche schlechthin negativ, denn es ist nur schön, so weit es nicht häßlich ist, 60 Kathy Davis hierzu: »[I]ndividuals are encouraged to seek their salvation through altering their appearance. (»You are the way you look.«). […] The notion of Nature‐as-the‐ultimate-constraint is replaced by Nature‐as-something‐to-be‐improved-upon. […] Cosmetic surgery allows us to transcend age, ethnicity, and even sex itself.«, in: DAVIS, S. 18. 61 Vgl. Kapitel V.3 sowie Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 9. Eduardo Kac verweist im Rahmen dessen auf Edward Steichens neuartige Züchtung des Rittersporns, die es 1936 zu einer musealen Ausstellung im MoMA in New York brachte. Auch heute noch können die vom Künstler als Hybride hergestellten Pflanzensamen käuflich erworben werden: 30 Samen kosten in den USA $ 3.95. Vgl: www.burpee.com/perennials/delphinium/delphinium‐connecticut-yankee‐prod099545.html [zuletzt aufgerufen am 08. August 2016]. 62 ROSENKRANZ, S.III.

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und das Häßliche ist häßlich nur, so weit es nicht schön ist. Nicht als wenn das Schöne, um schön zu sein, des Häßlichen bedürftig wäre. Es ist schön auch ohne seine Folie, aber das Häßliche ist die Gefahr, die ihm in ihm selber drohet, der Widerspruch, den es durch sein Wesen an sich selber hat. Mit dem Häßlichen ist es anders. Es ist, was es ist, empirisch freilich durch sich selber; daß es aber das Häßliche ist, das ist nur möglich durch seine Selbstbeziehung auf das Schöne, an welchem es sein Maß besitzt. Das Schöne ist also, wie das Gute, ein Absolutes, und das Häßliche, wie das Böse, ein nur Relatives.«63 Was aber, wenn sich dieser Widerspruch in Zukunft auflösen würde? Wenn man – wie Tolstoi in seinen Überlegungen zur Kunst – an der Klarheit und Vollständigkeit des Schönheitsbegriffes zu zweifeln beginnt?64 Was, wenn dieser scheinbar so absolute Begriff, mit dem sich das Schöne bislang mit Überzeugungskraft schmücken lässt, genauso wie der relative Begriff, den man sich gemeinhin von der Hässlichkeit macht, sich bei weitem weniger fremd sind oder einander verneinen? Was, wenn es dennoch Berührungspunkte zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Guten und dem Bösen, dem Vollendeten und dem Unfertigen, dem Beherrschten und dem Ungehaltenen, dem Versehrten und dem Unversehrten gibt. Wenn entsprechend das Absolute des Schönen und das Relative des Hässlichen einander näher sind als gedacht?

Das Sublime Trägt man die vielschichtigen Aspekte eines Schönheitsbegriffes zusammen, wie er seit Jahrhunderten geprägt wird, dann ist das, was die Welt und den Menschen darin schön im Sinne von begehrenswert, beeindruckend und lebenswert macht, nicht der eng gefasste Begriff, wie er in eben geschildertem klassischen Schönheitsideal aufgeht. Die ihn beengenden Aspekte wurden zahlreiche Male ergänzt um das Mystische, den Genuss, das alle Sinne Erfreuende, das Unfertige, das »als etwas Unbestimmtes und deshalb Philosophie, Religion, das Leben selber in sich Einschließende«65 . Und nicht zuletzt gelangte man zu der Erkenntnis, dass es nicht das Schöne allein ist, was uns das Ideal des Lebens anschaulich zu machen vermag, sondern ein Schönheitsbegriff, dem zugleich etwas Gewaltsames, sogar Grausames innewohnt: Das Erhabene. Das Schöne und das Erhabene fallen dabei mitnichten in eins – und dies nicht erst seit Kant. Denn schon Edmund Burke bemerkte: »It is my design to consider beauty as distinguished from the sublime.«66 Kant führt den Begriff des Sublimen fort, indem er kurz und knapp dessen innerste Eigenschaften in einer »Namenerklärung des Erhabenen« fasst: »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.«67 Und er setzt wenig später hinzu: »Das Erhabene ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.«68 Folgt man Kants Überlegungen 63 64 65 66 67 68

ROSENKRANZ, S. 8 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. TOLSTOI, Leo, Was ist Kunst? (1898), Leipzig 2006, S. 71. TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 71. BURKE, S. 87. KANT, § 25 Namenerklärung des Erhabenen, S. 113. KANT, § 26 Von der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist, S. 120.

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weiter, so entwickelt er zur Charakterisierung des Erhabenen eine große Gemengelage aus scheinbar so widersprüchlichen Gefühlseindrücken wie dem Wohlgefallen und dem Abgestoßen-Sein, der Lust und dem Ekel, der Bewunderung und der Bangigkeit, der Begrenzung und der formlosen Unbegrenztheit, der Freiheit und der gewaltsamen Enge, der Todesferne und der Todesnähe. Der Katalog an schier unvereinbaren, jeweils an sich überwältigenden Emotionen, könnte weitergeführt werden analog der zahlreichen Beispiele, die Kant hierfür bereithält und etwa in der Baukunst, aber vor allem angesichts der Naturgewalten verortet sieht.69 Dabei sei weiterhin der Grundsatz der Zweckmäßigkeit ohne jeglichen Zwecks zu beherzigen, da eine gedankliche Reflexion des Erhabenen – wie ehedem im Falle des Schönen – keinesfalls auf einem logischen Urteil oder der Feststellung eines Sinnzusammenhanges des betrachteten Gegenstandes basiere.70 Seine für das Schöne und das Erhabene paarweise geordneten Dichotomien rechtfertigt Kant, »indem dieses (das Schöne) directe Gefühle der Beförderung des Lebens bei sich führt und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; jenes aber (das Gefühl des Erhabenen) eine Lust ist, welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß die durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung, derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist; und indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust, als vielmehr Bewunderung oder Achtung enthält, d.i. negative Lust genannt zu werden verdient.«71 Das Leben hält beides zu gleichen Teilen für uns bereit: den Reiz am Erhabenen und Schrecklichen und unser gleichzeitiges Entsetzen darüber, ebenso wie die Lust am Schönen, gepaart mit dem Überdruss daran. Es muss daher unzweifelhaft festgehalten werden, dass Schönheit alleine der Vollkommenheit nicht genüge tut. Um einem allumfassenden Menschheitsbild gerecht zu werden, muss sich das Erhabene dem Schönen beigesellen. Nun ist aber das weiter oben gezeichnete Bild eines organlosen Körperideals heute noch unausgesprochener Konsens, ein Tabu, das nicht gebrochen werden soll und will. Es wurden in diesem Kapitel einige der grundlegenden historischen Bestände erörtert, die zu dieser bis in die Jetztzeit gültigen Übereinkunft führten. Die hierfür angewandte Ausführlichkeit in der Zitation der einzelnen Textpassagen war notwendig, um die vielfachen, wenngleich einhelligen Stimmen zum Thema wahrnehmen und vergleichen zu können. Die herangezogenen einschlägigen Quellen bürgen darüber hinaus für die Glaubwürdigkeit und das Durchsetzungsvermögen eines Schönheitsbegriffes, der seit Jahrtausenden wirkt. Denn nur die überdauernde Meinung der großen Namen und Zeitzeugen kann eine Begründung dafür liefern, warum und wie sehr der Inbegriff des 69 KANT, § 26 Von der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist, S. 116, sowie § 28 Von der Natur als einer Macht, S. 127ff. Die Liste an Beispielen führt von den ägyptischen Pyramiden und der Peterskirche in Rom bis hin zu den rohen Naturgewalten. 70 »Das Schöne kommt darin mit dem Erhabenen überein, daß beides für sich selber gefällt.«, in: KANT, § 23 Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen, S. 105. 71 KANT, § 23 Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen, S. 105. Vgl. auch Kapitel VI.3.

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Idealen einerseits von den nachfolgenden Generationen beachtet und bis heute mehr denn je in die Tat umgesetzt wird und andererseits von der Wissenschaft und den Künsten auch konterkariert und damit in Frage gestellt wird. Die ausgewählten Darlegungen bereiten den Boden für eine jeweils grundsätzliche Parteinahme, sich entweder für das Vollkommene und Schöne oder aber das Erhabene auszusprechen: »On closing this general view of beauty, it naturally occurs that we should compare it with the sublime; and in this comparison it appears a remarkable contrast; for sublime objects are vast in their dimensions, beautiful ones comparatively small; beauty should be smooth and polished; the great, rugged, and negligent; beauty should shun the right line, yet deviate from it insensibly; the great, in many cases, loves the right line; and when it deviates, it often makes a strong deviation: beauty should not be obscure: the great ought to be dark and gloomy; beauty should be light and delicate: the great ought to be solid, and even massive. They are, indeed, ideas of very different nature, one being founded on pain, the other on pleasure.«72 Was also, wenn sich das Ideal nicht mehr nur in einem glatten, formvollendeten, wohlproportionierten, geschlossenen und damit unversehrten Körper zeigt? Die drei sich anschließenden Kapitel mit Künstlerstudien zu ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider werden sowohl die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede zwischen dem unversehrten Ideal und der versehrten Groteske des Körperdramas darlegen. Die Künstler spüren dabei nichts Geringerem nach als der Idee des Erhabenen, dem, was es bedeutet, einen Körper zu haben und gleichzeitig Leib zu sein. Beides – das Erleben des Erhabenen wie der Körper-Seele-Konflikt – erfordern die Gratwanderung an der Grenze. Ebenso wie beide, das Tabu und der Tabubruch – das liegt in der Natur der Sache –, zur Übertreibung und in ihrer Konsequenz zu einer existentiellen Grenzerfahrung neigen.

III.2 ORLAN – Der abjekte Körper »On the Sublime: Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger; that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.«73 Was Burke hier zur Disposition stellt, trifft auf das Werk der französischen Künstlerin ORLAN zu. Nicht sie selbst unterwirft sich dabei dem Terror und dem Schmerz – was angesichts ihrer künstlerischen Darbietungen kaum fassbar erscheint –, sondern es sind wir, die Betrachter, die wir des andächtig und zugleich fassungslos stimmenden Erhabenen in Form eines uns terrorisierenden und überwältigenden Eindrucks von visueller Körper- wie Leiberfahrung im Oeuvre von ORLAN ansichtig werden. Die von der Künstlerin energisch herausgeforderte Konfrontation mit ihrem und damit gleichzeitig unserem eigenen In‐der-Welt-Sein mit all seinen Hinfälligkeiten und der gleichzeitigen 72 BURKE, S. 127-128. 73 BURKE, S. 33.

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Aussicht auf Überwindung unserer physischen wie geistigen Begrenztheit, ist dem Rezipienten – trotz der aufgezeigten vielversprechenden Denkansätze – in erster Linie eine Belastungsprobe. ORLAN gewährt hierfür sprichwörtliche Einblicke in ihren Körper, dessen medizinische Präsenz insbesondere in La Réincarnation de Sainte ORLAN zu Tage tritt. Es wäre jedoch verkehrt, sich in diesem Zusammenhang nur auf die in der Literatur am häufigsten verwertete Aktion der Künstlerin zu beziehen, denn ORLANs Oeuvre wird gespeist von einem holistischen Vokabular, welches die Medizin samt zukunftsweisender Ausblicke in die Gentechnologie, die Religion, die Psychoanalyse, die Kunstgeschichte und den sozialen wie seelischen Aspekt des Körperlichen umfasst. Obwohl die Künstlerin in der Literatur dabei oftmals als »scalpel slave«74 der Schönheitschirurgie verkannt wird, zeigt sie die ihrem vermeintlichen Streben nach dem Ideal beiwohnenden »unschönen« Seiten der medizinischen Eingriffe, die – obwohl sie im Normalfall dem Zweck der Verschönerung dienen – alles andere als ein ästhetisches Wohlgefallen erwecken, solange sie im Gange sind. ORLANs Schaffen bricht mehrfach Tabus. Sie blickt bei vollem Bewusstsein in ihren eigenen geöffneten Körper und führt uns diesen – und damit wiederum unseren eigenen – Körper vor, der allen religiösen Heilsversprechungen spottet, denn wir sehen, dass er – wie von der Natur vorgesehen – verweslich, voller Organe und unfertig ist. Er verbindet sich mit der Außenwelt und der Zukunft, denn ORLAN extrahiert aus ihm Reliquien, um zu überleben und in künftigen Leibern und Genen weiter zu existieren. Ihre ekstatische Freizügigkeit entbehrt dabei jeglicher Schranken, verortet sich an der existentiellen Grenze zwischen Körper-Haben und Leib-Sein. Innen und Außen, Oben und Unten, Ekstase und Agonie, göttlicher Schöpfungsplan und genetische Manipulierbarkeit vermischen sich bis zur Unkenntlichkeit. ORLAN entwickelt sich zu einer Stilikone des grotesken Körpers, der uns allen zu eigen ist. Sie macht begreiflich, dass der menschliche Organismus abjekt ist, aber man sich nicht nur daran gewöhnen, sondern diesen tolerieren muss und kann. Die Künstlerin inszeniert so Bachtins Gedanken des werdenden Körpers, der in eine neue Zeit- und Raumdimension eingehen wird. Dieses von ORLAN sichtbar gemachte Abjekte, vor dem wir uns automatisch ängstigen, weil es absichtsvoll und unwiderruflich unsere Existenz gefährdet, ist jedoch auch das Innerste, das den Mikrokosmos unseres individuellen Körpers wie auch den überzeitlichen Makrokosmos der Welt zusammenhält. Ob wir wollen oder nicht, ist das Abjekte in uns existenzfördernd. Und dennoch ekeln wir uns davor. Das Ekelige betäubt den Intellekt, es betätigt Reflexe. Diese uns erfüllende affektive Abscheu ist ein erlernter Reflex, dessen Erwerb laut Freud nach einer kindlichen Phase der Ekellosigkeit einsetzt.75 Der Ekel ist dem Menschen also nicht angeboren und auch das Abjekte ist dem klassischen Schönheitsideal in der Kunst zunächst fremd. Beides – der Ekel und das Abjekte – hat sich aber ein ambivalentes Moment bewahrt: ihren abschreckenden und 74 »For all her efforts of exposing plastic surgery as a lengthy, laborious, imprecise, and imperfect process rather than a quick and easy end result, Orlan has been pronounced a hysteric, a narcissist, a fetishist, a scalpel slave (or polysurgical addict), and even a sufferer of Body Dysmorphic Disorder, a recent psychiatric nomination to describe extreme obsessions with body parts and faciality.«, in: Tanya Augsburg, »Orlan’s Performative Transformations of Subjectivity«, in: PHELAN, Peggy und Jill Lane (Hgs.), The Ends of Performance, New York 1998, S. 285-314, hier S. 291. 75 MENNINGHAUS, S. 330.

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drohenden Funktionen wohnt immer auch das makaber Lockende und eine eigenartig einladende Herausforderung bei.76

Der Ekel vor dem Abjekten Während der Ekel seit jeher eine kontinuierliche Rolle im Leben des Menschen spielt, hat sich die Komponente des Abjekten in der Kunst erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Der Ekel ist ein Phänomen, das dem Menschen seit jeher zu eigen ist. Das Abjekte in gewissem Sinne auch, jedoch bewirkt seine verhältnismäßig junge Begrifflichkeit und Neuverortung im Kontext der Kunst eine bislang unbeanspruchte, bewusstere Sicht auf das Wesen dessen, was in uns Ekel zu erzeugen vermag. In gebotener Kürze soll an dieser Stelle daran erinnert werden, »dass die panischen Abstoßungs- und Auswurfakte, durch die wir unsere Grenzen gegen ein bedrohliches Außen sichern, relativ junge Zivilisationstatsachen sind.«77 Unsere heutigen Ekelreaktionen vor dem Abjekten sind historisch geformt und haben seit geraumer Zeit nichts mit den ehedem lockeren Körpergrenzen zu tun, wie sie noch in der Antike und in Rabelais’ grotesken Schilderungen frenetischer Feierlichkeiten zu Tage traten. Philosophische gepaart mit medizinischen Betrachtungen machten nicht einmal vor den Tischgesprächen halt. Der Tradition des klassischen Altertums folgend, spricht man gerade dann von den Körperöffnungen, wenn diese durch die lebenserhaltenden Genüsse gefüllt und nachher wieder entleert werden müssen: beim Essen. Die Themen kreisten um das Wesen des unvollendeten Körpers, dessen Unzulänglichkeiten, Krankheiten und diesbezügliche Methoden der Heilung, was gleichzeitig Eingang in die Wissenschaftsliteratur der Antike fand. Keine der existenzgefährdenden wie existenzfördernden Funktionen wurde ausgelassen, »die Aufmerksamkeit richtet sich immer auf den Austausch zwischen Körper und Welt, große Bedeutung wird den Ausscheidungen beigemessen.«78 Urin, Kot und Erbrochenem wurde damals keineswegs ein einseitig abjekter Charakter zugesprochen, denn diese machen den Körper umso greifbarer, vor allem aber deutbar – besonders in medizinischer Hinsicht. Darüber hinaus gelten Exkremente wie Urin und Kot als »heitere Materie«, insofern sie einerseits mit dem Meer, andererseits mit der Erde attribuiert werden, beide Male »kosmische Elemente«, die den Kreislauf des Lebens in sich tragen. Die uns als abjekt geltenden Absonderungen »machen [die Welt] körperlich‐begreifbar, denn diese Materie und dieses Element werden vom Körper selbst produziert und ausgeschieden. Urin und Kot verwandeln kosmisches Entsetzen in Karnevalsheiterkeit.«79 Deshalb auch die zahlreichen, uns als zotig anmutenden Verweise auf alles, was den Unterleib betrifft. Eine entsprechende Wortwahl und Gesten der Erniedrigung konnten auch damals zu Zwecken des Degradierens eingesetzt werden, meinten aber im überwiegenden Fall die ambivalente Zweitbedeutung und den gleichzeitig positiv konnotierten Sitz der Geschlechtsorgane als Ort der Befruchtung 76 Vgl. hierzu u.a.: KOLNAI, Aurel, Der Ekel, Tübingen 2 1974, S. 130 und S. 132, sowie MENNINGHAUS, S. 29. 77 Ulrich Raulff, »Chemie des Ekels und des Genusses, in: KAMPER, S. 241-258, hier S. 243. 78 BACHTIN, S. 398. Michail Bachtin verweist an dieser Stelle auf die Schriftensammlungen von Plinius, Athenaios, Macrobius, Plutarch und Hippokrates, die Rabelais für seine Groteske als Vorbild dienten. 79 BACHTIN, S. 377 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin].

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und Geburt, des Glücks und der Erneuerung.80 Daher so häufig der Hinweis auf den offenen, noch im Werden befindlichen Menschen, dessen groteskes Motiv – sein Innenleben – offenherzig und freizügig thematisiert und gezeigt wird: das Blut und seine Laufbahnen, das Herz und weitere Organe, die Gedärme samt der darin stattfindenden gärenden Prozesse.81 Dem gegenüber gibt sich das klassische Körperideal geradezu sittsam bedeckt, was im Rahmen der Psychoanalyse zu folgendem Schluss führt: »Une fois pelées, il n’y a plus de corps.«, heißt es da bei Eugénie Lemoine-Luccioni.82 Die Negation des unter der Haut liegenden Horrors. Dasjenige, was sich unter dieser den Körper schützenden, aber zugleich verhüllenden Haut abspielt, muss im Verborgenen bleiben und gilt als unaussprechlich, vor allem aber als unansehnlich. »Allgemein gültig ist der Ekel gegen das – wahrnehmbar gewordene – Innere des Leibes, das Blut mitinbegriffen. Darin aber mischt sich Grausen, Angst, Bewegtheit usw. Die Beziehung des ›geöffneten‹ Körperinneren – wie überhaupt jeder auffallenden Hüllenlosigkeit – zu Verwesung, Fäulnis, ungeordnetem ›Zutageliegen‹ von Lebenserscheinungen, Lebens-›Gewirr‹, bedarf keiner besonderen Erläuterung.«83 Was Kolnai hier behauptet, ist nicht ganz richtig. Denn die von ihm als selbstredend vorausgesetzte Begründung führt uns nicht nur von der freizügigen Groteske bei Rabelais hin zu einem idealistischen Körper, der jeglichen inneren Rumorens zu entbehren scheint, sondern vor allem auch – in einer umgekehrten Stoßrichtung – von der gottesfürchtigen Gesellschaft hin zu einer, die den Teufel nicht mehr scheut. Denn zeitgleich zu den grotesken Gepflogenheiten der ungehinderten Körperdarstellungen, fürchtete man dennoch das Böse, welches in einem sich anbiedernden und Verheißung versprechenden Antichristen daherkommt. Dieser wurde seit dem 15. Jahrhundert nicht selten in Gestalt von – wenn auch im Versteckten oder auf seiner dem Betrachter abgewandten Seite – hautlosen und die nun sichtbaren verwesenden Organe preisgebenden Skulpturen wiedergegeben. Lediglich die frontale Gestik ist eine verführende. Die Rückansicht 80 Vgl.: BACHTIN, S. 190. Bachtin verweist in diesem Zusammenhang auf das französische Sprichwort »Si Dieu y eust pissé« (Als hätte Gott gepinkelt), welches den solcherart gesegneten Stellen besondere Bedeutung zumisst. Dies entspräche auch dem Johannesevangelium: Da er solches gesagt, spützte er auf die Erde und machte einen Kot aus dem Speichel und schmierte den Kot auf des Blinden Augen (Johannes 9,6; ähnlich zu lesen bei Markus 8,23). 81 Vgl.: BACHTIN, S. 359. Für die Kunst der Moderne würde Piero Manzonis Merda d’Artista dem Gedanken der »heiteren« Ausscheidungen entsprechen, indem er seine im Mai des Jahres 1961 selbst generierten und in 30-Gramm-Dosen abgefüllten Künstler-Exkremente zum Verkaufspreis des jeweils aktuellen Goldkurses anpries. Die Konserven besitzen einen abjekten Charakter und verweisen darüber hinaus unter anderem auf den vergoldeten Wert sowohl des Materials als auch des Künstlers selbst. Vgl. hierzu: OETTL, Barbara, Weiß in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Studien zur Kulturgeschichte einer Farbe, Regensburg 2008, S. 209ff. Unter den zeitgenössischen Künstlern sei hier an Wim Delvoy erinnert, der im Jahr 2000 eine Maschine baute, die den menschlichen Verdauungstrakt nachahmte: seine Cloaca Original produziert Exkremente, deren Entstehung in durchsichtigen Behältnissen nachvollziehbar wird. Der Maschine werden regelmäßig warme Mahlzeiten gefüttert, die durch das Hinzufügen von Chemikalien bei entsprechenden Körpertemperaturen zu Kot verdaut werden. Die Resultate werden vakuumiert zum Verkauf angeboten. 82 LEMOINE-LUCCIONI, Eugénie, La robe: Essai psychoanalytique sur le vêtement, Paris 1984, S. 98. 83 KOLNAI, S. 148.

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offenbart ein Hervorquellen von Fleisch und Blut, Fäulnis und Tod, ein wahrlich ungesundes Herausfluten der Verdammnis. Dem Körperinneren wird also ehedem sowohl mit Heiterkeit als auch – angesichts der verrottenden Symbolträchtigkeit eines Luzifers – mit einem ehrfürchtigen Schauder begegnet. Die moderne Gesellschaft fürchtet dahingegen nur noch die Fäulnis der zersetzenden Prozesse der Vergänglichkeit, jedoch nicht mehr die Verdammung eines intakten Körpers zum Zeitpunkt des Jüngsten Gerichtes, welches in eine ideelle Ewigkeit münden könnte. Die groteske Welt Rabelais’ glaubte sich in leiblicher wie in seelischer Hinsicht gerettet: der Körper verbleibt als Materie Teil des irdischen Kreislaufes und die Seele fährt – bei rechter Lebensführung – auf in ein himmlisches Dasein. Der Mensch der Moderne aber fürchtet sich vor dem Verlust einer idealen Körpernorm, führt einen Kampf gegen den ihm eigenen abjekten Körper, weil ihm eine Vorstellung von und der von den Wissenschaften negierte Glaube an eine wie auch immer geartete Erlösung nach seinem irdischen Sein abhandengekommen ist. Was bleibt, ist der Ekel in Form der Verneinung und Furcht vor – nicht etwa des Bösen, sondern – der Vergänglichkeit des Leiblichen und zwar sowohl als gottloser Sünder, bereuender Büßer oder aber als wohltätiger und mitfühlender Gutmensch. Das einzige, was ihm der geöffnete Körper mitzuteilen vermag, ist der Fakt seiner Sterblichkeit. Nicht nur angesichts der darin sich befindlichen verweslichen Organe und deren zeitlich begrenzter Funktionen, sondern auch, weil nur ein toter Körper diesen visuellen Zugang zu ermöglichen in der Lage ist. In Anbetracht der diesbezüglichen – und zwar sprichwörtlichen – Darbietungen einer ORLAN, hat unsere Körperhülle nicht mehr alleine den Sinn, unsere Organe und Dasein zusammen- und damit am Leben zu erhalten, sondern uns die Einsicht in ein uns schützendes und zugleich verletzbar machendes Körperteil zu gewähren. Ein Organ, das unsere identitätsstiftenden Merkmale – wie zum Beispiel im Gesicht – trägt und uns zugleich angreifbar macht, im übertragenen wie im taktilen Sinne. Ein Organ, das wegzulassen unser Körper in der Welt nicht zulässt, aber die heutige Medizin ermöglicht. Oder wie Roland Barthes formuliert: »Hautlos. Besondere Sensibilität des liebenden Subjekts, die es verwundbar macht, den leichtesten Verletzungen bis ins Innerste ausgesetzt.«84 Suchen wir die Verbindung zwischen Barthes’ Worten zu ORLANs Körper und den ihn offenlegenden operativen Eingriffen, so wird man aus zeitgenössischer Sicht im besten Fall von Wunden sprechen. Diejenigen Wunden aber, die nicht sogleich an den toten Körper gemahnen, sind uns ebenfalls abjekt, denn auch sie verweisen auf das weiter Darunterliegende. Für Menninghaus sind deshalb Wunden semantisch aufgeladen und Fingerzeige auf einen ihnen vorausgehenden Akt der Gewalt, der in der Verwundung, Zerstückelung, im Alter und im Tod mündet. Den mit der Wunde verbundenen Sekreten schreibt er die folgende Abwehrreaktion zu: »Blut und Eiter sind die ›ekelhaften‹ Ausflüsse einer ›ekelhaften‹ Wunde; das Wundmal ist Makel der geschlossenen Hautfassade und Erinnerung an den darunter tobenden Chemismus.«85 Indem das Abjekte nicht nur über das Auge seinen Vermittler findet, sondern von allen unseren Sinnesorganen übertragen wird, wohnt gerade der Wunde und demzufolge auch dem ge84 BARTHES, Roland, Fragmente einer Sprache der Liebe (1977), Frankfurt a.M. 1984, S. 124. 85 MENNINGHAUS, S. 123.

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öffneten Körper ein hohes Maß an Ekelpotential inne. Neben dem Sehsinn, sind es das Gehör, der Geruchs- beziehungsweise Geschmackssinn und der Tastsinn, welche den Gesamteindruck des Abjekten erzielen.86 ORLANs Inszenierung des offenen Körpers, wie er in La Réincarnation de Sainte ORLAN gezeigt wird, die Performances und die dem klassischen Gattungsrepertoire entstammenden Fotoarbeiten von Hannah Wilke sowie einige der Installationen von Gregor Schneider rühren an die gesamte Bandbreite unserer Sinnesorgane.87 Dasjenige, was wir hierbei wahrnehmen, weckt Erinnerungen, lässt uns aber vor allem in die Zukunft blicken, weswegen »die Metaphern des Ekels […] so gefährlich [sind], weil sie zugleich Metonymien der ›allerdunkelsten Sinne‹ sind.«88 Was uns anekelt, werden wir in mehrfacher Hinsicht nicht mehr los: es dringt über unsere Sinne in unser Innerstes und wird gedanklich kurzgeschlossen mit dem, was wir sind oder einst sein werden: ungeordnet wimmelnde, sich ungerichtet bewegende und wieder befruchtende sowie keineswegs geruchsfreie Materie. Und dennoch weckt der Ekel in uns nicht zuallererst Hass oder etwa Angst. Laut Kolnai nimmt er in etwa die Mittellage zwischen diesen beiden extremen Gefühlspolen ein: Ekel funktioniert als Provokation! »Während nämlich die Angst ihr Objekt als etwas Bedrohliches, etwas ›Stärkeres als sich selbst‹ intendiert […], ist in der Ekelintention eine gewisse Geringschätzung ihres Objekts, ein Gefühl der Überlegenheit enthalten. Das Ekelhafte ist prinzipiell etwas nicht Drohendes, sondern S t ö r e n d e s, wiewohl eine bloße Störung an sich bei keinerlei Steigerung Ekel erzeugen wird. Als ekelhaft wird immer ein Ding empfunden, das nicht für voll genommen, nicht für wichtig gehalten wird: etwas, das man weder vernichtet noch flieht, sondern vielmehr hinwegräumt. Mit anderen Worten: werde ich durch Angst zunächst dazu gedrängt, mich aus meiner Umgebung, meiner Verumständung, meiner Lage zurückzuziehen, so will mich Ekel vielmehr dazu bringen, meine Umgebung, meinen Nähekreis zu säubern und etwas daraus auszujäten.«89 Ein Verräumen des Ekels entspricht dabei dem ebenfalls auszumerzenden Gedanken an die eigene Verderbnis, denn: es sind ja bekanntermaßen immer die Anderen, die sterben. Der tückische Hinterhalt, der sich dabei auftut, ist, dass sowohl die eben geäußerte Verdrängung der Sterblichkeit als auch ein rationales Verhalten gegenüber dem Ekeligen kein aktiv lenkbares oder reibungslos abrufbares Handeln bedeutet. Denn beides – das Wissen um den eignen Tod wie auch der Ekel – überkommt uns ungefragt und ist in Intensität wie Dauer nicht kontrollierbar. Menninghaus beschreibt den Ekel denn auch zurecht als Initiator »denkbar[] große[r] Gewalten: er ist der affektive Operator elementarer zivilisatorischer Tabus und sozialer Fremd‐eigenDifferenzen.«90 Das heißt, dass dem Ekel gleich mehrere Warnsignale zuzüglich seiner provozierenden wie widerwärtigen visuellen, haptischen und olfaktorischen Charakteristika zu eigen sind. Damit übernimmt der Ekel eine wichtige Funktion: er sorgt für 86 KOLNAI, S. 137ff. 87 Gregor Schneiders Arbeiten involvieren insbesondere auch die so genannten Nahsinne wie Fühlen und Riechen. Menninghaus begründet die Nase vollkommen richtig als ein die Nahsinne ansprechendes Organ, da, obwohl sich Gerüche weitläufig verbreiten können, diese ganz intensiv an uns herantreten, indem wir sie einatmen. Vgl.: MENNINGHAUS, S. 60 88 MENNINGHAUS, S. 62. 89 KOLNAI, S. 130. 90 MENNINGHAUS, S. 8.

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eine heftige Abwehrreaktion, sobald die Grenzen des Individuums in Auflösung begriffen sind.91 Eine letzte dem Ekel anhaftende, zunächst vollkommen absurd erscheinende Reaktion auf denselben muss an dieser Stelle Erwähnung finden: seine makabre Anziehungskraft. Die Provokation des Ekels kommt nicht nur einer Aufforderung gleich, der man – wie eben gehört – aktiv entgegnen möchte. Ekeliges fordert zuallererst unsere augenblickliche und ungeteilte Aufmerksamkeit ein. Menninghaus spricht von einer »unterbewussten Attraktion« bis hin zu einer »offenen Faszination«, ich möchte hinzufügen, ein voyeuristisches Interesse, welches wir dem Ekeligen entgegenbringen.92 Dies ist eine vielfach intensivere Regung als diejenige, die Kant für ein interesseloses Wohlgefallen oder Missfallen für die Schönheit einerseits und die Hässlichkeit andererseits feststellen konnte. Denkt man dafür zurück an diejenigen Definitionen, die dem Erhabenen zugrunde liegen, nähern wir uns erstaunlicherweise auch dem Gegenstand des Ekligen: Abschreckung und Verlockung, Bedrohung und Abwehr, Vernichtung und Zeugung kennzeichnen das so gesehen kokette Verhältnis zum Ekel. Und so wundert es wenig, dass auch Aurel Kolnai den Ekel sowohl dem Leben als auch dem Tod zugehörig beschreibt: »Grob gesprochen stellt sich die Anfechtung im Ekel inhaltlich auf die Weise dar, daß der Gegenstand für das Subjekt zugleich Leben und Tod (letzteren im endgültigen, überwölbenden Sinne) bedeutet und beides dicht an dasselbe heranträgt. […] Die im Ekelhaften gegenwärtige Todesfratze mahnt uns an unsere eigene Todesaffinität, unsere Todesunterworfenheit, unsere geheime Todeslust: also nicht wie der Totenkopf mit der Sanduhr, an die rein daseinsmäßige Unentrinnbarkeit des Todes, ähnlich der erbarmungslos herannahenden Hinrichtungsstunde eines zufällig zum Tod Verurteilten, sondern an unsere W e s e n s botmäßigkeit dem Tod gegenüber, den Todessinn unseres Lebens selbst, unser Bestehen aus todgeweihter, man könnte sagen todestrunkener, verwesungsbereiter Materie. Das Ekelhafte hält uns keine Sanduhr, sondern einen Vexierspiegel vors Auge; und nicht den Totenschädel in seiner trunkenen Ewigkeit, sondern gerade das, was am Totenschädel nicht mehr dran ist, in seiner triefenden Verwesung.«93 Einen solchen Vexierspiegel hält uns auch ORLAN vor Augen. All das, was eben über den Ekel gesagt wurde, ist auch für das Abjekte festzustellen. Dass das Abjekte und in seinem adjektivischen Gebrauch abjekt Seiende seit 1980 als Vokabular den kunstkritischen Diskurs bereichert, bedeutet entsprechend keine neue Leitchiffre94 oder gar – wie man dies gerne mit dem Impetus des Neuartigen proklamiert – Paradigmenwechsel in der Kunstgeschichtsschreibung und kann auch dem Empfinden des Ekels nichts anhaben. Im Gegenteil kann die Begrifflichkeit des Abjekten aber die Diskussion um den Gedanken des sich selbst wahrnehmenden Betrachters um ein Erhebliches vorantreiben. Erstmals als Begriff von Julia Kristeva in ihrer bedeutungsvollen Schrift »Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection« entwickelt, setzt sich dieser bald auch für das künstlerische Schaffen durch. 1993 findet im New Yorker Whitney Museum of American Art 91 92 93 94

Vgl.: Ulrich Raulff, in: KAMPER, S. 241-258, hier S. 242. MENNINGHAUS, S. 14. KOLNAI, S. 162-163 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. Dem Urteil von Winfried Menninghaus muss an dieser Stelle widersprochen werden; vgl.: MENNINGHAUS, S. 516.

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dann die erste Ausstellung statt, die sich ausschließlich diesem Phänomen in der Kunst widmet, jedoch im Vorwort des Kataloges noch einseitig auf die das künftige Feld der Abject Art prägende Themen verweist: »The term [Abject Art] does not connote an art movement so much as it describes a body of work which incorporates or suggests abject materials such as dirt, hair, excrement, menstrual blood, and rotting food in order to confront taboo issues of gender and sexuality.«95 Wie sich im Verlaufe der Jahre herausstellte, beschränken sich die der Abject Art zuzusprechenden Kunstwerke mitnichten nur auf geschlechtsspezifische Problematiken oder auf die äußerst verkürzten Angaben der hier beispielhaft herangezogenen Substanzen. Aber das Interesse an tabuisierten Körperthematiken stellte sich schlussendlich als übergeordnete Schnittmenge der sich darunter formierenden Kunstwerke heraus. Der Begriff des Abjekten setzt sich für den deutschsprachigen Raum ähnlich geschichtslos und abrupt durch, wie dies ehedem die Bezeichnung für das Tabu tat. Das Abjekte/abjekt/die Abjektion können zumindest aber aus dem Lateinischen hergeleitet werden, denn abicere übersetzt sich als »wegwerfen«, abiectum ist das daraus gebildete Adjektiv »weggeworfen«. Im englischen wie französischen Sprachgebrauch sind abject sowie abjection durchwegs gängige Ausdrücke und Lexika definieren und übersetzen das für den genannten Sprachraum fremdländische Wort als »nieder/Niedrigkeit«, »verworfen/Verworfenheit«, gemein/Gemeinheit/Verächtlichkeit«. Gemeint sind in allen Sprachtraditionen gleichermaßen Vorgänge, Materialien und Seinszustände, die ekelerregend und abstoßend sind oder Abscheu erzeugen; oder aber der Widerwille gegen nicht integrierte und damit diskriminierte Elemente, die in einem positiven Sinne hervorgehoben werden sollen – zum Beispiel, wenn das Abjekte das die Norm provozierende Gegenteil bezeichnet wie in homo/hetero oder HIV-positiv/HIV-negativ.96 Letzteres wiederum eine Praxis, auf die sich bereits Georges Bataille mit seiner Theorie des »informe« stützt. Das »informe« umfasst dabei alles, was dem vorherrschenden Denken fremd ist und deshalb ausgegrenzt wird: das Andersartige, die Provokation, das niedere Material, die Formlosigkeit in Gestalt und Materie und somit das Monströse, Gebrechliche, Alte und dem Tod Geweihte. Eine Umsetzung dieses Gedankens geschieht daraufhin mit der von Kristeva hierfür auserwählten Begrifflichkeit des Abjekten.97 Es umfasst im Wesentlichen das, was im Kapitel zum Tabu und dem Tabubruch in seiner Gesamtheit festgehalten wurde: das Schauspiel des abjekten Körperdramas, dessen 95 »Introduction«, in: NEW YORK (Ausst.-kat.), Whitney Museum of American Art, Abject Art: Repulsion and Desire in American Art, 23. Juni – 29. August 1993, hg.v. Craig Houser, Leslie C. Jones und Simon Taylor, Texte von: Jack Ben-Levi, Craig Houser, Leslie C. Jones und Simon Taylor, New York 1993, S. 7. 96 Vgl. hierzu u.a.: MENNINGHAUS, S. 517, sowie ZIMMERMANN, Anja, Skandalöse Bilder – Skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001, S. 11. 97 Vgl. hierzu: Silvia Eiblmayr, »Aufgelöste Körper – Das ›Abjekte‹«, in: MÜNCHEN (Ausst.kat.), Städtische Galerie im Lenbachhaus, Kunstbau, Kunstverein und Rotunde Siemens Kulturprogramm, München, 03. März – 07. Mai 2000, Galerie im Taxispalast, Innsbruck, 04. März – 07. Mai 2000, und Staatliche Kunsthalle, Baden-Baden, 23. Juni – 27. August 2000, hg.v. Silvia Eiblmayr, Dirk Snauwaert, Ulrich Wilmes und Matthias Winzen, Texte von: Christina von Braun, Elisabeth Bronfen, Silvia Eiblmayr, Gilles Deleuze, Georges Didi-Huberman, Peter Gorsen, Thomas Lischeid, Käte Meyer-Drawe, Irit Rogoff, Karin Sagner-Düchting, Klaus Theweleit, Matthias Winzen und Slavoj Žižek, Köln 2000, S. 236-243, hier S. 238-239.

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sich das Subjekt entledigen möchte und die damit verbundene Angst des modernen Individuums, transitorisch und endlich zu sein. Der Kunst waren diese Themen niemals fremd. Jedoch nimmt das Kunstschaffen seit den 1960er Jahren erheblich Fahrt auf, was diese Problematik betrifft, aber erst in den 1990ern zur Begriffsfindung der Abject Art führte. Die Funktionsweise des Abjekten und der Abject Art ist nun etwas andersartig gelagert als wir sie im Vergleich zum Ekelhaften feststellen konnten. Das Abjekte kann nämlich nicht beseitigt, weggewischt oder desinfiziert und damit unschädlich gemacht werden, denn es ist absichtsvoll entstanden, zur Anschauung und zum Verbleib bestimmt. Sowohl der Ekel wie auch das Abjekte besitzen dabei eine unbegreifliche Ambiguität, stoßen ab und ziehen uns an, machen uns hinsehen, abwenden und auf ein Neues schauen – das zweite Mal scheinbar besser gewappnet und aus einer gestärkten Haltung heraus, denn: »[I]t is the mind alone, as harmonious wisdom, that insures purity.«98 Die nachfolgenden Kunstwerke fordern eben diesen mehrfachen Blick heraus. Es fällt jedoch nicht alleine unserem Blick schwer, sich gänzlich abzuwenden, sondern vor allem unserem Geist wird es kaum gelingen, uns unserer Reinheit und Unschuld zu versichern und unser Bewusstsein vor den dargebotenen Gewissheiten zu verschließen. Das, was das Abjekte in der Kunst so unwiderstehlich macht, ist die Faszination an der grausamen Realität, das Begreifen dessen, dass das, was wir sehen, uns selbst betrifft. Der menschliche Körper, dessen idealistische Ausformulierung wir bislang in der Kunst zu genießen gewohnt waren, wird abgelöst von einem Menschen aus Fleisch und Blut, dessen Körper veränderbar in seiner Erscheinung, Bedeutung und seinem Affekt ist, aber letzten Endes immer eines bleibt: fleischliche Materie.99 Das heißt wiederum, dass abjekte Kunst im Gegensatz zu einer ekelerregenden Kunst folgendes zu leisten vermag: sie widert nicht nur an, um beseitigt, unterdrückt und vergessen zu werden, sie ekelt an, um affektiv wirksam, bewusst wahrgenommen und anschließend erkenntnisbringend begriffen zu werden. An dieser Stelle muss nochmals an die in der Einleitung formulierte Forderung derartiger Formen von Kunst erinnert werden: Erst kommt der Affekt, dann der Verstand. Abjekte Kunst ist die Kunst, das Abjekte kritisch und deshalb als Ausgangslage wahrheitsgemäß zur Schau zu stellen. »Diese Wahrheit ist nicht die Wahrheit von Aussagen. Sie besteht auch nicht in der Repräsentation eines besonderen Wirklichkeitsausschnitts im Spannungsfeld von Repulsion und Attraktion. Sie impliziert vielmehr einen weitergehenden Anspruch: nämlich im Bruch der Wirklichkeitskonstruktion das ›Reale‹ selbst durchschlagen zu lassen.«100 Denn das Bild der Wirklichkeit, welches wir uns von der Realität machen, hat nichts mit den tatsächlichen Realitäten zu tun. Abjekte Kunst zu schauen, schmerzt im Bestfall nämlich gerade deshalb, weil wir einem trügerischen Bild der Wirklichkeit erliegen und wir angefangen haben, uns Lebenswahrheiten schönzureden. ORLAN beansprucht für ihr Schaffen deshalb einen Erkenntnisgewinn durch Selbsterkenntnis. 98 KRISTEVA, S. 28; vgl. auch S. 9. 99 Vgl. hierzu: JONES, S. 226. 100 MENNINGHAUS, S. 546.

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ORLANs Körper: Die Künstlerin als Material Die Identität ORLANs, die sich die Französin selbst verleiht, ist nicht diejenige von Mireille Suzanne Francette Porte, als die sie am 30. Mai 1947 in Saint-Étienne geboren wurde. Den Künstlernamen ORLAN legte sie sich bereits mit 15 zu, um sich im Jahr 1971 anhand eines dem Namen vorangehenden Affix selbst zu kanonisieren.101 Die Uneindeutigkeit von Identitäten und des Selbst sind fortlaufende Thematiken ihres Oeuvres. Bereits eine ihrer ersten Fotoarbeiten zeigt die Künstlerin mit einem androgyn wirkenden Mannequin-Körper, der zwischen ihren gespreizten nackten Schenkeln zu erwachsen scheint: ORLAN gives birth to her loved self (1965), die Künstlerin gebiert ihr erstes Alter-Ego.102 Es wird in ihren nachfolgenden Arbeiten nicht nur das fotografische Medium bemüht, um sich den Fragen und Antworten um den physischen wie psychischen Status des Körpers zu nähern, denn ORLAN nutzt sowohl die klassische Gattung der Skulptur für ihr Anliegen, als auch die erweiterten Möglichkeiten des Kunstschaffens, angefangen von Installationen, Videos, Performances, digitalen Medien, bis zur Biotechnologie. ORLAN setzt den Schwerpunkt dabei vor allem auf den Inhalt und nicht auf eine manifeste Art seiner Vermittlung: »I don’t like to be placed in a drawer. I’m first of all an artist who asks the status of the body in society thanks to all the political, cultural, religious traditional pressures of the body but I work both sculpture in marble or resin or 3D pointing but also in video, photographs, digital and I also work with biotechnology. I’m interested in all the links between art and science and I like to ask my time with all the means and questionings of my time and keeping a critical distance.«103 Dies auf einer internationalen Ebene zu vermitteln, gelingt ihr seit jeher als Künstlerin und seit geraumer Zeit auch als Professorin an den unterschiedlichsten Instituten wie der École des Beaux-Arts, Dijon, dem ArtCenter College of Design in Pasadena, an der University of Chicago und an der École nationale supérieure d’arts de Paris-Cergy.104 101 St. ORLAN nennt sich aber im überwiegenden Fall weiter ORLAN. Gefragt nach ihrem sie im Pass identifizierenden Namen, gibt ORLAN zur Antwort: »My name is ORLAN, inter alia, and as possible, my name is all written in uppercases.« Sofern nicht anders vermerkt, entstammen diese und weitere Informationen zum Werk der Künstlerin der Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin, hier: Email vom 27. Juli 2016. Egal, welche der gängigen und durchwegs informierten Quellen man zu Rate zieht, bleiben viele Fragen zur Identität wie biographische Fakten zur Künstlerin im Obskuren, weshalb Barbara Rose nicht zu Unrecht von enigmatischen Star-Qualitäten der Französin spricht, in: ROSE, Barbara, »Is It Art? ORLAN and the Transgressive Act«, in: Art in America, 81:2, Februar 1993, S. 83-125, bzw.: http://web.stanford.edu/class/history34q/readings/Orlan/Orlan2.html [zuletzt aufgerufen am 18. August 2016]. 102 Aus dem französischen Original-Titel ergibt sich das eigentliche Wortspiel: ORLAN donne naissance à elle m’aime. In phonetischer Hinsicht kann »elle m’aime« auch zu »elle‐même« werden, das Selbst wird damit zu einem sich selbst liebenden Selbst. Auch Marcel Duchamp bediente sich ähnlicher phonetischer Gleichklänge. Vgl.: ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, Simon, Simon Shepard und ORLAN, ORLAN. A Hybrid Body of Artworks, London und New York 2010, S. 35-47, hier S. 42. 103 ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. 104 Vgl. u.a.: ORLAN und Sander L. Gilman [Interview for this volume], in: DONGER, S. 197-201, hier S. 197. Darüber hinaus ist ORLAN in zahlreichen Gremien tätig, im Jahr 2016 ist sie berufenes Mitglied der Jury der Villa Medici in Rom.

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Das Frühwerk der 1960er bis 1980er Jahre erscheint vor allem von geschlechter‐politischen Aspekten geprägt. Hierfür kommt die von ihr gesammelte Aussteuer an Laken und Bettwäsche zum Einsatz, die so genannten »trousseau«, welche einer Frau ausgehändigt werden, um nach der Heirat einen Haushalt bestreiten zu können. In einer Verquickung dieser Tradition und der zum Zeitpunkt der Übergabe virulenten französischen Beiträge zur Psychoanalyse durch Jacques Lacan, samt der führenden feministischen Diskurse durch Luce Irigaray und in deren späteren Nachfolge durch Julia Kristeva, thematisiert ORLAN den phallozentrischen Ansatz einer männlich‐dominanten Gesellschaft. Erstmalig benutzt sie die Linnen in RepéRAGE/Embroidered Pleasures (1965-1968): »Then I took some of those sheets to my lovers – fine‐quality linen sheets from my wedding trousseau – asking them to leave some sperm in certain places, and then I marked the stains of sperm by embroidering them with a huge needle and a kid of embroidery thread. I did the embroidery with my eyes shut, or while looking at the audience, or blindfolded.«105 In einem grotesken und der verkehrten Welt des Karneval ähnlichen Ritual, markiert ORLAN nicht die blutigen Indizien einer erstmaligen Inbesitznahme der Frau durch Entjungferung in der Hochzeitsnacht, sondern hebt in einer Geste der häuslichen Stickarbeit die auto‐erotischen Hinterlassenschaften der Liebhaber in Abwesenheit ihrer Geliebten hervor. Die Laken aus ORLANs Mitgift setzt die Künstlerin auch in ihrer jederzeit erweiterbaren Performance-Serie der MeasuRage ein, die zuletzt im Antwerpener Museum van Heedendagse Kunst im Jahr 2012 stattfand. Mit einem Bettlaken aus den trousseau bekleidet, vermisst sie anhand ihres liegenden Körpers Räume und ganze Gebäude. ORLANs Körper dient dabei als weiblicher Zollstock, der sich ein ums andere Mal dort niederlässt, wo sich die Kreidemarkierung ihrer vorhergehenden Messung befindet. Das solcherart vom Boden beschmutzte weiße Tuch wäscht die Französin in einer die Performance abschließenden Aktion in einem Putzeimer, um die anschließend statisch versteiften Laken nun ohne körperhaften Inhalten zu formen und auszustellen. Das schmutzige Putzwasser wird abgefüllt und als zusätzliches verbleibendes Relikt dieser Arbeiten verkauft. Sinnigerweise ist einer der ersten Bauten, dessen Maße für MeasuRage genommen werden, die von Le Corbusier entworfene Unité d’Habitation. Dessen Idee einer vertikalen und vervielfältigbaren Wohneinheit für jedermann, basiert auf einem vom Architekten entwickelten Maßsystem namens Modulor, welches das menschliche Maß in Anlehnung an den Goldenen Schnitt in ein bewohnbares, also dreidimensionales Koordinatensystem übersetzen will. Berücksichtigung findet hierbei das männliche Körperideal. ORLAN misst gegen und errechnet gänzlich andere Längeneinheiten für ein weibliches Wohnpendant.106 105 ORLAN, in: ORLAN und Hans-Ulrich Obrist, in: DONGER, S. 177-187, hier S. 180. Der Titel der Arbeit RépeRAGE bedeutet »Kennzeichnung« oder »Markierung«; der in Majuskeln buchstabierte Teil für sich genommen wird als »Wut« übersetzt. Alle in dieser Schrift besprochenen Arbeiten von ORLAN sind auf der Homepage der Künstlerin umfangreich bebildert: www.orlan.eu/ 106 ORLAN hatte 1967 eine der Wohneinheiten Le Corbusiers in Firminy bei Saint-Etienne, ihrem Geburtsort, vermessen. Auch die anderen, von ORLAN ausgewählten Gebäude wurden von männlichen Architekten entworfen, so etwa die New Yorker Guggenheim (ORLAN, MeasuRage of the Guggenheim Museum, 1983) oder das Centre Georges-Pompidou, welches die Künstlerin 1977, im Jahr seiner Erbauung zum Objekt wählte.

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Ähnlich kritische Aktionen, die den weiblichen und den männlichen Körper gegeneinander abwägen und auch die Reaktionen auf den in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten weiblichen, nackten Körper testen, ist die Performance Se vendre sur les marchés en petits morceaux/Selling Oneself on the Market (1976-77). Hierfür wird eine großformatige Ganzkörperaufnahme der Künstlerin zerschnitten und die Körperfragmente auf dem Markt feilgeboten. Eine für die Jahre der sich gerade aufbäumenden feministischen Kunstwelle noch extremere Reaktion fordert ORLAN mit ihrer Arbeit Étude Docmentaire: La Tête de la Meduse/Documentary Study: The Head of Medusa (1978) ein. Was die Besucher der in Aix-La-Chapelle in der Neuen Galerie S. Ludwig nicht wussten, ist, dass sie im Rahmen des Internationalen Symposiums zur Performance Art in das blutende Geschlecht der Künstlerin selbst blickten. ORLAN hatte sich zu diesem Zweck in Augenhöhe der Betrachter mit entblößter und durch Klipps offen gehaltener Vagina gegen ein Vergrößerungsglas gedrückt. Freuds Text zum Haupt der Medusa wurde den Rezipienten am Ausgang als Handreichung übergeben: »At the sight of the vulva even the devil runs away.«107 Die Vulva als Sinnbild der vagina dentata, der furchteinflößenden und Rachegedanken hegenden weiblichen Waffe, der man – wie Medusa – nur mit einem indirekten Blick zu begegnen wagt, will man nicht den Tod riskieren. Die verkehrte Welt, die ORLAN an dieser Stelle wiederum mitdenkt, ist diejenige des grotesken Karnevals, des strategischen Tabubruchs, der Moment, in dem sich bekanntermaßen das Leben über den Tod lustig macht. Angesichts dieser Installation mag man schlichtweg vergessen, dass die Motivik von Tod und Grab auf der einen Seite und die sexuellen Genüsse und das neu geborene Leben auf der anderen Seite nahe beieinanderliegen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass ORLAN mit diesen Arbeiten erste Einblicke in den Körper gewährt, ohne ihn hierfür eigens öffnen lassen zu müssen. Die Hautoberfläche bleibt in diesen Werken noch unverletzt. ORLAN konzentriert sich in ihrem frühen Werk auf das Körperdrama, welches sie noch aus betont feministischer Sicht gesellschaftskritisch hinterfragt. Seit Mitte der 1970er Jahre erweitert die Künstlerin ihren Aktions- und Themenradius. Auf subtile Art und Weise beginnt sie, das jüdisch‐christliche Erbe in Form von Zitaten aus der Kunstgeschichte aufzurollen, dabei immer den weiblichen Körper, dessen abjekte Konnotation sowie physisches und entkörperlichtes Idealbild vor Augen. Ruft man sich den im vorhergehenden Absatz beschriebenen Antagonismus in den Auffassungen zur weiblichen Scham ins Gedächtnis, wundert es nicht wenig, dass das Frauenbild aus Sicht der Gesellschaft zwischen den widersprüchlichsten Charakteren zu changieren vermag. Denkt man zurück an die von Bachtin beschriebene schwangere Alte, so bietet sich uns ein Kontrastprogramm zwischen ihren symbolhaften Funktionen der immer noch sexuell aktiven, nach wie vor begehrten und jenseits ihrer fruchtbaren Zeit gebärfähigen Frau und ihren abstoßenden Eigenschaften des Alterns, des körperlichen Verfalls und des absterbenden Lebens. So verbünden sich im Rollenspiel der Frau so multiple wie in sich inkonsequent erscheinende Persönlichkeiten wie die Jungfrau und Mutter, die 107 Im Vorraum wurde den nachfolgenden Besuchern auf zwei Videowänden der voyeuristische Akt der anderen gezeigt: diese beobachteten hier den Vorgang der Erkenntnis und werden damit selbst zu Voyeuren. Vgl.: Catherine Petitgas, »Peering through Les draps du Trousseau«, in: DONGER, S. 49-60, hier S. 52-53.

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Nährende und Ausgemergelte, die Heilige und Hure, Madonna und Femme fatale. ORLAN nimmt die Herausforderung all dieser Identitäten an und eint sie in einer Person: »I no longer say ›I am‹ but ›I are‹.«108 Die heiliggesprochene Version von ORLAN zeigt sich seit 1971 in der Persona Sainte ORLAN; ihr sündhaftes, wenngleich göttliches Alter-Ego wird in der später folgenden Performance-Serie La Réincarnation de Sainte ORLAN (1990-93) wiederhergestellt. Bleiben wir zunächst bei der Figur der Heiligen und Verführerin, die sie in der 18 Fotografien umfassenden Bildserie des Strip‐tease occasionnel à l’aide des draps de trousseau/Incidental Strip-Tease Using Sheets from the Trousseau109 (1974-75) mimt. Den Striptease beginnt ORLAN in ein weißes Bettlaken gehüllt, das in seiner üppigen Überschwänglichkeit und Anordnung dem manierierten Faltenwurf des Habitus der Hl. Theresa von Bernini gleicht. Im Verlaufe der Bildabfolge entledigt sich die Künstlerin des ein Kind symbolisierenden Stoffbündels, welches sie zunächst im Arm hält, sowie des Ordensgewandes und zeigt sich in einem sukzessiven Verlauf als Mutter und Heilige, als Maria lactans, als Femme fatale mit geöffnetem Haar und zum Abschluss in der nackten Pose der Venus pudica, wie sie von Botticelli gemalt wurde. Die achtzehnte Fotografie zeigt die Abwesenheit der Frau: nur mehr die sinnlich fallengelassene Hülle des Bettlakens verbleibt auf dem Boden liegen.110 Die Folgeperformances zum Beispiel aus der Serie der Étude documentaire: Le Drapé – le Baroque/Documentary Study: The Draped – The Baroque (1971-90), die angepasst an die jeweiligen Austragungsorte bis zu fünf Stunden dauern konnten, zelebrierten ein ähnliches Ritual der Verwandlung. Die in Zeitlupe ausgeführten ekstatischen und stilisierten Posen wechseln sich ab mit einer instinktiven und animalischen Gestik: »[T]he saint gave way to the whore.«111 Alle aus den Performances überlieferten Bilder wie die einzelnen veranstalteten Tableaux vivants zeigen die semantisch aufgeladene Person ORLANs, die deutlich entweder den plakativ guten oder schlechten Ruf der Frau versinnbildlicht – sei es anhand des unerschöpflichen Vorrats an weißen Leinentüchern oder der eigens angefertigten schwarzen Lederkostüme. Die virtuos und ad infinitum gestalteten Falten der Weißwäsche ORLANs liegt die Vieldeutigkeit der Falte bei Gilles Deleuze zugrunde: »Es gibt keine zwei ähnlichen Subjekte, keine ähnlichen Individuen.«112 Dies zu zeigen, macht sich ORLAN in ihrer meist zitierten Performance-Reihe La Réincarnation de Sainte ORLAN ou Images nouvelles images/Re‐incarnation of Saint ORLAN or Images – New Images (1990-93) auf. Das oftmals als Schönheits-Ritual verkannte Vorhaben der Künstlerin hat zur Intention, anhand operativer Eingriffe vor allem im Gesicht der Künstlerin, deren Identität – und damit im 108 ORLAN, auf: www.orlan.eu/f‐a-q/[zuletzt aufgerufen am 20. August 2016]. 109 Durch die getrennte Schreibweise von Strip-Tease verweist die Künstlerin nicht nur auf den erotischen Akt des Sich-Ausziehens, sondern auch auf die Bedeutung des englischen Verbs »to tease« des Reizens und Herauskitzelns. 110 Vgl.: Gabriele Schor, »Feministische Avantgarde. Eine radikale Umwertung der Werte«, in: SCHOR, Gabriele (Hg.), Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er-Jahre aus der Sammlung Verbund, Wien, München 2015, S. 17-67, hier S. 49. 111 Eugenio Viola, »The narrative«, in: SAINT-ÉTIENNE (Ausst.kat.), Musée d’art modern de Saint-Étienne Métropole, ORLAN: Le récit/The narrative, 26. Mai – 26. August 2007, hg.v. Lóránd Hegyi, Texte von: Joerg Bader, Lóránd Hegyi, Marcela Iacub, Donald Kuspit, Peggy Phelan und Eugenio Viola, Mailand 2007, S. 23-49, hier S. 29. 112 DELEUZE, Gilles, Die Falte. Leibniz und der Barock (1988), Frankfurt a.M. 5 2012, S. 85.

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übertragenen Sinne diejenige eines jeden Mitglieds der Gesellschaft – in Frage zu stellen und nicht mehr nur gedanklich zu erweitern. In ästhetischer Hinsicht wird nicht – wie in der Schönheitschirurgie üblich – einem Ideal nachgespürt oder einer medizinisch erscheinenden Notwendigkeit nachgegeben, sondern die kosmetischen Eingriffe werden von ORLAN zur Überprüfung des in unserer Gesellschaft so hoch gehaltenen Freiheitsbegriffes des Individuums unternommen. Um diesen strategischen Tabubruch begreiflich zu machen, verfasst die Künstlerin ein Jahr vor ihrer ersten Operation das »Carnal Art Manifesto« (1989)113 , in dem sie unter den folgenden Stichpunkten ihr Tun begründet: Definition – Unterscheidung – Atheismus – Wahrnehmung – Freiheit – Fokus – Stil. ORLANs »Kunst des Fleisches« ist demnach eine Bestätigung unseres individuellen Freiheitsbegriffes, indem sie sich gegen Normen und vorgefasste Ideen ausspricht. Zugleich bedeutet dies nicht, dass ORLAN gegen ein gängiges Körperideal antritt, »but against the standards it carries and which are inscribed particularly over women’s skin, but also men’s. Carnal Art is feminist, necessarily. Carnal Art is interested in cosmetic surgery, but also in the high tech medical and biological techniques that challenge the body’s status and pose ethical concerns.«114 Im Gegensatz zur Body Art gehe es der Carnal Art nicht darum, Schmerzen zu ertragen, um diese als Erfahrungswert für das Selbst oder als kathartisches Erlebnis für andere verbuchen zu können.115 La Reincarnation de Sainte ORLAN erstreckt sich über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren, von 1990 bis 1993, und umfasst offiziell neun von ORLAN als »operative Manipulationen«116 bezeichnete chirurgische Eingriffe, deren wichtigster die siebte Operation mit dem Titel Omniprésence von 1993 darstellt.117 Das dieses Unterfangen auslösende Er113 Das »Carnal Art Manifesto« findet sich in seiner kompletten Fassung im Anhang unter Punkt II. Das Manifest entspricht in Kurzform den ausführlichen Aussagen, die ORLAN in ihrem Text »Intervention« von 1995 tätigt. Dieser Text findet sich ebenfalls im Anhang unter Punkt III. ORLAN äußerte sich noch in weiteren theoretischen Schriften, die in der Literatur immer wieder Erwähnung finden, jedoch oftmals falsch zitiert oder den falschen Originalquellen von ORLAN zugeordnet werden. Hierzu zählt etwa ORLANs Text »Conférence«, den sie zu mehreren Gelegenheiten verlas. Dieser entspricht den Inhalten und Wortlauten von »Intervention« und wurde mehrfach und in verschiedene Sprachen übersetzt u.a. in: McCORQUONDALE, Duncan (Hg.), Ceci est mon corps … ceci est mon logiciel/This is My Body … This is My Software, London 1996, S. 81-93, sowie »Orlan’s Speech«, in: KEREJETA, Maria José (Hg.), ORLAN 1964-2001, Salamanca 2002, S. 218-221. Im Folgenden wird das »Carnal Art Manifesto« nach Absprache mit der Künstlerin zitiert nach: DONGER, S. 28-29; der Text »Intervention« folgt der englischen Übersetzung von Tanya Augsburg und Michael A. Moos, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327. 114 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29. Vgl. auch Anhang, Punkt II. 115 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 28. Vgl. auch Anhang, Punkt II. 116 Gianna Bouchard, »ORLAN anatomized«, in: DONGER, S. 62-72, hier S. 63. 117 Nur wenige Publikationen vermerken hier den Zeitraum von 1990 bis 1995, indem sie die thematisch damit verbundenen Folge-Performances und die mit dem aus den Operationen gewonnenen Material bestückten Folge-Installationen und Ausstellungen miteinrechnen. Vgl. u.a.: KEREJETA, S. 221. Die medizinischen Eingriffe finden jedoch tatsächlich lediglich in den Jahren 1990-93 statt. Zusätzlich zu den neun künstlerisch motivierten Operationen wurden weitere medizinische Eingriffe notwendig, um immer wieder die Ergebnisse vorausgehender Prozeduren zu verbessern oder weniger gelungene Maßnahmen zu beheben. Wie viele Operationen genau unternommen werden mussten, ist nicht bekannt. Eine vollständige Chronologie mit allen Fakten zu den jeweiligen chirurgischen Eingriffen während La Réincarnation de Sainte ORLAN findet sich im Anhang unter Punkt I.

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eignis fand jedoch schon elf Jahre vor der ersten Operation statt. Es handelte sich um einen medizinisch notwendigen Eingriff, den ORLAN im Jahr 1979 durchlebte und der mittlerweile als legendäre Initiation des operativen Gedankens an sich gehandelt wird und wie folgt ablief: Während eines Performance-Symposiums, zu dem ORLAN für einen Vortrag geladen war, brach die Künstlerin aufgrund einer Eileiterschwangerschaft zusammen. Um ihren Ausfall als Sprecherin auf dem Symposium zu kompensieren, entschloss sie sich, die im Krankenhaus sofort angeordnete Notoperation anhand einer lokalen Anästhesie und damit bei vollem Bewusstsein zu durchleben und gleichzeitig filmen zu lassen, um das Videoband umgehend via Krankenwagen zum Vortragsort bringen zu lassen, wo es als Ersatz für ORLANs ursprünglich geplanten Beitrag fungierte.118 ORLAN erinnert sich: »We were right in the middle of the festival when I had to be operated on urgently; it was a sick body that needed urgent surgery. I had an idea, and as soon as a camera was in position in the operating theater and the cassette was full it was shown at the festival as if it were a programmed performance during the symposium. I was talking a moment ago of life as an aesthetically recoverable phenomenon. During the operation I was very moved by the pyramidal structure with the surgeon at the summit and the assistants who handed the instruments, the light that fell from the ceiling as well as the concentration, and I thought that one day I would work again with surgery.«119 Dieser Absicht Folge leistend, beginnt ORLAN im Jahr 1990 die seriellen Operationen zu ihrer Re-Inkarnation in neun Akten, die ihr und anderen erneut und bei vollem Bewusstsein Einblick in ihren geöffneten Körper gewähren. Dass es sich bei diesem Akt der Selbst- wie Fremdwahrnehmung um ein weibliches Geschöpf handelt, ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: erstens ist es im Vergleich häufiger die Frau, die sich auf einen nicht medizinisch notwendigen operativen Eingriff einlässt, und zweitens ist die weibliche Identität gleichzeitig geprägt von ihrer reproduzierenden Tätigkeit und der Fähigkeit, weitere, noch nicht geborene Identitäten in sich zu tragen. Tanya Augsburg verweist deshalb auf ORLANs Selbstschau im Rahmen der operativen Behebung einer fehlgeleiteten Schwangerschaft wie folgt: »Her video performance consisted of Orlan’s recognition of being seen in the act of observing the female self, since the camera recorded Orlan witnessing her own body cut up and exposed, as well as her viewing the excision of a non‐viable fetus from her own reproductive system.«120 Die in La Réincarnation de Sainte ORLAN ergriffenen chirurgischen Maßnahmen umfassen alleine im Jahr 1990 die ersten vier Operationen, in denen Liposuktionen ihren 118 Vgl. u.a.: AUGSBURG, S. 310, sowie O’BRYAN, S. 13. Die Operation wird von ORLAN auf ihrer Homepage als Kunstwerk mit dem vollständigen Titel Urgence G.E.U. unter der Rubrik der Performances geführt: www.orlan.eu/works/performance-2/[zuletzt aufgerufen am 21. August 2016]. »G.E.U.« steht für »les traitements d’une grossesse extra‐utérine«, eine Behandlung, die bei einer Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter notwendig wird und eine Bauchhöhlen- oder Eileiterschwangerschaft betrifft. 119 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 89. Vgl. auch ORLANs Erinnerungen daran in: ORLAN, »The poetics and politics of the face‐to-face«, in: DONGER, S. 103-118, hier S. 110. 120 AUGSBURG, S. 310-311. Vgl. hierzu auch das Kapitel II.3.1, welches die Tradition des geöffneten und vor allen Dingen weiblichen Körpers untersucht.

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Körper an den Fußgelenken, Knien, Hüften, Rücken, Taille und am Nacken neu formen.121 Das dabei in Reliquienbehältern abgesaugte Fett und entnommene Fleisch dient der Künstlerin zu Ausstellungszwecken und zum Verkauf.122 Die Folge-Operationen konzentrieren sich größtenteils auf ORLANs Gesicht. Um dieses den gewünschten Veränderungen zu unterziehen, hatte die Künstlerin vorab ein computergeneriertes dreidimensionales Modell entworfen, welches ihr Gesicht mit den folgenden Meilensteinen und Schönheitsidealen des westlich geprägten kunstgeschichtlichen Kanons fusionieren lassen würde: dem Kinn von Botticellis Venus, der Nase von Psyche von François Pascal Simon Gérard, den Augen Dianas aus dem Gemälde der Schule von Fountainebleau, den Lippen der Göttin Europa von Gustave Moreau und der Stirn von Leonardo da Vincis Mona Lisa.123 Die Auswahl der besagten Frauenbildnisse, die größtenteils aus der griechischen Mythologie entstammen, geschieht nicht nur aufgrund ihrer optischen Reize, sondern wegen der durch sie verkörperten Ideale und psychischen Stärken wie Schwächen. ORLAN zielt auf eine Verschmelzung zwischen ihrer eigenen Persona und den Charakteren der genannten Figuren ab. Sie betont, dass sie nicht dem Typus dieser Frauen entsprechen, nicht wie diese aussehen möchte, sondern sich anhand deren Wesenheiten und Temperamenten eine neue Identität aneignen würde. In ihrem Text »Intervention« zählt sie die folgenden Eigenschaften auf, die sie zu verinnerlichen gedenkt: »Diana was chosen because she is insubordinate to the gods and men; because she is active, even aggressive, because she leads a group. Mona Lisa, a beacon character in the history of art, was chosen as a reference point because she is not beautiful according to present standards of beauty, because there is some ›man‹ under this woman. We now know it to be the self‐portrait of Leonardo da Vinci that hides under that of La Gioconda (which brings us back to an identity problem). Psyche because she is the antipode of Diane, involving all that is fragile and vulnerable in us. Venus for embodying carnal beauty, just as Psyche embodies the beauty of the soul. Europe because she is swept away by adventure and looks toward the horizon.«124 In der Performance La Réincarnation de Sainte ORLAN verwandelt sich nicht nur die Künstlerin nachhaltig, sondern auch der Austragungsort, der OP, wird nach ihrer Regie umgestaltet und dekoriert und gleiches geschieht mit dem vor Ort beteiligten Personal. Der Operationssaal und die anwesenden Akteure scheinen in das Künstleratelier von ORLAN eingetaucht zu sein. ORLAN ist durchwegs die Hauptakteurin des Geschehens, indem sie futuristische Roben für Ärzte und Assistenten wie alle Beteiligten von namhaften Designern wie etwa Paco Rabanne oder Issey Miyake entwerfen ließ, verschiedentlich Werke aus ihrem bereits vorhandene Oeuvre zitiert, davon Kopien und Texte platziert und so den Operationssaal neu gestaltet. Jede der Operationen folgt einem Motto aus der Philosophie, der Psychoanalyse oder der Literatur, weswegen ORLAN parallel zu ihrer Neugestaltung passende Texte rezitiert, darunter Passagen von Eugénie Lemoine-Luccioni, Michel Serres, hinduistische Texte in Sanskrit, Alphonse 121 Dokumentarisches Bildmaterial und auch einzelne Videos zu den wichtigsten operativen Eingriffen werden von ORLAN auf ihrer Homepage zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt: www.orlan.eu/. 122 Vgl.: AUGSBURG, S. 333. 123 Vgl. u.a.: O’BRYAN, S. 14. 124 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319-320; vgl. auch Anhang, Punkt III.

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Allais, Antonin Artaud, Elisabeth Betuel, Raphael Cuir und Julia Kristeva.125 Der siebte chirurgische Eingriff, der als Omniprésence in die Kunstgeschichte einging, wurde darüber hinaus zusätzlich in Gebärdensprache transkribiert und per Satellit live in wichtige Museen und Galerien übertragen. Den dort Anwesenden war es entsprechend nicht nur erlaubt, dem chirurgischen Prozedere in Echtzeit zu folgen, sondern per Videozuschaltung, Telefon und Fax zugleich möglich, mit der Künstlerin Kontakt aufzunehmen. ORLAN stand Rede und Antwort auch während der medizinischen Eingriffe, was ihr Dank der lokalen Anästhesie durchaus gelang. »The patient is not docile, a ›patient‹, but speaks: she reads, comments and participates fully in operation.«126 Genauso wie die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Werke Eingang in La Réincarnation de Sainte ORLAN fanden, so mündete das aus den operativen Performances gewonnene Material in daran anknüpfende Kunstwerke: das während der chirurgischen Handlungen benutzte Verbandsmaterial, Tupfer, das abfließende Blut und Fett wurden erneut in Malereien, Relikten und haptischen Körper-Fragmenten der Aktion im sprichwörtlichen Sinne wiederverwendet und als Reliquien gezeigt oder verkauft, um zukünftige Vorhaben der Künstlerin zu finanzieren. ORLANs geöffneter Körper, den sie bei vollem Bewusstsein und unter Zeugenschaft eines Life-Publikums zur Selbst- wie Fremdschau zeigt, ist nicht der einzige strategisch begangene Tabubruch. Die siebte Operations-Etappe mit dem Titel Omniprésence diente ferner dazu, den sich an den Eingriff anschließenden Regenerationsprozess zu bezeugen. Der Schritt von einem offenen Körperteil, der Wunde, hin zu einer intakten, makellosen Hautoberfläche bedarf der Heilung. Diese verstohlene Phase der Wiederherstellung verläuft normalerweise von der Umgebung unbemerkt und im Privaten. Das Sich-Verschließen der Wunden verlangt eine zum Teil medizinisch ratsame wie selbst‐auferlegte Quarantäne, die traditionell auf 40 Tage vereinbart wird.127 In diesem Zeitraum ließ ORLAN von Raphaël Cuir jeden Tag eine Fotografie herstellen, die diesen Heilungsprozess dokumentiert. Der damit einhergehenden Ausstellung wurde jeden Tag das aktuelle Bild hinzugefügt. Die am Ende 41 Fotoarbeiten umfassende Reihe trägt den Titel Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, In-Between (1994). Die Fotografien sind im Siebdruckverfahren auf Metall aufgezogen und formieren sich zu vertikal angeordneten Diptychen: in der oberen Hälfte befindet sich eine Fotografie des Heilungsprozesses, die untere Hälfte bildet je eine Fotoarbeit, die anhand einer Morphing-Software unterschiedliche Gesichtsaufnahmen einer »intakten« ORLAN über eine Aufnahme von Botticellis Venus legt. Beide Gesichter – dasjenige ORLANs und das der Schaumgeborenen – verschmelzen miteinander und offerieren so die diversen Möglichkeiten eines Avatars, der unendlich weitergedacht werden kann. »The wild dream of synthesizing art and body that the computer images represent is effectively shattered by their juxtaposition with the documentary photographs foregrounding the body’s grotesque re125 Vgl.: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 321; vgl. auch Anhang, Punkt III. 126 Howard Caygill, »Carnival in ORLAN«, in: DONGER, S. 74-83, hier S. 78. 127 Mit der Quarantäne handelt es sich – wie der lateinische Wortursprung »quarranta«, bzw. »quadraginta« verrät – um eine Wartezeit von 40 Tagen, die etwa von Schiffen einzuhalten war, die wegen einer Krankheit an Bord nicht im Hafen anlegen durften. Auch in der Bibel wird eine 40-tägige Frist mehrfach bemüht, zum Beispiel um zu fasten.

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sponse to surgery.«128 Die 41. Fotoarbeit zeigt im Gegensatz zu den Aufnahmen des mit Bandagen umwickelten, wunden und von blau‐roten Flecken entstellten Gesichtes, das Foto einer nun wieder unversehrten ORLAN.129 Dass an diesem Punkt nur dieser eine, sich an Omniprésence anschließende Heilungsprozess vollbracht ist, jedoch der Identitätswandel lange nicht als abgeschlossen gilt, davon zeugt die Fortsetzung der noch ausstehenden Operationen, die ihre Wiederherstellung als Heilige gewährleisten würden. Und auch für die Zeit danach hat die Künstlerin für zukünftige Werke nie ausgeschlossen, wieder auf medizinische Eingriffe an ihrem Körper zurückzugreifen, etwa in einer Performance mit dem Arbeits-Titel An Operation of Opening and Closing the Body. Hierbei soll ihrem Arm durch einen chirurgischen Schnitt eine so tiefe Wunde wie möglich zugefügt werden, während ORLAN – wie in ihren Operationen üblich – rezitiert, Fragen beantwortet und lächelt, bis die unnatürlich zugefügte Körperöffnung wieder verschlossen würde. »Unlike her cosmetic surgery operations, where the body was opened as part of a process towards the desired result, this operation has no goal other than the creation of the temporary wound. The operation would show that a body need not be opened for reasons of war, torture, or sickness – an open body need not be one that is suffering.«130 In all ihrem Tun ist ORLAN dabei nicht nur selbst »always in the process of becoming«131 , sondern verweist anhand ihres geöffneten Körpers darauf, dass wir alle inmitten eines Prozesses sind. Es ist nämlich unser aller Körper, der dieses prozesshafte Ereignis beinhaltet, in welches wir üblicherweise nur bedingt Einsicht nehmen, um darüber zu bestimmen. ORLAN demonstriert auch in den darauffolgenden Jahren, dass sie gewillt ist, Einfluss zu nehmen. Dabei widmet sie sich in den ab 1998 generierten Self-Hybridations einem zeitlich und kulturell umfassenderen Kontext: »My new work is a global survey of standards of beauty in other civilizations and at different periods in history. I start with the pre-Columbian civilizations and will eventually study Africa and Asia.«132 Diese fremdländischen Schönheiten wirken nicht nur deshalb virtuell, weil es sich mit den Arbeiten um computergenerierte Morphe handelt, sondern vor allem darum, weil 128 AUGSBURG, S. 316. 129 Vgl. u.a.: INCE, Kate, ORLAN. Millenial Female, Oxford und New York 2000, S. 108, O’BRYAN, Jill C., Carnal Art. ORLAN’s Refacing, Minneapolis 2005, S. 124 und ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 322-323; vgl. auch Anhang, Punkt III. In der Mitte der Diptychen sind sowohl der jeweilige Tag und das Datum des Heilungsprozesses vermerkt. Ursprünglich war geplant, die Serie der 40 Fotos, die den Heilungsprozess zeigten, am 41. Tag mit dem Bild einer wiederhergestellten ORLAN abzuschließen. Allerdings war ORLAN mit dem Endergebnis nicht zufrieden und es musste mit einem weiteren Eingriff nachgebessert werden. Die finale Ausstellung in der New Yorker Sandra Gering Gallery fand so erst nach der letzten Operation aus dem PerformanceZyklus statt und wurde zusätzlich mit den daraus stammenden Artefakten wie etwa dem OP-Kittel von Dr. Marjorie Cramer und Reliquien ausgestattet. Vgl. u.a.: JONES, Body Art, S. 324, Fußnote 88. 130 Meredith Jones und Zoë Sofia, »Stelarc and Orlan in the Middle Ages«, in: ZYLINSKA, Joanna (Hg.), The Cyborg Experiments. The Extensions of the Body in the Media Age, New York 2002, S. 56-72, hier S. 67. ORLAN macht zu dieser Operation in spe unterschiedliche Angaben zu unterschiedlichen Zeitpunkten; vgl. auch: Jane Antonio Ramírez, »Frankenstein, Jekyll, panopticon: Omnipresence of Orlan, in: KEREJETA, S. 214-218, hier S. 216. 131 O’BRYAN, S. 125. 132 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, »Bound to Beauty: An Interview with Orlan«, Paris, 08. Oktober 1998, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 304.

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sich die idealen Körpervorstellungen der uns fremden Welten mit ORLANs eigenen Gesichtszügen verbinden. Was ORLAN damit kreiert, ist eine historisch wie kulturell verschränkt sich zutragende Fiktion: Einerseits erfindet sich ORLAN anhand von historischen Modellen neu, an deren Wirklichkeit sie aus zeitgenössischer Sicht (die virtuellen Self-Hybridations entstanden in der Zeit von 1998-2008) und am Ort des Geschehens (Paris) nicht hatte teilhaben können. Diese Hybride sind lediglich fiktive dreidimensionale Klone, deren »process of becoming« der Betrachter interaktiv mitgestalten darf.133 Diese Entwürfe entstehen andererseits zu einem epochalen Zeitpunkt unserer wie auch ORLANs ganz persönlicher Geschichte, da sie sich selbst kurz davor in La Réincarnation de Sainte ORLAN einer ähnlichen Metamorphose – und zwar in realitate – unterzogen hatte. Die aktuellen Werke der Künstlerin ebenso wie die Forschungsergebnisse und wachsenden Möglichkeiten der Manipulation durch die Gentechnologie versprechen für die nahe Zukunft das Heranwachsen einer neuen Norm. Diese neue Norm betrifft vor allem den Evolutionsstatus des menschlichen Körpers, der sich sowohl in der bildenden Kunst wie im richtigen Leben als ein Modell herausstellt, welches es zu gestalten gilt. Das ihm übergestülpte Kostüm wird dabei kulturell und zeitlich geprägten Codices Folge leisten – und dem Willen des Trägers: »[T]hose games of identity acted out by various cultures show that the body is only a costume, a cultural costume. Since it varies from culture to culture, why not leave the individual the decision as to cultural orientations? Why not allow individuals to hybridize themselves?«, schlussfolgert deshalb Stéphane Malysse.134 Folgerichtig geht ORLAN seit dem Jahr 2003 von den durch chirurgische Eingriffe erzeugten und den computergenerierten Hybriden über zu genmanipulierten Existenzen, die aus ihren eigenen und nicht‐humanen Zellkulturen erwachsen. Im Jahr 2007 entstand so das Projekt The Harlequin’s Coat, welches zusammen mit anderen Bio Art-Künstlern entwickelt und dem australischen Labor »SymbioticA« verwirklicht wurde.135 Die Haut des Harlekins, die sich bekanntermaßen aus multi‐kulturellen Schichten an Patchwork-Stücken rautenförmig zusammensetzt, was für das typische, so variantenreiche und farbenfrohe Aussehen sorgt, beruht auf der fiktionalen Übernahme und dem gleichzeitigen Empfinden von multiplen Identitäten und deren jeweiligen Emotionen.136 ORLAN beschreibt 2010 ihr Vorgehen für eine faktische Umsetzung des Harlekin-Mantels wie folgt: »The suturage of bodies as images, followed by the suturage 133 Vgl.: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 310. Und auf Seite 305 lässt sie nochmals ORLAN zum Thema »Hybride« zu Wort kommen: »I am not like most transsexuals, for instance, who have a mental image of themselves that they want to resemble at any price. To my mind, everyday results are not important. It’s not my problem, and what I like is multiple. Evolving, mutating identities, not one fixed identity with an image you want to resemble.« 134 Stéphane Malysse, »The Gift to Art«, in: DONGER, S. 125-136, hier S. 134. 135 Erstmals wurde die Idee im Kontext der Ausstellung »L’Art Biotech« des Kunstzentrums »Le Lieu Unique« in Nantes mit Künstlern wie Oron Catts, Ionat Zurr und Guy Ben-Ary vom australischen Tissue Culter & Art Project (TC&A) besprochen. In deren Labors wird vor allem Gewebe gezüchtet. Vgl.: Markus Hallensleben und Jens Hauser, »ORLAN’s The Harlequin’s Coat«, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 144. Siehe hierzu Kapitel IV.2.2. 136 Vgl. hierzu: SERRES, Michel, Troubadour des Wissens. Versuch über das Lernen (Le Tiers-Instruit, 1991), übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Karl Werner Modler, Zürich 2015, S. 6-11. Der fragliche Auszug zum »Laizismus« findet sich im Anhang dieser Schrift unter Punkt IV.

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of bodies as identities, led me to investigate the literal suturage of bodies as biological organisms. With the Australian laboratory SymbioticA, I have attempted the creation of a live and growing hybrid/composite skin that incorporates various cells of humans and other species: my skin cells, the cells of a black woman’s foetus, the cells of a marsupial, bovine cells etc. However, I discovered that such cross‐skinning is not achievable with current biotechnologies. Tentatively I undertook the co‐culture of all those cells, as this is something biotechnologies can tackle at the moment. The cells are now growing together (in juxtaposition) in a bioreactor aquarium on which the cells are projected live and magnified. Those tissue cultures are presented in vivo during the different steps of the construction of the coat137 , but they will finally be preserved and tinted in petri dishes. Thus live cells will be presented in incubators and dead cells in Petri dishes, with video projection of the live cells.«138 Wie in ihren aus der Operations-Serie stammenden Reliquien verfährt ORLAN für The Harlequin’s Coat mit dem Gedanken einer genetischen Historie des Menschen, die übertragbar ist und zukünftig immer mehr sein wird, um die Soft- und Hardware der Menschheit neu zu gestalten, frei nach ihrem Motto »Ceci est mon corps, ceci est mon logiciel«.139 ORLANs aktuelles Schaffen seit dem Jahr 2016 umfasst beide Varianten der Integration realer und virtueller Identitäten: sie arbeitet an Videospielen, deren Fiktion durch den Nutzer in Form von verschiedenen ORLAN-ähnlichen Avataren ausgebaut werden kann140 , und es finden zeitgleich immer wieder Performances statt, welche die Zellkulturen der Künstlerin für die Zukunft kultivieren sollen.141 Im Juni 2018 stellte ORLAN ihr 137 ORLAN entwarf hierfür einen Stoff mit den typischen bunten Rauten, auf denen Petrischalen mit den genannten Zellkulturen rhythmisch bewegt werden, um deren fiktives Überleben zu sichern. Bilder hierzu finden sich auf der Homepage der Künstlerin: www.orlan.eu/works/bio‐art/nggallery/page/2 138 ORLAN, in: DONGER, S. 103-118, hier S. 116-117. 139 »This is my body, this is my software.« ORLANs Slogan findet sich auch auf allen Reliquienschreinen, die mit ihrem Fleisch und Blut gefüllt sind. Vgl. u.a.: ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin, hier: Email vom 27. Juli 2016. 140 ORLAN betont, dass es sich um Videospiele handelt, die keinerlei zerstörerischen Charakter aufweisen, sondern, ganz im Gegenteil, zu den üblichen Spielen dieser Generation, die aktuell durch Kriege und Gesinnung verlorenen Kulturgüter – zumindest auf einer virtuellen Ebene – wieder aufzubauen helfen: »This character, instead of killing as usual in video games, has to rebuild masterpieces that had been destroyed, broken. The more she built this masterpiece, the more the character becomes human [by rebuilding] the destroyed world where she evolves.«, aus: ORLAN, in: EmailKorrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. ORLAN hat bisher den dritten von üblicherweise sieben Levels des Videospiels erarbeitet. 141 Die letzte diesbezügliche Performance fand auf dem »Festival Les Bains Numériques 2016« am 2. Juni 2016 in Enghien‐les-Bains mit dem Titel Tangible strip‐tease (en Nanoséquences) in Kollaboration mit Mael Le Mée statt. Die Aktion wird wie folgt beschrieben: »Tangible Strip Tease (in Nanosequences) is a performance that consists to unfold the ORLAN-Body on stage and in the hands of its audience, from a biological, fictional, documentary, scientific and imaginary writing. In this digital experience, the ORLAN-Body is measured by the public and through the mediation of its microscopic hosts: Millions of bacteria that live in symbiosis, co‐authors of every human identity, intestinal, unheimlich and also buccal, vaginal, palmar … what is now called the microbiota.«, aus: ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 31. Mai 2016.

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techno‐humanoides Roboter-Double, den ORLANoïde der Öffentlichkeit vor. Die lernfähige künstliche Intelligenz ist in der Lage zu sprechen und auf den Betrachter zu reagieren und bildet somit eine elektronische wie digitale Erweiterung des Körpers und Leibes der Künstlerin.142 Insgesamt betrachtet bietet ORLANs Oeuvre ein kritisches, wenn auch willkommen heißendes Hinterfragen der zeitgenössischen wie zukünftigen Errungenschaften der identitätsstiftenden Wissenschaften, die in ihrem Werk verschiedene Disziplinen von der Psychoanalyse bis hin zu den gentechnisch manipulierenden Humanwissenschaften umfangen. Denn eine immer weiter sich veredelnde Menschheit, die – wie Bachtin dies beschreibt – automatisch von Generation zu Generation heranwächst, kann und wird seit geraumer Zeit von der Menschheit selbst aktiv beeinflusst, gezeugt, gewollt und in seiner Entwicklung gelenkt und beschleunigt.

Das Abjekte im Werk von ORLAN: Ein Spagat zwischen Medizin, Religion und ästhetischem Wohlgefallen ORLANs Hybride in jeglicher Form – seien es die computergenerierten Erscheinungen von ihrer Person, die chirurgischen Eingriffe an ihrer Person oder die Zellkulturen aus ihrer Person143 – präsentieren sich nicht alleine als Untiefen in ihrem eigenen Körper, sondern offenbaren gleichermaßen die noch nicht ausgeloteten Untiefen, die sich auf den Gebieten der Medizin, der Religion und des zeitgenössischen Schönheitsbegriffes auftun. Derweil sich ORLANs hybride Metamorphosen sowohl im virtuellen Raum anhand von computer- und betrachtergesteuerter Software als auch in Echtzeit in Petrischalen immer weiter heranbilden und verändern, müssen die ethisch‐philosophischen, theologischen und (trans-)humanwissenschaftlichen Forschungen weiterhin Antworten auf die von ihr aufgeworfenen lebensbestimmenden Fragen schuldig bleiben. ORLANs Schaffen liegt eine Auffassung von humanwissenschaftlich wie philosophisch begründetem Gedankengut zugrunde, welches Technologie und Medizin, Philosophie und Religion in ihren jeweiligen Denkansätzen auf eine Weise eint, wie dies nach Rabelais und seiner Welt kaum mehr geschehen ist, man möchte hinzufügen: als nicht mehr möglich erscheint. Bachtin bezeichnet Rabelais’ Zeit als die einzige Epoche in der Geschichte der Menschheit, in der die Medizin nicht nur zu den Naturwissenschaften zählte, sondern mit den Geisteswissenschaften und der Philosophie auf ein und demselben Rang stand. Das heißt, dass sich das Weltbild der Philosophie nach der Medizin richtete und umgekehrt – beides Möglichkeiten der Reflexion, die sich heute nahezu auszuschließen scheinen.144 142 ORLAN (Hg.), ORLAN-oïde Robot Hybrid. ORLAN-oide Hybrid Robot with Artificial and Collective Intelligence/avec intelligence artificielle et collective, Paris 2018. 143 ORLAN zu einem gewollten gedanklichen Verschmelzen ihrer einzelnen Arbeiten hin zu einem Gesamtkunstwerk: »However, it would be wrong to separate the ›surgical operations performances‹ from my Self‐hybridizations, because the former do not belong only to reality and the latter do not purely take place in virtuality. I have always sought to erase the limits, to transform reality into virtuality, and vice versa.«, ORLAN, in: »The complete dialectics of virtuality and reality«, in: KEREJETA, S. 227-229, hier S. 227. 144 François Rabelais war nicht nur Schriftsteller, sondern auch praktizierender Arzt, entsprechend durch und durch Humanist seiner Zeit. Bachtin erinnert auch daran, dass Rabelais im Jahr 1537 eine

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Wenn nun ORLAN in ihrer Carnal Art Freiheiten einfordert, so tut sie dies mit dem Gedanken an eine liberal gehandhabte Verquickung von gesellschaftlichen, physischen, psychischen, philosophischen wie juristischen Verantwortungen, die unseren Körper wie Geist bestimmen: »Carnal Art affirms the individual freedom of the artist and so it fights against norms and preconceived ideas; that is why it is inscribed in the social fabric, in the media (where it is scandalously challenging common ideas) and far into the legal apparatus.«145 Da sie dies auf eine äußerst radikale Weise umsetzt und dabei nicht nur an ihr eigenes Innerstes rührt, sondern auch dem Betrachter einiges abverlangt, muss die Frage erlaubt sein, ob ORLAN seelische oder geistige Defizite aufweist – eine Frage, die von der Kritik oft als vorweggenommene Feststellung geäußert wurde. Deswegen kann es nicht überraschen, dass französische Künstler, Psychologen, Mediziner und Kritiker der Künstlerin im Jahr 1991 eine ganze Ausgabe eines psychoanalytischen Fachmagazins widmeten. Untersucht wurden hierfür ORLANs mentaler Zustand sowie die psychopathologischen und ästhetischen Aspekte ihres Oeuvres, das zu diesem Zeitpunkt bereits in die Phase der tatsächlichen operativen Eingriffe eingetreten war. Man war am Ende der einhelligen Meinung, dass ORLAN in der Tat vollkommen gesund sei – psychisch wie physisch.146 Die Frage nach dem mentalen Befinden ORLANs folgt dabei einer Tradition, wie sie in Georges Didi-Hubermans erhellender und reichhaltig bebilderter Publikation »Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot« nachgezeichnet wird.147 Die seelischen wie körperlichen Analysemethoden der Psychologie, Psychiatrie und der Psychoanalyse zusammengenommen mit denjenigen, derer sich ORLAN selbst anhand von medizinischen Eingriffen bedient, verschränken sich dabei ganz auffallend mit den historischen Untersuchungskriterien, dem Vorgehen und den demonstrativen Gesten des Zeigens, wie sie sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert hatten. Das wieder aufflammende Interesse an der Hysterie vor allem durch den theoretischen wie praktischen Denkansatz des feministischen Theaters und der Performance-Kunst in den USA der 1970er Jahre, griff zeitgleich auf Frankreich über, wo Jacques Lacans Wiederentdeckung der Hysterie als psychoanalytischer Forschungsansatz für Provokation sorgte. Die erneute offensive Besinnung auf die Frau als »Opfer« ihrer eigenen theatralischen Emotionen, die ihr qua definitionem zu eigen seien, bereitete in Frankreich den Boden für ein feministisches Aufbegehren, wie es sich auch in ORLANs Oeuvre nachweisen lässt. Das hysterische Gebaren, das man ihrem Werk und ihrer Person vorwirft und die Künstlerin damit auf den psychoanalytischen Prüfstand stellt, zeigt der Fachwelt am Ende, dass ORLAN im Rahmen einer Tradition handelt, die im 19. Jahrhundert in Form von medizinischen Dokumenten wie Bildmaterial, das öffentliche Sezierung samt Erläuterung am Leichnam eines vorab gehängten Verbrechers durchführte. Vgl.: BACHTIN, S. 404. 145 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29. Vgl. auch Anhang, Punkt II. 146 Die Fachzeitschrift nennt sich »VST. Revue Scientifique et Culturelle de Santé Mentale«, Ausgabe 23/24, September-Dezember 1991. Darin befinden sich auch zwei Artikel von Dr. Kamel Chérif Zahar, welcher zum Zeitpunkt bereits die ersten drei von insgesamt fünf chirurgischen Eingriffen vorgenommen hatte. Vgl.: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 293, sowie WEINTRAUB, S. 82. 147 DIDI-HUBERMAN, Georges, Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997.

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seinen ästhetischen Anspruch nicht leugnet, einen Höhepunkt fand: die Rede ist von den Untersuchungs- und Heilmethoden in den klinischen und psychiatrischen Heilanstalten und der diese bezeugenden medizinischen Fotografie zur Befundaufnahme und zu Zwecken der Anamnese unter anderem durch Gaspard-Félix Tournachon, bekannt als Nadar. Nicht nur das Hȏpital de la Salpêtière in Paris, auch in England eröffneten psychiatrische Kliniken, in denen ähnlich verfahren wurde. Der englische Mediziner Hugh Welch Diamond, der als Begründer der psychiatrischen Fotografie gilt und diese vor allem dazu benutzte, die weiblichen Insassen des Surrey County Asylums zu dokumentieren, war in seinem Essay an der Royal Academy of Medicine im Jahr 1856 aus den folgenden Gründen für dieses Medium: »1) development of the medical gaze to include that not immediately apparent to the naked eye, 2) providing a therapeutic mirror of self‐reflection to those who are invisible to themselves as to incite guilt and/or self‐responsibility for their condition, and 3) facilitating surveillance of patients by documenting their appearance.«148 Zur selben Zeit setzte Guillaume-Benjamin Amand Duchenne de Boulogne149 seine 1833 entwickelte Methodik der Reizung der Muskulatur durch Elektroden im Gesicht fort, die der Erforschung der menschlichen Mimik dienlich sein sollte. Das als Faradisation bekannt gewordene Prozedere will den unterschiedlichen, besonders extremen Gefühlsausdrücken nachspüren, wie sie das Gesicht zeichnen und sich hiernach auf den gesamten Körper auswirken. Mit dem fotografischen Beistand Nadars entstanden Bilddokumente, welche Duchennes dreibändige Anthologie »Mécanisme de la physiognomie humaine ou analyse physiologique de l’expression des passions« (1867) ausstatten. Der erste Band erklärt Duchennes methodisches Vorgehen, der zweite den wissenschaftlichen Wert und der dritte Band galt als die ästhetische Exemplifizierung seiner Experimente. »In other words, Duchenne justified his active involvement in selecting and posing his subject/models by claiming that his scientific research had significance for the artistic study of human expression.«150 Das fotografische Material ist in keinster Weise dazu geeignet, dem klassischen Ideal Folge zu leisten: offene Münder, verdrehte, weit aufgerissene Augen, ekstatische Verzerrungen des Gesichts, Falten, wohin das Auge blickt. Einer verhaltenen und mit geschlossenen Körperöffnungen ertragenen Emotion, wie es einst Winckelmann und Lessing befürworten, sind diese Bilder diametral entgegengesetzt.151 Frappant ist darüber hinaus der Fokus, den Duchenne auf die Ganzkörperabbildungen von Frauen richtet. Der Mediziner nutzte dabei einige bevorzugte Modelle, die er in eine mütterliche Rolle schlüpfen lässt, oder aber deren Posen und Kostümierung bewusst auf Macbeth, die Hl. Jungfrau Maria oder die Hl. Theresa abzielen. Angedenk der ekstatischen Visionen der letztgenannten Heiligenfigur und Berninis bildlicher Umsetzung, wie sie weiter oben diskutiert wurden, überrascht es kaum, dass im Bildkatalog Duchennes vor allem das weiblich‐erotische Auftreten und die Geschlechtsmerkmale der Patientinnen in den Vordergrund treten und den Blick des Betrachters statt in das Gesicht absichtsvoll auf die zum Teil für die 148 Zitiert nach: AUGSBURG, S. 72-73. 149 Jean-Martin Charcot genoss seine Ausbildung bei Duchenne de Boulogne am Salpêtrière, Paris. 150 AUGSBURG, S. 75. 151 Vgl.: WINCKELMANN, S. 28 und LESSING, S. 10-11, wie beschrieben in Kapitel III.1.

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Zeit unsittsam entblößten Körperpartien oder mit den Händen geschürzten Brüste lenken.152 Die hier aufgerufene religiöse Ikonographie paart sich mit den hysterischen Gebärden und den Frauenkörper konvulsivisch aufbäumenden Trancezuständen, die den Frauen emotionale wie pathologische Krankheitsbilder als Diagnose bescherten. »Duchenne’s obsessive fetishization of the model’s breasts furthermore demonstrates how gender affects the aesthetization of the medical subject.«153 Diese »medizinischen Subjekte«, die aufgrund ihrer Hysterie und anderer Psychosen zu beispiel- und bildhaften pathologischen Kreaturen degradiert wurden, konnten dabei niemals verhindern, dass sie aus männlicher Sicht erotisierende und in jeder Hinsicht willfährige Patientinnen darstellten. Tanya Augsburg urteilt deshalb wie folgt über ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem diese Frauen und das sie behandelnde männliche Personal – da wären Arzt und Fotograf sowie deren Assistenten, welche die Positionierung der Patientin teils gewaltsam vornehmen mussten – keineswegs ebenbürtig waren: »Women’s informed consent is phantasmagoric at best since they have had the additional burden of having their bodies, bodily processes, and emotions not only medicalized but pathologized.«154 Umgekehrt lassen uns die sorgfältig arrangierten Posen an ein Subjekt denken, das sich seines Handelns bewusst ist. Frei nach Roland Barthes formuliert, zwingt uns die Fotografie schlichtweg zum Ausdruck. Und somit wird die Ekstase zur Performance. Einer Performance, wie sie von ORLAN in ihrem Werk mit Bedacht genutzt wird, um einerseits die eben vorgeführte Tradition zu zitieren und um andererseits dieser eine zeitgenössische Negation entgegenzuhalten. »Orlan stages the possibility of how one can become a medical subject and simultaneously refuse to be pathologized as being either hysterical or mad in doing so.«155 Auch deshalb war ORLAN durchaus gewillt, sich während ihrer anlaufenden Reihe der Operations-Performances einem offiziellen medizinischen wie psychiatrischen Test durch das Fachmagazin »VST« zu unterziehen. Jedoch schon ohne naturwissenschaftliche Beglaubigung zeigt sich anhand ihrer Arbeiten ausdrücklich der dem 19. Jahrhundert antagonistisch entgegenwirkende Ansatz ihres Gesamtwerkes. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem vermeintlich medizinisch‐hysterischen Subjekt ORLAN und dem – nun auch weiblichen Arzt – hat sich gewaltig verändert: ORLAN selbst bestimmt über den Eingriff an ihrem Körper, wie dieser von statten geht und zu welchem Zweck. Währenddessen bleibt sie darüber hinaus bei vollem Bewusstsein, um zu rezitieren und lächelnd mit dem Betrachter zu kommunizieren. Sie erwidert dabei den Blick der Kamera und auch den für sie virtuell vorhandenen Betrachterblick. ORLAN selbst verfügt über das aus ihrem Körper gewonnene Material, setzt es um in Kunstwerken, die sich zukünftig als genetisch veränderbar erweisen und negiert damit ein weiteres Abhängigkeitsverhältnis: das eines göttlichen 152 DUCHENNE de BOULOGNE, Mécanisme de la physiognomie humaine ou analyse physiologique de l’expression des passions, Paris 1867, Figur 78. 153 AUGSBURG, S. 80. Die Patientinnen nehmen in ihren Anfällen die Opferrollen von Märtyrern ein, stellen den Tod am Kreuze nach oder zeigen sich von Dämonen besessen. Zustände der Ekstase, die Kreuzigung und Halluzinationen galten als Zeichen von Besessenheit, diagnostiziert wurden darüber hinaus die »chorée«, eine Art pathologischer Veitstanz, begleitet von Sprechschwall und Delirium, plötzlichem Verstummen und Schlafanfällen; vgl. hierzu: AUGSBURG, S. 117-118 und S. 123. 154 AUGSBURG, S. 306-307. 155 AUGSBURG, S. 256.

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Schöpfungsplans, der über den Menschen bestimmt. Die in ihren Arbeiten verwendeten Arrangements, Attribute und Themen betonen die immer binäre Symbolik einer Dichotomie, die dem einzig vermeintlich vorhandenen Antlitz immer auch sein Janusgesicht zeigt: die in die unbefleckten Laken ihrer Aussteuer gehüllte weiße Madonna verkehrt sich zur Schwarzen Madonna in Lack und Leder, ihre entblößte Brust ist eine nährende und eine erotisch‐amazonenhafte, die angelische Braut wird zum Teufel, die Heilige gerät in Ekstase, wird zur Schaumgeborenen und verschwindet dann ganz. Das weiße Kreuz steht Kopf, wird ergänzt durch sein schwarzes Pendent, der Totenschädel verkehrt sich zur Halterung ihrer fleisch‐werdenden Implantate, der Dreizack kämpft gegen den Tod, das ihr entnommene, leblose Fleisch wird zur schutzbringenden und Seelenheil stiftenden Reliquie für die Überlebenden und zur wiederbelebbaren Zellkultur nach ihrem Tod: ORLAN gives birth to her loved self 156 , welches die hybriden Züge des Hermaphroditen Harlekin trägt. Es ist aber nicht alleine das als pathologisch tradierte Bild der hysterischen Frau, welches von ORLAN vordergründig bedient wird, um es dann zu konterkarieren. Eine Weiterentwicklung der Performance-Künste seit den 1990ern ist der »medical body«157 , wie er von Künstlerinnen wie Marina Abramović, Gina Pane, Kira O’Reilly, Hannah Wilke, Annie Sprinkle, aber auch von Künstlern wie Bob Flanagan, Ron Athey, Stelarc, FLATZ oder Franco B. und weiteren vorgeführt wird. Das Interesse richtet sich zunehmend auf den Künstlerkörper und die ihm innewohnenden lebenserhaltenden Funktionen und abjekten Substanzen. Der Künstler/die Künstlerin wird zum Material – die Kunst, die er/sie erschaffen, ist gleichzusetzen mit dem Leben, das sie besitzen. Der lebendige Künstlerkörper wird zum Kunstwerk. Oftmals lösen diese Arbeiten beim Betrachter affektive Reaktionen aus, die reflexartig einsetzen, ohne dass dabei über die Intention des Werkes sinniert werden kann. Ein gedankliches Auseinandersetzen mit dem zunächst affektiv wirkenden Kunstwerk ist aber notwendig, um diesem am Ende auch einen Inhalt und das Warum des Tuns abgewinnen zu können. So heißt es bei Tanya Augsburg: »But to foreground the connections between art and madness without considering what the art work has to say is to foreclose the possibility of arriving at any understanding of the intensions at work.«158 Dieses Verstehen-Wollen, nicht einer Kunst, sondern des menschlichen Körpers, wie es von ORLAN vorgeführt wird, folgt dabei ebenfalls einer Tradition, wie sie in der historischen Pathologie nachvollziehbar ist. Es handelt sich dabei keinesfalls um medizinisch überlebensnotwendige Maßnahmen, die den chirurgischen Eingriff bei ORLAN und den der pathologisch‐anatomischen Untersuchungen motivieren. Und es ist ein ungewöhnliches Verständnis für einen Gegenstand, der uns zwar vertraut ist, dessen Innerstes uns aber verborgen bleibt: der Körper, den wir selber haben, der Leib, der wir sind. Dessen ist sich auch ORLAN bewusst: »I have shown images that blind us, push us into syncope because we are not used to seeing those images. We are used to seeing only the opening of the body, 156 So der Titel der 1965 entstandenen Fotografie, die die Künstlerin mit einem androgynen Mannequin zeigt. 157 Philp Auslander, »The Surgical Self: Body Alteration and Identity«, in: STRIFF, Erin (Hg.), Performance Studies, New York 2003, S. 54-66, hier S. 55. 158 AUGSBURG, S. 311.

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not its landscape. This is strange, because since Vesalius we have opened bodies and dismantled their mechanisms and landscapes.«159 Was ORLANs Unterfangen von denjenigen ihrer historischen Vorgänger wie Vesalius unterscheidet, ist, dass sie einmal bei vollkommen klarem Verstand in das Innere ihres eigenen Körpers blickt, und zum zweiten dies zu einem Zeitpunkt geschieht, als dieser zu Zwecken der medizinischen Erkenntnis nicht mehr auf diese Weise zur Schau gestellt werden müsste.160 Indem sie die eigenen Körpergrenzen bei vollem Bewusstsein überschreitet, überschreitet sie strategisch das Tabu, mit dem diese Körpergrenzen besetzt sind: »I acted without fear, without the feeling of pressure, without the threat of the collective and ancient fear surrounding the breach of the body’s integrity – this anachronistic feeling, born from the idea that the body is sacred, untouchable, and thus cannot be transformed. This is a persistent feeling even though multiple bodies were and are continually transformed: remade faces, replaced hips and teeth, organ transplants … without physical or psychological problems.«161 Obwohl wir also oftmals selbst Teil dieser Groteske sind, nehmen wir die von uns unternommenen Maßnahmen am eigenen Körper anders war, sofern sie uns in einer passiven Art und Weise wiederfahren. Passiv, indem uns die medizinische Entscheidung und deren Durchführung im Normalfall von fachkundiger Seite abgenommen werden.162 Zurückschrecken lässt uns aber auch heute noch die aktive Teilhabe an solcherlei Unterfangen. Besonders dann, wenn sie nicht auf den ersten Blick einem bestimmten Zweck oder einer Notwendigkeit folgen. Aus diesem Grund lässt uns auch die willentliche Anatomisierung ORLANs erschauern – denn wir werden Zeuge eines Tuns, das eine ganze Reihe an Diskrepanzen zu unserem eigenen aufweist: ORLAN ist am Leben und bei vollem Bewusstsein, die Eingriffe sind nicht notwendig, die Wunden werden ihr absichtsvoll beigefügt, sie sieht sich dabei zu, das Innere ihres Körpers offenbart sich freizügig vor unser aller Augen, abjekte Substanzen und Material werden in ihrem pulsierenden Eigenleben sichtbar, sie sammelt dieses Abjekte für nachfolgendes Kunstschaffen. ORLAN spricht mit uns, sie blickt uns an. Sie unterwirft sich nicht – ORLAN ist nicht bescheiden in ihrem Tun. »Whatever its form, the wound is a disruption and an undesirable mark on the surface of the body, so it is denied its ›woundedness‹ and made into a place of healing, a mere disappearing ripple on the skin. ORLAN’s wounds in her surgery‐performances are inflicted purposefully to provide access to her interior through their gaping apertures. We witness their creation through the incision of the scalpel, cleaving the skin of her face and round her lips. The wounds split and instantaneously bleed, as the boundaries between inside and outside are disrupted and traumatized. We are confronted with the complexity and confusion of the opened body […]. […] In staging her opened body to be observed, its spectacle manages to obscure normative boundaries between reality and representation, fact and fiction, science and art. That the technology is inserted through the skin, held there and manipulated by the hand of a surgeon, is only acknowledged peripherally. The focus is 159 ORLAN, »ORLAN/Paul Virilio [Interview, 2009]«, in: DONGER, S. 188-195, hier S. 191. 160 Vgl. hierzu Kapitel II.3.1 sowie Gianna Bouchard, »ORLAN anatomized«, in: DONGER, S. 62-72, hier S. 64-65. 161 ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 43. 162 Kosmetisch motivierte Eingriffe bilden hier zum Teil eine Ausnahme und werden deshalb ebenfalls kontrovers diskutiert. Dieser Aspekt wird nachfolgend genauer thematisiert.

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on ORLAN’s flesh and its uncanny animation as the cannula pushes through and around her subcutaneous fat in a brutal and violent prodding, even to the extent that ORLAN herself begins to dissolve within perception.«163 ORLAN als Person entschwindet auch deshalb unserer Aufmerksamkeit, weil sie genau dort Wunden schlagen lässt, wo ihre identitätsstiftenden Merkmale sitzen: im Gesicht. Die Nahaufnahmen bekräftigen die Auflösung der Analogie zwischen ORLAN als lebendigen Organismus und gleichzeitigem Individuum. Wir sehen, was uns allen zu eigen ist: den Mikrokosmos eines dekontextualisierten Fragments und den Makrokosmos des verletzlichen Körpers, durch dessen Inneres lebenserhaltendes Blut pulsiert. All dies hat freilich masochistische Züge an sich. Transgressionen, wie sie zum Beispiel in der Body Art stattfinden, leben davon, dass der Künstler, der sich dem Schmerz absichtsvoll aussetzt oder ihn sich selbst zufügt, diesen dem Publikum – wenn schon nicht widerfahren lässt, so doch – im Zuge eines kathartischen Miterlebens nachfühlbar macht und nahebringt. ORLAN distanziert sich jedoch von der Body Art und dieser Funktion der Schmerzerfahrung am eigenen Leibe: »Unlike Body Art, Carnal Art does not contain a desire for pain, does not look for it as a purifying source, does not consider it as Redemption.«164 »I feel very, very removed from certain artists who work on piercing, blood, tattoos, bodily modifications and cutting into the body, even though I have been called the instigator of all that. I don’t at all share the culture of masochistic public sport. For me pain is of no interest in itself, it’s just an alarm signal, or maybe orgasmic, but has nothing to do with art or constructing anything. Pain just isn’t a working hypothesis – on the contrary I think our bodies have suffered enough over the ages, and we are now in a position to curb pain. I’m a campaigner for the use of epidural anaesthesia and relief medication by medical teams often reluctant to use them.«165 Die Künstlerin nutzt zum einen die ganze Bandbreite an operativer Medikation, die dem Patienten einen chirurgischen Eingriff bei vollem Bewusstsein miterleben lassen, sei es die Epiduralanästhesie oder lokal injizierte Betäubungsmittel. Zum anderen greift ORLAN in der Heilungsphase auf Schmerzmittel zurück, die sie von ihrem physischen Leiden weitestgehend befreien. Der Leidensbegriff, wie ihn vor allem die christliche Religion als einen erlösenden und befreienden Aspekt lebt, findet bei ORLAN keinerlei Akzeptanz.166 Schmerzen so gut wie möglich vermeiden zu wollen, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer effektiven Tilgung jeglicher Schmerzen. So muss ORLAN freilich zugeben: »A few words about pain. I try to make this work as unmasochistic as possible, but there is a price to pay: the anesthetic shots are not pleasant. (I prefer to drink a good wine with friends rather than to be operated on!) Nevertheless, 163 Gianna Bouchard, »ORLAN anatomized«, in: DONGER, S. 62-72, hier S. 67-69. 164 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 28. Vgl. auch Anhang, Punkt II. 165 ORLAN, in: ORLAN und Hans-Ulrich Obrist, in: DONGER, S. 177-187, hier S. 184. Die Vereinbarung mit dem jeweiligen Ärzteteams lautet wie folgt: »My very first deal with the surgeon was NO PAIN, neither during nor after.«; ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 43. 166 ORLAN hierzu: »The famous ›You shall deliver in pain‹ is still deeply fixed in women’s minds, just as religions dictate: Suffering is prestigious, it means you’ll get to Heaven, it’s good.«; in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 302, sowie ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 28. Siehe Anhang, Punkt II. Vgl. auch: Kapitel II.3.1.

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everyone is familiar with this. It’s like at the dentist: you make a face for a few seconds. And as I have not paid my tribute to Nature in experiencing the pains of childbirth, I consider myself happy. After the operations, it is more or less uncomfortable, more or less painful. I therefore take analgesics.«167 Insgesamt ist sogar mit einer zweifachen quälenden Erfahrung zu rechnen: Dem Schmerz, den es der Künstlerin nicht in Gänze auszuschließen gelingt, und der beinahe physischen Pein, die der Rezipient bei der Betrachtung des Bildmaterials empfindet.168 Wer schön sein will, muss aber heute nicht mehr so sehr leiden, wie es der Volksmund vorhersieht. Hierfür halten die zeitgenössischen chirurgischen Möglichkeiten einer Verschönerung die entsprechenden Kapazitäten bereit. Und das Resultat soll sich sehen lassen können, i.e. mit dem gängigen ethnischen169 und körperlichen Ideal am Ende übereinstimmen. Davon zeugen zahlreiche ästhetische Eingriffe an freiwilligen Patienten170 , darunter viele prominente Beispiele, wie etwa Cindy Jackson, die sich bis in das Jahr 1999 zahlreichen körperlichen Manipulationen unterzog, um als zweite Barbie in die Geschichte der kosmetischen Chirurgie einzugehen. Betont wird dabei gemeinhin das Endprodukt einer Prozedur, die den damit einhergehenden Vorgang im Verborgenen und Ungewissen belässt, da er als ein abjekter, wohl oder übel in Kauf zu nehmender Nebenschauplatz verschwiegen wird. Die Frage nach der eigenen Identität ist hier eng gekoppelt mit einer Negation des Abjekten. Nicht so bei ORLAN. An dieser Stelle soll eine von ORLAN formulierte Bilanz ihrer unternommenen kosmetischen Eingriffe vorweggenommen werden, um klarzustellen, dass es ihr nicht um ein an ihrer Person exemplifiziertes Schönheitsideal zu tun ist, und um die nachfolgende Diskussion auf einer Ebene ansetzen zu lassen, die zeigt, welch komplexe Überlegungen diesem Unterfangen vorausgehen. Knapp fünf Jahre nach der letzten kosmetischen Korrektur an ihrem Gesicht, äußerte sich ORLAN zu einem ihr Werk begleitenden Missverständnis: »Now another story, because the most difficult thing about my work is to make myself understood, because my work goes against our customs, our habits171 , to such an extent that people cannot see it; all they hear is ›cosmetic surgery.‹ When I came back from the States with my bumps which, at the time, were much bigger – there’s since been a physiological change – one of my friends told me: ›I’ll make a deal with you; I’ll throw a huge welcome‐back party in your honor in a night club called La Palace but in return, I want you to allow me to organize a press conference, so that at last, the press will stop saying stupid things about your work.‹ And I agreed and found myself in front of about sixty international journalists, and I 167 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326. Vgl. auch im Anhang unter Punkt III. 168 Vgl. hierzu Kapitel IV.1. 169 Ein Fall der so genannten »ethnischen kosmetischen Chirurgie« stellt Michael Jackson dar, der sich, um einer ethnischen Marginalisierung zu entgehen, der gängigen westlichen, weißen, heterosexuellen Norm anhand von Operationen immer mehr anglich. Vgl. hierzu: Kathy Davis, »Surgical Passing – Das Unbehagen an Michael Jacksons Nase«, in: VILLA, Paula-Irene (Hg.), Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 41-65. 170 Eindrückliche Zahlen hierzu belegt Sander L. Gilman in: »Glamour und Schönheit. Vorstellungen von Glamour im Zeitalter der Schönheitsoperationen«, in: HAUSTEIN, S. 177-195, hier S. 179-180. 171 Vgl. hierzu die Kapitel II.3.1 und II.3.2.

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told them, ›Look at my head! Will you stop saying that I want to look like Venus, which is the image I fight against the most? For me, this is what I want to debunk. And stop saying that I want to look like Mona Lisa. You can see it’s not true. Do you understand me?‹ Afterwards, more than fifty percent of the headlines in the press read, ›She wants to be the most beautiful woman,‹ ›She wants to look like Venus,‹ or ›She wants to look like Mona Lisa.‹ Headlines! At times it is irritating; at other times, it is amusing, but what is terrible for me is that now a whole movement has started. Namely, some art historians took what had been said in the popular press, elaborating some big theories that were all wrong. Even in one of my catalogues, one that was done quickly in Italy and that I didn’t have the chance to proofread, an art critic wrote about my ideal of beauty etc. It’s just unbelievable. It’s crazy. It’s very difficult.«172 Fassen wir die bisher erörterten Punkte zusammen, so stellen wir fest: ORLAN ist weder hysterisch oder psychisch erkrankt, noch neigt sie daher zur Selbstverstümmelung, sie unterzieht sich dennoch medizinisch nicht notwendiger kosmetischer Maßnahmen, ohne sich dadurch einem verjüngten und schönerem Ideal annähern zu wollen, sie meidet darin schmerzhafte masochistische Praktiken so gut es eben geht. In all diesen Einschätzungen – abgesehen von ihrem Unwillen sich einer ästhetischen Norm anzupassen – liegt sie nahe bei denjenigen, die sich einer regelgetreuen Schönheitsoperation unterziehen, wie etwa den beiden oben beispielhaft genannten Cindy Jackson und Michael Jackson. Der entscheidende und bedeutsame Unterschied ist der Umgang und Umgangston mit dem Körper und seiner Identität, wie er im Rahmen der Operations-Performances angeschlagen wird und wie er sich im Nachhinein verselbstständigt. Um diesen Umgangston auszuloten, wurde sie zur ersten Künstlerin, die ihren eigenen Körper als Material und mittels chirurgischer Maßnahmen zum Einsatz bringt und bewusst zur Diskussion freigibt – ganz im Gegensatz zu einem Michael Jackson: »While Michael Jackson’s body can produce debates, he has no positive intention to do so. You cannot really compare a house painter and decorator with an artist painting monochromes. The starting points and the objectives are simply not the same.«173 Will man von der Erschaffung eines ästhetischen Idealbildes dezidiert Abstand nehmen, so wundert es wenig, wenn sich die Künstlerin ausdrücklich auf all diejenigen von der Mehrheit als negativ empfundenen Aspekte einer Schönheitsoperation beruft, die ein Kontrastprogramm zum Schönen darstellen, und damit eine Durchführung der Maßnahmen ad absurdum führen: das Abjekte, die Appropriation eines virtuellen Gesichtes, die Dystopie eines Körperideals und die hierdurch ausgelösten feindseligen, zumindest aber kontrovers verlaufenden Debatten. Das Abjekte äußert sich dabei sowohl in ihrem Frühwerk als auch in La Réincarnation de Sainte ORLAN und den daraus resultierenden Arbeiten nicht alleine durch das explizite Zeigen der Wunde, sondern auch in ihrem religiös anmutenden Zeigegestus auf die daraus entnommenen abjekten Substanzen. Das von ihr in durch kugelsicheres Glas geschützten Reliquienschreinen arrangierte Fleisch, die mit Blut und Wundsekret getränkten Textilien, vor allem aber die mit ihrem abgesaugten Fett befüllten Phiolen und Gefäße erfüllen uns mit Horror. Der Ekel richtet sich zum einen an die ehemals 172 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 304. 173 ORLAN, in: ORLAN und Sander L. Gilman, in: DONGER, S. 197-201, hier S. 198.

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einem lebendigen Körper angehörende Materie an sich, die außerhalb des leiblichen Kontextes nun dem Verfall geweiht ist, zum anderen erweckt körpereigenes Fett in unserer gewichtsbewussten Gesellschaft Widerwillen – insbesondere bei Frauen.174 Der vermeintlich aufgeklärte Zeitgeist hat bewirkt, dass viele sogar mit ORLAN darüber übereinstimmen, dass ein Ideal, welchem die plastische Chirurgie folgt, im Ergebnis kaum etwas mit dem Inbegriff der Natur zu tun hat. Dennoch ist man gewillt – ebenso wie ORLAN – diesem künstlich erzeugten Idealbild einen normativen Status einzuräumen. So bekannte sich etwa die Sängerin Madonna in einer TV-Show freimütig zu ihren eigenen kosmetischen Eingriffen, um mit der ebenfalls anwesenden ORLAN gleichzuziehen. Als die Künstlerin ihr jedoch mit den Worten »This is my body, this is my software« einen Flakon mit einer eigenen Fleischprobe reichte, schreckte Madonna sichtlich zurück.175 Eine Operation über sich ergehen zu lassen, ohne dabei Einblick in die abjekten Tiefen des eigenen Körpers erlangen zu müssen, ohne in direkter Anschauung ein Bewusstsein für dessen verwesliches Innenleben zu entwickeln, um am Ende das diametral entgegengesetzte Resultat nach außen tragen zu können – ein verjüngtes, entschlacktes und faltenloses Ideal –, ist etwas anderes, als dem Abjekten in leibhaftiger Form zu begegnen: der Künstlerin ORLAN, die diesem Gegenüber ein Extrakt ihres eigenen Fleisches in die Hand drückt. Was den meisten jedoch noch bei weitem abwegiger erscheint, ist die Tatsache, dass ORLAN an den eigenen identitäts- wie persönlichkeitsstiftenden Merkmalen des Gesichtes Hand anlegen lässt, ohne damit eine Verbesserung erzwingen zu wollen. Besonders das Gesicht gilt vielen als unantastbar. Wir haben die Vorstellung, dass Eingriffe am Gesicht am schlimmsten schmerzen, am wenigsten von uns kontrollierbar sind, da wir währenddessen nicht in den Spiegel blicken können, um den Überblick zu behalten; wir scheuen die ein Gesicht entstellenden angeborenen oder erworbenen Eigenarten, da diese den Menschen am augenfälligsten zeichnen, indem das Gesicht einen Wiedererkennungswert besitzt und dieses in seiner Gesamtheit der Kommunikation dient, indem wir Mimik und Mund sprechen lassen und uns dabei der Höflichkeit halber in die Augen blicken. Seit jeher ist es deshalb auch das Gesicht, das wir schmücken, schminken, an dem wir modische Accessoires tragen und dieses aufwendiger pflegen als andere Körperteile, die uns zwar ebenfalls kennzeichnen, jedoch weit weniger als Individuum auszeichnen. Nicht zuletzt ist auch unsere seelische wie physische Befindlichkeit unter anderem am Gesicht ablesbar, was bereits zu Zeiten des Hippokrates zu einer nach ihm benannten Überprüfung des Antlitzes eines dem Tode geweihten Patienten führte. Das nach dem Arzt benannte »hippokratische Gesicht« beurteilt dabei nicht die subjektive Gefühlslage des Kranken, sondern stellt die sich im Gesicht verändernden Merkmale fest, sobald der Tod naht und »[d]as Gesicht und Körper des Sterbenden [aufhören], sie selbst zu sein, der Grad der Ähnlichkeit mit sich selbst 174 Vgl. auch: AUGSBURG, S. 333. 175 Vgl. u.a.: INCE, S. 44, sowie JEFFRIES, Stuart, »ORLAN’s art of sex and surgery«, in: The Guardian, 01. Juli 2009, auf: https://www.theguardian.com/artanddesign/2009/jul/01/orlan‐performanceartist‐carnal-art [zuletzt aufgerufen am 31. August 2016].

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[…] Todesnähe oder -ferne [zeigt].«176 Bekanntermaßen ist aber nicht nur der pathologische Zustand dem Gesicht entnehmbar, sondern weit später wurde darüber hinaus der Versuch unternommen, den menschlichen Charakter anhand von Gesichtszügen zu kategorisieren, wie dies Johann Caspar Lavater in seiner vier Bände umfassenden Anthologie »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« (1775-78) tut. Die Erkenntnisse des Altertums gepaart mit denjenigen Lavaters und der Zeitgenossen, führten zu einer empfohlenen Schulung des Mediziners nicht nur auf den humanmedizinischen Gebieten, sondern gleichermaßen in den ästhetischen Wissenschaften und zwar mit folgenschweren Konsequenzen: »It is not only that the healthy becomes the beautiful, but that the beautiful becomes the healthy; the diseased is not only the ugly, but the ugly the diseased. And the ugly must be made to give way to the beautiful through the agency of scientific medicine. What is desired is a world peopled by the beautiful, and only an absolute norm of beauty is permitted. The association of the beautiful and the healthy is as ancient as Hippocrates. […] Beauty, morals and character are all intertwined with the notion of being able to be good, but also in being good.«177 Da eine historisch überlieferte Einigkeit über ein ethnisches wie ästhetisches Normativ von Schönheit nach wie vor Bestand hatte178 , musste man lediglich das moralisch überzeugende Argument finden, in den Schöpfungsplan der Natur eingreifen zu dürfen, der es nach der religiösen Überzeugung der Zeitgenossen vorsah, jedem das ihm gebührende äußerliche Erscheinungsbild angedeihen zu lassen. Auch deshalb hatte sich die oben zitierte allzu simpel belegte Deduktion durchgesetzt, dass der schöne Mensch gut sei und entsprechend nur moralisch abwegigen Menschen Hässlichkeit beschert würde. Eine Korrektur dieser angenommenen gerechten Verteilung galt solange als blasphemisch, bis anhand der vielen Kriegsverletzten während des Krimkrieges und des Ersten Weltkrieges erwiesenermaßen vor allem Unschuldige (Bevölkerungsmitglieder) und Patrioten (Soldaten) von einer Zerstörung oder Beeinträchtigung der ästhetischen Körpernorm betroffen waren. Man nahm davon Abstand, diese Art von Verletzungen und Verstümmelungen mit einem Gottesurteil in Einklang zu bringen, weswegen sich die plastische und wiederherstellende Chirurgie etablieren konnte. Schon bald galten diese Korrekturhilfen Fehlbildungen jeglicher Art und seit Mitte des 20. Jahrhunderts muss die kosmetische Chirurgie kaum mehr Eingriffe rechtfertigen, sondern dient vor allem der optischen Verschönerung eines ansonsten 176 BACHTIN, S. 402. Michail Bachtin exemplifiziert diese Merkmale nach den Werken des Hippokrates, Bd.2, X, S. 54-55, wie folgt: »Bei den akuten Krankheiten muß man seine Beobachtungen folgendermaßen anstellen. Zuerst (beobachtet man) das Gesicht des Kranken, ob es so wie bei Gesunden ist, besonders ob es so wie sonst aussieht, denn in diesem Fall stünde es am besten; ist es aber ganz gegenteiliger Art wie sonst, dann (steht es) am schlimmsten. Das wäre folgender Fall: Spitze Nase, tiefliegende Augen, eingesunkene Schläfen, kalte und geschrumpfte Ohren, zurückgebogene Ohrläppchen, spröde, gespannte und trockene Gesichtshaut, gelbe oder dunkle, bläuliche oder bleierne Farbe des ganzen Gesichts. […] Wenn aber zugleich mit einem der sonstigen (ungünstigen) Zeichen ein Augenlid oder die Lippe oder die Nase schief, runzlig oder bläulich wird, so wisse man, daß (der Kranke) dem Tod nahe ist. Todverkündend sind aber auch schlaffe, herunterhängende, kalte und ganz weiße Lippen.«, in: BACHTIN, S. 402-403. 177 GILMAN, S. 51-52. 178 Vgl. hierzu Kapitel III.1.

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gesunden Körpers.179 Schritte von einer rekonstruierenden hin zu einer kosmetischen Operation wurden jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts unternommen: An der von dem Arzt Julius Wolff gegründeten Berliner »Poliklinik für orthopädische Chirurgie«, späterer Teil der Charité, nahm der deutsch‐jüdische Chirurg Jacques Joseph im Jahr 1896 außerhalb des Rahmens seiner eigentlichen Aufgaben eine Korrektur abstehender Ohren bei einem Jungen vor, was – bedenkt man eben noch festgestellte Verquickung von den physiognomischen Tatsachen mit einem gottgegebenen Schicksal nicht weiter verwunderlich – zu seiner Entlassung aus Wolffs Institut führte.180 Josephs Beweggründe hierfür könnte man als eine medizinisch‐psychologische Maßnahme bezeichnen, denn er rechtfertigte zwei Jahre später sein Handeln vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft wie folgt: »He [der operierte Junge, Anmerkung der Verfasserin] is happy to move around unnoticed.« Sander L. Gilman kommt daher zu dem Schluss: »He was cured of his ›disease‹, which was his visibility.«181 Von einem kein Aufsehen erregenden Äußeren und dem Streben nach dem Abbild eines Menschen, der dem gängigen Schönheitsideal entspricht, ist es kein weiter Schritt. Jacques Joseph gilt heute vor allem als Begründer der Rhinoplastik und nebst der Nase korrigierte er auch alle anderen Gesichtspartien nach den üblichen normierten Vorgaben: »The beautiful is the regular and the proportioned. Whether the nose or the breast, balance and proportion are the hallmarks of the beautiful, and therefore healthy, body. […] The norms for Joseph’s ideal of beauty are taken from high art, with all the status high art had for the educated German of this time. Joseph’s wife is beautiful because she resembles a work of high art. And this becomes his and his patient’s ideal of the healthy.«182 Die Literatur äußert sich nicht eindeutig dazu, ob das Idealmaß von Josephs Frau nach Vorbildern aus der Kunstgeschichte naturgegeben oder aber mit den Mitteln der plastischen Chirurgie durch den Ehemann zustande kam. Tatsache ist jedoch, dass es zumindest ideelle Vorbilder für eine Methodik der unnatürlichen Selektion des Schönen gab, die der Dichtung und den bildenden Künsten entsprangen. Gotthold Ephraim Lessing etwa besinnt sich in seinen Überlegungen zu »Laokoon« auf die Möglichkeit 179 Die medizinischen Mittel zur erfolgreichen Handhabe von chirurgischen Eingriffen waren seit 1946 mit der Entdeckung des Chloroforms und 1967 mit dem erstmaligen Einsetzen von Desinfektionsmitteln endlich gegeben. Vgl. auch: DAVIS, S. 15-16. Was jedoch auch heute noch Sorge bereitet, ist der minimal gehaltene Informationsfluss zwischen Ärzten und ihren PatientInnen: es existiert sowohl eine große Zahl an Patienten, bei denen Eingriffe nicht gut verliefen oder Verschlimmerungen mit sich brachten und die Dunkelziffer derer, die dies nicht an die Öffentlichkeit, sprich: ihren Arzt bringen, liegt nach Kathy Davis, ebenfalls recht hoch. Hinzu kommt, dass viele Patienten vor den Eingriffen nicht ausreichend über die tatsächlichen und/oder möglichen Konsequenzen informiert werden. Dies betrifft nicht den zu erwartenden Leidenszeitraum während der Heilung, sondern schwerwiegende zusätzliche Nebenwirkungen, über die Kathy Davis Statistiken erarbeitet hat; darunter fallen: Infektion der Wunde, Erosion der Haut, Narbenbildung (Verwachsungen und Nachdunkellungen), Schmerzen, Taubheit, Fleckenbildung, Pigmentierung, Nervenschaden, Embolie, Blutgerinnsel, Tod, Unempfindlichkeit der Brustwarzen, Blutstau und Schwellungen und Verhärtungen der Brust, asymmetrische Brüste, Einkapselungen, Auslaufen von Silikon in den Brustraum (mit Auswirkungen auf das Immunsystem), Arthritis, Lupus, Hauterkrankungen, Atemprobleme und Gehirnschäden. Vgl.: DAVIS, S. 27-28. 180 Vgl.: GILMAN, S. 85. 181 Beide Wortlaute stammen aus: GILMAN, S. 88. 182 GILMAN, S. 88.

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der beschreibenden Aufzählung aller Eigenschaften eines schönen Gesichtes, wie sie in der Dichtkunst praktiziert wird und benennt darin gleichzeitig die Grenzen, die insbesondere dem geschriebenen Wort auferlegt sind: »Der Dichter der die Elemente der Schönheit nur nach einander zeigen könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit, gänzlich. Er fühlt es, daß diese Elemente nach einander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie, neben einander geordnet, haben; daß der concentrierte Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurück senden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche Einbildung gehet, sich vorzustellen, was dieser Mund, und diese Nase, und diese Augen zusammen für einen Effekt haben, wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Composition solcher Theile erinnern kann.«183 Das heißt, es ist schier unmöglich, des Ideals als ein gedankliches Konstrukt innezuwerden, ohne dass dieses von einem Anschauungsobjekt aus der Realität gestützt würde. Das weiß auch ORLAN. Sie nutzt deshalb als einen ersten Schritt ihrer Verwandlung den anhand eines Computerprogramms erzeugten Morph ihres Gesichtes, in dem sie weiter oben genannte Partien der kunsthistorischen Schönheiten miteinander verschmelzen lässt.184 Es entsteht ein »technologically created composite of virtual beauties – where ›virtual beauty‹ is defined as beauty being in essence or effect, not in fact; not actual, but equivalent, so far as effect is concerned.«185 Die Künstlerin ist eben nicht so naiv zu glauben, den von ihr betriebenen Eklektizismus eins zu eins übernehmen zu können, um am Ende auch nur einer einzigen dieser klassischen Schönheiten zu entsprechen. Sie vereint in ihrer Auswahl ja nicht nur deren Äußeres, sondern gleichfalls deren innere Werte. Und doch: »After mixing my own image with these images, I reworked the whole as any painter does, until the final portrait emerged and it was possible to stop and sign it.«186 Damit greift sie eine Tradition auf, die nicht nur die Dichtkunst des Altertums – wenn auch nach Lessing weniger erfolgreich – für sich nutzte, sondern ungefähr zeitgleich in der Malerei betrieben wurde. Die Rede ist von Zeuxis, der als bester Maler seiner Zeit fungierte und das Idealbild der Frau erschaffen wollte, indem er die schönsten Frauen zu sich rief, um jeweils deren idealtypische Züge und Merkmale auszuwählen und sie in seiner Malerei zu kombinieren. Inwiefern der Grieche ähnlich einer ORLAN Nachbesserungen an seinem Gemälde vornehmen musste, ist nicht überliefert. Jedoch ist die Fusion von Realität und Fiktion dem Gemisch von Dichtung und Malerei gleichzusetzen, wie dieses nochmals an einem zweiten eindringlichen, von Lessing genannten Beispiel demonstriert werden soll: »Ich darf hier die beyden Lieder des Anakreons nicht vergessen, in welchen er uns die Schönheit seines Mädchens und seines Bathylls zergliedert. Die Wendung die er dabey nimt, macht alles gut. Er glaubt einen Mahler vor sich zu haben, und läßt ihn unter seinen Augen arbeiten. So, sagt er, mache mir das Haar, so die Stirne, so die Augen, so den Mund, so Hals und Busen, so Hüft und Hände! Was der Künstler nur Theilweise zusammen setzen kann, konnte 183 LESSING, S. 145-146. 184 Für einen erneuten Abgleich der von ihr instrumentalisierten Vorbilder vgl.: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319-320; vgl. auch Anhang, Punkt III. 185 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 290. 186 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 320; vgl. auch Anhang, Punkt III.

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ihm der Dichter auch nur Theilweise vorschreiben. Seine Absicht ist nicht, daß wir in dieser mündlichen Direction des Mahlers, die ganze Schönheit der geliebten Gegenstände erkennen und fühlen sollen; er selbst empfindet die Unfähigkeit des wörtlichen Ausdrucks, und nimt eben daher den Ausdruck der Kunst zu Hülfe, deren Täuschung er so sehr erhebet, daß das ganze Lied mehr ein Lobgedicht auf die Kunst, als auf sein Mädchen zu seyn scheinet. […] Auch in der Angabe des Bathylls, ist die Anpreisung des schönen Knaben mit der Anpreisung der Kunst und des Künstlers so in einander geflochten, daß es zweifelhaft wird, wem zu Ehren Anakreon das Lied eigentlich bestimmt habe. Er sammelt die schönsten Theile aus verschiedenen Gemälden, an welchen eben die vorzügliche Schönheit dieser Theile das Charakteristische war; den Hals nimmt er von einem Adonis, Brust und Hände von einem Merkur, die Hüfte von einem Pollux, den Bauch von einem Bacchus; bis er den ganzen Bathyll in einem vollendeten Apollo des Künstlers erblickt.«187 Ähnlich verfährt auch ORLAN – mit dem Unterschied, dass sie am Ende nicht danach strebt, Apolls Pendant, eine Venus zu imitieren. Dass nämlich der hier angewandte Eklektizismus in realitate lediglich eine Fiktion sein kann, beweist bereits das Medium, von dem hier die Rede ist: der so entstandene Apoll ist erdichtet. Das Gleiche passiert, wenn man einen Computermorph fabriziert, denn auch dieser ist lediglich Dichtung, wenn auch elektronischen Ursprungs.188 Das gilt auch für ORLANs computergeneriertes Bild. Und viel wichtiger: diese hatte nichts Anderes erwartet! Denn sie braucht dieses fiktive Abbild einer zukünftigen ORLAN, um es wieder in sein Gegenteil zu verkehren und sich in La Réincarnation de Sainte ORLAN eine neue Identität zu verleihen, die sie in der Wirklichkeit leben kann und weiter leben wird. ORLANs Konzept erweckt damit eine Kunstfigur zu neuem Leben, sie reinkarniert und kanonisiert ORLANs Alter Ego. Sich selbst neu zu erfinden, ist eine gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit, sein Wohlbefinden wiederherzustellen oder zu steigern. Die hierfür befriedigten Bedürfnisse werden dabei oft automatisch mit Maßnahmen gleichgesetzt, die monetäre oder gesundheitliche Verbesserungen betreffen, der Zeitgewinnung dienen und nicht zuletzt das äußere Erscheinungsbild optimieren sollen. Es wird dabei selbstredend angenommen, dass diesbezügliche Veränderungen in Richtung einer Verschönerung unternommen werden, um am Ende einem Ideal näher zu sein als davor. Die legendären hierüber den Beweis führenden »Vorher/Nachher«-Bildkonstellationen aus Frauenzeitschriften und Modemagazinen kommen einem in den Sinn, deren zwangsläufiger Antagonismus das »Vorher« mit »hässlich« und das »Nachher« mindestens mit einem Komparativ von 187 LESSING, S. 154-155. 188 Arthur C. Danto beschreibt das Resultat gemorphter und computergenerierter Menschenbilder wie folgt: »There are now computer programs which are capable of extracting the norm from as many images as one cares to scan into one’s machine. The resulting morph is unlikely to match any individual we may encounter, and it is similarly unlikely that an individual human being will perfectly exemplify the prevailing idea of beauty. In fact, it has recently been demonstrated that a consolidated image of perhaps sixty people will be voted more attractive than the images of most of those who participated in the consolidation. But as a morph it will coincide with the idea of beauty at which everyone with a comparable degree of experience will have arrived. It is, within certain limits to be discussed shortly, universal, without corresponding to reality.«; in: Arthur C. Danto, »Beauty and Beautification«, in: BRAND, S. 65-83, hier S. 78.

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»schön« in Verbindung bringen will. Was unter dem Superlativ des Schönen, dem Ideal zu verstehen ist, wurde im vorhergehenden Kapitel bereits benannt. Wer dieses Ideal bestimmend prägte, darüber wurde noch nicht ausdrücklich gesprochen, obwohl die Hauptakteure bereits im Großen und Ganzen in Erscheinung traten. Dass es sich dabei ausschließlich um männliche Protagonisten handelt, fällt nicht übermäßig ins Auge, sondern mutet im Gegenteil sogar selbstverständlich an in einer nach wie vor männlich, weiß und westlich dominierten Gesellschaft. Die Ausformung des Schönheitsideals beginnt durch bildnerische Künstler des Altertums bis hin zur Neuzeit und der Zeitgenossen und wird von den ästhetischen Theoretikern seit Winckelmann übernommen, bestätigt und bis heute überliefert. Es ist das Desiderat in der kosmetischen Chirurgie, dessen ausführendes Personal ebenfalls in der Regel männlich ist189 , und schließlich wird es von Experten und Kritikern beurteilt. So erstaunt es kaum, bei Arthur C. Danto das Missverständnis über ORLAN bestätigt zu finden: »But normic beauty is curiously bland […]. It explains as well why a contemporary artist, Orlan, who submits herself to plastic surgery in order to make herself conform to aesthetic prototypes, in fact looks, well, creepy. […] We can, within limits, feign looks, but not consistently. The kind of person we are shows through the kind of person we appear to be; there is a limit to the possibilities of expressional cosmetics, of making ourselves look kind or thoughtful or sensitive.«190 Damit verfällt er erstens dem simplifizierten Glauben, dass sich – wie von Lavater einst konstatiert – der Charakter zwingend anhand der Gesichtszüge bestimmen lässt, zweitens missinterpretiert er ORLANs Unterfangen als eine Suche nach dem ultimativen, kunsthistorisch geprägten Schönheitsideal, das sie sich selbst überstülpen möchte, und drittens fällt er ein Urteil über ihr derzeitiges Aussehen, was und weil es lediglich nicht einer mustergültigen und normierten Vorstellung von Perfektion entspricht.191 Es ist das humanistisch geprägte und doch scheinbar so einfach zu handhabende Diktum, welches das Englische so trefflich zum Ausdruck bringt: »Don’t judge a book by its cover«, das missachtet wird und für ein politisch inkorrektes Urteil sorgt. Dabei hatte ORLAN lediglich die Idee im Sinn, »of retransforming my body in a way that violated dominant aesthetic criteria. If I’m verbally described as a woman with two lumps on her forehead I’ll probably be taken for an unscrewable freak; but if people actually see me, it’s possible they’ll look at me differently, or at any rate they’ll realize that the lumps are aesthetic possibilities – assuming, of course, that people manage to free themselves from the models conditioning their judgement. When people say, ›I want, I love, I desire‹, it’s always in terms of the models we’ve been presented with. The changes I 189 Vgl. hierzu: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 296; ORLAN, »ORLAN/Paul Virilio [Interview, 2009]«, in: DONGER, S. 188-195, hier S. 194, sowie ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 324; vgl. auch Anhang, Punkt III. 190 Arthur C. Danto, in: BRAND, S. 65-83, hier S. 79 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. 191 Mit diesem Urteil ist Danto nicht alleine. Michelle Hirschhorn verweist auf einige männliche Kritiker, die zum Teil despektierliche Urteile in Bezug auf ORLANs Erscheinung fällen, die weit über das angemessene Maß hinausschießen; in: Michelle Hirschhorn, »Orlan: artist in the post‐human age of mechanical reincarnation: body as ready (to be re-)made«, in: POLLOCK, Griselda (Hg.), Generations & Geographies in the Visual Arts: Feminist Readings, London und New York 1996, S. 110-134, hier S. 117.

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made to my face were an attempt to sidestep the norms by which we – and I – are constrained. And also an attempt to make my body a site of public debate. And from that angle, I’ve certainly succeeded.«192 Damit stellt ORLAN die Frage nach den Verursachern eines idealisierten Frauenbildes und unter welchen Konditionen Frauen sich für oder gegen einen kosmetischen Eingriff, beziehungsweise für oder gegen ein Ideal entscheiden können. Das paternalistische – aber es ist zu betonen: auch das feministische – Argument lautet, dass Frauen davor beschützt werden müssten, sich einem idealisierten Diktat zu unterwerfen. Der Bedarf an Schutz ergebe sich zum einen aus den narzisstisch motivierten Schönheitsvorstellungen einer Frau, zum anderen müsse die ungesunde Einflussnahme durch andere unterbunden werden. Beide Motive basieren auf der Annahme einer unmündigen Frau, die nicht befähigt sei, eigenständig über sich zu bestimmen.193 Kathy Davis kennt den diesem Zwiespalt innewohnenden Gedanken und betont, dass Frauen zwar eine Wahl hätten, »albeit a choice taken under conditions which are not of women’s own making.«194 Anhand der von ihr geleisteten intensiven Forschungsarbeit auf diesem Gebiet, zeigt sich, dass viele der Frauen, die sich einer kosmetischen Korrektur unterziehen, dies zum großen Teil unbewusst nicht aus gänzlich freien Stücken tun. Die vermeintliche Kontrollinstanz, die Frau über ihren Körper hat, wird bestimmt durch gesellschaftliche Strukturen, den normierten idealen Körper und weitere ambivalente Anforderungen, denen mit einem chirurgischen Eingriff genüge getan werden soll. Sich selbst zu gefallen, ist dabei zwar wichtigstes proklamiertes Ziel, jedoch gefällt Frau sich selbst nur dann, wenn sie allen von außen an sie gestellten Anforderungen genüge tut.195 Der aus diesen Gründen fragmentiert gedachte und empfundene Körper wird deshalb – wie glaubhaft verfochten wird – aus freien Stücken modelliert, tranchiert, mit dem Skalpell zurechtgestutzt und damit dekonstruiert. Der Körper als Stückwerk ist jedoch undenkbar. Das damit erreichte Resultat ist entwaffnend ehrlich und für diejenigen, die einem natürlichen Ideal nacheifern, auch de‐illusionierend, denn: ein von der Natur vorgegebenes Ideal, welches in unserer Gesellschaft als normierend protegiert und regulativ erachtet wird, gibt es nicht! Aus diesem Grunde nutzt ORLAN für ihre Performance-Serie La Réincarnation de Sainte ORLAN niemals den Begriff der »Schönheitsoperation/cosmetic surgery« und es findet sich auch keinerlei Hinweis auf eine Verbesserungsstrategie in ihrem Vokabular, das ihr ein Streben nach einem zeitlosen Schönheitsstandard unterstellen ließe.196 Und 192 193 194 195

ORLAN, in: ORLAN und Hans-Ulrich Obrist, in: DONGER, S. 177-187, hier S. 184. Vgl. hierzu: DAVIS, S. 118. DAVIS, S. 120. Vgl.: DAVIS, S. 158: »Women routinely make decisions under conditions over which they are only partially aware and over which they have, at best, only limited control. If we account for the unacknowledged conditions and unintended consequences which constrain all social action, then women do choose to have cosmetic surgery. These choices, however, are bounded by a broader context of lack of choice, where women’s options are inevitably limited and usually more than a little ambivalent.« 196 Peg Zeglin Brand hierzu: »Since Orlan does not attempt to become more beautiful or attractive, and has, in her words, come to look somewhat ›monstrous‹, her performances are clearly distinct from cosmetic surgery. They are instances of what she calls ›aesthetic surgery‹ and they result from a variety of complex intentions.«, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 294. Das »Ästhetische« wird in diesem Augenblick in seiner Bedeutung dem altgriechischen Begriff der »aísthēsis« entlehnt, welcher nicht das bereits reflektierte »Schöne« damit bezeichnet wissen will, sondern ganz allge-

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dennoch führt ihr so offensichtlich vorgetragenes Anliegen zu Missverständnissen wie sie eben benannt wurden und zu einem weiteren weit verbreiteten Irrtum, nämlich: ORLAN trete in einer extremen, feministischen Geste gegen Schönheitsoperationen ein. Dem widerspricht ORLAN: »My work is not against cosmetic surgery, but against the standards of beauty, against the dictates of a dominant ideology that impress themselves more and more on feminine flesh … and masculine flesh. Cosmetic surgery is one of the sites in which man’s power over the body of woman can inscribe itself most strongly. I would not have been able to obtain from the male surgeons what I obtained from my female surgeon; the former wanted, I think, to keep me ›cute‹. Feminists reproach me for promoting cosmetic surgery. In fact, although I am a feminist, I am not against cosmetic surgery, and I can explain this: in the past we had a life expectancy of forty to fifty years. Today, it has jumped to seventy or eighty (and is constantly going up). We all have a feeling of strangeness in front of the mirror; this often becomes more acute as we age. For some people this becomes unbearable, and the use of cosmetic surgery is very positive in this case. Obviously, cosmetic surgery ought not to become compulsory! Here again, social pressure must not prevail over individual desires. Cosmetic or not, surgery is not natural, but taking antibiotics in order not to die of infection is not any more natural! It is a phenomenon of our century, one of many possibilities, a choice. I am the first artist to use surgery as medium and to alter the purpose of cosmetic surgery: to look better, to look younger.«197 Es ist also nicht eine Schönheitsindustrie, die in Form von kosmetischen Eingriffen und ästhetischen Maßnahmen in der Tat eine Hilfestellung für ein verbessertes Wohlbefinden offerieren kann, welche mit ORLANs Anliegen unter Generalverdacht gestellt wird, sondern die Künstlerin äußert ihr Missfallen gegenüber einer Entscheidungsgewalt, die eine autonome Selbstbestimmung der Frau blockiert und eine autarke Position der Frau weiterhin negiert, indem sich diese einem Standard unterwerfen lässt. Äußerlichkeiten, wie sie an ORLANs verändertem Körper nun häufig kritisiert und als »unschön« bewertet werden, räume man einen viel zu hoch geschätzten Wert ein. ORLAN sieht den Körper als Hülle an und versteht ihre Kunst als Empowerment: die Hülle darf verändert und nach eigenem Gutdünken gestaltet werden: »The ›envelope‹ [body] is not very important; I can change it if I want. The body is just like a costume, a bag.«198 Mit ORLANs Auffassung des zeitgenössischen Körpers können sich so auch unsere verhältnismäßig banal anmutenden und dem Irdischen verhafteten Sorgen um diesen relativieren. Der Gegenentwurf, den sie hierfür fertigt, umfasst sowohl Elemente, die als schön erachtet werden können, dazu solche, die ihrer eigenen, recht attraktiven Persona entstammen, und zuletzt solche, die ein zeitgenössisches Schönheitsideal absurd erscheinen lassen – oder umgekehrt: die an mein und daher aus einer neutraleren Warte heraus dasjenige meint, was wir anhand unserer Sinne wahrnehmen und empfinden können. 197 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 320; vgl. auch Anhang, Punkt III. Vgl. weiter ähnliche Wortmeldungen von ORLAN, in: »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29, sowie ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 293 und S. 297. 198 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 293.

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sich so absurd sind, dass sie von ORLAN als »counter standards«199 bezeichnet werden. Es wäre falsch und auch nicht ganz aufrichtig, wollte man ORLAN heute als unattraktiv und fern jeden Schönheitsideals beschreiben.200 Mindestens aber ein ästhetisches Wohlgefallen noch jenseits einer Frage nach den Zweckmäßigkeiten kann ihr zugestanden werden. Zu den eben genannten »counter standards« gehören die beiden Stirnhöcker, welche ORLAN »highlighted – for the sake of making them more prominent than they might ordinarily be – by two shades of frosted gold makeup.«201 Die in jeder Hinsicht teuflisch auffallenden zusätzlichen Extremitäten an ihrer Stirn, sind die sprichwörtlich hervorstechendsten beiden Merkmale einer Differenzierung von einem vorherrschenden Körperideal. Indem sie sich die ohnehin recht ausgeprägte Stirnpartie von Leonardo da Vincis Mona Lisa in einem weit übertriebenen Maße aneignet, entfernt sich ORLAN am weitesten von einem ihr unterstellten angestrebten Schönheitsideal. Obwohl vergleichbare Körperpraktiken seit Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt in Mode kommen – hierzu zählen zum Beispiel die seit geraumer Zeit salonfähig gewordene Tätowierung, das Piercing (auch in seiner geweiteten Form) sowie seit kurzem Ohr- und Lippen-Tunnels –, stellen ORLANs Erhebungen an der Stirn noch immer einen ungewohnten Blickfang dar und sind in ihrer Nachahmung sicherlich nicht dazu geeignet, zu einem früher oder später wiederum zur Konformität übergehenden modischen Accessoire zu verkommen.202 In den während der letzten drei operativen Eingriffe des Zyklus La Réincarnation de Sainte ORLAN verwirklichten Stirnhöckern, lässt sich noch einmal in exemplarischer und verdichteter Weise verdeutlichen, was ORLAN den Ärzten, sich selbst und ihrem Gegenüber abverlangt: »I asked her [Dr. Marjorie Cramer, Anm. d. Verfasserin] what I asked every other male surgeon, who would never totally hear my question. I wanted a surgical gesture that had never been done before and that presented no added value in terms of beauty. She listened and understood because beauty was not her concern, and she knew it was not mine either. We selected hard plastic implants which are usually grafted onto the cheek bone to enhance their definition and 199 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 295. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf Botticellis Venus verwiesen, deren Schönheit nie explizit an ihrem Kinn festgemacht wurde, welches sich ORLAN aber absichtsvoll aussuchte, um es ihren eigenen Gesichtszügen in La Réincarnation de Sainte ORLAN hinzuzufügen. 200 So geschehen – wie oben gezeigt – nicht nur in der Presse und durch namhafte Kunsthistoriker, sondern auch weibliche Kunsthistoriker liegen einem Irrtum auf, zum Beispiel in O’BRYAN, S. 32: »Far from seeking beauty or promotional advertisement for cosmetic surgery, she utilizes medical technology to make herself unattractive.« 201 Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 295. 202 ORLAN zu einer eventuell modischen und flächendeckenden Aneignung der Höcker: »For example, many people said to me: ›But your bumps, it’s the same thing as tattoos or piercing.‹ But for me, it’s a very different thing because very often, those who do piercing do so to differentiate themselves from others. In fact, their intention is mainly to join a different group, another tribe, to ›resemble‹. It’s becoming a new kind of conformity. That’s the danger.«; vgl.: ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 298. ORLANs Befürchtung ist bislang nicht eingetreten. Jedoch muss der Vollständigkeit halber hinzugefügt werden, dass der Modedesigner Walter Van Beirendonck seine Models bereits einmal mit auf der Stirn aufgeklebten Hörnern über den Laufsteg schickte. Dies muss eher als Kult und nicht als Appropriation bewertet werden, zumal sich die Höcker in der Modewelt ansonsten nicht durchsetzen konnten.

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we explored where they could be implanted elsewhere on my face. It had been an area where the implants would be obvious and appear unequivocally intentional, as something I had chosen for amusement and pleasure. Of course, it was important that she, as a surgeon, could technically accomplish this surgery, which she was doing for the first time. It was crucial that the implant did not touch the nerves or muscles which could provoke a facial paralysis. She proposed an area, the temples on the side of the forehead, where there are no nerves and where the implants could be wrapped in muscles to maintain them. The implants were bigger initially because of the body’s attempts to reject them. It wraps them in liquid, which causes an inflammation. Because of this the implants were big for quite a few years. Then the body absorbed them, retracting them as close as possible to the skull. It was like a fight with my body. One implant was even rejected. Now those protuberances are completely integrated into my body and my life. I put make up on them, glitter. Through them I play with the real and the fake, augmenting and parading them. They become, like all the others, seductive organs. They are not the marks of mutilation. This is ›additive‹ not ›subtractive‹.«203 ORLAN erweitert damit nicht nur die Auffassung von Schönheit, sondern bekräftigt auch die Ausdrucksmöglichkeiten unseres Körpers, wie sie bereits bei Lessing angemerkt wurden. Dieser hatte versucht, sich den Laokoon in seiner bildhaften Umsetzung mit einer Binde um die Stirn gewunden vorzustellen, wie es einst von Virgil beschrieben steht. Lessings Urteil fällt eindeutig aus: »Aber diesen Nebenbegriff mußte der Artist aufgeben, wenn das Hauptwerk nicht leiden sollte. Hätte er dem Laokoon auch nur diese Binde gelassen, so würde er den Ausdruck um ein grosses geschwächt haben. Die Stirne wäre zum Theil verdeckt worden, und die Stirne ist der Sitz des Ausdruckes.«204 Diesem Ausdruck verleihen nun ORLANs Hörner Nachdruck. Die Hörner kennzeichnen aber auch eine Dichotomie, wie sie bereits weiter oben Thema war: diejenige zwischen Gut und Böse, Madonna und Hure, Büßender und Sünderin, Hl. Theresa und Teufelin. Das heißt, dass ORLAN neben den weltlichen‐allzuweltlichen Aspekten zugleich die christlich‐jüdische Tradition mitdenkt und ihren Werken Zitate aus einer religiösen Praxis hinzufügt. Auf den ersten Blick scheint die Künstlerin in ihrem Oeuvre wiederzubeleben, was den christlichen Erlösungsgedanken ausmacht: die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes, die Passion, den Märtyrertod, die Wiederauferstehung und das ewige Leben. So korrespondieren die Kostüme und Stoffe, welche sie für die einzelnen Rituale anlegt und nutzt, mit denjenigen aus der Heilsgeschichte und sind gleichzeitig in ihr Gegenteil wandelbar: Die jungfräulichen Laken ihrer Aussteuer werden durch den Samen ihrer Liebhaber unrein, sie kleidet sich in ihnen im Habitus einer Nonne, gerät wie die Hl. Theresa in Ekstase und wird in den schaumgleichen Wellen des ihre Füße umwabernden Lakens als Venus neu geboren; Blutflecken und Wundsekret kennzeichnen die aus den Operationen geretteten Gazestoffe, um die Wundmale, die ihr in La Réincarnation de Sainte ORLAN zugefügt wurden, zu belegen und für die Glaubwürdigkeit ihrer Wiederauferstehung zu sorgen; das gescheckte Gewand des Harlekins zeugt von ihrem Weiterleben noch nachdem ihre kör203 ORLAN, »ORLAN/Paul Virilio [Interview, 2009]«, in: DONGER, S. 188-195, hier S. 194. 204 LESSING, S. 54.

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pereigenen Fleischextrakte nur mehr in Reliquien gerahmt oder als Fragmente ihrer selbst in Petrischalen in einem Labor bewahrt werden. Obwohl die christliche Religion den Körper am liebsten negiert, insbesondere die Freuden, die damit verbunden sind, kommt die Praxis und Umsetzung des Glaubenskonzeptes nicht ohne Rituale aus, die eben diesen Körper in all seinen abjekten Schwächen und lustvollen Leiden thematisieren. Ekstatische Passion, das Schlagen von und Bohren in Wunden, die explizit durchdeklinierte Qual, die Erlösung von Schmerzen durch körperliche Pein, die Fragmentierung des Leibes nach dem Tod und das gesicherte Weiterleben durch die Nöte des Fegefeuers.205 Oberflächlich betrachtet, handelt es sich hierbei um Drangsale, die auch den Handlungen und der hierfür notwendigen Motivation ORLANs auffällig nahe zu stehen scheinen. Der wichtige Unterschied liegt jedoch darin, dass ORLAN diese religiösen Überzeugungen nicht teilt, die von einem schuldhaften Menschen samt befleckten Körper ausgehen, der durch Schmerz und Leid geprüft zur Erlösung gelangt, sich reinwäscht, indem er Buße tut. ORLAN begreift den Körper als einen Ort der Sinnesfreuden und der Wandelbarkeit, ein Körper, der hierfür nicht durch die Auferlegung von Beschränkungen und das Erleiden von Schmerzen kasteit werden müsse.206 Deshalb bekennt sich ORLAN in ihrem »Carnal Art Manifesto« zu einem atheistischem Gedankengut: »Clearly Carnal Art is not the inheritor of the Christian tradition, against which it fights! It points at its negation of body‐pleasure and lays bare its unravelling in the face of scientific discoveries. Neither is Carnal Art the inheritor of a hagiography handed down by martyrs: it adds rather than subtracts, magnifying abilities instead of minimizing them. Carnal Art is not self‐mutilation. Carnal Art transforms flesh into language and reverses the Christian principle of the word turned flesh into the flesh turned word; only the voice of ORLAN remains unchanged: the artist works on representation.«207 Um diese Überlegungen kenntlich zu machen, muss der christlich‐religiöse Kontext zunächst einmal aufgerufen und in seinen einzelnen Bestandteilen abgefragt werden, um eine Gegendarstellung zu ermöglichen. ORLAN bedient sich dabei freizügig der christlichen Rollenvorgaben: »I did not receive a religious education. For me, a religious image is not a transgression. But I did feel the need to understand the culture we live in. Religion is everywhere; art for millennia has been a propaganda tool. It was important to examine these images of Virgins, Madonnas, Saints by using them at a critical distance. By playing with them, by putting them on like you would put on a puppet’s glove, by making them freely say something else or by enlarging what they said.«208 Der von ORLAN entworfene Konter entspricht deshalb

205 Vgl. Kapitel II.3.1. 206 ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 43, sowie ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 85. 207 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 28-29. Vgl. auch Anhang unter Punkt II. 208 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 85.

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in vielem dem Vokabular des Christentums – und widersetzt sich diesem, indem er beiden Seiten, dem Guten wie Bösen, seine Berechtigung zuerkennt.209 Deshalb lässt sich ORLAN durch ihre Operations-Performances auch re-inkarnieren (réincarnation). Es geht ihr nicht um die Wiederauferstehung (résurrection) eines Körpers, der in das Himmelreich auffährt.210 Vielmehr soll damit der Fiktion einer heiligen ORLAN ein Ende bereitet werden, indem sie sich neu gebiert, neu erfindet; genauso wie der Christenmensch, der sich nach seiner Bekehrung in einem neuen Verhältnis zu Gott sieht, vom Saulus zum Paulus wird, und weiter unter den Menschen wohnt. Ihrer Heiligsprechung, die in einem kirchenrechtlich‐dogmatischen Rahmen – wenn überhaupt – erst nach ihrem Tod möglich würde, möchte sich die Künstlerin noch zu Lebzeiten durch einen irdischen Vertreter versichern: ein Rechtsanwalt sollte ihre neue Identität als Heilige beantragen und so die Réincarnation de Sainte ORLAN mit Erfolg krönen.211 Sowohl ORLANs Reinkarnation als auch die Resurrektion Jesu Christi fordern ihren Tribut in Form von Wundmalen. Physische Leiden bilden insgesamt das ideelle Fundament des christlichen Glaubens. Den Märtyrern, die in der Nachfolge Jesu bedingungsloses Leid über sich ergehen lassen, werden Wunden gerissen und geschnitten, ihnen wird bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Die zumeist stoisch ertragene oder in Ekstase erlebte Pein, wandelt sich in ORLANs Operationen zu einem aktiv eingelösten kreativen Akt, der ihr weder Schmerzen noch Ekstase bereitet, sondern offensichtlich Freude: ORLAN zeigt immer ihr lächelndes Gesicht. Den Stoizismus der Märtyrer, den ihr Glaubensbekenntnis von ihnen einfordert, verkehrt die Heilige ORLAN in eine neunfach ausgeübte rituelle Handlung, während der sie Texte rezitiert und mit dem Betrachter kommuniziert. Auch der explizite Zeigegestus folgt einer christlichen Tradition. Die Anschauung des verletzten und von Wunden übersäten Körpers stellt unter Beweis, dass die Heiligen und Märtyrer, aber auch Jesus und ORLAN Menschen aus Fleisch und Blut und damit sterblich sind. Ecce homo! Aber im Gegensatz zu einem Vorgeführt-Werden, wie es den Heiligen, Märtyrern und Christus widerfährt212 , zeigt sich ORLAN nicht als Misericordienbild, sondern präsentiert ihre Wunden und die von ihrem Körper losgelösten Hautpartien für die Kameras in Nahaufnahme. Wie einst der ungläubige Thomas, dessen Hand Jesus in seine Seitenwunde legte, um seine Wiederauferstehung zu belegen213 , können wir heute jeglichen Zweifel an ORLANs wahrhaftiger Réincarnation anhand der verbliebenen Fleischrelikte und mit Wundsekret vollgesogenen Gazebildern 209 ORLAN hierzu: »Religion is always against women, and Christian art wants us to not touch bodies, to choose between good and evil. But all my work is about good and evil. So for me God isn’t a solution for my life, or for my work.«, in: JEFFRIES, Art., 2009, n.p. 210 Vgl.: ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 41. 211 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326; vgl. auch Anhang, Punkt III. 212 Darauf ließ Pilatus Jesus geißeln. Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Sie stellten sich vor ihn hin und sagten: Heil dir, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht. Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, dass ich keinen Grund finde, ihn zu verurteilen. Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, da ist der Mensch! (Johannes 19, 1-5) 213 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! (Johannes 20, 27)

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ausräumen.214 ORLAN tut danach 40-tägige Buße, indem sie ihren Heilungsprozess in 40 Diptychen tagtäglich dokumentiert. Die Vierzig ist eine prominente biblische Ziffer, deren Symbolwert für die aus der Operations-Performance Omniprésence entstammenden Fotoserie Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, In-Between genutzt wird: 40 Tage lang ergoss sich die Sintflut und Noah verbrachte nochmals so viele Tag an Bord seiner Arche, Moses führte das Volk Israel 40 Tage durch die Wüste, verblieb 40 Tage auf dem Berg Sinai und auch Jesus besann sich 40 lange Tage in der Wüste. Besinnung dürfen wir auch ORLAN für die 40 Tage währende Heilung ihres Körpers unterstellen, jedoch kein bußfertiges Verhalten: nach der Demonstration der karnevalesken Exzesse ihrer Carnal Art in La Réincarnation de Sainte ORLAN, auf die traditionell 40 Tage der Enthaltsamkeit und des Fastens folgen sollten, fügte ORLAN der Serie der Diptychen jenseits jeder Tradition eine 41. Tafel hinzu, diejenige mit dem Abbild ihrer Wiedergeburt. Das bedeutet, »[Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, In-Between] is not a moralistic document of penitence, or recovery following an operation, but a staging of the essence of the carnival, the descent of the stars to the earth in the rebirth of Venus. […] Omniprésence celebrates the painless transformation, divinization of the flesh.«215 ORLANs heilendes und am Ende vollendetes Gesicht, ihre Rückkehr auf die Erde, ist vergleichbar mit der Inaugenscheinnahme des Harlekins auf der von Michel Serres in »Le Tiers-Instruit« für diesen bereit gehaltenen Pressekonferenz. Von seiner Besichtigung der Mondlandschaften heimgekehrt, zeigt Harlekin dem erwartungsfrohen Publikum die Scheckigkeit seiner dort erworbenen Hautschichten: »Und so sähe die Tätowierung aus: Die Stellen, an denen meine Seele ständig präsent ist, sind weiß; flammenförmig strahlen sie aus in das Rote, das, instabil, mit anderem Rot wechselt; die seelenlosen Wüsten sind schwarz; grün sind die Wiesen, auf denen die Seele sich selten, aber immerhin gelegentlich niederläßt; ockerfarben, mauve, stahlblau, orange, türkis … So komplex und ein wenig beängstigend bietet sich die Karte unserer Haut dar, buchstäblich als Karte unserer Identität, als carte d’identité, wie ein Personalausweis. Jeder trägt seine eigene bei sich, unverwechselbar wie der Fingerabdruck oder das Gebiß; keine dieser Hautkarten gleicht der anderen; jede verändert sich mit der Zeit; ich habe seit meiner traurigen Kindheit so große Fortschritte gemacht und trage auf der Haut die Spuren und Wege, die all die Menschen dort hinterlassen und gebahnt haben, welche mir halfen, meine diffuse Seele zu finden. Wer sehen muß, um wissen oder glauben zu können, der zeichnet oder malt oder fixiert den buntscheckig changierenden Hautsee, macht das rein Taktile durch Farben und Formen sichtbar. Aber jede Haut bräuchte eine andere Tätowierung, und die Tätowierung müßte sich mit der Zeit ändern: Jedes Gesicht verlangt eine eigene Maske des Tastsinns. Die Haut mit ihren eintätowierten Geschichten trägt und zeigt die eigene Geschichte. Entweder sichtbar: Abnutzung, die Narben alter Wunden, von der Arbeit verhärtete Stellen, die Runzeln 214 ORLAN kam einmal tatsächlich in die Verlegenheit, beweisen zu müssen, dass sie und ihre Kunstwerke dieselben Gene besitzen: »[The] reliquaries […] can also be tools because it helped me in an art center in Copenhagen to show a scenario of identity research between my relics and my Saint Suaire that have been submitted to criminal police who made the sequencing of my blood and my flesh to know if it’s the same artist who made the two masterpieces.«, ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. 215 Howard Caygill, »Carnival in ORLAN«, in: DONGER, S. 74-83, hier S. 78 und S. 80.

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und Furchen vergangener Hoffnungen, Flecken, Male, Ekzeme, Schuppenflechten, Begierden. Hier hat das Gedächtnis sich eingegraben; warum sollte man es anderswo suchen. Oder unsichtbar: die flüchtigen Spuren von Liebkosungen, Erinnerungen an Seide, Wolle, Samt, Pelze, Steine, Baumrinde, rauhe Oberflächen, Eiskristalle, Flammen, die Zaghaftigkeit feinsinnigen Takts und die Kühnheit gewagter Berührungen. Eine getreue, loyale Tätowierung, in der das Sinnliche seinen Ausdruck fände, gliche einer abstrakten Zeichnung, einem abstrakten Gemälde; wenn die Tätowierung Zeichen, Ikonen oder Buchstaben nachahmt, fällt alles ins Soziale zurück. Die Haut macht sich zum Bannerträger, während sie doch in Wirklichkeit Träger von Spuren ist.«216 Die Apotheose des Fleisches dient nicht nur dem Christentum, sondern auch der Apotheose ORLANs in Form von Reliquien der Beweisführung. Das Christentum schaut dabei in die Vergangenheit, um sich ihrer Heiligen und deren wundersamen Wirkung haptisch versichern zu können. ORLANs Blick ist ausschließlich in die Zukunft gerichtet, frei nach ihrem Motto »Remember the future!«217 Die Reliquien und Votivgaben, die ORLAN für ihr zukünftiges Schaffen zurückbehält, unterscheiden sich in nichts von den pathologischen Präparaten, wie sie die Medizin für Forschungszwecke bereithält. Diese Votivgaben bei ORLAN tauchen bereits in ihrem Frühwerk auf, als sie 1976-77 ihren fragmentierten Körper in der Verkaufsaktion Se vendre sur les marchés en petits morceaux/Selling Oneself on the Market zu Markte trägt. Damals noch, um die feministisch interpretierte Leidensgeschichte der Frau zu thematisieren. Die Votivgaben, die aus ihrer ersten Operation des Jahres 1991 im Zyklus von La Réincarnation de Sainte ORLAN aus dem Fett der Künstlerin in die Form ihrer Arme und Beine gegossen wurden, sind Ausdruck des Fragments und der Bitte um Fortbestand, wie sie auch heute noch im traditionell christlichen Sinne an den Orten der Buße und Fürbitte von den Gläubigen gespendet werden. ORLANs Fragmente und ihr Fleisch werden deshalb auch zum Verkauf angeboten. Während die Reliquienschreine der christlichen Überlieferung nach Überreste des Heiligen enthalten, dessen Echtheit nur anhand ihrer Wunderwirkungen, nicht aber nach biologischen Richtlinien überprüft werden kann, entsprechen ORLANs Relikte in jeder Hinsicht dem Original. Und während es im Fall der christlichen Reliquien eine Frage der Überzeugung ist, an den bezeichneten faktischen Inhalt zu glauben – dies können sowohl Körperfragmente und Kleidungsstücke der Heiligen sein, aber auch so abwegige Dinge wie der Tropfen Milch aus der Brust der Mutter Gottes218 –, sind wir bei den Inhalten von ORLANs Reliquiengefäßen im Bilde, denn sie enthalten jeweils genau zehn Gramm Fleisch der Künstlerin. Eine Zertifikation ist nicht notwendig. Die Inschriften verweisen immer gleichlautend auf »My flesh, the Text, and Languages«, dem die Künstlerin den ebenfalls immer gleichen und in verschiedene Sprachen übersetzten Textauszug aus Michel Serres »Le Tiers-Instruit« beigibt: »Das normale, tätowierte, beidhändige, hermaphroditische und gemischt‐rassige Monster, was könnte es 216 SERRES, Michel, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (Les cinq sens. Philosophie des corps mêlés, 1985), übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1993, S. 20-21. 217 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 317; vgl. auch Anhang, Punkt III. 218 Vgl. hierzu: BACHTIN, S. 392-93, der hiermit die grotesken Aufzählungen aus Rabelais rechtfertigt, die vor allem bereits während des Mittelalters der Verspottung des Kults und des damit einhergehenden Schacherns um Reliquien dienten.

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uns zeigen unter seiner Haut? Ja, das Blut und das Fleisch. Die Wissenschaft spricht über Organe, über Funktionen, über Zellen und Moleküle, um schlußendlich zuzugeben, daß man in den Laboratorien schon lange nicht mehr über das Leben spricht, aber nie sagt sie das Fleisch, das gerade die Mischung bezeichnet, an einem Ort des Körpers, hier und jetzt, voller Muskeln und Blut, Haut und Haar, Knochen, Nervenstränge und verschiedener Funktionen, das also dasjenige vermengt, welches durch das stichhaltige Wissen analysiert wird.219 ORLAN gibt ihr Fleisch an die Wissenschaft. Mit dieser aus der christlichen Eucharistiefeier entlehnten Geste in leicht abgeänderter Form – sie lautet bei ORLAN »This is my body … This is my software« – reicht sie sowohl einen Heilsgedanken als auch ihre biologischen Daten weiter. Die Option auf ein ewiges Leben geht für uns alle ein in eine nahende Zukunftsvision: »Carnal Art transforms flesh into language and reverses the Christian principle of the word turned flesh into the flesh turned word.«220 Der Schritt in die so genannte Bio Art ist spätestens damit getan: »My work and its ideas, incarnated in my flesh, interrogate the status of the body in our society and its evolution in future generations via new technologies and upcoming genetic manipulations. My body has become a site of public debate that poses crucial questions for our time.«221 ORLAN wiedersetzt sich mit den blasphemischen Mitteln der neuen Technologien den Vorgaben und dem Willen eines christlichen Gottes, indem sie zugibt: »My work is a struggle against the innate, the inexorable, the programmed, Nature, DNA (which is our direct rival as artists of representation), and God! My work is blasphemous.«222 ORLANs Oeuvre bekräftigt ein Körperdrama, das bereits in Rabelais’ Welt Gültigkeit besitzt: der Körper ist nie fertig, er ist ein werdender und wandelbarer, seine Konturen sind grenzenlos, denn es handelt sich um einen offenen Körper, der sich in seinem Entstehungsprozess Materie einverleibt und sie erneut gebiert. Der Körper »verschlingt die Welt und lässt sich von ihr verschlingen.«223 Die karnevaleske und parodierende Motivik, die dabei zum Einsatz gelangt, ist in den Augen ORLANs probates Mittel, das Körperinnere zu dem zu machen, was es ist: ein Spektakel, das normalerweise im Verborgenen stattfindet. Da es aber in jedem Fall stattfindet, ist es gleichermaßen grotesk, dieses zu leugnen. »Bloßgestellt und verlacht wird die Todesverfallenheit des individuellen Körpers.«224 Die Groteske und der Karneval übernehmen dabei die Funktion eines 219 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 10. Der gesamte Text über den Laizismus findet sich im Anhang unter Punkt IV. 220 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29. Vgl. auch Anhang unter Punkt II. Während der biblische Text im Präteritum lautet, Und das Wort ward Fleisch (Johannes 1, 14), formuliert ORLAN ihre Prophezeiung im Präsens: The flesh is made word; vgl.: Howard Caygill, »Carnival in ORLAN«, in: DONGER, S. 74-83, hier S. 83. In einer Videoinstallation mit dem Material aus ihrer fünften Performance-Operation projiziert sie diese Prognose in der Form eines Zitates aus dem Johannesevangelium: Es ist noch um ein kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen; ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. (Johannes 14, 19). 221 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319; vgl. auch Anhang, Punkt III, sowie Kapitel IV.2.2. 222 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 325; vgl. auch Anhang, Punkt III. 223 BACHTIN, S. 358. 224 Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 39.

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versöhnlichen Miteinanders von Leben, Tod und einem erneuten Werden.225 Die Carnal Art ORLANs hat dabei den Mut, eine Parodie auf die Vergänglichkeit zu wagen: »Carnal Art loves the baroque and parody, the grotesque and free‐form because Carnal Art is opposed to social pressures that exert themselves as much on the human body as on the body of artworks. Carnal Art is anti‐formalist and anti‐conformist.«226 Insofern praktiziert ORLAN die von Bachtin beschriebene »heitere Anatomie«227 , die dem Leben und dem Tod nicht nur groteske, sondern eben auch komische Aspekte abgewinnen kann, welche jedoch aus zeitgenössischer Sicht ausschließlich existentialistische Züge in sich tragen. Existentialistische Züge, die bedauerlicherweise nur mehr die äußere Form unseres Körpers betreffen. Man bedenke deshalb immer die von Karl Rosenkranz diesbezüglich angestellte Überlegung: »Die bloße Abwesenheit von Form ist nicht schön, allein auch noch nicht häßlich.«228

III.3 Hannah Wilke – Krankheit und Verfall: Der versehrte Körper Was bisher zum Abjekten des menschlichen Körpers gesagt wurde, besitzt selbstverständlich Gültigkeit für den alternden und erkrankten Körper – nur in einem vielfach höheren Maße, da sich nun das, was im Körperinneren vor sich geht, immer häufiger an der Oberfläche Bahn zu brechen beginnt und nach außen hin sichtbar wird. Die in der Blütezeit des Lebens ehedem glatt gespannte, gesunde und jugendhafte Haut erschlafft im Alter, erhält Falten, ändert den Farbton; die ehemals auf natürliche Weise nicht weiter betonten Körperöffnungen des gesunden Menschen treten in der Erkrankung optisch hervor, werden zu Auffälligkeiten229 , vermehren sich schlimmstenfalls, werden unkontrollierbar und beginnen zu riechen. Was Gille Deleuze für das klassische Ideal als Welle beschreibt, wird nun zur ebenfalls von Deleuze in gesteigerter Form ausgetragenen Falte; die Sensation eines gefühlten Körpers im Sinne eines Gefühls für den Körper wird zum Sensationellen, wessen wir überrascht und vermehrt am eigenen Körper gewahr werden und verspüren; das abjekte Skandalon, das bislang die Anderen betraf, wird nun aus Sicht der Anderen zum skandalös Abjekten unseres eigenen Körpers. Der von Deleuze geschilderte organlose Körper aus Fleisch und Nerven gerät mehr und mehr in Aufruhr, wird sich seiner ehemals unauffälligen, da reibungslos funktionierenden Organe bewusst, die nun mühsamer arbeiten, lautstarker protestieren, immer öfter aussetzen und am Ende verstummen.230 225 Bachtin beschreibt die Funktion der Groteske bei Rabelais wie folgt: »Ihr Wesen ist es ja gerade, die widersprüchliche und doppeldeutige Fülle des Lebens darzustellen, das Verneinung und Vernichtung (den Tod des Alten) als notwendiges Element in sich trägt und nicht zu trennen ist von der Bestätigung, der Geburt des Neuen und Besseren.«, in: BACHTIN, S. 113 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin]. 226 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 327; vgl. auch Anhang, Punkt III. 227 BACHTIN, S. 141. 228 ROSENKRANZ, S. 54. 229 Man denke zurück an das weiter oben geschilderte »hippokratische Gesicht«, vgl.: BACHTIN, S. 402-403. 230 Vgl.: DELEUZE, Francis Bacon, S. 32-33.

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Die Fremd- und die Selbstschau bewahren uns auch hier wieder davor, sich den Schrecknissen des Alterns und der Erkrankung zu stellen, noch bevor sie uns selbst ereilen. Das Selbst und diejenigen Anderen, die sich bereits mit diesen Prozessen zurechtfinden müssen, unterscheiden sich zu diesem Zeitpunkt durch das Leib-Sein und Körper-Haben: während das Selbst noch wie selbstverständlich Leib ist, am Leben teilnimmt, ohne dabei Überlegungen anstellen zu müssen, was jeweils nach mehr Aufmerksamkeit verlangt – der Körper oder der Leib –, hat der Andere bereits damit zu tun, einen dem Dinglichen verhafteten und bedürftigen Körper zu rechtfertigen und zu hofieren, den er nun ausschließlich hat. Die Furcht und das Wissen darum, dass das Selbst auf Dauer nicht vor dem Anderssein gefeit ist, drängt unser Innerstes dazu, den alternden, deformierten und kranken Körper zu vermeiden, zu verdrängen oder zu negieren.231 So wird das gesunde, jugendliche Selbst zu einer dominierenden, da – aus Sicht des gefeiten Selbst – scheinbar einzig möglichen, zumindest jedoch wünschenswerten Norm, während die Alterungsprozesse und Krankheiten der Anderen auf Distanz gehalten werden und aus dem Blickfeld verschwinden. Hannah Wilke zeigt in ihrem Oeuvre beide Seiten dieser Perspektive: diejenige der gesunden, idealtypischen und sich ihres Selbst bewusst‐seienden Künstlerin, die mit ihrem Werk auf diejenige Andere blickt, die ihre moribunde Mutter ist. Wilke nimmt aber auch die entgegengesetzte Perspektive des Anderen ein, indem sie am Ende ihres Lebens in ihren Kunstwerken den Blick auf ihr eigenes, tödlich erkranktes Selbst lenkt.

Formlosigkeiten: Alterung, Krankheit und Verfall Wie im Falle des Abjekten und des Ekels, soll an dieser Stelle an einzelne Elemente desjenigen erinnert werden, was die Formen und Auswirkungen des Umgangs mit Alterungsprozessen, Erkrankung und dem Verfall heute betrifft. Nur so ist die Bedeutsamkeit dessen zu belegen, was im Werk von Hannah Wilke in all seinen Facetten augenscheinlich und begreifbar wird. Noch Winckelmann war davon überzeugt, dass – ganz im Sinne seines Schönheitsideals – den Griechen die Kümmernisse von entstellenden Krankheiten und Siechtum fremd waren, da er schlichtweg weder in den historischen Dokumenten noch in deren Dichtkunst oder bildenden Werken hierüber Anzeichen überliefert sah. So konstatiert Winckelmann mit scheelem Blick auf seine eigene Zeit: »Die Kranckheiten, welche so viel Schönheiten zerstören, und die edelste Bildungen verderben, waren den Griechen noch unbekannt. Es findet sich in den Schriften der Griechischen Aertzte keine 231 Anita Silvers hierzu: »[A]bjection involves the realization that one could become what one beholds. The effect of this experience […] is to make encounters with people whose bodies are deteriorating or deformed disagreeable because they bring home the reality of one’s own impending corporeal decay. That is, the reality of one’s becoming decrepit or disabled becomes tangible in the fleshy presence of someone who is already so. Having become aware of one’s jeopardy from encountering that presence, one protects one’s self either by contesting or occluding it. […] Advanced age and impairment invite isolation, exclusion, or ›being othered‹ by the dominant social group not because being aged or disabled are familiar, albeit painfully so, but rather because they seem alien, remote, impenetrable, and strange to whoever is not directly experiencing them.«, in: Anita Silvers, »From the Crooked Timber of Humanity, Beautiful Things Can Be Made«, in: BRAND, S. 197-221, hier S. 204.

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Spur von Blattern, und in keines Griechen angezeigter Bildung, welche beym Homer oft nach den geringsten Zügen entworfen worden, ist ein so unterscheidendes Kennzeichen, dergleichen Blatter-Gruben sind, angebracht worden. Die Venerischen Uebel, und die Tochter derselben, die englische Krankheit, wüteten auch noch nicht wider die schöne Natur der Griechen.«232 Nicht an die Existenz dessen zu glauben, was man nicht sehen kann, war jedoch seit jeher ein Trugschluss, dem auch Winckelmann aufsaß. Und lediglich, weil uns das überlieferte griechische Ideal mit Alterungsprozessen, Erkrankung und Sterben unvereinbar scheint, heißt dies freilich nicht, dass es diese körperlichen Gebrechen in der Antike nicht gegeben hätte. Ein bewusster Umgang mit der im Laufe des Lebens sich ausbreitenden Formlosigkeit des Körpers und seiner letzten Endes im Tod mündenden Vergänglichkeit ist jedoch tatsächlich erst seit dem Mittelalter verbreitet: in den artes moriendi. Diese dienen nicht alleine der Kunst, dem Irdischen angemessen Lebewohl sagen zu können, wovon der terminus technicus zunächst zu künden scheint. Vielmehr umfassen sie auch den gesamten Werdegang eines Körpers, sobald er beginnt, dem Verfall entgegenzustreben: »Erstaunlich ist, daß die literarischen Quellen ebensoviel Nachdruck auf den Verfall zu Lebzeiten wie nach dem Tode legen: auf die schlüpfrigen Säfte, auf die abstoßenden Zeichen der Krankheit, auf die Verzweiflung.«233 Was man damit einhergehend in den makabren künstlerischen Ausgestaltungen und dem grotesken dichterischen Ausmalen des Körperinneren sehr deutlich zum Ausdruck bringt, ist dessen »schleichende Verwesung«234 . Damit stellt man ein Bewusstsein und einen Grad der Akzeptanz zur Schau, die den Menschen erst in der viktorianischen Zeit abhandenkamen. Die hiernach und bis heute herrschenden Bedingungen sehen es nicht vor, dem Alter und der Erkrankung viel Platz, Aufmerksamkeit oder gar Zeit einzuräumen. Beides, Alter und Tod, verkommt zu einer »zufälligen Unannehmlichkeit«, »gewissermaßen einer Unschicklichkeit«, die es – wenn sie schon nicht vermieden werden kann – auf ein Mindestmaß einzugrenzen gilt, deren unangenehme und nicht gesellschaftsfähige körperliche Entgleisungen, Ausscheidungen, Schmerzen und Gerüche diskret unter Verschluss gehalten werden müssen. Ariès bezeichnet dies als den »schmutzigen Tod«, der er ja angesichts der abjekten körperlichen Tatsachen ist.235 Bereits die Avantgarde des ausgehenden 19. Jahrhunderts begann sich aber vermehrt mit dieser schmutzigen Realität auseinanderzusetzen. Wenn auch noch nicht als abjekt bezeichnet, so drehen sich doch die in den Werken von etwa Charles Baudelaire, Franz Kafka, Jean-Paul Sartre, Jean Genet oder Erich Maria Remarque ganz eindrücklich um die das Leben und das Körperliche bestimmenden Fragen, deren Thematisierung des Kranken und Krankhaften nicht nur zur damaligen Zeit als unsittlich, ja eckelhaft empfunden und entsprechend – juristisch wie ethisch – verurteilt wurde. Antonin Artaud hielt zeitgleich zu seiner Entwicklung des »Theaters der Grausamkeiten« einen Vortrag an der Sorbonne, der »Das Theater und die Pest« mit krassem Gedankengut und ebensolcher Wortwahl schmückte: die extensive Beschreibung der inneren erkrankten Organe, das äußere Erscheinungsbild des von der Pest 232 233 234 235

WINCKELMANN, S. 14. ARIÈS, S. 160. ARIÈS, S. 165. ARIÈS, S. 726 und S. 727.

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befallenen Menschen, die drastischen Berichte über die Todesprozesse und die daraus für die Bevölkerung resultierenden Zustände und Folgen, schildert der Franzose mit einer solchen Wucht und als ein »unumschränkte[s], düstere[s] Spiel eines Spektakulums«236 , dass das Motiv des Abjekten und Kranken bildhaft wird und dem Leser das Fürchten lehrt. Nicht nur die Humanisten nahmen sich des Gegenstandes an, auch die Life-Sciences hatten damit begonnen, sich dem Thema anhand einer neu geborenen medizinischen Ästhetik zu nähern. Seit ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden medizinische Fachbücher, die Atlas und Lehrbuch zugleich sein wollten. Freilich davon einige nur mit mäßig überzeugendem Inhalt und Kommentar, da der Schwerpunkt auf der voyeuristisch motivierten Bebilderung von bizarren, bewusst unansehnlichen, abjekten und pathologisierenden Krankheiten analog einer Peep-Show liegt.237 Was jedoch weder in der Medizin noch in der Belletristik jemals verfasst wurde, ist – im Gegensatz zu einer Geschichte der Krankheit – die Geschichte des Patienten. So fehlt bis dato eine Aufarbeitung des Themas, die sich mit einer historischen Entwicklung des Krankheits- samt Menschenbildes beschäftigt, um aufzuzeigen, welchen Umgang man mit den Alternden und Kranken pflegt und welche Bedeutung man den Alterungsprozessen und der Erkrankung beimisst. Volker Rittner verweist in diesem Zusammenhang zurecht auf Thomas Manns »Zauberberg«.238 Es erscheint mir als die einzige, in jeder Hinsicht generös angelegte Schilderung eines Krankheitsverlaufes, der (in den meisten Fällen) dem Tode zustrebt. Die Einschränkung, die auch für den »Zauberberg« gilt, ist die, dass die Lungenkranken des Sanatoriums samt Personal unter sich bleiben. Alle teilen sie ein Vokabular und Gesprächsthema, welches nur ihnen verständlich und nachvollziehbar ist, indem sie Atemgeräusche – das dumpfe Geräusch, das zum Rasseln, später zu einem Pfeifen geriert – untereinander kommunizieren und sich mit Ehrfurcht, Scheu und – bei wachsendem Vertrauen – einem Quäntchen erotischen Gebaren gegenseitig die Röntgenaufnahmen zeigen, auf denen sich ihr Körperinneres, samt dem gefürchteten Fleck auf der Lunge offenbart. Die Insassen des »Zauberbergs« zeigen sich als eine erkrankte Spezies, die der Welt abhandengekommen ist; und umgekehrt lässt sich deshalb an diesen auch nicht spezifizieren, wie sich ein Umgang mit Menschen im Alter und in der Erkrankung in der Realität zutragen könnte. Unser Umgang mit dem Körper ist indessen ein sehr ignoranter. Die Welt, in der wir zu funktionieren haben, beurteilt Alterungsprozesse und Erkrankung als durchwegs negative Begleiterscheinungen, die das Leben unnötig hemmen und der Zeit bedürfen. Sofern diese Prozesse uns selbst betreffen, schenken wir ihnen – zwangsläufig – meist die ihnen gebührende und die durch diese eingeforderte Aufmerksamkeit; betreffen ähnliche Diagnosen die Anderen, werden die Funktionsuntüchtigkeiten eines defekten 236 Antonin Artaud, »Das Theater und die Pest«, Vortrag an der Sorbonne, Paris, 6. April 1933, in: ARTAUD, S. 17-34, hier S. 25. 237 Eine Übersicht und Kommentierung einer stattlichen Anzahl dieser Publikationen unternimmt GILMAN, Sander L., Picturing Health and Illness. Images of Identity and Difference, Baltimore und London 1995. 238 Volker Rittner, »Krankheit und Gesundheit. Verdrängungen in der sozialen Wahrnehmung des Körpers«, in: KAMPER, S. 40-51, hier S. 44.

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Körpers vor allem als reparaturbedürftig239 angesehen, ein Gebrechen, welches es unverzüglich und ohne viel Aufhebens auszumerzen gilt. Der Körper ist für uns zu einem Projekt verkommen, das es jugendlich‐fit, gesund und dem Ideal zustrebend zu gestalten und so lange wie möglich am Leben zu erhalten gilt. Um diese Kontrollinstanz über unseren Körper aufrechterhalten zu können, benötigen wir einen konstanten Informationsfluss, besonders im Falle der Erkrankung. Dies betrifft wiederum unseren eigenen Körperzustand, aber auch denjenigen des Anderen, sofern dieser uns nahesteht. Sobald wir das Leben in seiner Existenz bedroht sehen, setzen heute eben nicht mehr die artes moriendi ein, sondern der Rat der Wissenschaften, der Medizin wird herangezogen, gerade so, als gäbe es ein unbegrenztes Morgen. »It is a way of gaining authority in a situation where one has very little or none.«240 Auch deswegen sind die Alten und Kranken nicht daheim. Auch deshalb wird nicht mehr zu Hause gestorben. Hinzu kommt die Erfahrung des Schmerzes, die man für sich und den Anderen vermeiden, zumindest aber lindern möchte. Auch hierfür bieten sich professionelle, außerweltliche Institutionen an, in deren Obhut man sich begibt: »Wie in Sterben und Tod, so machen auch bei starkem körperlichen Schmerz die Forderungen des Leibes die Anforderungen der Welt zunichte. […] Derlei Einsichten führen uns bewußt oder unbewußt zu dem Eingeständnis, daß der Schmerz die Macht hat, das Ich und die Welt für es auszulöschen.«241 Die Pathologisierung von Altern, Krankheit und Schmerz entfremdet uns der Welt, in der wir davor noch zu Hause waren. Da wir diese uns gewohnte und geschätzte Umgebung nicht gerne verlassen möchten, üben wir uns so lange es eben geht in kollektiver Negation bezüglich unseres körperlichen Verfalls und versuchen, der kollektiven körperlichen Norm zu genügen. Der normative Körper ist ein westliches Phänomen.242 Diese Norm betrifft das Geschlecht, das Körper-Ideal, aber vor allem den Status unserer Gesundheit. Diese Normierung wird von den Wissenschaften gespeist und unterstützt. Wie weiter oben beschrieben, beginnt man bereits im 19. Jahrhundert den Alterungsprozessen und den sichtbaren Erkrankungen auch eine symbolhafte Bedeutung beizumessen. Dabei kommt es zu einer mehrfachen Verschränkung der Vorstellungen des Schönen und Hässlichen mit denjenigen des Gesunden und Kranken: das Schöne entspricht dem Gesunden und umgekehrt, entsprechend wird das Kranke als hässlich gedacht und – fatalerweise ebenfalls umgekehrt – das Hässliche als krankhaft empfunden.243 Winfried Menninghaus bezeichnet den von uns angestrebten und zum ewigen Erhalt fit gemachten Körper als Fassade, die wir aufrechterhalten, um alle Anzeichen an Hässlichkeit und Erkrankung so lange wie möglich unter Verschluss zu halten: »Umgekehrt liegt für den Körper des klassischen Kanons und der neuzeitlichen Ästhetik 239 Vgl.: Eberhard Schockenhoff, »Vom Leben vor und nach dem Tod. Wie reagiert die Theologie auf die Herausforderungen von Naturwissenschaften und Medizin?«, in: BLUM, S. 69-85, hier S. 74. 240 KAPLAN, E. Ann, Looking for the Other. Feminism, Film, and the Imperial Gaze, New York 1997, S. 262. 241 SCARRY, S. 53. 242 Vgl. hierzu: KAPLAN, S. 257. 243 Siehe zur Erinnerung: GILMAN, S. 51-52. Julia Kristeva belegt diesen Umkehrschluss zusätzlich mit Stellen aus der Bibel, welche diesen tradierten Glauben unterstützen, wenn nicht gar dessen Entstehung forcierten, vgl.: KRISTEVA, S. 102-103.

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eine ideologiekritische Lesart nach den Modellen von Degeneration und Verdrängung nahe: als hygienischer und ›offizieller‹ Fassadenkörper, der nicht stinkt, nicht ißt, nicht gebärt, nicht ausscheidet, nicht kopuliert und nicht altert, sondern nur noch ein expressives Zeichen ist.«244 Für diesen Körper ist festzuhalten, dass er, sobald er ein sichtlich deformierter ist, also von der Schönheitsnorm abweicht, auch gleichzeitig als krank gilt. Das Kranke wird darüber hinaus als Konsequenz eines moralischen Fehlverhaltens gedacht. Überraschenderweise betrifft dies gerade diejenigen Gesellschaftssysteme, denen man nachsagt, einen hohen intellektuellen wie wirtschaftlichen Status zu besitzen, weswegen Mary Douglas feststellen muss: »Bei Gesellschaften mit hochentwickelten Klassifikationssystemen, starkem Klassifikationsgitter und starkem Gruppendruck ist die Frage rasch beantwortet: Dort wird das Unglück benutzt, um die Erhabenheit des moralischen Gesetzes zu demonstrieren. Krankheiten und Mißgeschick werden entweder auf ein moralisches Fehlverhalten des Betroffenen zurückgeführt oder aber in ein metaphysisches Denkschema eingeordnet, nach dem das Leiden zur allumfassenden Ordnung der Dinge gehört.«245 Letzteres fällt uns aber schwer zu akzeptieren, weswegen wir uns gemeinhin auf erstere Begründung stützen. Eine bereits seit langem bekannte und mit körperlich sichtbaren Merkmalen einhergehende Erkrankung beweist diesen Rückschluss: die Syphilis;246 eine Erkrankung der jüngeren Vergangenheit bestätigt, dass dieser Trugschluss bis auf weiteres Bestand hat: AIDS. Nicht der Übertragungsmodus stellt hier den mysteriösen Faktor der Erkrankung dar, sondern der Fakt, dass es für den HIV-positiven Patienten bis auf weiteres noch keine Heilsgarantie gibt. So fürchtet man im Falle von AIDS eine zweifache Übertragung: die physische wie moralische Ansteckung, denn, so Susan Sontag: »Any disease that is treated as a mystery and acutely enough feared will be felt to be morally, if not literally, contagious. […] Contact with someone afflicted with a disease regarded as a mysterious malevolency inevitably feels like a trespass; worse, like the violation of a taboo.«247 Weitere Faktoren, die insbesondere solcherlei Erkrankungen zu einem Tabu machen, sind das abjekte Erscheinungsbild, die Schmerzen und die Ankündigung eines über kurz oder lang absehbaren, qualvollen Todes. Sontag spricht deshalb in diesen Fällen von enthumanisierenden Erkrankungen: »In contrast to the soft death imputed to tuberculosis248 , AIDS, like cancer, leads to a hard death. The metaphorized illnesses that haunt the collective imagination are all hard deaths, or envisaged as such. Being deadly is not in itself enough to produce terror. […] The most 244 MENNINGHAUS, S. 144. 245 DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 152-153. 246 Susan Sontag schreibt hierzu das Folgende: »Syphilis was thought to be not only a horrible disease but a demeaning, vulgar one. […] there was horror aplenty in syphilis. But no mystery.«, in: SONTAG, Susan, Illness as Metaphor (1977/78) and AIDS and Its Metaphors (1988/89), London 1991, S. 60-61. Man möchte hinzufügen, dass dem auch heute noch so ist. 247 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 6. 248 Susan Sontag relativiert diesen Gemeinplatz an anderer Stelle wie folgt: »A fiction about soft or easy deaths – in fact, dying of tuberculosis was often hard and extremely painful – is part of the mythology of most diseases that are not considered shameful or demeaning.«, in: SONTAG, Illness as Metaphor, S. 124.

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terrifying illnesses are those perceived not just as lethal but as dehumanizing, literally so.«249 Es ist wohl unnötig, darauf hinzuweisen, dass erst recht die bildliche Darstellung der so geschilderten Erkrankung – gerade unter dem Banner der Kunst – mindestens ein gleichwertiges Tabu bricht, wie selbst daran erkrankt zu sein. Wenn aber wie im Falle von Hannah Wilke beides in‐eins fällt, werden wir mit einer existentiellen Grenzerfahrung konfrontiert, die einmal die Künstlerin selbst betrifft, aber eben auch uns aufzeigt, welche Grenzen unserer eigenen Existenz auferlegt sind. Der physische Anblick bereitet seelische Pein noch im Vorfeld einer tatsächlichen Erkrankung. Zum Zeitpunkt ihrer diagnostizierten Krebserkrankung eint Hannah Wilke beides in ihrer Person: sie ist krank und leidet damit körperliche wie psychische Schmerzen. Das Idiom mens sana in corpore sano wird zum mens non sana in corpore insano.250 Diese symbolhaften Bedeutungsbeimessungen des Alterns und der Erkrankung geben erste Gründe dafür, warum wir diese von uns fernzuhalten suchen. Der Tod wird dabei automatisch mitgedacht. Der Tod an sich ist bereits ein angstbesetztes Thema; das jedoch, was zum Tode führt, erscheint uns grausam, von Ekel besetzt und unvorstellbar, da inakzeptabel: der Verfall und das Sterben selbst. Symbolhafte Bedeutungen und Denkkategorien werden dabei überschritten, denn der Prozess des Sterbens ist ein finaler, endlicher Akt, der das Denken und Leben, den Geist und den Körper unwiderruflich auslöscht. Zusammengenommen mit den das Sterben erschwerenden körperlichen Begleiterscheinungen, zeigt sich den Lebenden – etwa in den Arbeiten von Hannah Wilke – der in seiner Unausweichlichkeit und Dauer gefürchtete Vorgang als das furchterregendste und grässlichste Ereignis schlechthin, dem mit einer bleiernen Bangigkeit und gleichzeitig unweigerlichen Panik entgegengestrebt wird. Die wissenschaftliche Forschung des 19. Jahrhunderts hat erwiesen, dass in der Krankheit und im Sterben sowohl lebende Organismen wie tote Materie in einem Wirt nebeneinander existieren: »Mit anderen Worten, Tod und Leben konnten sich in einem Körper nicht nur in zeitlichen Stufen einstellen, sondern auch örtlich nebeneinander liegen.«251 Jedoch ist man zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit von Rabelais’ tröstlichem Materialgedanken entfernt, um sich das notwendige und der Natur gemäße Werden des einen Lebewesens auf Kosten des verendenden Anderen als einen den Schmerz lindernden und den Geist aufrichtenden Gedanken zu Nutze zu machen. Was man indessen als maßgebenden Tatbestand wahrnimmt, ist die Vorstellung vom Altern, Erkranken und Sterben als ein ekelhafter, geruchsintensiver, wuchernder Vorgang, welcher der Verwesung und der Fäulnis vorangeht. Zwar eilt die Psychologie eines angstbesetzten Ekels hierbei einer tatsächlichen Kontamination des Körpers voraus252 , aber die Imagination vermag nicht zu durchleben, was der durch Krankheit sich zersetzende Körper im Einzelnen zu durchleiden haben wird. So unterscheidet auch Rosenkranz zwei Stadien der Erkrankung, wobei er den Prozess des endgültigen Verfalls auf einer faktischen wie symbolischen Ebene verwirft: »[Die Krankheit] an sich ist nicht nothwendig widrig oder 249 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 124. 250 GILMAN, S. 74. Sander L. Gilman verweist damit auf eine medizinische Definition: »The ill individual is by definition someone whose character or psyche is also ill.«, in: GILMAN, S. 63. 251 Ulrich Tröhler, »Vom öffentlichen zum verdrängten Tod«, in: BLUM, S. 31-53, hier S. 37. 252 Vgl.: MENNINGHAUS, S. 172.

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gar ekelhaft. Dies wird sie erst, wenn sie den Organismus in der Form der Verwesung zerstört und wenn wohl gar das Laster die Ursache der Krankheit ist.«253 Legt man das Augenmerk auf die sichtbaren Umstände des Verfalls, ist es die Angst vor der Auflösung des Körpers, dessen bislang stabile Außenhülle undurchlässig und glatt war, eine Vermischung von Innen und Außen nicht zuließ. Es sind die Wucherungen, die innere Fäulnis, das Ausfallen von Körperfunktionen, die austretenden Sekrete und Gerüche, das Sich-Entleeren, welche noch bei Aurel Kolnai als Typen des physisch und moralisch Ekelhaften wie krankhaft Verfallenden gelistet werden. Er fügt hinzu, dass »[d]ie Andeutung des Todes für den Gesamtorganismus […] freilich eher Grauen als Ekel hervor[ruft]; je anschaulicher, stoffbehafteter das Grauen, um so mehr neigt es in Ekel hinüber.«254 Speziell der Fäulnis am lebendigen Körper, also dem Verfall und der Erkrankung mit einem anschließenden Übergang vom Lebendigen zum Toten, sei eine besondere Note des optisch‐taktil-olfaktorischen Ekelhaft-Grauslichen zu eigen.255 Diese Gebrechen am eigenen Leib ertragen zu müssen, ist das eine; andere aus Hilfsbedürftigkeit heraus daran teilhaben lassen zu müssen, ist das andere.256 Die »Symmetrie und Hierarchie der Körperöffnungen gestört und die Grenzlinie zwischen Innen und Außen verschoben«257 zu wissen, sind Anzeichen einer Bewusstseinsentwicklung für das Altern und die Erkrankung des Selbst. Medizinischen Forschungen zu Folge entspricht das eine dem anderen: der Biologie und der Humanmedizin gilt der Alterungsprozess als eine Krankheit, die den Körper nach und nach, dabei aber nachhaltig, schwächt und zu seinem biologischen Verfall, der Seneszenz führt. Der Biogerontologe David Gems, der zu einer möglichen Verlängerung der menschlichen Lebensspanne forscht, tut dies, weil er von der Erkenntnis getrieben wird, der Menschheit Krankheiten ersparen zu können, ausgerechnet indem sie mehr und mehr altert. Der eigentümliche Umkehrschluss wäre, dass der Mensch paradoxerweise weniger krank – also: gesünder – ist, je länger er lebt. David Gems begründet dies wie folgt: »Was ist eine Krankheit? Eine Krankheit ist ein Vorgang, bei dem die Normalfunktion beispielsweise von Zellen und der Physiognomie zusammenbricht aufgrund von etwas, das den Organismus zerstört. Das kann eine Virusinfektion sein oder auch eine Verletzung […]: Zusammenbruch und Verfall auf allen Ebenen. Ich bin jetzt selbst fast fünfzig, die Haut an meinen Händen wird faltig, was ein Zeichen des Alterns ist. Man könnte sagen: ›Schön und gut, aber das ist doch keine Krankheit. Es tut ja nicht weh.‹ Tatsache ist aber, dass diese Veränderung Teil eines größeren Prozesses ist, der mich anfälliger für Krebs und viele andere Krankheiten macht, die schließlich zu meinem Tod führen werden. Das Altern ist die Ursache von Alterskrankheiten […]. Das Altern dient keinem Zweck, es trägt in keiner Weise zur Fitness unserer Spezies bei. Es ist einfach ein 253 254 255 256

ROSENKRANZ, S. 317. KOLNAI, S. 148; vgl. auch S. 140-156 sowie KRISTEVA, S. 101-103. Vgl.: KOLNAI, S. 140-141; siehe auch ROSENKRANZ, S. 313-314. So zeigt sich Tolstois Iwan Iljitsch beschämt ob seiner körperlichen Unzulänglichkeiten als bettlägeriger Kranker; vgl.: TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 72, sowie Kapitel II.3.2. 257 SCHMIDT-LINSENHOFF, Viktoria, »Körperbild und Leib-Erfahrung«, Vortrag vom 28. Februar 2010, zur Filmpremiere »Die zweite Stimme« der Stiftung Eierstockkrebs, n.p., auf: www.stiftungeierstockkrebs.de/de/koerperbilder‐und-leib‐erfahrung [zuletzt aufgerufen am 31. März 2010].

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schreckliches Missgeschick der Evolution.«258 Seine Untersuchungen lassen folgende Konsequenz zu: »Man kann also als generelle Beobachtung festhalten, dass jede Krankheit, die geheilt wird, einfach nur durch eine zu einem späteren Zeitpunkt auftretende Krankheit ersetzt wird. Letzten Endes stirbt jeder irgendwann an einer Krankheit. Die Frage ist somit nur, ob jetzt oder später. Mit anderen Worten, der Fortschritt in der Medizin mag zwar zur Heilung einer tödlichen Krankheit führen, insgesamt aber verschiebt man die tödliche Krankheit nur auf später. Aber das ist genau das, was man auch durch eine Verlangsamung des Alterns erreichen könnte, und zwar in großem Stil.«259 Trotz des demografischen Wandels hin zu einer fortschreitenden Ergrauung unserer Gesellschaft und obwohl damit eine Verzögerung von Alterung, Krankheit und Tod erwirkt wird, bleibt das Schicksal der menschlichen Endlichkeit gültig. Was jeder weiß, dringt erst so in das Bewusstsein vor: es sind eben nicht immer die Anderen, die sterben, sondern wir selbst sind es, die altern, erkranken und dadurch dem Verfall preisgegeben sind. Lediglich der ungewisse Zeitpunkt und das Wie können uns einen tröstlichen Aufschub dieses Gedankens gewähren. Aber auch diese Möglichkeit erlischt weitestgehend mit der Diagnose einer – meist tödlich verlaufenden – Erkrankung, dem Krebs: »For all the progress in treating cancer, many people still subscribe to [the] equation: cancer = death.«260 Sich diese Erkrankung schönzureden, kann nicht gelingen. Der Krebs trägt alle oben genannten Merkmale des Abjekten und des Verfalls, alle Hoffnungslosigkeit zu einer dauerhaften Genesung, alle Schmerzen des lediglich verlängerten und damit hinausgezögerten Sterbeprozesses sowie alle anderen Krisen des zeitgenössischen Körperdramas in sich vereint. Krebs ist eine Erkrankung, derer man sich heute überraschenderweise schämt, die eine moralische Komponente in sich zu tragen scheint, die als Strafe erachtet und somit so lange als möglich unter Verschluss gehalten wird.261 Auch weil eine Krebserkrankung keine der Krankheit geschuldeten geistigen Höhenflüge oder körperlichen Beschönigungen erlaubt, wundert es wenig, dass diese – im Gegensatz zu anderen Krankheitsbildern wie etwa der Psychose, der Tuberkulose oder der Syphilis – in nur wenigen Ausnahmefällen als Thema für die schönen Künste geeignet erscheint.262 Der Krebs gilt als Krankheit, »which nobody has managed to glamorize«. Und Susan Sontag weiter: »Cancer is a rare and still scandalous subject for poetry; and it seems unimaginable to aestheticize the disease.«263 258 David Gems, »Wenn Mao noch lebte – Vom Segen und Unsinn des Alterns«, im Gespräch mit dem Biogerontologen David Gems, London, 25. September 2009, in: HÜLSWITT, S. 81-99, hier S. 88-89. 259 David Gems, in: HÜLSWITT, S. 81-99, hier S. 92. Diesen Standpunkt bekräftigt auch Peter Gruss, der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft: »Wenn wir über Altern reden, dann reden wir über einen Prozess, der jeden betrifft. Bis auf sehr, sehr wenige Organismen, vor allem Einzeller, gibt es beim Mehrzeller immer noch eine Leiche.«, in: Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 42. 260 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 20 261 Vgl.: SONTAG, Illness as Metaphor, S. 8. Lediglich eine AIDS-Diagnose hat, seit seiner Erkennung Anfang der 1980er Jahre, die physische wie moralische Scham eines Krebserkrankten zu übertreffen vermocht. Vgl. hierzu nochmals: SONTAG, Illness as Metaphor, S. 101. 262 Exemplarisch seien an dieser Stelle Thomas Manns Werke »Der Zauberberg« und »Doktor Faustus« genannt. 263 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 36 sowie S. 20.

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Hannah Wilke gelingt dieses Unvorstellbare. Dies freilich nicht, indem sie die Krebserkrankung ihrer Mutter und die tödlichen Wucherungen, an denen sie selbst sterben würde, schönredet und für die Kunstfotografie in ein rechtes und damit besänftigendes Licht rückt, sondern indem sie die physischen wie moralischen Kennzeichen des Abjekten benennt und – gleich der theoretischen Überlegungen in dieser Schrift – zu deuten weiß. Es entstanden ästhetisch durchdachte Bilder und Objekte, deren grauenhafter Inhalt unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird.

Der (un-)versehrte Körper im Werk von Hannah Wilke Hannah Wilke (1940-1993) ist vor allem für zweierlei bekannt: für ihre unglaublich idealtypische Schönheit und Sinnlichkeit, die sie als Person und in ihren Werken selbstdarstellerisch zu Markte trägt, und für ihre unerbittliche Aufrichtigkeit und Direktheit in der Darbietung ihres Körpers, zu einem Zeitpunkt, als dieser von Krankheit gezeichnet und letzten Endes dem Tode geweiht ist. Im Folgenden soll sowohl dem Früh- als auch dem Spätwerk der Künstlerin Rechenschaft getragen werden, da letzteres nicht ohne ersteres auskommt: weder in der Kritik des Oeuvres noch in seiner Rehabilitation nach dem Tode der Künstlerin. In Hannah Wilkes Frühwerk überwiegen noch die skulpturalen Arbeiten, zu denen in ihrer mittleren Schaffensperiode vermehrt fotografische Arbeiten stoßen, welche zum Ende ihres Lebens hin neben den Zeichnungen und Objekt-Collagen den Hauptbestandteil ihres Werkes bilden. Beide Gattungen – die Skulptur und die Fotografie – befruchten sich in allen Phasen ihres Lebens in einem ständigen Miteinander. Hinzu kommen Performances und Videos, die dem Flux der Postmoderne zuzuordnen sind und einmal mehr den von Hannah Wilke eingeforderten Themenkomplex des grotesken weiblichen Körpers in ihrem Oeuvre betonen. Hannah Wilke wird heute zu den Vertreterinnen einer feministischen Kunst gerechnet, die sich des eigenen, oftmals in seiner Nacktheit dargestellten Körpers bedient und damit essentialistisch arbeitet.264 Dies trägt vielen Künstlerinnen – ebenfalls aus feministischer Sicht – Kritik ein, indem man ihnen zum Vorwurf macht, auf vordergründige Weise die Geschlechterproblematik anhand des weiblichen Körpers zu thematisieren. Kunstwerke, Aktionen, Sprache – alles gehe von den spezifischen Merkmalen der Geschlechter aus. Insofern werde der Genderbegriff – so die Kritikerinnen – auf rein Sexuelles reduziert. Gender handle damit nicht mehr im übertragenen Sinne von den Geschlechtern, sondern vom Geschlecht. Im Falle Wilkes gesellen sich zu einer Adaption des eigenen Körpers in ihren Performances und Fotografien plastische Arbeiten hinzu, die das Fragment des weiblichen Körpers mimen und aus stilgeschichtlicher Sicht der Exzentrischen Abstraktion der späten 50er und frühen 60er Jahre angehören. »The refusal of Wilke and others to reject ›instinctive and sensuous‹ effects in their work was a position that would, a few years later, be qualified as a post‐structural response to 264 Um nur einige wenige Künstlerinnen zu nennen, die im Gegensatz zum Essentialismus dem AntiEssentialismus zugerechnet werden, sei an dieser Stelle an Eva Hesse, Jenny Holzer oder Suzanne Lacy erinnert.

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the use of the body by artists investigating gender and gendered constructions.«265 Das heißt, dass Wilkes Werkkomplex sowohl als eine Reaktion auf die männlich geprägte Minimal Art dieser Jahre gesehen werden muss, als sich zugleich der circa ein Jahrzehnt später formierenden Feminist Art zugehörig zeigt. Die von Wilke hierfür herangezogenen organisch formbaren Materialien wie Ton, Kohle-Radiergummi, Kuchenteig, Play-Doh und Kaugummi benutzt die Künstlerin oft in Zusammenhang mit ihrem eigenen Körper und der Fotografie. Die anthropomorphen Figuren bilden dabei das immer wiederkehrende Motiv eines einzelnen Körperfragmentes aus: die Vulva. Diese in vielfachen Formen, Formaten, Farben und Materialien ausgedrückten Vaginal Sculptures oder Folds, die allesamt unterschiedliche lyrische und figurative Titel tragen, bleiben dennoch weiter der Abstraktion verhaftet, wirken dabei gestisch, vor allem aber sinnlich in ihrer den Tastsinn herausfordernden Gestaltung und Materialität. Die Geste an sich spielt gleichfalls in Wilkes Performances der 1970er Jahre eine Rolle, darunter eine Aktion gleichen Namens: in Gestures266 , einem 35-minütigem Video von 1974, bearbeitet Wilke direkt in die Kamera blickend ihr Gesicht mit den Händen, indem sie es strafft, quetscht, verformt, daran zieht oder die Hautpartien verschiebt – eine Geste, die in ihrer Manipulation des weichen, fleischlichen Materials eher dem plastischen als dem performativen Bereich ihres Oeuvres zuzuordnen ist. In der Performance Hannah Wilke Super‐t-Art 267 auf dem »Soup and Tart«-Abend in der New Yorker »The Kitchen« desselben Jahres zeigt sie ihren Körper in ein weißes Tischtuch gehüllt, dessen sie sich im Verlauf der zweiminütigen Aktion entledigt und dabei immer wieder in Jesus‐gleichen Posen erstarrt. So verwandelt sie sich von einer büßenden Maria Magdalena in einen leidenden Christus, der mit einem Lendentuch angetan den Kreuzestod stirbt. Die aus dieser Performance stammenden zwanzig schwarz‐weiß Fotografien, fügt Wilke zu einer Fotoinstallation zusammen. Ähnlich der Fotostrecke aus ORLANs Strip‐tease occasionnel à l’aide des draps de trousseau/Incidental Strip-Tease Using Sheets from the Trousseau (1974-75), passiert hier eine Verzahnung christlicher und weltlicher Heilsversprechungen, die nun anhand des weiblichen Körpers glorifiziert, aber auch angeprangert werden. Dies zeigt sich auch in der Wahl des Titels im Falle Wilkes: Hannah Wilke Super‐t-Art bezieht sich in einem mehrfachen Wortspiel einmal auf den Titel der Veranstaltung, zum zweiten auf die Rock-Oper »Jesus Christ Superstar«, die 1971 veröffentlicht worden war. Super‐t-Art liest sich darüber hinaus in einer lautmalerischen und 265 Tracy Fitzpatrick, »Hannah Wilke: Making Myself Into a Monument«, in: NEW YORK (Ausst.kat.), Neuberger Museum of Art, Purchase College, The State University of New York, Hannah Wilke: Gestures, 03./25. Oktober 2008 – 25. Januar 2009, Texte von: Saundra Goldman, Tracy Fitzpatrick, Tom Kochheiser und Griselda Pollock, New York 2009, S. 8-71, hier S. 17. 266 Gestures ist Wilkes Ex-Schwager Hal Scharlatt gewidmet, der am Tag vor der Performance verstorben war. Vgl.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 40. 267 Die Performance fand am 30. November 1974 in »The Kitchen« (Center for Video and Music) statt. An diesem von dem Medienkünstler Jean Dupuy organisierten Festival mit dem Titel Soup and Tart nahmen insgesamt 39 Künstler mit jeweils zweiminütigen Aktionen teil, darunter Gordon Matta-Clarke, Joan Jonas, Richard Serra, Philip Glass und Yvonne Rainer. Dem etwa 400 Personen zählenden Publikum wurde dabei Suppe und Kuchen kredenzt. Vgl.: DUPUY, Jean (Hg.), Collective Consciousness. Art Performances in the Seventies, New York 1980, S. 18, siehe hierzu auch Wilkes Kommentar auf S. 221 sowie PRINCENTHAL, Nancy, Hannah Wilke, München 2010, S. 56 und S. 58.

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damit Duchamp’schen Manier wie »Superkunst«, und nicht zuletzt lässt sich daraus die »Superhure« übersetzen.268 Ähnliche Wortspiele nutzt Wilke in ihren Appropriationen der Werke Marcel Duchamps: In einem von Richard Hamilton aufgenommenen Foto-Entwurf für ein Buchcover I Object: Memoirs of a Sugargiver (1977) nimmt sie auf den Felsklippen Cadaques, der zeitweisen spanischen Wahlheimat Duchamps, ausgestreckt die liegende Position der hinter Duchamps Installation Étant donnés: 1° la chute d’eau/2° le gaz d’éclairage (1946-66) verborgenen Nackten ein. »I Object« ist dabei einmal als Verweigerung zu sehen, lautmalerisch gleichlautend könnte der Titel aber auch als »EyeObject« gelesen werden, oder als »Ich, das Objekt«; der zweite Teil des Titels opponiert den Schüttelreim auf Marcel Duchamps Namen, den der surrealistische Dichter Robert Desnos seinem Künstlerkollegen verliehen hatte, »Marchand du sel«, der Salzverkäufer. Bereits ein Jahr zuvor hatte Wilke für die deutsche TV-Dokumentation über das amerikanische Philadelphia im Museum der Stadt einen Striptease hinter Duchamps Werk La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Le Grand Verre) (1915-23) aufgeführt. Sie betitelte es als Hannah Wilke Through the Large Glass/C’est la vie rrose (1976) in Anlehnung an Duchamps Alter-Ego Rrose Sélavy. Für diese wie einige weitere Performances handelte sich Wilke die harsche Kritik von Feministinnen und anzügliche Anerkennung der männlichen Kommentatoren ein.269 Das narzisstische Image der attraktiven Hannah Wilke, deren Arbeitsmaterial ihr eigener Körper war, konnte zu ihren Lebzeiten kaum durch ihr plastisches Werk rehabilitiert werden. Die alle Schaffensphasen ihres Werkes durchziehenden Vaginal Sculptures entstanden seit Mitte der 60er Jahre, also noch lange bevor Judy Chicago 1979 ihre Installation einer dem weiblichen Geschlechtsorgan gewidmeten Dinner Party verwirklichte.270 Die weiter oben bereits benannten Materialien, aus denen Wilkes VaginaFormen entstanden, bieten eine umfangreiche Bandbreite der Darstellung des abstrahierten Körperfragmentes, das einmal in lauten Buntfarben, ein anderes Mal in unscheinbar grauen Knet-Miniaturen daherkommt. Deren Oberflächengestaltung richtet sich nach dem Material, das entweder unbehandelt bleibt – so geschehen bei den Teig-, Kaugummi-, Radiergummi-, Play-Doh-Stücken sowie bei einigen der aus Ton geformten Arbeiten –, oder eine glatte, makellose Oberfläche aufweist, da Wilke ihre Keramiken in verdünnte Acrylfarben tunkt.271 Die Plastiken treten äußerst selten alleine auf, sondern gruppieren sich zumeist in rechteckigen Ansammlungen auf niedrigen Podesten oder in serieller Fertigung direkt auf dem Boden und können dabei ganze Räume füllen. Egal mit welchem Material sie arbeitet, Wilke formt, faltet, dreht oder schlingt ihre Plastiken immer in einer einzigen, fließenden Bewegung. 268 »Tart« bedeutet im Englischen »Törtchen«, was sich sowohl auf das Gebäck als auch auf Frauen, die als Naschwerk angesehen werden, anwenden lässt. 269 Peter Frank, der für die »Soho Weekly News« am 5. Dezember 1974 die Performance-Nacht »Soup and Tart« in »The Kitchen« rezensierte, schrieb über Wilkes Super‐t-Art folgendes: »Also a show‐stopper was the soulful decollete of toga-(un)clad Hannah Wilke, the Narcissist With Flair.«, zitiert nach: DUPUY, S. 20; vgl. auch: PRINCENTHAL, S. 73-74 und S. 78. 270 Der von Miriam Schapiro und Faith Wilding geprägte Begriff der »Cunt Art« setzte sich erst später für den essentialistisch geprägten Stil von Frauen durch, »signaling new possibilities and provoking laughter, embarrassment, secret glee – and strong disaproval.«, in: PRINCENTHAL, S. 21. 271 Vgl.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 26.

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Insbesondere der ungewöhnliche Werkstoff Kaugummi, der im Werk Wilkes seit dem Jahr 1974 zum Einsatz kommt, bietet sich für diese Vorgehensweise und ein buntfarbenes Auftreten an. Wilke erinnerte sich 1978 an die Initialzündung wie folgt: »I was making gray sculptures out of kneaded erasers. When Edit deAk commented in a review about their anonymous grayness, I wondered how I could make them less depersonalized, and decided to buy some bubble gum. When I went to the store I saw that, God bless America, it’s no longer just pink gum, but blue, purple, yellow, black, white and green gum.«272 Wilke setzte den Kaugummi als gleichwertigen Werkstoff neben den bereits erprobten Materialien bei Performances, in der Fotografie und in Objekten ein, die allesamt zur so genannten S.O.S.-Series (1974-82) gehören. Hervorzuheben ist ihre S.O.S. Starification Object Series von 1974, eine Folge an 28 schwarz‐weißen Portraits der Künstlerin, die sie ab Hüfthöhe zeigen und auf denen sie unterschiedliche, erotisch anmutenden Posen in mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadien des Sich-Entkleidens einimmt.273 An den jeweils entblößten Hautstellen ist ihr Körper von kleinen, aus Kaugummi gefalteten Vaginalskulpturen übersät, die sich wie übertrieben stilisierte Male einer Erkrankung von ihrer makellosen Haut abheben. Laut Titel will Wilke diese als »stars« und damit als eine Glorifizierung verstanden wissen. In lautmalerischer Hinsicht reimen sich diese auf »scars«, dem englischen Wort für Narbe.274 Verschönerung und Wundheilung begeben sich hier in ein Wechselspiel. In einer im darauffolgenden Jahr entwickelten Spielidee für Erwachsene, kommt das Material Kaugummi erneut zum Einsatz: in der Spielebox mit dem Titel S.O.S. Starification Object Series: An Adult Game of Mastication (1974-75). Gespielt wird mit einem von Kaugummilogos geschmückten Spielkartensatz, einem Set an Foto-Karten der Künstlerin aus der S.O.S. Starification Object Series und einer bunten Auswahl an beigegebenen Kaugummipackungen der unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, die während des Spielverlaufes von den Teilnehmern gekaut, zu Vaginal-Skulpturen gefaltet und auf die nackten Leiber geklebt werden müssen.275 Im Jahr 1978 begann Hannah Wilke mit dem fotografischen Zyklus und den thematisch damit verbundenen Objekten zu ihrer krebserkrankten Mutter, Selma Butter. Die Arbeiten umfassen fröhliche Bilder von 1970, aus dem Jahr der Diagnose des Brustkrebses wie etwa Dancing in the Dark (1978), zeigen in Fotografien und Zeichnungen den bis in das Jahr 1982 dauernden Kampf gegen den Krebs und erinnern nach dem Tode der Mutter an die Vergeblichkeit dieses Aufbegehrens in der mit Fotografien und Vaginal-Sculptures bestückten und als Triptychon gestalteten Installation In Memoriam: 272 Hannah Wilke, zitiert nach: »Hannah Wilke in Conversation with Ruth Iskin«, in: Visual Dialog 2, no.4, 1978, S. 19, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 47. 273 Der mit Wilke befreundete Fotograf Les Wollam zeichnet verantwortlich für diese Aufnahmen. 274 Lucy Lippard verweist in diesem Zusammenhang auf afrikanische Rituale des Wundenschlagens im Gesicht, einer Art Schmiss, wodurch Frauen an Ansehen und Schönheit gewännen. Vgl.: Lucy Lippard, »The Pains and Pleasures of Rebirth: European and American Women’s Body Art«, in: LIPPARD, Lucy, From the Center. Feminist Essays on Women’s Art, New York 1976, S. 121-138, hier S. 135. 275 Das Spiele-Set war als Multiple geplant und sollte – im Idealfall zusammen mit der Künstlerin – für $ 1.500 pro Spieleabend plus Lieferkosten entliehen werden können. Gewinner erhielten als Preis zwei zusätzliche Foto-Karten aus der S.O.S. Starification Object Series zum Verbleib. Vgl.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 49, sowie PRINCENTHAL, S. 52-53.

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Selma Butter [Mommy] (1979-83). Der künstlerische Zyklus zu ihrer Mutter sollte Hannah Wilke bis in das Jahr 1989 beschäftigen. Aber auch ihre eigene Erkrankung an Lymphdrüsenkrebs, dem Non-HodgkinLymphom, das im Juni des Jahres 1987 bei Hannah Wilke selbst diagnostiziert wurde. In dieser Phase ihres Spätwerkes entstehen eindrückliche Fotoarbeiten, Videos, Zeichnungen und Objekt-Collagen, die den körperlichen Verfall der Künstlerin durch die tödliche Erkrankung dokumentieren und auf einem künstlerischen Weg überprüfen. Alle Arbeiten dieses Zyklus formieren unter dem Titel Intra-Venus. Die letzten Werke Hannah Wilkes entstehen im Jahr 1992. Am 28. Januar 1993 erliegt die Künstlerin den Folgen ihres Krebsleidens. Saundra Goldman erinnerte sich am 13. November 2008 in einer Podiumsdiskussion an die Worte von John Carlson, der Wilkes Videoarbeit der Intra-Venus Tapes (1990-93) redigiert hatte: »[He] said [that Wilke’s] work is about the deep experience of being a woman, the deep experience of having a body. While he was talking about the tapes, I think his words apply to all of Wilke’s art.«276 Hannah Wilkes Oeuvre lässt den Betrachter erahnen, dass es da einen zwingenden, ja unüberwindlichen Unterschied gibt zwischen dem Ideal und dem nicht selbst‐gewählten Abjekten, dem Selbst und dem Anderen, zwischen dem Körper-Haben und dem Leib-Sein.

Eine Frage des Begreifens: Abbild und Performanz der Erkrankung »How old are you? This seems to be a dreaded question in our culture, in which age signifies getting old. Growing older means adding one more year to your age. Therefore, apart from the few years of growing up, aging is always a matter of getting old from an accumulation of years, and from increasing organic waste or decay.«277 Was Luce Irigaray hier anmerkt, gilt für beiderlei Geschlecht. Die Frage nach dem das Leben beeinträchtigenden Alterungsprozess und dem damit verbundenen Abjekten von Krankheit, Verfall und Tod, legt jedoch für den weiblichen Körper eine vielfach höhere Entwertung nahe als für das männliche Pendant, weswegen Irigaray wie folgt ihren Gedanken weiterführt: »›How old are you?‹ is a question that should hardly ever be put to a woman, for example, for risk of offending her. Because it would seem she’s only lovable or desirable in her youth, or for other reasons, during her childbearing years.«278 Was in den Kapiteln zum Tabu bereits ausgeführt wurde, trifft in eben diesem Maße auf Hannah Wilke zu: Ihr war bewusst, dass ihr Körper einem Ideal der weiblichen Schönheit entspricht, dieses Ideal jedoch ein vergängliches sein würde; und sie musste akzeptieren, dass dieses Ideal Begehrlichkeiten erweckte und gleichzeitig neidvolle Missgunst erfuhr, während der nachfolgende Verfall ihres Körpers Abscheu, beziehungsweise Missfallen, aber eben auch anerkennende Zustimmung ob der schonungslos freimütigen und beharrlichen Zurschaustellung ihrer Erkrankung erzeugte. Denn nichts klafft in der überlieferten Verhältnismäßigkeit von Schönheit und Hässlichkeit 276 Saundra Goldman, »Rethinking Hannah Wilke«, Podiumsdiskussion anlässlich der Ausstellung »Hannah Wilke: Gestures«, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 73-92, hier S. 80. 277 IRIGARAY, S. 106. 278 IRIGARAY, S. 106.

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weiter auseinander als die idealisierte Ästhetik und die abjekte Anästhetik des jugendlichen und später alternden weiblichen Körpers. Winfried Menninghaus verweist daher zurecht zu Beginn seiner Untersuchungen über den Ekel auf die Tradition der verkörperten hässlichen Alten, wie sie bereits weiter oben von Bachtin beschrieben wurde: »Sie ist der Inbegriff alles Tabuierten: abstoßender Haut- und Formdefekte, ekelhafter Ausscheidungen und sogar sexueller Praktiken – ein obszöner, verwesender Leichnam schon zu Lebzeiten. […] [D]as Ekelhafte [hat] bei allen […] weibliches Geschlecht und hohes Alter. Das vorliegende Buch über den Ekel ist daher zugleich ein ganzes Buch über die (männliche) Imagination der vetula, der ekelhaften alten Frau. Kants vetula, Nietzsches vetula, Freuds vetula, Batailles vetula, Kristevas abjekte Mutter – diese Serie abominabler Frauen eröffnet Einblicke in den verworfenen Untergrund dessen, was Freud ›die ästhetische Kultur‹ genannt hat.«279 Die Figur der vetula und das ehemals gewesene Ideal findet in Wilkes Werk Eingang: fragile Schönheit, begehrliche Sexualität, rücksichtlose Gewalt, das ungelittene Abjekte und der unumkehrbare Prozess der Verwesung vermischen sich ungehemmt in allen ihren Arbeiten, seien es die Plastiken der Vaginal Sculptures und die Performances in ihrem Frühwerk, oder aber die ihrem Spätwerk entstammenden Fotocollagen und Objekte. Ihren gesamten Werkkomplex empfindet Tracy Fitzpatrick als »always seemingly on the verge of disaster, always questioning: Will it fall? Will it crack? This vulnerability, so much a part of Wilke’s work, is also carefully constructed strategy, perilous but orchestrated by the artist. The combination of these seemingly opposing forces creates a unique tension throughout her artistic production.«280 Die Verletzbarkeit von Wilkes plastischem Werk wie Darstellung ihrer eigenen Person ist eine gewollte: die Zerbrechlichkeit und das weiche Organische der Materialien, die dünnwandigen, auf dem Boden platzierten Plastiken finden eine Entsprechung in den Bildern der kompromisslosen Gewalt, die der Krebs ihrem und dem Körper ihrer Mutter zufügt und dessen kompromittierendes Abbild unser Wohlbefinden gefährdet. Während auch Douglas Crimp Wilkes Arbeiten besagte Sinnlichkeit und eine damit einhergehende Verwundbarkeit zuschreibt, gesteht er sich auch die damit verbundene Provokation der Erscheinungsform und des Ausdrucks dieser Werke ein: »Yet beyond wanting to touch, one wants to unsnap – to violate.«281 Mit diesem Verlangen nach Zerstörung des Empfindsamen und Fragilen verhält es sich wie mit dem Ekel vor dem Abjekten, jedoch in umgekehrter Motivationsrichtung: während das Abjekte uns zunächst abstößt, aber dennoch unsere Blicke magnetisch auf sich zieht, besitzt das Verletzliche eine große affektive Anziehungskraft und das gleichermaßen hohe affektive Potential, angegriffen und zerstört zu werden.282 Anders als im Werk der französischen Künstlerin ORLAN resultiert die Verletzbarkeit der Objekte Hannah Wilkes und ihrer eigenen Person zunächst nicht aus einem aktiven Tun, weswegen die Amerikanerin erst recht nicht in die Riege der Body Artists eingeordnet werden kann. Nichtsdestotrotz zeigt sich ein offensiver Umgang mit den Auswirkungen ihrer Erkrankung, weswegen der 279 MENNINGHAUS, S. 16. 280 Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 9. 281 Douglas Crimp, »Hannah Wilke«, in: ARTnews, 71, Nr.6, Oktober 1972, S. 83, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 21. 282 Vgl. auch: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 23.

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Zeigegestus der Künstlerin und die damit einhergehende Selbstschau durchaus provokante Züge tragen. Die Kunsthistorikerin Viktoria Schmidt-Linsenhoff, die im Jahr 2013 den Folgen ihrer Krebserkrankung erlag, verweist darauf, dass Künstlerinnen wie Hannah Wilke »nicht etwa einen vorgängig intakten Körper [zerstören], sondern […] seine Medialität und den konstruktiven Charakter seiner vermeintlichen Natürlichkeit [vorführen]. […] Die Künstlerinnen beziehen sich auf Kategorien des Hässlichen und Ekelhaften, die in der ästhetischen Theorie seit dem 19. Jahrhundert einen festen Platz haben.«283 Dieser Platz ist negativ besetzt. Nun trägt Hannah Wilke aber weder Schuld an ihrem unversehrten noch an ihrem versehrten Körper. Der erkrankte und abjekte Leib als auch der idealtypisch schöne Körper unterliegen aber gleichermaßen den Grundsätzen der Verletzbarkeit. Dazu nun im Einzelnen. Die Kunsthistorikerin und Kritikerin Lucy Lippard beschreibt die Bredouille, in der sich Künstlerinnen, wenn nicht gar das weibliche Geschlecht insgesamt befinden, am Beispiel der in die seit jeher männlich geprägte Kunstszene der 1970er Jahre avancierenden Frauen wie folgt: »It is no wonder that women artists so often deal with sexual imagery, consciously or unconsciously, in abstract and representational and conceptual styles. Even now, if less so than before, we are raised to be aware that our faces and figures will affect our fortunes, and to mold these parts of ourselves, however insecure we may feel about them, into forms that will please the (male) audience. When women use their own bodies in their art work, they are using their selves; a significant psychological factor converts these bodies or faces from object to subject. However, there are ways and ways of using one’s body, and women have not always avoided self‐exploitation. A woman artist’s approach to herself is necessarily complicated by social stereotypes.«284 Lippard, die ansonsten mit Wilke eher scharf ins Gericht geht, demonstriert mit dieser Aussage, dass der Körper der Frau – und dies nicht nur in der Kunst – niemals ein objektiver Körper sein kann. Die im Zusammenhang mit der Kunst zumeist als Modell gebrauchte Frau, hat zwangsläufig Schwierigkeiten, ihr Selbst jenseits eines objekthaften Seins zu platzieren. Gerade auf dem Feld der Kunst zeigt sich aus besagten Gründen diese Problematik, da die Rolle der Frau vor allem in ihrer Funktion als Abbildung besteht und nicht aus der Sicht derjenigen, die abbildet. Um diesem Dilemma gerecht zu werden, positionieren sich Frauen als Künstlerinnen häufig als Zwitterwesen in einem Kunstschaffen, welches die Frau als künstlerisches Objekt und die Frau als künstlerisch schaffendes Subjekt thematisieren, indem sie beides in‐eins fallen lassen. Auch Hannah Wilkes Arbeiten zeigen diesen binären Charakter, indem sie zwischen Fragilität und Autorität, dem Selbst und den Anderen, dem Subjekt-Sein und dem Zum-Objekt‐gemacht-werden, dem Lustobjekt und der Feministin und, in einem letzten Stadium, zwischen aufreizender Venus und abschreckender vetula changieren. Doch scheint es weiterhin strittig, in welcher dieser Rollen sich Frau größerer Kritik aussetzt: als Flirt und Venus oder als Feministin und vetula.285 283 SCHMIDT-LINSENHOFF, Art., 2010, n.p. 284 Lucy Lippard, »The Pains and the Pleasures of Rebirth: European and American Women’s Body Art«, in: LIPPARD, S. 121-138, hier S. 124. 285 Lucy Lippard hatte Wilke 1976 als »flirt and feminist« bezeichnet. Diese als negative Kritik getätigte Äußerung entstammt dem folgenden Zusammenhang: »I must say I admire the courage of the women with less than beautiful bodies who defy convention and become particularly vulnerable

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Das Motiv der Venus gehört zu allen Zeiten zum festen Bestandteil des Oeuvres von Wilke. Abgesehen von ihren zahlreichen tableaux vivants, Performances und Fotoarbeiten, in denen die Künstlerin als Venus posiert, formte sie in den 1980er Jahren immer wieder Hüftfiguren der Venus aus Gips oder Schokolade. Die Plastiken tragen Titel wie Venus Envy, Venus Basin, Venus Cushion oder Venus Pareve.286 »Venus-Neid« ist ein von Wilke stammendes Wortspiel, das sie zuerst 1980 als Titel für eine Serie an Polaroid-Fotografien nutzt, und zum Ausdruck bringt, dass Schönheit auch als Tyrannei empfunden werden kann. Wilke erntete für ihre Arbeiten und damit eben auch für ihren Körper Bewunderung, die beim weiblichen Geschlecht zugleich in Neid übergehen konnte, oder aber Respektlosigkeit, indem vor allem das männliche Geschlecht sie lediglich als erotisches Vergnügen und nicht als Künstlerin wahrnahm.287 Wilke verkörpert in der Tat eine idealische Schönheit, die beinahe einem Zuviel gleichkommt, einen Überschuss darstellt, dessen Überangebot nicht nur als Provokation, sondern darüber hinaus als ein unerträglicher Überfluss wahrgenommen wird. Winfried Menninghaus spricht in diesem Fall von »Sättigungs-Ekel«288 , der eine Überfülle an Genüssen offeriert, ein Übermaß an Dingen, die nichts als schön seien. Den Gedanken der Sättigung auf Hannah Wilke und ihr Werk anzuwenden, ist nicht weit hergeholt, bedenkt man, dass der Sättigungsekel auch das Süße, Weiche, Fette und Klebrige betreffen kann: Süßigkeiten nämlich und damit den von der Künstlerin so häufig verwendeten Kaugummi als Werkstoff. »Mit der Kombination des zu Süßen und zu Weichen ist dabei jene Qualität des Klebrigen gegeben, deren Ekelqualität – diffuse Mischung von fett und flüssig, nicht konsumierbar, aber auch nicht fliehbar, ›Rache‹ nehmend an jedem Aneignungsversuch und uns seinerseits durch Festsaugen bedrohend – Sartre in Das Sein und das Nichts so eloquent als fundamentale ontologische Gegebenheit einer jeden objektiven Psychoanalyse der Dinge beschrieben hat.«289 Es ist Jean-Paul Sartre, der den Zusammenschluss zwischen dem die Sättigung auslösenden zu Süßen und Klebrigen und dem nackten Körper einer Frau macht. Er beschreibt 1943 in seinem eben genannten Versuch einer phänomenologischen Ontologie dieses être de trop

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to cruel criticism, although those women who do happen to be physically well‐endowed probably come in for more punishment in the long run. Hans Peter Feldmann can use a series of ridiculous porno‐pinups as his art […], but Hannah Wilke, a glamour girl in her own right who sees her art as ›seduction‹, is considered a little too good to be true when she flaunts her body in parody of the role she actually plays in real life. She has been making erotic art with vaginal imagery for over a decade, and since the women’s movement, has begun to do performances in conjunction with her sculptures, but her own confusion of her roles as beautiful woman and artist, as flirt and feminist, has resulted at times in politically ambiguous manifestations that have exposed her to criticism on a personal as well as on an artistic level.«, in: Lucy Lippard, »The Pains and the Pleasures of Rebirth: European and American Women’s Body Art«, in: LIPPARD, S. 121-138, hier S. 125-126 [kursive Hervorhebung durch Lucy Lippard]. Während ihres Studiums an der Tyler School of Art at Temple University, Philadelphia, an der Hannah Wilke 1962 ihren Abschluss als Künstlerin (Bachelor of Fine Arts) und Pädagogin (Bachelor of Science) machte, hatte die Künstlerin eine Arbeit über Botticellis Geburt der Venus verfasst. Vgl.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 10 und S. 43. Vgl. hierzu: FRUEH, S. 142 und S. 146, sowie Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 54. MENNINGHAUS, S. 164-165. MENNINGHAUS, S. 510.

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von klebrigen, breiigen, weichen und lauwarmen Süßlichem als weibliche Rache; Honig etwa stellt er gar das »Breit- und Flachwerden der etwas reifen Brüste einer Frau, die sich auf den Rücken legt«290 gegenüber. Beide Konnotationen eines Sättigungsekels vor dem zu Süßen und zu Weiblichen besitzen nach wie vor Gültigkeit und werden von Hannah Wilke in ihrer Serie der S.O.S. Starification Objects gekonnt potenziert. Die für diese Arbeiten aus je einem Kaugummi geformten kleinen Vaginal-Sculptures klebt sich die Künstlerin nach dem eigens dafür ausgeführten Kau- und Gestaltungsprozess auf die entblößten Körperpartien. Je nach Entkleidungszustand ihres Oberkörpers sitzen die gewickelten Vulven auf den bloßen Hautpartien in ihrem Gesicht, auf dem Brustkorb und den nackten Brüsten, auf dem Rücken und auf Wilkes Fingernägeln. Für die im Anschluss daran entstehenden Fotografien nimmt die Künstlerin Posen ein, die sie einmal als Mannequin, ein anderes Mal als erotisches Center-Fold-Modell zeigen. Obwohl diese aus Kaugummi geformten Miniatur-Objekte sofort als Fremdkörper erkennbar sind, können sie ebenso gut mit Motiven in Verbindung gebracht werden, die den Titel der Fotografien und Performances einer die Frau schmückenden Starification anhand einer einzigen Buchstabenveränderung – wie weiter oben beschrieben – in ihr Gegenteil verkehren: »scars« stünden dann für Vernarbungen. Werden die Gestalten als kleine Wunden gelesen, dann nicht aufgrund dessen, weil an diesen Stellen versehentlich entstandene Verletzungen abheilen, sondern weil sie in einer »scarification«, also in einem absichtsvollen Tun ihre Ursache haben. Während weiter oben bereits auf das die Frau verschönernde afrikanische Ritual der sich vernarbenden Schnittwunden hingewiesen wurde, drängt sich in einem westlichen Kontext eher das Symptom einer Borderline-Erkrankung auf. Sich selbst Verletzungen zuzufügen, deren Spuren bleibende sind, zeugt von einem Hilferuf, der freilich im Fall von Hannah Wilke ein rein symbolischer ist, da die damit einhergehenden Zeichen wieder abnehmbar sind. Es zeigt aber auch, dass zu schön zu sein eine Stigmatisierung sein kann, die Vaginal Sculptures gar als sexuelle Stigmata gelesen werden können. Sexuell übertragbare Krankheiten wie die Syphilis oder AIDS zeigen sich nach Ausbruch der Erkrankung in sichtbaren Malen am Körper. All diese S.O.S.-Signale bedürfen der Behandlung und medizinischer wie psychologischer Hilfe, wie sie im Titel der Arbeiten Wilkes Erwähnung finden. Wilke selbst äußert sich zu diesem Hilferuf wie folgt: »You know, having to ›be pretty‹, or being pretty, and being thought of as stupid, to me, is a very interesting problem in this society. People would like intellectuals to be ugly …, and, I think, one can have a body as well as a mind.« Dies führte, laut Wilke, in ihrem Werk zu »psychological poses that related to me, as emotional wounds that we carry within us, that really hurt us.«291 Der oben zitierten Kritik Lucy Lippards wider290 SARTRE, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), Hamburg 1962, S. 1040-1042; vgl. auch: MENNINGHAUS, S. 511. 291 Hannah Wilke, zitiert nach: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 50-51. Die hier erörterte Intention der S.O.S. Starification Objects Series wird durch Wilkes Arbeit Intercourse with … aus dem Jahr 1977 bestätigt: Für eine Performance im London Art Museum and Library, London, Ontario, hatte sich die Künstlerin die Namen ihrer Ex-Liebhaber mit Klebebuchstaben auf den nackten Oberkörper geschrieben. Während das Band ihres Anrufbeantworters die darauf hinterlassenen Liebesbotschaften der Männer abspielt, puhlt sich die Künstlerin einen Buchstaben nach dem anderen von ihrem Körper. Vgl.: PRINCENTHAL, S. 85.

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setzt sie sich vehement wie folgt: »In other words, you can’t be a flirt and a feminist, which seemed to me to be a rather fascist statement.«292 Übersetzen wir nun den auf den weiblichen Körper gemünzten Sättigungsekel auf das Süßliche und Klebrige des in der S.O.S.-Series angewandten Kaugummis, so ist dieser zwar durchaus genießbar und vielen ein geschmackliches Vergnügen, jedoch nicht, sobald er außerhalb seines dafür vorgesehenen Zweckes auftritt: als nicht selbstgekaute Süßigkeit, sondern als Fremdgegenstand, der von den Anderen gekaut, mit Speichel durchtränkt, voller fremder Keime und als klebriger Rest ausgespuckt und im schlimmsten Falle zu seiner Entsorgung irgendwo deponiert wird, wo wir versehentlich wieder mit den Fingern oder den Schuhsohlen damit in taktilen Kontakt kommen, der wiederum länger anhält als uns lieb ist. Die Kaugummis bei Wilke formen sich zu kleinen Vaginen, also einem Körperteil, der ebenfalls einem intimen Bereich angehört – sei es hinsichtlich seiner Ausscheidungen und Pflege, aber auch Anbetracht seiner Fortpflanzungsfunktion, im Akt des Zeugens und Gebärens. Die Vulva identifiziert sich mit »feminine pleasures and pain, but [is] not limited to female experience. (Sexual pleasures is universal. Likewise, anyone can be made to feel a cunt, a whore. Anyone can be raped).«293 Um der Vulva eine Form zu geben, bietet sich zunächst der Kaugummi in seiner positiven, elastischen, weichen, feuchten und eben auch glücksverheißenden, begehrenswerten wie süßen Konnotation an: »Because Wilke sculpt cunts, cunnilingus comes to mind: the vagina, slippery inside, naturally hot and hotter when sexually excited, melting, having already melted from being ›eaten‹ by a lover. Saliva, a ›sexual‹ fluid, is necessary for digestion. […] Gum also melts, in part from the heat of the mouth. When Wilke chooses gum as a medium, she (and her ›audience‹ in performances such as ›My Country ’Tis of thee‹ and ›Starification Object Series‹) chews the gum until the sugar is out, so that the gum is sufficiently plastic. Melleability.«294 Diese für viele hier allzu direkt angesprochenen körperlichen Vergnügungen beinhalten aber auch ein Kippmoment, da damit einige der weiter oben in den entsprechenden Kapiteln erörterten Tabus berührt werden: das Private und Verschwiegene der Körperöffnungen, des sexuellen Aktes, der gewaltsamen Geburt und des Abjekten der damit verbundenen Sekretionen. Den Mund und seinen Speichel, die Vagina und ihre Sekrete in direktem Bezug aufeinander zu zitieren, bereitet deshalb vielen Ungemach, wird aber von Hannah Wilke nicht mehr alleine nur in einem Gedankenspiel zu Tage gefördert, sondern offensiv in Szene gesetzt: »Gum transmits the pleasure/pain ambiguity in Wilke’s work. Gum at first is sweet, then loses its flavor, turns flat, tastes dead. Biting into gum feels good, as does manipulating it with the tongue. Yet teeth grind gum over and over, and it ends up spit out. Gum comes in an array of colors, and some of its brand names are sexually amusing: Chiclets, Juicy Fruit, Super Cherry, Black Jack, Adam’s Apple. At the same time, gum can be a disgusting substance, a noncolor when chewed up, sticky and stringy. Translated into art, it becomes something quite different, an instantaneous moment 292 Hannah Wilke, zitiert nach: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 51. 293 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 15. 294 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 73.

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of creation, an item of intimate exchange that then flowers into delicate shapes and unexpected colors, repeated but distinctive individual works.«295 Aber nicht genug, dass Wilke diese positiven wie negativen Charakteristika des an sich nicht kunstwürdigen Werkstoffes auch als symbolbesetztes Motiv in ihrem Werk zum Einsatz bringt, sie lässt es – wie bereits erwähnt – in ihren Performances und Spielideen darüber hinaus von den Mündern der Anderen zur Verarbeitung vorbereiten. Der enge Kontakt mit dem anschließenden Werkmaterial der Künstlerin, der sensorische Genuss des Kauens, die unprätentiöse Übergabe der vom eigenen Speichel durchnetzten und nun klebrigen Masse, also die direkte Teilhabe des Betrachters am Schaffensprozess, macht aus dem obsessiven Kauen des Kaugummis ein sinnliches Zwiegespräch, ohne dass sich Körper dabei berührten. Mit dieser »Safer-Sex«-Geste eines künstlerischen Miteinanders übernimmt Wilke den aktiven Part, indem sie die Süßigkeiten verteilt, zum Kaugummikauen auffordert und nach dem Gebrauch wieder einsammelt. Der intime Nähe suggerierende und sexuell aufgeladene Dialog endet, sobald die Künstlerin die benutzten Kaugummis zu kleinen Vaginen geformt und diese auf ihrem nackten Oberkörper positioniert hat.296 Nun dürfte umso deutlicher werden, warum auch die diesem Kontext entstammende Spielidee der S.O.S. Starification Object Series: An Adult Game of Mastication die Bezeichnung eines Kauakt-Spiels für Erwachsene im Titel trägt. Wie weiter oben angedeutet, müssen dabei von den Teilnehmern Kaugummis gekaut und daraus so viele Vulven geformt werden, wie die für den jeweiligen Spielzug gezogene Starification-Fotografie von Wilke vorgibt. Die anschließend auf einen anderen Mitspieler zu klebende Formation der noch feuchten, warmen und knetbaren Kaugummi-Vaginen musste dabei variiert werden.297 Die Zurschaustellung des nackten Körpers und seine Bedeutung als Material in der Kunst der 1970er Jahre ist keine Ausnahme, denn viele der Performer und Body Artists taten es Hannah Wilke gleich. Vielmehr anders herum betrachtet: Wilke veranschaulicht in ihrem Werk die zeitgenössischen Themen sowie Stilrichtungen und bewegt sich damit im Rahmen einer zeitgemäßen Auffassung des erweiterten Gattungsbegriffes. Und dennoch stößt sie als Frau auf Kritik und weckt Begehrlichkeiten, die ihren männlichen Mitstreitern niemals widerfahren sind. Diese Tatsache bewegt Lucy Lippard im Jahr 1976 zu einer Missbilligung der Verhältnismäßigkeiten von Männern und Frauen 295 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 73. Die von Wilke ebenfalls verwendeten kunstfernen Materialien Teig, Kekse und Kohleradiergummi besitzen mit dem Kaugummi vergleichbare Eigenschaften und symbolische Qualitäten, wenn auch nicht in ähnlich hohem Maße oder in einem einzelnen der Materialien vereint. Der Teig und die Glückskekse erfüllen den Sättigungsekel des Süßlichen, waren jedoch materialbedingt nicht von langem Bestand. Der Kohleradiergummi ist in seiner Form- und Knetbarkeit den Arbeiten aus Teig und Kaugummi ähnlich. Seine besondere Eigenschaft ist es, dass er sich nicht wie ein normaler Radiergummi aufbraucht, sondern ausradierte Kohle lediglich absorbiert, dabei die Farbe ändert und immer härter wird, bis seine Funktionstüchtigkeit nachlässt. All diese Materialien werden von Wilke freilich auf einer metaphorischen Ebene eingesetzt. Vgl. auch: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 32 und S. 38. 296 So geschehen im Februar des Jahres 1975 in der Ausstellung »5 Américaines à Paris« in der Gerald Piltzer Gallery, Paris. Wilke hatte dafür 3.000 Kaugummis mitgebracht. Vgl.: PRINCENTHAL, S. 53-54. 297 Vgl.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 49-50.

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in der Kunstwelt, indem sie den folgenden Einwand zugunsten Hannah Wilkes formuliert: »It was not just shyness, I suspect, that kept many women from making their own body art […] when Bruce Nauman was ›Thighing‹, Vito Acconci was masturbating, Dennis Oppenheim was sunbathing and burning, and Barry Le Va was slamming into walls. It seemed like another very male pursuit. A manipulation of the audience’s voyeuristic impulses. Not likely to appeal to vulnerable women artists just emerging from isolation. Articles and books on body art included frequent pictures of nude females, but few are by women artists. Men can use beautiful, sexy women as neutral objects or surfaces, but when women use their own faces and bodies, they are immediately accused of narcissism. There is an element of exhibitionism in all body art, perhaps a legitimate result of the choice between exploiting oneself or someone else. Yet the degree to which narcissism informs and affects the work varies immensely. Because women are considered sex objects, it is taken for granted that any woman who presents her nude body in public is doing so because she thinks she is beautiful. She is narcissist, and Acconci, with his less romantic image and pimply back, is an artist.«298 In der Tat tut sich hier eine Diskrepanz auf. Angesichts dessen, dass sich dieses ungleiche Verhältnis bereits im Fall der idealtypischen Darstellung der Frau im Vergleich zu einem gerade nicht dem Ideal entsprechenden männlichen Pendant in der Rolle des Künstlers auftut, wächst die Nachfrage nach einer Neubewertung des Frauenkörpers im Falle seines abjekten, da alternden und erkrankten Abbildes um ein Vielfaches.   Mit der Erkrankung ihrer Mutter Selma Chaya Butter an Brustkrebs beginnt das Werk Hannah Wilkes eine Wende zu nehmen: »On my 30th birthday, in 1970, my mother had a mastectomy. There was a solar eclipse when Claes299 and I went to see her in the hospital that day. She had a stroke in 1978 and her cancer came back. I took thousands of photographs of her over the next four years, hoping the images would keep her alive. […] Another kind of therapy … touch. But she died anyway. […] But I loved her … and so I buried her and went to synagogue to pray for her. And when I came home, Donald300 , my friend whom Selma adored, had captured a little lovebird that flew into the window in SoHo while I was praying at synagogue. ›Hi‐ya little bird‹ became ›Chaya‹, my mother’s middle name and the word for ›animal‹ in Hebrew. I tamed her, played with her, and prayed with her for precisely eleven months, when, at sundown on the last day of mourning, she was accidentally killed by my studio assistant. I lied, saying it was only a little bird. I could not accept another loss.«301 In ihrem Oeuvre taucht das Abbild302 der Mutter – und später auch des Vogels Chaya – erst ab dem Jahr 1978 auf, in dem wir zuallererst mit einem Doppelportrait von Mutter und Tochter 298 Lucy Lippard, »The Pains and the Pleasures of Rebirth: European and American Women’s Body Art«, in: LIPPARD, S. 121-138, hier S. 125. 299 Gemeint ist Claes Oldenburg, mit dem Hannah Wilke von 1969 bis 1978 eine Beziehung führte. 300 Donald Goddard war seit 1982 Wilkes Lebensgefährte und gleichzeitig Fotograf der Intra-VenusSerie; 1992 heiraten die beiden nur wenige Monate vor dem Tod der Künstlerin; vgl.: PRINCENTHAL, S. 11. 301 Hannah Wilke, »Seura Chaya«, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 150-151. 302 Bereits in den Arbeiten aus der Serie Intercourse with … (1977) hören wir Selma Butters Stimme auf dem Anrufbeantworter von Wilke; vgl. u.a.: PRINCENTHAL, S. 99.

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konfrontiert werden: Dancing in the Dark (1978) zeigt beide in einer schwarz‐weiß Fotografie mit erhobenen Armen mitten in einer Tanzbewegung. Wilke und Selma Butter sehen glücklich aus und blicken direkt in die Kamera. Schon am Ende desselben Jahres war der Brustkrebs der Mutter nach einem Herzinfarkt zurückgekehrt und sie befand sich wieder in Chemotherapie. Im Jahr 1982 erliegt Selma Butter ihrem Krebsleiden.303 Auch in den Jahren der neu aufkeimenden Erkrankung entstehen unzählige Fotografien. Wilke erinnert sich drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter wie folgt: »I seduced [my mother] into allowing me to be with her during her battle with cancer. My going to the hospital and sitting with her nine hours a day made her feel guilty. So in order to absolve herself, she let me take photographs, because then, somehow, I was still doing my art.«304 Einige der Fotografien aus diesen vier Jahren nutzt Wilke für die Fotoarbeiten der So Help Me Hannah-Serie (1978-1981) und das post mortem fertiggestellte Triptychon In Memoriam, Selma Butter [Mommy] (1979-1983). Der Brustkrebs samt seiner häufigen Folge einer Mastektomie gehört zu den nach außen hin evidenten Krebserkrankungen. Hinzu kommen bei fast allen Formen des Krebses damit einhergehende zusätzliche Behandlungen, die meist wiederum zu augenfälligen Beeinträchtigungen der Äußerlichkeiten führen. Es bedarf eines großen Aufwandes und einiger Vorkehrungen, will man die sichtbaren Zeichen der Versehrtheit mildern oder verstecken, um weiterhin einer weiblichen Norm zu entsprechen. Indem von medizinischen Organisationen und anderen Interessensverbänden Maßnahmen zur optischen Behebung der Erkrankung propagiert und forciert werden, wird die Erkrankung zu einem kosmetischen Problem degradiert: »[I]mage programs […] continue to promote beauty aids as prosthetic means of recovery from the disfiguring effects of cancer, advocating mainstream conceptions of beauty, gender, and illness.«305 Oftmals wird der Patientin und den sie Umgebenden damit eine Verbesserung suggeriert, die mit den eigentlichen physischen wie psychischen Konsequenzen der Krankheit und den zuvörderst anstehenden lebensverlängernden und lebenserhaltenden Schritten einer Behandlung nichts zu tun hat. Den Fokus auf äußerliche Faktoren zu richten, empfinden dabei viele Frauen zurecht als eine Beschönigung, gar Herabwürdigung des tatsächlichen Leidens und seiner Auswirkungen. Und sie sind nicht mehr gewillt oder in der Lage, den weiter oben von Sander L. Gilman erläuterten Umkehrschluss eines »the diseased is not only the ugly, but the ugly the diseased«306 folge zu leisten, weil es eben nicht den Tatsachen entspricht: nur, weil die äußeren Zeichen der Erkrankung fehlen und sie dem gesellschaftlichen weiblichen Ideal samt Haaren und Brüsten wieder zu einem Mindestmaß entsprechen, macht sie das nicht automatisch zu gesunden Frauen. »As a result, the conventional image of cancer is one that conceals all signs of 303 Vgl. u.a.: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 54-55, sowie PRINCENTHAL, S. 11 und S. 100. 304 Hannah Wilke, zitiert aus: PRINCENTHAL, S. 99. 305 MacLELLAN, Art., 2012, auf: http://blog.forestiere.ca/2012/10/not‐so-pretty‐pink.html [zuletzt aufgerufen am 04. Dezember 2016]. 306 GILMAN, S. 51-52.

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the disease, cosmetically transforming the often destabilizing experiences of diagnosis, treatment, and recovery into something pretty and pink.«307 Die Fotoarbeiten Hannah Wilkes zum Brustkrebs ihrer Mutter sind alles andere als »pretty and pink«. Sie folgen eher der klinisch‐medizinischen Tradition der Bebilderung der Erkrankung, wie sie bereits das 19. Jahrhundert in der Fachliteratur bereithält. Diese zum Teil erotischen Fotografien, die in einem medizinisch‐aufklärerischen Kontext stehen, sollten – wie dies in den Kapiteln zu ORLAN zur Sprache kam – den medizinischen Blick schulen und dem Patienten einen therapeutischen Spiegel der Selbstreflexion vor Augen halten.308 Das Interesse gilt einmal medizinischen Zwecken, denen aber auch nicht zu verbergende sexuelle Konnotationen zu eigen sind. Letztere sind Wilkes Bildern der Mutter noch fremd, müssen aber spätestens für ihre Selbstportraits aus der Intra-Venus-Serie geltend gemacht werden, mit denen die Künstlerin ihrer eigenen Erkrankung ins Gesicht blickt. Der künstlerische wie therapeutische Nutzen ist jedoch bei allen Serien – So Help Me Hannah, In Memoriam, Selma Butter [Mommy] und Intra-Venus – augenfällig. Wilke scheint mit ihren Aufnahmen sowohl medizinisch‐klinische wie private und nicht zuletzt künstlerische Interessen zu verfolgen. Emotionaler Abstand paaren sich dabei mit einer tief empfundenen Teilhabe am Geschehen. Das erste Mal begegnen wir der Erkrankung Selma Butters in dem Diptychon Portrait of the Artist with Her Mother, Selma Butter (1978-81), welches zu der Serie So Help Me Hannah gehört. Die beiden hierfür eingesetzten Farbfotografien, zeigen den jeweils nackten Oberkörper von Hannah Wilke auf der linken Seite und ihrer Mutter rechts davon. Wilke liegt auf dem Boden, ihre Arme sind vom Körper abgewinkelt und ihr sorgfältig geschminktes, jugendlich wirkendes Gesicht, das sie direkt dem Betrachter zugewandt hat, wird von ihrer vollen, glänzend‐braunen Haarmähne umrahmt. Ihre entblößten, straffen und gesunden Brüste zieren – ähnlich wie in der S.O.S. Starification Object Series – insgesamt fünf Objekte. Es sind Spielzeugpistolen aus der Ray Gun Collection, die Wilke für ihren ehemaligen Lebensgefährten Claes Oldenburg im Rahmen seines Ray Gun Theatres von 1969 bis 1978 gesammelt hatte und mit denen sich die 307 Sarah MacLellan spielt damit auf die »Pink Ribbon« an, die Solidarität mit Brustkrebserkrankten zum Ausdruck bringen möchte. MacLELLAN, Art., 2012, auf: http://blog.forestiere.ca/2012/10/ not‐so-pretty‐pink.html [zuletzt aufgerufen am 04. Dezember 2016]. Sarah MacLellan moniert gleichfalls die sexistisch anmutenden Erbauungsfloskeln wie »Save the Ta‐tas«, »I Love Boobies« und »Save the Boobs« der im Kapitel II.3.2 bereits besprochenen »American Cancer Society«: »[This] overtly sexualizes the disease and does nothing to communicate its realities or the risks that women face. The message is to save the ›boobs‹ or the ›ta‐tas‹ rather than the women whom breast (and other forms of) cancer aggressively kills.« Die »Canadian Breast Cancer Foundation« nutzt die in allzu grellem Pink daherkommenden »Think Pink«-Logos, die wie die »Pink Ribbon« dem Brustkrebs symbolisch Paroli bieten sollen. Aussagen wie »Learning that you have breast cancer, and that it has metastasized, can be a shock.«, oder Hinweise zu den Nebenwirkungen einer Chemotherapie wie etwa »Chemotherapy can reduce sex drive, and side effects like nausea and fatigue can affect your mood and reduce your interest in sex«, lassen darüber hinaus Zweifel an der medizinischen Ernsthaftigkeit dieser Unternehmen aufkommen; vgl.: www.cbcf.org/ontario/Pages/default.aspx [zuletzt aufgerufen am: 05 Oktober 2016]. 308 So der englische Mediziner und Direktor des Surrey County Asylums Hugh Welch Diamond in einem Essay an der Royal Academy of Medicine im Jahr 1856; vgl.: AUGSBURG, S. 72-73.

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Künstlerin hier bewaffnet und zugleich schmückt.309 Hannah Wilkes Portrait mimt das perfekte Ideal einer begehrenswerten jungen Frau, gleich weit entfernt von der Wiege und dem Grab.310 Neben dieses Foto platziert Wilke das Bild ihrer an Brustkrebs erkrankten Mutter. Selma Butters Portrait ist im selben Ausschnitt wie dasjenige Wilkes gewählt, jedoch in sitzender Position. Ihre Arme sind zu beiden Seiten des Körpers aufgestützt und ihr nackter, ausgemergelter Oberkörper zeigt die rechte, erschlaffte noch heile Brust. Die linke ist nicht mehr vorhanden. An ihrer Stelle zeigt sich eine senkrechte Narbe, welche von der Mastektomie im Jahr 1970 zeugt. Die Stelle, an der die zweite Brust sitzen sollte, ist von kleinen, rötlichen Malen übersät, die Haut verbrannt und zusätzlich vernarbt von der Strahlentherapie. Der Bildausschnitt lässt erahnen, wie hager und schwach sich ihre gesamte Körperkonstitution darstellt. Selma Butter blickt nicht wie ihre Tochter herausfordernd in die Kamera. Ihr Kopf ist abgewandt, der Blick ginge nach rechts unten, hätte sie die Augen geöffnet. Der rot geschminkte Mund und das Gesicht, welches von struppigem, beinahe schwarzem Kurzhaar umgeben wird, was auf eine Perücke schließen lässt, wirken sorgenvoll und angespannt. Butters Portrait zeigt das alternde Abbild eines von Schmerzen und dem Wüten des Krebses zerfressenen Körpers. Mit dem blanken Tatsachenbericht der fotografischen Abbildung bietet Wilkes schonungslose Darstellung der Mutter eine beinahe klinisch anmutende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation einerseits, andererseits zeugen das Erfassen des Ausdrucks und des Gebarens von Selma Butter von einer Vollständigkeit ihrer Person samt ihres Charakters in gesunden wie in erkrankten Tagen. »Wilke’s indication of trouble in the paradise of beauty […] becomes real scarification in the portrait of her mother. […] We see a deteriorated body that the photographer, Wilke, clearly loves, for it is very much alive with the presence of Selma Butter.«311 Das in den beiden Portraits vergegenwärtigte zeitgleiche Zugegensein von Wiege und Grab, von Jugend und Alter, von Anmut und Demut, von Unversehrtheit und Versehrtheit, von Leib-Sein und Körper-Haben ergibt sich zunächst insbesondere durch die Gegenüberstellung beider Frauendarstellungen, aber ist auch einzig in der singulären Aufnahme der Mutter spürbar. Sowohl das Tabu des Alterns als auch dasjenige des erkrankten, insbesondere des weiblichen versehrten Körpers werden im Portrait von Selma Butter aufgegriffen. Es ist jedoch in seiner Doppelbödigkeit weit davon entfernt, ein hilfloses oder gar willenloses Zeugnis des Zerfalls und des Kontrollverlustes abzugeben. Das Entschwinden des Lebens, das Altern, die Krankheit und der Tod können angesichts der beiden Frauen als eine Endlosschleife gedacht werden. Nicht mehr nur die Dichotomie von Sein oder Nicht-Sein wird hier gepredigt, sondern die Würde des Körpers, der zwar einem endlich wirkenden Kreislauf unterworfen ist, jedoch in neuerlichen Zyklen immer weiter existieren wird. Das, was der zeitgenössische Mensch am meisten fürchtet, ist die Begrenztheit des Lebens und sein qualvolles Enden: »The decrepit body is a failure of perfection, it points towards sickness and death, towards a generation that will succeed us. It tells us that we will not live forever, and we will not always live well. And it seems as though we have come to fear our own mortality 309 Vgl.: PRINCENTHAL, S. 89 und S. 111. 310 In Anlehnung an: BACHTIN, S. 77. 311 FRUEH, Erotic Faculties, S. 148.

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so much that we can no longer bear to read the message that time inscribes upon our skin.«312 Was sich auf Selma Butters Haut an Zeichen des Verfalls mehrt, lässt unseren Blick zurückschrecken. Und dennoch verweist sie anhand ihres Abbildes eher auf die Zukunft, als auf ihre eigene Vergänglichkeit. Die zukünftig zu erwartenden Generationen sind in ihrem Gegenüber, dem linker Hand abgebildeten Portrait der Tochter Hannah, in dessen Richtung ihre Geste verweist, bereits gegenwärtig und können so in einer sich fortsetzenden Reihung gelesen werden. In ihrem anmutigen und eben auch versinnbildlichten mutigen Widerstand gegen eine endgültige Begrenzung allen Lebens und dem ihr scheinbar innewohnenden Bewusstsein eines fortlaufenden Zyklus, erscheint sie als wegweisende und uns beistehende Protagonistin des eigenen, unaufhaltsam weiter fortschreitenden Lebens. Joanna Frueh beschreibt deshalb Selma Butter zurecht wie folgt: »Selma is a heroine figure […]. Not an exclusive her‐o-ine, whose actions are above and beyond everywo/man’s, Wilke’s mother embodies events and experiences that people deal with first hand: aging and illness, love and death. While these exist within a mythic dimension of life in which all participate, they are everyday matters. […] Selma represents the ancient concept of the divine androgyne, who embodies the essential idea that all pairs of opposite are integrated into Oneness.«313 Ein Jahr nach dem Tod der Mutter vollendet Hannah Wilke das Triptychon In Memoriam, Selma Butter [Mommy] (1979-83). Hierfür nutzt die Künstlerin 18 schwarz‐weiß Fotografien, die sie von ihrer Mutter während der letzten vier Jahre der Erkrankung gemacht hatte. Je sechs Fotografien – alle im Querformat – werden in zwei Reihen übereinander in insgesamt drei schwarz gerahmten Bildtafeln untergebracht, die sich nebeneinander gehängt zu einem Triptychon formieren. Es handelt sich ausschließlich um bildfüllende Portraits der Mutter, die diese in den unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien ihrer Krebserkrankung und des Verfalls zeigen. Selma Butter blickt auf beinahe allen Bildern direkt in die Kamera, ihr nun haarloses Haupt manches Mal verschämt offenbarend, meist aber von den unterschiedlichsten Kopfbedeckungen versteckt, davon zwei Mal mit einer Perücke. Wir sehen sie im Haushalt agieren, auf der Straße dem Bildbetrachter entgegenwinken, im Krankenhausbett, schlafen, lachen, einmal sogar eingefroren in einer Tanzbewegung. Trotz ihrer tödlichen Erkrankung zeigt sie sich in vielen der Aufnahmen gelöst, ist fröhlich und gut gelaunt. Unvermittelt blendet Hannah Wilke dazwischen Bilder mit weitaus düsterem Duktus ein: das Todernste der Situation ist in diesen einzelnen Gesten und der Mimik abzulesen, sobald Selma Butter ins Leere blickt oder direkt in das Gesicht des Betrachters, welches für sie dasjenige ihrer eigenen, sie fotografierenden Tochter ist. Die eingestreuten Aufnahmen der schlafenden Mutter nehmen in diesem räumlich nebeneinanderliegenden Kontext das Bild einer Toten auf dem Sterbebett vorweg. »The range of expressions the photos evoke – or reveal, in the artist who made them – includes fear, sadness, a deep sense of betrayal, and, certainly not least, enormous empathy.«314 In einer dritten Reihe unterhalb der Fotografien finden sich aufgeklebte, zum Teil dreidimensional gefaltete Papierstücke in den drei Primärfarben sowie Schwarz und 312 TOWNSEND, Vile Bodies, S. 104. 313 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 86. 314 PRINCENTHAL, S. 102.

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Weiß. Was zunächst willkürlich in Form und Verteilung wirkt, gruppiert sich für das Auge schnell zu jeweils drei Grüppchen an Papierschablonen, welche die Umrisse der Gegenstände und der Person Selma Butters in den Fotos darüber nachspielen. Der durch die Papierfetzen betonte und umrahmte Negativraum von Bett, Diwan, Kommode, Küchentisch, aber vor allem der Mutter selbst, bildet das Kontrastprogramm der mit einer noch lebenden Selma Butter gefüllten Foto-Serie darüber, den schwarz‐weißen Positiven der Fotoabzüge. Die Mutter, die vormals war, verschwindet in der vorletzten Zeile des Triptychons in einer weißen Leerstelle, dessen papierene Umrandung sich ebenfalls in Auflösung befindet. Die Papierschnipsel sind nicht vollständig. Nicht einmal mehr die Umrisse der Mutter ließen sich hiermit komplett wiederherstellen. Die vierte und letzte Zeile am unteren Rand der drei gerahmten Bilder besteht aus je drei Worten. In Leserichtung steht dort geschrieben: Form/Cause/Make, Support/Foundation/Comfort, Bond/Intimate/Part. Am Boden vor dem Triptychon findet sich ein letztes der Arbeit In Memoriam, Selma Butter [Mommy] zugehöriges Element in Form von drei bodennahen, viereckigen weißen Plinthen, auf denen je ein ausgeschnittenes Mehreck in Primärfarbe platziert ist. Darauf wiederum stehen je zwei VaginalSculptures aus Keramik, deren glatte und geschmeidig wirkende Oberflächen aus verdünnter Acrylfarbe erzielt wurden.315 Hannah Wilke schöpft hier nicht nur aus dem Vollen, was die von ihr ausgewählten Kunstgattungen anbelangt, sondern kreiert ein ernsthaftes und bedeutendes Werk, welches der Tradition des Monuments folgt und in seiner Komplexität dem Unterfangen des Angedenkens einer Toten gebührt. Einen weniger monumentalen, dafür umso intimeren Charakter besitzen die Einzelbildnisse, die Hannah Wilke – ebenfalls post mortem – von ihrer Mutter aus der eben angesprochenen Fotoserie aussondert. Sie tragen die Titel Seura Chaya (1978-89) und sind einzeln durchnummeriert.316 Auch hier handelt es sich um – nun aber in großem Format – abgezogene Silbergelatine-Fotografien, denen Wilke in diesem Fall je vier Aquarelle von Vögeln als unterste Bildzeile beigesellt. Die Fotografien zeigen wiederum in Großaufnahme die vom Krebs gezeichnete Selma Butter: sie sitzt von Kissen gestützt auf einem Sofa, schräg dem Betrachter zugewandt und lächelt. In einer neckischen, wenn auch schüchternen Geste lässt sie das ihr durch die Torturen der Krebstherapie zu groß gewordene Kleid von der dem Betrachter zugewandten Schulter gleiten, wodurch der ausgemergelte, nackte Oberkörper sichtbar wird. Ein anderes Bild zeigt sie nur mit einem BH und langen Hosen bekleidet und vom Betrachter abgewandt. Die weiße Wand, vor der sie steht, präsentiert das Kniestück im Profil, dessen klare und kantige Konturen ihren nun haarlosen Kopfumriss betonen. In Händen hält sie ihre schwarze Kurzhaarperücke. In Seura Chaya # 4 sehen wir zuletzt eine lachende, mit dem Schneiden von Gemüse beschäftigte Selma Butter. In würdevoller Haltung sitzt sie, gänzlich in schwarz gekleidet und mit einem dunklen Kopftuch angetan, in ihrem Stuhl und verrichtet Hausarbeit. Ihre knochigen Hände und der Kopf, dessen enganliegende Haut und eingefallene Augenpartie deutlich den Schädelknochen hervortreten lassen, zeigen sie dem Tode nahe. Die unterhalb dieser Einzelportraits gemalten je vier 315 Die beiden blauen Vaginen stehen auf gelbem Untergrund, die roten in der Mitte auf blauem und die gelben Plastiken rechts außen auf rotem Grund. 316 Sie entstammen der Bilder-Serie Of Relativity.

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Aquarelle von Grauköpfchen in Buntfarben, wirken wie eine nachträglich eingefügte Bildunterschrift. Es sind mit lockerem und gekonntem Strich geführte Zeichnungen des kleinen Vogels, welcher sich in Wilkes Wohnung am Tag der Beerdigung ihrer Mutter verirrt hatte und auf den Mittelnamen von Selma Chaya Butter hörte.317 Während das Bild der Mutter erst ab Ende der 1970er in Hannah Wilkes Werk erscheint, ist Selma Butter doch bereits zu Beginn ihrer Karriere ausschlaggebend für viele ihrer Arbeiten: »Wilke began performing and having herself photographed nude in 1970, after her mother’s mastectomy. As Wilke’s mother was losing her body, Wilke wore her mother’s wounds.«318 Joanna Frueh verweist mit diesem Zitat auf die S.O.S. Starification Object Series, die Wilke vier Jahre nach den Arbeiten daran an die Öffentlichkeit bringt. Rückwirkend begreifen wir, dass sich die als vor allem süß geglaubten Kaugummi-Vaginen auf Wilkes Körper Metastasen gleich auf ihrem Körper auszubreiten begannen, um das Krebsleiden der Mutter auf ihren eigenen Körper zu projizieren. Das konkrete Leiden konnte so weder gelindert, noch der Mutter erspart werden. Und auch, dass über ein Jahrzehnt später der Künstlerin ähnliche Wundmale nicht erspart blieben, konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen.   Die im Folgenden besprochenen Arbeiten tragen einen Großteil dazu bei, Wilkes Oeuvre, das über lange Werkphasen hinweg als narzisstisch motiviert galt, zu rehabilitieren. Dennoch ist es traurig, der Künstlerin alleine selbstdarstellerische Beweggründe als Motivation für ihre frühen Arbeiten zu unterstellen, nur, weil diese einem als essentialistisch gebrandmarkten Stil entsprechen. Der als schön geradezu verschrienen Künstlerin war es in ihrer ersten Schaffensperiode nicht gelungen, zu überzeugen, ausgerechnet weil sie einem weiblichen Ideal entspricht und symptomatisch davon ausgegangen wird, dass der schöne Mensch zuallererst Wert auf Äußerlichkeiten legt und somit daran gehindert wird, inneren und intellektuellen Werten zu einem künstlerisch wertvollen Ausdruck zu verhelfen. Erst indem Hannah Wilke Sander L. Gilmans Forschung zu einer Verhältnismäßigkeit von gesund und schön widerlegt, zeigt sich die wahre Größe einer Künstlerin, die ihren Körper in schonungsloser Manier ihrer Kunst zur Verfügung stellt. Das Diktum unserer zeitgenössischen Gesellschaft – »It is not only that the healthy becomes the beautiful, but that the beautiful becomes the healthy.«319 – kann von Hannah Wilke zurecht, wenn auch auf schmerzhafte Weise selbst durchlebt, entkräftet werden. Dies geschieht in der letzten Werkphase Wilkes und damit in den Arbeiten aus der Intra-Venus-Series, die seit ihrer Krebsdiagnose im Jahr 1987 bis zu ihrem Tode 1993 entstehen sollten. Im Jahr 1984 schreibt Gilles Deleuze über die Qualen des Körpers, wie sie durch Francis Bacon Eingang in dessen Malerei fanden: »Das Fleisch ist kein totes Gewebe, es hat alle Leiden bewahrt und alle Farben des lebendigen Leibs angenommen. Soviel konvulsivischer Schmerz und Verletzbarkeit, aber auch soviel bezaubernde Erfindung, Farbe, Akrobatik. Bacon sagt nicht ›Erbarmen mit den Tieren‹, sondern eher: jeder Mensch, der leidet, ist bloßes Fleisch. Das Fleisch ist der gemeinsame Raum von Mensch und 317 Vgl.: Hannah Wilke, »Seura Chaya«, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 150-151. 318 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 44. 319 GILMAN, S. 51.

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Tier, ihre Ununterscheidbarkeitszone, es ist jenes ›Faktum‹, eben jener Zustand, in dem sich der Maler mit den Gegenständen seines Schreckens oder seines Mitgefühls identifiziert. […] Dies ist kein Zusammenbringen von Mensch und Tier, dies ist keine Ähnlichkeit, sondern eine Identität von Grund auf, eine Ununterscheidbarkeitszone, die tiefer liegt als jede gefühlvolle Identifizierung: Der leidende Mensch ist Vieh, das leidende Vieh ist Mensch. Das ist die Wirklichkeit des Werdens.«320 Hannah Wilke stellt in den Bildern der Intra-Venus-Serie diese Ununterscheidbarkeitszone dar. Sie liegt zwischen dem Körper ihrer Mutter, ihrem eigenen und dem Menschheitskörper. All diese Körper werden vom Leben gezeichnet, vom Alter und der Erkrankung, weswegen wir – wie es Michel Serres beschreibt – all die Spuren und Wege des Lebens auf unserer Haut gleich einer buntscheckigen Tätowierung sichtbar jederzeit bei uns tragen.321 Angesichts des idealen Körpers der Künstlerin, wie sie ihn in ihrem Frühwerk freizügig offeriert, im Vergleich zu der eingangs dieses Kapitels einer existentiellen Grenzerfahrung in Frage stehenden Gegenüberstellung einer Endlichkeit des Lebens im Speziellen und der Endlosigkeit allen Lebens, erscheint Wilkes Zurschaustellung ihres eigenen endlichen, von Krankheit gezeichneten Körpers am Ende ihres Lebenswerkes nur folgerichtig. Noch im Jahr 1985 auf ihren makellosen Körper angesprochen, reagierte die Künstlerin daher wie folgt: »People often give me this bullshit of ›What would you have done if you weren’t so gorgeous?‹ What difference does it make? I was still alluding to the suffering of humanity. Gorgeous people die as do the stereotypical ›ugly‹. Everybody dies.«322 Seit der Krebsdiagnose ihrer Mutter, beschäftigte Hannah Wilke der Gedanke an Krankheit und Verfall. Auch deshalb entstanden Anfang der 1970er Jahre Skulpturen aus Latex und anderen vergänglichen Materialien, deren Dauerhaftigkeit begrenzt war und deren Fragilität die Künstlerin begrüßte: »Some of the best art has a planned obsolescence. I alternate between the idea of some of my works disintegrating because it’s hard to admit that you’re going to die yourself.«323 Indem Wilke die Mutter in ihrem Sterbeprozess verewigt, nimmt sie ihren eigenen Leidensweg, der nur wenig später beginnen sollte, vorweg und damit unser aller kommenden Leidenswege. Sechs Jahre nach dem Tod der Mutter Selma, wird 1987 bei Hannah Wilke das NonHodgkins-Lymphom diagnostiziert. Der bösartige Krebs ist zum Zeitpunkt bereits in 320 DELEUZE, Francis Bacon, S. 21. 321 Vgl.: SERRES, Die fünf Sinne, S. 20-21, die fragliche Textpassage wird in Gänze zitiert im Kapitel III.2. Vgl. auch: SERRES, Troubadour des Wissens, S. 10. Der gesamte Text über den Laizismus findet sich im Anhang unter Punkt IV. 322 Hannah Wilke, zitiert nach: »The New Common Good«, Mai 1985, S. 10, in: PRINCENTHAL, S. 66-67. 323 Hannah Wilke, zitiert nach: Barbara Schwartz, »Methods and Materials Old and New«, in: Craft Horizons, Dezember 1975, S. 46, in: PRINCENTHAL, S. 50. Hannah Wilkes Krankenversicherung, die speziell Künstler unter Schutz nehmende »New York Artists Equity«, hatte eine Liste an toxischen Materialien zur Verfügung gestellt, mit denen speziell Künstler in Berührung kommen, was Wilke zu einem beunruhigten Kommentar bezüglich der von ihr gebrauchten Materialien wie Fiberglas, Latex, aber auch dem Kaugummi veranlasste: »It’s probably poison. … It’s probably where all the cancer’s coming from. … Look at all the colors. … How do you get turquoise, naturally? And all those fantastic colors, orange, yellow? Etcetera, where does all that color go to in your tummy?«, Hannah Wilke, zitiert nach: Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 58.

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Form von Knoten im Nacken- und Schulterbereich sowie im Magen erkennbar.324 Während sich der Krebs in den ersten vier Jahren nur langsam ausbreitet und mit einer leichten Chemotherapie behandelt wird, ist der Verlauf der Erkrankung in den folgenden zwei Jahren äußerst aggressiv. Hannah Wilke stirbt mit zweiundfünfzig Jahren am 28. Januar 1993 in Texas. Im Jahr 1991 entschließt sich Wilke in einer Geste des – wie es Amelia Jones nennt – »radical narcissism«325 , ihr Sterben in Form von Kunstwerken aufzuzeichnen. In einem Zeitraum von zwei Jahren entstehen mit Hilfe ihres Lebensgefährten Donald Goddard die Arbeiten zu den Intra-Venus-Bildern, eine Serie an lebensgroßen Farbfotografien, Zeichnungen, Aquarellen, Objekten und ein zweistündiges Video326 , die Wilke während der Zeit weiterer Chemotherapien, im Krankenhaus und in ihrem tödlichen Verfall zeigen. Intra-Venus ist erstmals 1994 post mortem in der Galerie Ronald Feldman Fine Arts in New York zu sehen. Insbesondere die Fotografien der Reihe beeindrucken in ihren lebensgroßen Formaten und unverblümten Inhalten. Alle zeigen Hannah Wilke in besorgniserregendem Zustand. Auf den Bildern aus der ersten Hälfte des Jahres 1991 trägt sie noch ihr einst so fülliges Haar zur Schau, jedoch ist unverkennbar, dass die Chemotherapie ihr Tribut zollt.327 In den querformatigen Fotografien Intra-Venus-Triptychon [»Marilyn Monroe«] (1992-1993) sehen wir Wilke aus einer steilen Vogelperspektive auf einem weißbezogenen Bett liegen. Sie bietet ihren nackten Körper in Posen dar. Ihre noch wenigen verbliebenen Haare fließen über das Bettlaken, beide Hüften und beide Seiten ihres Gesäßes sind mit großformatigen Pflastern beklebt, die Stellen, an denen die – zum Teil fehlgeschlagenen328 – Knochenmarkstherapien ansetzten. Das nur wenige Monate später entstandene Triptychon Intra-Venus #3 (1992) mit Hochformaten zeigt die Künstlerin auf der rechten und der linken Bildtafel in einem 324 Vgl. u.a.: FRUEH, S. 148. Tom Kochheiser, der damals ihre Ausstellung an der Universität von St. Louis plante und sich mit der Künstlerin hierzu besprach, erinnert sich anlässlich einer Podiumsdiskussion von 2008 in eben besagtem Museum: »When we were doing the catalogue, I remember in ’87, oh my gosh, this was at Famous Ben’s Pizza on Spring Street. We were just talking, having a slice. And she said, ›I’ve got this lump in my neck, do you think I should have somebody look into it?‹ Then she pulled her hair back, and it was about the size of an egg right under there. And I went, ›Oh my God, Hannah, yeah, I think you should.‹ And that’s what started this march on towards her treatment for Non-Hodgkin’s lymphoma.«, in: Tom Kochheiser, »Rethinking Hannah Wilke«, Podiumsdiskussion anlässlich der Ausstellung »Hannah Wilke: Gestures«, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 73-92, hier S. 77. 325 JONES, S. 185. Jones formuliert dies nicht als Vorwurf, sondern schreibt weiter: »Intra-Venus is a brilliant riposte to those who condemned her work as narcissistic and Wilke as exploiting her own beauty.« 326 Das Video, welches 30 Stunden an Bildmaterial zeigt, wird in einer Installation aus 16 Monitoren ausgestellt. Die Inhalte betreffen die verschiedenen Werkphasen der Künstlerin, dazu Szenen aus ihrem Privatleben, untermischt in gleichen Teilen von expliziten Bildern ihres Leidensweges als Krebspatientin. 327 Mit ihren seit Beginn des Jahres 1992 ausfallendem Haar gestaltet die Künstlerin Objektcollagen, denen sie einzeln durchnummeriert den Titel Brushstrokes verleiht. Die nach und nach in ihrer Bürste verbleibenden Haare werden als Strähnen, Flocken, in Haufen oder als geschlungene Ornamente auf Arches-Papier präsentiert. 328 Vgl.: FRUEH, S. 150.

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nächsten Stadium der Erkrankung: haarlos und gänzlich nackt steht sie in der Pose einer Odaliske in anmutigem Kontrapost, ihr dazu kontrastierender ernster Blick fällt von oben herab auf den Betrachter. Ihr nach Aufmerksamkeit verlangendes Gesicht zieht unsere Blicke ebenso auf sich, wie die so deplatziert wirkenden weißen Frotteepantoffeln, in denen ihre Füße stecken. In der ersten Tafel links, zeigt sich Wilke in einer weitaus kompromittierenderen Situation: sie sitzt mit zusammengesacktem Körper auf einem Toilettenstuhl. Ihr Blick geht dieses Mal in einer eher schamhaften Geste nach unten. Die Infusion, die über ihrer linken Brust mit einem Schlauch in einem Port mündet, zeigt eine der Wahrscheinlichkeiten, warum die Künstlerin ihren Bewegungsradius einschränken musste. Ihre Konstitution lässt sich insgesamt als äußerst schwach erkennen. Wie in der Fotografie rechts außen, ist ihr Haar verschwunden, ihr Bauch von der Medikation aufgedunsen, ihre Brüste hängen schlaff herab. Die beiden Tafeln bilden die Umrahmung für das mittlere, symmetrisch gestaltete Abbild, welches aus der Vogelperspektive aufgenommen wurde: Hannah Wilke liegt flach auf dem Rücken in einer weißen, mit ein wenig Wasser und Schaum gefüllten Badewanne. Ihre Augen sind geschlossen, das Wasser aus dem Hahn plätschert auf ihr Gesicht, ihre Hände sind flach auf dem geblähten Bauch positioniert. Ein paar verbleibende Strähnen ihres nun sehr dünnen Haares schwimmen waagerecht von ihrem Kopf abstehend im Wasser. Was jedoch das verstörendste Element dieser Fotografie ist, sind Wilkes angewinkelte, weit gespreizte Beine, die den Blick auf ihre spärlich behaarte Vagina freigeben. »The Courbet who painted the spread legs and foreshortened torso that is The Origin of the World (1866) would surely have run screaming; perhaps Lacan (who once owned it) would have fled as well. This is what it comes to, Wilke seems to say. Take a good look.«329 Indem sie die direkte Einsicht auf das Organ der Lust, des Werdens und Gebärens zulässt, die vagina dentata ihrer einst angriffslustigen feministischen Position hervorhebt, widersetzt sie sich dem begehrlichen Blick. Noch in weiteren Foto-Arbeiten aus der Intra-Venus-Serie lässt die Künstlerin keine Fragen und Zweifel über ihren Gesundheitszustand offen. Neben den beiden Triptychen entstehen mehrere Diptychen, in denen Wilke den progressiven Verlauf der Erkrankung in jeweils einem Bild vor und einem nach dem Haarverlust einander gegenüberstellt. Sie präsentiert sich zum Teil nackt, ihre Wunden von Pflastern beklebt, die Schläuche der Infusionen sichtbar und so auch die vom Krebs verursachten Male und Verfärbungen ihrer Haut. Zuweilen schmückt sich Wilke mit Accessoires wie einer Duschhaube, einem Teddybär, einem Blumenarrangement, welches sie in der Pose von Ingres Mädchen aus La Source auf dem Kopf balanciert, und aus zu Kleidungsstücken umfunktionierten Handtüchern. Auf einigen der Bilder mimt sie Posen aus Hannah Wilke Super‐t-Art oder der S.O.S.-Starification Object Series, deren Vaginal-Sculptures aus Kaugummi nun zu tatsächlichen Wundmalen verkommen sind. In beinahe allen Bildern wendet uns die Künstlerin ihren Blick direkt zu, andere Körperöffnungen, wie das Nasenloch, sind dafür mit einem Wattebauschen aus medizinisch nicht ersichtlichen Gründen verschlossen worden. Nur in zweien der Fotografien sind ihre nun wimpernlosen Augen geschlossen: einmal, als Wilke in einem Schrei die Augen zukneift, uns jedoch Einblicke in ihren weit geöffneten Mund gewährt und wir ihrer durch die 329 PRINCENTHAL, S. 113.

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Chemotherapie entzündeten und enthäuteten Zunge gewahr werden; ein andermal, als sie ihr Gesicht einer Madonna gleich von einer hellblauen Decke wie mit einem Mantel umgibt. Hier ist es ein entspannter, beinahe lieblicher Gesichtsausdruck, der uns in der Andeutung eines Lächelns begegnet und an die Bilder einer makellos schönen Hannah Wilke denken lässt. Dennoch zeugen all diese Aufnahmen von einer schmerzlichen Hilflosigkeit. Die medizinischen Bemühungen, welche schon im Falle ihrer Mutter nichts auszurichten vermochten, wiederholen sich ein weiteres Mal am Körper der Künstlerin. Dieser zeigt sich bereits zu Lebzeiten von einer lebensverlängernden medizinischen Strategie geschändet, vom Zubehör des Krankenhauses und dem ihr dort verliehenen Namensschildchen am Handgelenk gegängelt. Sie ist von Wunden übersät, die jenseits der eigentlichen Erkrankung auftreten und für zusätzliche Qual sorgen. Und trotzdem wirft sie sich weiter in Pose: »Wilke provides erotic security in INTRA-VENUS by confronting and embracing flesh that has moved in an aging illness. She is a damaged Venus as in S.O.S., this time damaged by cancer and its therapies.«330 Der »save our souls«-Ausruf des Titels aus der gleichnamigen Serie ihrer auf eine erotische Weise und durch lasziv platzierte Kaugummi-Vaginen demonstrierte Weiblichkeit, endet in einer intravenösen Zufuhr vermeintlich lebensrettender Substanzen, welche sich intra, also in das einstige Venus-Modell ergießen. Auch dies eine Äußerung voll von sexuellen Konnotationen. Brutalität und Schönheit und damit der schonungslose Umgang mit dem Betrachter liegen hier nahe beieinander, denn – wie Joanna Frueh nüchtern, aber zutreffend feststellt: »The erotic is not necessarily pretty.«331 Susan Sontag verweist in diesem Kontext nochmals auf Thomas Manns »Zauberberg«, der die Tuberkulose nicht ohne Kalkül als eine erotisierende Erkrankung schildert: »Having TB was imagined to be an aphrodisiac, and to confer extraordinary powers of seduction. Cancer is considered to be de‐sexualizing.«332 Wilkes Versuch, dem Krebs ein letztes erotisierendes Merkmal abzugewinnen, ist also zum Scheitern verurteilt. Der bei Thomas Mann idealisierte »Look« der verletzlichen, melancholisch anmutenden, sensiblen und gerade deshalb kreativen Frau, forciert ihr Image des »being apart«333 . Dem gegenüber steht der monströse, weibliche Körper, dessen Autorin Wilke nicht davor zurückscheut, die ihn stigmatisierenden Erkennungszeichen zum Ausdruck zu bringen und sich damit von einer Norm abzusondern, »that […] constructs her as ›other‹.«334 Wie weiter oben festgestellt, ist diese Monstrosität des Körpers zwar jedem zu eigen – wir altern, erkranken, unser Körper tätigt seine abjekten Auswürfe –, jedoch sind wir üblicherweise nicht dazu geneigt, Ausblicke auf, geschweige denn Einblicke in diesen zu gewähren. Winfried Menninghaus betont in diesem Zusammenhang nochmals das aus der Klassik überlieferte Ideal, mit dem auch in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht gebrochen werden sollte: »Untilgbar bleiben jedoch auch am schönen Hohlkörper jene Zonen, die an der Körperoberfläche ins Körperinnere und aus ihm heraus führen: 330 FRUEH, S. 150. 331 FRUEH, S. 151. 332 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 13. 333 SONTAG, Illness as Metaphor, S. 33. 334 MacLELLAN, Art., 2012, auf: http://blog.forestiere.ca/2012/10/not‐so-pretty‐pink.html [zuletzt aufgerufen am 04. Dezember 2016].

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die Körperöffnungen. Sie sind das eigentliche Skandalon der klassischen Ästhetik und Politik des Körpers. Sie sind zugleich das Signifikat des Ekels und bedürfen daher einer elaborierten Reglementierung. Was die Autoren335 über Mund, Nase, Ohren und Brustwarzen zu sagen haben, erweist sich als dieser schwierigen Aufgabe gewachsen. Vor den unteren Körperöffnungen jedoch wird die Theorie selber ›eckel‹ (im Sinne von heikel) und beläßt es bei wenigen Andeutungen.«336 Hannah Wilke belässt es weder bei Andeutungen, noch bei den Öffnungen der oberen Körperhälfte. Die durch die Eingriffe künstlich verursachten Male verketten sich thematisch mit ihren bereits vorhandenen und nun ebenfalls wunden Körperöffnungen: die wimpernlosen Augen in ihren dunkel gefärbten Höhlen, die emporgereckte, ehemals operativ verschönerte Nase337 , deren Löcher einmal tief blicken lassen, ein andermal mit von Sekret gefärbten Wattebäuschen verschlossen sind, die gerötete Rachenhöhle und die schmerzlich gehäutete Zunge darin, die lang gezogene Narbe an ihrem Hals, die Öffnungen für die Kanülen auf ihrer Brust und an den Händen, die Schnitte und Kerben am gesamten Körper. Um ein Vielfaches provozierender wiegt allerdings die beinahe bedenkenlos anmutende und doch so bewusst in Szene gesetzte Entblößung ihres weiblichen Geschlechtsteils, welches – hat man in der Erwähnung und Darstellung der femininen oder maskulinen Fortpflanzungsorgane die Wahl – gemeinhin als das abstoßendere unter den Geschlechtsteilen gilt: »Cunts are ugly to many because they are seen with the eyes and minds, as offensive. Cunts are unclean, smelly, shiny, and hairy. ›Disgusting‹ fluids – urine, blood, and sexual secretions – stream, leak, and ooze from the female genital area and sweat within it. Cunts are the sign, the mark of women. […] A male‐dominant culture has made the vagina unseen, invisible, unsightly. Western art has mostly denied and obscured women’s genitals. In Classical sculpture, the penis and testicles on a male nude are perfectly apparent, but the female nude has no pubic hair or labia. From the Renaissance on, well into the nineteenth century, when realist trends began to see the truth – but not the symbolic power of the vulva, it was hidden in the shadow or literally veiled. Art, which has exhibited male genitals, has sought to prove that women have nothing. To many feminists, Freud created a model of masculine sexuality that has castrated the twentieth‐century woman. The penis is being, the vagina nothingness.«338 Freuds hieraus resultierende Theorie des neidhaften Verhaltens der Frau gegenüber eines nicht vorhandenen Geschlechtsteiles, an dessen Stelle sich gar eine Negativform auftut, ein Loch, kulminiert in seiner als Medusenhaupt und damit als Gefahr gedeuteten Bedrohung durch die Vagina, was sich bekanntermaßen ORLAN in ihrer Performance Étude Docmentaire: La Tête de la Meduse/Documentary Study: The Head of Medusa (1978), in der sie ihre blutende Vagina zur Schau stellt, zunutze macht: »At the sight of the vulva even the devil runs away.«339 Wird die einzig denkbare Darstellung der Vulva in der Kunst von 335 Menninghaus nimmt – wie diese Schrift – Bezug auf Lessing, Winckelmann, Rabelais, Bachtin, Kant, Plato, Diderot und Herder. 336 MENNINGHAUS, S. 86. 337 Wilke hatte sich 1960 ihre »jüdische« Nase verkleinern lassen; vgl.: PRINCENTHAL, S. 99. 338 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 47-48. 339 Vgl.: Kapitel III.2 sowie Catherine Petitgas, »Peering through Les draps du Trousseau«, in: DONGER, S. 49-60, hier S. 52-53.

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Hannah Wilke dann noch aus dem Zusammenhang einer – wenn auch derben – Fruchtbarkeitsgestik gerissen, wie sie etwa von Baubo unter ihresgleichen vorgenommen und später in dieser Form in Marina Abramović‘ Videoarbeit Balkan Erotic Epic aus dem Jahr 2005 erneut aufgegriffen wird, und stattdessen in den Kontext der »schwangeren Alten«340 gestellt, sind diesem Zeigegestus definitiv bis heute geltende Grenzen des Geschmacks auferlegt: »Gegenüber Demeter bzw. im Kreise Gleiches tuender Frauen hatte Baubos Brauch Funktionen der Selbstbekräftigung und Erheiterung. Männer dagegen haben diesen Typ weiblicher Selbstentblößung regelmäßig als abstoßend bis ekelhaft klassifiziert und damit auf die latente Kastrationsdrohung reagiert, die von der aggressiven Ausstellung weiblicher Sexualität ausgeht.«341 Der Verweis auf den eigenen, nackten, zu Beginn ihres Werkes idealtypischen wie aufreizenden Körper, wiederholt sich in den freizügigen, sich selbst entblößenden und den Betrachter fordernden exhibitionistischen Gesten der Intra-Venus-Series. Sie umfassen das eben von Winfried Menninghaus Geschilderte in einem weitaus offensiveren Maße, welches sich unseren Erwartungen widersetzt, der Künstlerin einmal der Selbstbekräftigung und Selbsterhaltung dienen und dabei Elemente der Erniedrigung, der Selbstironie und der grotesken Erheiterung in sich tragen. Die Intra-Venus-Serie ist intravenös. Sie geht unter die Haut, dem Betrachter wie der einstigen Venus-Darstellerin Hannah Wilke. In ihren Bildern zeigt sie sich ganz in der Manier der in den Fotografien der Medizinbücher eines Duchenne de Boulogne vorkommenden und als klinisch Kranke identifizierten Frauen des 19. Jahrhunderts, deren erotisches Potenzial nach wie vor ersichtlich ist.342 Die Künstlerin verkommt dabei aber weder zu einem »medicalized/objectified body«, noch zu einem »sexualized/objectified woman’s body«343 . Sie behält die darstellerischen Zügel in der Hand, zeigt sich aktiv, obgleich sie wissentlich nicht als Siegerin aus diesem Kampf hervorgehen würde. Sie bietet sich in ihrer Krankheit nach wie vor als koketter Flirt an, trotz der degradierenden Leiden und entwürdigenden körperlichen Gebrechen, welche daraus resultieren. Ebenso wenig wie ORLAN lässt es Hannah Wilke zu, dass ihr Körper und Geist zu demjenigen einer lediglich pathologisch Erkrankten gemacht werden. Ihre Arbeiten formulieren das Begreifen um diese Positionen, indem sie einmal das Abbild ihrer sterbenden Mutter festhält, ein andermal ihre eigene Erkrankung performt. In beiden Fällen handelt es sich um einen heilenden und auch spirituellen Prozess, der Wilke selbst dient und weit entfernt von einem mitleiderregenden Aufruf agiert.344 »As in all the ›Intra-Venus‹ works, Wilke’s refusal to seduce by inviting pity – or, more challenging still, her denial of more empathic response – retroactively reconfigures the previous work. Even when her eyes are closed, her complicity with the camera is still lively. The jokes she once shared with it – the raised eyebrow, the heels, the strutting and slinking – are now a form of gallows humor. But the laughter is real, 340 Vgl.: BACHTIN, S. 76, sowie Kapitel II.3.2. 341 MENNINGHAUS, S. 271. 342 Vgl. hierzu Kapitel III.2 sowie AUGSBURG, S. 74-76, S. 77, S. 79-80. 343 JONES, S. 187. 344 Hannah Wilke hierzu in Konversation mit Joanna Frueh: »My body has gotten old, up to 188 pounds, prednisone‐swelled, striations, dark lines, marks from bone‐marrow harvesting. […] focusing on the self gives me the fighting spirit that I need. My art is about loving myself.«, in: FRUEH, S. 150.

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the hope is not gone. She intended to title the exhibition of the ›Intra-Venus‹ works ›Cure‹.«345 Die Highheels tauscht Wilke für den Intra-Venus-Zyklus gegen Frotteeschlappen ein. Das Ablegen dieser Highheels hat sie in den Augen der Kunstkritik rehabilitiert. Indem sich der einst schöne Körper in einen offensichtlich abjekten verwandelt hat, indem sie nach dem idealtypischen Bild der Frau die unattraktive, dem Tode geweihte vetula mimt, hat sie der kunsthistorische Kanon in seine Reihen aufgenommen.346 Dies zeigt einmal mehr, dass die von der Künstlerin begangenen Tabubrüche im Rahmen ihrer Bloßstellung gleichermaßen auf eine Abwehrreaktion des Betrachters stoßen, ein immer noch vorhandenes Klischee bestätigen und dennoch dazu geeignet sind, unseren Blick einzufordern und dem, was wir sehen, Respekt zu zollen. Sie führt uns Tabus vor Augen, die Joanna Frueh so formuliert: »A woman is ›unfeminine‹, wrong, when she is not beautiful, yet if she is beautiful, she is still wrong. Wilke employs the peculiar inappropriateness of beauty in order to confront its own wrongness.«347 Hannah Wilkes Arbeiten demonstrieren den Mehrwert des Lebens, wie er insbesondere durch den Alterungsprozess und die Erkrankung zu unserer Erkenntnis gelangt. Leider entwickelt der Mensch oft erst dann ein Bewusstsein für diesen Mehrwert und die Kostbarkeit des Lebens, wenn er selbst einen alternden und/oder kranken Körper entwickelt, aber eben auch, sobald er auf diesen außerhalb eines egozentrierten Zusammenhanges stößt, wenn es einen spezifischen Anderen betrifft, zum Beispiel also angesichts des Werkes von Hannah Wilke. »[W]e feel our bodies only once we become ill. Our teeth, our skin, our viscera are always and constantly subconsciously felt, yet they become part of our consciousness only when they are ›diseased‹ and pain us. It is in the world of the imaginary that these qualities reappear and these are the qualities that are repressed in the act of seeing images.«348 Den Bildern, deren Macht wir gerne unterschätzen, ist sicherlich nicht das Potential gegeben, dem fortschreitenden Verfall des Lebens Einhalt zu gebieten. So muss auch Damien Hirst die Vergeblichkeit seiner aus dem medizinischen Kontext gereichten Arbeiten anerkennen: »You can only cure people for so long and then they’re going to die anyway. You can’t arrest decay, but [my] medicine cabinets suggest you can.«349 Den Bildern Wilkes wohnt zumindest die Kraft inne, uns an die eigene Sterblichkeit zu erinnern, die eben nicht nur die Anderen betrifft. Damit mahnt sie an den von Iwan Iljitsch falsch zu Ende gedachten Syllogismus, der immer auch reziprok funktioniert, denn: wenn Kain starb und ein Mensch war, 345 PRINCENTHAL, S. 112. 346 Vgl. u.a.: JONES, S. 185-186, sowie Tracy Fitzpatrick, in: NEW YORK, Ausst.kat., Wilke, 2009, S. 8-71, hier S. 32 und S. 56-61. 347 Joanna Frueh, in: ST. LOUIS, MISSOURI, Ausst.kat., Wilke, 1989, S. 11-103, hier S. 52. 348 GILMAN, S. 178. 349 Damien Hirst spricht hier von seinen mit fiktiven Medikamentenverpackungen gefüllten Medizinschränkchen. Damien Hirst, zitiert nach: Susanne Witzgall, »Cyborgs and Corps étranger«, in: AHLEN (Ausst.kat.), Kunstmuseum Ahlen und Museum im Kulturspeicher Würzburg, Diagnose [Kunst]. Die Medizin im Spiegel der zeitgenössischen Kunst/Diagnosis [Art]. Contemporary Art Reflecting Medicine, 22. Oktober 2006 – 14. Januar 2007 (Ahlen) und 17. Mai – 22. Juni 2007 (Würzburg), hg.v. Burkhard Leismann und Ralf Scherer, Texte von: Erich Franz, Anna Lammers, Ralf Scherer und Susanne Witzgall, Köln 2006, S. 121-145, hier S. 145, Fußnote 26.

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dann sterben auch wir, obwohl wir nicht Kain sind.350 Das ist es, was das eigentliche Mensch-Sein ausmacht: das psychische Leid, das die Erkenntnis unserer Endlichkeit mit sich führt, und das physische Leid, welches uns der Körper in diesem Zusammenhang beschert. Wer Schmerzen erleidet, der ist ein Mensch: »Und wenn unsterbliche Menschen auch nicht leiden oder ein basales Element des Leidens nicht empfinden können, wird es ihr Empfinden dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, von Grund auf verändern, denn der bloße Fakt, dass wir nur eine kurze Zeit zu leben haben, formt unser grundlegendes Gefühl dessen, was menschlich ist.«351 Das Leiden der alternden und todkranken Wilke, die Schmerzen des Körper-Habens und Leib-Seins, etwas, das laut Elaine Scarry nicht vermittelbar ist352 , überliefert sich in den Bildern der Künstlerin. Es sind Bilder, die an die Grenzen dessen gehen, was über den Schmerz anschaulich gemacht werden kann, und was unser mitleidender Affekt zu ertragen vermag.

III.4 Gregor Schneider – Der pathologisierte Tod Wie aber noch einen weiteren Schritt wagen? Wie The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living anschaulich machen? Wie unser Bewusstsein dafür schärfen, dass die gegenwärtig so undenkbar anmutende Möglichkeit unseres Todes nicht nur wahrscheinlich, sondern eines kommenden Tages krude Gewissheit sein wird? »[T]he impossibility of death for the ego confirms that the experience of finitude is one of radical passivity. That the ›I‹ cannot experience its ›own‹ death means, firstly, that death is an immanence without horizon, and secondly, that time is that which exceeds my death, that time is the generation which precedes and follows me. … Death is not a limit or horizon which, re‐cognized, allows the ego to assume the ›there‹ […]; it is something that never arrives in the ego’s time, a ›not‐yet‹ which confirms the priority of time over the go, marking, accordingly, the precedence of the other over the ego.«353 Cary Wolfe wirft hier Licht auf den allein linear gedachten Lebensverlauf, wie er für das Individuum von Relevanz ist. Dass diese Linie nach unserem Ende weiter ihren Verlauf nimmt, erscheint uns logisch und unabwendbar – unser Tod, der dieselben Adjektive zu tragen verdiente, widerspricht aber nach wie vor unserer Vorstellung vom Jetzt, denn »the ego cannot experience its own death, the recognition of the limit of death is always through another and is, therefore, at the same time the recognition of the other. And since the same is true of the other in relation to its own death, what this means is that death – as an absolute horizon that nevertheless never appears as such, for me – ›impossibilizes existence‹, and does so both for me and for the other, since death is no more ›for‹ the other than it is for me. But it is, paradoxically, in just this impossibility that the possibility of justice resides, the (as it were) permanent call of the other in the 350 Im Original bei TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch, S. 66, wie folgt: »Kain ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, folglich ist auch Kain sterblich.« 351 Aaron Ben-Ze’ev, »Liebe in Zeiten der Langlebigkeit«, im Gespräch mit dem Philosophen Aaron BenZe’ev, Haifa, 23. August 2009, in: HÜLSWITT, S. 226-242, hier S. 240. 352 Vgl.: SCARRY, S. 12. 353 Cary Wolfe, »Bioethics and the Posthumanist Imperative«, in: KAC, S. 95-114, hier S. 107.

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face of which the subject always arrives ›too late‹.«354 Der Tod der Anderen und unserer fällt somit am Ende in‐eins. Aus dieser Sicht weist das Leben wieder die tabuisierte, da gewaltsame Chronologie einer irreversiblen und damit linearen Zeitmessung auf, die – wie von Bataille verfochten – von der Sexualität bis zum Tode reicht. Unserem Leben sind damit, so der Philosoph, ein Anfang und ein Ende gesetzt: »Die Erotik öffnet für den Tod. Der Tod öffnet für die Negation der individuellen Fortdauer.«355 Und so wenig wir eine Auffassung davon haben können, was vor dem Beginn unseres individuellen Daseins war, können wir uns noch weniger einen Begriff davon machen, was uns mit und nach unserem Ableben erwartet. Wir scheitern zwangsläufig im doppelten Sinne an einer faktisch bezeugten Darstellung und einer daraus resultierenden Vermittlung dessen, was der Tod ist und wie er sich anfühlt. Dieser ist ein unikal und individuell erlebbarer Vorgang, der, sobald er stattgefunden hat, nicht revidiert und damit niemals aus Sicht des Betroffenen geschildert werden kann. Die bildenden Künste wagen dennoch seit jeher den Versuch, das Wissen um den Tod in ein Bewusstsein für diesen münden zu lassen. Das zeitgenössische Schaffen des deutschen Konzeptkünstlers Gregor Schneider etwa zeigt, wie diese Probebohrungen zur Erforschung und dem Begreifen des Todes aussehen können: es sind Probebohrungen, die in einer quälenden Selbstbefragung des Künstlers ihren Ausgangspunkt nehmen und die in tatsächlichen Bohrungen, Kratern und der Verengung von Räumen – zunächst des einstigen Wohnhauses der Familie Schneider, danach auch anderer Örtlichkeiten – faktisch umgesetzt werden. Die aus diesen Abgründen geschöpften Proben stellt uns der Künstler in Form von neu gestalteten oder unmerklich veränderten Räumlichkeiten und ganzen Häusern zur Begutachtung und Begehung zur Verfügung. Dort beginnen wir, in unserem eigenen Selbst aufwühlend tätig zu werden. Diese Auseinandersetzung, die ihren Anfang in einer Selbst-Schau des Künstlers hat, legt sich vor Ort wie eine Hülle um den Betrachter, er wird darin verwickelt und gefangen genommen und er erkennt, dass es aus diesem baulichen wie gedanklichen Konstrukt auch im wirklichen Leben kein Entrinnen geben kann. Gregor Schneiders Räume vermitteln das Unfassbare, liefern glaubhafte Analysen zur Vertiefung einer Todesahnung, deren Nähe in unser Bewusstsein vordringt und uns begreifen und gegebenenfalls sogar akzeptieren lässt, dass das vormals Unbegreifliche dennoch stattfinden wird. Obwohl Schneider in den wenigsten Fällen den Tod an sich zeigt, begegnen uns angesichts dieser Räumlichkeiten die eigenen Bilder und Vorstellungen vom Sterben, dem Tod und dem, was danach sein wird. Sie vereinen ehemalige Erinnerungsbilder und vorausschauende Schattenrisse des Zukünftigen, sinnbildliche Szenarien unser aller Furcht und des Unheimlichen, deren Merkmale mit denjenigen übereinstimmen, die Edmund Burke in der Schilderung des Erhabenen anführt: vast in their dimensions, rugged, and negligent, mak[ing] a strong deviation, dark and gloomy, solid, and even massive.356 Aus philosophischer und auch moraltheologischer Sicht darf jedoch nicht vergessen werden, »dass das Sterben […] nicht das eigentliche Ziel und der letzte Horizont 354 Cary Wolfe, in: KAC, S. 95-114, hier S. 107 [kursive Hervorhebungen durch Cary Wolfe]. 355 BATAILLE, Die Erotik, S. 27. 356 Vgl.: BURKE, S. 127-128.

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des Lebens [ist].«357 Vielmehr geht ja dem Tod ein Leben voraus, welches es ohne den ständigen Gedanken an Alterung, Krankheit und Tod so zu gestalten gilt, dass es auch im Moment des Todes Halt geben und von Bestand sein kann. Sich gegen ein derartiges Leben zu wenden, indem man immerfort der Präsenz des Todes gewahr ist, wäre unverantwortlich und zu einem lebensmüden Dasein verdammt. Sich aber umgekehrt eben dieser zeitlichen wie inhaltlichen Zusammenhänge von Leben und Tod gelegentlich zu versichern, sich der Verletzbarkeit des Seins bewusst zu werden, sich der Grenze des Lebens gedanklich zu nähern, kann auch die Grenze des Todes respektieren und damit die Würde des Menschen verstehen helfen. Aus genau diesem Grund führt Gregor Schneider den Betrachter so nahe wie nur irgend möglich an diese tabubesetzte Grenze heran.

Vom Tod, den Toten und warum wir den Tod brauchen Um Missverständnissen vorzubeugen, die Gregor Schneiders Auseinandersetzung mit dem Sterben, dem Tod und dem, was danach folgt, oftmals hervorrufen, ist es unabdingbar, dem fraglichen Werkkomplex die aus den Kapiteln zum strategischen Tabubruch gewonnenen Erkenntnissen zugrunde zu legen. Grob skizziert muss man von einem natürlichen, gar heiter zu nennenden Umgang mit dem Tod, wie er im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit gelebt wurde, ausgehen, welcher sich im Verlauf der letzten fünf Jahrhunderte hin zu einem als pathologisch empfundenen, heimlich begangenen Sterbeprozess gewandelt hat. An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass Schneiders Umgang mit dem Sterben und das von ihm vorgeführte Verhältnis zum Tod deutliche Anzeichen dieser vergangenen Epoche aufweist, die dem Tod etwas Feierliches, Notwendiges und Öffentliches abgewinnen konnte und wollte. Damit argumentiert der Künstler keinesfalls rückschrittlich im Sinne einer Hinwendung zu den unaufgeklärten Facetten eines ausweglos dunkel geglaubten und bigotten Mittelalters, sondern pocht vielmehr auf eine Revitalisierung der Bewusstwerdung von Leben und Tod, von Würde und Trauer und eines verständigen Miteinanders im Falle unseres Ablebens. Den Todkranken und dessen Zustand als pathologisch und behandelbar darzustellen, den Tod nicht wahr haben zu wollen, zu verheimlichen und damit entweder einer Vermeidungsstrategie aufzusitzen oder aber diesen wichtigen Endpunkt des Lebens unangemessen zu verkürzen oder zu unterbinden, ist nicht Anliegen des Künstlers. Damit zeigt sich Gregor Schneider zuallererst der ikonographischen Tradition makabrer Darstellungen des Todes verbunden, wie sie von Philippe Ariès in seiner großen Forschungsarbeit zum Tod aufgezeichnet werden. Während nämlich noch vor dem 14. Jahrhundert der Tote als ein zu Staub und Asche verdammter Körper in den Bildwerken präsent ist, und nur dessen Seele – wenn auch in leiblicher Ausprägung – für ein Auffahren in das Himmelreich auserkoren war, wandelt sich die detailgenaue Sicht auf den Tod für die Dauer der kommenden zwei Jahrhunderte. Ab dem 15. Jahrhundert will man den tatsächlichen Akt des Sterbens sowie die daran sich anschließenden, körperlichen Prozesse miteinbeziehen: der geschundene Leichnam Christi hängt am Kreuz, in seinen 357 Eberhard Schockenhoff, in: BLUM, S. 69-85, hier S. 80.

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Wundmalen wird gestochert, die gequälten Leiber der Märtyrer werden aufgeschlitzt, verbrannt und zerteilt, es wimmelt von Gewürm, der Verwesungsgeruch sogar eines Lazarus wird bildhaft und die toten Körper beginnen ihren makabren Tanz als mehr oder minder fleischbehaftete Skelette.358 Geschuldet ist diese Freizügigkeit einmal der grotesken Lust, das Unterste zuoberst zu kehren, und ein andermal der bedeutungsvollen Nebenwirkung dieser Bilder, die artes moriendi unterstützen zu können. Die Kunst des Sterbens in Schrift und Bild, auf die zeitgleich vermehrt Wert gelegt wurde, fordert den makabren – im Sinne eines realistischen –Umgang mit dem Sterben, der mit der Krankheit und dem Tod beginnt und erst mit dem Gerippe zu einem Ende findet: »Dem neuen, von den artes moriendi geprägten Bild des pathetischen und individuellen Todes des je einzelnen Gerichts sollte eine neue Gestalt des verwesenden Leichnams entsprechen.«359 Mit der Individualisierung des Menschen wird es gleichfalls notwendig, einen achtsamen und tröstlichen Umgang mit dem Tod eines jeden Einzelnen zu suchen. Dieser geschieht in der unverhohlenen Anerkennung des Todes als seelisch wie leiblich schmerzhafter Fakt. So entstehen eben beschriebene Bildwerke, »die an das Sterben erinnern und die zugleich einen sinnvollen Umgang mit dem eigenen Tod anmahnen: Achtsamkeit, Bereitschaft zu Umkehr und entschiedene Suche nach Sinn und Trost.«360 Den Tod zu leugnen, würde daher bedeuten, den Sterbenden und hernach Toten nicht ernst zu nehmen, ihm nicht genug Respekt zu zollen und dem Ereignis seine Würde zu nehmen. Das damals so hilfreiche Bildrepertoire hat heute seinen heilsversprechenden Charakter eingebüßt. Schon seit dem 17. Jahrhundert bahnt sich la morte secca an: der Tod ist ein Gerippe. Was vormals fleischbehaftet war, geht jäh über in das glatte, elfenbeingleiche Gebein der Verstorbenen. Diese nahtlose Verwandlung eines Menschen von einem einst repräsentablen, bekleideten und gesunden Körper hin zu einem saftlosen, wenn auch gereinigten Endstadium, verneint das Leid des Sterbenden, dessen Pein im Vergehen, seinen letzten Atemzug wie auch den Prozess der Verwesung und Zersetzung alles Fleischlichen wie Sinnlichen. Obwohl la morte secca nicht dem wirklichen Leben entnommen ist, wird er bis heute bevorzugt und von allen an diesem Prozess Beteiligten angestrebt. Gepflegt wird deshalb auch heute noch der heimliche Tod in entsprechenden, dafür geeigneten Institutionen. Gestorben wird damit ein einsamer Tod. Hinzu kommt – wie weiter oben geschildert – die immer mehr vorangetriebene Effizienz des medizinischen Unterfangens, den Menschen – egal unter welchen Umständen – so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Dank wissenschaftlicher Forschungen können wir nun länger über den Tod triumphieren, das Sterben hinauszögern, begrüßenswerterweise auch den Schmerz lindern. Die Grenzen zwischen dem noch Lebenden und dem bereits Toten beginnen dabei zu verschwimmen, denn auch die Definitionen von lebendig und tot haben sich verändert: lebendig ist heute nicht mehr zwangsläufig der am Leben 358 Vgl.: ARIÈS, S. 141 und S. 143, vgl. auch die Kapitel II.3.1 und III.2. 359 ARIÈS, S. 143. Für diesen gesteigerten Blick auf den Leichnam, zeichnen auch die aufkeimende Gerichtsmedizin und die ab 1500 erscheinenden pathologischen Schriften samt entsprechendem Bildwerk verantwortlich, vgl.: ARIÈS, S. 451. 360 MENNEKES, Friedhelm, Gregor Schneider: Tief hinein – bis ins letzte Dunkel. Gregor Schneiders Toter Raum Rom 2010, 2010, auf: www.artandreligion.de/index.php?idcatside=55 [zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2016], n.p.

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teilhabende Mensch, sondern auch derjenige, der noch atmet, dessen Hirnregionen noch Impulse geben. Und umgekehrt wird man nicht für tot erklärt, solange man noch Reflexe zeigt, die zerebralen Funktionen noch tätig sind, obwohl man schon lange nicht mehr in der Lage ist, selbst zu atmen, eine bewusste Reaktion zu tätigen, geschweige denn, einen Gedanken zu fassen. Günter Kirste, der Leiter der Sektion Transplantationsmedizin an der Chirurgischen Universitätsklinik Freiburg, liefert die folgende Definition zum Tod eines Menschen: »Ein Mensch ist dann tot, wenn der Hirntod nachgewiesen ist – durch Reflexionsuntersuchungen, Hirnstromableitungen, Echountersuchungen oder einer Gefäßdarstellung. Der Hirntod ist dadurch eindeutig definiert, dass es zu einem kompletten Kreislaufstillstand innerhalb des Gehirns kommt. Die Hirnzellen können maximal drei Minuten ohne Blutzufuhr überleben.«361 Die Hinterbliebenen müssen diesen Moment abpassen, um Abschied nehmen zu können. Dieser Tod ist ein heimlicher. Und er kann damit nur auf einen Augenblick – denjenigen Zeitpunkt des Urteils der Wissenschaften – reduziert werden. Der Tod zeigt sich damit als ein wider die Natur, indem er vor seinem Eintritt ausschließlich bekämpft und nach dem Eintreten sogleich beseitigt wird. Es tritt notwendigerweise eine Überdistanzierung ein, die von den Sozialwissenschaften wie folgt definiert wird: »Die bei weitem häufigste Situation im modernen Ritual ist nicht die Unterdistanzierung, die Wiederkehr unerträglicher Gefühle, sondern Überdistanzierung, die Abwesenheit jeglichen Gefühls.«362 Ungeachtet der nach wie vor vorhandenen Trauersituation der Hinterbliebenen, muss für den zeitgenössischen Umgang mit dem Tod und den Toten festgehalten werden, dass – indem beides Tabus bricht – er der Natur des Tabus gemäß gemieden wird. Sofern möglich, werden alle irritierenden Merkmale und Begleitumstände des Todes nach seinem Eintreten beseitigt: Transport, Leichenwäsche, die Vorbereitungen für das Begräbnis – alle mit dem Leichnam erforderlichen Tätigkeiten werden von nun an in die Hände der jeweiligen Profession gegeben. Nicht genug der entkörperlichten Entledigung des Toten, trägt man auch Sorge für dessen unmittelbares und nachhaltiges Verschwinden: neben der Einäscherung besteht mittlerweile die Möglichkeit, den Toten ökologisch wertvoll entschwinden zu lassen. So berichtet Gregor Schneider über die Praxis zeitgemäßer Bestattungswege: »Das Neueste ist die umweltschonende Bestattung, die sogenannte Promession. Dabei wird der Leichnam mit flüssigem Stickstoff tiefgekühlt. Nach dem Flüssigkeitsentzug wiegt der Körper nur noch 30 Prozent seines ursprünglichen Gewichts. Im kompostierbaren, fünfzig Zentimeter unter der Erde bestatteten Sarg wird alles innerhalb von sechs bis zwölf Monaten zu Humus umgewandelt.«363 Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass die Kryonik ähnlich verfährt, indem sie nach dem Flüssigkeitsentzug den vom Leben Suspendierten in Tanks für ein kommendes Leben aufbewahrt. Die einen streben so einer Zukunft entgegen, in der der Tod nicht mehr sein wird, die anderen in ihren Särgen 361 Interview von Thomas Nesser, »Wann ist ein Mensch tot: Wenn das Gehirn ausfällt?«, Freiburger Wissenschaftler diskutieren über das Hirntodkriterium und die Transplantationsmedizin, in: BLUM, S. 65-68, hier S. 66. 362 SCHEFF, S. 114. 363 Gregor Schneider, in: JOCKS, Heinz-Norbert, »Das Sterben als Kunstwerk? Ein Gespräch mit Gregor Schneider von Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, 192 (2008), S. 239-245, hier S. 242.

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entschwinden in einem beschleunigten Prozess des Vergessens: »Da unsere gegenwärtige Gesellschaft kaum über Riten verfügt, einen symbolischen Austausch zwischen den Lebenden und den Toten zu etablieren, wird der Verstorbene bald vergessen. Die Trennung zwischen Toten und Lebenden ist endgültig. Einzig das Leben und die Lebenden zählen. Die Toten haben keinen Ort, keine Zeit, kein Weiterwirken. Wegen des fast vollständigen Ausschlusses des Todes und der Toten fürchten die Lebenden den Toten mehr als je zuvor. Leben wird als Über‐leben begriffen. Dementsprechend wird der Sterbende entwertet.«364 Dieser heimliche Tod führt allerdings nicht nur zu einem Vergessen der Verstorbenen, sondern gleichzeitig zu einer Abstumpfung der Gefühle gegenüber dem Verlust menschlichen Lebens und damit zu einer Verarmung der Persönlichkeit der noch Lebenden.365 Beides zehrt an der Würde des Todes. Philippe Ariès mahnt deshalb wie folgt: »Diese Würde erfordert zunächst einmal, dass [der Tod] anerkannt wird, und zwar nicht nur als wirklicher Zustand, sondern als entscheidendes Ereignis, das nicht in aller Heimlichkeit beiseitegeschoben werden darf.«366 Dies ist auch Anliegen Gregor Schneiders, wenn er den intimen Vorgang des Sterbens, wie er heute ausgetragen wird, kritisiert: »Etwa 50 Prozent aller Menschen sterben öffentlich, umgeben von Fremden in Krankenhäusern, ohne die Umgebung selber bestimmen zu können. Das ist der eigentliche Skandal. […] Dass Menschen würdig leben und sterben können, ist mein Wunsch. Da kann ein Kunstraum die häusliche Umgebung ersetzen.«367 Um die Würde des Todes wiederherzustellen, bedarf es zweierlei: einmal das von Bachtin aus der Welt Rabelais’ hergeleitete Begreifen des Todes als ein kosmisches Unterfangen, das mit dem Vergehen des Körpers ein gleichzeitiges Werden verbindet – damit wäre dem Sterbenden nicht nur die Würde zurückerkannt, sondern seinem Fortgehen auch etwas Sinnhaftes zuerkannt; und zum Zweiten die Akzeptanz des Todes als körperlich‐materieller Vorgang, der alle ihm gebotenen Elemente des grotesken, formlosen und abstoßenden Körpers mit sich führt, die der heute gefragten Ästhetik zwar widersprechen, aber nicht geleugnet werden können und dürfen – dies würde dazu führen, dass auch den Sterbenden sein Zustand nicht mehr als bloße Last für die Anderen und als eine beschämende Insuffizienz bedrückt, sondern bewusst werden lässt, dass diese Befindlichkeiten allen Kreaturen als etwas Naturgegebenes anhaften.368 Gerade dieser materiell‐leibliche Aspekt ist es aber, der unsere enorme Furcht vor dem Tod rechtfertigt und in uns Grauen erweckt. Und auch wenn es seit Ende des 19. Jahrhunderts nur als recht und billig, da authentisch gilt, sich die Hässlichkeit des Todes in der Literatur und den bildenden Künsten freizügig auszumalen, so reicht man nach wie vor nur an den äußersten Kern dessen, was den körperlichen Zerfall ausmacht. Die Agonie des Todeskampfes, den bereits die Griechen in ehrlichen und damit drastischen Beschreibungen schildern, umschließt nicht allein das Abjekte, den Schmerz und den letzten Atemzug. Hinzu kommt ein körperliches wie seelisches Aufbegehren, ein letztes Aufbäumen, welches sich voller Kraft und Leben zeigt. Den individuellen Todeskampf 364 365 366 367 368

Christoph Wulf, »Körper und Tod«, in: KAMPER, S. 259-273, hier S. 265. Vgl.: SCHEFF, S. 115. ARIÈS, S. 755. Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 242-243. Vgl. nochmals: BACHTIN, S. 77 und S. 80, sowie Randolph Ochsmann, in: BLUM, S. 87-101, hier S. 92.

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setzt Bachtin deshalb wiederum dem zyklischen Gebaren eines totalen Weltenlaufes gleich: »In den Zeichen der Agonie und in der Sprache des sterbenden Körpers wird der Tod zu einem Moment des Lebens, erhält er leiblich‐ausdrucksvolle Realität und spricht in der Sprache des Körpers selbst. Der Tod ist ganz in den Lebenszyklus einbezogen, er ist eines seiner Momente. Das Verbrennen der Körperflüssigkeit, die Konzentration der Wärme an wenigen entscheidenden Punkten, ihr Verdampfen und schließlich das Entweichen der Seele, der Galle und der Feuchtigkeit durch die Haut und die Öffnungen des Kopfes zeigen deutlich die groteske Offenheit des Körpers und die Bewegung des kosmischen Elements in und aus ihm.«369 Vom Aushauchen des Lebens zu lesen und das Austreten des Abjekten aus dem Körper zu sehen, sind jedoch zwei verschiedene Dinge. Die Fotografin Sue Fox verknüpft in ihrer Serie der Vile Bodies beides: Wort und Bild. Die Leichenfotografien zeigen das körperliche Leid noch vor dem Tod, schrecken nicht vor dem Todeskampf zurück, der sich in den Gesichtern und Verkrampfungen widerspiegelt, und enthüllen schonungslos das unbeschönigte Resultat dieser Prozesse. Begleitet wird ihre fotografische Arbeit von einer Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in Gegenwart des Todes in Textform: Mit »Der Augenblick des Todes kommt …« betitelt sie die einzelnen Stadien des Absterbens, die kaum mehr Fragen offenlassen und unmissverständlich klarmachen, dass wir Fleisch sind und nach unserem Ableben wieder der Natur einverleibt werden: Das Herz steht still... Die Haut wird straff und verfärbt sich grau Alle Muskeln entspannen sich Die Blase und der Darm entleeren sich Männer bekommen eine Erektion   Die Haut wird purpurn und wächsern Die Lippen, Finger und Zehennägel werden fahl Oder weiß, weil das Blut daraus verschwindet. Blutergüsse an den untersten Teilen des Körpers Hinterlassen rote Flecken, die man Leichenflecken nennt.   Die Hände und Füße verfärben sich blau, Die Augen versinken im Schädel Die Totenstarre erscheint im Gesicht, an Kiefer und Halsmuskeln, Die dunkelrote Verfärbung der Haut und das Zusammenlaufen des Blutes dauern an. Die Totenstarre ergreift Arme und Leib,

369 BACHTIN, S. 403 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin]. Bachtin legt seinen Ausführungen die »Aphorismen« zur Agonie aus dem Werk des Hippokrates, Band 2, X, S. 54, zugrunde: »Die Grenze des Todes ist erreicht, wenn die Wärme des Lebenshauches wieder über den Nabel an den Ort oberhalb des Zwerchfells zurückkehrt und zugleich alle Feuchtigkeit verkocht ist. Wenn dann die Lunge und das Herz die Feuchtigkeit abstoßen, während die Wärme sich in den Pforten des Todes zusammendrängt, verhaucht auf einmal der Hauch der Wärme, den wir Seele nennen. Indem weiter die Seele teils durch das Fleisch, teils durch die Atmungswege am Kopf das Zelt des Leibes verließ, hat sie das kalte und tote Menschenbild zugleich mit der Galle und dem Blut und dem Schleim und dem Fleisch, woraus das Ganze zum Ganzen gefügt war, preisgegeben.«

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Bis sie die Beine erreicht und im Verlaufe weiterer vierundzwanzig Stunden alle Muskeln versteift. Dann bildet sich die Starre zurück und der Körper Erschlafft für zwölf Stunden. Der Körper hat nun die Temperatur seiner Umwelt. Bei Männern stirbt der Samen. Kopf und Hals haben nun einen grünblauen Teint, Der grünblaue Teint breitet sich auf den Rest des Körpers aus, Von dem ein strenger Geruch von verwesendem Fleisch ausgeht!   Das Gesicht der Person ist kaum noch erkennbar! Die Gase im Körpergewebe bilden große Blasen auf der Haut. Der ganze Körper beginnt anzuschwellen und wird grotesk aufgedunsen. Flüssigkeiten entweichen dem Mund, Nase, Augen, Ohren, After und Harnausgang. Haut, Haare und Nägel sind so locker, dass man sie leicht vom Leichnam abziehen kann. Die Haut bricht und reißt an vielen Stellen wegen des Drucks der inneren Gase und der natürlichen Zersetzung der Haut. Die Zersetzung geht weiter, bis der Körper nur noch aus Knochen besteht!370 Angesichts dieser Ausführungen dürfte greifbar sein, dass nicht nur unsere visuellen Sinne hiervon erreicht werden, sondern diesen Vorgängen auch ein kaum erträglicher olfaktorischer Charakterzug zu eigen ist. Sue Fox fährt also fort: »Im Anblick des Todes kann man körperlich heftig erkranken. Der Tod stinkt nach verrottendem alten Fleisch, üblen Fürzen, schlechten Einläufen, Urin, Kot, Gasen und Abwässern.«371 Der Tod bezeichnet nicht nur die endgültige Grenze eines Lebens, das nicht mehr sein wird und damit seines eigenen Zerfalls nicht mehr gewahr wird, sondern versinnbildlicht vor allem für die noch Lebenden all das, was uns als abjekt, ekelhaft und grässlich erscheint, weil es uns noch bevorsteht und wir so sein werden. Die künftige unkontrollierbare, stinkende Zersetzung unserer Leiber wirkt auf uns wie ein hemmungsloses Durcheinander, ein wucherndes Geschwülst, das weiter anwächst, bis es birst und in seine unvermeidliche lose Form übergeht.372 Deshalb meiden wir den faktischen Tod in Gedanken, Worten und Bildern. Einzigen Trost bietet alles, was den Tod ausschließt: das dem Tod vorausgehende Leben mit all seinen Ablenkungen und der Glaube an einen theologisch oder wissenschaftlich verwirklichbaren Rettungsplan für danach. Ohne Hoffnung auf einen Heilsplan, bedeutet auch für Julia Kristeva der Leichnam die höchstmögliche Form der Abjektion: »The corpse, seen without God and outside of science, is the utmost of abjection. It is death infecting life. Abject. It is something rejected from which one does not part, from which one does not protect oneself as from an object. Imaginary 370 Sue Fox, »Kontemplationen zum Leichnam«, in: MACHO, S. 105-149, hier S. 113-114. 371 Sue Fox, in: MACHO, S. 105-149, hier S. 106. 372 Besonders Aurel Kolnai bemüht hier das Vokabular der Orgie, der Unzucht und des beängstigend enthemmten Wachstums von Geschwüren angesichts des Überganges vom Leben in den Tod; in: KOLNAI, S. 159.

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uncanniness and real threat, it beckons to us and ends up engulfing us. It is thus no lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in‐between, the ambiguous, the composite.«373 Es ist also alleine das Zwischenstadium, die Existenz als Leichnam, was uns vom Mensch-Sein entfremdet. Wir waren dies davor und werden auch danach wieder als solcher erinnert. Für den toten Leib aber gibt es keine Abbitte und keine Daseinsberechtigung – nicht einmal im biblischen Sinne. Sogar der Heiligen Schrift, so Kristeva, gilt der Leichnam als schmutzig und unrein: »A decaying body, lifeless, completely turned into dejection, blurred between the inanimate and the inorganic, a transitional swarming, inseparable lining of a human nature whose life is undistinguishable from the symbolic – the corpse represents fundamental pollution. A body without a soul, a non‐body, disquieting matter, it is to be excluded from God’s territory as it is from his speech. […] it must not be displayed but immediately buried so as not to pollute the divine earth. […] In other words, if the corpse is waste, transitional matter, mixture, it is above all the opposite of the spiritual, of the symbolic, and of divine law.«374 Angesichts dieser entmutigenden Bezeugungen, ist es schwer, die Würde der Toten zu wahren. Und doch gab es – ebenfalls dem Wortlaut der Bibel folgend – einen, dem im heilsgeschichtlichen Sinne daran gelegen war, das Zwischenstadium des Leichnams aufzuheben, obwohl alle den toten Lazarus vom Gestank des Todes umgeben wussten: Jesus ließ diesen dennoch nach vier Tagen aus dessen Grab holen und in das Himmelreich auffahren.375 Dem Leichnam wohnt in allen Denksystemen immerhin ein transitorisches Element inne: vom seelenlosen Körper wird er zu einer beseelten Erinnerung gelangen, sein gottloses Dasein wird erlöst werden, sein dem Spirituellen entgegengesetztes Wesen wird als kosmisches Material wieder eingehen in den Weltenlauf. Auch deshalb gilt weiter das uns quälende Memento moriendum esse! Denn die Tatsache, dass wir sterblich sind, bedeutet lediglich, dass ein nächstes Stadium bevorsteht, da in unserem gedanklichen wie materiellen Kosmos nichts verloren geht. Gregor Schneiders Arbeiten wollen, dass wir diesen Weg zu Ende denken.

Totes Haus, Toter Raum, Sterbezimmer: Der Tod im Werk von Gregor Schneider Das Werk Gregor Schneiders ist ein einziger Denk- und Einfühlungsprozess. Dies liegt zum einen daran, da einige der Werkideen noch ihrer Ausführung harren und dennoch bereits in diesem Stadium eines bislang unverwirklichten Vorhabens weltweit für kritische Aufmerksamkeit und Ablehnung sorgen, und zum anderen daran, weil viele der bereits verwirklichten Arbeiten in ihrem flüchtigen und temporären Charakter nur von vorübergehender Dauer sind. Ähnlich der Body Art und der Performance-Kunst – Kunstformen, denen sich Gregor Schneiders frühe Arbeiten durchaus zuordnen lassen 373 KRISTEVA, S. 4. 374 KRISTEVA, S. 109 [kursive Hervorhebungen durch Julia Kristeva]. Julia Kristeva führt unter anderem folgende Textpassagen aus dem Deuteronomium an: Wenn jemand eine Sünde getan hat, die des Todes würdig ist, und wird getötet, und man hängt ihn an ein Holz, so soll sein Leichnam nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn desselben Tages begraben, denn ein Gehenkter ist verflucht bei Gott, auf daß du dein Land nicht verunreinigst, das dir der HERR, dein Gott, gibt zum Erbe. (5. Buch Mose 21, 22-23) 375 Johannes 11, 38-44.

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–, überdauern viele der Kunstwerke nur mehr anhand von Fotografien, Videos, Aufzeichnungen und Erfahrungsberichten. Allen Arbeiten gemein ist deren anhaltendes und intensives Nachwirken: einmal durchdacht oder in Form seiner gebauten Räume durchwandert, gibt es aus ihnen kein gedankliches Entkommen. Gregor Schneider, der seit Sommer 2016 als Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf lehrt, bietet eine engmaschige Dokumentation all seiner Arbeiten: sowohl Werke, die zum Zeitpunkt nicht ausgestellt werden oder bereits der Vergangenheit angehören und in realitate nicht mehr existent sind, werden durch einschlägiges Videomaterial und die Fotobestände des Künstlers und der Ausstellungsorte greifbar, als auch diejenigen zensierten Vorhaben, welche vorerst ad acta gelegt werden mussten, und solche, die noch ihrer Verwirklichung harren, werden in virtueller Ausführung und in ihrer jeweiligen Planungsphase online vorgestellt.376 Zu letzteren zählt die mit Argwohn beobachtete Arbeit CUBE Venice 2005 für die 51. Biennale in Venedig. Schneiders architektonischer Vorschlag eines riesigen, auf dem Markusplatz positionierten schwarzen Würfels, der auch ob der ihn umgebenden sakralen wie profanen venezianischen Architektur unmissverständliche Ähnlichkeit mit dem islamischen Heiligtum der Kaaba in Mekka aufweisen würde, wurde kurz vor der Eröffnung aus politischen Gründen untersagt. Heute können die Platzierung des schwarzen Kubus auf dem Markusplatz als auch dessen nicht‐realisierte Existenz als CUBE Berlin 2006 vor dem Berliner Staatlichen Museum Hamburger Bahnhof als virtuelle Skulpturen nachvollzogen werden. Realisiert wurde der Bau im Jahr 2007 für die nicht zuallererst an ein religiös‐politisches Motiv erinnernde Ausstellung »Das schwarze Quadrat Hommage an Malewitsch«, wofür der Würfel in seinen immensen Ausmaßen zwischen dem Alt- und dem Neubau der Hamburger Kunsthalle zu stehen kam und so doch noch zu einem völkerverständigenden Dialog beitrug. Ebenso ungeliebt, aber gleichermaßen mit Beifall bedacht ist Gregor Schneiders kürzlich verwirklichtes und noch andauerndes Projekt unsubscribe, welches mit dem Kauf des Geburtshauses des ehemaligen Reichspropagandaleiters Joseph Goebbels in Schneiders eigener Heimatstadt Rheydt im Jahr 2013 seinen Ausgangspunkt nahm. Der Künstler kaufte das Gebäude, entkernte das nach wie vor mit Artefakten aus seiner unrühmlichen Vergangenheit befüllte Haus Schicht für Schicht, um es unbewohnbar zu machen. Eine Kopie des Geburtszimmers von Goebbels entstand in einem der Lager des Künstlers. Den verbliebenen Bauschutt schaffte Schneider in einem Transporter nach Warschau, wo er vor der polnischen Nationalgalerie Zacheta abgestellt wurde, in der gleichzeitig die Ausstellung unsubscribed stattfand: belanglose Objekte aus dem ehemaligen Hausstand Goebbels, ein Sandkasten mit abgetragenem Material aus einem der von Schneider gegrabenen Tunnel im Goebbels-Haus, es lief ein von Schneider gedrehtes Video der Innenräume und gezeigt wurde der USB-Stick mit einem 3-D-Scan des Hauses. Die an Polen ausgelieferten virtuellen Daten bieten die Möglichkeit, die ehemalige Wirkstätte des Nazi-Verbrechers wiederherzustellen. Während man sich in Polen von Seiten der Bürger und des Kultusministeriums für diese Geste bedankte, erreichten den Künstler zurück in Deutschland Hassmails und Drohungen. Er hatte bei seiner 376 Vgl. hierzu Gregor Schneiders Internetauftritt: www.gregorschneider.de/biography.htm#currently sowie www.gregorschneider.de/video.htm [zuletzt aufgerufen am 21. Oktober 2016].

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Rückkehr den Bauschutt vor der Berliner Volksbühne abgeladen und später entsorgt. Bis heute existiert das Haus in der Odenkirchener Straße als entkerntes memento mori weiter. Die Verantwortung dafür gibt Schneider so an das deutsche Volk zurück.377 Es ist Gregor Schneiders Umgang mit Häusern und Räumen, der unser Bewusstsein prägt und für diese Schrift von Bedeutung ist. Im Folgenden liegt der Fokus entsprechend auf den Veränderungen und Erweiterungen, die der Künstler Räumen zufügt, indem er sie weder als Installationen oder Environments begreift, sondern diese als begehbare Skulpturen erlebbar und als identitätsstiftende wie identitätsverleumdende Orte dauerhaft spürbar macht. Ausgangspunkt ist für den Künstler dabei diejenige Architektur, mit der er sich selbst zu identifizieren gelernt hat: sein Familienhaus im Nordrhein-Westfälischen Rheydt. Jedoch verwirklicht er auch Arbeiten an anderen Orten, in die er sich im Verlaufe des Werkprozesses einfühlen wird: »So umhäutet und umhaust er sich und identifiziert sich mit dem jeweils umgebenden Raum. Später baut er schalldichte Zellen, Räume schrecklicher Einsamkeit und Isolation.«378 Schneider bestätigt diese Sicht auf seine Baumaßnahmen: »Als Bildhauer baue ich Räume, die für mich eine zweite Haut darstellen. Der Raum ist dabei die Kunst.«379 Es muss an dieser Stelle hinzugesetzt werden, dass selbiges nicht nur den Künstler in einer Ich-Schau betrifft, sondern vor Ort auch den Rezipienten umhüllt. Die doppelbödige Raumerfahrung380 , die sich zwischen Künstler und Betrachter, zwischen den Eindrücken des Anderen und denjenigen des Selbst entspinnt, resultiert aus der Diskrepanz dessen, was wir auf einen ersten im Vergleich zu einem zweiten Blick wahrnehmen: es herrscht hier keine Übereinstimmung zwischen den Häusern und den Räumen, die wir darin betreten, denn der Raum ist in der Tat die von uns umrundete Skulptur, die uns in sich aufnimmt; was die Außenhaut des Gebäudes, die Architektur verspricht, noch bevor wir in diese vordringen, korrespondiert aufgrund der von Schneider getroffenen baulichen Maßnahmen nicht mit dem, was uns im Inneren erwartet; und die Erfahrungen, die der Künstler in diesem Gebäude verbaut hat, erschüttern unser eigenes Ich-Erleben nicht deshalb, weil hinter uns notwendigerweise dieselben Erfahrungen lägen, sondern, weil diese Zellen ganz grundlegende Erkenntnisse zu unserem Selbst freisetzen, die uns einerseits seltsam vertraut sind, aber auch deshalb, weil sie andererseits an die Abgründe unseres Daseins und des Unterbewussten rühren. 377 Vgl.: www.gregorschneider.de/biography.htm#currently [zuletzt aufgerufen am 22. Oktober 2016] sowie Gregor Schneider im Interview mit Sandra Danicke, in: DANICKE, Sandra, »Goebbels’ Geburtshaus als Kunst?«, in: art-Magazin online, 5. Dezember 2014, n.p., auf: www.art‐magazin.de/szene/6587-rtkl‐gregor-schneider‐interview-goebbels‐geburtshaus-als‐kunst [zuletzt aufgerufen am 22. Oktober 2016]. Für mehr Informationen siehe auch die folgenden Quellen: HÜLSMEIER, Dorothea, »Schutt aus Goebbels-Haus wird Kunst«, in: Westdeutsche Zeitung, 14. November 2014; LORCH, Catrin, »Der Hausmeister«, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Dezember 2014, sowie SCHMIDT, Karlheinz, »Kunst im öffentlichen Raum. Gregor Schneiders jüngstes Projekt«, in: Informationsdienst Kunst, Nr.566, 20. November 2014, S. 14. 378 MENNEKES, Friedhelm, Gregor Schneider: Nach unten – weiter nach unten! Gregor Schneider’s END, 2008, auf: www.artandreligion.de/index.php?idcatside=54 [zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2016], n.p. 379 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 240. 380 So bezeichnet von: LIEBS, Holger, »Der Tod als Kunstwerk – Da geht noch was«, in: SZ.de online, 17. Mai 2010, n.p., auf: www.sueddeutsche.de/kultur/der‐tod-als‐kunstwerk-da‐geht-noch‐was1.201924 [zuletzt aufgerufen am 22. Oktober 2016].

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Seit Mitte der 1980er Jahre bearbeitete Gregor Schneider noch bis vor kurzem seine erste begehbare Skulptur: es ist das nach dem Tod seiner Eltern an ihn vererbte elterliche Wohnhaus, das er während dieser Zeit zum Teil weiter bewohnt, um es gleichzeitig umzubauen und zu verfremden. Äußerlich wirkt das dreistöckige Gebäude nach wie vor unscheinbar, unauffällig zwischen den anderen Familienhäusern in Rheydt, in einem Stadtteil von Mönchengladbach, der Unterheydener Straße mit der Hausnummer 12 gelegen. Der kleinbürgerliche, in die Jahre gekommene Vorort, sorgt für den Titel der Skulptur Haus u r, denn das »u« steht für den Straßennamen und das »r« für den Wohnort. In den letzten drei Jahrzehnten hat Gregor Schneider das Haus verändert: er zog Wände und zusätzliche Decken ein, mauerte Räume ab, um sie herum und Fenster zu, setzte neue Türen und Durchgänge, Böden wurden gehoben und Decken gesenkt, Schienen verlegt, um Räume darauf zu bewegen, ganze Zimmer auf Rollen gesetzt, die sich unmerklich mitsamt ihren Besuchern um 360° drehen können. Der Künstler grub Löcher, verputzte Schächte und schaufelte Tunnel, stellte Leitern ein und baute zusätzliche Auf- und Abgänge. Hieraus resultierende, nicht mehr zugängliche Hohlräume sind mit Dämmstoffen, Beton, Blei, Glaswolle und anderen schalldämpfenden Materialien befüllt. Auch in den Keller hinunter reichen die Treppen und Gänge, von dort weiter nach unten in Löcher, Höhlungen und Steige. Alle Fenster im Haus u r sind gedoppelt, wodurch sich der Blick ins Freie verstellt, denn hinter den nunmehr blinden Glasscheiben befindet sich eine weitere Schicht der Vermauerung. Das in den Zwischenräumen installierte künstliche Licht, suggeriert verschiedene Tageszeiten. Einige der weiß getünchten Räume sind grell erleuchtet, manche davon leer. Sie wirken klinisch rein. Andere sind nur mäßig beleuchtet, sind düster und voller Gerümpel und Müll, wieder andere liegen im Dunkeln, müssen ertastet, erahnt und erarbeitet werden. Die vorhandene Ausstattung ist minimal und unpersönlich gehalten, gibt lediglich zu erkennen, welche Zimmer damit gemeint sind: ein Bett oder eine Matratze am Boden mit feinsäuberlich gefalteter Decke mimen ein Schlafzimmer, Küchenzeilen bestätigen die funktionstüchtige, aber scheinbar unbenutzte Küche, der für zwei Personen gerichtete Tisch im Esszimmer und das biedere Kaffeeservice in der beengten Räumlichkeit wollen weiter unbenutzt bleiben, im Badezimmerschrank der Nasszelle befinden sich eine Flasche Duschgel und Schmerztabletten. Die einzelnen Räume sind durchnummeriert und tragen Titel wie Küche, Total isoliertes Gästezimmer, Das letzte Loch, Das große Wichsen, Das Ende, Liebeslaube, Wunderkammer.381 Alle im Haus u r entstandenen Innenräume und Außenräume sind begehbar, erkriechbar, zu durchkrabbeln und zu ergründen. Alleine. Oder zusammen mit dem Künstler. Sofern vereinbart, führt Gregor Schneider durch die Räume und liefert Informationen zum Haus – oder: hält vielmehr Informationen zurück. Seine Aussagen beziehen sich vor allem auf die bauliche Umgestaltung der geschachtelten Räume, das Baumaterial und das jeweilige Vorgehen. Er hat selbst den Überblick verloren, wie die 381 Informationen zu Haus u r sind wie folgt hinterlegt: www.gregorschneider.de/video.htm [zuletzt aufgerufen am 23. Oktober 2016] sowie Udo Kittelmann, »Haus u r, Rheydt versus Totes Haus u r, Venedig«, in: VENEDIG (Ausst.kat.), La Biennale di Venezia 2001, Deutscher Pavillon, Gregor Schneider, Totes Haus u r, 10. Juni – 04. November 2001, hg.v. Udo Kittelmann, Texte von: Udo Kittelmann, Elisabeth Bronfen und Daniel Birnbaum, Ostfildern-Ruit 2001, S. 11-30, hier S. 11-15.

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Räume zuvor aussahen, welche Veränderungen wo und wann vorgenommen wurden, was sich wohinter verbirgt, wie viele Mauern an welcher Stelle zusätzlich eingezogen wurden. Warum er baut, darüber gibt er vor Ort keine Auskunft.382 Dass die Räume begonnen haben, ein Eigenleben zu führen, wird augenfällig, wenn diese nicht mehr nur im Haus u r besucht werden müssen oder in eigens vom Künstler dafür auserkorenen Häusern installiert werden, um die vorhandene Raumsituation zu verändern, sondern, wenn sich diese in einem Museum präsentieren. Einzelne Zimmer aus dem Haus u r fangen an zu wandern, werden eigens ausgebaut, um im Museum minutiös rekonstruiert zu werden. Als Gregor Schneider 2001 in einem Solo den deutschen Pavillon auf der 49. Biennale von Venedig bestückte, wurden in Rheydt 24 der Räume ausgebaut und via Schiff nach Italien geschickt, um an Ort und Stelle in einem langwierigen Prozess erneut in ihrer vormaligen Konstellation zueinander gebaut zu werden. Da sich alle vom Künstler angefertigten Räume auf das ursprüngliche Haus in Rheydt beziehen, auf den »Ur-Ort«383 , bezeichnet er die von dort wie Körperorgane entfernten und an anderen Orten gezeigten Räume als »tot«. Das Haus u r wird zum Toten Haus u r: »Wenn Schneider Abschnitte des Hauses verschiebt oder außerhalb des Hauses Repliken der Räume herstellt, sind diese Teile für ihn nicht mehr lebendig. Sie sind keine Bestandteile des Organismus mehr, sondern tot. Gregor Schneider bezeichnet diese abgeschnittenen Körperteile als »Totes Haus ur«. ›Ausstellen ist immer ein Abtöten der Arbeiten‹, sagt er, während die Arbeit das Leben selbst ist.« Für das Tote Haus u r auf der Biennale von 2001 wurde Gregor Schneider mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Im Jahr 2008 entstand noch eine weitere Variante des Toten Haus u r mit dem Titel END. Dem Städtischen Museum Abteiberg in Mönchengladbach wurde hierfür ein Außenbau hinzugefügt, dessen Innenleben mit dem Museum verbunden war. Der Einstieg in diesen Zugang offerierte sich als das Schwarze Quadrat auf weißem Grund von Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1915. Das von Schneider in Architektur übersetzte Gemälde, wurde über eine Leiter begehbar gemacht. Am quadratischen Eingang des wie in der suprematistischen Idee sich in die Ferne erstreckenden Raumkörpers kämpft »[d]as Licht […] mit dem Schwarz und wird am Ende vom Dunkel absorbiert.«384 Vor einer Begehung wurde dem Besucher aus Sicherheitsgründen eine Erklärung abverlangt, dass er mit komplett verdunkelten Räumen und steilen Leitern zurechtkommen müsse. Die Raumabfolge im Inneren bietet eben diese Hürden in abwechselnder Reihenfolge mit beleuchteten Zimmern, ausgestattet oder leer belassen in der Manier des Künstlers, gefolgt von Sackgassen, ein Labyrinth, in dem man schnell den Überblick verliert. Auf dem Weg stößt man auf die aus einem schwarzen Müllsack herausragenden Beine eines Mädchens – sie trägt rote Turnschuhe. Etwas weiter liegt ein gleichfalls verhüllter Mann reglos auf dem Boden, die Erektion in seiner Hose offenkundig. Der am Ende sehnlich 382 Vgl.: Udo Kittelmann, in: VENEDIG, (Ausst.kat.), Gregor Schneider. Totes Haus u r, Biennale Venedig, Deutscher Pavillon, 10. Juni – 04. November 2001, hg.v. Udo Kittelmann, Texte von: Udo Kittelmann, Elisabeth Bronfen und Daniel Birnbaum, Ostfildern-Ruit 2001, S. 11-30, hier S. 15. 383 »Ur-Ort« und das nachfolgende Zitat entnommen aus: Daniel Birnbaum, »Vor und nach der Architektur: Unterheydener Straße 12, Rheydt«, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 63-87, hier S. 79-80. 384 MENNEKES, Art., 2008, n.p.

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erwartete Hinweis auf den Ausgang/Exit lässt den einsamen Wanderer den Knopf eines Aufzugs betätigen. Unerträglich lange lässt dieser auf sich warten, bis sich endlich die Türen öffnen und wieder schließen, man nach oben fährt, um in die Ausstellungsräume der Sammlung des Museums Abteiberg entlassen zu werden.385 Im selben Jahr kopiert Gregor Schneider erneut einen Raum, dieses Mal denjenigen eines anderen, namhaften Architekten: der Künstler hatte aus dem von Mies van der Rohe erbauten Ensemble Museum Haus Lange in Krefeld einen Raum auserwählt, den er in einer seiner Lagerhallen nachbaute.386 Die neuerlich imitierte, transportable Architektur, will Schneider einem Museum als Sterberaum zur Verfügung stellen. Dem Sterbenden und dessen Angehörigen einen den existentiellen Erfahrungen angemessenen Raum bieten zu können, ist das Anliegen des Künstlers, welches bislang auf beinahe vollkommenes Unverständnis stößt. Schneider weist die lauten Stimmen der Entrüstung zurück: »Die Empörung ist eine falsche. Ich habe einen Sterberaum gebaut, der für mich als Bildhauer das eigentliche Kunstwerk ist. Doch kann er auch als solcher genutzt werden.«387 Der Sterberaum wurde seither noch nicht in Anspruch genommen, wenn schon ausgestellt.388 Noch eine letzte Raumabfolge Gregor Schneiders sei an dieser Stelle erwähnt, diejenige eines Toten Raumes, der 2010 in der Fondazione Volume! in Rom erbaut wurde: der Tote Raum, Rom 2010. Augenfällig ist hier, dass das Haus u r nicht mehr namensgebend im Werktitel erscheint. Es handelt sich in diesem Fall auch nicht mehr um Räumlichkeiten, die einem Wohnhaus zugeordnet werden könnten. Die große Glastür in der Via S. Francesco di Sales 86 öffnet sich in den ersten Raum der Installation, die mit einem hüfthoch errichteten, weißen Sockel mit braun‐lederner Auflage eine Pritsche anbietet. Der Raum ist ansonsten – wie so viele der Räume Schneiders – leer. Man scheint in eine Sackgasse geraten, wäre da nicht rechter Hand, hinter einer vorkragenden Wand ein Lüftungsschacht am Boden eingelassen, dessen querverlaufende Eisenstreben offen sind. Will man den Toten Raum, Rom 2010 weiter begehen, muss man sich auf den Knien durch den Schacht robben, der weniger als einen Meter im Quadrat misst. Nach einem Meter biegt er nach links, nach weiteren zwei Metern wieder nach rechts ab. Orientierung gibt die vom Besucher eingenommene Haltung, denn ob der weiß gestrichenen Wände, Decken und des Bodens, wäre nicht erkennbar, woher man kam und wohin der Gang weiterreicht. Nur durch das von hinten und offensichtlich auch weiter vorne einfallende Licht weiß man, dass da ein Eingang gewesen und ein Ausgang zu erwarten ist. Um eine weitere rechte Ecke biegend fällt der Blick erneut auf einen Lüftungsschacht. Diesem entstiegen, befindet man sich in einem zum vorhergehenden 385 Vgl.: www.gregorschneider.de/video.htm [zuletzt aufgerufen am 24. Oktober 2016] sowie MENNEKES, Art., 2008, n.p. 386 Im Museum Haus Lange stellte Schneider mehrmals zu Beginn seines Schaffens aus; www.gregorschneider.de/biography.htm#currently [zuletzt aufgerufen am 24. Oktober 2016]. 387 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 240. 388 Aus- und damit zur Verfügung gestellt wurde dieser zweifach: das erste Mal kuratiert von Veit Loers 2011 im Kunstraum Innsbruck, ein weiteres Mal ausgestellt während des »Festiwal inSPIRACJE« im Muzeum Narodowe w Szcezecinie, also im Nationalmuseum Stettin in Polen, kuratiert von Constanze Kleiner; vgl.: www.gregorschneider.de/biography.htm#currently [zuletzt aufgerufen am 24. Oktober 2016].

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Gang vergleichsweise hohen, langgestreckten, wiederum weiß getünchten Raum. Zur Linken hat Schneider hinter Glas eine Kopie von Malewitsch‘ Schwarzem Quadrat auf weißem Grund aufgehängt, in der sich der Besucher spiegelt. Zur Rechten befindet sich der Gipsabdruck eines schwangeren Frauenbauches, der – mit dem Nabel nach oben gekehrt – auf einer hohen, weißfarbenen Plinthe direkt neben dem Lüftungsschacht zur Aufstellung kam. Am Ende des Raumes steht auf Rollen ein auf Hochglanz polierter, ebenfalls den Betrachter wiederspiegelnder Kryo-Tank, der zum Einfrieren und Aufbewahrung von »suspendierten« Leichnamen dient, die ihrer Wiederbelebung harren. Um weiter zu gelangen, muss man sich nicht nur dem Tank nähern, sondern auch einem weiteren, unvergitterten Lüftungsschacht am Fuße, rechts neben dem Kryo-Tank. Von weitem wirkt der Tunnel ebenfalls wie ein auf die Wand gemaltes, schwarzes Quadrat, welches sich jedoch als Eingang in einen weiteren Schacht entpuppt. Auf den Knien sieht man, dass man – einmal drinnen – nichts sehen wird, denn die schwarz gestrichenen Wände, Decken und der Boden absorbieren alles Licht. Der erneut lediglich 90 Zentimeter im Quadrat messende Tunnel verläuft gute drei Meter gerade aus, macht dann einen Knick nach rechts um 90°. Auf weiteren knapp drei Metern verliert sich langsam das von hinten einfallende Licht. Ein erneutes rechtes Abbiegen lässt den Besucher in eine komplette Dunkelheit schauen. Kriechend sich fortbewegend reicht der Gang nochmals zweieinhalb Meter, bis man sich an eine linke Abzweigung herantastet. Einmal abgebogen, wird ein Dämmerlicht erahnbar, auf welches man sich hinarbeitet. Das Licht wird von einem gläsernen Schneewittchensarg ausgestrahlt, in dessen Innerem sich ein Leichnam in weit fortgeschrittenem Verwesungsstadium befindet. Es riecht. Der Tunnel macht am Sarg eine Biegung nach links und lenkt den Kriechenden dicht am Toten vorbei. Nach nochmals knapp drei Metern zweigt der Schacht nach rechts ab. Erneut umgibt den Besucher komplette Finsternis, die – tastet man sich vorwärts – noch zehn Meter reicht. Dann ist Schluss. Der Tunnel endet hier. Das Schwarze Quadrat hat für den hier Sitzende eine räumliche Dimension angenommen. Und es dräut uns: Um nach draußen zu gelangen, muss man umkehren.389

Der Tod zu Gast im eigenen Heim Die letzten Augenblicke unseres Lebens abzurufen, noch bevor diese unser Bewusstsein, geschweige denn unseren Leib erreicht haben, ist ein wagemutiges Unterfangen. Dennoch eines, das mit einer kunstgeschichtlichen Tradition behaftet ist. Die ars moriendi, wie sie von Gregor Schneider in einem zeitgenössischen Kontext bestritten werden, haben mit den bisherigen, oftmals sogar sehr drastischen Darstellungen des Sterbens und des Todes in der Kunst kaum mehr etwas zu tun. Die Motivation, die Furcht und der individuelle Kampf wie auch die mahnende Geste der Achtsamkeit, die dahinterstecken, bleiben jedoch bestehen. Der für alle von uns zukünftig höchst persön389 Die Informationen zu Toter Raum, Rom 2010 entstammen den Gesprächen der Autorin mit den Kuratoren der Ausstellung, Danilo Eccher und Claudia Gioia; eine Fotostrecke findet sich in: ROM (Ausst.kat.), Fondazione Volume!, Gregor Schneider, Toter Raum, Rom 2010, 28. April – 30. Juni 2010, hg.v. Danilo Eccher, mit Claudia Gioia, Texte von: Danilo Eccher, Claudia Gioia und Friedhelm Mennekes, Rom 2010, sowie auf der Homepage des Künstlers: www.gregorschneider.de/biography.htm#currently [zuletzt aufgerufen am 24. Oktober 2016].

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lich und auf subjektive Weise durchlebte Moment des Todes, erfährt durch Schneider eine Neu-Interpretation. Die dabei erlebten, für jeden der Besucher immer gleichen Räumlichkeiten, halten jedoch für den Einzelnen eben nicht immer die gleichen leiblichen wie seelischen Erkenntnisse bereit, sondern es werden spezifische, dem jeweiligen Menschen zugehörige, eigenständige Gedanken und Empfindungen erweckt, die auf das Individuum zugeschnitten sind – weil wir in diesen Räumen unserem Selbst begegnen. Bis zum Nullpunkt, den Malewitsch einst anhand seines gegenstandslosen Schwarzen Quadrates beschwor, lässt uns Gregor Schneider kriechen und uns vortasten. Das Bild wird zum Raum. Das Schauen dessen, was wir befürchten, ist uns greifbar nah. »Der elementare Unterschied zwischen Bild und Raum ist«, so Gregor Schneider, »dass man den Raum betritt und ihn benutzt. Über die Fläche eines Bildes ziehen nur die Blicke, während Räume real benutzt werden.«390 So wird auch der Nullpunkt real. Diesen 100 Jahre später in einer dritten, realen Dimension zu erleben, darin wie in einem Endpunkt festzusitzen, bedeutet in der Tat eine »Radikalisierung der intellektuellen Frage«391 . Gregor Schneiders Räume geben weder eine konkrete Örtlichkeit, noch einen bestimmten Zeitrahmen vor. Damit fehlt ihnen eine vorgegebene narrative Struktur. Sie wird jedoch von den darin Anwesenden befüllt, zeigt sich wesenhaft in den individuellen Erfahrungen und Ängsten, wird anschaulich und lebendig, sobald unsere Präsenz die vom Künstler gereichten Versatzstücke zu einer Erzählung verknüpft. Auf uns selbst zurückgeworfen, ohne eine Möglichkeit der Ablenkung, ohne einen schnell erreichbaren Ausweg, erweist sich diese Erzählung als schonungsloser und fundamental ehrlicher Prozess einer Selbstschau, die unseren Tod gedanklich miteinschließt. Dies widerstrebt unserem fundamentalen Bedürfnis nach Leben: »Der Tod ist schwer vorstellbar, denn unsere Selbstwahrnehmung, unser Bewusstsein kommt uns nicht vergänglich, sondern dauerhaft vor.«392 In den von Gregor Schneider präparierten Räumen dämmert uns langsam ein Was wäre, wenn doch?, denn sie scheinen den Tod zu beherbergen, diesen zumindest immer mitzudenken. Gefragt nach einer Verbindung zwischen dem ursprünglichen Haus u r und den in Wort und Bild mit dem Sterben umgehenden toten Häusern, Räumen und dem Sterbezimmer, antwortet der Künstler: »Am Ende sind die Räume leer. In beiden Räumen geht es um die existentielle Frage nach der An- und Abwesenheit eines Menschen im Raum.«393   Bereits im Haus u r treiben die Anwesenden wie Abwesenden ihr Unwesen. Die Anwesenden, das sind Gregor Schneider selbst und die ihm nachfolgenden Besucher seiner Räume. Das Abwesende ist für Schneider wie die Besucher die Erinnerung an Menschen aus der Vergangenheit, etwa die Eltern, Familie und Freunde. Obschon sich Gregor Schneider auf eine ganz persönliche Weise mit dem Inneren seines Elternhauses auseinandersetzt, gleicht das Ergebnis einem pars pro toto desjenigen Nachgeschmacks, 390 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 245. 391 MENNEKES; Art., 2010, n.p. 392 Ray Kurzweil, in: HÜLSWITT, S. 15-34, hier S. 17. 393 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 245.

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den wir aus dem einst Gewesenen, an Erinnerungen an vergangene Orte mit in die Gegenwart genommen haben und weiter in uns tragen werden. Die Räume im Haus u r sind geprägt von einer immensen atmosphärischen Dichte. Dies ist einerseits den zahlreichen, offensichtlich obsessiv betriebenen Baumaßnahmen geschuldet, andererseits liegt dies an den unsichtbaren Zonen des Hauses, den ehemals in den Funktionsräumen integrierten und nun abgemauerten Bereichen, die dem Besucher verschlossen bleiben. »Manchmal gibt es Räume«, so Friedhelm Mennekes, »die sich sozusagen wiederum in ihrer Materialität auflösen. Das sind vor allem jene durch Um- und Weiterbauen entstandenen Zwischenräume, Löcher oder Schächte, die Schneider sehr wichtig sind. […] In allem sind es Existenzformen, die sich der direkten Wahrnehmung entziehen. Obsessionen und Fiktionen, die im Verborgenen bleiben, im Loch, im Kern, in Liebeslaube, Puff, Das große Wichsen […].«394 Indem Gregor Schneider im Haus u r mauert, baut und schaufelt, gräbt er auch in seinem Innersten. »Es ist wie die Arbeit an seinem eigenen Ich, ein persönliches Interesse, das in einer Zeit vorfabrizierter Identitätsmuster verloren gegangen ist. Im Haus u r in Rheydt haben sie ihren Sitz im Leben dieses Künstlers. Dieses Schaffen hat aber nicht im Herstellen von fertigen Räumen ihr Ziel. Wie die Stimmungen ändern sich ihre räumlichen Entsprechungen.«395 Schneider schafft sowohl seinem Bewusstsein als auch seinem Unterbewusstsein eine dem jeweiligen Zeitpunkt angemessen Architektur, die sich gleichzeitig um das Werden und Vergehen unseres Daseins errichtet, wieder abspaltet und immer tiefer nach unten führt, sich in die Abgründe, Löcher und dunklen Schlünde unserer Psyche bohrt. Schneider baut, als müsse er Wunden verschließen, andere aufbrechen, um sie erneut verarzten und heilen zu können; die Baumaßnahmen scheinen stimmungsabhängig, besitzen BorderlineCharakter; der Künstler agiert, als müsse er sich seines Leibes und seiner Seele immer wieder auf ein Neues versichern, überprüfen, ob die Dinge so sind, wie sie sich zeigen. Aber so sind sie nicht. Und Gregor Schneider weiß und forciert dies. Er hat längst den Überblick verloren. Dies ist unser aller eigentliche Realität: das Leben versteckt wie das Haus u r seine im Unterbewussten stationierten Räumlichkeiten. Deren Versteckt-Sein täuscht nicht über die Tatsache hinweg, dass sie existent sind. »Seiner Seele ein Haus bauen.«396 Damit passiert gleichzeitig eine Verarbeitung seelischer Zustände und Belastungen, welche Schneider als künstlerisches Prinzip lebt. Sind die Räume verändert und fertig gebaut, werden sie zum Teil nicht mehr benötigt. »Manche Räume überleben sich, sind zeit- oder entwicklungsbedingt. Sie haben keine Entsprechung mehr im Inneren ihres Schöpfers. Sie sind dann tot.«397 Dann kann Schneider mit dem Ausbau der abgestorbenen Räume beginnen. Er stellt sie einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung, bringt sie an andere Orte, verleibt sie anderen Architekturen ein. Verliert der Organismus auf diese Weise eines seiner Gliedmaße, unterzieht sich die Seele einer Veränderung, indessen Räume überarbeitet und verschlossen wurden und sich ihrer hiernach entledigt wird. »Man ist versucht, das Haus als eine Erweiterung des Körpers des Künstlers zu begreifen. Die Vorgänge im Haus 394 395 396 397

MENNEKES, Art., 2008, n.p. MENNEKES, Art., 2008, n.p. Udo Kittelmann, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 11-30, hier S. 15. MENNEKES, Art., 2008, n.p.

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wären demnach eine Art Umgestaltung des Selbst. Zumindest partiell handelt es sich um eine Frage der Selbstverstümmelung. Und wie soll man die offensichtliche Erotik dieses Projektes verstehen?«, fragt Daniel Birnbaum.398 Das erotische Element umfasst den voyeuristischen Akt des Betrachters, der sich in diesen Privaträumen unbeaufsichtigt aufhält und darin umsieht. Der Besucher wird zum Teilhaber des Projektes, zu einem, der nicht nur mit dem Künstler, sondern auch mit seiner hausgemachten Vergangenheit in Dialog gerät. Oberflächlich betrachtet gibt es dabei nicht viel zu sehen. Die meisten der Räume sind leer oder nur spärlich bestückt. Und dennoch hinterließen die nun Abwesenden – die Bewohner wie der Künstler – Spuren, die es wahrzunehmen und zu erspüren gilt: zugemauerte Öffnungen, Luftschächte, abgeschnittene Wasser- und Heizungsrohre, die nirgendwohin führen, abgeplatzte Farbe, abgetretene Stufen, Flecken von Weggeputztem auf Boden und Teppich, ein Riss in der Wand, Ecken der Tapete, die vor 37 Jahren immer weiter abgepult wurden, vielleicht im Verlaufe zahlreicher Telefonate, ein unsauberer Teller, ein leeres Regal, ein einzelner, abgenutzter Sessel. Somit spürt man auch dem nach, was nicht mehr da ist. Unsere Wahrnehmung richtet sich somit weg von den sichtbaren Dingen, hin zu denjenigen Spuren, die ein Leben ausmachen. Elisabeth Bronfen erinnert in diesem Zusammenhang an die Funktionsweise der Psychoanalyse und vergleicht hierfür Gregor Schneiders Räume mit der Topologie unseres Unterbewusstseins: »Nicht nur ist der psychische Apparat im Sinne einer Topologie aufzufassen, die auf der Unterscheidung zwischen bewussten, vorbewussten und unbewussten Prozessen beruht, von denen letztere sich nach Freud an einem ›anderen Schauplatz‹ abspielen, sondern man muss sich das Unbewusste wie eine Krypta vorstellen. Es enthält ein verdrängtes Wissen, das, obwohl es nicht unmittelbar zugänglich ist, Spuren in der Psyche zurücklässt, indem es verzerrte Wissensäußerungen hervorruft, die Freud als ›Entstellungen‹ bezeichnete.«399 Die Psychoanalyse sucht auf dieses unterbewusste Wissen aufmerksam zu machen; dies leisten auch die Räume des Haus u r. In der Psychoanalyse wird man nun fortfahren, dieses Wissen anzuerkennen, es wieder gebrauchsfertig zu machen, indem man die Krypta zu öffnen sucht; Schneiders Räume müssen notwendigerweise in einem Verweis auf das unterbewusst Vorhandene verharren. Sie wollen keine Rätsel lösen, sondern rätselhaft bleiben. Sie betonen lediglich, »dass die Macht des verschlüsselten Wissens in ihrer Wirkung auf das Subjekt besteht und nicht in einer Auflösung des hierdurch gestellten Rätsels.«400 Elisabeth Bronfen verweist deshalb zurecht auf das (Tote) Haus u r als ein Phänomen des Phantomhaften: »Gregor Schneiders unermüdliches Umbauen folgt also unerbittlich der Logik der Krypta. Denn das von ihm bewohnte Haus setzt jedes normale, das heißt bewusst wahrgenommene Raumgefühl außer Kraft. Durch das Anzapfen bewusster Wahrnehmungsprozesse setzt das Haus u r einen Zustand ständiger Transformation in Szene, der, wie Gregor Schneider selbst erklärt, Hinweise auf etwas gibt, das wir nicht wissen, eine Vorahnung von etwas vermittelt, 398 Daniel Birnbaum, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 63-87, hier S. 80. 399 Elisabeth Bronfen, »Kryptotopien. Geheime Stätten/Übertragbare Spuren«, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 33-60, hier S. 40. 400 Elisabeth Bronfen, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 33-60, hier S. 41.

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das wir nur spüren können. Das Haus u r ist nicht einfach nur ein unmöglicher und insoweit phantasmagorischer Ort, der jenseits aller Normalität angesiedelt ist, sondern einer der, und das ist das eigentlich Entscheidende, wie ein Phantom funktioniert. Diese Räume, die Gregor Schneider ausdrücklich als belebte Körper wahrnimmt, materialisieren eine Wissenslücke und lassen kraft dieser Verkörperung bei den Besuchern, die sie durchquert haben, unfassbare, aber dennoch markante Spuren zurück.«401 Diese Eindrücke einmal auf sich wirken zu lassen, ist das eine; diese Eindrücke in einer Doppelung zu erfahren, ein sich um ein Vielfaches potenzierendes Unterfangen. Im Jahr 2003 eröffnete Gregor Schneider zwei nebeneinander gelegene Häuser in der Londoner Walden Street 14 und 16. Das Projekt nennt er Die Familie Schneider. Nach Vereinbarung konnten die Häuser jeweils zu zweit besichtigt werden. Zum fraglichen Zeitpunkt mussten die Schlüssel hierfür in einem Büro am Ende derselben Straße abgeholt werden. Zurück an den Häusern mit den Nummern 14 und 16 stellt man deren frappierende Übereinstimmung fest: die zweigeschossigen Stadtreihenhäuschen aus Backstein werden nur durch eine Regenrinne voneinander getrennt, beide besitzen dieselbe Anzahl an Fenstern, die durch einen dichten Gardinenwurf verhüllt sind, je linkerhand befindet sich eine Haustür mit halbkreisförmiger Supraporte. Die beiden Besucher müssen sich vor den Häusern aufteilen: gleichzeitig entsperren sie je ein Haus, um dieses zu ergründen. Nach zehn Minuten findet vor den Häusern ein erneutes Treffen statt, die Schlüssel werden ausgetauscht und jeder geht in das jeweils noch nicht besichtigte Haus. Zu keinem Zeitpunkt befindet sich mehr als ein Besucher in jedem Haus.402 Im Flur realisiert man, dass man dennoch nicht für sich ist: das Haus ist bewohnt. Da diese Information vorab fehlt, fühlt man sich fehl am Platze. In der Küche steht eine Frau an der Spüle, ihre pink behandschuhten Hände waschen Teller in langsamen, kreisenden Bewegungen; im Badezimmer des ersten Stocks steht hinter einem transparenten Vorhang ein Mann in der Badewanne und obschon er dem Betrachter den Rücken zuwendet, wird anhand seiner rhythmischen Bewegungen deutlich, dass er onaniert; im Schlafzimmer nebenan ragt rechts neben dem Doppelbett ein schwarzer Plastiksack hervor, der über den Kopf eines sitzenden Kindes gestülpt ist, dessen Beine daraus hervorlugen. Eine minimale Bewegung des Fußes signalisiert, dass der Körper am Leben ist. »The […] inhabitants […] made no attempt to interact with or acknowledge in any way the presence of the visitors. They did not speak, even when spoken to. Beyond the evident estrangement and isolation, there was no narrative about the nature of the relationships in the family – each person was in a room of his or her own, absorbed in their own activity, cleaning, masturbating, concealing. Nothing changed when a visitor entered a room. Nothing differed if the visitor went back. The figures were completely self‐absorbed, the tableaux of the rooms self‐contained.«403 401 Elisabeth Bronfen, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 33-60, hier S. 44. 402 Informationen, Bild- und Videomaterial zu Die Familie Schneider vergleiche wie folgt: www.gregorschneider.de/video.htm [zuletzt aufgerufen am 25. Oktober 2016] sowie SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, mit Texten von Andrew O’Hagan und Colm Tóibín, London 2004. 403 James Lingwood, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 154-155, hier S. 155.

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Das Wohnhaus ist möbliert. Es ist die abgenutzte, ärmliche Umgebung der Unterschicht, die uns begegnet. Konkrete persönliche Alltagsgegenstände legen die intimen Momente der Familie offen. Die bereits zu knapp bemessenen Räumlichkeiten wurden von Schneider nochmals unmerklich verkleinert. »Probably that was imperceptible to the human eye, but the body somehow knew that the proportions of the rooms were not quite right.«404 James Lingwood spricht hiermit das körperliche Unbehagen aus, welches die Zimmer auszulösen im Stande sind, ganz zu schweigen von der seelischen Beklemmung, die den Besucher in diesen Räumen erfasst. Nach zehn Minuten verlässt James Lingwood das erste Haus. »Stepping into the second house brought on the perplexing realisation that it was an exact double of the first. The entrance hall and stairs had the same brown carpet, the same wallpaper, the same yellowy light. You heard the same sound from the kitchen and the bathroom upstairs, smelt the same fetid atmosphere, saw for the second time the same square furnishings, cracks and stains, the same middle aged woman washing dishes in the kitchen and the same naked man in the bathroom and the same small figure with legs protruding from under the black garbage bag in the corner of the cream bedroom that you had just seen in the other house.«405 Die von Schneider engagierten eineiigen Zwillingspärchen bestätigen die Duplizität der Örtlichkeiten, aber erschweren es dem Betrachter zugleich, seinen Augen zu trauen. Ob der beharrlichen Redundanz der Räume, erscheint es zunächst nur folgerichtig, dass auch das darin handelnde Personal in beiden Häusern übereinstimmt. Die Unwahrscheinlichkeit dieser absoluten und im Detail sich gleichenden Situationen aber sind schwindelerregend und erschüttern unser seelisches Gleichgewicht. Wir beginnen an dem eben Erlebten zu zweifeln, versuchen das Gesehene in Erinnerung zu rufen, um es in einem gedanklichen Prozess gegeneinander abgleichen zu können. Unsicherheit macht sich breit, ob wir unserer Wahrnehmung Glauben schenken dürfen: Wo genau stand vorhin nochmal der Telefonapparat? Was war noch gleich im Kühlschrank gelagert? War es dasselbe Spülmittel im ersten Haus? Glichen einander die Flecken auf dem Teppich des Wohnzimmers? Die Bruchstellen an der Pseudo-Stuckatur des Kamins? Die marode Unterseite der Treppe? Die Kindersocken? »The visitor was compelled to try and match what he or she was seeing with what they remembered just having seen. As Gregor Schneider has noted, ›The visitor by necessity observes himself. He is beside himself. He walks through the house next to him.‹«406 Zu all diesen Überlegungen gesellen sich zusätzliche gedankliche Versatzstücke, die nichts mehr mit unseren Besuchen vor Ort zu tun haben. Es vermischen sich fragmentarische Erinnerungen aus unsere eigene Vergangenheit, die Räume, die wir einst bewohnt haben, aus denen unsere eigenen autobiographischen Daten entstammen: »Herr Schneider knows enough to make the viewer, the participant, the visiting ghost, enter into dialogue with his or her own domestic past, and the results are neither cosy nor forgettable.«407 Die Groteske entspannt sich zwischen 404 405 406 407

James Lingwood, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 154-155, hier S. 155. James Lingwood, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 154-155, hier S. 154. James Lingwood, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 154-155, hier S. 154-155. Andrew O’Hagan, »The Living Room«, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 156-161, hier S. 158.

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dem uns von Schneider Nahegelegten und dem, was unser vorbewusstes Wissen daraus entstehen lässt. Gregor Schneiders Häuser erinnern an das 1999 abgedrehte »Blair Witch Project« von Daniel Myrick und Eduardo Sánchez. Dies wird vor allem durch die mit dem pseudo‐dokumentarischen Psychothriller übereinstimmenden formalen Kriterien der Videoaufzeichnungen in den Häusern des Künstlers virulent, die Schneider als Amateurvideos bezeichnet und auf seiner Homepage bereitstellt. Die Produzenten des »Blair Witch Projects« forcierten im Vorfeld ihrer Filmarbeit den Echtheitscharakter des Films als dokumentarische Aufnahmen. Freilich stellt sich später heraus, dass die Ereignisse im Film lediglich eine Fiktion waren. Schneiders Filme funktionieren umgekehrt: sie erwecken den Eindruck einer Fiktion, die sich im Nachhinein als Realität herausstellt. Eine wenn auch nur vorübergehende Realität, die als fiktive Erzählung in den präparierten Häusern des Künstlers Wirklichkeit wird. Obschon die Videos die Begegnung mit dem tatsächlichen Ort nicht ersetzen können, offerieren sie doch eine eigene, zusätzliche Dimension des Erlebens. Nicht nur ein Besuch vor Ort, auch die Sichtung des Videomaterials lässt in uns die Beklemmung wachsen, denn »[d]er Ort […] scheint sich gegen den Besucher zu kehren; dreht den Spieß um, wehrt sich gegen den, der da eindringt. Ein Raum, der sich wehrt? Wie wenn er selbst zur Person wird? Oder ist es der Besucher selbst, der sich solchen Welten verweigert? Verschreckt verlässt er das Geisterhaus, das ihn bedrängt. Ertappt? Beladen mit schrecklichen Erregungen wie aus einem intensiv erlebten Film macht er sich davon.«408 Doch auch draußen werden wir die Erinnerungen an den Besuch nicht los. Es vermischen sich das Begehren, das Erlebte erneut zu verifizieren, und die Furcht davor, das Gesehene mit den Erinnerungen, Gefühlen und Ängsten aus der eigenen Vergangenheit abzugleichen. Andrew O’Hagan erinnert sich: »On leaving the houses behind, I found that I hadn’t left them at all: these dwellings were dwellings in me, and I kept adding things I was sure I had seen there. […] This is just another element, though, for the main force of the Schneider houses is philosophical. […] Gregor Schneider is a poet of the ominous. His work gives new meaning to the term ›Life‐threatening‹. When people use that phrase they usually mean that something poses a danger to life, but Schneider might use it differently, for his work suggests that life itself is a threat, an ominous activity, and that living is a desperate act of repetitions where one breath must follow another in a seemingly involuntary drama of survival. In the middle of life itself we are stranded.«409 So multiplizieren sich nicht nur unsere Atemzüge, um uns am Leben zu erhalten, sondern auch unsere Erinnerungen, indem sie dasselbe tun und uns zugleich am Leben hindern, indem wir den Geistern der Vergangenheit verhaftet bleiben. »[…] and I wanted to go back again and see if it was there too in the first house. Yet I couldn’t go back. My visit with the Familie Schneider was over, and I couldn’t return except through the long and duplicate corridors of my own memory.«410   408 MENNEKES, Art., 2008, n.p. 409 Andrew O’Hagan, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 156-161, hier S. 157. 410 Andrew O’Hagan, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 156-161, hier S. 161.

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Generell reicht es aus, die gebauten Räume Gregor Schneiders einmal erlebt zu haben, um deren Widerhall in sich zu spüren. Der Tote Raum, Rom 2010 lockt den Besucher in eine Erfahrung, die man kein zweites Mal erleben möchte – aber wird: den Umgang mit dem Tod. Während die meisten der Häuser Schneiders trotz ihrer Überarbeitung immer noch so etwas wie eine Wohnstruktur aufweisen, teilweise möbliert sind, sich hell erleuchtete Räume mit schummrigen und düsteren Orten abwechseln, bekommt es der Betrachter im Toten Raum, Rom 2010 beinahe ausschließlich mit Tunneln zu tun, deren einer in die absolute Finsternis führt. Bereits der weiter oben beschriebene Weiße Tunnel lässt den darin Kriechenden im Obskuren, da er von rein weißen, die Orientierung erschwerenden Wänden umgeben ist. Im Schwarzen Tunnel verbleibt schon bald nach dem Eintritt kaum mehr Hoffnung, sich auf das Sinnesorgan Auge weiter verlassen zu können. Die verbliebenen vier Sinne müssen nun die Sehkraft ersetzen: die Ohren werden hellhörig, der gesamte Körper wird zum fühlenden und sich vorwärts tastenden Organ und bald schon wird auch der Geschmacks- und Geruchssinn zum Einsatz kommen. Die komplette Dunkelheit, die visuelle Informationen von uns fernhält, ist fraglos dazu geeignet, alle unsere übrigen Sinne in Alarmbereitschaft zu versetzen: »To make anything terrible, obscurity seems in general to be necessary. When we know the full extent of danger, when we can accustom our eyes to it, a great deal of the apprehension vanishes.«411 Das, was Edmund Burke hier beobachtet, lässt der Schwarze Tunnel im Toten Raum, Rom 2010 nicht zu, denn »all is dark, uncertain, confused, terrible, and sublime to the last degree.«412 Und Burke erklärt auch wenig weiter, warum es uns so schwer fällt, mit der Dunkelheit umzugehen: »[A]n association which takes in all mankind, may make darkness terrible; for, in utter darkness, it is impossible to know in what degree of safety we stand; we are ignorant of the objects that surround us; we may every moment strike against some dangerous obstructions; we may fall down a precipice the first step we take; and, if an enemy approach, we know not in what quarter to defend ourselves; in such a case strength is no sure protection; wisdom can only act by guess; the boldest are staggered; and he who would pray for nothing else towards his defence, is forced to pray for light.«413 Neben der Finsternis nennt Burke die drei weiteren Komponenten, die uns das Fürchten beibringen: die Leere, die Einsamkeit und die Stille.414 Die Dunkelheit hebt sich im Schwarzen Tunnel nur an einer Stelle. Jedoch tritt, ob der wiedergewonnenen Fähigkeit zu sehen, keine Erleichterung ein, denn der von Burke zitierte Feind, den wir hierdurch erkennen, ist der Tod. Dieser nimmt in der Form des verwesenden Leichnams in diesem Augenblick die hochgradigste Drohgebärde für den noch Lebenden an. Die Schaulust am Leichnam, die ansonsten aus einer Mischung aus Faszination, Grusel und Erkenntnisdrang rührt, wie sie einst im Theatrum Anatomicum, bei der Zurschaustellung von Reliquien oder heute in den »Körperwelten« eines Gunther von Hagens in einem jeweils wissenschaftlichen, christlichen und mit einer unterhaltenden Neugierde verbundenen Kontext praktiziert wurde und wird, steht 411 412 413 414

BURKE, S. 54. BURKE, S. 55. BURKE, S. 148. Vgl.: BURKE, S. 68.

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dem von Schneider gezeigtem Objekt diametral entgegen. Denn es fehlt im Toten Raum, Rom 2010 der den eben genannten Beispielen zu eigene Rahmen eines gemeinschaftlichen, beinahe gesellig zu nennenden Erlebens. Gregor Schneider hält für uns nur die das Schreckliche erzeugenden und von Burke aufgezählten Komponenten parat: Leere, Dunkelheit, Einsamkeit und Stille. Hinzu kommt, dass dem Leichnam – zumindest nach deutscher wie europäischer Gesetzeslage – seine Würde genommen wurde: der Verstorbene befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung und lässt somit weder Ähnlichkeiten zu seinem – oder ihrem? – vormaligen Dasein zu, noch ist er ordnungsgemäß bestattet.415 Und doch führt uns Gregor Schneider wahrheitsgemäß das vor Augen, was sein wird. Traditionell wie instinktiv ruft der so plötzlich in den Fokus drängende Vorgang des menschlichen Verfalls unmittelbaren Schrecken, eine unüberwindliche Angst und unbezwingbaren Ekel hervor. Weiter oben wurde bereits erörtert, wann und weshalb uns dieses Grauen überfällt, welches Julia Kristeva wie folgt in »Powers of Horror« zusammen und in Worte fasst: »The corpse (or: cadaver: cadere, to fall), that which has irremediably come a cropper, is cesspool, and death; it upsets even more violently the one who confronts it as fragile and fallacious chance. And wound with blood and pus, or the sickly, acrid smell of sweat, of decay, does not signify death. In the presence of signified death – a flat encephalograph, for instance – I would understand, react, or accept. No, as in true theater, without makeup or masks, refuse and corpses show me what I permanently thrust aside in order to live. These body fluids, this defilement, this shit are what life withstands, hardly and with difficulty, on the part of death. There, I am at the border of my condition as a living being. My body extricates itself, as being alive, from that border. Such wastes drop so that I might live, until, from loss to loss, nothing remains in me and my entire body falls beyond the limit – cadere, cadaver. If dung signifies the other side of the border, the place where I am not and which permits me to be, the corpse, the most sickening of wastes, is a border that has encroached upon everything. It is no longer I who expel, ›I‹ is expelled. The border has become an object. How can I be without border?«416 Der Leichnam als cloaca menschlicher Überreste; der 415 Nach deutscher Gesetzeslage ist vorgesehen, dass die Würde eines Leichnams vor allem dann gewahrt ist, wenn das Bestattungsgesetz eingehalten wurde; vgl. hierzu: Bestattungsgesetz (BestG) vom 24. September 1970 (BayRS III S. 452) BayRS 2127-1-G, www.gesetze‐bayern.de/Content/Document/BayBestG?AspxAutoDetectCookieSupport=1 [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2016]. Darüber hinaus sieht das europäische Recht vor, dass u.a. für medizinische Zwecke das Äußere des Verstorbenen weiterhin Ähnlichkeit mit dem ehemals Lebenden besitzen muss. Dies gab 2004 Anlass dazu, ein neues Gewebegesetz zu formulieren, in dem es heißt: »Die Würde verstorbener Spender sollte gewahrt werden; insbesondere ist der Körper des verstorbenen Spenders so zu rekonstruieren, dass er die größtmögliche Ähnlichkeit mit seiner ursprünglichen anatomischen Form aufweist.«, in: http://eur‐lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32004L0023:DE:HTML [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2016], GEWEBEGESETZ, »Einleitende Bestimmungen«, Punkt (16), n.p. Wollte man sich vergegenwärtigen, was bereits Antigone bei Sophokles unternahm, um ihrem Bruder die letzte Ehre zu erweisen, so muss man davon ausgehen, dass das Bestattungsrecht bereits in der griechischen Antike Bestand hatte. Unterstellt man Gregor Schneider therapeutisch-ästhetische Zwecke, gilt auch für ihn diese Rechtslage. 416 KRISTEVA, S. 3-4.

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Ort, an dem das Ich nicht mehr sein kann; der Zeitpunkt, zu dem sich die Grenzen des Körperinneren nach außen hin ungehemmt geöffnet haben. Neben dem augenfälligen Grauen ereilt unsere Sinne aber mindestens zeitgleich der Geruch des Leichnams. Obschon Gregor Schneider einen für medizinische Zwecke präparierten Körper im verschlossenen Sarkophag platziert, ist es unser Geruchssinn, der sensibel genug reagiert, um uns Informationen zu übermitteln, die Automatismen auslösen: »Der Geruchssinn ist der eigentliche Sinnesort des Ekels. […] Durch den Geruch werden auch Partikelchen des Gegenstandes in das Subjekt hineingetragen, wird intime Erfassung des fremden Soseins ermöglicht. In der I n t i m i t ä t dieser Sinnesmodalität gründet ihre primäre Bedeutung für den Ekel; es hängt damit auch die Erbrechensintention des Ekels, die selbst auf Essensintention zurückweist, zusammen. Bereits hier sei überhaupt auf den Beziehungskreis Ekel-Geruch-FäulnisVerfall-Absonderung-Leben-Nahrung usw. hingewiesen.«417 Es wird deutlich, dass der Verwesungsprozess samt seinem Leichengeruch all unsere Sinne gleichzeitig herausfordert, da die Fäulnis des menschlichen Körpers ein »optisch‐taktil-olfaktorisches Gebilde«418 darstellt. Das dabei mitgedachte Geschmeiß, das wabernde Leben von Kleinund Kleinstorganismen, das Wimmeln des lebenszerfressenden Getiers, lässt darüber hinaus unkontrollierbare Bewegung, Aggressivität wie lebensvernichtendes Gewirr erahnen, welchem wir in diesem Stadium nicht mehr Herr werden können.419 Gefragt, ob er den Ekel vor dem Abjekten intentional einsetzt, verweist Gregor Schneider folgerichtig auf den uns innewohnenden Instinkt, macht dabei jedoch eine Einschränkung: »Scientifically the disgust is a consequence of socialization and not a natural instinct. Since the corpses are usually associated to decrepitness, vulnerability and destruction, anguishing features are attributed to the bodies.«420 Der Reflex des Ekels kann uns lediglich noch zur Flucht animieren. Begeht man die Flucht nach vorne, verläuft sie im Toten Raum, Rom 2010 ins Leere, in die Finsternis, in das Nichts. »For me the black represents the nothing.«421 , bestätigt auch Gregor Schneider. Am Ende des Schwarzen Tunnels sitzen wir in einem schwarzen Kubus, der uns an das Bild des Schwarzen Quadrates der kleinen Kapelle zwischen dem ersten hellen und dem zweiten stockfinsteren Durchgang erinnert, dessen Eingang ein weiteres Mal von einem schwarzen Quadrat gebildet wurde. Die dazwischenliegende Begegnung mit dem Tod sorgt für Angst, Verstörung und Hoffnungslosigkeit. »An dieser Stelle gewinnt der Tote Raum, Rom 2010 seine stärkste körperliche und geistige Erfahrung. Die emotionale Bedrängung ruft alle Erfahrung in Wissen und Glauben zur Seite. Nirgends muss sich der Mensch so radikal sich selbst und seinem Selbstverstehen stel417 KOLNAI, S. 137. Die Kuratorin Claudia Gioia sprach in einem Treffen mit der Autorin am 05. März 2015 ebenfalls von extremen Geruchsentwicklungen. 418 KOLNAI, S. 140. 419 Vgl. hierzu auch: KOLNAI, S. 144-145 und S. 148. 420 Gregor Schneider, in: Claudia Gioia, »About death and immortality. Dialogue with Gregor Schneider«, in: ROM, (Ausst.kat), Gregor Schneider, Toter Raum, Rom 2010, Fondazione VOLUME!, Rom, 28. April – 30. Juni 2010, hg.v. Danilo Eccher, mit Claudia Gioia, Texte von: Danilo Eccher, Claudia Gioia und Friedhelm Mennekes, Rom 2010, S. 82-87, hier S. 86. 421 Gregor Schneider, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 82-87, hier S. 86.

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len.«422 Eben diese existentiellen Fragen gab auch Malewitsch anhand der gegenstandslosen Form des Quadrates auf, welches er zunächst in Schwarz (1915), später in Weiß (1918) zur Disposition stellte. Sowohl das Selbstverständnis der Kunst als auch insbesondere das Selbstverständnis des Menschen in einer modernen Gesellschaft mussten neu bedacht werden. Malewitsch‘ Quadrate signalisieren dabei sowohl einen offensichtlichen Endpunkt, stehen aber gleichzeitig für einen radikalen Neuanfang, ähnlich des Ikonoklasmus des schwarzfarbenen Kubus der Kaaba, welche die abbildende Präsenz eines Gottes negiert. Gregor Schneiders Werk verweist somit auf eben diese Leere, die es neu zu befüllen gilt. »Für Schneider, der durchaus um den modernen philosophischen und künstlerischen Diskurs um den Raum weiß, ist der leere Raum der Raum, der mit der Existenz und dem Leben des Menschen eins ist. Er ist nicht so sehr der Raum der Antworten, sondern der Fragen des Sinns und des Seins. Ebenso berührt ja Malewitschs Schwarzes Quadrat das Jenseits konkreter Antworten, religiöser Mythen oder persönlicher Assoziationen. Er zwingt damit allen Geist auf den Punkt des Neuanfangs zurück. Erst im Durchgang durch diesen in der Form des Schwarzen Quadrats proklamierten Nullpunkt, dem Nullpunkt als dem befreiten Nichts, wie Malewitsch sich ausdrückt, sind metaphysische oder gar mystische Spekulationen als gegenstandslose oder erzählerische Vorstellungen wieder sinnvoll.«423 Am Endpunkt von Toter Raum, Rom 2010 angelangt, sind wir also nicht nur auf das Ende unseres Mensch-Seins gestoßen, sondern werden hinsichtlich unserer Fähigkeit zur Utopie auf den Prüfstand gestellt. Spätestens hier, sobald wir erkennen, dass wir aus diesem Loch nur entfliehen können, wenn wir die Bürde des Rückwegs auf uns nehmen, lassen wir Revue passieren, was uns ein zweites Mal auf dieser Reise bevorsteht: Finsternis, der Leichnam, der kapellenartige Raum zwischen den Tunneln und der weiße Schacht. Der Weg zurück bietet aus Sicht der derzeitigen Lage Hoffnung, eine Hoffnung gar auf Ewigkeit, wie es Friedhelm Mennekes formuliert.424 Denn die hohe Kapelle als Mittelpunkt des Toten Raum, Rom 2010 beinhaltet aus der jetzigen Perspektive vor allem zuversichtlich stimmende Versatzstücke, die von einer Fortdauer des Lebens zeugen: an dem einen Ende befand sich das Abbild des Schwarzen Quadrates, welches uns am anderen Ende des Raumes in sich aufnahm, uns hineinschlüpfen ließ; der schwangere Mutterbauch auf dem Podest zeugt von zukünftigem Leben und der KryoTank Phoenix II schürt die Vorstellung von der Unsterblichkeit. Es ist nicht das erste Mal, dass Schneider in seinem Werk einen mit Flüssigstickstoff befüllten Tank nutzt, welcher der Kryonik zur Tiefkühlung und damit Konservierung von Menschen dienlich ist, bis diese in einer späteren, fortschrittlicheren Generation wiedererweckt werden können. Bereits im Jahr 2006 stellte der Künstler den Kryo-Tank Phoenix I in der Kunst-Station Sankt Peter Köln ein und beinahe gleichzeitig stand der Kryo-Tank Phoenix II in der neapolitanischen Katakombe der Fondazione Morra Greco Napoli.425 In beiden Fällen sorgte die sakrale Umgebung, in der aufrecht, stolz und 422 MENNEKES, Art., 2010, n.p. 423 MENNEKES, Art., 2010, n.p. Zu Malewitsch‘ Intention des Schwarzen Quadrates wie seines Nachfolgers des Weißen Quadrates auf weißem Grund vgl.: OETTL, S. 107ff. 424 Vgl.: MENNEKES, Art., 2008, n.p. 425 Die Ausstellungen fanden in Köln vom 02. November 2006, also einen Tag nach Allerheiligen, bis zum 15. Dezember 2006 statt. In Neapel dauerte die Ausstellung vom 26. November 2006 bis zum 10.

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mächtig die Kryo-Tanks ihre Position ausgerechnet in der jeweiligen Apsis bezogen, für eine Diesseitshoffnung, die jenseits der christlichen Glaubensvorstellung Heil und ein Weiterleben versprach. »Konzeptionell stand [die Installation] im Grenzbereich von drei kulturellen Systemen: Religion – Wissenschaft – Kunst.«426 Die Sehnsucht des Menschen nach einem dauerhaften Fortbestand, kann heute ein religiöses Weltbild nicht mehr recht zufriedenstellen und auch die Wissenschaft stößt diesbezüglich nach wie vor an ihre Grenzen. Gregor Schneider bietet nun im Rahmen der Kunst eine Erwiderung auf den Sterbeprozess und den Tod. Für den Toten Raum, Rom 2010 nutzt er erneut den Kryo-Tank Phoenix II aus Neapel, dieses Mal in Kombination mit ungeborenem Leben im Bauch einer Mutter, geknüpft an den Verweis auf Malewitsch‘ Vorstellung vom Nullpunkt und einem sich daran anschließenden Neubeginn. Gefragt nach dem Hilfsangebot der Kryonik, antwortet Gregor Schneider das Folgende: »The constant impossibility to imagine death sets off a violent storm of images and visions. With the corpses’ preservation through hibernation, the cryonic method asserts itself and for the patients it’s like the abrogation of death penalty. A so preserved body is dead for the doctor but the transhumanists think it to be a patient suspended from life. The Cryo-Tank Phoenix 2 exhibited in the show proofs the potential immortality by coming off in the form of a real corpse that, thanks to the preservation, is suspended between the dead and lives world. The next world in our world but like what?«427 Ob es begrüßenswert erscheint, dass der Mensch zukünftig wie ein Phönix wieder der Asche entsteigt, muss der Besucher des Toten Raum, Rom 2010 für sich entscheiden. Die Frage nach dem Wie und Wo wir hiernach sein werden, muss jedoch weiter unbeantwortet bleiben. Der Tote Raum, Rom 2010 entlässt uns nach einer erneuten Durchquerung der Kapelle und vorbei am Kryo-Tank Phoenix II wie durch einen Geburtskanal am Ende des Weißen Tunnels wieder nach draußen. »Der Tote Raum, Rom 2010 vermittelt über alle Befremdungen hinaus dem Betrachter bittere, aber nahrhafte Energien. Sie fließen aus der Überlagerung von physikalisch realen Räumen mit den inneren Räumen der Kunst. Sie sind Zentren des Denkens, Atmosphären des Fühlens, und sie sind Identifikatoren des Ichs. Sie geben dem, der sich in ihnen stellt, Orientierung und eine persönliche, in die eigene Geschichte hinein vermittelte Perspektive, einen Ernst und eine persönliche Gewissheit. Die mögen sich nicht als eine traditionelle frohe Botschaft fassen lassen, aber als eine innere Sicherheit und Identität, in der sich der Mensch inmitten aller Entfremdungen seiner Welt selbst neu findet.«428 Die Erfahrungen am Januar 2007. Dort musste man sich durch die Schwarze Sackgasse ähnlich dem Schwarzen Tunnel aus Toter Raum, Rom 2010 arbeiten, die vom Kellergeschoß der Fondazione Morra Greco 400 lange Meter in eine in der Nähe gelegene Kirche führte; vgl. u.a.: www.gregorschneider.de/biography.htm#currently [zuletzt aufgerufen am 27. Oktober 2016], MENNEKES, Art., 2008, n.p., sowie MENNEKES, Art., 2010, n.p. 426 Friedhelm Mennekes SJ, in: HÜLSWITT, S. 243-261, hier S. 245. 427 Gregor Schneider, in: Claudia Gioia, »About death and immortality. Dialogue with Gregor Schneider«, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 82-87, hier S. 86-87. Die Antwort auf die Frage, ob im Kryo-Tank Phoenix II tatsächlich ein suspendiertes Leben zugegen sei, ließ die Kuratorin Claudia Gioia in einem Gespräch mit der Autorin am 05. März 2015 offen. 428 MENNEKES, Art., 2010, n.p.

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schwarzen Endpunkt der Räume hinterlassen bleibende Spuren in unserem Bewusstsein. Der Mensch begreift sich nun nicht mehr als Endpunkt einer linear erzählten Geschichte, sondern eingebunden in den zyklischen Lauf des Werdens und Vergehens. Die furchteinflößenden Erfahrungen von Leere, Dunkelheit, Einsamkeit und Stille erweisen sich als ein Quell des ebenfalls von Edmund Burke in diesem Zusammenhang prognostizierten Sublimen und Erhabenen.   Schneider erweist sich in allem als zeitgenössischer Zeuge einer ganzen Generation. Jeder, der heute diese Orte der Stille oder jene Wohnräume mit ihren langsam verblassenden Erinnerungen – auch virtuell – betritt, fühlt eine unerklärbare, vor allem aber unangenehme Verbundenheit mit ihnen, und es tritt das Sich-Erinnern-Wollen‐abernicht‐können ein. Und umgekehrt. Vielleicht werden sich diese Räume zukünftig anhand ihres Mobiliars und der altmodischen Tapete überdauert haben. Das Prinzip-Schneider hat weiter Bestand. Es kann durchaus sein, dass deren Arrangements der nachfolgenden Generation aus dem Hause IKEA stammen werden. Ob wir einst auf einem IKEABett sterben werden? Mit Sicherheit kommt dies vor. Wo werden wir am Ende unseres Lebens die Versatzstücke unserer Erinnerung aneinander flechten dürfen? Wo werden wir die letzten Wochen, Tage, Stunden und Momente unseres Lebens erleben oder darben? An einem selbsterwählten Ort? Es ist nur folgerichtig, dass Gregor Schneider auch hierfür ein Angebot macht: den von ihm im Jahr 2008 gebauten Sterberaum. Der Raum, den er hierfür vorsieht, ist ein Nachbau aus dem Villenensemble und heutigem Museum Haus Lange und Haus Esters in Krefeld, welches von dem Architekten Mies van der Rohe 1927 entworfen und nach dessen Plänen 1930 fertiggestellt wurde. Gregor Schneider, der sich dem Haus eng verbunden sieht, empfindet ihn als »empfindsamsten und künstlerisch anspruchsvollsten« Raum, dessen lichtdurchflutete Weite einen »Ausdruck räumlicher Freiheit« biete.429 Die Fragestellung, der sich der Künstler annimmt, indem er – wie ehedem eine Küche oder ein Schlafzimmer – einen Sterberaum baut, lautet: »Warum sollen Künstler nicht humane Räume für den Tod und das Sterben hervorbringen, in denen auch Trauerarbeit praktiziert wird? Warum können wir den Tod nicht aus der Tabuzone herausreißen, wie eine Geburt feiern und ein Kunstwerk schaffen, in dem Sterbende bis zum Tod begleitet werden?«430 In dieser Absicht hält er in einer seiner Lagerhallen die Kopie des von Mies van der Rohe entworfenen Ideal-Raumes bereit, die jederzeit von einem Museum entliehen, dort aufgebaut und für die vorgesehenen Zwecke benutzt werden kann. Danach gefragt, in welcher Form und ob das Sterben in An- oder Abwesenheit von Museumspublikum geschehen würde, erläutert der Künstler: »Weder als Event noch als Skandalisierung oder Kommerzialisierung des Todes. Es geht um eine pietätvolle Form. Im Grunde um einen Gestaltungsauftrag. Unser ambivalentes Verhältnis zum Tod drückt sich darin aus, dass der uns fremd bleibende, befremdliche Tod fasziniert. Öffentliche Betrachtung durch 429 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 240. Für Schneider handelt es sich um das wichtigste Museum der Gegenwartskunst, vor allem, indem es sich anhand der ausgestellten Künstler den zeitgenössisch existentiellen Fragestellungen widmet. Auch Schneider hatte 1994 seine erste Museumsausstellung dort. 430 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 240.

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Zuschauer ist a priori pietätlos.«431 Damit werfen Fragesteller sowie der die Frage Beantwortende eine – wenn nicht die! – grundlegendste Problematik des Vorhabens auf: Gerade, weil der Tod als gewalttätiges Ereignis empfunden wird, zieht er die Blicke des Zuschauers auf sich. Der Museumsbesucher bezieht so nolens volens die Betrachterposition eines Voyeurs, der auf Kosten des Anderen Anschauung zu nehmen, im schlimmsten Fall seine unethische Neugier zu befriedigen gekommen war.432 Gregor Schneider ist es daran gelegen, diesen voyeuristischen Bestrebungen entgegenzuwirken, da man den Tod nicht im Rahmen eines die Zeiten überdauernden Kunstwerkes seines temporären Charakters berauben dürfe: »Es ist ein vergängliches Ereignis, das geschieht. Der Kunstraum kann die nötige Würde schaffen, um das Sterben und den Tod auch öffentlich sichtbar zu machen. Das ist mein Wunsch. Das reale Ereignis zu filmen, interessiert mich persönlich nicht.«433 Vielmehr möchte er einen Schutzraum für den Sterbenden und dessen Angehörige zur Verfügung stellen, in dem es diesen überlassen sei, wie sie diesen Raum nutzen möchten, ob eine rein private Atmosphäre gewünscht sei, die durch einen separaten Eingang gewährleistet wäre, und ob es eine Besucherregelung geben solle.434 Die Beweggründe für den Gebrauch des Raumes seien dabei vollkommen dem Nutzer überlassen, Gregor Schneider könne darüber lediglich spekulieren: »Es gibt verschiedene Motive, weshalb Menschen sich darauf einlassen könnten. Ein Grund könnte sein, dass jemand möchte, dass sein Sterben dokumentiert oder plastisch verbildlicht wird. Auch wäre möglich, dass Menschen dagegen aufbegehren, den zweiten Tod zu sterben, der mit dem absoluten Vergessen eintritt. Es kann auch pure Not sein. Die Angst vor dem Tod, vor Einsamkeit, medizinischer Überversorgung. Ich selbst interessiere mich für den Raum vor oder nach einem Ereignis. Was passiert in welcher Form auch immer mit dem Raum im Verhältnis zu dem Sterbenden oder demjenigen, der den Raum betritt?«435 Die Empörung ob des Vorhabens ist bis heute groß. Noch ohne die Räume jemals zur Anwendung gebracht zu haben – sie wurden lediglich zwei Mal als Raum ausgestellt –, sieht sich der Künstler mit Vorwürfen konfrontiert, seine Überlegungen seien 431 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 242. 432 Peter Springer nennt hier das Beispiel der US-amerikanischen Wachkoma-Patientin Terri Schiavo, deren medial übermittelter Sterbeprozess und Tod am 31. März 2005 durch das Abschalten der künstlich lebenserhaltenden Maschinen herbeigeführt wurde. Das Medienspektakel wurde lediglich wenige Jahre davor durch die Berichterstattung der aus den New Yorker Twin-Towers in den Tod Springenden nach den Angriffen des 11. September 2001 überboten. Vgl. hierzu: SPRINGER, S. 393-394 und S. 408. 433 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 245. Gergor Schneider spielt hier auf Bill Violas 1992 entstandene Videoinstallation Das Nantes Triptychon an, in dem der Künstler die Geburt seines Sohnes auf der linken Seite und den Tod seiner Mutter auf der rechten Seite zeigt. Auch an Sophie Calles Film über den Tod ihrer Mutter von 2007 ließe sich denken. Vgl.: Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 244-245. 434 Vgl.: Gregor Schneider, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 82-87, hier S. 84, sowie Gregor Schneider, in: BOFINGER, Karen, »Gregor Schneider. Kunstskandal. ›Ich will die Schönheit des Todes zeigen‹«, in: art-Magazin Online, 22. April 2008, n.p., auf: www.art‐magazin.de/kunst/9079-rtkl‐gregorschneider‐kunstskandal-ich‐will-die‐schoenheit-des‐todes-zeigen [zuletzt aufgerufen am 28. Oktober 2016]. 435 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 240.

Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

geschmacklos, makaber, würde- und pietätlos, eine plumpe Provokation und das Brechen eines letzten, unantastbaren Tabus.436 Die von Friedhelm Mennekes als »seltsam irrationales Gewitter von Blitzen der Verdammnis« gegenüber dem Künstler bezeichnete ungerechtfertigte Entrüstung der Medien, ist jedoch eine erklärliche wie die Kapitel zum Tabubruch in der modernen Gesellschaft dieser Schrift unter Beweis stellen. Mennekes fährt dennoch fort, den Gedanken des Sterbens im öffentlichen Raum zu rechtfertigen: »Gregor Schneider hatte die Institution des Museums enger an die Sinnfragen des Alltags anbinden wollen. Das Erleben des realen Todes und das vom Leben getriebene Fragen sollten nicht länger nur den frommen Winkeln und den kalten Krankenhausecken überlassen bleiben. Sein Projekt: Das Museum als Sterbezone. Der Tod als ein Ereignis inmitten von Bildern. […] Dabei zielt der Künstler doch nur auf etwas sozial sehr nahe Liegendes ab: Er will die Verdrängung des Todes in unserer Kultur und seine Formlosigkeit entlarven.«437 Die Entlarvung ist allemal eine gelungene. Die von Mennekes monierten Sinnfragen sind es, die wir nicht mehr gewillt sind zu stellen, denn es besteht kein Interesse daran, den Tod real erlebbar zu machen, diesen als Teil unseres Alltags anzuerkennen. Ganz im Gegenteil befürworten wir dessen Verdrängung, um die Unbestimmtheit in seiner Ausübung beizubehalten und der Formlosigkeit seiner körperlich‐abjekten Auswirkungen nicht wahrhaftig werden zu müssen. Die Vertrautheit mit dem Tod, welche diesen zu einem gezähmten machen könnte, ist uns abhandengekommen.438 Gregor Schneiders Anliegen, rational über den Tod sprechen zu wollen, muss deshalb fehlgehen, wirkt beinahe naiv in seinem Glauben, sich für die Selbstbestimmung des Menschen angesichts seines Todes einsetzen zu können.439 Und dennoch bedarf es ausgerechnet dieser so wenig argwöhnischen Betrachtung des Todes, um zu einem versöhnlichen Umgang mit ihm zurückzufinden. Vehement weist Schneider deshalb den Vorwurf der Skandalisierung des Todes im Rahmen seiner Kunst zurück. Skandalös findet er dahingegen die derzeitige Realität des Sterbens, wie sie auch in den vorhergehenden Kapiteln dieser Schrift erörtert wurde.440 Bislang ist man zumindest bemüht, das Bestattungswesen in eine positive Richtung zu reformieren, indem man nachfühlt, welch schützenden und privaten Rahmen man den Hinterbliebenen zur Verfügung stellen möchte, um angemessen vom Verstorbenen Abschied nehmen zu können.441 Ebensolche Überlegungen, die den Sterbevorgang als solchen betreffen, bedürfen jedoch weiterhin immenser Verbesserungen und Korrekturen, obschon man in privaten Sterbehäusern oder Hospizen erste Anstrengungen unternimmt, dem Sterbenden eine sowohl medizinisch betreute wie würdevolle Umgebung anzubieten. Ein nächster Fortschritt wäre es, dem Todgeweihten die Wahl zu lassen, wo sich 436 Proteste, Vorwürfe wie Drohungen sind u.a. wie folgt nachzulesen in: BOFINGER, Art., 2008, n.p.; JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 244; LIEBS, Art., 2010, n.p.; SCHREIBER, Matthias, »SKANDALE. Die Bürgerhasser«, in: Der Spiegel online, 28. April 2008, 18/2008, n.p., auf: www.spiegel.de/spiegel/print/d-56756393.html [zuletzt aufgerufen am 28. Oktober 2016]. 437 MENNEKES, Art., 2008, n.p. 438 Vgl. hierzu Kapitel II.3.2 sowie ARIÈS, S. 42-43. 439 Vgl.: Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 241-242 und S. 244, sowie Gregor Schneider, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 82-87, hier S. 84. 440 Gregor Schneider, in: BOFINGER, Art., 2008, n.p. 441 Vgl.: Antje Kahl, in: MACHO, S. 151-163, hier S. 159.

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Existentielle Grenzerfahrungen

diese Umgebung erzeugen ließe. Gregor Schneider bietet als Experiment den musealen, von Kunst umgebenen Rahmen an, denn sein Sterberaum ist »als Kunstwerk ein Raum im Raum, in dem ein Mensch real Abschied vom Leben nehmen könnte, liebevoll, würdevoll; umgeben von Kunst, reduziert in der Angst, begleitet von Freunden, offen für Besuche. Belegt oder frei, steht dieser Raum für eine Kunst, die sich dem Menschen öffnet und von Tabuzonen befreit.«442 Schneiders Sterberaum vermag demnach zweierlei: einmal dem Tod eine mindestens ebenbürtige Umgebung zu schaffen und damit zum zweiten gleichfalls ein Tabu zu beseitigen, indem es gebrochen wird. Und Gregor Schneider ergänzt diese Vorstellung wie folgt: »Es wäre doch wunderbar, wenn jeder sich seinen eigenen Raum bauen, also bestimmen könnte, wo er stirbt. […] In dem bewohnbaren Raum stünden das Befinden des Sterbenden, die Linderung von Schmerzen und Beschwerden, die Hilfe bei sozialen und spirituellen Problemen im Vordergrund. Als Bildhauer nähme ich mich vollkommen zurück. Weil mit sterbenden oder toten Körpern Gebrechlichkeit, Verwundbarkeit und Zerstörung, also nichts Ideales assoziiert wird, werden ihnen beängstigende Eigenschaften zugeschrieben. Ideal wäre ein sanfter Tod ohne quälende Krankheit. Das würde der Dämonisierung des Todes entgegenwirken.«443 Folgende, den Tod betreffende, letzte Dinge sind in der Tat nicht nur erstrebenswert, sondern – in medizinischer wie juristischer Hinsicht – weitestgehend erfüllbar: die Selbstbestimmung des Patienten, eine Sterbebegleitung, die medizinische Linderung von physischer Pein und die medikamentöse Besänftigung von Ängsten – all dies Wege, ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. Weiterhin einem Trugschluss unterlegen wäre man jedoch, wenn man auch die Aufhebung der seelischen Pein des Sterbenden, des abjekten Körpers, die Gewaltsamkeit des Todes zugunsten eines Ideals, dem sanften Tod, proklamierte. Denn es gibt ihn nicht, den schönen Tod, der weder dem Mensch-Sein noch unseren damit verbundenen Tabus zu Leibe rücken könnte. Dessen ist sich auch Gregor Schneider bewusst: »Der Tod ist ein privater und intimer Vorgang, der meistens nicht schön ist. Ich würde gern in einem von mir ausgewählten Raum, einem privaten Bereich des Museums, sterben, umgeben mit Kunst. Meine Hoffnung ist es, schön, erfüllt zu sterben. Vielleicht schaffen wir das alle, wenn wir den Tod aus der Tabuzone befreien und zu einem positiven Erlebnis machen wie die Geburt eines Kindes.«444 Der vom Künstler als »schön« bezeichneter Tod ist also eher gleichzusetzen mit dem von Philippe Ariès oder Michail Bachtin skizzierten Tod, einem gezähmten Tod, dessen Grundlage – wie einst – sowohl auf seiner faktischen wie moralischen Akzeptanz beruhte. Jedoch fehlt in der modernen Gesellschaft eine Akzeptanz jedweder Ausrichtung. Der Tod ist auch deshalb nicht gebändigt, weil er heute dem Tabu unterliegt und dadurch aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Während noch bis vor etwa 200 Jahren ein Sterben praktiziert wurde – und auch unter den historischen Umständen 442 MENNEKES, Art., 2010, n.p. 443 Gregor Schneider, in: JOCKS, Art., 2008, S. 239-245, hier S. 241. 444 Gregor Schneider, in: MEISTER, Helga, »Gregor Schneider: ›Ich soll mich umbringen‹«, in: Westdeutsche Zeitung, 22. April 2008, n.p., auf: www.wz‐newsline.de/home/kultur/kunst/gregor‐schneiderich‐soll-mich‐umbringen-1.226568 [zuletzt aufgerufen am 28. Oktober 2016].

Körper, Krankheit und Tod in der zeitgenössischen Kunst

werden musste –, an welchem sowohl die Familie wie auch die Öffentlichkeit Teil hatte, indem diese im wahrsten Sinne des Wortes Anteil nahmen, welches einen unverhohlenen Umgang mit dem Tod und den Toten einforderte, stirbt man in der modernen Gesellschaft zwar in öffentlichen Einrichtungen, jedoch sind diese eigens dafür gemacht, den Tod im Verborgenen geschehen zu lassen. Der öffentliche Tote, wie dies Gregor Schneiders Sterbezimmer für die Allgemeinheit zur Disposition stellt, ist deshalb undenkbar und geschieht heute nur mehr in den seltensten Fällen oder sofern das Interesse nicht dem Toten, sondern seinem Amt und dessen Funktionen gilt.445 Den Tod aus der Öffentlichkeit zu verbannen, heißt aber auch, dessen Rolle im Entstehen des Weltganzen zu negieren, seine Ambivalenz zu leugnen, der eine weltanschauliche Tiefe und Kraft zu eigen ist, Energie freizusetzen vermag, die das Lachen und Weinen, das Oben und Unten, die Wiege und das Grab gleichermaßen denkt.446 Wenn Gregor Schneider den Tod zu einem positiven Ereignis gleich einer Geburt aufwerten möchte, so ist dies nichts anderes als das »festliche Weltgefühl«, das Michail Bachtin beschreibt und das sowohl im Moment des Todes und der Ablösung als auch in demjenigen der Wiedergeburt und Erneuerung zum Tragen kommt.447 In diesem Sinne spricht auch Philippe Ariès von vier Parametern, die seines Erachtens den Tod wieder zu einem gezähmten werden lassen könnten448 : da wäre einmal die Bekräftigung, dass der Tod kein alleine individueller Akt ist, sondern in einer feierlichen Zeremonie von allen getragen wird, zweitens die Anerkennung des Todes als den Verlust eines Individuums, drittens der Respekt vor der Tatsache, dass das Leben zwar ein Ende hat, dieses physische Ende aber »von kaum bekannten Bedingungen im Jenseits ab[hängt], von der Intensität nach dem Tod« wie er von den verschiedenen Heilsreligionen abhängig ist, und zuletzt fordert Ariès Akzeptanz für »Parameter 4.: Der Tod kann gezähmt, der blinden Gewalttätigkeit der Naturkräfte entkleidet und ritualisiert werden, er wird jedoch nie als neutrales Phänomen erlebt. Er bleibt stets ein mal‐heur, ein Unglück zur Unzeit.«449 Der Tod ist weiterhin dasjenige, was wir aus unserer Erfahrungslosigkeit heraus niemals vorab zu erahnen in der Lage sein werden. Schlafes Bruder kann dabei auch einem Heilsversprechen gleichkommen, welches Michel Serres mit einer Kur vergleicht: »Die Kur in Epidauros bestand in Schlafen und Träumen: Der Kranke sollte hören, was sein kranker Körper aussendete. Er war geheilt, wenn er das Schweigen der Organe erreicht hat.«450 Gregor Schneider offeriert mit seinem Sterberaum eine weitere Möglichkeit, sich auf den eigenen Körper zu besinnen und diesem ein letztes Mal Gehör zu schenken.   Mit Gregor Schneider schließt sich nach ORLAN und Hannah Wilke der Kreis des Weltenlaufs ein weiteres Mal. Es ist ein Kreislauf, den nicht etwa die Zeitgenossen er445 Etwa beim Tod eines Papstes oder Monarchen. Daten zu den Zuschauerzahlen beim Tod Johannes Paul II. eruiert: Dominic Olariu, in: MACHO, S. 59-78, hier S. 70. 446 Vgl.: BACHTIN, S. 61 447 Vgl.: BACHTIN, S. 57. 448 Vgl.: ARIÈS, S. 774-777. 449 ARIÈS, S. 777 [kursive Hervorhebungen durch Philippe Ariès]. 450 SERRES, Die fünf Sinne, S. 139.

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dacht hätten, sondern ein Kreislauf, den die Zeitgenossen neu denken und seit Jahrhunderten erstmalig wieder in seinem schonungslosen wie unerbittlichen, aber zugleich in seinem ehrlichen wie tröstlichen Fortgang in ihrer Kunst anschaulich machen. Er verifiziert am Ende die Metamorphose unseres grotesken Körpers, der sich vom unversehrten zum versehrten, vom jugendlichen zum alternden und vom lebendigen hin zu einem leblosen Leib bewegt. Ein umgekehrter Verlauf ist undenkbar. Ein fortlaufender Kreislauf jedoch, eine Bewegung, die immer wieder auf ein Neues beginnt, sehr wohl. ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider suchen die Zeit nicht mehr als die uns heute bekannte linear verlaufende Parallele zu illustrieren, sondern fordern unser Denken und Begreifen in Zyklen ein.451 Dass der Körper hierfür seine Grenzen überschreiten muss und wird, ist selbstredend. Dass dabei zum Vorschein gelangt, dass in diesem Körper zwei Leiber vereint sind – der gebärende und dabei absterbende Leib als auch das empfangene und ausgetragene Leben – ist Teil dieser Vereinbarung von Leben und Tod.452 Wenn Rabelais und mit ihm auch ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider die Ränder eines sich in Auflösung befindlichen Körpers zur Schau stellen, dann aus dem folgenden Grund: »Wo Tod ist, ist auch Geburt, Ablösung, Erneuerung. Umgekehrt ist auch das Motiv der Geburt ambivalent; es erfasst den Rand des sterbenden Körpers.«453 Das Bewusstsein für eine hieraus resultierende gesellschaftliche Utopie von der historischen Unsterblichkeit eines Volkes, erscheint in einer post‐modernen Ära des Massenindividuums jedoch unverständlich und inakzeptabel. Die entsprechend nach wie vor angsteinflößende Vorstellung unserer Endlichkeit bricht Tabus, alleine, indem sie gedanklich nachvollzogen wird. Spätestens wenn sie in Bildern vor unserem Auge ertsteht, befinden sich die Grenzen unserer Existenz zweifelsfrei in Auflösung, vermögen Exzess und unkontrollierbare Emotionen auszulösen. Der Terror und das Sublime liegen auch hier nahe beieinander: »No passion so effectually robs the mind of all its powers of acting and reasoning as fear; for fear being an apprehension of pain and death, it operates in a manner that resembles acute pain. Whatever therefore is terrible, with regard to sight, is sublime too, whether this cause of terror be endued with greatness of dimension or not; […] Indeed terror is, in all cases whatsoever, either more openly or latently the ruling principle of the sublime.«454 Der von Edmund Burke vorhergesehene akute Schmerz, der uns angesichts der eben erörterten Kunstwerke überkommt, lässt uns erstarren und führt zu einer gedanklichen Unfähigkeit. Was sich stattdessen ob der Darstellung von Tabubrüchen das Mensch-Sein betreffend einstellt, ist das von Jill Bennett beschriebene »seeing feeling«455 , welches all unsere Sinne taktiert und traktiert. Was also richten Künstler wie ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider emotional in uns an, indem sie den grotesken und damit erhabenen Körper unter Beweis stellen und auf welche Weise – und vor allem: zu welchem Preis?

451 452 453 454 455

Vgl.: BACHTIN, 74-76. Vgl.: BACHTIN, S. 76. BACHTIN, S. 456. BURKE, S. 53. BENNETT, S. 22.

IV. Die Grenzen des Ich: Begegnungen und Überschreitungen in der zeitgenössischen Kunst

»Das Typische läßt kühl, nur das als individuell Verstandene macht, daß wir außer uns geraten. Dies ist die Ruhe der Wissenschaft.«1 Angesichts des Todeskampfes des engelsgleichen Knaben Nepomuk, lässt Thomas Mann in seinem Roman »Doktor Faustus« den Ich-Erzähler Serenus Zeitblom diese Bemerkung machen. Der von allen geliebte kleine Nepomuk, der an einer Hirnhautentzündung erkrankt war, sollte innerhalb von nur zwei Wochen an diesem qualvollen Leiden dahinsiechen und eines entsetzlichen, unansehnlichen Todes sterben. Letzteres ist der garstigen Faktizität dieser unheilbaren Erkrankung geschuldet, deren Ausgang vom Arzt – gemäß der Ruhe, die er behufs der Wissenschaft sein Eigen nennen kann – recht pragmatisch gleich zu Beginn des Ausbrechens prognostiziert worden war. Ersteres aber, dass dieses hässliche Ende den von allen so sehr vergötterten Jungen betreffen würde, führt zu dem von Zeitblom festgestellten Außer‐sich-Geraten aller am Prozess Beteiligten. Als Individuen haben wir verstanden und es schmerzt, dass uns etwas Liebgewonnenes genommen wird. Und auch wenn das Grauen nicht unser Selbst belangt, sondern den geliebten Anderen, stoßen wir in dessen Anschauung an die Grenzen unseres eigenen Daseins. Außer‐sich-Geraten heißt dabei nichts anderes, als seine eigenen existentiellen Grenzen zu erfahren. Da sich unser Selbst aber gleichzeitig über das Bild, das die Anderen von uns haben definiert, wissen wir, dass wir in allem miteinander verbunden sind. Das Selbst generiert sich über den Anderen und umgekehrt ereilen die Widerfahrnisse der Anderen auch eines Tages unser eigenes Selbst. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, wenn Thomas Mann den Kleinen kurz vor seinem Tode den folgenden, wenig kindlich‐naiven, dafür theologisch‐spekulativen Gedanken in ein Gute-Nacht-Gebet kleiden lässt: »Merkt, swer für den andern bitt‘,/Sich selber löset er damit./[Nepomuk] bitt‘ für die ganze Welt,/Daß Got[t] auch ihn in Armen hält. Amen.«2 Die in diese Fürbitte gelegte Uneigennützigkeit ist keine. Angesichts der Leiden der Anderen, bitten wir niemals 1 MANN, Thomas, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947), Frankfurt a.M. 33 2002, S. 627. 2 MANN, Doktor Faustus, S. 623.

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alleine für diese, sondern in unserem Innersten erflehen wir immer auch, dass es uns nicht ebenso ergehen möge. In dieser Weise blicken wir freilich nicht nur auf die uns leibhaftig am Herzen liegenden Nahestehenden, sondern gleichfalls auf dasjenige Gegenüber, welches sich uns im Rahmen einer grenzüberschreitenden Kunst offenbart. Auch wenn hier eine innige, private Beziehung fehlen mag, so sind es die Thematik und der strategische Tabubruch, die uns zunächst einmal hinsehen und in einem zweiten Schritt wieder wegsehen lassen, um das Gesehene mit einem Bannkreis zu umhegen. Die Erkenntnis, dass ein Leugnen der aufgezeigten Grenzen nicht möglich sein wird, lässt uns in einem dritten Schritt die soziale, kulturelle wie individuell‐psychische und auch körperliche analytische Arbeit mit der erfahrenen Transgression beginnen.3 Eben dies liegt in der Absicht grenzüberschreitender Kunst: »The response to the work was part of the work.«4 Dass dabei Kunstwerke auf uns wirken sollen, ist nicht das neuartige des Gedankens einer im Jahr 2000 erstmals von Nicolas Bourriaud als solches bezeichneten Relational Aesthetic. Vielmehr geht es um eine Interaktion zwischen der Kunst und dem Betrachter, die sich sowohl auf einer physischen wie auf einer geistigen Ebene zuträgt und damit einhergehend die eben genannten analytischen Betrachtungen anstellen lässt. An einer Transgression teilzuhaben, bedeutet dabei auch, sich mit äußerst konträren Gefühlen konfrontiert zu sehen, gar unterlegen zu wissen: einer affirmativen Erregung und einer ablehnenden Bestürzung. Georges Bataille spricht in diesem Zusammenhang von der Ekstase und dem Schrecken: »Um bis ans Ende der Ekstase zu gehen, wo wir uns im Sinnengenuß verlieren, müssen wir immer eine unmittelbare Grenze ziehen: diese Grenze ist der Schrecken. Nicht nur der Schmerz anderer oder mein eigener vermag mich dem Augenblick näherzubringen, in dem mich der Schrecken erfaßt, um in mir den in das Delirium übergehenden Freudenzustand zu erzeugen, sondern es gibt keine Form des Widerwillens, bei der ich nicht eine Affinität zum Verlangen ausmachen kann. Der Schrecken vermischt sich zwar nie mit der Anziehung; aber wenn er sie nicht verhindern, zerstören kann, verstärkt der Schrecken die Anziehung. Die Gefahr lähmt, aber wenn sie weniger bedrohlich ist, kann sie das Verlangen erregen. Wir erreichen die Ekstase nicht, wenn wir nicht – und sei es nur von ferne – den Tod, die Vernichtung vor uns sehen.«5 In diese von Bataille beschriebene Ekstase geraten wir nur, sofern das Leid den Anderen betrifft. Gemeinhin wird diese Affinität zum Leiden der Anderen als Voyeurismus bezeichnet. Und Bataille fährt im nächsten Absatz fort: »Ein Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß ihn bestimmte Empfindungen im Intimsten verwunden und auflösen. Die Empfindungen sind verschieden, je nach Individuum und je nach Lebensgewohnheiten. Aber den Anblick von Blut, der Geruch von Erbrochenem erwecken in uns den Schrecken des Todes und versetzen uns manchmal in einen Zustand von Ekel, der uns grausamer trifft als der Schmerz. Wir ertragen diese mit höchstem Schwindelgefühl verbundenen Empfindungen nicht. Manche ziehen den Tod der Berührung mit einer noch so harmlosen Schlange vor. Es gibt einen Bereich, in dem der Tod nicht das bloße 3 Vgl.: JENKS, S. 186. 4 JULIUS, S. 176. 5 BATAILLE, Die Erotik, S. 260 [kursive Hervorhebungen durch Georges Bataille].

Die Grenzen des Ich

Verschwinden bedeutet, sondern jenen unerträglichen Aufruhr, in dem wir gegen unseren Willen verschwinden, während wir nur um keinen Preis verschwinden dürften. Gerade dieses um keinen Preis, dieses gegen unseren Willen zeichnet den Augenblick der äußersten Freude und der unnennbaren, aber wunderbaren Ekstase aus. Wenn es nichts gibt, das uns übersteigt, das uns gegen unseren Willen übersteigt, weil es um keinen Preis sein darf, erreichen wir nicht den Augenblick, in dem wir von Sinnen sind, den wir mit allen unseren Kräften anstreben und gegen den wir uns zugleich mit allen Kräften wehren.«6 Nicht die Schmerzempfindung am eigenen Leibe also ist es, die uns am meisten erschauern lässt, sondern es sind der Schmerz des Anderen, dessen Ende und damit all das, was wir für unser eigenes Sein vehement von uns weisen, was unser Innerstes trifft und uns zum Mitfühlen zwingt, was zu einer Erleichterung unserer Sinne verhilft und letzten Endes zur Katharsis führt. Indem wir gleichzeitig in Ekstase und Schrecken geraten, angesichts von Kunstwerken, die uns hinsehen und zurückfahren lassen, werden wir an den Verlust unserer Identität und die Grenzen unserer Existenz herangeführt. Denn: »It is in our reaction to what is disagreeable that we most readily discover ourselves.«7 Für die oben beschriebenen Kunstwerke und ihren dabei zum Einsatz kommenden tabubrechenden Strategien, muss im Folgenden überlegt werden, welche Funktionen dem Voyeurismus sowie dem Anspruch auf eine kathartische Erfahrung beigemessen werden dürfen, um im Anschluss daran ergründen zu können, welche Konsequenzen hieraus für unser Identitäts-Empfinden erwachsen.

IV.1 Vom Umgang mit der eigenen Existenz Um mit der eigenen Existenz verständigen Kontakt herzustellen, kann man zunächst auch hier wieder auf »die Ruhe der Wissenschaft«8 setzen, denn in der Forschung bewahren sowohl die Philosophie, die Sozialwissenschaften als auch die Psychoanalyse einen kühlen Sachverstand, der die typischen und notwendigen Unterscheidungen zwischen dem Körper und der Seele, der Identität des Selbst und derjenigen des Anderen sowie deren gegenseitiges aufeinander Einwirken und zuletzt eine Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Ich zu treffen vermag. Hierfür ist es wiederum wichtig, sich die Diskrepanz beziehungsweise das SichErgänzende der beiden Parameter von Körper-Haben und Leib-Sein in Erinnerung zu rufen: »[T]he first gets at complex neurophysiological processes that serve as the casual basis for the second, certain global or structural features that characterize the way the body is ›lived‹ and the way it is engaged with things of significance and its surroundings.«9 Der Körper ist ein materieller Gegenstand, welcher ein Aussehen besitzt, von Organen am Leben erhalten wird und Dinge von sich gibt. Gleichzeitig ist unser Körper ein Leib, welcher in der Welt eingebunden ist. Dessen äußere Hülle wird deshalb in 6 7 8 9

BATAILLE, Die Erotik, S. 260-261[kursive Hervorhebungen durch Georges Bataille]. JULIUS, S. 190. MANN, Doktor Faustus, S. 627. Donn Welton, »Introduction«, in: WELTON, Donn (Hg.), Body and Flesh. A Philosophical Reader, Malden, Massachusetts, 1998, S. 1-8, hier S. 3.

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Existentielle Grenzerfahrungen

ihrem Aussehen von anderen wahrgenommen, umgekehrt nehmen die Körperorgane die Umwelt wahr und in sich auf und zuletzt ist es Intention dieses Leibes, mit der ihn umgebenden Welt zu interagieren. Unser Körper atmet also nicht nur, damit er lebt, sondern er lebt zugleich, weil er Atem schöpft. Der Dualismus zwischen der res cogitans und der res extensa, wie er von Descartes gezeichnet wird und den Menschen zweiteilt in ein idealistisch und ein materialistisch agierendes Wesen, ist in diesem strikten Sinne weder haltbar noch gegeben, denn: »The lived body is ›intertwining‹ […], both perceiver and perceived, intentional and material.«10 Unser Leib-Sein, welches in Form seiner Identität intentional tätig werden und nach außen hin und damit mit den Anderen in Interaktion treten kann, lässt sich wiederum in drei Instanzen untergliedern: das Ich, das Subjekt und das Selbst.11 Noch bevor sich das Subjekt und das Selbst ausbilden können, entwickelt sich das Ich in einem unbewussten Organisationsprozess, der aus einem Miteinander von äußeren Einflüssen – durch zum Beispiel die erziehende Person und die Umgebung – und deren innerem Erleben entsteht. Da sich das Ich in seiner Entwicklung immer auch auf ein außenstehendes Objekt bezieht, finden sich im Ich Haltungen und Empfindungen dieser Bezugspersonen wieder, derer wir uns nicht immer bewusst sind. Im Ich spiegeln sich in einem komplexen System all unsere psychischen Strukturen, die auf einer ganz persönlichen Entwicklungsgeschichte basieren. Im Gegensatz zum Ich entwickelt sich das Subjekt zuletzt. Das Subjekt erscheint erst dann auf der Bildfläche, sobald wir die Existenz des Selbst und der Anderen in eine sinnvolle Relation zueinander setzen können. Hierfür ist es notwendig, noch davor ein Selbst auszubilden. Das Selbst wird nicht von einer Einheit gebildet, die plötzlich ins Leben gerufen wird. Vielmehr befindet sich das Selbst in einem ständigen Prozess der Fortentwicklung, der im Säuglingsalter, in der Kindheit und in der Jugend seine großen Schritte absolviert, aber auch im Erwachsenenalter nicht enden will. So besteht das Selbst aus unendlich vielen, im Verlaufe des Lebenszyklus hinzukommenden Facetten, die jeweils erst dann eine gesicherte Existenz annehmen, sobald sie von uns verifiziert und objektiviert werden konnten. »Das eine, einheitliche mentale Phänomen, das wir Selbst nennen könnten, gibt es nicht […]. Man könnte sagen, wir alle leben im Reich der Illusion, und dort kommt der Vorstellung des Selbst herausragende Bedeutung zu.«12 Das Selbst beruft sich in diesem Findungsprozess im besten Falle gleichermaßen auf das eigene Empfinden wie auf die Perspektiven der Anderen. Nur indem wir »verschiedene und voneinander gesonderte Seinserfahrungen registrieren, spüren, beobachten und reflektieren«13 , kann eine ausgeglichene Konvergenz der verschiedenen Positionen eintreten. Die Sicht des Anderen übernimmt so eine wichtige, das Selbst formende und festigende Rolle, die Christopher Bollas wie folgt bewertet: »Indem wir nacheinander mannigfache Perspektiven einnehmen, unter denen wir dann jeweils unser Sein zu Selbst-Zuständen objektivieren können, bilden wir über einen langen Zeitraum hinweg einen Sinn für die Beziehung zu uns selbst aus. Unser Selbst besitzt 10 Drew Leder, »A Tale of Two Bodies: The Cartesian Corpse and the Lived Body«, in: WELTON, S. 117-129, hier S. 124. 11 Die Darstellung der drei Instanzen folgt dabei: BOLLAS, Christopher, Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte: Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung (1987), Stuttgart 2 1997, S. 19-22. 12 BOLLAS, S. 21. 13 BOLLAS, S. 21-22.

Die Grenzen des Ich

Kontinuität über die Zeit hinweg und verfügt über seine eigene Geschichte.«14 Dieser Kontinuität sind aber auch Grenzen gesetzt. Eine solche Feststellung scheint zunächst dem hier ausgebreiteten psychoanalytischen Entwurf Bollas’ zu widersprechen, der von einer grenzenlosen Entwicklung des Selbst ausgegangen war. Die natürliche Grenze, die einem universellen Verständnis des Selbst gesetzt ist, ist unser Unterbewusstsein. Falls wir im Stande sind, auch das Unterbewusste an die Oberfläche zu kehren – Bollas nennt es das »ungedachte Bekannte«15 –, kann diese Grenze überwunden werden. Damit das Selbst sich weiterentwickeln und so das Subjekt sich einem Wandel unterziehen kann, haben wir Sehnsucht nach Objekten – das kann ein Mensch, ein Ort, eine Werbeversprechung, ein Ereignis oder eine Ideologie sein16 –, die in uns Erinnerungslücken zu schließen in der Lage sind. Vor allem aber gelingt es der Kunst, das »ungedachte Bekannte« aus unserem Unterbewusstsein zuoberst zu fördern. Christopher Bollas beschreibt wie und warum dem so ist: »Im ästhetischen Augenblick […] spürt das Individuum gewöhnlich einen tiefen subjektiven Rapport mit einem Objekt (mit einem Gemälde, einem Gedicht, einer Arie oder Symphonie oder mit einer Landschaft in der Natur) und erlebt eine unheimliche Verschmelzung mit dem Objekt. Hierdurch wird ein Ich-Zustand wachgerufen, der im frühen Seelenleben vorherrschend war. Allerdings verdienen solche Ereignisse, so bedeutungsvoll sie auch sein mögen, nicht so sehr wegen der Verwandlung Beachtung, die sich dabei vollzieht, sondern weil sie den Charakter des Unheimlichen haben. Sie sind von dem Empfinden begleitet, man werde an etwas erinnert, das man nie kognitiv erfaßt, aber immer existentiell gewußt hat. […] Solche ästhetischen Augenblicke fördern keine Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis oder an eine bestimmte Beziehung zutage, sondern lassen ein körperlich‐seelisches Verschmelzungsempfinden aufsteigen, in dem sich das Subjekt des Verwandlungsobjektes entsinnt.«17 Die erzeugte Ehrfurcht vor dem Objekt ist dabei weder unbedingt noch ausschließlich ein mit positiven Gefühlen behaftetes Erlebnis. Und obwohl Bollas’ Aussage meist dahingehend gelesen wird, ist die ästhetische Erfahrung, von der er spricht, auch ein Rendezvous mit dem Unheimlichen, eine Verdichtung von Raum und Zeit und ein Verschmelzen des Subjekts mit dem Objekt. Ein kathartisches Erlebnis, das zeigt, dass »[d]ie starre Abgrenzung zwischen perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen […] sich am Ende als weitgehend künstlich [entpuppt].«18 Es ist die ganzheitliche Wahrnehmung unseres Seins, inklusive der von Bataille genannten existentiellen Grenzen von Sex, Gewalt und Tod, der das Erfahren der oben genannten Kunstwerke zu einer kontrollierten Abreaktion verhelfen können.

14 BOLLAS, S. 22. 15 Siehe hier den Titel seiner Schrift »Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte: Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung«. 16 Vgl.: BOLLAS, S. 26. Bollas bezeichnet diese als »Verwandlungsobjekte«, siehe S. 28ff. 17 BOLLAS, S. 28. 18 RIZZOLATTI, Giacomo und Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M. 2008, S. 13.

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IV.1.1 Der Voyeur im Betrachter: Über die Selbstwahrnehmung des Ich Zu schauen ist die gängigste Rezeptionshaltung in der bildenden Kunst. In Museen und Galerien Kunstwerke nicht berühren zu dürfen, ist eine verbreitete und gebräuchliche Vorgabe, die dem Schutz der Werke dient und den Besucher zu einem macht, dessen Sinneseindrücke auf das Visuelle reduziert werden: einem Betrachter. Doch obschon der Wahrnehmungsprozess auf das Sehen beschränkt ist, drohen auch hier erhebliche Risiken. Dies zum einen, weil die Augen den Theologen bereits seit dem frühen Mittelalter als »Einfallspforte der Sünde« galten und damit als anuntii fornicationis die Vorboten der Unzucht waren, indem sie ob des Erhaschens begehrter Objekte das Verlangen schürten, dadurch die Tugenden verdarben und all jenes dem Menschen zur Kenntnis brachten, was dieser nicht sehen sollte, wollte er nicht in Ungnade vor dem Gesetz und dem Herrn fallen.19 Zum anderen, weil dieses Schauen nicht immer ein ungehindertes und unbemerktes bleibt, indem das Objekt, das wir schauen, sich seiner Präsenz und unserer Blicke bewusst ist und diesem Kontakt entgegnet. Deshalb unterscheidet Mieke Bal dreierlei Schauen, deren Vokabular dezidiert zwischen einem »to look« und einem »to gaze« unterscheidet: »The concept of the gaze has a variety of backgrounds. It is sometimes used as an equivalent of the ›look‹, indicating the position of the subject doing the looking. As such, it points to a position, real or represented. It is also used in distinction from the ›look‹, as a fixed and fixating, colonizing, mode of looking – a look that objectifies, appropriates, disempowers, and even, possibly, violates. In its Lacanian sense, it is most certainly very different from – if not opposed to – its more common usage as the equivalent of the ›look‹ or a specific version of it. The Lacanian ›gaze‹ is, most succinctly, the visual order (equivalent to the symbolic order, or the visual part of that order) in which the subject is ›caught‹. […] The ›gaze‹ is the world looking (back) at the subject.«20 Beides – das heimliche visuelle Verlangen des einen und eine eventuelle Erwiderung dieses Blickes durch das Gegenüber – definiert in groben Zügen das, was wir heute als Voyeurismus bezeichnen. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich zunächst auf den Voyeurismus im Sinne einer Fremdschau, der sich auf das Schauen des Anderen beschränkt. In einem weiteren Schritt wird Licht in denjenigen Voyeurismus gebracht, der zu einer Selbstschau des Betrachters führen kann, nämlich dann, wenn der Betrachter im Gegenzug zum Betrachteten wird. Denn wesentlich ist die Frage, was passiert, wenn man beim Schauen ertappt wird: »The common question for all […] of these concepts is 19 Vgl. auch: Christina von Braun, »Die Stimme der Diva«, in: MÜNCHEN (Ausst.kat.), Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, Kunstverein, München, Rotunde Siemens Kulturprogramm, München, Galerie im Taxispalais, Innsbruck, und Staatliche Kunsthalle, Baden-Baden, Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, 03. März – 07. Mai 2000 (München), 04. März – 07. Mai 2000 (Innsbruck) und 23. Juni – 27. August 2000 (Baden-Baden), hg.v. Silvia Eiblmayr, Dirk Snauwaert, Ulrich Wilmes und Matthias Winzen, mit Texten von: Christina von Braun, Elisabeth Bronfen, Silvia Eiblmayr, Gilles Deleuze, Georges Didi-Huberman, Peter Gorsen, Thomas Lischeid, Käte Meyer-Drawe, Irit Rogoff, Karin Sagner-Düchting, Klaus Theweleit, Matthias Winzen und Slavoj Žižek, Köln 2000, S. 95-107, hier S. 102. 20 BAL, Mieke, Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002, S. 35-36.

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what the look of a represented (narrated or depicted) figure does to the imagination of the reader or to the look of the viewer.«21

Voyeurismus: Die Fremdschau Dem Voyeurismus wird ein Desiderat an Adjektiven beigegeben, die diesen zunächst als ein negatives Tun erscheinen lassen. Demnach ist der Voyeurismus zumindest einseitig sexuell motiviert, deviant, pathologisch, pervers oder gar kriminell. Dass er im Geheimen stattfinden muss, ist eines seiner wichtigsten Kriterien. Peter Springer widerspricht dieser beengenden Charakterisierung, indem er darauf verweist, dass es immer auch auf den Wert und die Bewertung des voyeuristischen Aktes ankomme, zum Beispiel sei »die Tendenz zur Entkoppelung des voyeuristischen Blicks von moralischen Kategorien und von der Heimlichkeit […] heute […] unübersehbar.«22 So ist der Voyeurismus eben auch der Attraktion am Horriblen verpflichtet, einer gewissen aufreizenden Neugierde und gleichzeitiger widerwilligen Abscheu, die – und wir wissen es – uns alle erfassen angesichts des Schrecklichen, Grausigen und Unansehnlichen und uns übereinstimmend agieren lassen: wir sehen hin. Kate Ince bezeichnet diese Reaktion als eine »entranced repulsion«23 und es geht daraus hervor, dass insbesondere auch das Abjekte daran seinen Anteil hat. Gewalttätige Aktionen, Masochismus sowie das hieraus resultierende Sichtbarwerden von Körperflüssigkeiten sorgen trotz ihrer abstoßenden Wertigkeit für den Anreiz, hinzusehen. »Es ist dies der Moment, den das Publikum am meisten fürchtet und dem es dennoch zugleich entgegenfiebert, der Moment, dem seine tiefsten Ängste ebenso wie seine Faszination und sensationsgierige Schaulust gelten.«24 Erika Fischer-Lichte bezieht sich hier auf die Performance Lips of Thomas (1975 und 2005) von Marina Abramović, in der sich die Künstlerin selbst Gewalt antut, bis ihr Blut fließt. Selbstverständlich ist ein Hinsehen im Rahmen der Kunst zunächst scheinbar ein entschuldbares, da es geradezu eingefordert wird. Dennoch sind dieser Aktion die oben genannten Kriterien zu eigen und demselben, wenn auch inszenierten Nervenkitzel unterworfen. Es stellt sich daher die Frage, ob ein ethisch fragwürdiges Verhalten im Namen der Kunst gerechtfertigt werden kann, oder besser: andere Zwecke erfüllt als ein Voyeurismus wie er in einem alltäglichen Kontext erzeugt würde. Susan Sontag urteilt hierzu wie folgt: »Die Darstellung dieser Grausamkeiten ist nicht moralisch befrachtet. Es geht nur um die Provokation: Schaffst du es, hinzusehen? Es gibt die Befriedigung, ein Bild ansehen zu können, ohne zurückzuschaudern. Es gibt das Vergnügen des Zurückschauderns.«25 Damit geht sie konform mit der aristotelischen Erklärung für die Darstellung von Schrecknissen in den Künsten. Nebst der Provokation, wie sie von Sontag angeführt wird, verweist Aristoteles in seiner »Poetik« auf die naturgegebene Freude des Menschen an der Nachahmung und am Lernen, welches ihn auch nach den Widerwärtigkeiten des Lebens verlangen lässt: »Denn von 21 22 23 24 25

BAL, S. 37. SPRINGER, S. 274; vgl. auch: S. 32, S. 269 und S. 273. INCE, S. 43. FISCHER-LICHTE, S. 15. SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 50.

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Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«26 Der Voyeur in seiner Rolle als gelehriger Schüler hätte damit seine moralische Rechtfertigung erlangt. Aber hat er dies auch, wenn er – wie in der griechischen Tragödie nicht unüblich – den mit Macht und Grausamkeit ausgeübten Gewalten beiwohnt, die der Bestrafung dienen sollen? Denn nichts Anderes tut Abramović in ihrer Performance: sie übt Strafe aus. An ihrem eigenen Leib. Hierzu ist definitiv nicht der im Verborgenen handelnde Voyeur von Nöten, sondern ein ganzes Volk, welches sich der Schaulust nur zu gerne und noch dazu als Gemeinschaft hingibt. Und auch Michel Foucault stellt folgende Überlegung an: »Die Hauptperson bei den Marterzeremonien ist das Volk, dessen wirkliche und unmittelbare Gegenwart zu ihrer Durchführung erfordert wird.«27 Ob im Erteilen einer Lehre oder im Kunstgenuss, die Zeugenschaft des Gemeinwesens ist unabdingbar. Und in beiden Fällen – obschon dies dem Machthaber und Despoten wenig gefallen oder von Nutzen sein mag – breitet sich unter diesen Zeugen eine innigliche Verbundenheit mit dem Opfer aus, »niemals fühlte [man] sich, so wie jene, mehr von einer […] Gewalt bedroht, die ohne Gleichgewicht und ohne Maß war.«28 Die Neugierde und das Verlangen nach dem Grauenhaften fallen letzten Endes auf den Betrachter zurück. Es mag banal klingen, aber genau dies ist es, was Susan Sontag in ihrem Alltagsbeispiel eines Autounfalles und der voyeuristischen Neugier der in herabgesetzter Geschwindigkeit Vorbeifahrenden als Konsequenz zu schließen imstande ist: »Jeder weiß, dass es nicht bloße Neugier ist, die bei einem schweren Unfall auf der Autobahn den Verkehr auf der Gegenspur in Stocken bringt. Bei vielen kommt auch der Wunsch ins Spiel, etwas Grausiges zu sehen. Wenn man solche Wünsche als ›krankhaft‹ bezeichnet, stellt man sie als eine seltene Verirrung dar – aber dass Menschen sich von solchen Anblicken angezogen fühlen, ist keine Seltenheit, und es ist seit jeher eine Quelle von Seelenqualen.«29 Diese Seelenqual äußert sich unter anderem im Mitleiden. Wie sehr wir dabei in der Anschauung der Qual der Anderen ein Co-Leiden entwickeln, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Etwa davon, ob wir das Leiden des Anderen als ein verdientes oder unverdientes ansehen, ob dessen Leid einer selbstverschuldeten Pein entspringt.30 Ob wir uns einfühlen können, wird auch davon bestimmt, inwiefern sich das Miterlebte mit unserem eigenen Sein in Übereinstimmung bringen lässt. Zuletzt ist es davon abhängig, ob wir für uns und/oder den Anderen – und zwar in eben dieser Reihenfolge – diese mitleiderregende Situation mindern oder verhindern hätten können. Ein einflussreicher Faktor, der unseren meist innerhalb kürzester Zeit getroffenen Entscheid hierüber beeinflusst, ist die Art und Weise, wie sich uns das Leid präsentiert, »that who we care for is a matter of whether or not their suffering is presented as relevant and worthy of our response.«31 26 27 28 29 30

ARISTOTELES, Poetik, Stuttgart 1994, S. 11, Punkt 4. FOUCAULT, Überwachen und Strafen, S. 75. FOUCAULT, Überwachen und Strafen, S. 82. SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 111. Abhängig ist dies unter anderem von den im Kapitel III.3 geschilderten Zusammenhängen des körperlichen Erscheinungsbildes und der Art und Weise der Erkrankung. 31 CHOULIARAKI, Lilie, The Spectatorship of Suffering, London 2006, S. 14.

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Da sich die Kunstwerke der in Frage stehenden Künstler vor allem auch in Form der neuen und digitalen Medien Ausdruck verschaffen, ist es an dieser Stelle notwendig, auf die Darstellung von Leid einzugehen, wie es sich seit geraumer Zeit in den Printmedien, dem Internet und im Fernsehen präsentiert. Nach wie vor ließe sich trefflich darüber streiten, inwiefern die ubiquitäre Bilderflut und die Überrepräsentanz menschlichen Leids besagter Medien eher zu einer Sensibilisierung oder aber zu einer Abstumpfung des Betrachters beizutragen vermag. Traurige Wahrheit ist wohl, dass das medial erzeugte Bewusstsein der erweiterten Zahl der hierdurch gewonnenen Augenzeugen, das Leid in der Welt kaum zu ändern in der Lage war oder gar weiteres Leid verhindert wird.32 Ganz im Gegenteil bewirkt eine ständige Konfrontation mit dem Leid, dass man sich in seiner Hilflosigkeit wie betäubt fühlt, die Geschehnisse nur mehr mit einem Achselzucken goutiert und in die Rolle des passiven Voyeurs verfällt. Susan Sontag fragt sich deshalb, wem und weshalb man Bilder vom Leid der Anderen zeigen dürfe: »[I]n die Erschütterung beim Betrachten der Nahaufnahme eines wirklichen Schreckens mischt sich Beschämung. Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun können – etwa die Chirurgen des Militärhospitals, in dem die Aufnahme gemacht wurde, oder Menschen, die aus ihr etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen oder nicht, Voyeure.«33 Entsprechend entstehe nicht das erwünschte Bewusstsein für das Leiden der Anderen, sondern ein unerwünschtes Resümieren, dass gleichfalls der moralische Beistand in Form einer wissentlichen Teilhabe nutzlos sei. Zur Rolle des passiven Zuschauers verdammt, in der eine ethische Intervention nicht möglich ist, scheint es dahingegen am sinnvollsten, das Leiden der Anderen nicht zu betrachten und es auch nicht zu zeigen, um zumindest deren Würde zu wahren. Obwohl wir beim Betrachten des Leids zu Voyeuren werden, glaubt auch Susan Sontag letzten Endes, dass wir kein Recht auf Unschuld haben, indem wir uns dieses Bilderwissens verschließen.34 Eine Negation des Leidens in der Welt käme einem erneuten Ikonoklasmus, einer Zensur gleich.35 Damit sind wir wieder auf die Frage einer rechten ethischen Reaktion auf das Leiden verwiesen. Asbørn Grønstad formuliert diesen moralischen Zwiespalt wie folgt: »This is what constitutes the core of the question of an ethics of images of pain. Do we look away to protect the integrity of the subject photographed, or to protect ourselves? Does not looking absolve us from complicity, or is the ostensibly respectful act of averting one’s eyes in fact to deny responsibility and foreclose knowledge?«36 Wegsehen ist also nicht die angemessene Kompensation – weder der Bilder, noch des Leids. Aber das Einnehmen einer abstrakten, ethischen Position könnte zumindest versuchen, mit folgenden Vorwürfen umzugehen: »[T]he question can never 32 Vgl. u.a.: Sharon Sliwinski, »A Painful Labor. Photography and Responsibility«, in: ELKINS, James, und Maria Pia Di Bella (Hgs.), Representations of Pain in Art and Visual Culture, New York 2013, S. 64-74, hier S. 64. 33 SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 51. 34 Vgl.: SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 133, sowie Kapitel III. 35 Vgl.: Mieke Bal, »Imaging Pain«, in: GRØNSTAD, Asbjørn, und Henrik Gustafsson (Hgs.), Ethics and Images of Pain, New York 2012, S. 115-143, hier S. 115. 36 Asbørn Grønstad und Henrik Gustafsson, »Introduction«, in: GRØNSTAD, S.xv‐xxii, hier S.xvi.

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be solely: how has this image failed? Always there is the further better question: how have we failed this image? What must I/we do to live up to its claims and demands?«37 Die in dieser Schrift untersuchten Kunstwerke stellen eben diese Fragen. Statt das Leid zu negieren, zeigen sie, was vielen als vulgär anmutet und gerade deshalb zum Hinsehen einlädt. Indem sie sich unser morbides Interesse zu Nutze machen, gehen die Künstler in die Offensive, provozieren, indem sie den Betrachter mit seinen voyeuristischen Instinkten in Kontakt bringen, ihn gleichermaßen abstoßen und anziehen, um am Ende die uns alle betreffende existentielle Frage aufzuwerfen: Was kannst Du dagegen tun? Für die Anderen und für Dich?   Wir können nur wenig tun, um das Leid der Anderen und unser eigenes zu lindern. Wir können lediglich honorieren, dass es existiert und mit unserem Schauen ethischen Beistand leisten, der Ignoranz Abhilfe schaffen. Das ist das Mindeste, was wir den entwürdigenden Bildern an Entgegnung schuldig sind. Nur so erlangen die darauf Dargestellten ihre Würde zurück. Uns diesem Leid gegenüber weder stumm noch taub zu stellen, ist keine leichte Aufgabe angesichts der expliziten Bilder wie sie in den Werken Hannah Wilkes, aber auch bei ORLAN zu sehen sind. ORLAN ist sich dessen vollkommen bewusst: »Few images force us to close our eyes: Death, suffering, the opening of the body, certain aspects of pornography (for certain people) or for others, birth. Here the eyes become black holes in which the image is absorbed willingly or by force. These images plunge in and strike directly where it hurts, without passing through the habitual filters, as if the eyes no longer had any connection with the brain. When you watch my performances, I suggest that you do what you probably do when you watch the news on television. It is a question of not letting yourself be taken in by the images and of continuing to reflect about what is behind these images. In my performances, in addition to the medical personnel and my team, there is a sign language interpreter for the deaf and hearing‐impaired. This person is there to remind us that we are all, at certain moments, deaf and hearing‐impaired.«38 Eben weil auch Hannah Wilke die von ORLAN beschworenen Minenfelder unseres Körper-Habens abschreitet, fällt es uns schwer, die Fotoarbeiten und Videostrecken ausschließlich mit voyeuristischem Eifer zu bedenken. Ihre Zurschaustellung des nackten, erotischen und jugendlichen Idealbildes der Frau lässt dies freilich noch zu und ebenso die intimen Momente der scheinbar selbstvergessen agierenden Künstlerin. Spätestens in Wilkes Appropriation der den Voyeurismus thematisierenden Arbeiten eines Marcel Duchamp, wechselt das Schauen des Betrachters über zu einem An-Schauen nicht mehr nur des Kunstwerkes, sondern zugleich der darin porträtierten Künstlerin. Der zunächst heimlich gehandhabte Voyeurismus wird so zu einem offensiven Beobachten, dem immer auch – wie von Mieke Bal weiter oben bemerkt39 – wertende Aspekte innewohnen. Vor allem in ihrem Spätwerk beginnt Wilke, diesen Blick zu retournieren. 37 J.M. Bernstein, »Preface«, in: GRØNSTAD, S.xi‐xiv, hier S.xiii‐xiv. 38 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 315; vgl. auch Anhang, Punkt III. Zum Voyeurismus bei ORLAN wird weiter unten Stellung genommen. 39 Vgl.: BAL, S. 35-36.

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Die für den Betrachter ungewohnte Manier eines aktiven Blickwechsels ist insbesondere dann irritierend, wenn er sich bei der Inaugenscheinnahme ertappt fühlt. Er wird von der Künstlerin überführt, die nun nicht mehr der Idealvorstellung entspricht und deren makelloser Körper zu einem abjekten wurde. Von Krankheit und dem nahenden Tod gezeichnet, wird der »gaze« des Betrachters, das unverhohlene und zugleich angewiderte Starren zu einer aggressiven Geste, ein Angriff, gegen den sich die Künstlerin – und dessen wird sich nun der Betrachter bewusst – zur Wehr setzt. Die Aggression beruht auch darauf, da beide Parteien wissen, dass der Tod naht. Und der Gedanke, dass auch der da Schauende sterblich ist, springt über. Der anfänglich interessierte, dann mitleidvolle, aber zugleich angewiderte Blick, gerinnt zu einem Erschrecken vor dem Leid, das allgemeine Gültigkeit besitzt und den Betrachter zum Zeugen eines Opfertodes macht: Wilke opfert auf Kosten der eigenen Selbstachtung ihr Wissen um den von Krankheit geplagten Körper und lässt damit den nun Eingeweihten aus dem – wie weiter oben von Michel Foucault beschriebenen – Gleichgewicht geraten. Was wir realisieren, ist das von Julia Kristeva wie folgt Beschriebene: »There looms, within abjection, one of those violent, dark revolts of being, directed against a threat that seems to emanate from an exorbitant outside or inside, ejected beyond the scope of the possible, the tolerable, the thinkable. It lies there, quite close, but it cannot be assimilated. It beseeches, worries, and fascinates desire, which, nevertheless, does not let itself be seduced. Apprehensive, desire turns aside; sickened, it rejects. A certainty protects it from the shameful – a certainty of which it is proud holds on to it. But simultaneously, just the same, that impetus, that spasm, that leap is drawn toward an elsewhere as tempting as it is condemned. Unflaggingly, like an inescapable boomerang, a vortex of summons and repulsion places the one haunted by it literally besides himself.«40 Eine Assimilation mit dem Sein Wilkes ist uns zum Zeitpunkt tatsächlich nicht möglich. Aber der voyeuristische Akt hat in diesem Moment nichts Perverses mehr, sondern er zeugt von der Instabilität der Beziehung zwischen dem von uns betrachteten Objekt und uns, dem Subjekt.

Voyeurismus: Die Selbstschau Ein voyeuristischer Akt endet hier. Wenn sich kleine Kinder verstecken, halten sie sich zusätzlich die Augen zu. Sie glauben, dass wenn sie selbst nichts sehen, auch sie nicht gesehen werden können. Sich seines Selbst bewusst zu sein, ist ein Privileg, aber auch die Crux des Erwachsenseins. Dies thematisiert Jean-Paul Sartre in seiner Schrift »Das Sein und das Nichts«.41 Der darin beschriebene Voyeur versucht in Kauerstellung einen Blick durch ein Schlüsselloch zu erhaschen. Er exemplifiziert dabei die Offenbarung sowie den Selbsterkenntniswert der anstößigen Handlung eines Spanners. Was es denn auf der anderen Seite der Türe zu sehen gibt, werden weder wir noch der Voyeur in Erfahrung bringen, denn justament zu einem verfrühten Moment werden Schritte hörbar und dem Blick durch das Schlüsselloch kann nicht stattgegeben werden. Soweit die Situation, wie sie von 40 KRISTEVA, S. 1, vgl. auch S. 46. 41 Vgl.: SARTRE, S. 345-347.

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Sartre geschildert wird. Es wäre natürlich undenkbar, von einer zweiten Person in der oben beschriebenen kompromittierenden Haltung ertappt zu werden. Und dennoch vermag die so skizzierte Konstellation das Folgende zu versinnbildlichen: indem sich der Voyeur seiner Lage bewusst wird, wird er auch seiner Selbst ansichtig. Das Bewusstsein um die eigene Präsenz macht ihn zu einem Objekt in einer Welt, in der er nicht nur wahrnimmt, sondern gleichfalls wahrgenommen wird.42 Sartre formuliert dies wie folgt: »Jetzt habe ich Schritte im Vorsaal gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? Das soll heißen, daß ich in meinem Sein plötzlich von etwas betroffen werde und daß in meinen Strukturen wesentliche Veränderungen auftreten – Veränderungen, die ich erfassen und durch das reflexive cogito begrifflich festlegen kann. Zunächst bin ich hier und existiere als Ich für mein unreflektiertes Bewusstsein. Gerade diesen Einbruch des Ich hat man sehr häufig beschrieben: ich sehe mich, weil man mich sieht […].«43 Unser Selbst definiert sich entsprechend über die Wahrnehmung, die der Andere von uns hat. Der voyeuristische Akt endet aber auch dann, wenn sich die Blicke des Betrachters und diejenigen des betrachteten Objekts treffen. Sobald unser Blick retourniert wird, ist er kein heimlicher mehr. Es entsteht so eine moralische Verpflichtung, indem wir beginnen, mit dem Gegenüber Wissen, Gefühle und Gedanken zu teilen. Beiden Parteien ist klar, dass sie gegenseitig in die Privatsphäre des jeweils anderen eindringen, dessen Grenzen überschreiten, sich dem anderen gewalttätig aufdrängen. Dieser reziproke Blick, der so viele Affekte mit sich bringt, ist dabei gleichzeitig ein Lehrstück darüber, Emotionen in Form von Empathie zuzulassen, gerade weil wir den anderen darin involvieren: »We need to learn again to see with emotional attachment, where the one who looks and the one who is seen become the sum greater than the parts.«44 Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit des Betrachters in einem ständigen Wechselspiel auf den Gegenstand seiner Betrachtungen und rückblickend wiederum auf seine eigene Person. Dies bewirkt insgesamt, dass man sich der Wahrnehmung als eines dynamischen Prozesses bewusst wird. Erika Fischer-Lichte folgert daraus, dass »[d]er Wahrnehmende [anfängt], sich selbst als Wahrnehmenden wahrzunehmen, was spezifische Bedeutungen erzeugt, die nun ihrerseits weitere Bedeutungen erzeugen, die auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses einwirken.«45 Und auch Marcel Duchamps Weissage, dass der Betrachter die Bilder mache, tritt so ein.46 Denn der mit einem Kunstwerk inniglich verzahnte Blick, ist nun auch mit den Empfindungen des Gegenübers verbunden, die – im Fall der hier untersuchten Werke – das Dasein, das Leid und den Tod in all seinen abjekten und unerbetenen Facetten widerspiegeln. 42 Vgl.: Barbara Oettl, »Bilder einer Vergewaltigung. Geschlechterspezifische Sichtweisen im kunsthistorischen Vergleich«, in: BAYERL, Marion, Verena Gutsche und Bea Klüsener (Hgs.), Gender – Recht – Gerechtigkeit, Heidelberg 2012, S. 181-198, hier S. 188. 43 SARTRE, S. 347. 44 Mark Ledbetter, »Do Not Look at Y/Our Own Peril. Voyeurism as Ethical Necessity, or To See as a Child Again«, in: GRØNSTAD, S. 3-14, hier S. 4. 45 FISCHER-LICHTE, S. 261. 46 Marcel Duchamp: »Ce sont […] les regardeurs qui font les tableaux.«, zitiert nach: Jean Schuster, »Marcel Duchamp. Vite«, in: Jean Schuster, ARChives 57-68. Bataille pour le surréalisme, Paris 1969, S. 7, in: SPRINGER, S. 192.

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Insbesondere dargestelltes Leid macht uns zu involvierten Betrachtern: »Indeed pain is the fugue of human connectedness and prelude to community.«47 Nicht mehr nur als Voyeur erhaschen wir einen flüchtigen Blick, sondern können nun, da unser Schauen entdeckt wurde, dem personalisierten Leid gegenübertreten und verweilen. Weder die Einzelheiten der in den Großformaten Hannah Wilkes und in den Nahaufnahmen ORLANs bis ins Detail sichtbaren Körper bleiben uns erspart, noch der Rückschluss, dass auch wir uns in diesen Bildern wiederfinden werden. Der unverstellte Blick der Künstlerinnen zeugt deshalb nicht nur von einer freimütigen Ehrlichkeit, sondern auch von einem sadistischen Moment, der ihre Gegenüber zu Mittätern und Mitwissenden werden lässt. Nicht nur ORLAN hat es unternommen, hierfür den Betrachtern in ihrer Arbeit Étude Docmentaire: La Tête de la Meduse/Documentary Study: The Head of Medusa (1978) mit einem Videozeugnis zu konfrontieren, das den Voyeurismus der Besucher vorführt.48 Das Schauen als eine Selbstschau sichtbar zu machen, ist gerade unter Künstlerinnen zu einer Möglichkeit geworden, den voyeuristischen Akt in all seinen einzelnen Vorgängen zu entlarven. So filmte Marina Abramović häufig in ihren Aktionen das Publikum, um diesem im Nachgang seine Reaktionen vorzuführen, und Gina Pane arbeitete in ihren Videoaufzeichnungen immer auch gleichzeitig die Reaktion des Publikums – darin vor allem der weiblichen Teilnehmer – mit ein, wenn sie etwa das Messer an sich und ihr Gesicht legte. Dieses gespiegelte Bild des sich betrachtenden Selbst kommt dem voyeuristischen Kamera-Blick eines Peeping-Tom-Motivs gleich.49 Der Blickkontakt alleine würde es uns nicht ermöglichen, unser Selbst zu erkennen. Beides, »the object of the gaze and the gaze of the object«, konstituiert zunächst lediglich eine Reproduktion unseres Selbst in derjenigen Form, wie wir von den Anderen gerne gesehen werden möchten, denn: »For in looking at/for the other, we seek to re‐present ourselves to ourselves.«50 Die wirkliche Erkenntnis zu unserem Selbst ereilt uns nicht aus der Position des Anderen heraus, sondern indem wir uns beim Sehen zusehen. Diese Form der Selbstwahrnehmung beschreibt bereits Marcel Duchamp im Jahr 1914: »Man kann Sehen betrachten, man kann nicht Hören hören.«51 So benötigen wir zwar das Gegenüber, das uns nicht nur aufzeigt, dass wir gesehen werden und uns dadurch einen Blick zurück auf unser Selbst gewährt52 , sondern wir brauchen das Gegenüber vor allem in Form des Spiegels, den uns die hier zur Diskussion stehenden Kunstwerke 47 Mark Ledbetter, in: GRØNSTAD, S. 3-14, hier S. 8. 48 Vgl. Kapitel III.2. 49 Als »Peeping Tom«, den legendären Beobachter von Lady Godivas nächtlichem und nacktem Ritt durch die Stadt, wird idiomatisch ein männlicher, sexuell motivierter Voyeur bezeichnet. In gleichnamigem Film von Michael Powell (1960) war an die Kamera des Frauenmörders Peeping Tom, gespielt von Karlheinz Böhm, ein Spiegel befestigt, der den Opfern angesichts ihres nahenden Todes ihren eigenen, mit Horror erfüllten Blick spiegeln sollte. Vgl. hierzu auch: Elisabeth Bronfen, »Bilder, die töten – Tod im Bild. Michael Powells ›Peeping Tom‹«, in: SCHWARTE, Ludger, Gertrud Koch und Sylvia Sasse (Hgs.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München 2003, S. 207-225. 50 PHELAN, Peggy, Unmarked – The Politics of Performance, New York und London 1993, S. 21. 51 Marcel Duchamp, zitiert nach: MOLDERINGS; Herbert, Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, Düsseldorf 3 1997, S. 117. 52 Diana Fuss geht deshalb mit folgender Annahme nicht weit genug: »[H]ow is it that only through the other I can be myself, only in the place of the other I can arrive at a sense of self?«, in: FUSS, Diana, Identification Papers, New York 1995, S. 4.

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vorhalten, um uns in ihm wiederzufinden. Denn es repräsentiert in seiner Körperhaftigkeit, in seinem Leid sowie in seiner zukünftigen Abwesenheit, was wir sind und einst sein werden. Dieses In‐eins-fallen mit dem Gegenüber impliziert dabei auch den vorübergehenden Verlust unserer Identität: »The madness of seeing means that the gaze institutes being, and that at the same time there is in the gaze a loss or perdition of the self.«53   Genau dies geschieht, wenn ORLAN in La Réincarnation de Sainte ORLAN die Regeln der uns landläufig vertrauten Rituale der ästhetischen Chirurgie sprengt. Ähnlich wie Hannah Wilke gibt sie ihren Körper preis. Das Abjekte offenbart sich jedoch bei ORLAN nicht alleine in einer Außenschau, denn ORLANs Körper befindet sich nicht wie derjenige im Spätwerk von Wilke in einem hinfälligen Stadium, welches an Krankheit und Siechtum gemahnt. Das abjekte Moment bei ORLAN zeigt sich anhand ihres durch operative Maßnahmen geöffneten Körpers – und zwar in Großaufnahme. Dieser zum Schockmoment zusätzlich hinzukommende scheinbare Übereifer in der Präsentation der Wunde, erzeugt eine Aufmerksamkeit, die üblicherweise in einer seriösen Dokumentation von ethisch handelnden Medienmachern nicht unternommen wird. Hier gilt die Regel, dem menschlichen Leid zwar ein Gesicht zu geben, die Würde der Dargestellten jedoch zu wahren, indem man das grausige Detail meidet.54 Das Interesse des Betrachters, weiter zu Schauen – und sei es auch nur hinter vorgehaltener Hand –, ist dennoch ungebrochen. Ein Vergnügen, wie es dem voyeuristischen Akt grundsätzlich zu eigen und etwa für das Frühwerk Hannah Wilkes zu verzeichnen ist, ist es aber nicht. Hinzu kommt, dass wir ORLAN nicht unbeobachtet betrachten können, denn sie blickt uns direkt in die Augen. Sie mimt weder den narkotisierten, devoten Patienten, noch ist sie gewillt, während der Eingriffe die Kommunikation einzustellen. Sie zeigt sich ihrer Zuschauer absolut bewusst, indem sie sich mit Texten an diese richtet, Erklärungen abgibt und Fragen beantwortet. Sofern ihr dies aufgrund der an ihr vorgenommenen operativen Maßnahmen nicht möglich ist, richtet sie weiter hartnäckig ihren Blick auf uns. Sie demonstriert damit, dass wir als Zuschauer eine Grundvoraussetzung für ihr Handeln sind, sie für uns agiert: »Her art demands her audience that we witness her self‐awareness not only of her surgery but of us looking at her. In other words, Orlan not only returns the viewer’s gaze, but expects – if not demands – that her recognition of us be in turn recognized by each individual. Orlan depends on her audience to complete her art, for us to recognize the individual patient named Orlan undergoing the surgery rather than merely to be mesmerized or revolted by the exposure of the living tissues that make up her body. […] To put it bluntly, Orlan’s art does a lot more than just gross all of us out: she provokes us to become more self‐reflexi53 Christine Buci-Glucksmann, in: »Interview with Christine Buci-Glucksmann by Michel Enrici and JeanNoël Bret, Triumph of the Baroque (1974-1985/90)«, Paris, October 7th 2000, in: KEREJETA, S. 209-213, hier S. 209. Weitere Konsequenzen hieraus werden in Kapitel IV.2.1 erläutert. 54 CHOULIARAKI, S. 43. Es ist auch hier wieder die ethisch kaum zu klärende Frage, ob das Weglassen von Grausamkeiten dem Betrachter überhaupt zusteht und die Informationen sich nicht ausschließlich und in erster Linie an der, wenn auch schmerzhaften, Wahrheit orientieren sollten, wie dies Sontag einfordert: SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 133.

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ve in our roles as spectators.«55 Wollten wir mit den Bildern des Voyeurs von Sartre sprechen, so nimmt ORLAN beide Seiten des Schlüssellochs ein. Allerdings ist sie dem Stadium des Spannens komplett entwachsen: die Künstlerin ist diejenige, die uns durch das Schlüsselloch bereits entgegensieht und nun Einblick in ihr Gegenüber nimmt. In dieser Doppelbesetzung ist nicht mehr sie es, die überrascht werden könnte. Dieser visuelle Sadismus verhält sich nicht alleine aggressiv dem Betrachter gegenüber, sondern besitzt auch eine autoaggressive Komponente, welche die Künstlerin gegen sich selbst richtet. Obwohl sie – wie in den Kapiteln zu ORLAN ausführlich geschildert – physische Schmerzen weitestgehend vermeidet, da diese nicht die Motivation zu ihrem Handeln bilden, hat sie sich in ihrem Tun anderen aggressiven Reaktionen ausgesetzt: »My work has always been hard on me. It’s difficult to sustain because it is a form of aggression against myself. Other people perceive it as a form of aggression against them and are therefore frequently very aggressive towards me. You have to be strong to withstand the reactions I get.«56 ORLAN weiß aber sehr wohl, dass für den Betrachter nicht ihr physischer Schmerz während der Eingriffe und des sichtbar gemachten Heilungsprozesses überwiegt, sondern der Schmerz, der den Zuschauer beim Anblick dieser Bilder überkommt. Sie verweist hierauf in ihren Texten: »In fact, it is really my audience who hurts when they watch me and the images of my surgeries on video.«57 »I show images which almost make us blind. My work stands between the folly of seeing and the impossibility of seeing.«58 Das von ihr genannte Videomaterial entsteht dabei zu verschiedenen Zwecken. Zum einen sind es Kunstwerke, die der Performance entstammen und diese dauerhaft werden lassen, zum anderen dient ORLAN die Life-Videoaufzeichnung als Spiegel ihrer eigenen Person und zuletzt spiegelt es auch das Selbst des Betrachters. Sobald die medizinischen Vorbereitungen getroffen werden und hierfür die Presse den Raum zu verlassen hat, eröffnet ORLAN deshalb jede ihrer Performance-Operationen mit dem Satz: »I open the window so that all of the people in the world can share with me in my operation.«59 Es geht hier also um ein geteiltes Wahrnehmen, um ein »feedback system«60 in den so unterschiedlichen Konstellationen von ORLAN und dem Publikum, dem Publikum und ORLAN sowie dem Publikum und dem Publikum. ORLAN bezweckt damit ein kollektives Schauen, welches nicht mehr nur den Privilegierten der jeweiligen Fachdisziplinen offensteht. Dabei werden sowohl beim Schauen des dokumentierenden Videomaterials und der Fotoarbeiten wie auch – und natürlich im Speziellen – während der tatsächlichen Life-Übertragung ähnliche Vektoren des Sehens gezogen. Nehmen wir uns an dieser Stelle der extrem potent medial übertragenen Life-Performance der siebten Operation aus La Réincarnation de Sainte ORLAN namens Omniprésence an. Sowohl 55 AUGSBURG, S. 337-338. 56 ORLAN, zitiert nach: Jim McClellan, »The Extensions of Woman«, in: Observer ›Life‹ magazine, 17. April 1994, S. 38-42, hier S. 42. 57 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326; vgl. auch Anhang, Punkt III. 58 ORLAN, in: Peg Zeglin Brand, in: BRAND, S. 289-313, hier S. 289. 59 ORLAN, zitiert nach: O’BRYAN, S. 95. 60 C. Jill O’BRYAN spricht hier von einem »feedback system« (S. 95), Erika FISCHER-LICHTE von einer »feedback-Schleife« (S. 80).

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das Fernsehen, vertreten durch die CBS News, als auch die Kunstwelt erhielten die Bilder in einer Life-Schaltung, die weltweit gesendet wurde.61 In diesen Aufnahmen wird das reziproke Schauen fassbar, denn die Zuseher waren sich ihrer Anwesenheit nicht nur bewusst, sondern konnten diese gleichzeitig optisch überprüfen: sie wurden der abjekten Vorgänge während der Operation ansichtig, die sie – unter anderem in einer Konversation mit ORLAN – kommentierten, sie konnten erkennen, wie andere Zuseher auf die Bilder und den verbalen Austausch reagierten, sie wurden von den Anderen wahrgenommen und sahen sich in deren Ausdruck wie in den tatsächlich präsenten Bildern ihrer selbst innerhalb des Operationssaales wieder. ORLAN ist der Spiegel unserer eigenen und aller Gefühle, unseres Ekels der sich in unserem Gebaren Ausdruck verschafft.62 Die Life-Übertragung besitzt darüber hinaus aus heutiger Sicht eine zusätzliche zeitliche Komponente, da wir rückwirkend die Reaktion aller Beteiligten in der Jetzt-Zeit verfolgen können, um sie erneut und zukünftig in einer immer neuen zeitgenössischen Erzählzeit zu verorten. Letzten Endes sehen wir uns selbst Sehen. Die Vektoren unserer Blickrichtungen können von allen beliebig verfolgt werden und darüber hinaus zwischen den Betrachtern hin- und herwechseln. Jedoch haben die Vektoren unserer Blicke allesamt ein Zentrum: ORLAN. Dem Leser dürfte deutlich geworden sein, dass man hier schnell den Überblick verliert. Nicht nur, was die Blickrichtungen und den daraus gewonnenen Erkenntniswert anbelangt, sondern auch, weil es existentiell bedrohlich anmutet, sein isoliert geglaubtes und behütetes Selbst im Anderen wiederzuerkennen. »We do not want to see inside ourselves – for to see that is to erase our self – but, in compensation, and to know what we are (or more promisingly, are not) we want to see inside others.«63   Ob der uns umgebenden Dunkelheit in den häufig leeren Räumen Gregor Schneiders und der nicht austauschbaren Blicke mit weiteren Anwesenden, mag es zunächst müßig klingen, auch im Falle der Arbeiten Schneiders von einem Voyeurismus sprechen zu wollen. Der Erfahrung der Selbsterkenntnis tun diese Vorgaben jedoch keinen Abbruch. Trotzdem ist Voyeurismus mit im Spiel, da wir dabei sind, die ehemals bewohnten und nun von Schneider nach seinem innersten Empfinden umgebauten Räume zu betreten und so in die Ur-Orte der Anderen einzudringen. Indem wir ihnen unsere Anwesenheit aufzwängen, gesellt sich eine weitere körperliche Präsenz hinzu: die unsrige. Der leibhaften Teilhabe an einem Kunstwerk spricht auch Jill Bennet besondere Kapazitäten zu: »As far as the spectator of an artwork is concerned, affective identifications, mediated through bodily perception are of a different order from those identifications that proceed from an affinity or emotional sympathy with a character. […] [This experi61 ORLAN weist darauf hin, dass diese Übertragung die US-amerikanische Sendung »Extreme Makeover« inspiriert habe, eine Doku-Soap, wie sie in ähnlicher Art unter anderem auch bald in Deutschland entstehen sollte; vgl.: ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINTÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 91. 62 Ähnliche Blickrichtungen – wenn auch mit anderen Gefühlen verbunden – ergeben sich in ORLANs Performance Étude Docmentaire: La Tête de la Meduse/Documentary Study: The Head of Medusa aus dem Jahr 1978; vgl. hierzu Kapitel III.2. 63 TOWNSEND, Vile Bodies, S. 67.

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ence] lead[s] to a critical understanding that undercuts rather than affirms the bounds of subjectivity, thereby taking us beyond ourselves.«64 Das Haus u r und dessen tote Pendants öffnen sich unserem Besuch entweder anhand einer Einführung durch den Künstler, oder es sind die Vorabinformationen, die uns scheinbar ausreichend darüber ins Bild setzen, was uns erwartet. Wessen wir aber erst im Inneren der Räume gewahr werden, ist, dass wir das Leben der Anderen ergründen und zugleich mit den Erinnerungsstücken unseres eigenen Lebens ergänzen, erweitern und mit Reminiszenzen füllen, die unser Selbst dort zu Tage fördert. Die Begehung, die wir alleine begonnen haben, wird unmerklich zu einer, in der wir neben uns hergehen, unser Selbst durch die Räume begleiten. Die ursprünglich als Trinität empfundene Einheit von Ich, Selbst und Subjekt 65 , wird in seiner Dreieinigkeit zwar nicht entzweit, aber die einzelnen Bewusstseinsebenen unserer Identität zeigen sich in vernehmlicher Deutlichkeit als Instanzen, die getrennt voneinander handeln, denken und fühlen. In den Räumen der Familie Schneider fügt der Künstler tatsächliches Personal hinzu und verzweifacht die Anzahl der Besucher vor Ort. So stehen wir dupliziert vor einer haargleichen Doppelung der Häuser samt Innenleben und so potenziert sich auch die Anzahl der Denkansätze, sobald eine Person oder mehrere andere beteiligt sind. Und auch das Selbst und die Selbstwahrnehmung vervielfältigen sich mehrfach: Wir befinden uns in den Räumen, sind für die Anderen – obschon sie uns niemals ihren Blick zuwenden – sichtbar und spätestens während der zweiten Begehung erhält die Präsenz unseres Kompagnons, der sich eben noch in diesen Räumen befand, immense Wichtigkeit. Wir imaginieren ab diesem Zeitpunkt nicht nur seine frühere Gegenwart in diesen Räumen, sondern auch sein zeitgleiches Verhalten in demjenigen Haus, das wir gerade verlassen haben, um die Schlüssel zu tauschen. Die Erinnerungen an die Bilder der Räume und Menschen der eigenen Begehung vermischen sich dabei mit dem Unterbewusstsein der ureigensten Erinnerungen noch vor der Begehung sowie imaginieren die Präsenz und Gedanken des anderen, den wir derweil nicht sehen können. »[T]he Schneider project makes ghosts of its spectators, and […] we are performing ghosts when we walk through those rooms.«66 Versucht man, die Puzzleteile des Gesehenen, Empfundenen und Erinnerten zusammenzusetzen, steht man buchstäblich neben sich. Man nimmt die Warte einer externen Schau auf das Selbst ein. Dies geschieht auch in den an unsere Vergänglichkeit gemahnenden Räumen Gregor Schneiders wie Toter Raum, Rom 2010 und dem Sterberaum. Im Toten Raum, Rom 2010 stoßen wir schon sehr bald auf komplette Finsternis, die alles ununterscheidbar werden lässt, in der wir uns bis an das Ende tasten. Dort wird uns in Gegenwart des toten Anderen ein einsames Verharren aufoktroyiert, das uns nochmals lehrt, unsere Identität als eine geteilte zu erleben: als eine Dreiheit von Ich, Subjekt und unserem Selbst. In dem von Gregor Schneider geschaffenen lichtdurchfluteten Sterberaum haben wir zwar die Möglichkeit zu sehen wiedererlangt, jedoch gibt es hier niemanden zu sehen. Der 64 BENNETT, S. 103-104. 65 Vgl.: BOLLAS, S. 19-22. 66 Andrew O’Hagan, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 156-161, hier S. 161.

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Sterberaum bietet sich uns in seiner Leere, aber auch in seiner Funktion an. Er verhandelt mit uns die Tatsache unseres eigenen Fortgangs. Der Sterberaum biedert sich nicht an, aber er verbleibt dauerhaft in unseren Gedanken, mit dem Versprechen, einen Ort für unseren Leib und unsere Seele bereitzuhalten. Was sich Susan Sontag an Zurückhaltung, Öffentlichkeit und gleichzeitiger Geborgenheit für die existentiellen Momente unseres Lebens erhoffte, findet sich in der Idee des Sterberaums: »Wir wünschen uns, dass sich der Fotograf im Haus der Liebe oder des Todes wie ein Spion bewegt und dass diejenigen, die er fotografiert, von der Kamera nichts ahnen, dass sie nicht auf der Hut sind.«67 Der Voyeurismus, den die Kunstwerke von Hannah Wilke, ORLAN und Gregor Schneider in uns schüren, setzt Empfindungen in Gange, wovon wir am Ende mit einer Selbstschau profitieren können. Die auf einen ersten Blick erhaschte Provokation, setzt dabei Denk-Bilder in Bewegung, die uns helfen können, unseren eigenen existentiellen Grenzerfahrungen – wenn nicht gerade angstfrei, so doch gelöster – entgegenzusehen.

IV.1.2 Zu einer kathartischen Funktion von grenzüberschreitender Kunst Ein solcherart kathartisches Erlebnis, welches durch die Kunst ausgelöst werden kann, hat ein interaktives Miteinander der an der Kunst Beteiligten zur Grundlage. Eine Kunsterfahrung, die alle auf ein und dieselbe körperliche wie geistige Ebene zu heben vermag, ist eine Kunst, die – wie Leo Tolstoi dies beschreibt – zu einer intensiven Nachempfindung anregt: »Durch jedes Kunstwerk tritt der Empfangende in einen gewissen Connex mit demjenigen, der die Kunst geschaffen hat oder schafft, und mit allen denen, die gleichzeitig mit, vor, oder nach ihm denselben künstlerischen Eindruck empfangen oder empfangen werden. Wie das Wort, indem es die Gedanken und Erfahrungen der Menschen wiedergiebt, zum Mittel der Einigung dient, so wirkt auch die Kunst. Der Unterschied besteht darin, daß durch das Wort ein Mensch dem anderen seine Gedanken wiedergiebt, durch die Kunst jedoch die Menschen einander ihre Empfindungen, ihre Gefühle wiedergeben. Die Thätigkeit der Kunst beruht darauf, daß der Mensch, indem er durch das Ohr oder das Auge den Ausbruch der Gefühle eines Anderen wahrnimmt, diese Gefühle nachzuempfinden vermag. […] Eben aber dieser Fähigkeit der Menschen, von den Gefühlen anderer Menschen angesteckt zu werden, beruht auch die Thätigkeit der Kunst. Wenn ein Mensch den anderen oder die anderen durch sein Aussehen oder durch die von ihm erzeugten Töne unmittelbar in dem Augenblicke ansteckt, wo er selbst das Gefühl empfindet, den anderen zu gähnen zwingt, wenn er selber gähnt, oder zu lachen oder zu weinen, wenn er selber über etwas weint oder lacht oder zu leiden, wenn er selber leidet dann ist dies noch immer nicht Kunst. Die Kunst fängt dann an, wenn ein Mensch, um anderen Menschen das von ihm erfahrene Gefühl mitzuteilen, dasselbe wieder in sich erzeugt und es durch gewisse äußere Zeichen zum Ausdruck bringt.«68 Was aber ist der Unterschied zwischen dem Gähnen, Lachen, Weinen und Leiden, welches einmal von einer Nicht-Kunst und 67 SONTAG, Das Leiden anderer betrachten, S. 66. 68 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 86-87.

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im anderen, von Tolstoi begünstigten Fall, von Kunst hervorgerufen wird? In beiden Momenten sind es Reflexe und Gefühlsregungen, die den Zuschauer überkommen, jedoch handelt das eine Beispiel vom Schauspiel und der Empathie, das andere vom Sublimen und dem Affekt.

Empathie: Katharsis als Seelentherapie Ein empathisches Nachempfinden der Gefühle eines Gegenübers ist aber nicht alleine den bildenden Künsten vorbehalten. Das Einfühlungsvermögen, welches Grundlage ritueller Handlungen schon bei den Naturvölkern war, ist auch heute noch Basis für zeremonielle, kulturelle und religiöse Riten einer zeitgenössischen Gesellschaft. Eine erste schriftlich niedergelegte theoretische Einsicht in dieses Phänomen legt Aristoteles’ »Poetik« nahe. Darin definiert er Gehalt, Sinn und die Auswirkungen, welche das nachahmende Schauspiel auf die Zuschauer haben solle am Beispiel der Tragödie: »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache […] – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Berichte, die Jammer und Schauder hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«69 Um Jammer (eleos) und Schauder (phobos) entstehen zu lassen, müsse dabei gleichwertig Schaudererregendes und Jammervolles zur Darstellung gebracht werden.70 Die universell gültigen, schicksalhaften Motive umfassen die in dieser Schrift diskutierten Unwägbarkeiten des Abjekten, des Alterns, von Erkrankung und Tod. Der amüsante Gegenstand, der frohes Lachen in uns wachruft, wird in Aristoteles’ reinigender Theorie nicht mitgeführt, denn: »Schreckliche Gegenstände verschaffen uns erstens besonders heftige Reizungen unseres Seelenapparates und dann auch noch die freudige Erleichterung darüber, daß sie ›nur‹ künstliche Illusion waren. Angenehme Gegenstände bewirken dagegen nur mäßigere Bewegungen der Leidenschaften, und das Bewußtsein ihrer Unwirklichkeit ist überdies eher eine Enttäuschung.«71 Laut Aristoteles, tritt eine kathartische Erfahrung insbesondere dann ein, sofern an einem bestimmten Punkt des Schauspiels eine Erkenntniswende stattfindet, ein Umschlagen von der Unkenntnis zur Kenntnis. Mit der Peripetie entwickeln sich infolgedessen die glücklichen Ereignisse hin zu einem unglücklichen Ausgang, der weder dem Handelnden noch dem Zuschauer erspart bleibt.72 Nebst der Peripetie und der Wiedererkennung setzt Aristoteles als dritten Aspekt denjenigen des schweren Leidens: »Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z.B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.«73 Der kathartische Begriff des Aristoteles sollte für die Dramentheorie bis in das ausgehende 18. Jahrhundert Gültigkeit besitzen. Noch Lessings Überlegungen nähren sich am Bild des seinen Schmerz herausschreienden Helden des antiken Theaters: »Alles 69 70 71 72

ARISTOTELES, S. 19, Punkt 6. Vgl.: ARISTOTELES, S. 33, Punkt 9. MENNINGHAUS, S. 53. Vgl.: ARISTOTELES, S. 35, Punkt 11. Beispielhaft führt Aristoteles den Erkenntnisgewinn des Ödipus an, der im besten Fall – wie in dieser Tragödie des Sophokles – mit der Peripetie in‐eins fällt. 73 ARISTOTELES, S. 37, Punkt 11.

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Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessirende Gegenstand äussert. Sieht man ihn sein Elend mit grosser Seele ertragen, so wird diese grosse Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen unthätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche Vorstellung, ausschliesset. Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es wahr ist, daß das Schreyen bey Empfindungen körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer grossen Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht seyn, warum dem ohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses Schreyen nicht nachahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses Geschrey mit bestem Vorsatze ausdrücket.«74 Wir kennen den von Lessing im Weiteren ausgeführten Grund: Laokoon durfte als ein Meisterwerk der bildenden Künste seinen Schmerz nicht schreiend kundtun, da er sonst dem Abjekten Vorschub geleistet hätte. Die schönen Künste erlaubten keine Einblicke in den rohen, geöffneten und schmerzerfüllten Körper.75 Auch die moderne Katharsistheorie, wie sie in der Psychoanalyse mit der Entwicklung von Therapiemethoden durch Sigmund Freud und Josef Breuer Eingang fand, beruft sich auf den aristotelischen Moment der Peripetie, der von den Patienten erneut durchlebt werden müsse, um zu einer von Ängsten und Zwängen befreienden und heilenden Reinigung zu gelangen.76 Nichts Anderes als eine kathartische, da analytische und damit reinigende Energie, bezweckt kurze Zeit danach Artaud mit seinem »Theater der Grausamkeit«, indem er sich wieder auf die Ansteckungsfähigkeit der griechischen Volksschauspiele besinnt: »Die lange Gewöhnung an Schauspiele, die der Zerstreuung dienen, hat uns die Vorstellung eines feierlichen Theaters vergessen lassen, das alle unsere begrifflichen Vorstellungen durcheinanderwirft, uns einen glühenden Magnetismus von Bildern einflößt und schließlich wie eine Seelentherapie auf uns wirkt, deren Vorbeiziehen unvergeßlich bleiben wird. Alles, was handelt, ist eine Grausamkeit. Nach dieser bis zum äußersten getriebenen, extremen Vorstellung von Handlung muß sich das Theater erneuern. Von dieser Vorstellung durchdrungen, welche die Menge zunächst nur mit den Sinnen denkt und an deren Verständnis sich zu wenden, wie beim gewohnten psychologischen Theater, absurd ist, setzt sich das Theater der Grausamkeit zum Ziel, wieder zum Massenspiel zurückzukehren; in der Bewegung bedeutender, doch konvulsivischer und gegeneinander getriebener Massen etwas von jener Poesie zu suchen, die an den heute viel zu seltenen Tagen, an denen das Volk auf die Straße geht, in den Festen und in der Menschenmenge ist.«77 Was in der Psychoanalyse in einem Têtê-à-têtê zwischen dem Therapeuten und dem Patienten geschieht, richtet Artaud in der Grausamkeit seiner theatralen Inszenierung wieder auf das Volk als Gesamtheit und in seiner Gemeinschaft aus. Wie in der griechischen Tragödie erfolgt hier eine Ansteckung so vieler, indem sich das Wahrgenommene gleichzeitig auf das Selbst und die 74 LESSING, S. 15. 75 Vgl.: Kapitel III.1. 76 Vgl. hierzu die ausführliche Auseinandersetzung mit der Katharsis-Theorie bei Sigmund Freud und Josef Breuer in: AUGSBURG, S. 167ff, sowie in: SCHEFF, S. 46. 77 Antonin Artaud, »Das Theater und die Grausamkeit«, in: ARTAUD, S. 89-93, hier S. 89-90. Vgl. auch Kapitel II.3.1.

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Anderen auswirkt und jeder dieser Wirkung im Gegenüber ansichtig wird. Katharsis im Kollektiv führt entsprechend nicht nur zu einer Stärkung des Zusammenhalts, sondern potenziert auch das selbst Empfundene, da man es in den Anderen bekräftigt sieht.78 Spätestens an dieser Stelle wird ersichtlich, dass das kathartische Erlebnis nebst seiner Reinigung durch empathisch durchlebten Schmerz und Jammer eben nicht nur negative Empfindungen zu transportieren vermag, sondern dem Zuschauer letztlich auch ein Fest ist. Davon einmal abgesehen, dass das Theater an sich nach wie vor ein freiwilliges, endliches und positiv konnotiertes Freizeitvergnügen darstellt, bedeutet es auch ein vergnügliches und lehrreiches Miteinander, zumal es aufbauende und lebensbejahende Charakterzüge in uns zu Tage fördert. Um mit einem anderen mitleiden zu können, bedarf es schlichtweg affirmativer Kompetenzen, die dem Menschen als positive Eigenschaft angerechnet werden. Und noch weitere, unmittelbar als positiv empfundene Regungen stellen sich ein: die der Genugtuung, der Schadenfreude und ein Erschöpfungszustand, der uns nach der Befriedigung von Triebkräften überkommt. Edmund Burke spricht von einer besonders perfiden Spezies des Vergnügens: »It is by [sympathy] that we enter into the concerns of others; that we are moved as they are moved, and are never suffered to be indifferent spectators of almost any thing which men can do or suffer. For sympathy must be considered as a sort of substitution, by which we are put into the place of another man, and affected in many respects as he is affected […]. It is by this principle chiefly that poetry, painting, and other affected arts, transfuse their passion from one breast to another, and are often capable of grafting a delight on wretchedness, misery, and death itself. It is a common observation, that objects, which in the reality would shock, are, in tragical, and such like representations, the source of a very high species of pleasure. […] The satisfaction has been commonly attributed, first to the comfort we receive in considering that so melancholy a story is no more than a fiction; and next, to the contemplation of our own freedom from the evils which we see represented.«79 Die kathartische Abreaktion stellt sich somit auch auf Kosten anderer ein, bietet uns eine Art Ersatzbefriedigung, indem uneingestandene Triebe und destruktive Energien an die Oberfläche schwappen und anstelle einer normativen Verdrängung im Gegenüber zur Schau gestellt, abgearbeitet und getätigt werden. Wir werden dem unbefriedigbaren Bedürfnis einer Übertretung zumindest im Anderen ansichtig. Ein stellvertretendes Ventil aber lässt auch weiterhin die Schutz- und Kontrollmechanismen einer Gesellschaft in Kraft, an der wir im Anschluss an die triebhafte Entladung wieder teilhaben möchten und können.80 Auch hier werden wieder Anleihen an einen christlichen Kontext deutlich. Oder vielmehr umgekehrt: Das Leiden Christi in Wort und Bild baut auf eine kathartisch übertragbare Empathie, die ein mitfühlendes und zugleich Erlösung verheißendes Erlebnis verspricht. Die zahlreichen Wunden des Gekreuzigten, später auch derjenigen, die Christus in seinem Martyrium folgten, die Zerfleischung der gezeigten Leiber, die so eindringlich und detailliert geschilderten Qualen des christlichen Personals, fordern 78 Vgl. u.a.: FISCHER-LICHTE, S. 335, sowie SCHEFF, S. 57. Vgl. auch Kapitel IV.1.1. 79 BURKE, S. 39-40 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. 80 Vgl. u.a.: KRIS, Ernst, Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1977, S. 47-48; MENNINGHAUS, S. 16-17; sowie TABOR, S. 170.

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zu einer imitatio Christi, jedoch vor allem zu einer Ko-Empfindung heraus. In beiden Fällen zielt die Affektansteckung auf ein körperliches Verstehen von Gefühlen ab, die wir aus unserer Vergangenheit bereits kennen und durch Anschauung wiederbelebt werden können. Damit wären wir wieder bei dem von Jill Bennett für diese Befähigung unseres Körpers genutzten Begriff der »sense memory« angelangt: »Revelation proceeds from bodily affect; the stigmatic does not read his or her wounds but feels their true meaning. Truth is revealed to the body, never to the onlooker, except as the spectator is ›touched‹ by the image and, through a process of contagion, induced to become the image. The becoming implied in this premodern concept of imitation […] entails precisely taking on the pain of the other; seeing from the body so that one sees truth in a more profound way. And this is what the art of sense memory may achieve by touching the viewer, bringing him/her into contact with the image. Sense memory doesn’t just present the horrific scene, the graphic spectacle of violence, but the physical imprint of the ordeal of violence: a (compromised and compromising) position to see from.«81 Dies ist aber zugleich der Punkt, an dem wir in unserer Empathie an Grenzen stoßen: in der Schmerzerfahrung. Wie nicht zum ersten Mal bemerkt, erfahren wir den Schmerz lediglich dann adäquat, wenn er uns selbst quält. Hierin findet sich ein zusätzlicher Grund dafür, weshalb der körperliche Schmerz des Laokoons von vorneherein eher in seinem edlen seelischen Ausdruck verewigt, als in seiner »entstellenden Heftigkeit«82 dargestellt wurde. Lessing selbst verweist hierauf: »Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht fähig, welches andere Übel erwecken. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die blosse Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns hervor zu bringen vermöchte.«83 Eine empathische Regung des Zuschauers würde demnach entweder gar nicht erst erwirkt, oder aber wechselt über in sein krasses Gegenstück: Abscheu, Widerwillen und Ekel.84 Die geschönte Pein des Stellvertreters führt zu einer Überdistanzierung, das viehische Leid desselben zu einer Unterdistanzierung im Betrachter.85 Damit erreicht nicht nur der Zuseher die jeweiligen Grenzen – nach oben und unten hin – seiner Empathiefähigkeit, sondern vielmehr stößt die Katharsis an ihre Grenzen, indem sie eine Linie zieht: diejenige einer ästhetischen Distanz.86 Sowohl die unmäßige Verlustierung, die auch die Lust am Schrecken umfasst, als auch die Erzeugung einer übermäßigen Aversion, liegen Aristoteles Grundidee einer Katharsis fern: »Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte, sondern nur noch das Grauenvolle herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe 81 82 83 84

BENNETT, S. 39 [kursive Hervorhebungen durch Jill Bennett]. LESSING, S. 23. LESSING, S. 31. Vgl.: LESSING, S. 23; BENNETT, S. 35; sowie Catherine Nichols, »Den Schrei malen. Zwischen Ästhetik und Anästhetik in der zeitgenössischen Kunst«, in: BLUME, S. 218-226, hier S. 221 und S. 225. 85 Vgl. auch: SCHEFF, S. 25-26 und S. 63-65. 86 Die »ästhetische Distanz« wird von dem Soziologen Thomas J. Scheff wie folgt definiert: »Bei ästhetischer Distanz besteht ein Gleichgewicht von Denken und Fühlen. Es besteht eine tiefe emotionale Resonanz, aber auch ein Gefühl der Kontrolle. Wird ein verdrängtes Gefühl wie Trauer bei ästhetischer Distanz neu stimuliert, wird das darauffolgende Weinen nicht unangenehm sein: es laugt weder aus noch erschöpft es. Die Person fühlt sich erfrischt, wenn es vorbei ist. Das gleiche gilt für Furcht, Zorn und Verlegenheit.«, in: SCHEFF, S. 67.

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der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße.«87 Nach der sich hier offenbarenden klassischen Katharsis-Theorie, muss den Werken Hannah Wilkes, ORLANs und Gregor Schneiders ein empathisches Feedback vorenthalten bleiben, wäre da nicht ein bereits angedeuteter Zwiespalt zwischen dem Abjekten und seiner anziehenden Wirkung. Das Körperdrama stößt uns gleichermaßen ab wie es uns fesselt, weswegen Lessing das Folgende zu bedenken gibt: »Nur wenn der mißgebildete Körper zugleich gebrechlich und kränklich ist, wenn er die Seele in ihren Wirkungen hindert, wenn er die Quelle nachtheiliger Vorurtheile gegen sie wird: alsdenn fliessen Verdruß und Wohlgefallen in einander; aber die neue daraus entspringende Erscheinung ist nicht Lachen, sondern Mitleid, und der Gegenstand, den wir ohne dieses nur hochgeachtet hätten, wird interessant.«88 Repulsion und Attraktion, die Abscheu und Lust am Ekelhaften, Empathie und Affekt, Schmerz und Terror, das Erbärmliche und das Erhabene gehen ineinander über.89 Die Stoßrichtung zielt auf unseren eigenen Körper und Geist ab, lässt eine Verbrüderung mit dem Gegenüber zu und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es sind, die gemeint sind. Gefahr ist in Verzug: »Having considered terror as producing an unnatural tension and certain violent emotions of the nerves, it easily follows, from what we have just said, that whatever is fitted to produce such a tension must be productive of a passion similar to terror, and consequently must be a source of the sublime, though it should have no idea of danger connected with it: so that little remains towards showing the cause of the sublime, but to show that the instances we have given of it […] relate to such things as are fitted by nature to produce this sort of tension, either by the primary operation of the mind or the body. With regard to such things as affect by the associated ideas of danger, there can be no doubt but that they produce terror, and act by some modification of that passion; and that terror, when sufficiently violent, raises the emotions of the body just mentioned, can as little be doubted.«90 Wie von Edmund Burke prognostiziert, wandelt sich hierdurch der Terror zum Sublimen. Ein empathisches Mitgefühl ist entsprechend nicht die richtige Bezeichnung für die von den Werken Hannah Wilkes, ORLANs und Gregor Schneiders hervorgerufenen Empfindungen. Jenseits einer Empfindung ist es vor allem ein körperliches Begreifen, es sind Impressionen im Sinne einer Prägung am eigenen Leib, die hier greifen. Vor wenig mehr als zwei Jahrzehnten ist diese bislang kaum fassbare körperliche Reaktion nun auch von den Naturwissenschaften beglaubigt worden.

Spiegelneurone: Das auslösende Moment Was die Neurobiologie seit Anfang der 1990er Jahre nachweisbar macht, ist die biologische Basis einer Katharsis-Theorie. Damit haben die Neurowissenschaften auf einer methodischen Ebene eine Begründung dafür nachgereicht, womit Aristoteles, die Psychoanalyse, die Theaterwissenschaften, die bildenden Künste und auch unsere eigene 87 88 89 90

ARISTOTELES, S. 43, Punkt 14. LESSING, S. 168. Vgl.: BURKE, S. 134-135; MENNINGHAUS, S. 16-17; sowie Kapitel III.2. BURKE, S. 136-137.

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Neigung zur Empathie seit jeher Umgang pflegen, nämlich: »Die Fähigkeit, die Empfindungen, Motive und Absichten anderer Menschen intuitiv verstehen zu können.«91 Diese Auffassungsgabe bezeichnet man in der Psychologie und den Kognitionswissenschaften als »theory of mind«, kurz »TOM« genannt.92 Es bedeutet das intuitive Verstehen des Gegenübers dadurch, dass wir innerlich dessen Gefühlszustände zu simulieren in der Lage sind. Verantwortlich hierfür zeichnen Spiegelnervenzellen in unserem Gehirn, so genannte Spiegelneurone, anhand derer unser Empfinden und Erleben und das hieraus resultierende Verhalten dirigiert werden. Konkret heißt dies, dass »[w]enn Menschen zuschauen, wie jemand anderes eine zielgerichtete Aktion ausführt, […] es im Beobachter zu einer stillen Mit-Aktivierung prämotorischer Nervenzellen [kommt], jener Neuronen, die in der Lage wären, die beobachtete Handlung selbst zu veranlassen.«93 Für eine beweisführende Erforschung dieser recht offensichtlichen Vernetzung zwischen den Menschen, beobachtete man zunächst die Gehirnimpulse von Makakenaffen und stellte fest, dass Neuronen des Hirnrindenareals F5 in zweierlei unterschiedlichen Situationen gleichermaßen involviert waren und feuerten: einmal, wenn der Affe eine bestimmte Tätigkeit ausübte, und ein anderes Mal auch dann, wenn das Tier lediglich jemandem bei der Ausübung derselben Tätigkeit zusah. In letzterem Fall spiegelte sich der Handlungsablauf alleine auf einer gedanklichen Basis, weswegen die so entdeckten Neuronen als »mirror neurons«, als »Spiegelneurone« in den Fachjargon eingingen.94 Diese Erkenntnis beschrieben Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia als »die Kongruenz zwischen dem vom Neuron kodierten motorischen Akt und dem beobachteten motorischen Akt, der bei der Aktivierung des Neurons wirksam ist.«95 Das heißt, dass unser Sehen auf Resonanz stößt: wir erkennen die Bewegung und wissen, was dadurch geschieht.96 Freilich muss zugegeben werden, dass diese Gehirnprozesse auch auf einer kognitiven Ebene – also auf sensorische wie visuelle Weise – motiviert sowie verstanden werden können. Jedoch ist das motorische Verständnis und die Rückmeldung, die es im Gehirn auslöst, ganz anderer Natur als unser kognitives Wissen: es erlaubt uns eine zusätzliche, körperlich empfundene Verknüpfung zwischen dem Selbst und dem Anderen herzustellen, die uns zu leiblichen Mit-Wissern werden lässt. So urteilen die Neurobiologen Rizzolatti und Sinigaglia wie folgt anhand einer eingängigen Anekdote: »Nur [das 91 BAUER, Joachim, »Das System der Spiegelneuronen. Neurobiologisches Korrelat für intuitives Verstehen und Empathie«, in: literaturkritik.de, Nr.12, Dezember 2006, n.p., auf: www.literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=10237 [zuletzt aufgerufen am 21. November 2016], sowie RIZZOLATTI, S. 11. 92 Vgl.: BAUER, Art., 2006, n.p. 93 BAUER, Art., 2006, n.p. 94 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 91. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss das Nervengewebe eines Tieres bei lebendigem Leib sondiert werden, um neurale Aktivitäten messen zu können. Im Jahr 2010 gelang dies auch beim Menschen und führte zu vergleichbaren Ergebnissen. Davor wurden empirische Untersuchungen vorgenommen, die ähnliche Rückschlüsse zuließen; vgl.: Eugénie Shinkle, »Uneasy Bodies: Affect, Embodied Perception and Contemporary Fashion Photography«, in: PAPENBURG, Bettina, und Marta Zarzycka (Hgs.), Carnal Aesthetics. Transgressive Imagery and Feminist Politics, New York 2013, S. 73-88, hier S. 77 sowie Fußnote 2. 95 RIZZOLATTI, S. 93. 96 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 109.

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motorische Wissen] führt das beobachtete motorische Ereignis zu einer Einbeziehung des Beobachters in erster Person, die ihm gestattet, es unmittelbar zu erleben, als ob er selbst der Ausführende wäre, und seine Bedeutung vollkommen zu verstehen. Die Tragweite dieses ›als ob‹ hängt vom motorischen Wissen des Beobachters ab, sowohl seinem eigenen wie dem der Spezies. Um es mit der glänzenden Bemerkung des kleinen Leo Sperber (Sohn des bekannten Dan) zu sagen: ›Weißt du, Papa, warum ich kein Hund sein möchte? Weil ich nicht wüsste, wie man mit dem Schwanz wedelt.‹«97 Die Resonanz-Mechanismen, die beim Affen zu beobachten waren, konnten auch für das Humanverhalten nachgewiesen werden, allerdings in einer weitaus ausgeprägteren Form und mit zusätzlichen Funktionen: der Mensch unterscheidet zwischen einer transitiven und einer intransitiven Relation, in der er sich zu seinem Gegenüber befindet und damit auch zwischen einer transitiven Handlung und einer nicht‐transitiven. Das erstere, das transitive Handeln ist dasjenige, bei dem durch eine von uns ausgeübte Tätigkeit tatsächlich etwas geschieht; die intransitive Handlung ist diejenige, die sich während der Beobachtung einer Handlung, die von anderen getätigt wird, einstellt und nur in unserer Vorstellung, also nicht in realitate nachvollzogen wird. In beiden Fällen werden dieselben motorischen Areale in unserem Gehirn tätig.98 Die Spiegelneurone lassen uns sowohl die Bewegungen der anderen mit unseren eigenen abgleichen, als auch deren Konsequenz und Bedeutung für uns und den Anderen erkennen. Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein neuronaler Impuls des Gehirns zwar sowohl bei einer tatsächlichen Handlung wie auch bei einem gedanklichen Nachvollziehen dieser Handlung ein und derselbe ist, doch bedeutet dies umgekehrt nicht, dass eine neuronale Aktivität des Gehirns auch immer eine Handlung nach sich zieht. Der von einer alleinigen Beobachtung ausgelöste Impuls wird zumeist gehemmt und deshalb nicht ausagiert. Eine vollständige Reproduktion der Handlung ist nicht erforderlich, denn wir erfassen auch so die faktische wie emotionale Reichweite seiner Bedeutung.99 Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn man bedenkt, dass ansonsten alle wahrgenommenen Handlungen, darunter auch Gewaltakte, automatisch zu ebensolchen gespiegelten Reaktionen führen würden. Für die performative Kunst, hier vornehmlich die Body Art, ist dies von immenser Bedeutung, hieße dies doch andernfalls, dass derjenige, der Chris Burdens Aktion Shoot beiwohnte, ebenfalls nach dem Gewehr gegriffen hätte, Zuschauer der Performances von Gina Pane und Marina Abramović sich selbst Schnittwunden zugefügt hätten oder die Rezipienten von ORLANs Performance-Operationen ebensolche an sich vollziehen lassen hätten. Wie wir wissen und dies auch logisch nachvollziehen können, ist dies nicht der Fall. Dennoch muss ebenso sehr betont werden, dass der von den Hirnregionen ausgelöste Nachahmungseffekt nicht nur Handlungsimpulse und Bewegungsakte freisetzt, sondern durch ihn gleichfalls Emotionen adäquat überliefert werden. Deshalb hängt ein empathisches Verhalten den Mitmenschen gegenüber nicht minder von den Spiegelneuronen ab. Hans Dieter Huber spricht von ihnen deshalb als eine »biologische Ba97 RIZZOLATTI, S. 143. 98 Den Nachweis führte man durch die transkaniale Magnetstimulation (TMS); vgl.: RIZZOLATTI, S. 130-131. 99 Vgl.: FISCHER-LICHTE, S. 54-55, Fußnote 43; RIZZOLATTI, S. 107 und S. 189.

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sis unseres Mitgefühls«, die uns ein emotionales Verständnis für die inneren Konflikte und Befindlichkeit des Gegenübers aufbauen lässt.100 Dies ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für eine Kunst, wie sie in dieser Schrift beschrieben wird, die gerade auf eine geistige wie körperliche Interaktion zählt. Unsere »embodied simulation« in Anbetracht von Kunst, lässt uns wiederum nicht nur erkennen, was sich im Rahmen dieses Kunstschaffens zuträgt, sondern auch die emotionalen Zustände aller darin Teilhabenden erklären sich wie von selbst, das sind: die Intention der Künstler, der Antrieb ihres Tuns sowie die Emotionen und Reaktionen der anderen Betrachter.101 Zu den im Anderen wiedererkennbaren Emotionen gehört auch der Schmerz. Gerade hier ist es wichtig zu verstehen, dass wir gleichermaßen körperlich als auch emotional auf die Schmerzen anderer reagieren. Eine körperliche Reaktion auf die Schmerzen anderer verläuft dabei reflexartig und automatisch ab. Die Medizin wie die Kognitionswissenschaften sprechen von einem viszeromotorischen Auslöser, der eine unwillkürliche Muskelbewegung verursacht. Bildhaft gesprochen, ziehen sich uns beim Anblick von Schmerzen, Wunden und Verletzungen anderer die Eingeweide zusammen. Die emotionale Teilhabe am Schmerz ist dahingegen von einem zusätzlichen Faktor abhängig: dem des Mitleids. Letzteres wird beim Anblick von Schmerzen zwar ebenfalls zwangsläufig ausgelöst, jedoch ist der Grad der empfundenen Empathie mitunter davon abhängig, wer derjenige ist, den die Schmerzen plagen. Je näher uns der andere steht, je mehr wir dessen – am besten darüber hinaus unverschuldetes102 – Leid bedauern, desto mehr berührt uns der Schmerz. Handelt es sich dagegen etwa um einen Feind, hält sich auch unser Mitleid in Grenzen. Die viszeromotorische Übertragung bleibt davon jedoch unbenommen. Das heißt wiederum, dass die Empathie immer mit einer körperlichen Reaktion auf den Schmerz einhergeht, aber umgekehrt nicht jedes körperhafte Grauen vor dem Schmerz auch zu einer empathischen Übertragung führt.103 Wenn wir selber Schmerz empfinden und ebenso, wenn wir den von Schmerzen gequälten Anderen betrachten, schlagen in unserer Großhirnrinde dieselben Areale an. Selbst Schmerzen zu haben, ist ein Gefühl erster Ordnung – es betrifft den eigenen Körper und das Selbst. Die Schmerzen des Anderen zu sehen, ist ein Gefühl zweiter Ordnung – es bedarf einer zweiten Person, eines von unserem Selbst abgekoppelten Objekts, auf das unser Mit-Leid gerichtet werden kann. Letzteres – und nur letzteres – trifft auf den Ekel zu. Der Sitz der Hirnregion, der sich für das Empfinden von Ekel als zuständig erweist, ist ein Rindenfeld unseres Gehirns, welches als Insula bezeichnet wird. Von dort werden auch die mit dem Ekel leicht in Verbindung zu bringenden olfaktorischen und gustatorischen Reize verarbeitet.104 Interessant erweist sich für die Kunstwerke in dieser Untersuchung nun die Tatsache, dass wiederum dieselben Areale des Rindenfeldes anschlagen, also die Insula aktiviert wird, sowohl wenn wir etwas Übles schmecken 100 HUBER, Hans Dieter, »Lustmörder und Selbstverstümmler. Gewaltphantasien in der Kunst«, unveröffentlichter Vortrag anlässlich der 2. Stuttgarter Kriminächte, 18. März 2011, Justizministerium Stuttgart, S. 10, sowie RIZZOLATTI, S. 176. 101 Eugénie Shinkle, in: PAPENBURG, S. 73-88, hier S. 77. 102 Vgl. hierzu die Kapitel III.3 und IV.1.1. 103 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 190. 104 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 178.

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oder riechen, als auch wenn wir den Ausdruck des Ekels bei jemand anderen beobachten.105 Auch bei der Empfindung des Ekels werden entsprechend Spiegelneurone tätig, die beide von uns sensorisch gemachten Erfahrungen widerspiegeln und umsetzen – die olfaktorisch‐gustatorischen wie die visuellen Reize.106 Was überrascht, ist, dass der Ekel wie der Schmerz, den wir empfinden, wenn er andere betrifft, Spiegelneurone im selben, vorderen Bereich der Hirnrinde in Reaktion treten lassen, in der auch die »Schmerzmatrix« ihren Sitz hat.107 Für eine Kunst, die performativ tätig wird, die das Leben wieder leibhaftig spürbar macht, die unsere »sense memory« aktiviert, deren Ausdrucksformen auf all unsere Sinne auch jenseits des Visuellen abzielt, ist es unabdingbar, die eben angeführten kognitiven und sensorischen Gehirnreaktionen und deren Konsequenzen zu kennen, um sie in Gänze verstehen und ihre zielgerichtete Funktion begreifen zu können. Kunst, die Grenzen überschreitet, rechnet mit unserer reflexhaften wie emotionalen Resonanz: »Die wichtigste Idee in der Katharsisdefinition von Freud und Breuer ist, daß sie ein Reflex sei – ein ungelernter, unwillkürlicher und im Grunde instinktiver, körpereigener Prozeß.«108 Reflexe sind nach den eben gewonnenen Erkenntnissen zwar vorhersehbar – kontrollierbar sind sie jedoch bis auf weiteres nicht.

Affekt: Katharsis durch Transgression Angesichts dieser Erkenntnisse hofft man auf ein In-Kraft-Treten des Kant’schen Imperativs, wie er gerne im Volksbrauch bemüht wird: Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu. Dies aber geschieht in den Werken von ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider nicht. Und es ist ebenso wenig tröstlich, erfahren zu haben, dass das Auslösen einer Empathie auch dann erfolgt, wenn man Antipathie empfindet. Was unabwendbar dennoch daraus resultiert, ist ein emotionales Miteinander der beteiligten Parteien, eine Zwangshandlung, die uns mit-einander fühlen lässt. Wie bereits festgehalten, wird Empathie zuallererst über das erzeugt, was wir über den Sehsinn vermittelt bekommen. Das Mitleid resultiert zunächst einmal aus den heiklen Bildinhalten und den in Konsequenz hergestellten prekären Sichtachsen zwischen den einzelnen Teilnehmern und/oder Beobachtern. Die Identität des Betrachters geht aufgrund der Aktivierung von Spiegelneurone und einer damit einhergehenden Identifizierung mit dem Gesehenen über in die Identität des Gegenübers: »Precariousness – and this is its first trait – is an unsettling of vision that occurs at the viewer‐image interface, a quality addressed to the viewer that troubles the full visual access to the image (and beyond, to the reality to which it refers). The revaluation of identification plays a major role in this precariousness.«109 Eine Intensivierung erfahren visuelle Eindrücke in der Life-Performance und in Installationen, so genannten Environments, 105 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 181-182. 106 Vgl.: RIZZOLATTI, S. 185: »[D]ie Versuchsteilnehmer [erkennen] auf den gesehenen Gesichtern nicht einen beliebigen Ausdruck, sondern den Ausdruck des Ekels […].« 107 Vgl.: BAUER, Art., 2006, n.p., sowie RIZZOLATTI, S. 185. 108 SCHEFF, S. 53. 109 Christine Ross, »Introduction: The Precarious Visualities of Contemporary Art and Visual Culture«, in: ASSELIN, S. 3-16, hier S. 8.

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die eine leibhafte Erfahrung des Dargestellten in der Echt-Zeit ermöglichen. Sowohl die Life-Ereignisse, aber auch das daraus resultierende Material, dessen man auch später noch ansichtig werden kann, basieren auf dem Wissen, dass die Performance kein fiktionales Schauspiel darstellte und die daraus gewonnenen Dokumente und Relikte einer Real-Situation entstammen. Ein »Als‐ob« und die Fiktion liegen diesen dem Ereignis verpflichteten Künsten fern, »[d]enn der Darstellungsmodus des Als‐ob auf produktionsästhetischer Seite ist auf rezeptionsästhetischer Seite gekoppelt mit der Haltung ästhetischer Distanz.«110 Vielmehr konstituiert die aktive Teilhabe des Betrachters den ästhetischen Akt. Und nur so kann die von Erika Fischer-Lichte hierfür beschriebene feedback-Schleife zu zirkulieren beginnen: »Am Beispiel sich artikulierender Gefühle wird einsichtig, inwiefern Bedeutungen, die der Zuschauer erzeugt, auf die Autopoiesis der feedback-Schleife einzuwirken vermögen, inwiefern also Bedeutungen Wirkungen hervorrufen. Denn die körperlichen Artikulationen, die von den anderen Zuschauern oder auch den Akteuren gesehen, gehört, gerochen oder gespürt werden, rufen bei denen, die sie wahrnehmen, gegebenenfalls wiederum wahrnehmbare Verhaltensweisen und Handlungen hervor und so fort.«111 Die Theaterwissenschaftlerin setzt hinzu, dass die bedeutungsstiftenden Elemente sich freilich wechselseitig bedingen und in Konsequenz auch nicht vorhersagbar sind. Werden innerhalb einer derartigen Konstellation extreme Gefühle zur Anschauung gebracht, die gleichzeitig mit einem körperlichen Nachempfinden verbunden werden können – hierzu zählen wie festgestellt der Schmerz, das Abjekte und der Ekel davor und nicht zuletzt existenzbedrohende Ängste –, wandelt sich die in einem kathartischen Akt normalerweise freigesetzte und harmlose Empathie zu einem emotionalen wie leiblichen Eindruck des uns alarmierenden Affekts. Eben bezeichnete Erfahrungen, mit denen wir uns in der Anschauung anhand der sie spiegelnden Neurone identifizieren, lassen uns nicht nur innerlich zusammenzucken, die Muskeln anspannen und Übelkeit aufkommen, sondern bringen infolgedessen unser eigenes Leben vorübergehend in Gefahr.112 Es ängstigt uns, dass wir an Stelle des Gegenübers treten und in unserem tiefsten Inneren wissen wir, dass dies im Fall der Alterung, der Erkrankung und des Todes aber so sein wird. ORLANs geöffneter Körper, Wilkes tödliche Erkrankung, Schneiders Sterbezimmer sind für den Zeitpunkt eventuell verfrühte und dennoch bewusstmachende Prophezeiungen. Der Affekt, der uns das Beobachtete nachempfinden lässt, in dem wir uns winden, lässt uns auch zurückweichen. Denn wir haben Erfahrung in der Schmerzwahrnehmung, wir wissen, wie sich Verletzungen anfühlen, wie Haut durchschnitten wird, wie dumpf ein Stoß wehtut, wie stechender Schmerz den Kopf durchfährt, wie einen Zahnschmerzen sekkieren, wie sehr Wunden brennen. Um uns davon zu separieren, möchten wir uns nicht nur zurückziehen, sondern es zieht sich in uns auch alles zusammen. Dieses Sich-Winden bedeutet für Jill Bennett deshalb auch einen Schutzmechanismus: »Although the squirm is a recoil, a moment of regrouping the self, it is also the condition of continued participation, the sensation that works with and against the deeper‐level response, which on its own is unbearable. The squirm lets 110 Doris Kolesch, in: CADUFF, S. 88-101, hier S. 93. 111 FISCHER-LICHTE, S. 267, siehe auch S. 268. 112 Vgl.: JULIUS, S. 146.

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us feel the image, but also maintain a tension between self and image. It is part of a loop in which the image incites mimetic contagion acted out in the body of the spectator, which must continue to separate itself from the body of the other. And it is this function that enables one to see feeling as the property of another, and simultaneously to feel it – or at least to know it as felt. The squirm is in essence then, a moment of seeing feeling – the point at which one both feels and knows feeling to be the property of another. It is trivial, unwilled response that in terms of spectatorship can constitute an experiential link between affect (sensation in the present) and representation.«113 Eine gespiegelte Gestik, die einen Schutzmechanismus darstellt, lässt sich in vielen dokumentierten Aufzeichnungen der Performance-Kunst nachweisen: Als Gina Pane die Rasierklinge an ihre Lippen setzt, presst gleichzeitig eine Zuschauerin ihre Hand auf ihren Mund114 , Zuschauer der Videoaufzeichnung der Shoot-Performance von Chris Burden fassen sich an den linken Oberarm, die Innigkeit der langanhaltenden Blickwechsel zwischen den Marina Abramović Gegenübersitzenden in ihrer Performance The Artist Is Present, erfasst sichtlich auch alle anderen Umstehenden. Dass uns ein Bild zu diesen extremen Empfindungen motivieren kann, bestätigt nicht nur die Spiegelneuronen-Theorie, sondern so urteilt auch Elaine Scarry für die beinahe unmögliche Repräsentanz von Schmerz: »Wichtig ist hier nicht so sehr die Feststellung, daß Schmerz mit dem Bild der Waffe (oder der Wunde) faßbar gemacht wird, sondern daß er ohne Bilder nahezu unfaßbar bleibt.«115 Der Schmerz ist definitiv eine unserer wichtigsten sowie eine uns am Leben erhaltende Sinneswahrnehmung. Obwohl Schmerzen in erster Linie als eine negative Erfahrung konnotiert sind, stellen sie zum einen eine Schutzfunktion für unseren Körper dar116 , zum anderen hat der Schmerz eine lehrreiche Bestimmung.117 Ohne Schmerzen zu sein oder nie Schmerzen ertragen zu haben, bedeutet gleichsam, nie von den Affekten des Kummers und der Freude, des Horrenden und der Begeisterung, der Furcht oder der Begierde heimgesucht – oder eben auch berührt worden zu sein. Ein Leben ohne übersteigerte Triebe erfüllt ein in der neuzeitlichen Forschung als »Apathie-Axiom« anerkanntes krankhaftes Erscheinungsbild einer Person.118 Schmerz ist uns also nicht nur ein Gräuel, sondern zu gleichen Teilen auch lebensversichernd. Selbiges gilt für den Ekel in seiner – auch ethischen – Leibgebundenheit: »Er ist eben ›Ab w e h r reaktion‹ in ganz anderem, engerem Sinne. Daß er aber ästhetischer gefärbt ist als Angst, soll bereits hier zugegeben werden. (Ästhetik betrifft S o s e i n […]).«119 Ekel vermittelt sich nämlich über die Anschauung und resultiert in körperlichen Abwehrreaktionen wie dem Schaudern, Sich-Abwenden, Brechreiz und dem Zusammenziehen der Eingeweide.120 Und ebenso wie beim Schmerz suchen wir diesen 113 114 115 116

BENNETT, S. 43. Vgl.: O’DELL, S. 13. SCARRY, S. 30. Die krankhafte Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden, wird Analgesie genannt. Nehmen wir Schmerzen nicht wahr, kann den Warnsignalen unseres Körpers nicht rechtzeitig und durch eine notwendige Behandlung entsprochen werden. Eine Analgesie führt häufig zu einem frühen Tod. 117 Vgl.: Daniel Tyradellis, »Politik des Schmerzes«, in: BLUME, S. 37-44, hier S. 40. 118 Vgl.: Christoph Markschies, in: BLUME, S. 153-159, hier S. 153. 119 KOLNAI, S. 123; vgl. auch Kapitel III.2. 120 Vgl.: KOLNAI, S. 127-128.

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mit allen Mitteln von uns fernzuhalten. Der Ekel setzt Phobien in Gang. Diese sind wiederum affektbesetzt. Sofern sie nicht aus individuell motivierten Schicksalen resultieren, werden Phobien im Allgemeinen durch immer ähnliche Konflikte und Gegenstände ausgelöst. Sie sind den in dieser Schrift eruierten tabubrechenden Themen gleichzusetzen.121 Sofern diese essentiell lebensbedrohlichen Grenzen – und sei es in einer ästhetischen Auseinandersetzung – überschritten werden, befinden wir uns in einer existentiellen Bedrängnis: »Ästhetische Erfahrung wird hier als Krisenerfahrung erlebt, die mit ruhigem, abwägendem Nachdenken, mit reiner Kontemplation nicht zu bewältigen ist.«122 Nach Erika Fischer-Lichte handelt es sich hierbei um eine liminale Erfahrung, die sie als Schwellenerfahrung tituliert. Sie spricht ihr transformative Kräfte zu, deren Übergänge sie in einem Drei-Phasen-Modell beschreibt: da sei zuallererst die Trennungsphase, in der wir uns von unserer gewohnten Umgebung entfremdeten, die zweite Phase umfasse die eigentliche Transformation, in der wir auch verstörende Empfindungen zuließen, und die abschließende Etappe sei die Inkorporationsphase, in der man sich die Veränderungen der Grenzerfahrung einverleibt habe.123 Im Rahmen dieser Rezeptionserfahrungen findet gleichzeitig eine Neubewertung von bisherigen Bedeutungssystemen statt. Der zunächst als destabilisierend wahrgenommene Prozess des Wandels wird als ein bewusster und uns verändernder Akt vollzogen und als »embodied mind« sowohl intellektuell wie körperlich verinnerlicht.124 Eine ästhetische Erfahrung, die uns an die Grenzen des Ertragbaren führt, diese Liminalität spürbar werden und uns eine Schwellenerfahrung machen lässt, erfüllt alle Aspekte einer zeitgenössischen Katharsis.   Affekt anstelle von Empathie lässt sich auch mit den Arbeiten ORLANs heraufbeschwören. Obwohl ORLAN den Schmerz, dessen wir als Betrachter ihren PerformanceOperationen gewärtig werden, gar nicht verspürt, ziehen sich uns auch hier durch das In-Kraft-Treten der Spiegelneurone die Eingeweide zusammen. Diese unsere körperliche Reaktion gilt nicht nur für die Life-Performances, sondern gleichfalls für die daraus resultierenden Bilder, Filme, Dokumente und Reliquien. Ihre schmerzlose und abjekte Präsentation projiziert sie auf den Anderen, der an ihrer Stelle Schmerzen erleidet und Ekel empfindet und damit die feedback-Schleife vollendet. Es wird deutlich, dass sie das Geschehen nicht wie die Body Artists auf sich selbst zentriert, sondern den Zuschauer zum Mittelpunkt seines seelischen wie körperlichen Empfindens macht: »ORLAN pushes the visceral intersubjective encounter as performance to an extreme because she intends for the viewer to have a physical response to the work. (Artaud’s ›theater of cruelty‹ was also based on this mode of encounter.) Within this encounter and because her performances are also of the body, ORLAN performs Merleau-Ponty’s point that 121 Vgl.: FISCHER-LICHTE, S. 264-265, sowie Kapitel II.3. 122 FISCHER-LICHTE, S. 274-275. 123 Vgl.: Erika Fischer-Lichte, »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, in: KÜPPERS, Joachim und Christoph Menke (Hgs.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, S. 138-161, hier S. 139. 124 Vgl.: Erika Fischer-Lichte, in: KÜPPERS, S. 138-161, hier S. 152, vgl. auch S. 143-144 sowie S. 151 und S. 158.

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knowledge of embodiment evokes the knowability of self‐presence, or, to use Derrida’s term, auto‐affection, the necessary substitute for self‐presence.«125 ORLAN macht keinen Hehl daraus, dass sie dem Rezipienten ein kathartisches Erlebnis ermöglichen möchte. Hiervon zeugt auch eines der von ihr entworfenen fiktiven Filmplakate aus dem Jahr 2001, welches sie in rezitierender Haltung auf dem Operationstisch liegend in ihrer Performance Omniprésence zeigt. Das fingierte Kinoereignis, welches laut Plakat in Zusammenarbeit mit dem Regisseur David Cronenberg gedreht wurde, trägt den Titel »Catharsis«. Es tut der Katharsis keinen Abbruch, dass dennoch weiter der Ekel und Schrecken angesichts ihres geöffneten Leibes überwiegen und sich die irreale Abscheu des Betrachters angesichts des Zusammenwachsens der verschiedenen tierischen und menschlichen Organismen, einem Verschmelzen des Selbst und des Anderen in ORLANs aktuellem Schaffen von Bio-Kulturen weiter erhöht. Die Gewaltsamkeit der Bilder, die darin gezeigten abjekten Vorgänge sowie das offensive Handeln der Künstlerin lösen in uns keinerlei Empathie, sondern Affekte aus: körperliche Reize und intellektuelles Begreifen überkommen uns mit einer impulsiven Vehemenz. Ganz anders nehmen wir dahingegen die Arbeiten von Hannah Wilke wahr. Der in ihren Bildern gezeigte und durch Krankheit motivierte Schmerz unterscheidet sich von demjenigen, der uns beim Schauen der Operations-Performances von ORLAN ergreift. Hannah Wilke als auch wir, die wir dieses Leids ansichtig werden, haben die Kontrolle über den Schmerz und den Ekel verloren. So gesehen handelt es sich nicht mehr nur um eine reflexartige Übertragungsform der körperlichen Gebrechen und Emotionen, sondern um ein jähes Erschrecken, das übergeht in einen heftigen Affekt einer Abwehrreaktion, sobald wir realisieren, dass auch wir, unser Selbst mit diesen Bildern gemeint ist. Die körperliche wie intellektuelle Qualität des Leidens und der sich daran anschließenden Katharsis, liegt in den Erfahrungswelten eines Gregor Schneiders besonders hoch: sie halten einen hohen Grad der körperlichen wie seelischen Beanspruchung bereit und einen gleichermaßen hohen Grad einer anhaltenden Nachwirkung. Affekt stellt sich hier kaum als ein Reflex ein, sondern als bleibender Wert in der Realisierung eines Lebenszyklus, in dem wir nur punktuell vorkommen: Denn vor unserem Dasein waren wir nicht gewesen (i.e., es gibt ein Vormals), während unseres Daseins hält die Zeit nicht inne (sie ist eine Fortlaufende) und sie wird nicht mit unserem Tod enden (denn sie ist eine immer weiter Fortschreitende). In Gregor Schneiders Werk werden alle Lebensphasen in ihrer Gesamtheit geistig und in Konsequenz auch leiblich spürbar. Damit verinnerlicht sich uns der Mikrokosmos der eigenen, verhältnismäßig knappen Zeitspanne wie auch die unfassbar enormen Dimensionen eines sublimen Weltganzen. Es sind Erfahrungen von großer Dichte, an die uns Schneider heranführt und denen freilich auch anästhetische Erkenntnisse zugrunde liegen. Allen in dieser Schrift genannten Künstlern ist gemein, dass sie uns eine Erfahrung machen lassen, deren Tragweite erst im Nachhinein zu ihrem Begreifen führt. Dass in affekthaften Momenten die Emotion die Oberhand über den Intellekt gewinnt, ist eine theoretische Voraussetzung für den Affekt: »Though affect has no semantic content as such, and cannot be directly transcribed or fixed in an image, it has a relationship with 125 O’BRYAN, S.xv‐xvi.

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representation. Affect is manifest in images as a trace or index of processes and events that take place before meaning is expressed. Images, for their part, act to amplify and modulate affect, though not in logical or predictable ways. The intensity of an image – its affective charge – is fundamental to its semantic substance, but it is not linked to this substance in a straightforward way.«126 Der Affekt produziert ein Gefühl der ersten Ordnung, eines, welches sich in seiner unbestimmbaren Wucht keinem eindeutigen Begriff und keiner zielgerichteten Emotion zuordnen lässt. Affekt widerfährt zunächst alleine dem Leib. Erst sobald ein räumlicher wie zeitlicher Abstand eintritt, kann ein Verstehen einsetzen.127 Die Katharsis durch Transgression hat dann ihre erleichternde und reinigende Funktion erfüllt.

IV.2 Transgression – Die Grenze überschreiten Den mit dem Antichrist paktierenden Tondichter Adrian Leverkühn lässt Thomas Mann in »Doktor Faustus« am Ende in einer Lebensbeichte folgende Bekenntnis machen: »Ich habe […] gelernt, daß Grenzen zu setzen schon sie überschreiten heißt. Danach hab ich’s immer gehalten.«128 In diesem teuflischen Spiel sind die Gedanken frei und es ist ihnen erlaubt, in alle Richtungen abzuschweifen. Dies ist im eigentlichen Sinne ein Privileg der Menschheit: die Imagination nicht in die Tat umsetzen zu müssen. Denn: »Dürfte man alles tun, wäre es gefährlich, alles zu denken.«129 Um unseren Gedanken Einhalt zu gebieten, ist es deshalb nicht unerlässlicherweise notwendig, Gesetze, Normen und einen moralischen Kodex zu erschaffen. Dennoch gibt es sie, die uns Grenzen setzenden Ge- und Verbote. Die Frage ist nunmehr zu erfahren, warum es uns nach diesen Grenzen dürstet und ein Überschreiten dieser uns einerseits abschreckt, andererseits auch mesmerisiert und tun lässt. Um diesen Zwiespalt zu verdeutlichen, nutzt Erika Fischer-Lichte zweierlei Begrifflichkeiten: die der Grenze und die der Schwelle, deren jeweils risikobehaftetes und gefahrvolles Potential sie bekräftigt. Die Grenze sei mit dem Ende, einer ausweglosen Situation konnotiert, in der man sich zu einer Überschreitung schier gezwungen sehe. Wage man diesen Schritt – sei es heimlich oder anhand einer offensiven Geste – würde das als Aggression interpretierte Verhalten mit Sanktionen geahndet. Erfahre man die Grenzüberschreitung im Rahmen einer Schwellenerfahrung, könne man ihr auch ein positives, reinigendes Element abgewinnen. Das rituelle Moment ermögliche im besten Fall einen als magisch empfundenen Übergang, einen rite de passage, der zu einem Neuanfang führen könne. Die Schwelle als ein Ort des Verweilens könne durch die Fiktion, das Theater und – wie hieraus zu folgern ist – auch für die bildende Kunst erzeugt werden.130 Nun stellt sich die Frage, warum Kunstschaffende meinen, diese Grenze für den Rezipienten erfahrbar und ertragbar machen zu müssen. Artaud gibt einen ersten Eindruck davon, warum er diese Konfrontation befürwortet: »Ohne ein Element von Grausamkeit, das jedem Schauspiel zugrunde liegt, 126 127 128 129 130

Eugénie Shinkle, in: PAPENBURG, S. 73-88, hier S. 78. Vgl.: FISCHER-LICHTE, S. 276. MANN, Doktor Faustus, S. 604. TABOR, S. 138. Vgl. hierzu die ausführlich geschilderte Passage in: FISCHER-LICHTE, S. 357-359.

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ist Theater nicht möglich. Bei dem Degenerationszustand, in dem wir uns befinden, wird man die Metaphysik via Haut wieder in die Gemüter einziehen lassen müssen.«131 Hier scheint eine gewisse Aufgebrachtheit mitzuschwingen, über eine Gesellschaft, die immer mehr nach dem Lustprinzip verfährt und mithin bewusst Tabus aufrechterhält, die für eine Verdrängung fundamentaler Lebensfragen Sorge tragen. Den Künsten ist daran gelegen, diesen degenerierten Zustand der Menschheit zu entlarven, durch Provokation und einen gezielten Tabubruch nach allen Regeln der Kunst und den damit einhergehenden Risiken und Konsequenzen, wie sie eingangs dieser Schrift festgehalten wurden. Die Künstler offerieren mit ihren Werken eine kollektive Möglichkeit der Affekthandlung, Übertretung und des Exzesses, die zu einer Reinigung, Katharsis und einem Prozess der Bewusstwerdung beitragen kann. Diesem Lockruf begegnet der Rezipient einerseits mit unverhohlener Lust, denn wann, wenn nicht innerhalb des geschützten Rahmens der Erzählung, der Fiktion und der Kunst, hat er die Chance, an einem ungehemmten und nicht geahndeten Tabubruch teilzuhaben, und andererseits hält ihn eine ängstliche Scheu, eine ethische Beschämung vor der Ausschweifung zurück. Der von Artaud bemängelte Degenerationszustand der Gesellschaft resultiert unter anderem aus der Angst heraus, welche die Verbote begründet, die es nun zu erproben gilt, indem man sie übertritt.132 Dieser Gedanke schließt nahtlos an die Ausgangsüberlegung von Georges Bataille an, der uns angesichts von Verboten, die den Gegenstand von Gewaltsamkeit, von Sexualität und Tod verhandeln, Faszination und Erschrecken gleichermaßen attestiert.133 Die Schrecknisse, die uns diese Verbote ersparen sollen, sorgen für deren Aufrechterhalten. Einer Übertretung der Verbote geht deshalb keineswegs der Wille zu ihrer Aufhebung einher. Ganz im Gegenteil sorgt eine Transgression für einen nachhaltigen Fortbestand des Verbots, welches zu übertreten ansonsten keinen Sinn machte, sondern in seinem Rechtsbestand und seiner Daseinsberechtigung direktproportionalen Genuss verspricht: je mächtiger das Verbot, desto verlockender der Reiz seiner Übertretung, desto intensiver die Erfahrung.134 In biblischen Worten ausgedrückt: Denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung (Römer 4, 15). Und wechselseitig dadurch bedingt ist das daraus Folgende: Denn die Sünde war wohl auf der Welt bis auf das Gesetz; aber wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht (Römer 5, 13).135 Den umfriedeten Bereich der Regeln und Gebote, der Verbote und Gesetze zu verlassen, bedeutet einerseits die von Erika Fischer-Lichte angemahnte Gefahrenzone zu betreten, andererseits könnte diese Schwellenerfahrung ertragreichen Gewinn im Sinne einer Bewusstseinserweiterung verheißen. Renate Lachmann verweist in diesem Zusammenhang auf das sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Wildnis und Zivilisation, von Rohheit und Kultur und darauf, dass uns beides nicht nur zur Kenntnis 131 132 133 134

Antonin Artaud, »Das Theater der Grausamkeit«, 1. Manifest, 1932, in: ARTAUD, S. 95-107, hier S. 106. Vgl.: BATAILLE, Die Erotik, S. 84. Vgl.: BATAILLE, Die Erotik, S. 52, sowie Kapitel II. Vgl. hierzu: MENNINGHAUS, S. 498, und TABOR, S. 56. Bataille führt als Beispiel Marquis des Sade an, der sich die Beziehung zwischen dem Verbot und seiner Übertretung nicht bewusstmachte. Für die Rezeption seiner Werke gelte aber nach wie vor das Folgende: »Wenn wir Sade bewundern, nehmen wir seinem Denken die Schärfe.«, in: BATAILLE, Die Erotik, S. 175 und S. 184. 135 Und schon wenig davor heißt es: Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (Römer 3, 20).

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gebracht werden müsse, sondern beide Welten beschritten und gelebt werden wollen, um ein Verständnis dafür entwickeln zu können: »Wer mit Bewußtsein innerhalb des Zaunes leben wollte, der mußte zumindest einmal im Leben diese Einfriedung verlassen haben.«136 Ein gewisser Grad an Subversion ist entsprechend Basis einer jeden Zivilisation. Oder – um es in den Worten Georges Batailles auszudrücken: »Die Überschreitung ist nicht die Negation des Verbots, sondern sie geht über das Verbot hinaus und vervollständigt es.«137 Ohne Verbote wäre entsprechend eine Übertretung schlichtweg unmöglich, aber ohne Übertretung wäre auch das Heilige nicht mehr heilig, der Mächtige nicht mehr mächtig, das Tabu nicht mehr unantastbar, das Abjekte nicht mehr voller Ekel, die Grenze nicht mehr abschreckend, die Strafe nicht mehr gerecht und der Tod nicht mehr das letzte Ende. »In dem irrationalen Bereich, den unsere Erwägungen in sich schließen, müssen wir sagen: ›Wenn hin und wieder ein unantastbares Verbot verletzt wird, bedeutet das nicht, daß es aufgehört hat, unantastbar zu sein.‹ Wir können sogar bis zur absurden Formulierung gehen: ›Das Verbot ist da, um verletzt zu werden.‹«138 Und noch für eine kollektive Transgression reüssiert Bataille das Folgende: »Die organisierte Überschreitung bildet mit dem Verbot ein Ganzes, und dieses Ganze bestimmt das soziale Leben. Nicht einmal die Häufigkeit – und die Regelmäßigkeit – der Überschreitung schwächt die unantastbare Beständigkeit des Verbots, dessen erwartete Ergänzung sie bleibt – wie die Bewegung der Diastole die der Systole ergänzt, oder wie eine Explosion von einem Druck hervorgerufen wird, der ihr vorangeht.«139 So wird die Transgression zum Teil der Regel und zu einer Versicherung der Norm, der Gesetze und der Grenze an sich. Die Transgression ändert nichts, denn sie »hebt das Verbot auf, ohne es zu beseitigen! Sie lüftet für einen Augenblick den Vorhang, um gerade soviel Lust und Begehren einzulassen, wie die Ordnung der Welt verträgt. Indem sie die Triebe ans Licht bringt, begründet sie das Verbot.«140 Und hier schließt sich wieder der Kreis, denn nur das Verbot schürt das Verlangen nach dem Tabubruch, das Unantastbare zu schauen und das Unaussprechliche zu tun und verschafft damit den die Übertretung mehr als entschädigenden Genuss.141 Das, was das vorherrschende Recht und das lautende Gesetz nicht zulassen dürfen, ermöglicht das vorübergehende Außer-Kraft-Setzen dieser Verbote durch die episodische Transgression. Unser kulturelles Erbe behält sich seit jeher Momente der Übertretung vor, die dem Bedürfnis nach Triebbefriedigung und der Lust an der Destruktion regelmäßige und kontrollierte Entladung verschaffen. Riten und archaische Bräuche, Feste und Feierlichkeiten, Demonstrationen wie Protestaktionen und nicht zuletzt der Karneval erlauben das Abführen von exzessiver Energie durch ein vorübergehendes 136 Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 18. 137 BATAILLE, Die Erotik, S. 63. 138 BATAILLE, Die Erotik, S. 64. 139 BATAILLE, Die Erotik, S. 65. 140 TABOR, S. 29 [kursive Hervorhebungen durch Jürgen Tabor]; vgl. auch S. 107. 141 Es kann und darf an dieser Stelle jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Gemeinschaften und ganze Gesellschaftssysteme bei dauerhaften und im Kollektiv verübten destabilisierenden Impulsen eine Neuerung erfahren. Der Wandel der sozialen Systeme und der Verlauf der Geschichte haben es erwiesen. Vgl. hierzu auch: RUSSO, Mary, »Female Grotesque: Carnival and Theory«, in: Teresa De Lauretis (Hg.), Feminist Studies. Critical Studies, Bloomington und Indianapolis 1986, S. 213-229, hier S. 215, sowie TABOR, S. 12.

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Aussetzen der normalerweise gültigen Grenzen, die somit gleichzeitig auf Dauer bewahrt bleiben.142 In diesen Momenten wird die profane Welt des Alltags und der Arbeit eingetauscht in eine heilige Welt, in der die Transgression ermöglicht werden kann: »Die profane Welt ist die der Verbote. Die heilige Welt steht begrenzten Überschreitungen offen. Sie ist die Welt des Festes, der Herrscher und der Götter.«143 Das Leben der Herrscher und Götter, in dem das Verbot einer beständigen Unbeständigkeit unterlegen ist und dem der Großteil der Menschheit nicht angehört, setzt das Volk zum Beispiel den Karneval entgegen. Einmal im Jahr darf somit das Unterste zuoberst gekehrt werden, die herrschenden Gesellschaftssysteme sanktioniert werden, die etablierte Weltanschauung aufgelöst und die Machthabenden degradiert werden. Dies alles geschieht auf der materiell‐leiblichen Basis, wie sie von Bachtin bereits der frühen Neuzeit attestiert wurde.144 Motiviert werden alle Festlichkeiten dieser Art durch das Leben selbst, welches den Exzess anschaulich werden lässt, in seinem Kreislauf des Werdens und Vergehens, dem abwechselnden schmerzhaften Gebären und der grausamen Vernichtung: »Das Leben ist seinem Wesen nach ein Exzeß, es ist die Verschwendung von Leben. Grenzenlos schöpft es seine Kräfte und seine Hilfsquellen aus: grenzenlos vernichtet es, was es geschaffen hat. Die Masse der lebenden Wesen bleibt passiv in diesem Treiben. Im Äußersten jedoch sind wir entschlossen, zu bejahen, was unser Leben in Gefahr bringt.«145 So geht im rituell herbeigeführten Exzess die Passivität über in Aktion, die ansonsten verneinte Übertretung wird begangen, die ehemals angstbesetzte Grenze als Schwellenerfahrung genutzt. Es ist das von Michail Bachtin als ambivalent bezeichnete Lachen146 , welches die Menschheit zyklisch und konvulsivisch erschüttert: Das Lachen ist triumphal, universal, kollektiv und voller Hohn und dabei gleichzeitig sich seines Selbst bewusst, von Krisen gebeutelt und Gott ergeben. Das Volk, das sich sein Recht zu einem ungestraften Ausdruck verschafft147 , tut dies nach vorgegebenen Regeln in einer rituellen Übertretung. Auch die metaphorische Sprache der Kunst steht für diese vorübergehende, zügellose Freiheit. Sie lädt zuweilen zur Anarchie ein, wie dies Antonin Artaud anstrebte und es in seinem »Theater der Grausamkeit« umsetzte, indem er das Innerste nach außen kehrte und sowohl das materiell‐leibliche wie das metaphysische Leid der Menschheit hinausschrie. Dieselben Fragen berühren ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider, indem sie vermeintlich Beständiges negieren und das negierte Beständige thematisieren. Sie geben Veranlassung dazu – wie dies auch Michel Foucault fordert –, das Sein neu zu bewerten und unser Selbst wahrheitsgemäß zu erfassen: »Infragestellen heißt, bis in die leere Mitte vordringen, bis dahin, wo das Sein an seine Grenze gelangt und bis dahin, wo die Grenze das Sein bestimmt.«148 142 143 144 145 146 147 148

Vgl. auch: TABOR, S. 105-106. BATAILLE, Die Erotik, S. 67 [kursive Hervorhebungen durch Georges Bataille]. Vgl.: BACHTIN, S. 131, sowie Kapitel II.3.1. BATAILLE, Die Erotik, S. 84-85. Vgl.: Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 14-15. Vgl.: BACHTIN, S. 313. Michel Foucault, »Zum Begriff der Übertretung«, in: FOUCAULT, Michel, Schriften zur Literatur, München 1974, S. 69-89, hier S. 75. Vgl. auch: TABOR, S. 12-13 und S. 110.

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IV.2.1 Die Verwundbarkeit menschlicher Identität Sich an seinen Grenzen zu sehen als auch die Grenze zu sehen, die unser Sein bestimmt, bedeutet den Beginn eines Zweifels an unserer Identität. Dieser Problematik einer Selbstschau war bereits hinsichtlich unserer voyeuristischen Veranlagung weiter oben Respekt gezollt worden: »We do not want to see inside ourselves – for to see that is to erase our self – but, in compensation, and to know what we are (or more promisingly, are not) we want to see inside others.«149 Der Verlust der Identität und damit die Negation des Seins durch seine eigene Begrenztheit, behält in der Widerspiegelung im Anderen auch weiterhin seinen existenzbedrohenden Charakter bei, denn: derjenige, der ich nicht mehr bin, setzt sich im Anderen fort. Christine Buci-Glucksmann, deren Publikation »La folie du voir« bereits im Titel auf diese Diskrepanz verweist, äußert sich am Beispiel der Werke ORLANs zu eben dieser gleichermaßen verwirrenden und erschreckenden Verkehrung: »The madness of seeing means that the gaze institutes being, and that at the same time there is in the gaze a loss or perdition of the self.«150 Seiner Identität verlustig zu gehen, entspricht gemeinhin dem Ende eines bewussten Daseins. Seine Identität zu verlieren heißt, gleich einem marsyanischen Akt seine Haut zu verlieren und – im Gegensatz zu Marsyas – damit auch das Gefühl für das materiell‐leibliche entbehren zu müssen, weil der Bezugsrahmen in jeder Hinsicht unüberprüfbar wird. Indem wir uns im Anderen wiedererkennen, werden diese Bezüge wieder funktionstüchtig. Aber: In welcher Form erkennen wir diesen Anderen? Trägt diese Identität auch einen Teil derjenigen in sich, die wir unsere eigene nannten? Wären wir in der Lage, eine Unterscheidung zu treffen? Hätten wir einen existentiellen Ertrag in Form eines Zuwachses von Seiendem zu verzeichnen oder gäbe es Einbußen in Form von existentiell Unvereinbarem? Wären wir zum Vergessen verdammt? Die Identität ununterscheidbar, fremd und doch – da.

Die Identität und sein Selbst Bevor jedoch unsere Identität abhandenkommen kann, muss sie sich erst einmal in einem frühen Stadium unserer Kindheit bilden. Hierfür bringt der Mensch so etwas wie ein »Starter-Kit« mit, welches die neuronalen Schaltkreise für unser identitätsstiftendes Sein bereithält. Die Resonanzen, die wir darüber erfahren, müssen ausgebildet, eingeübt und benutzt werden, um der Selbstwahrnehmung auf die Sprünge zu helfen und auch, damit wir diese hierdurch einmal erlernten Fähigkeiten nicht wieder verlernen.151 Der Erwerb einer Identität basiert dabei auf der Herausbildung der weiter oben bereits eruierten drei Instanzen des Ich, des Subjektes und des Selbst, wobei das Selbst denjenigen Teil unserer Psyche ausmacht, der mit der Außenwelt in Interaktion tritt.152 Das Selbst wird deshalb immer auch als Objekt wahrgenommen – von den Anderen, jedoch gleichfalls von sich selbst. Die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, 149 TOWNSEND, Vile Bodies, S. 67. Vgl. hierzu die Vorboten in Kapitel IV.1.1. 150 Christine Buci-Glucksmann, in: KEREJETA, S. 209-213, hier S. 209. Vgl. hierzu Kapitel IV.1.1. 151 Der Arzt und Molekularbiologe Joachim Bauer spricht von einem »use it or lose it«, in: BAUER, Art., 2006, n.p. 152 Vgl. hierzu Kapitel IV.1 sowie BOLLAS, S. 19-22.

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mit seinen intrasubjektiven Beziehungen, zu seinem Selbst als einem Objekt, sind seit jeher Thema der Psychoanalyse.153 Wir erleben uns etwa als ein Objekt, wenn wir träumen und wir (das Subjekt) von uns selbst träumen (dem Subjekt als Objekt).154 Aber wir kennen dieses Phänomen auch aus dem gelebten Alltag, zum Beispiel, wenn wir uns in einer inneren Rede an uns selbst wenden: Die abendliche Aufforderung zum Kochen könnte dann eventuell lauten »Ich glaube, ich mache heute Spaghetti.«; wenn wir aber zu spät dran sind, sprechen wir schon eher eine innerliche Ermahnung aus, ähnlich einem »Jetzt musst Du Dich aber beeilen!« und wenden uns damit nicht mehr in der ersten, sondern in der zweiten Person an uns – wir objektivieren so unser Selbst, indem wir uns auf Distanz halten, die Schuldfrage gewissermaßen weiterreichen. Das können wir auch dann, wenn wir uns der Instanzen des Selbst und seiner Zweiteilung in Subjekt und Objekt nicht bewusst sind, aber freilich nur dann, sofern wir eine Identität ausgebildet haben. Im Grunde ist damit nichts Anderes beschrieben als das bereits an anderer Stelle berücksichtigte Körper-Haben und Leib-Sein. Erika Fischer-Lichte findet hierfür die treffliche Umschreibung der »Abständigkeit des Menschen von sich selbst« und geht wie folgt ins Detail: »Der Mensch hat einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann. Zugleich aber ist er dieser Leib, ist Leib-Subjekt.«155 Unser Bewusstsein ist demnach nicht nur nach innen, sondern auch auf die Außenwelt gerichtet. Denn nur, indem wir unser Selbst reflektiv betrachten und hierbei auch die Perspektive der Welt auf uns miteinbeziehen, sind wir befähigt, eine Distanzierung und damit eine den Tatsachen nahekommende Verhältnismäßigkeit zu diesem Selbst zu erzeugen. Diese Sicht kann die Gleichzeitigkeit von Körper-Haben und Leib-Sein jedoch niemals vollkommen aufheben. Michel Serres beschreibt warum: »Körper und Seele sind nicht getrennt, sondern unentwirrbar miteinander vermengt, selbst auf der Haut. Sie bilden zwei miteinander vermengte Körper, kein von einem Objekt getrenntes Subjekt.«156 Eine Objektivität gegenüber unserem Selbst zu empfinden, ist auch deshalb erklärtermaßen schwer zu erreichen. Was unser Identitätsempfinden zusätzlich beeinträchtigt, ist – es wurde ausführlich erörtert – unser als abjekt empfundener Körper.157 Das, was im Verlaufe eines Lebens vermehrt Kriterien des Abjekten anhäufen wird, ist dies in einem erheblichen Maße bereits – wenn auch nur für eine kurze Dauer – nach seiner Geburt: ein der gebärenden Mutter entrissener, von Körpersubstanzen umhegter, nackter und sich unkontrolliert entleerender Körper – ein Fragment seines zukünftigen Selbst.158 Von dieser Fragmentierung des Leibes am Ursprung seines Lebens, von einem zerstückelten 153 Vgl.: BOLLAS, S. 54. Oder wie es Amelia Jones ausdrückt: »The body/self is hymenal, reversible, simultaneously both subject and object.«, in: JONES, S. 235. 154 Vgl.: BAL, S. 130, sowie BOLLAS, S. 16. 155 FISCHER-LICHTE, S. 129 [kursive Hervorhebungen durch Erika Fischer-Lichte]. Vgl. auch: FUCHS, Thomas, Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 4 2013, S. 95-96 und S. 101. 156 SERRES, Die fünf Sinne, S. 24. 157 Vgl. die Kapitel II.3.2 und III.2. 158 Siehe hierzu Julia KRISTEVAs komplexe Überlegungen zum Thema in ihrer Schrift »Powers of Horror: An Essay on Abjection« (1980).

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Körper, geht auch Jacques Lacan aus. Es veranlasst Lacan zu seiner Theorie des »Spiegelstadiums«, welches jedes Kind zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat durchläuft. Diese Körperanalyse setzt die kindlichen Sinnesorgane auf einen ersten Prüfstand, wie er von Michel Serres in seiner Schrift »Die fünf Sinne« geschildert wird, um diese sich ausbilden zu lassen: »Viele Philosophen beziehen sich auf den Gesichtssinn, nur wenige auf das Gehör, und noch weniger setzen ihr Vertrauen auf den Tast- oder den Geruchssinn. Die Abstraktion zerschneidet den empfindenden Körper; sie grenzt Geschmack, Gehör und Tastsinn aus, behält nur Geruchssinn und Gehör, Anschauung und Erkenntnisvermögen, zurück. Abstrahieren heißt weniger den Körper hinter sich lassen als ihn in Stücke schneiden: Analyse.«159 Jacques Lacan nennt 1949 diese Suche nach der gesamtheitlichen Wahrnehmung in seinem Vortrag auf dem 16. Internationalen Kongress der Psychoanalyse in Zürich das »Spiegelstadium« und bezeichnet es – auf Deutsch – als das »Aha-Erlebnis« für die Formation einer Ich-Funktion des Menschen.160 Es betrifft denjenigen Moment der kindlichen Erlebniswelt, in dem das Kind sich selbst im Spiegel zu erkennen weiß. Dieser Moment ist zunächst ursächlich für eine Reihe an Gesten und Bewegungen, welche die sich erfahrende und im Spiegel duplizierte Person nun eine ganze Zeit lang unermüdlich vor dem Spiegel ausprobiert und einübt, um sein Gegenüber – sich Selbst – zu prüfen. Dieser intellektuelle Akt dient der Identifizierung des Selbst, führt jedoch zunächst lediglich zu einer idealisierten Form eines Begriffes, den es sich von seinem Ich machen kann, denn: »[…] the little man is at the infans stage thus […] in an exemplary situation the symbolic matrix in which the I is precipitated in a primordial form, prior to being objectified in the dialectic of identification with the other, and before language restores to it, in the universal, its function as subject.«161 Noch vor einer zweiten, objektivierenden Identifikation, konfiguriert das Ich zwar einen dauerhaften Bezugszustand zwischen der vor dem Spiegel gestikulierenden Person und dem sich darin befindlichen Abbild, es hat dieses Ich jedoch noch lange nicht zu seiner Umwelt in Beziehung gesetzt. Dieses selbstreferentielle Stadium einer Identitätsentwicklung wird auch weiterhin dasjenige Ich beherbergen, auf welches wir unsere Ängste und innere Unruhen projizieren, auf welches sich unsere Albträume beziehen und auf die sich in unserem Unterbewusstsein gehegten Phobien – zum Beispiel in den Räumen eines Gregor Schneiders – abbilden lassen. Im Verlaufe der nächsten Monate stellt der zweite Schritt einer Entwicklung endlich eine Verbindung zwischen dieser Innenwelt und der Umwelt her: »[…] the specular I turns into the social I.«162 Das ehedem fragmentierte Selbst findet zu einer Totalität, die je nach Einflüssen von nun an einem fortwährenden Wandel unterliegt. Wichtig erscheint mir der Unterschied zwischen dem angeborenen 159 SERRES, Die fünf Sinne, S. 24. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass das im weiteren erörterte Spiegelstadium von Lacan sich nicht nur auf unser Abbild in einem Spiegel beziehen lässt, sondern die sich selbst erkennende Spiegelung gleichfalls über Geräusche oder Gerüche funktioniert; vgl.: O’DELL, S. 31. 160 Das Konzept wurde erstmalig bereits im Jahr 1936 von Lacan vorgestellt; vgl.: Jacques Lacan, »The Mirror Stage as Formative of the I Function as Revealed in Psychoanalytical Experience«, in: LACAN, Écrits. The First Complete Edition in English, New York und London 2006, S. 75-81, hier S. 75. 161 Jacques Lacan, in: LACAN, S. 75-81, hier S. 76. 162 Jacques Lacan, in: LACAN, S. 75-81, hier S. 79.

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und automatisch einsetzenden Vermögen, sich sein Ich selbst zur Kenntnis zu bringen, und dem darauffolgenden Prozess einer Ich-Prägung, die wir selbst zu steuern nur mehr zum Teil in der Lage sind. Die Grenzen einer Psychoanalyse – dessen ist sich Jacques Lacan bewusst – beruhen auf eben diesem Sachverhalt: »In the subject to subject recourse we preserve, psychoanalysis can accompany the patient to the ecstatic limit of the ›Thou art that‹, where the cipher of his moral destiny is revealed to him, but it is not in our sole power as practitioners to bring him to the point where the true journey begins.«163 Die Beschränkungen der Psychoanalyse stellen sich dabei als die Stärken der Kunst heraus: Die Kunst vermag das Identitätsempfinden sowohl auf die prägenden Eindrücke aus der anfänglichen Phase des Spiegelstadiums zu reduzieren, als auch den Blick für die finalen Momente dieser Identität zu schulen. Der Wert einer Selbsterkenntnis während des Spiegelstadiums hat noch eine weitere Beschränkung, die bei Lacan kaum Erwähnung findet: die im Spiegel befindliche Person ist flach, in seiner Dreidimensionalität nicht (an-)fassbar, eine Kommunikation von körperlichen wie seelischen Schmerzen ist nicht möglich und das Abbild ist und agiert spiegelverkehrt. Um diesem instabilen Bild seines Gegenübers zu begegnen, wird ein Kind versuchen, die Vexierfläche zu durchbrechen: es wagt eine Berührung, sucht Gegenstände hinüberzureichen und da sich diese Gesten als unfruchtbar erweisen, sieht es sich sogar zu einer Provokation genötigt und schlägt das Spiegelbild. Es erweist sich, dass es sich bislang weder der Körpergrenzen bewusst ist, noch exakt zu unterscheiden vermag, welchem Ich nun was widerfährt: So wird ein Kind, das geschlagen hat, in dieser Phase behaupten, selbst geschlagen worden zu sein, oder weint gar, wenn ein anderes Kind hinfällt und sich weh tut. Das heißt, dass wir zu einem gewissen Grad lediglich mit den Fragmenten eines nicht kontrollierbaren Ich konfrontiert bleiben. Und während wir bereits das gesehene Abbild mit uns als Person gleichsetzen, so bleibt es nach wie vor nur das Bild dessen, wie uns auch die Umwelt wahrnimmt; die sich in unserem Inneren zutragende emotionale Persönlichkeit findet im Spiegel keinen Widerhall. »[T]he ego is split, devided between self and other, and […] a denial of this devide is necessary in order for the subject to represent itself as a unified self.«164 Eine Kontingenz zwischen dem Gesehenen und dem Gefühlten zu erreichen, sind wir aber auch weiterhin nicht immer in der Lage. Dies zeigt sich nicht nur an denjenigen Berührungen, die wir unserem Spiegelbild angedeihen lassen, sondern Michel Serres exemplifiziert dies am eigenen Körper: »Wir besitzen empfindliche, gleichsam wüste und leere Flächen, über die das Bewußtsein flüchtig hinweggeht, ohne daß eine Erinnerung daran zurückbleibt. Bewußtsein stellt sich nur an den Stellen ein, die durch kontingente Singularitäten gekennzeichnet sind, an Stellen, an denen der Körper sich selbst tangiert. Ich berühre meine Lippen mit dem Finger, meine Lippen, die bereits ihrer selbst bewußt sind. Ich kann gleichzeitig und nahezu unterschiedslos meine Finger küssen und meine Lippen mit dem Finger berühren. Das ›ich‹ vibriert auf beiden Seiten der Berührung, abwechselnd, und wirft plötzlich die andere Wand in die Welt zurück und läßt, indem es plötzlich über diese unmittelbare Nähe hinweggeht, lediglich ein Objekt zurück. In der Geste des Fingers, der, auf die Lippen gelegt, 163 Jacques Lacan, in: LACAN, S. 75-81, hier S. 81. 164 Vgl. u.a.: O’BRYAN, S. 37; vgl. auch S. 36.

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Schweigen gebietet, spielt der Körper – lokal – mit der Seele Ball. […] Der Körper versteht es nicht immer und überall, Ball zu spielen. Es gibt Stellen, an denen eine solche Kontingenz nicht zu finden ist. Ich berühre meine Schulter mit der Hand, aber es ist nicht möglich, daß ich das Gefühl hätte, meine Schulter berührte meine Hand.«165 Erst das Denken in der Koexistenz kann die verschiedenen Perspektiven einen und aus den Dualismen Sehen/Fühlen, Gesehen-Werden/Sein, Berühren/Berührt-Werden, Zweidimensionalität/Dreidimensionalität, Ich/der Andere, Subjekt/Objekt entsteht das Ich.166 Damit wären bereits zwei der identitätsstiftenden Bereiche nachgezeichnet: das Innenleben des Ich und sein Körper. Hinzu kommt nun noch eine dritte Komponente, die der Außenwelt. Gemäß dem Hirnforscher Gerhard Roth, treffen alle drei Ebenen in der von uns gelebten Wirklichkeit aufeinander. Gemeinhin wird dasjenige als Außenwelt definiert, welches nicht zwangsläufig unserem Willen folgt.167 Dafür ist es umgekehrt den physiologisch‐neuronalen Prozessen unseres Gehirns möglich, sich den Gegebenheiten der Außenwelt anzupassen. Zu diesen Prozessen gehören all unsere sensorischen Fähigkeiten, darunter auch der Gleichgewichtssinn. Um dessen Beeinflussbarkeit zu testen, experimentiert man deshalb mit so genannten Umkehrbrillen, die eine Verkehrung der Außenwelt vorspiegeln. Egal, ob die Brille eine Links- oder Rechtsverkehrung erzeugt, oder aber die Welt durch sie gar auf den Kopf gestellt erscheint, wird sich unsere eigene Körperwahrnehmung auf Dauer darauf verlassen, was uns die Außenwelt, die von uns mit den restlichen Sinnesorganen rezipierte Umgebung, vermitteln. Und da diese in Wirklichkeit nicht Kopf steht, werden die visuellen Information entsprechend korrigiert: die Welt positioniert sich wieder richtig herum.168 Das heißt, unsere Gehirne sind befähigt, eine Objektivierung der Repräsentanz vorzunehmen. Insofern dies unser eigenes Spiegelbild betrifft, ist die Identifikation mit diesem erst dann vollkommen abgeschlossen, wenn wir dessen Fragmente korrekt zusammensetzen können, wir erlernt haben, dass wir unseren Körperberührungen und den restlichen Sinnesorganen vor dem Spiegel Glauben schenken dürfen: das Spiegelbild – wenn auch in spiegelverkehrter Position – repräsentiert unsere Person, es ist aber nicht unsere Person. Wenn nun das Spiegelbild eine zu objektivierende Repräsentanz unserer Person ist – denn, wie eben erläutert, ist es diejenige Person, die von der Außenwelt wahrgenommen wird, es ist ein Bild von uns, welches nicht unser Innenleben widerspiegelt und es ist das Abbild unseres Selbst, welches sogar wir objektivieren müssen, da es in mehrererlei Hinsicht nicht uns entspricht –, dann gilt dies für jede Art der Selbst-Repräsentation, so auch für das Portrait. Das Portrait entspricht nicht unserem Selbst, es kann niemals ein ganzheitliches Bild liefern. Es kann jedoch dafür sorgen, dass sich ein erneutes Gegenüber dahingehend zu objektivieren weiß, dass die Repräsentation auch für dessen Person Wert annimmt und am Ende Gültigkeit besitzt. Das Portrait kann so als stereotypisches Sinnbild fungieren. 165 SERRES, Die fünf Sinne, S. 19. Die Duplizität ORLANs in Form ihres ORLANoïde rührt an eben diesen Sachverhalt. 166 Vgl. auch: O’DELL, S. 37. 167 Vgl.: ROTH, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a.M. 6 1997, S. 316 und S. 318. 168 Vgl.: ROTH, S. 322-323.

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Eben dies tun die Selbstportraits von Hannah Wilke. Sie dienen sowohl der Identitätsfindung der Künstlerin, als auch dem Gegenüber als stereotypes Bildnis einer Selbstschau. Wilke scheint mehr als jeder andere ihre Gegenüber dazu zu benutzen, um sich selbst in der Welt zu positionieren. Amelia Jones unterstellt der Künstlerin deshalb eine extreme Abhängigkeit vom eigenen Abbild: »All of her life, Hannah Wilke conceived herself in relation to the world through the pose. Producing her work as herself and herself as her work. Wilke instantiated the tendency among post 1960 artists that I have identified as indicative of a postmodern articulation of subjectivity and fundamentally decentered and contingent yet particularized in relation to others. In her lifelong series of self‐portraits, which she called ›performalist‹, organized into artworks, and occasionally distributed as postcards, Wilke displayed her body for innumerable photographic, film, and video ›portraits‹ that together provide a cumulative but fundamentally incomplete rendering of ›Wilke‹/›Butter‹/›Hannah‹/›Arlene‹.«169 Da es Wilke nicht gelingt, in der Anschauung ihres eigenen Portraits und demjenigen ihrer Mutter eine Objektivierung ihrer Person vorzunehmen, hält sie dieses Portrait anderen als Seelenspiegel entgegen. Auch hierzu äußert sich Amelia Jones: »Wilke’s life project involved exploring the metaphoricity of her body, its meaningfulness as a ›picture‹ of her self – as a signifier of the ›content‹ of her personality that could never be fixed or predetermined: by its very nature as a picture/object‐of-desire, her body/self is always already implicated in the desire of the viewer. With Intra-Venus, she deploys her well‐developed strategy of the pose to project herself outward: to constitute the alienation of herself from this growth eating her body from within.«170 Meines Erachtens gerät die Suche nach den Fragmenten ihrer Identität in demjenigen Selbst-Portrait der Künstlerin, das sie dem Bildnis ihrer vom Krebs gezeichneten Mutter in dem Diptychon Portrait of the Artist with Her Mother, Selma Butter (1978-81) gegenüberstellt, in eine neue Phase. Es sucht in einem wiederholten, kindlichen Stadium, die körperlichen wie seelischen Kräfteverhältnisse – auch der von Julia Kristeva beschriebenen abjekten Abhängigkeiten – zwischen ihr als Tochter und der Mutter auszuloten. Es ist der Versuch einer Objektivierung ihrer Repräsentanz durch SelbstRepräsentanz über die Mutter. Das erneut sich abspielende Spiegelstadium ist auch in den formalen Kriterien der beiden Portraits ersichtlich, die sich anhand der Mittelachse seitenverkehrt spiegeln: einmal zusammengefaltet, würden Tochter und Mutter wieder in einer Person verschmelzen. Dieses mögliche Klappverfahren zeigt das Changieren zwischen der Vergeblichkeit eines erneuten Eins-Werdens von Mutter und Tochter und dem gleichzeitigen Verlangen Wilkes nach einer Lösung von der Mutter. Wilkes wiederholter Entbindungsversuch lässt sie erneut die Fragmente ihrer Identität abklopfen, objektivieren und zusammenfügen. I Object, so der Titel eines ihrer Werke, das 1977-78 den von Marcel Duchamp über ein Guckloch zur Schau gestellten nackten Frauenkörper aus Étant donnés in einer nachgestellten Fotografie übernimmt. Wilke formuliert damit ein Ich, das Objekt, das Ich in seiner Objekthaftigkeit, das Ich, das sich widersetzt. Das Ich und das Objekt haben einander noch nicht gefunden, sind von Wilke jedoch in ihrer Frag169 JONES, S. 154. Wilkes vollständiger Name lautet Arlene Hannah Wilke. 170 JONES, S. 191.

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mentierung entlarvt worden. Für das Zusammensetzen der Bruchstücke bedarf es der anderen. Es ist im Zuge dessen daran zu erinnern, dass diese Absicht gemäß der Tradition der psychologischen Fotografie, wie sie in den psychiatrischen Kliniken des 19. Jahrhunderts gehandhabt wurde, Wirkung zeitigt: Der englische Mediziner Hugh Welch Diamond »believed that patients could recover by objectifying themselves to the extent of learning how to see themselves as others see them.«171 So händigt Wilke mit ihrem Werk nicht nur der Mutter, sondern gleichzeitig der Mutter als ihrem Gegenüber, zwei Portraits aus, die der Therapie dienlich sein können. Wilke offenbart damit den Blick, den sie beide auf sich und die anderen auf sie beide haben. Dieses und alle nachfolgenden Bildnisse sind weitere Versuche einer Objektivierung unter gleichzeitiger Einbeziehung der Perspektive des Betrachters. Für diesen stellt sie sich nun spiegelbildlich als stereotypisches Objekt unserer eigenen Albträume zur Verfügung – denn, dass es sich mit diesen Bildinhalten um unsere persönliche schaurige Vorahnung in Bezug auf Alterungsprozesse, Erkrankung und dem Verfall handelt, dürfte hinlänglich einsichtig geworden sein. Die derart emotional aufgeladenen Themen, die von uns empfundene Abscheu und Empörung sowie der von der Künstlerin begangene Tabubruch, sorgen auch hier dafür, dass zunächst keine Kontingenz zwischen dem Gesehenen und dem Gefühlten zustande kommt. Je länger aber das Spiegelstadium anhält, desto mehr ist daraus zu gewinnen. Daher beginnt sich unser Ich im Abbild der Künstlerin zu einem objektivierten Spiegelbild unseres Seins zu formieren. Das Ich als Subjekt unserer (Alb-)Träume re‐projiziert sich dann auf das Subjekt des Objektes von Hannah Wilke.172   Damit wären wir wieder bei der Annahme der Psychoanalyse und der Neurobiologie angelangt, dass das Subjekt ein weiteres Subjekt, also seine Umwelt benötigt, um sich repräsentieren zu können. Im Rahmen seiner Relational Aesthetics formuliert dies Bourriaud so: »Otherwise put, subjectivity can only be defined by the presence of a second subjectivity. It does not form a ›territory‹ except on the basis of the other territories it comes across. […] [T]he individual does not have a monopoly on subjectivity.«173 Wie eben erläutert, dient – sofern man sich in Relation zu einem Subjekt setzt – die Identität des Subjektes gleichzeitig der Identifizierung des Anderen mit dem Subjekt. Dabei ist nicht immer nur Einigkeit zu verzeichnen, sondern es wird auch das die beiden Subjekte differenzierende Moment ersichtlich: »In that declaration of identity and identification, there is always loss, the loss of not‐being the other and yet remaining dependent on that other for self‐seeing, self‐being.«174 Das somit bestehenbleibende Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem eigenen Innenleben, dem Körper und der Außenwelt, bildet die psychosomatische wie neurobio-

171 AUGSBURG, S. 73; vgl. auch Kapitel III.2. 172 Dies ist wiederum die von Christopher Bollas analysierte intersubjektive Beziehung des Menschen zu sich selbst als Selbst und gleichzeitiges Objekt zum Beispiel dann, wenn wir träumen; vgl. nochmals: BOLLAS, S. 16 und S. 54. 173 BOURRIAUD, S. 91 und S. 93. 174 PHELAN, Unmarked, S. 13.

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logische Grundlage für die Ausbildung so mannigfaltiger Identitäten wie es Menschen gibt: »Es gibt keine zwei ähnlichen Subjekte, keine ähnlichen Individuen.«175 Die Individualität des Menschen ist ein hohes Gut. Und so pocht gerade das Mitglied einer fortschrittlichen, modernen Gesellschaft auf seine freiheitlichen Rechte und seinem Wert als Individuum innerhalb dieser Gemeinschaft. Sich frei zu entfalten, beinhaltet dabei immer auch den Wandel. So plädiert Michel Serres an die Fähigkeit des Menschen, sich weiterzuentwickeln: »Wenn du dich retten willst, riskiere deine Haut; wenn du deine Seele retten willst, zögere nicht, sie hier und jetzt dem Sturm der Veränderung auszusetzen. […] Du wirst dich nicht verändern, wenn du dich dieser Unbeständigkeit und diesen Abweichungen nicht hingibst. Vor allem wirst du nicht erkennen.«176 Anders sein zu wollen als andere, ist in einer Gesellschaft jedoch gleichzeitig an Bedingungen geknüpft: Konventionen wollen dennoch weiter eingehalten werden, den Normen und Werten will – paradoxerweise – auch im Wandel genüge getan sein. Einer Abweichung im Rahmen der individuellen Selbstverwirklichung sind also Grenzen gesetzt. Abweichung und Unbeständigkeit sind letzten Endes negativ konnotiert. Der kontrollierende Blick der Gesellschaft und dessen Rückmeldung, ist deshalb für viele der ausschlaggebende Gradmesser für ein Abweichen von oder Übereinstimmen mit dem gemeinschaftlichen Votum. Denjenigen, die abtrünnig werden, denjenigen, die das dem einzelnen Individuum Erlaubte überschreiten, denjenigen, die mit dem Tabuisierten paktieren, um dem Kern ihrer Identität näherzukommen, wird sowohl mit Interesse, aber vor allem mit großem Misstrauen und Entsetzen entgegnet. Diesem gesellschaftlichen Kontrollorgan setzen sich – in einer Stellvertreterfunktion – auch der Narr und der Possenreißer des Theaters bei Michail Bachtin sowie der Harlekin bei Michel Serres aus. Zunächst einmal zum Narren und Possenreißer, dem Harlekin, wie er von Bachtin gezeichnet wird. Dieser ist eine präsente Figur des Bühnenstückes und des Karnevals, dessen Charakter weder als dümmlich, noch als komisch bezeichnet werden kann. Er wechselt zwischen Kunstfigur und dem Leben zugehörig hin und her, verkörpert einmal ideale, ein anderes Mal teuflische, aber nicht selten auch reale Lebensformen.177 Der groteske Körper, die obszönen Gesten und die irrwitzige Akrobatik des Harlekins, lassen diesen sowohl im Theater als auch im Karneval zum Mittler zwischen Himmel und Hölle, zwischen dem Leben und dem Karneval werden. Auf der Bühne lässt sich dieses räumliche Oben und Unten anhand der Konstruktion des Podiums und einem darunter befindlichen Loch nachstellen. Diese Höllengrube bedeckt ein Vorhang mit einem weit aufgerissenen Mund oder dem Konterfei des Harlekins.178 Harlekin steigt in diesen Höllenschlund hinab, um sich bei des Teufels mannigfaltigen Gestalten anzubiedern, diese zu verlustieren und sie gleichzeitig zu betrügen: »Harlekins heitere Sprünge und Purzelbäume stehen nicht im Widerspruch zur Hölle, sie sind ambivalent wie die Hölle 175 DELEUZE, Gilles, Die Falte, S. 85. 176 SERRES, Die fünf Sinne, S. 28. 177 Vgl.: BACHTIN, S. 56, sowie S. 308-309: Bachtin verweist auf die Verwandtschaft zwischen dem Teufel Erlekin und dem Harlekin, was die komischen wie teuflischen Elemente sich vereinen lässt. Auch Rabelais’ Pantagruel war als Mysterienteufel bekannt. Die hieraus entwickelte Diablerie des Bühnengeschehens vermischt sich so mit dem karnevalesken Leben des Volkes. 178 Vgl.: BACHTIN, S. 390-391 und S. 392.

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selbst. Sie haben topographischen Charakter, ihre Orientierungspunkte sind Himmel, Erde, oben, unten, Gesicht und Hintern.«179 Es wundert wenig, dass der Narr, dessen »Spiel […] zum eigentlichen Leben«180 wird, nicht ungeschoren davonkommt. Seine Tabubrüche und Obszönitäten, seine Frechheiten und Grenzgänge hinterlassen sichtbare Spuren, die sich auf seiner Haut formieren. Das durch seine ambivalenten Aktivitäten davongetragene zersplitterte Ego zeigt sich, der Legende nach, als buntscheckiger Harlekinmantel, als Fetzenstoff, der einerseits seinen fragmentierten Körper verhüllt, aber auch sein tatsächliches sich in Fetzen befindliches Leib-Sein bestimmt. Michel Serres publiziert in seiner Schrift »Le Tiers-Instruit« eine Passage mit dem Titel »Laizismus«, derjenige Text, aus dem auch ORLAN während ihrer PerformanceOperationen zitiert und der die Rückkehr des Harlekins von einer seiner Eskapaden auf extraterrestrischem Terrain beschreibt, indem er auf einer Pressekonferenz in Augenschein genommen wird.181 »Das Publikum erwartet Extravagantes«182 , aber der Harlekin wiegelt überheblich ab, es sei nichts Außergewöhnliches, was er berichten oder präsentieren könne, denn überall sei es so, wie auch hier. Sein Flickenmantel aber macht das Publikum hellhörig, das verunstaltete Äußere des Harlekins zeuge von erheblichen Anstrengungen, Gewalten und Misshandlungen seiner Person: »Das Publikum ist aufgerüttelt, weiß nicht mehr, ob es still sein oder lachen soll; und tatsächlich zeigt das Kleid des Königs das Gegenteil dessen an, was jener behauptet. Eine zusammengesetzte Buntheit, Stückwerk, aus Flicken oder Fetzen, von jedweder Größe, in tausend verschiedenen Formen und Farben, unterschiedlich alt, diverser Herkunft, schlecht angenäht, ohne Harmonie aneinandergereiht, ohne auf die Umgebung abgestimmt zu sein, den Umständen entsprechend gestopft, ganz nach Bedarf, Zufällen und Kontingenzen. Zeigt es eine Art Weltkarte, die Reisekarte des Komödianten, wie ein mit Marken übersäter Koffer? Anderswo ist es also niemals wie hier, kein Stück gleicht dem anderen, keine Provenienz ließe sich mit dieser oder jener vergleichen, und alle Kulturen unterscheiden sich. Der Portolon-Umhang des Mondkönigs widerspricht dessen Behauptung.«183 Der Flickenmantel des Harlekins entspricht unserer Identität. Trügen wir deren Erscheinungsmerkmale und die Umstände seiner Entstehung zur Schau, würden wir eindeutig als Individuen erkannt. Unsere Identität bildet sich aus ehrenwerten und weniger ehrenwerten Zwängen, Drängen, aufregenden und leidvollen Erfahrungen, die wir normalerweise in unserem innersten Selbst zu verbergen gelernt haben. Zeigten wir dieses Selbst, gäben wir uns schamvoll der Lächerlichkeit, dem Spott preis, denn es ist nicht üblich, sein scheckig verfärbtes Ich zu offenbaren. Ein individuelles Ich, welches jeder sein Eigen nennt, welches jedoch gelernt hat, im Verborgenen zu existieren und seine Auseinandersetzungen mit den Freuden, den Tabus und dem Elend versteckt zu halten. So oft nun der Harlekin auf der Bühne sich seines Flickenmantels entledigt, es erscheint sogleich eine nächste Staffage und es folgen weitere Litaneien an kunterbunten und zerrissenen Fransen, die den, der sich offenbaren will, Lügen strafen. Als er 179 BACHTIN, S. 442. 180 BACHTIN, S. 56. 181 Vgl.: SERRES, Troubadour des Wissens, S. 6-11. Der gesamte Textauszug findet sich auch im Anhang unter Punkt IV. 182 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 7. 183 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 7-8.

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am Ende seine letzte Hülle ablegt, folgt Bestürzung, denn: »Tätowiert stellt der Mondkaiser eine kunterbunte Haut zur Schau, noch viel eher eine Buntheit als Haut. Der ganze Körper ähnelt einem digitalen Fingerabdruck. Wie ein Bild auf einer Bespannung, geriffelt, getönt, verziert, getigert, damastartig gewoben, moiriert, widersteht die Tätowierung der Betrachtung auf dieselbe Weise wie die Kleider oder Mäntel, die am Boden liegen. Auf daß der letzte Schleier falle und das Geheimnis sich offenbare, das genauso kompliziert ist wie die Menge der Barrieren, die es gehütet haben. Sogar Harlekins Haut widerspricht der von seinem Sagen behaupteten Einheit, da auch sie ein Harlekinmantel ist.«184 Der Harlekin, der vor das Publikum getreten war, nicht, um sich zu offenbaren, sondern um von seinem gezähmten Wissen zu berichten, ist entlarvt, weil er entstellt ist. Seine Identität ist von vielerlei Gestalt und das Publikum, das Zeuge seiner Enthüllungen wird, ist zweigeteilter Ansicht: die Gelangweilten haben den Saal bereits verlassen, denn sie waren zu einer Komödie gekommen und unempfindlich gegenüber dem kathartischen Effekt der sie ereilenden Tragödie. Die Anwesenheit des Spezialistentums dauerte bis zum beschämenden Ende des fiktionalen, sich enthüllenden Harlekins und trug bei diesen zu der sich weiter anreichernden enzyklopädischen Erkenntnis bei, dass ihnen die Kunst wieder einmal überlegen war.185 Michel Serres bemerkt den Wagemut, die unterschiedlichen Buntheits- und damit Identitätsgrade der nackten Haut zu zeigen, vor allem in der Kunst.186 Er bezeichnet diese buntscheckigen Stellen der Oberfläche unseres Selbst als eine Präsenz der Seele, die von Person zu Person unterschiedlich ausfalle und als Tätowierungen die Spuren unserer Identitätsfindung aufzeichne.187 Diese Abdrücke legen Zeugnis ab über unseren Kontakt mit der Außenwelt: »Die Haut ist eine kontingente Mannigfaltigkeit; in ihr, durch sie und mit ihr berühren die Welt und mein Körper einander, das Empfinden und das Empfundene; sie definiert deren gemeinsame Grenze. Kontingenz meint nichts anderes als gemeinsame Berührung: Welt und Körper schneiden, streicheln einander darin. Ich sage nicht gerne milieu für den Ort, an dem mein Körper sich befindet; ich sage lieber, die Dinge vermischen sich miteinander, und ich bilde darin keine Ausnahme; ich vermische mich mit der Welt, wie sie sich mit mir vermischt. Die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, daß sie sich vermischen.«188 Die Berührung zwischen unserem Selbst und der Welt inskribiert sich vor allem auf unserer nackten Haut, die wir nicht zu zeigen geneigt sind.   Die durch Wundmale scheckig gewordene Haut, tragen sowohl ORLAN, die zuweilen ihren Körper in einen Harlekinmantel hüllt, als auch Hannah Wilke zur Schau. Der invasive Blick, den Wilke auf ihren einst idealtypischen Körper zuließ, wird in ihrer 184 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 9, sowie SERRES, Die fünf Sinne, S. 105. 185 Vgl.: SERRES, Troubadour des Wissens, S. 10. Dies ist auch eine der Textstellen, die von ORLAN während ihrer Performance-Operationen verlesen wird; vgl.: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 327; vgl. auch Anhang, Punkt III. 186 Vgl.: SERRES, Die fünf Sinne, S. 32, S. 34-35, S. 39-41, sowie S. 62-63. 187 Vgl.: SERRES, Die fünf Sinne, S. 20-21. 188 SERRES, Die fünf Sinne, S. 103.

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Intra-Venus-Serie zu einem medizinischen Blick, welcher der Krebsinvasion im Inneren ihres Körpers geschuldet ist. Sprichwörtlich betrachtet, widerfährt ihrem Körper eine gleichzeitige Invasion von innen und von außen. Eine Objektivierung ihres erneut durch Krankheit zersplitterten Selbst, »her identity as a newly disfigured or ›monstrous‹ body in a culture that stigmatizes and constructs her as ›other‹«189 , kann für sie nur mehr über eben diesen Blick der Anderen gelingen. Diese zunächst als mutwillige Provokation empfundene Geste, ist in diesem Stadium weit entfernt von dem Hilferuf, der noch Werktitel aus Wilkes Frühwerk kennzeichnet.190 Sie bietet vielmehr dem sie nun Betrachtenden eine die Krankheit zähmende Sichtweise: »Struggling with cancer, Wilke seems to have wanted to sever the intricate, but now surely agonizingly painful, bonds among her gaze, her body, her sexual identity, and her intellect, using photography to objectify her body for herself (and thus inevitably for us), to make the signs of cancer and its treatments legible: to make sense of death.«191 Während Wilke ihre auf passive Weise erhaltenen Spuren der Krankheit offenbart und dabei ihren bakterienzerfressenen, wunden Mund als Zugang zu ihrer leibeigenen Höllengrube aufreißt, zeigt ORLAN ihre verletzten und identitätsstiftenden Hautpartien, die durch ihr eigenes Zutun verursacht wurden. Der Mund, das Sinnbild der Hölle, vervielfältigt sich in ihrer siebten, als Omniprésence bekannten Performance-Operation. Das im Profil der auf dem Operationstisch liegenden ORLAN aufgenommene Film-Still, zeigt die Künstlerin mit einer zusätzlichen Öffnung am Hals, unterhalb ihres eigentlichen Mundes. Die Fotografie ist als Second Mouth bekannt. ORLAN gewährt uns Einblicke in das Prozedere der sie solcherart verändernden Maßnahmen. Die Veränderungen betreffen dabei sowohl ihren Körper als auch ihre Identität. Das gedankliche Experiment, das die Psychoanalyse, die Neurobiologie und die Philosophie hierzu anstellt, findet in ORLANs Schaffen seine tatsächliche Ausführung.

Transgression: Der Schnitt ins Gehirn Es wurde ersichtlich, dass die Phase einer Selbstfindung erst mit Hinzuziehung der Außenwelt komplettiert werden kann. Und dennoch tritt ab diesem Zeitpunkt ein Stadium der ständigen Erneuerung unserer Identität ein, gerade weil die Außenwelt als wiederholt auftretender Indikator und Richtwert sich an unserem Selbst beteiligt. Ob wir dies wollen oder nicht, muss einer Identitätsveränderung laufend stattgegeben werden. Was aber, wenn der Versuch unternommen wird, diese Veränderungen aktiv zu lenken? Was, wenn wir hierfür in vollem Bewusstsein zurückkehrten in das infantile Ereignis der erstmaligen Identitätserzeugung, das Jacques Lacan das »Spiegelstadium« nennt? Wir erinnern uns, dass diese erste Phase der Selbsterkennung lediglich zwei Komponenten involviert: das Ich und seine äußerliche Form, den Körper. Beides bedingt einander. Sobald der Körper geöffnet wird, das Innenleben sich preisgibt, gehen wir unserer Identität verlustig. Das Ich ohne körperliche Grenzen zu wissen, erscheint unmöglich 189 MacLELLAN, Art., 2012, auf: http://blog.forestiere.ca/2012/10/not‐so-pretty‐pink.html [zuletzt aufgerufen am 04. Dezember 2016]. 190 Die So Help Me Hannah-Serie entstand in den Jahren 1978-1981; vgl. hierzu Kapitel III.3. 191 JONES, Body Art, S. 192-193.

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und einer Identitätsbildung entgegengesetzt. »To be opened up, to be known, is to be less than a whole identity, even when one is only temporarily cut up during remedial surgery. One is instead corrupted by pathological excrescence, or intrusion – the tumour, shrapnel, or evisceration – the knife (whether of public executioner, psycho‐killer or surgeon). The dissolution of the interior/exterior relation is a dissolution of the subject.«192 Faktisch wie symbolisch unterwandern wir diese körperliche Begrenztheit bereits seit der Erfindung der Röntgenstrahlung. Während diese vor allem unsere innere räumliche Konstruktion samt den Zellstrukturen offenlegt, erreicht die spätere Sonografie eine zusätzliche Offenbarung unseres organischen Innenlebens, ohne noch den Körper hierfür öffnen zu müssen. Es ist die Einsichtnahme auf ein Innenleben, das nicht gesehen werden will und soll und sofern wir dieses Experiment unternehmen, liegen mithin Gründe einer medizinischen Inaugenscheinnahme vor.193 Den Körper jenseits dieser Vorsichtsmaßnahmen – grundlos gar – öffnen zu wollen, führt zu seiner – wenn auch vorübergehenden – Fragmentierung nicht nur aller organischen Funktionen, sondern auch der Identität: »Cutting open the human body for the purpose of looking inside shatters any perception of completeness – the body is no longer a contained individual body. The skin, as container, is violated as such, with the result that the body appears to overflow its bounds, to transgress its self.«194 Um der Wahrnehmung dieser körperlichen wie seelischen Zersplitterung zu entkommen, gibt es die das Bewusstsein und den Körper anästhesierende Maßnahme der Narkose. Diese versetzt den Menschen in ein passives, liminales Stadium, welches den Körper in einem Schwebezustand zwischen dem Leben und dem Tod hält – sofern man eine fehlende Identitätsempfindung einem toten Dasein gleichsetzen möchte. Dieser Schwebezustand lässt sich jedoch auch gewollt und bei vollem Bewusstsein herbeiführen. Michail Bachtin prägt hierfür den Begriff der »Außerhalb-Befindlichkeit«, die eine Ekstase, eine Ich-Exzentrik, eine Exotopie des Körpers meint, der seine Grenzen überschreitet, indem er sich der Welt öffnet, sich den Anderen offenbart, um sich seiner selbst zu vergewissern, um das Selbst zu finden.195 Das Sich-Öffnen zeigt sich dabei nicht so sehr in einer emotionalen Ausschüttung der Gefühle, sondern in einer sprichwörtlichen Freisetzung des Körperinneren: »Bachtins somatische Semiotik beschreibt nicht nur das Tauschgeschäft zwischen Körper und Welt, sondern auch den Grenzhandel zwischen innen und außen, ich und wir, Identität und Alterität. Es ist die Beschreibung eines Prozesses, der in der Ekstase mündet, eine Ekstase freilich, die nicht das Heraustreten der Seele aus dem Körper (Ende jedes Tausches), sondern das Heraustreten des Körperinneren in die Welt meint, jenes Verschütten in die Welt, wie es in der Wendung ›Sich-Ausschütten‐vor-Lachen‹ gesagt ist.«196 Nach Bachtin ist der Karneval die rituell dafür zur Verfügung stehende Zeit, diesen Tabubruch des SichAusstülpens zu begehen, sich in einem geregelten und lustvollen Akt dem Destruktionstrieb hinzugeben, sich von Ängsten und Zwängen zu befreien und damit die Grenzen des Körpers und des Selbst für eine kurze Zeit zu übertreten. Die Schnittstellen, 192 193 194 195 196

TOWNSEND, Vile Bodies, S. 68. Siehe hierzu auch Kapitel II.3.1. O’BRYAN, S. 39 [kursive Hervorhebung durch C. Jill O’Bryan]. Vgl.: Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 7-46, hier S. 40. Renate Lachmann, in: BACHTIN, S. 39.

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die der Leib hiervon zurückbehält, sind bleibende: »Versteht eure Narrheit: das war Zeus’ Geheiß, als er Apollo gebot, die Gesichtshälften der geteilten Zwitter (wie ein Ei, eine Vogelbeere) nach der Schnittstelle (dem Bauch) zu drehen, damit der Mensch, seine Zerschnittenheit vor Augen habend, sittsamer würde. Verstehen, heißt das nicht das Bild zerschneiden, das ich aufheben, jenes stolze Organ der Verkennung?«197 Es stellt sich an dieser Stelle dringlicher als je zuvor die Frage, wie genau das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem es umhegenden Körper beschaffen ist. Bislang konnte zweierlei, einander Widersprechendes festgestellt werden: zum einen wäre es unerträglich und unsere Identität schädigend, sähen wir unsere Körpergrenzen aufgehoben und damit hinein in den eigenen Leib; zum anderen lassen wir uns zu Zeiten freiwillig auf diese Aufhebung der Grenzen ein, um unser Körperinneres der Welt auszuschütten, selbst in sein Inneres blicken zu können, um dem Ich leibhaftig zu begegnen. Welche Distanzen und/oder Verflechtungen bestehen nun wirklich zwischen dem Körper und seinem Ich? Wäre die Verquickung so eng, dass der Körper zum Objekthalter, zum Gegenstand unseres Ich gemacht würde, indem nur er zur Erkenntnis des Selbst beitragen könnte, würde man die leibliche Hülle überschätzen. Sähe man den Körper als einen das Ich lediglich lose bedeckenden Harlekinmantel, würde man die leiblich‐seelischen Abhängigkeiten zwischen Körper und Geist als zu minder einschätzen. Weder unterwirft sich der Geist dem Körper, noch der Körper dem Geist. Wie bereits festgestellt, besteht eine einander gegenseitig verpflichtende Gleichzeitigkeit von Körper und Leib, von Haben und Sein.198 Der sich gegenseitig bedingende Zusammenhang zwischen dem Körper und dem Leib muss daher unter anderem im Gehirn zu finden sein, einem Organ, welches sowohl fleischlicher Teil unseres Körpers ist als auch nervlicher und elektronischer Impulsgeber für unsere Identität. Auch hier ist man sich nicht immer einig, was das Gehirn zur Identität beitragen kann und wie es unser Selbst in der Wirklichkeit positioniert. Im Folgenden sollen zwei gängige Überlegungen – diejenige des Psychiaters und Philosophen Thomas Fuchs und diejenige des Biologen und Hirnforschers Gerhard Roth – einander gegenübergestellt werden. Thomas Fuchs setzt die Prämisse, dass es nicht abschließend zu einem Erkenntnisgewinn beitrage, unsere Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken, aber auch unser Handeln und unsere Person anhand neuronaler Messungen am Gehirn numerisch fassbar machen zu können. Es entstehe der falsche Eindruck, unser Gehirn sei lediglich ein Apparat zur Informationsverarbeitung, der somit vor allem eine materielle Leistung vollbrächte. Dass diese – vom Gehirn und den Forschern – erhobenen Datenmengen niemals dazu ausreichen könnten, unser Selbst und damit unsere Identität zu durchschauen, formuliert Fuchs wie folgt: »Nicht anders verhält es sich nach Meinung vieler Hirnforscher mit unserem Bewusstsein: Es spiegelt nur Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung wider, die uns als solche prinzipiell nicht bewusst werden können. 197 BARTHES, S. 244 [kursive Hervorhebungen durch Roland Barthes]. 198 Allerdings kann diese Abhängigkeit aufgehoben werden. Man denke an dieser Stelle zurück an die Methoden der klinischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts: die als Faradisation bekannte Maßnahme der Reizung der Gesichtsmuskulatur durch Elektroden, führte zu sichtbaren Emotionen im Gesicht, die zum Zeitpunkt jedoch nicht empfunden wurden. Vgl. hierzu: AUGSBURG, S. 74-76, sowie Kapitel III.2.

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Die in unserem Rücken agierende neuronale Maschinerie erzeugt nur den Schein eines dauerhaften Selbst.«199 So wären wir fraglos zu einem Dasein als Terminatoren reduziert: »Ich nehme Verletzungen wahr. Diese Daten könnte man Schmerz nennen.«200 Fuchs bestreitet jedoch nicht eine maßgebliche Beteiligung des Gehirns an unserem Selbst 201 , aber für ihn stellt sich die umgekehrte Frage, ob wir anhand eines Gehirns auch die dazugehörende Person identifizieren könnten.202 Fuchs verneint dies, denn weder die äußerliche Anschauung lasse Rückschlüsse auf den Besitzer des Gehirns zu, noch die Tätigkeit des Gehirns selbst: »Es moduliert elektrophysiologische Prozesse, weiter nichts.«203 Dem würde die biologisch motivierte Hirnforschung vehement widersprechen, denn diese geht davon aus, dass das Gehirn erst die Wirklichkeit hervorbringe, in der wir agieren, in der wir Bilder sehen, die vom Gehirn erzeugt würden und eben nicht von der Wirklichkeit, die ja selber ein Konstrukt des Gehirns sei. Daraus lasse sich schlussfolgern, dass wir in der Tat das seien, was das Gehirn vorgibt. Respektive seien wir unser Gehirn. Der nachweisbar komplizierte Vorgang unserer Wahrnehmung lasse deshalb keine andere Schlussfolgerung zu, als »dass die Wirklichkeit und ihre Gliederung in drei Bereiche [die mentalen und die körperlichen Zustände sowie die Außenwelt, Anm. d. Verfasserin] ein Konstrukt des Gehirns ist, und zwar ein Konstrukt, in dem die physiologisch‐neuronalen Prozesse des Gehirns, die den mentalen Zuständen zugrunde liegen, nicht vorkommen. Wir können diese Zustände als äußerliche Geschehnisse studieren, nicht jedoch erlebnismäßig erfahren.«204 Die empirische Beweisbarkeit dieses Sachverhaltes sieht Roth in der Instabilität unserer kognitiven Fähigkeiten gegeben. So können Störungen in einzelnen Hirnregionen zu massiven Beeinträchtigungen etwa unserer räumlichen Orientierung führen oder die Sensorik und Motorik dergestalt behindern, dass es infolgedessen zu Wahrnehmungshemmungen in Bezug auf unser eigenes Körperschema komme.205 Zugegeben: Die von unserem Gehirn als Konstrukt erzeugte Welt muss gelebt werden können. Das heißt, es stellt sich die Frage, wie wir zusammen mit anderen in dieser scheinbaren virtuellen Welt gemeinsam agieren, diese als euklidischen Raum erfahren und unser Selbst mit demjenigen der Anderen verhandeln können. Die Hirnforschung bezeichnet diese dem Gehirn entstammende Welt als eine transphänomenale Welt, Gerhard Roth im Speziellen nennt sie nicht die Wirklichkeit, sondern die Realität.206 Die Uneinigkeiten zwischen der Wirklichkeit und der Realität beschreibt Roth dahingehend, dass die Wirklichkeit als Teil der von uns erdachten Realität in der auch 199 FUCHS, S. 17; vgl. auch S. 16. 200 TERMINATOR 2 – Judgment Day (Tag der Abrechnung), Regie: James Cameron, 1991. 201 Beispielhaft stellt Fuchs das Gehirn und die Hand einander gegenüber: die Hand sei demnach weniger mit der Persönlichkeitserzeugung eines Menschen in Verbindung zu setzen, da wir auch ohne Hand immer noch dieselbe Person wären. Aber mit dem Erlöschen von Gehirnfunktionen, wäre zwar der Körper noch lebensfähig, aber nicht mehr erlebnisfähig oder zu einem Ausdruck und der Kommunikation fähig; vgl.: FUCHS, S. 14. 202 Vgl.: FUCHS, S. 14. 203 FUCHS, S. 14. 204 ROTH, S. 317 [kursive Hervorhebungen durch Gerhard Roth]. 205 Vgl.: ROTH, S. 317. 206 Vgl.: ROTH, S. 324.

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unser Ich vorkommt, die phänomenale Bewusstseinswelt sei, die Realität dahingegen die objektive und transphänomenale, sich jenseits des und unabhängig vom Bewusstsein zutragende Welt, denn: »Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.«207 Die Crux bei diesem Gedanken ist, dass somit in der Tat auch eine transphänomenale Welt existieren müsste. Nur: Welches andere Selbst nebst unserem eigenen hat sich diejenige erdacht und hat den Anspruch auf eine höhere, da allgemeine Gültigkeit dieser transphänomenalen Welt? Innerhalb der Logik der beiden Welten von Wirklichkeit und Realität argumentiert deshalb Roth, dass – falls wir keinen Unterschied machten zwischen unserer erdachten Wirklichkeit und der Realität – es umgekehrt sonst eben keine phänomenale Welt, in der unser Ich existiere, geben könne, sondern nur die transphänomenale Realität. »Damit gibt es aber auch keine Wahrnehmung und kein wahrnehmendes Ich.«208 Die Lösung liege daher in einer Virtualitätsformel unseres Handelns und Daseins. Um diesen Gedanken anhand von Beispielen nachzuzeichnen, sei Gerhard Roth in seiner Begründung in Gänze zitiert: »Mit der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit lassen sich innerhalb der Wirklichkeit hingegen viele Dinge befriedigend erklären. Dann verschwindet das eingangs gestellte Problem, wie die wahrgenommenen Dinge ›nach draußen‹ kommen. Sie werden vom Gehirn aufgrund interner Kriterien dem Bereich ›Außenwelt‹ zugeordnet. Das Ich als ein anderer Teil der Wirklichkeit empfindet dann diese Dinge als außerhalb, aber dieses ›außerhalb‹ existiert nur innerhalb der Wirklichkeit: Ich sehe wirkliche, nicht reale Gegenstände. Dies gilt auch für mein Handeln. Wenn ich nach etwas greife, so bewege ich meine wirkliche, nicht meine reale Hand, die nach einem wirklichen, nicht nach einem realen Gegenstand greift. Die Wirklichkeit ist der Ort, in dem mein Willensakt etwas veranlasst. Dieser Willensakt verkörpert sich empfindungsgemäß darin, dass ich absichtsvoll etwas tue, zum Beispiel mit der Hand nach einer Tasse greife. Meine Bewegung wird empfindungsgemäß direkt von dieser Absicht getrieben, es gibt kein Gehirn und kein Motorsystem dazwischen. […] Während […] die ›echte‹ Armbewegung kausal vor sich geht, ist die phänomenale Armbewegung empfindungsgemäß meinem Willen unterworfen. Das Ich handelt in diesem Sinne in einer virtuellen Welt, die […] zumindest teilweise parallel mit der realen verläuft und in der sich phänomenale und reale Aktionen ungefähr entsprechen. In der phänomenalen, virtuellen, wirklichen Welt bildet sich das […] Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt aus, welches die Grundlage der Interaktion mit der Umwelt ist.«209 Für die Psychologie und die Philosophie – hier mit Einwänden verkörpert durch Thomas Fuchs – ergeben sich hieraus heikle Schlussfolgerungen, die Fuchs anhand einer Operation am offenen Gehirn bei vollem Bewusstsein des Patienten veranschaulicht. Da ein solcher Eingriff wegen der fehlenden Schmerzempfindung an diesem Organ rein theoretisch möglich wäre, könnten wir uns während der Operation auch via Spiegel selbst ins Gehirn blicken. Fuchs fragt sich nun, welche der gesehenen Welten – die Wirklichkeit oder die Realität – in diesem Fall die Oberhand gewinnen würde: »[W]ürde dann mein Gehirn sich selbst sehen? Doch eigentlich träumt mein Gehirn ja 207 ROTH, S. 325 [kursive Hervorhebungen durch Gerhard Roth]. 208 ROTH, S. 325. 209 ROTH, S. 325-326 [kursive Hervorhebungen durch Gerhard Roth].

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nur eine Welt, und es träumt mich selbst. Ich aber, obgleich selbst ein Traum, träume nun auch mein Gehirn, das zugleich mich träumt … .«210 Nach der hirnerforschenden Theorie der Neurobiologie könne nämlich das Gehirn, dessen man ansichtig wird und man als das eigene identifiziert, »nicht dasjenige Gehirn sein […], welches mein Wahrnehmungsbild von diesem Gehirn hervorbringt.«211 Diese Sinneswahrnehmung sei eine Täuschung, da ja das Gehirn lediglich ein Erdachtes sei. Um der Wahrnehmung des auf dem Operationstisch geöffneten Gehirns gerecht werden zu können, bedürfe es der Perspektive eines zweiten objektiven, also realen Gehirns, das außerhalb der eigenen konstruierten Wirklichkeit liege, da es erst eine tatsächliche Wahrnehmung bestätigen und damit erzeugen könne. Gerhard Roth erklärt diese Abhängigkeiten beider Sichtweisen aufeinander im Detail: »Würde ich beide Gehirne miteinander identifizieren, so käme ich zu der Schlussfolgerung, dass mein Gehirn sich als echte Teilmenge enthält. Ich wäre nämlich dann zugleich in mir und außer mir, und der Operationssaal, in dem ich mich dann befinde, wäre zugleich in meinem Gehirn, und das Gehirn (zusammen mit dem Kopf und Körper) in dem Operationssaal. Um derartige absurde Schlussfolgerungen zu vermeiden, müssen wir zwischen einem realen Gehirn, welches die Wirklichkeit hervorbringt, und dem wirklichen Gehirn, unterscheiden. Daraus folgt: Dasjenige Gehirn, das mich hervorbringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. Daraus folgt zugleich: Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Konstrukte in der Wirklichkeit, ich selbst bin ein Konstrukt. Ich komme unabweisbar in dieser Wirklichkeit vor. Dies bedeutet, dass das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahrnehmungen und Handlungen erlebt, einen Körper besitzt und einer Außenwelt gegenübersteht.«212 Letzten Endes hätte entsprechend die Realität die Macht über die Wirklichkeit erlangt. Über eine Wirklichkeit, in der wir unser Denken, Fühlen und unsere Identität zu sein glauben. Die daraus resultierenden Konsequenzen für unser Selbst sind beängstigend: »Ich liege mit geöffnetem Schädel und freigelegtem Gehirn im Operationssaal und verfolge alles, was mit ihm geschieht, über einen Fernsehmonitor oder einen Spiegel. Ich bewege mithilfe einer geeigneten Vorrichtung die Reizelektroden über meine Cortexoberfläche, senke sie hinein und stimuliere den einen oder anderen Ort meiner Großhirnrinde. Entsprechend habe ich unterschiedliche Arten von Halluzinationen. Ich kann hiermit das ›Entstehen des Geistes aus der Materie‹ an mir selbst nachweisen; allerdings wird mir der Vorgang dabei erlebnismäßig nicht im geringsten klarer.«213 Die psychologische und philosophische Sichtweise kann dem nur unzureichend widersprechen. Fuchs entwirft das Szenario des durch verlängerte sensorische Verbindungen vor uns liegenden, eigenen Gehirns, welches dadurch noch seiner eigenen Wahrnehmung fähig wäre. Die räumliche Entfernung vom Schädel und die Reduktion auf eine Fleischmasse hätten nicht zur Folge, dass sich die reale Welt des Selbst änderte, denn sowohl die neuronalen wie nervlichen Zusammenhänge blieben bewahrt. 210 211 212 213

FUCHS, S. 15. ROTH, S. 328 [kursive Hervorhebungen durch Gerhard Roth]. ROTH, S. 328-329 [kursive Hervorhebungen durch Gerhard Roth]. ROTH, S. 332.

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Falls diesem Gehirn eine Verletzung drohte, wäre man gewillt, für dieses zu kämpfen. Auch die Versicherung, es sei doch nur ein gedankliches Konstrukt, könne einen nicht davon abhalten.214 Die Philosophie beharrt damit weiterhin auf der Einmaligkeit eines realen Gehirns. Diese Argumentation leuchtet ein. Sie kann jedoch nicht die Annahme wiederlegen, unser Gehirn sei ein Konstrukt des eigenen Gedankens. Die Frage nach dem Ort der Identitätsbildung bleibt damit aber unbeantwortet, dessen ist sich auch Thomas Fuchs bewusst. Er macht deshalb angesichts seines fiktiv vor ihm sich entfaltenden Gehirns einen Vorschlag, der – wie in dieser Schrift bereits mehrfach geschehen – das Körper-Haben mit dem Leib-Sein verquickt. Hiernach lägen die Ursache und der Sitz der Identität weiterhin in einem diffusen, nicht näher zu bestimmenden Bereich, nämlich in unserem »Organismus«: »Dann wäre mein Erleben also doch in dem grauen Organ vor mir zu lokalisieren? Nein – das Gehirn ist nur, in Verbindung mit meinem ganzen Organismus, eine zentrale und unabdingbare Voraussetzung dafür. Lokalisieren lässt sich jedoch mein Erleben überhaupt nicht, denn es ist nichts anderes als meine Beziehung zur Welt. Das Gedankenexperiment gibt uns noch einmal die Möglichkeit, den subjektiven Idealismus bzw. Neurokonstruktivismus zurückzuweisen, der Wahrnehmung in ein virtuelles Bewusstseinsgehäuse im Schädel verbannt, statt sie als Beziehung des Wahrnehmenden zur Wirklichkeit zu begreifen. Das subjektive Erleben ist kein ›Bild‹, kein ›Repräsentant‹, ›Modell‹, ›Konstrukt‹ oder wie immer solche idealistischen Begriffe lauten. Aus dem gleichen Grund ist es auch kein Ding oder Vorgang, der sich irgendwo im materiellen Körper auffinden ließe. So gerne sich der Neurowissenschaftler seiner habhaft werden würde – es ist, als wollte er das Sonnenlicht mit dem Schöpfeimer sammeln.«215 So können weder das philosophische Cogito ergo sum noch die Erkenntnisse der Neurobiologie das Phänomen unseres Identitätsempfindens ausreichend erklären, denn – und Gilles Deleuze formuliert das Problem in zugespitzter Form: »Man sieht demnach, worin jede Sensation eine Differenz der Ebene (der Ordnung, des Bereichs) impliziert und von einer Ebene zur anderen übergeht. Selbst die phänomenologische Einheit wurde dem nicht gerecht. […] Schließlich ein ganz spezielles Gefühl vom Inneren des Körpers, weil eben der Körper unterhalb des Organismus gefühlt wird, weil transitorische Organe eben unterhalb der Organisation der feststehenden Organe gefühlt werden. Und mehr noch, dieser organlose Körper und diese transitorischen Organe werden selbst gesehen werden, und zwar in Phänomenen innerer oder äußerer ›Autopsie‹: das ist nicht mehr mein Kopf, aber ich fühle mich in meinem Kopf, ich sehe und ich sehe mich in einem Kopf; oder ich sehe mich nicht im Spiegel, aber ich fühle mich im Körper, den ich sehe, und ich sehe mich in jenem nackten Körper, wenn ich angezogen bin etc. […] Und die Identität eines Schon‐hier und eines Stets‐zu-spät in der exzessiven Gegenwart. Überall wirkt eine Gegenwart unmittelbar auf das Nervensystem und macht die Installierung oder Distanzierung einer Repräsentanz unmöglich.«216 Das Hase‐undIgel-Spiel zwischen der Repräsentanz und der Präsenz von Körper und Identität wird aber zumindest in der Kunst anschaulich und erlebbar gemacht, ja sogar begreif lich. 214 Vgl.: FUCHS, S. 49-50. 215 FUCHS, S. 50 [kursive Hervorhebungen durch Thomas Fuchs]. 216 DELEUZE, Francis Bacon, S. 34-35, S. 36.

Die Grenzen des Ich   Auf die Gefahr hin, dass eben theoretisch Geschildertes bereits verstanden wurde, soll dieses Wissen nun auf das konkrete Beispiel des geöffneten Körpers von ORLAN übertragen werden. Man muss nicht weit ausholen, um die Parallelen der Überlegungen zur Entstehung, dem Verbleib und dem In-Kontakt-Treten der Identität mit der Außenwelt zwischen den philosophischen, psychologischen, neurobiologischen Wissenschaften und dem künstlerischen Werk ORLANs zu sichten. Um der eigenen und derjenigen Identität des Gegenübers nachzuspüren, wagt ORLAN die eben beschriebene De-Konstruktion des Körpers am eigenen Leibe. Es kann daher gar keine medizinische Legitimation für ihre Performance-Operationen geben, vielmehr sind diese motiviert von der Suche nach dem Sitz, dem Ursprung, den Zusammenhängen und den für alle an dieser Performance Teilhabenden – ob nun live oder rückwirkend betrachtet – daraus resultierenden Konsequenzen einer menschlichen Identität: »In the surgical theatre, the patient’s body is opened by a foreign body, the surgeon that represents the institution. It is a place where I appropriate this face‐to-face and even its relational scheme. I do not abandon my body to the surgeon’s hands, I remain conscious and active: I read texts, I enter into dialogues, I orchestrate the accessories and costumes of the surgeons. I am left to their expertise and I give them mine. The relation of patient to surgeon I is transgressed from the medical secret to the seriousness of the stakes. My body becomes a ground of bilateral investigations: as much of the doctored body as of the doctoring body. I situate this suture in the carnivalesque: aberrant opening of the body that overflows, that is disfigured in the puzzle of animated bodies.«217 Zu diesem Zweck gebiert die Künstlerin wie einst in ihrer Fotomontage ORLAN gives birth to her loved self (1965) ihr eigenes Selbst.218 Sein Selbst zu gebären bedeutet aus Sicht des zum heutigen Zeitpunkt Machbaren nichts anderes, als einen Klon zu erschaffen, mehr noch, sich genetisch zu duplizieren: »In this photo everything is already expressed: identity and otherness, giving birth to oneself, splitting into two, cloning.«219 Bevor dies geschieht, nähert sich die Künstlerin der Identitätsfrage – wie jeder andere auch – über den eigenen Namen. Die als Mireille Suzanne Francette Porte geborene Französin, verleiht sich 1962 selbst den Künstlernamen ORLAN. Damit verschmilzt erstmalig die reale Person, wie sie in den rechtlich verliehenen Dokumenten gesichert wird, mit der Künstler-Identität: »My work is woven into my life. Each piece is a new entrance, my entrance, re‐envisioning myself by using life as a recuperated aesthetic phenomenon.«220 Weniger als ein Jahrzehnt später nennt sie sich Saint ORLAN 221 , um im Rahmen ihrer Performance-Operationen eine Réincarnation erwirken zu können. Dieser Identitätswechsel erfordert eine wiederholte Neubenennung der Person. ORLAN äußert sich hierzu und zu den in den Folgejahren diesbezüglich unternommenen 217 ORLAN, in: »The poetics and politics of the face‐to-face«, in: DONGER, S. 103-118, hier S. 111. 218 Vgl. hierzu die Homepage von ORLAN: www.orlan.eu/wp‐content/gallery/corps‐sculpture1964-1967/orlan‐accouche-delle‐maime-maud‐modif-0214recadrage.jpg [zuletzt aufgerufen am 08. Dezember 2016]. 219 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 83. 220 ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 42. 221 Vgl.: INCE, S. 1, sowie Kapitel III.2.

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juristischen Schritten: »When the operations are finished, I will solicit an advertising agency to come up with an artist’s name and logo; next I will retain a lawyer to petition the Republic to accept my new identity and my new face. It is a performance that inscribes itself into the social fabric, that challenges the law, that moves toward a total change of identity. (Should this prove impossible, in any event, the attempt and the pleading of the case by the attorney will form part of the work).«222 Über ihre juristische Person gibt ORLAN bis heute immer nur so viel preis, wie es ihre Person als Künstlerin notwendig macht. Fragen nach dem Stand ihrer rechtlich gesicherten Identität bleiben unbeantwortet: »So, I will not answer. My name is ORLAN, inter alia, and as possible, my name is all written in uppercases.«223 Der rechtliche Zugriff auf ihre Person ist nur einer der Schachzüge, die ORLAN zur Dechiffrierung der Identität unternimmt. Viel wichtiger sind aber die medizinischen und nicht zuletzt die psychologischen Eingriffe, welche Leib und Seele der Künstlerin neu formen. Mit einer Veränderung der Identität geht ein psychischer Wandel einher und ORLAN bereitet im Vorfeld ihrer chirurgischen Modifikation dafür den Boden, indem sie sich sieben Jahre lang der Psychoanalyse unterzieht.224 Dies beginnt wenige Jahre nach ihrem ersten öffentlich übermittelten Eingriff, der die ungeplante, einer Eileiterschwangerschaft geschuldete Notoperation zu einer Videobotschaft der Künstlerin aus dem Krankenhaus werden ließ. Das Videomaterial ersetzte 1978 ihre Präsenz auf dem Performance-Symposium in Lyon.225 Bereits hier kündet sich an, dass ORLAN in den ab 1990 folgenden Performance-Operationen sowohl das medizinische Dekorum als auch das damit einhergehende Protokoll nach ihrem Entwurf verändern muss, um sich den Fragen nach der eigenen Identität nähern zu können: es bedarf den bei vollem Bewusstsein geöffneten Körper, der den eigenen Blick und denjenigen der Zuschauer zulässt und dabei anzieht und gleichzeitig abstößt, es braucht hierfür die visuelle sowie intellektuelle Interaktion und Kommunikation zwischen allen Beteiligten und zuletzt den im Nachgang angeregten Dialog anhand der aus den Operationen gewonnenen karnevalesken Relikte. Die dem chirurgischen Akt entgegenwirkende Poesie des anästhesielosen und damit identitätsverneinenden wie gleichermaßen identitätsstiftenden Vorgangs, soll mit einer abschließenden Operation manifest werden: geplant ist ein letztmaliger Eingriff, der – nicht wie seine Vorgänger – eine tatsächliche physische Veränderung nach sich ziehen würde, sondern ORLAN einen vorübergehenden Schnitt in den Arm zufügt, der seine zweckfreie Daseinsberechtigung im Sinne Kants erhält, indem die Wunde da ist, um wieder geschlossen zu werden: »Now I can see my 222 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326; vgl. auch Anhang, Punkt III. 223 ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. Wie sich der Identitätswandel der Künstlerin auf ihre Dokumente ausgewirkt hat, bleibt im Ungewissen. Nebst einer eventuellen Namensänderung, müssten aber zumindest ihre biometrischen Daten neu hinterlegt und überprüft worden sein. 224 Vgl.: O’BRYAN, S. 19. 225 Vgl. u.a.: AUGSBURG, S. 310-311, sowie Kapitel III.2.

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body open without suffering. I can see deep into my entrails, a new step in the mirror process.«226 Das Subjekt ORLAN, auf das die Künstlerin dabei selbst blickt, und das Objekt ORLAN, in das die Anwesenden hineinschauen, lässt anhand der reinen Anschauung – und wie weiter oben von der Neurobiologie bestätigt – zunächst keinerlei gewinnbringende Einblicke auf unsere Identität zu. Zugleich steht dem zwangsläufig die abjekte und in den Vordergrund drängende Materialität der vom Gesicht gelösten Hautlappen und anderer geöffneten Körperstellen entgegen. Während Amelia Jones das von ORLAN losgelöste Fleisch nach wie vor als dem Subjekt ORLAN zugehörig anerkennt227 , gibt Julia Kristeva zu bedenken, dass die Anschauung des Abjekten das Subjekt von seinem Objekt – wie im Fall der Haut vom Gesicht – abtrennt und einer Identifizierung entgegenwirkt: »The abject has only one quality of the object – that of being opposed to I. […] And yet, from its place of banishment, the abject does not cease challenging its master. Without a sign (from him), it beseeches a discharge, a convulsion, a crying out. To each ego its object, to each superego its abject.«228 Oder wie es bei Eugénie Lemoine-Luccioni heißt: »Une fois pelées, il n’y a plus de corps«.229 Und in der Tat versetzt den Betrachter die vorübergehende Gesichtslosigkeit ORLANs nicht nur anhand der abjekten Umstände in Schrecken, sondern es ist die Duplizität der Person, die beginnt, unüberschaubar zu werden, uns zu verwirren und Zweifel zu erzeugen. Der abgelöste Gesichtslappen und das offengelegte Fleisch des Gesichtes darunter, sind in ihrer Gesamtaufnahme beides der Person ORLAN zuzuordnen. Wechselt die Kameraperspektive, ist eine Übereinstimmung aber nicht immer nachvollziehbar. »[T]he opened body is sometimes identifiable as Orlan’s and sometimes unidentifiable as belonging to one individual. The opened body lies on the cusp of identity. A horror exists in the possibility that Orlan’s unique body, publicly flayed, stripped, unveiled, might become unidentifiable not only to the beholders but also to her.«230 Ausschlaggebend für diesen pathologisierten Blickwinkel auf den rohen Menschen, ist nicht nur die Kameraperspektive, sondern auch das Detail, welches zum austauschbaren Fragment eines beliebigen Körpers wird. Amelia Jones nennt den über den Bildschirm gesehenen geöffneten Körper das »televisual flesh«231 . ORLANs De-Konstruktion des Körpers folgt entsprechend gleichzeitig der Strategie einer DeKontextualisierung. Aus dem jeweiligen Kontexten gerissen – weg vom Künstlerkörper, weg von einem bestimmbaren Körperteil, weg vom wiedererkennbaren Subjekt (aus der Sicht ORLANs) und dem Objekt (aus Sicht des Betrachters) – offenbart sich für ORLAN das Bild des Selbst als dasjenige des Anderen und für uns wird das Bild des Anderen zum Bild des Selbst. Diese Gleichzeitigkeit von Gegensatz und Übereinstimmung 226 ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29. S.a. im Anhang, Punkt II. Zu dieser letzten geplanten Operation vgl. auch: ORLAN, in: ORLAN und Hans-Ulrich Obrist, in: DONGER, S. 177-187, hier S. 182, sowie Meredith Jones und Zoë Sofia, in: ZYLINSKA, S. 56-72, hier S. 67. 227 JONES, S. 324, Fußnote 87. 228 KRISTEVA, S. 1-2. 229 LEMOINE-LUCCIONI, S. 98. Siehe bereits davor im Kapitel III.2. 230 O’BRYAN, S. 97. Hinzu kommt, dass gerade das Gesicht als identitätsstiftendes Körperteil gilt. 231 Amelia Jones, »Televisual Flesh: The Body, the Screen, the Subject«, in: ASSELIN, S. 302-327, hier S. 308.

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kann sich dabei alleine auf dem Bildschirm entfalten, der wie kein anderes Medium einerseits kommunikative und andererseits rein repräsentative Funktionen erfüllt. Die Selbst-Reflexion, die wir bezüglich unseres körperlichen Innenlebens lediglich in einem vom Bildschirm assistierten Zwiegespräch mit unserem Arzt führen, projiziert sich damit auf ORLANs Körperinneres. Aus denselben Gründen befindet sich ihre Identität in Auflösung, weil sie sich als Projektionsfläche dem Gegenüber zur Verfügung stellt. Der Betrachter ist aber nicht nur das – ein Betrachter –, sondern gleichzeitig ein Zuhörer. Die von ORLAN während der Operationen gelesenen Textpassagen Lacans zum Spiegelstadium verweisen den Zuschauer auf die Kommunikation seines eigenen Selbst mit dem gespiegelten Ich. Die erneut erprobte Übereinstimmung initiiert noch einmal die subjektive Empfindung des Spiegelbildes als Identifikationsobjekt. Initiation ist dabei auch das Anliegen ORLANs: »Each operation was constructed like a rite of passage.«232 Noch bevor uns diese Bilder ereilen, legt ORLAN in einem anderen Text, demjenigen von Eugénie Lemoine-Luccioni, Zeugnis darüber ab, dass es da diesen Spalt gibt zwischen dem Selbst und dem Ich, dem Selbst und dem Anderen, eine Lücke, die es zu füllen gilt: »There is an error in human relations because one never is what one has.«, heißt es da in »La Robe«.233 Auch der Unterschied zwischen dem Körper-Haben und dem Leib-Sein will von ihr somit überbrückt werden. Deshalb nennt sie ihr Vorgehen »Carnal Art«, um die Sichtbarkeit beider Zustände, die sich ihrem Fleisch eingeprägt haben, zu offenbaren. Dass die Vermengung der körperlichen wie leiblichen Seinszustände virtuell erzeugt werden kann, ist nicht mehr der aktuelle Stand heutiger genetischer Technik. Dennoch nutzt ORLAN zunächst auch das virtuelle Medium, um ihre zukünftige Person zu kreieren.234 Doch ORLAN präsentiert auch den realen Tatbestand und damit das von Michel Serres beschriebene »normale, tätowierte, beidhändige, hermaphroditische und gemischt‐rassige Monster«235 und sie zeigt sowohl das, was unter ihrer Haut ist, genauso wie das, was sich im Nachgang darauf abzuzeichnen beginnt. Während sie den Flickenmantel des Harlekins in ihrer fünften Performance-Operation zunächst nur als Kostümierung zur Schau trägt236 , offenbart sie den wahren Flickenteppich, den die identitätsverändernden Maßnahmen auf ihrer Haut hinterlassen, auch in den 41 computer‐manipulierten Foto-Portraits, die ihren Heilungsprozess im Anschluss an die 232 ORLAN, »I Do Not Want To Look Like …«, ORLAN on becoming ORLAN, in: Make: The Magazine of Women’s Art, Nr.72, Oktober/November 1996, London und New York 1996, n.p., auf: http://orlan.eu/ adriensina/women/women.html [zuletzt aufgerufen am 04. Juli 2015]. 233 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 317 [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]; vgl. auch Anhang, Punkt III. 234 Sowohl das durch die Performance-Operationen erzeugte neue Selbst wird anhand eines computer‐manipulierten Selbst-Portraits vorausgeschickt, als auch folgen dieser Arbeit weitere computergenerierte Self-Hybridations (ab 1998). Vgl. Kapitel III.2. Von allen ihren Körpermanipulationen – ob virtuell oder real – spricht ORLAN von einer Veränderung ihrer Identität: »The declension of possible images of my body is concerned with the problem of identity and alterity.« Lediglich der Bezug ändere sich; in: ORLAN, Art., 1996, n.p. 235 ORLAN liest diesen Text erstmalig in ihrer 5. Performance-Operation. Vgl.: SERRES, Troubadour des Wissens, S. 10. Der gesamte Text über den Laizismus, aus dem ORLAN während der Operationen einige Passagen zitiert, findet sich im Anhang unter Punkt IV. 236 Das buntscheckige Muster des Harlekinkostüms durchzieht ihr gesamtes Oeuvre; vgl. hierzu die Homepage der Künstlerin: www.orlan.eu/[zuletzt aufgerufen am 09. Dezember 2016].

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siebte, als Omniprésence bezeichnete Operation begleiten237 : »In art history, the traditions of self‐portraiture go back a long way. This is why I have spoken of classical work, but this portrait is inscribed in my flesh before being visually inscribed on the photo. I am not just reproducing my self‐portrait. I am producing it at the same time; you could say that the presentation and representation of the self is like sfumato.«238 Es ist nicht das letzte Mal, dass sie den Harlekinmantel für ihr Werk aufrufen wird, nicht zuletzt als Staffage für die aus ihrem Körper gewonnenen Bakterienkulturen in The Harlequin’s Coat (2007).239 Michel Serres’ Harlekin sucht seinen Auftritt auf einer fiktiven Pressekonferenz. ORLAN zeigt ihr Selbst-Portrait in öffentlichen Auftritten weltweit, um, so ORLAN, »to establish a comparison between the self‐portrait made by the computing machine and the self‐portrait made by the body‐machine.«240 Das Selbst-Portrait, dessen Funktionieren in der Kunst bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gleichgesetzt wurde mit einer erkennbaren Übereinstimmung zwischen dem Portrait und der gemeinten Person, dem »theorized body«, hat sich mehr und mehr aufgelöst zugunsten einer Übereinstimmung mit der bloßen Repräsentation der Person, dem »experienced body«.241 Während die theoretisierte Person offenkundige visuelle Gemeinsamkeiten zu einer Identifizierung aufweist, werden die Berührungspunkte einer erfahrbaren Repräsentation auch im Fragment erkennbar. Im Falle ORLANs werden ihr Körper und ihr Selbst zu den sie repräsentierenden Ausdrucksmitteln. Bezüglich des Selbst-Portraits gilt dies nicht nur für den Betrachter, der ihrem Abbild gegenübertritt, sondern vor allem für die Künstlerin, die sich ein Bild von sich selbst macht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Selbstportrait in jedem Fall nur über eine Selbstanschauung in der Reflexion – i.e. einem Spiegel oder einem bereits vorhandenen Bild – zustande kommen kann. ORLANs vollzogener Wandel spiegelt ihr nun ein neues Abbild wider, das ursprüngliche Selbst ist nicht mehr, das neue Selbst ein ungewohntes. Die Kunst formuliert damit die gleiche Frage wie weiter oben die Psychoanalyse und die Philosophie: Welche Bezugspunkte gibt es zwischen dem Körperbild, das wir von uns haben, und unserem Körper und demjenigen Körper, wie er von der Außenwelt gesehen wird, und inwiefern wird hierdurch Einfluss auf unsere Identität genommen? Und zuletzt: Existieren Kausalzusammenhänge zwischen diesen drei Instanzen?242 Die Gabe eines Körperfragmentes in Form des Fleisches der Künstlerin scheint diesbezüglich eine paritätische Lösung zu bieten – denn es ist in uns allen: das Fleisch, das Blut und andere Körpersubstanzen als Referenten einer Identifizierung, lassen alle gleich erscheinen und zeugen von der Ähnlichkeit des humanen Körpers. Nur der Rationalität der Genetik ist es zu verdanken, dass die »Reliquie ORLAN« als individueller 237 Zu der Foto-Serie Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, In-Between (1994) vgl. Kapitel III.2 sowie die Chronologie der Performance-Operationen im Anhang unter Punkt I. 238 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 91. 239 Vgl. hierzu die Kapitel III.2 und IV.2.2. 240 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 322; vgl. auch Anhang, Punkt III. 241 Vgl. hierzu: Ric Allsopp und Scott deLahunta, »Introduction«, in: ALLSOPP, Ric und Scott deLahunta, The Connected Body? An Interdisciplinary Approach to the Body and Performance, Amsterdam 1996, S. 6-10, hier S. 6. 242 Vgl. hierzu auch: O’BRYAN, S. 38.

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Leib identifiziert werden kann. ORLANs wissenschaftliche Identität bleibt somit integer. Nun sind diese Selbst-Portraits im Behältnis eines Reliquienschreins allerdings dazu gedacht, in den Besitz des Anderen überzugehen. Damit stellt ORLAN die durchwegs legitim und auch legal berechtigte Frage nach dem Besitz von Identität. Im Gegensatz zu einem traditionellen Selbst-Portrait, welches – einmal verkauft und unter Berücksichtigung der üblichen Urheberrechte – faktisch den Besitzer wechselt, ist das genetische Selbst weiter im Wandel begriffen und in gewisser Weise eigenverantwortlich geblieben. Dessen Materialität wie auch identitätsstiftende Kriterien wachsen, gedeihen oder verderben einerseits selbständig, können aber auch durch aktives Zutun anderer verändert werden. In der Embryologie, der Genetik, der Medizin und der Pharmakologie sind dies bereits seit langem diskutierte Fragen, die – auch aufgrund der immer einen Schritt voraus seienden Forschung und Entwicklung – nach wie vor der bioethisch passenden Antworten harren. Der juristische Entscheid plädiert in den allermeisten Fällen anhand des Eigentümerinteresses für die Einzigartigkeit des Körpermaterials: »One cannot steal another’s persona – one can only misuse it«.243 Dass die Argumentation damit in einem nicht endenden Kreislauf mündet, zeigen ORLANs Körperfragmente: »To place oneself outside of oneself to become oneself.«244 In ihrer Performance Tangible strip‐tease (en Nanoséquences) im Juni 2016 wird dies bislang am Deutlichsten: das Publikum hält die Identität ORLANs in Form von Schläuchen in Händen, durch deren Innenleben die Körpersäfte ORLANs zirkulieren, welche vor ihnen auf der Bühne Platz genommen hat und zeitgleich als Spenderin fungiert. ORLAN bemüht hier nicht nur den Makrokosmos eines ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen, sondern auch den Mikrokosmos der eigenen Identität, die sich mit der fortwährenden Neu-Orientierung und dem Sich‐in-Relation-Setzen ständig neu gebiert und einem unaufhörlichem Wandel unterliegt. Für ORLAN existiert nicht das »I am«, sondern das »I are«, das an viele Identitäten geknüpft ist, auch daran, dass sie in das Selbst des Anderen schlüpft: »JE est UNE autre.«245 Die Réincarnation von ORLAN kann weder als abgeschlossen betrachtet werden, noch wird sie dies – so die Künstlerin – jemals sein: »You speak of identity, I am not for definite identity, but in fact I am for nomadic, mutant, shifting, different identities. It’s here, it seems to me, that our era inscribes itself. We are in a prison from which we should perpetually be trying to remove the barriers, but we aren’t yet able to sufficiently succeed. The means of our times still don’t allow us to swallow a pill that turns our eyes green or blue or black.«246 In einer posthumanen Welt, in der die Eigenschaften und Ausdrucksformen unseres Selbst austauschbar und ersetzbar sein werden, scheint es auf den ersten Blick müßig, unter der Hautoberfläche und noch jenseits des Organismus und der Gehirnströme nach einer dieses Selbst bestimmenden Identität zu forschen. Frei nach ORLANs 243 AUSLANDER, Liveness, S. 175. Alleine auf einer rein juristischen Ebene ergeben sich Fragen nach dem Reproduktions-, Besitz- und Patentrecht von genetischem Material. Fallbeispiele trägt Philip Auslander zusammen in: AUSLANDER, Liveness, S. 174-176. 244 ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 42. 245 ORLAN, »ORLAN/Paul Virilio [Interview, 2009]«, in: DONGER, S. 188-195, hier S. 193. 246 ORLAN, »EXTRActions: A Performative Dialogue ›with‹ ORLAN«, mit C. Jill O’Bryan, ORLAN und Tanya Augsburg, April 2000, in: O’BRYAN, S. 141-150, hier S. 141.

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Motto »Remember the Future«247 gibt es zukünftig wohl Dinge zu erwarten, die unsere heute gängigen Existenzformen zu einem Konstrukt werden lassen, die Identität über alle Maßen beeinflussen, vervielfältigen und jenseits unseres Selbst zu einer neuen Existenzform finden lassen werden. Hierzu im Folgenden ein Ausblick.

Das Selbst jenseits seines Selbst In gewisser Weise bleibt das Zusammenspiel zwischen dem Organismus und dem Gehirn der Austragungsort unserer menschlichen Identität. Der Organismus des Körpers eint und kennzeichnet uns als Menschen und das Gehirn unterscheidet uns als Individuen voneinander. Diese Verteilung ist gleichzusetzen mit dem Körper-Haben und dem Leib-Sein. Dass Körper und Leib dabei nicht so einfach auseinanderzudividieren sind, zeigt auch der Blick, den die Anderen auf uns haben. Sie nehmen nicht nur den Körper als eine äußerliche Entität wahr, sondern auch die Regungen, die diesen bewegen, den Charakter, der diesen kennzeichnet. Aus der Anschauung von Körper und Leib macht unser Gegenüber ein zusammengefasstes Ganzes. Diese Einheit geht erst dann verloren – und zwar zunächst alleine für den Betroffenen –, wenn sie durch Krankheit und Tod zersetzt wird, wenn das Körper-Haben das Leib-Sein verdrängt.248 Der Tod unterbricht die Beziehung zwischen dem Körper-Haben und dem Leib-Sein vollends. Das Zerschneiden der menschlichen Identität in die beiden Hälften Körper und Leib führt zur Zerstörung des Selbst. Diese De-Konstruktion hinterlässt einmal den Körper, der nicht mehr lange sein wird, weil er sich zersetzt, und den Leib, der nach den Vorstellungen der verschiedenen – religiös oder wissenschaftlich motivierten – Glaubensbekenntnisse in Erwartung einer besseren Welt ist und in dieser zukünftigen SeinsForm in Erinnerung behalten wird. Der amerikanische Künstler Bob Flanagan plante, diesen endgültigen Zwiespalt visuell darzustellen. Er entwarf drei Szenarien für sein Grab, welche die endgültige Trennung des Körpers vom Selbst nach dem Tod anschaulich machen. In der ersten Variation, dem Video Coffin (1994), zeigt ein Video auf dem Sargdeckel die Endlosschleife seines auf ewig unveränderlichen und immer wiederkehrenden Antlitzes. In der zweiten Variante, Ashes to Ashes (1994), wird die Biographie des Künstlers im wahrsten Sinne des Wortes greifbar, indem Flanagans Foto-Portraits in Form von bunten Konfetti im geöffneten Sarg den Besucher dazu motivieren sollen, mit den Händen darin zu stöbern. Die dritte, nicht ausgeführte Fassung für Flanagans Sarg, ist eine darin installierte Videokamera, die in Echtzeit den Verfallsprozess des Künstlers in ein Museum übermittelt, genannt The Viewing. Seine Arbeiten thematisieren die »interrogation of the relationship of the body to the self: for it is only in death that the body is stripped of its inexorable roles as instantiation of the cogito. Watching this body return to earth, we would be compelled to acknowledge our dependence on the flesh to sustain our existence.«249 247 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 317; vgl. auch Anhang, Punkt III. 248 Vgl. hierzu Kapitel III.3. 249 JONES, S. 236-237. Ähnliches plant ORLAN: »›I have given my body to Art.‹ After my death it will therefore not be given to science but to a museum and, mummified, will form the centerpiece of an

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Die Menschheit hat jedoch den Glauben daran – oder vielmehr die Hoffnung darauf – nicht verloren, das Zweigespann Körper und Leib und damit die menschliche Identität einer Person auch nach dem Tod aufrechterhalten zu können. Als eine Option jenseits der gängigen religiösen Glaubensbekenntnisse, erscheint dies im Zeitalter des Life-Enhancement und der Biogenetik greifbarer denn je. Bereits zu unseren Lebzeiten nehmen die medizinischen Verbesserungsmaßnahmen nicht nur Einfluss auf unsere Körper, um diese besser und jünger erscheinen und vor allem älter werden zu lassen, sondern durch mögliche Eingriffe der Neuroprothetik ins Gehirn auch auf unser Ego, das Selbst und damit unsere Identität. Neben elektronisch stimulierender Neuroprothesen, werden auch pharmakologische Mittel eingesetzt, um unsere Gehirne zu verändern oder zu Höchstleistungen anzutreiben.250 So ist es kaum verwunderlich, dass der Dialog zwischen Körper-Haben und Leib-Sein auch nach dem Tod weiter Bestand haben soll. Aufgrund der bereits habhaften und der noch zu erwartenden Fortschritte, hat man begonnen, den Körper und den Leib inhaltlich wie idiomatisch dem Jargon der Informatik anzugleichen: Körper-Haben und Leib-Sein entsprechen dann im übertragenen Sinne der Hardware und der Software eines Computers. Mitgedacht ist hierbei die seit geraumer Zeit erforschte Möglichkeit, unsere Gehirne – und es wird angenommen damit auch unsere Identität – in Dateien hochladen zu können. Gepaart mit der Annahme der Kryonik, unsere Körper für die Zukunft erhalten zu können, ergibt sich das Potenzial einerseits eines fortwährenden Erhalts, andererseits einer Wiederherstellung individueller Identitäten. Ray Kurzweil kann dieser ungewöhnlichen Zukunftsvision Positives abgewinnen und er schildert die Machbarkeit des Vorhabens: »Bestimmte Konzepte, die wir auf unsere Computer ganz selbstverständlich anwenden, wirken eigenartig, wenn man sie auf Menschen bezieht. Wir pflegen die Vorstellung einer einzigartigen Identität, wir stecken in einer physischen Form, unsere Hirne sind in einem Schädel eingesperrt und überlappen nicht mit anderen Hirnen, und so ergibt sich die Einmaligkeit eines jeden Individuums. Computer sind völlig anders. Man kann eine Million Computer zu einem einzigen zusammenschließen, und dieser kann wieder zu einer Million einzelner werden. Computer können ihre Identität und ihre Software sehr leicht verschmelzen und wieder trennen. Die Identität des Computers entsteht aus der Software, und wenn das Notebook stirbt, dann kopieren Sie die Software einfach von einem Back‐up auf einen anderen Computer, und der Computer lebt wieder, selbst wenn die Hardware zusammengebrochen ist. Beim Menschen glauben wir, dass auch die Software sterben muss, wenn die Hardware zusammenbricht – denn das ist der Tod: ein Zusammenbruch der Hardware. Wenn wir nun nicht biologischer und computerähnlicher werden, indem wir mit unseren Computern verschmelzen, dann wird der Computeranteil unserer Intelligenz letztlich eine Milliarde Mal leistungsstärker sein als ihr biologischer Anteil. Mithin werden wir im Grunde genommen nicht biologisch sein und dieselben Eigenschaften besitzen wie unsere heutigen Computer. Wir werden interactive video installation.«, in: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326; vgl. auch Anhang, Punkt III. 250 Vgl. auch: Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 47. Natürlich stellt sich hierbei die obligate Frage nach der Diskrepanz zwischen den jeweiligen identitätsstiftenden Zuständen mit und ohne derlei Eingriffe in die Psyche. Bert Gordijn hat darüber hinaus Zweifel an einem gleichberechtigten Zugang zu diesen Maßnahmen; in: Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier S. 204-205.

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unsere Intelligenz direkt zusammenschließen, eins werden und uns wieder separieren können – oder beides zugleich.«251 Hirnforscher prüfen derzeit die tatsächliche Umsetzbarkeit einer außerhalb des Körpers gespeicherten und damit erhaltbaren Identität des Menschen. Um der wissenschaftlichen Argumentation gerecht zu werden, soll beispielhaft der numerische Vergleich zwischen dem Gehirn einer Maus, demjenigen des Menschen und den Kapazitäten eines Computers den Ausgang der Überlegungen bilden. Der Hirnforscher Ad Aertsen erhebt dafür die folgenden Daten und er beginnt dabei am Beispiel der Maus: »Wie ich schon sagte, in einem Kubikzentimeter Gehirn gibt es etwa 100 000 Zellen, und diese Zellen haben Drähte. Es gibt zwei Sorten von Drähten. Die einen heißen Dendriten, das sind die Drähte, die die Informationen zu den Zellen hinführen, und es gibt die Axone, die Drähte, die wieder von der Zelle wegführen und Informationen an andere Zellen weiterleiten. Und wo zwei solcher Drähte sich treffen, entsteht ein Kontaktpunkt, den man Synapse nennt, und an dieser Lötstelle, könnte man sagen, wird Information von der einen Zelle an die andere übergeben. Es gibt nun in diesem Kubikmillimeter Gehirn neben den 100 000 Zellen 400 Meter Dendriten, 4 Kilometer Axone und 10 000 Synapsen pro Zelle! Das heißt, jede Nervenzelle in der Maus erhält Eingänge von 10 000 Zellen und gibt selbst Informationen an 10 000, nicht unbedingt dieselben. Bei uns Menschen sind es gewöhnlich etwa 20 000 Verbindungen pro Zelle. […] Wenn man nun eine ähnliche Anatomie von Computern betreiben würde, käme man auf Verbindungszahlen zwischen einer und fünf pro Elementarkomponente, also pro ›künstlicher Zelle‹. So kann man sehen, wie groß der Unterschied zwischen Computern und Gehirn ist. Auch die Topologie des neuronalen Netzwerkes, also die Art der Verdrahtung, ist im Hirn völlig anders als im Computer.«252 Obwohl die Leistungen von Computersystemen sich zukünftig weiter potenzieren werden, ist aus mehrererlei Gründen davon auszugehen, dass die mathematische Spekulation der Speicherung individueller Gehirne nicht der tatsächlichen Identität einer Verknüpfung aus Körper und Leib entsprechen werden können. Dies gilt sowohl für die quantitative Vernetzung wie für die qualitative Nachahmung unseres Gehirns. Ein – wenn auch nicht das größte – Hindernis ist die mathematische Abstraktion des Computers im Vergleich zur fleischlich gelebten und empfundenen Wirklichkeit unseres Leibes.253 Und Tobias Hülswitt fügt die um ein Vielfaches schwerer wiegende Frage nach dem Verbleib unseres Bewusstseins hinzu: »Und wir haben hier ja auch ein logisches Problem. Wenn ich mein 251 Ray Kurzweil, in: HÜLSWITT, S. 15-34, hier S. 29-30. 252 Ad Aertsen, »›Wenn beide versuchen, sich anzupassen‹ – Von Mensch-Maschine-Schnittstellen, Cyborgs, und dem Nachbau des Gehirns.« Im Gespräch mit dem Hirnforscher Ad Aertsen, Freiburg, 19. August 2009, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 140. Dem pflichtet auch Wolf Singer bei: »[D]ie uns bekannten Rechnerarchitekturen haben mit dem, was in Gehirnen vor sich geht, so gut wie nichts zu tun. Nun kann man natürlich versuchen, mit einem Rechner Prozesse zu simulieren, von denen wir vermuten, dass sie im Gehirn ablaufen. Das wird auch schon gemacht. Aber allein das, was eine einzelne Nervenzelle leistet, lässt sich bisher nur in Annäherung und grober Vereinfachung auf einem Großrechner simulieren, Und diese benötigen dann nicht selten Stunden, um eine Sekunde Echtzeitaktivität zu reproduzieren.«; in: Wolf Singer, »Auf der Suche nach der Verbindung zwischen Materie und Geist.« Im Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer, Berlin, 10. September 2009, in: HÜLSWITT, S. 158-186, hier S. 172. 253 Roman Brinzanik, in: Ad Aertsen, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 145.

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Bewusstsein auf die Festplatte übertrage, dann habe ich nur eine Kopie erstellt, aber mein Bewusstsein ist immer noch hier, bei mir. Die Kopie lebt vielleicht ewig in der Hardware, aber nicht ich.«254 Es fehlt entsprechend die Interaktion zwischen der gespeicherten Datei und der nach wie vor weiterexistierenden Person: »Wenn man nicht [miteinander] in Interaktion treten kann, dann lässt sich zwar sagen, da ist etwas drin, aber wenn man nichts von ihm mitkriegt, weil sich dieses Etwas nicht mitteilen kann, dann hätte es genauso gut auch nicht da sein können.«255 Diese fehlende Interaktion beruht unter anderem auf den nicht ausreichend entwickelten sprachlichen Fähigkeiten eines Computers, die eine Kommunikation zwar nicht ausschließlich gestalten, aber doch das wichtigste Mittel des Menschen ist, sich mitzuteilen. Ein sprachfreier, durch andere Sinneseindrücke beglichener Dialog wäre denkbar, jedoch in seiner nach wie vor nicht komplett dechiffrierten Funktionsweise zum Zeitpunkt nicht nachahmbar. Hinzu käme die Übermittlung komplexer Zusammenhänge und inhaltlicher Verknüpfungen, deren Transformation nur das eine Problem darstellt. Die eigentliche Problematik besteht aber darin, die Fülle und den Gehalt dieses Wissens zu erkennen. Ad Aertsen erklärt beispielhaft die Potenzierung eines Gedankens an den Eindrücken, die etwa Farben hinterlassen: »Vielleicht könnte man Sinneseindrücke vermitteln, also dass ich sehe, was Sie sehen, indem ich Ihr Gehirn dekodiere und das bei mir auf eine künstliche Retina spiele. Das hieße aber noch nicht, dass ich auch weiß, was Sie sich dabei gedacht haben. Dazu bräuchte ich noch viele andere Informationen – wenn die überhaupt greifbar sind und wenn ich überhaupt rausfinde, wohin ich dazu die Elektroden stecken muss. Es könnte gut sein, dass sich Ihre Gedanken dabei an so vielen Orten auf einmal abspielen, dass ein Abgreifen technisch gar nicht möglich ist. Das muss geklärt werden, bevor ich sagen kann, ob es eine solche Übertragung geben wird oder nicht. Und nehmen wir einmal an, es wäre möglich, irgendwelche Farbmuster, die ich mir mit meinen geschlossenen Augen vorstelle, Ihnen zu übermitteln, dann hieße das noch nicht, dass Sie dabei dieselbe Vorstellung haben, die ich hatte. Vielleicht ging es, indem man sich gegenseitig entsprechend trainiert. Dass man sich kalibriert und mitteilt: Immer, wenn ich dieses gesehen habe, habe ich das dabei gedacht, und der andere bekommt das dann irgendwann mit. Dann könnte man sich vielleicht einigen. Aber im Grunde definiert man dabei wieder eine neue Sprache.«256 Da es sich mit unserer oralen Sprache bereits um ein kalibriertes Verständigungsmittel handelt und dieses – was, wie wir alle wissen, nicht alleine auf der Sprachenvielfalt basiert – eben nicht dazu ausreicht, unserer Identitäten gegenseitig habhaft zu werden, scheiden auch Ersatzlösungen für eine derartige Vernetzung aus. Das Beispiel der Farbvermittlung kratzt dabei lediglich an der Oberfläche von Gedächtnisinhalten und biografischen Gehirnen, die zu übermitteln die bisher genannten Kapazitäten noch um ein Vielfaches übersteigt. Obwohl also Ray Kurzweil dekliniert, die Einzigartigkeit unserer Identität hänge nicht von unserem Notebook – vulgo: Körper – ab, sondern beruhe auf der nicht vor254 Tobias Hülswitt, in: Ad Aertsen, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 145. 255 Ad Aertsen, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 145. 256 Ad Aertsen, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 151-152. Alleine Seheindrücke von einer Person zu einer anderen zu übermitteln, scheitert bislang an der fehlenden Kenntnis der neuronalen Codes; vgl. hierzu: Wolf Singer, in: HÜLSWITT, S. 158-186, hier S. 173.

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handenen Verbindung zwischen der Software unserer Gehirne mit derjenigen der Anderen, kann sein Vertrauen in die Technik das soziokulturelle Umfeld unserer Gehirne und damit unserer Identitäten nicht ersetzen. Unsere Identität ist zusätzlich zu seiner Hülle – gemeint sind hier gleichberechtigt Körper und Schädel – die Frucht einer episodenhaft verlaufenden, kulturellen Entwicklung, deren Kontext sich durch das Erinnerte, die Erfahrung und Intuition ergibt.257 Das heißt, angenommen, die technischen Errungenschaften und Kapazitäten wären tatsächlich in der Lage, den enormen intellektuellen, seelischen, bewussten wie unterbewussten Vorgängen in unseren Gehirnen gerecht zu werden, so gelingt es diesen dadurch noch lange nicht, sich damit auch den fortlaufend sich entfaltenden Verknüpfungen, Kausalzusammenhängen und daraus gezogenen Konsequenzen zu nähern, welchem der unfassbare Komplex unserer Identität entspricht. Es sei denn, man hätte im Sinn, diese zu objektivieren. Dies kann und darf jedoch weder ein philosophisches oder psychologisches, noch ein ethisches oder künstlerisches Ziel sein. Unser Körper und sein kognitives Selbst sind immer nur in Relation denkbar: in Bezug auf das Gegenüber, die Welt und das Leben nach uns, den Kosmos. Körper und Leib haben im kosmischen Weltbild einen ewig währenden Verbleib gefunden: der Körper wird dem Weltganzen einverleibt, um dieses zu erneuern, und der Leib dient der Fortsetzung und Verbesserung der zukünftigen Menschheit. Legte man den Überlegungen zu einer Identität dieses Rabelais’sche Weltbild zugrunde, würde der Ort der Identität vom Organischen und dem Gehirn überwechseln in ein Weltganzes und damit weiter gegenwärtig sein.   Unserer Identität, die als weitestgehend virtuelles Konstrukt entlarvt wurde, das sich irgendwo zwischen dem Gehirn und dem Organismus ansiedeln lässt, und unserem Körper eine räumliche Plattform zu bieten, schafft Gregor Schneider. Hierfür erzeugt er nicht wie zu erwarten computergenerierte virtuelle Welten, sondern Räume nach dem euklidischen Maß, in denen wir uns tatsachlich bewegen können und uns zurechtfinden müssen. Das, was normalerweise nur die Fiktion vermag – uns in eine Erzählung in einer nicht‐existenten Welt zu entführen – schaffen in diesem Fall reale Häuser, tote Räume, isolierte Zellen, in denen man sich in eine scheinbar fiktive Welt versetzt fühlt und beginnt, gleich einem Computerspiel auf der Spielekonsole mit dem Controller zu navigieren. Und die Empfindung trügt nicht. Denn obwohl wir uns im Präsens und in Person vor Ort befinden und so in Echtzeit den echten Raum erfahren, entspricht diese Welt einer erdachten Realität: derjenigen unseres Gehirns. »The characters in this narrative dissolve and blend into their surroundings, as their spaces envelop and swallow them up. […] It is a narrative process that overlaps and blurs the subjective and existential level with that of history, in all its symbolic, political and sociological complexity. […] It is a spiritual malaise that infects their sensorial properties, pushing us off balance in precipices of blindness and perspective distortions. […] Gregor Schneider thus creates a narrative that kindles our innermost emotions by twisting in on its own intimately existential and intellectually anthropological convolutions. Mists of fear rise to the surface, together with the silence of disorientation and the colours of 257 Vgl. auch: Wolf Singer, in: HÜLSWITT, S. 158-186, hier S. 163-164.

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memory, as the spectres of hushed solitude begin to appear with sweet abandonment and a solely perceived absence.«258 Das Gefühl, neben seinem Selbst herzulaufen, neben sich zu sein, entspricht den Eindrücken der fiktiven Operation am offenen Gehirn, welche die Hirnforschung zu ihrem Versuchsball macht: »Ich wäre nämlich dann zugleich in mir und außer mir, und der Operationssaal, in dem ich mich dann befinde, wäre zugleich in meinem Gehirn, und das Gehirn (zusammen mit dem Kopf und Körper) in dem Operationssaal.«259 Diese Sichtweise bietet uns einerseits eine von unserem Selbst gelöste Form des Erlebens, setzt jedoch gleichzeitig unkontrollierbare Emotionen frei und eröffnet uns daher andererseits den Zugang zu unserer Identität. Wir werden dabei des von Gerhard Roth geschilderten Szenarios des mit zusätzlichen Reizelektroden manipulierten Gehirns ansichtig. Jedoch sind nicht wir es, die Regie führen. Der Hirnforscher meint, dass ihm hierdurch das »Entstehen des Geistes aus der Materie«260 bewusstgemacht wird, wobei der materielle Impuls den Räumen Schneiders entstammt, die geistige Erfahrung als Vorgang aber nach wie vor undurchschaubar bleibt. Die Identität wird in diesem Moment nach wie vor als eine Absenz empfunden und Schneider gibt die Irrwege vor, auf denen wir uns auf die Suche machen: »Tunnel and rooms lead to disorientation and a loss of balance. It is a repetition that does not reaffirm but rather insinuates suspicion and doubt, reflecting more on absence than presence. The primeval theme of being in the world is the anxiety of identity, and the fear of dissolving into an indistinct naturalness. It is the emergence of ancient fears of cultural anthropology that, in this case, are superimposed on the individual nightmare of existential fragility. Identity absorbs the theme of death […] and it is all a mirror image in a labyrinthine reversal. […] Gregor Schneider’s art traces out a short, oblique and twisted path. One that is slippery and uncertain, in the darkest regions of the mind, in the night‐time world of people, with fantasies and nightmares, private and collective anxieties great and small, and with intimate details and social visions.«261 Das Lacan’sche Spiegelstadium, in welchem wir uns hier wiederfinden, bietet in diesem Moment mit dem Ich samt seinem Gegenüber, dem eigenen Abbild, eine selbstreferentielle Phase des Daseins, in der alle eben genannten Ängste auch für den Rest unseres Lebens präsent sein und projiziert werden. All unsere Albträume, das Unterbewusste, das vom Gehirn Erdachte und die daraus resultierenden Suggestionen werden sich auch weiter auf dieses Ich-bezogene Stadium beziehen lassen und bedeuten deshalb für uns auch als Konstrukt die Realität, die wir leben. Nun sind die Räume Schneiders keinesfalls leer belassen. Gefüllt werden diese von der nachwirkenden Präsenz und den Spuren der ehemals dort Lebenden, von den zum Teil sich darin befindlichen noch lebenden Personen sowie den Toten in Särgen, Plastiksäcken und Kryonik-Tanks, die – je nach Glaubensvorstellung – einst wiederkehren werden. Andrew O’Hagan beschrieb dies weiter oben bereits als eine gespenstische Situation: »We are ghosts and the sons and daughters of ghosts.«262 Somit haben wir unser Gegenüber gefunden und treten aus dem Spiegelstadium heraus und hinein in eine 258 259 260 261 262

Danilo Eccher, »Gregor Schneider«, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 76-80, hier S. 76-77. ROTH, S. 328-329. ROTH, S. 332. Danilo Eccher, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 76-80, hier S. 79-80. Andrew O’Hagan, in: SCHNEIDER, Gregor, Die Familie Schneider, S. 156-161, hier S. 161.

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unser Selbst objektivierende Welt. Hierbei von einem Miteinander mit der Außenwelt zu sprechen, wäre zu viel gesagt, denn es kommt zu keiner Interaktion, auch nicht, sofern man die Anwesenden anspricht. Dennoch führt alleine deren faktische oder fiktive Präsenz dazu, dass wir uns in Schneiders Welten beobachtet fühlen und somit gleichfalls eine uns selbst reflektierende Innenschau einsetzt. Auch diese Art einer soziokulturellen Interaktion bedeutet einen ersten Schritt aus dem Spiegelstadium heraus, weil wir beginnen, uns in Relationen zu den Anderen zu setzen. Es sind phantomhafte Bilder unseres Bewusstseins und Unterbewusstseins, die erzeugt werden. Während – wie weiter oben festgehalten – Elisabeth Bronfen von einer »indirekte[n] Spur eines signifikanten, doch unsichtbaren Wissens«263 spricht, nennt es Christopher Bollas das »ungedachte Bekannte«264 . Sowenig sich Schneiders Räume und deren Konstruktion entschlüsseln lassen oder eine lückenlose Chronologie der uns darin heimsuchenden Personen erstellt werden kann, sowenig können wir den Ort und die Umstände der Entstehung unseres unterbewussten Vorwissens, ungedachten Bekannten und damit unserer Identität ausmachen. Lokalisieren lässt sich unsere Identität lediglich als die Beziehung, die wir zur Welt haben. Die weiter oben bereits bemühte Aussage von Thomas Fuchs, das subjektive Erleben – sprich: unsere Identität – sei kein Bild, kein Repräsentant, kein Modell und auch kein Konstrukt, lässt sich durch Gregor Schneiders Räume am ehesten belegen, noch ohne dabei den Schnitt ins Gehirn wagen zu müssen.265 Oder wie Elisabeth Bronfen im Rahmen der Freud’schen Psychoanalyse und angesichts der Räume des Künstlers argumentiert: »[U]m ein reifes Subjekt zu werden, [muss] das Ich anerkennen, dass es ›nicht Herr im eigenen Haus‹ [ist].«266 Dieses von Gregor Schneider im übertragenen Sinne und sprichwörtlich konstruierte Haus, bietet den immer gleichen Auslöser für die Betrachter. Das damit subjektiv Ausgelöste beinhaltet freilich von Rezipient zu Rezipient aufgrund unserer individuellen Identitäten auch immer unterschiedliche Wirklichkeiten.267 Die Hirnforschung schlussfolgert hieraus, dass jeder die Welt anders sieht. Und zwar deshalb, weil jedes Gehirn erst zu existieren beginnt, sofern es sich Bedeutung beimisst und sich daran orientierend seine eigene individuelle Identität konstruiert.268 So führt Michel Serres’ sich entblößender Harlekin seinem Publikum vor Augen, was es im Einzelnen selber ist: ein Flickenteppich, dessen Schecken aus unterschiedlich großen, bunten, aber immer aus leibhaft gewordenen Spuren unserer Identität herrühren. Die Zuschauerschar verkraftet dies – wie die Rezipienten im Falle der Arbeiten von ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider – einmal mehr, einmal weniger gut, ist zumindest zweigeteilter Meinung: »Seit langem schon hatten zahlreiche Zuschauer den 263 Elisabeth Bronfen, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 33-60, hier S. 42. Vgl. hierzu Kapitel IV.1.1. 264 BOLLAS, Christopher, Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte: Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung (1987), Stuttgart 2 1997. Vgl. hierzu Kapitel IV.1. 265 Vgl.: FUCHS, S. 50. 266 Elisabeth Bronfen, in: VENEDIG, Ausst.kat., Schneider, 2001, S. 33-60, hier S. 45. 267 Vgl.: ROTH, S. 333: »Insofern gibt es ebensoviele individuelle Wirklichkeiten, wie es reale Gehirne gibt. Jedes menschliche Gehirn ist verschieden.« 268 Vgl.: ROTH, S. 334.

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Saal verlassen, ermüdet von den mißlungenen Knalleffekten, irritiert von dieser Wendung von der Komödie zum Tragischen, sie waren zum Lachen gekommen und waren enttäuscht, denken zu müssen. Einige von ihnen, wahrscheinlich gelehrte Spezialisten, hatten ihre Lektion sogar verstanden, daß nämlich jeder Abschnitt ihres Wissens dem Harlekinmantel gleicht, da jeder in der Überschneidung oder in der Interferenz mehrerer anderer Wissenschaften und manchmal beinahe aller arbeitet. Und so holte ihre Akademie oder die Enzyklopädie formell wieder die Komödie der Kunst ein.«269 Der Flickenteppich unserer Körperhülle stellt sich automatisch und in variationsreicher Form ein. Keine Haut, keine Identität gleicht der anderen. Dies gilt für alles menschliche Leben, auch das künstlich erzeugte. Nur die Kopie kann es mehrfach geben. Die Kopie eines Organismus wird als Klon bezeichnet. Es stellt sich deshalb im Folgenden die Frage, warum die Kunst vom Original abweicht und beginnt, einer künstlerisch wie künstlich veränderten Identität in Form des Klons, der genetischen Manipulation und Reproduktion sowie des unnatürlichen Fortbestandes auch nach dem Tod nachzuspüren.

IV.2.2 Bio Art: Zu einem Leben nach dem Tod und jenseits des Selbst Voraussetzung für die im Folgenden angestellten Gedanken ist nach wie vor die Tatsache, dass wir zwar um unsere Sterblichkeit wissen, dieser aber grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen und uns den eigenen Tod nur schwer bewusstmachen können. Aus den eben erörterten Grundlagen zu den Zusammenhängen zwischen dem Körper und dem Leib, dem Selbst und seiner Identität, muss gefolgert werden, dass es die Selbstwahrnehmung schlichtweg nicht zulässt, sich als ein vergängliches Wesen zu denken. Hinzu kommt, dass es unserem naturgegebenen Lebenswillen prinzipiell als ausgeschlossen und inakzeptabel erscheint, sterben zu sollen. Der Tod ist unerwünscht, weil er unserem guten Leben ein Ende setzt. Wir würden aufhören, Dinge wahrzunehmen, Wünsche zu hegen, zu handeln und zu denken. Wir verdrängen in diesem Moment, dass wir gleichfalls aufhören würden, schreckliche Dinge wahrzunehmen, Wünsche unerfüllt belassen zu müssen, schlecht zu handeln und niedere Gedanken zu hegen. Was überwiegt, ist all das Gute, das uns bis zu diesem Zeitpunkt widerfahren ist und noch auf uns gewartet hätte, würde es nicht durch das – immer verfrühte – Eintreten des Todes daran gehindert. »Deshalb ist das Leben lebenswert, selbst wenn sich die üblen Ereignisse häufen und die guten so dürftig sind, daß sie allein keinen Ausgleich schaffen können. Den Ausschlag zum Positiven gibt dann die Erfahrung selbst, und nicht einer ihrer Inhalte.«270 Es geht entsprechend nicht um eine begründbare Furcht, die wir vor dem Tod haben, da wir wüssten, welch schreckliche Dinge uns danach erwarten, sondern schlechterdings darum, dass das Leben durch den Tod ein Ende hat. Der Entzug des Lebens erscheint uns nicht nur unvorstellbar, sondern der Gedanke daran beinhaltet auch die von Edmund Burke aufgezählten Entbehrungen, welche die Leere, die Dunkelheit, die Einsamkeit und die Stille für uns bereithalten werden. Gleiches gilt 269 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 10. 270 NAGEL, S. 18.

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für die Dauer dieses Stadiums, welches ewiglich währen wird. Beides – die Entbehrungen wie deren Unendlichkeit – erfüllt uns einerseits mit Schauder, andererseits mit Ehrfurcht. Somit verleiht es beidem den Charakter des Erhabenen.271 Edmund Burke nennt es »delightful horror.«272 Für den Moment überwiegt der Schauder. Und um diesen dauerhaft von uns weisen zu können, haben wir begonnen, nicht mehr nur alleine auf die natürliche Auslese zu bauen, die ja im eigentlichen Sinne über kurz oder lang zu einem Feind wird, indem sie uns auslöscht, um einer verbesserten Variante des Menschen stattzugeben. Da wir in diesem Hase‐und-Igel-Wettlauf noch zu Lebzeiten immer verspätet eintreffen werden, versuchen wir seit geraumer Zeit, die Alterungsprozesse unserer Körper mit künstlichen Mitteln auszusetzen und den Verfallserscheinungen entgegenzuwirken. Mitte des 20. Jahrhunderts hat man dies noch ohne eine genetische Veränderung des Erbgutes im Sinn: »From now on, at least to some degree, this can be achieved without alteration of heredity by suitable biochemical, physiological, and electronic modification of man’s existing modus vivendi.«273 Die Wissenschaft gebar – nicht nur als Idiom – ihren ersten Cyborg. Darwins Evolutionstheorie hat jedoch weiter Bestand. Wollen wir entsprechend unserer Endlichkeit entkommen, müssen wir darauf Einfluss nehmen, ihre Beständigkeit zu beenden, bevor sie dies mit unserer tut. So betreffen die hiernach folgenden Automatismen und die Fremdorganisation, Diagnosen und Kontrollen, Übernahmen und das Überwachen, Ersatzteile und die Wiederherstellung, Verbesserungen und Fortschritt nicht nur die Technologisierung unserer Umwelt, sondern auch den Humankörper: Life-Enhancement, Lebensverbesserung und Lebensverlängerung, genetische Korrekturen, Manipulation, Rekonstruktion, Chimären, Hybride und Klone werden auf ihre Tauglichkeit hin für die und an der Menschheit abgeklopft. All diese Überlegungen, die in der Psychologie, der Biologie, der Futurologie, den Neurowissenschaften und der Medizin in faktisch überprüfbaren Messungen und Versuchsanordnungen angestellt, ausprobiert und seit geraumer Zeit auch umgesetzt werden, erfahren selbstverständlich einen ebensolchen und nicht mehr nur fiktional ausgeführten Widerhall in den Künsten. Die Motivation, dies zu tun, unterscheidet jedoch die Humanwissenschaften und die Life-Sciences von den bildenden Künsten: Während jene nur noch nach dem Wie und nicht mehr nach dem Ob zu fragen scheinen, stellt sich die Kunst den Fragen nach dem Wozu und Mit‐welcher-Konsequenz. Während die eine Zunft sich vor allem von dem erschütternden Gedanken an den Tod, von dem Glauben an ein möglichst lange währendes Entrinnen vor dem Sterben und der von Edmund Burke gefürchteten Entbehrung vom Leben leiten lässt, wägt die Kunst ab zwischen einem guten Leben, dem Leben jenseits des Todes und einer gleichermaßen verführerischen wie trügerischen Vorstellung nach dem ewigen Leben. Hannah Wilke verleiht in ihrem Werk diesen unseren Ängsten Ausdruck, noch ohne mit dem Gedanken zu spielen, sich der Vergänglichkeit widersetzen zu können. Sie bietet damit eine ars moriendi, wie sie einer längst vergangenen Zeit angehört. Auch Gregor 271 Vgl.: BURKE, S. 68 und S. 70. 272 BURKE, S. 70. 273 KLINE, S. 346.

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Schneider macht uns mit seinem Sterbezimmer ein versöhnliches Angebot, das KörperHaben hinter uns zu lassen und ein Leib-Sein, welches in Erinnerung bleiben wird, noch zu unseren Lebzeiten anzuerkennen und bewusst zu leben. Nur ORLAN macht mit der Petition Against Death/Petition Contre la Mort (seit 2011) ihrem Unwillen Luft, sich der endlosen Endlichkeit unseres Daseins zu unterwerfen: »ENOUGH IS ENOUGH! It’s been going on way too long! It must stop! I don’t agree, I don’t want to die! I don’t want my friends to die! It’s time to react against death. Let’s try all together, we must have a chance.«274 Bezüglich ihres Schaffens bedeutet dies: »For me it is about pushing art and life to their extremes.«275 Um dem Alter, der Krankheit und dem Tod zu entrinnen, scheint jedes Mittel recht. Sobald unser Selbst – nota bene: nicht das der Anderen – davon betroffen ist, sobald wir gewahr werden, dass eine unwiderrufliche Trennung des Körpers von unserer Identität bevorsteht, sind wir bereit, das zu tun, was wir in den hier beschriebenen Künstlerbeispielen scheel beäugen oder sogar strikt von uns weisen: Auch wir würden es in Erwägung ziehen, Grenzen zu überschreiten und Tabus zu brechen, um das Körperdrama zu umgehen. Das Streben der Menschheit wie der Wissenschaften stellen dies seit geraumer Zeit unter Beweis.

Die Kunst einer unnatürlichen Auswahl: Bio Art und die Vorboten Die evolutionäre Zeit des Menschen ist zu Ende. Die Menschheit hat gelernt, sich nicht mehr alleine den Gesetzen der natürlichen Auslese unterwerfen zu müssen, indem sie sich im Verlaufe ihrer Geschichte kulturell entwickelt und damit eine immer größer werdende Unabhängigkeit von den Grundsätzen einer Darwin’schen Evolutionstheorie unter Beweis stellt. Woran sich die Spezies Mensch ehedem noch anpassen musste, kann heute in großen Teilen der Spezies Mensch angepasst und Untertan gemacht werden. »Wir sind, wie Darwin sagte, dank unserer Kultur die einzige Spezies, die bestens mit einem gleichbleibenden Körper in einer sich ändernden Welt leben und überleben kann. Oder anders: Unsere genetisch fixierten Körpermerkmale und viele unserer evolvierten Verhaltensprogramme sind mit dem Einsetzen der Kultur – und also sehr früh in der gesamten Menschheitsgeschichte – gleichsam eingefroren worden.« Dass dies der Idee einer Fortentwicklung an sich entgegengesetzt ist, »zeigt, dass jede evolutionsbiologische Betrachtung des heutigen Menschen durch die Macht der Kultur geprägt und verzogen, ja geradezu verworfen ist.«276 Die Hybris des Menschen erstreckt sich dabei über viele Bereiche, büßt jedoch seine Überlegenheit ein, sobald es sich um die Vergänglichkeit des eigenen Körpers handelt. Diesen zu manipulieren und noch zu 274 Es ist nach wie vor möglich, sich dem Aufruf der Künstlerin anzuschließen auf: www.orlan.eu/petition/[zuletzt aufgerufen am 15. Dezember 2016]. 275 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319; vgl. auch Anhang, Punkt III. 276 Winfried Menninghaus, »Schönheit – Leben – Tod. Zur Evolutionstheorie von Aussehenspräferenzen«, in: HAUSTEIN, S. 151-164, hier S. 153-154 [kursive Hervorhebung durch Winfried Menninghaus]. Menninghaus verweist darauf, dass der Mindestzeitraum für eine genetische Adaption durch Mutation eintausend Jahre beträgt; vgl.: ebd., S. 153.

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Lebzeiten bestimmend auf ihn einzuwirken, sind realisierbare Maßnahmen einer Einflussnahme. Den Körper von seinem Organismus abzukoppeln, um ihn jenseits seiner leiblichen Funktionen gedeihen und fortbestehen zu lassen, scheitert an zwei grundlegenden und ein Leben voraussetzende Prämissen: die Organe sind zum einen lebensnotwendige Parameter unseres Körpers und zum anderen formt der Organismus in Verbindung mit unserer Identität unser Selbst. Es ist also zugleich die Frage nach unserer Identität, ihrer Verortung und den verbleibenden Entwicklungschancen in einer organlosen Hülle. Und doch muss das Streben nach dem organlosen Körper dringend fortgesetzt werden, will man die Unabhängigkeit des Menschen von den Evolutionsgesetzen und den ewiglich währenden Fortbestand des Einzelnen sicherstellen: »Is it really so sad and dangerous to be fed up with seeing with your eyes, breathing with your lungs, swallowing with your mouth, talking with your tongue, thinking with your brain, having an anus and larynx, head and legs? Why not walk on your head, sing with your sinuses, see through your skin, breathe with your belly: the simple Thing, the Entity, the full Body, the stationary Voyage, Anorexia, cutaneous Vision, Yoga, Krishna, Love, Experimentation. Where psychoanalysis says, ›Stop, find your self again‹, we should say instead, ›Let’s go further still, we haven’t found our BwO277 yet, we haven’t sufficiently dismantled our self.‹ Substitute forgetting for anamnsesis, experimentation for interpretation. Find your body without organs. Find out how to make it. It’s a question of life and death, youth and of age, sadness and joy. It is where everything is played out.«278 Obwohl das Streben nach einem – im übertragenen Sinne – organlosen Körper, dessen Körperdrama aufhört, uns zu gängeln, erst im 20. Jahrhundert aufkeimt, setzt die Historie einer unnatürlichen Auslese bereits lange davor ein. Seitdem es Menschen gibt, verspricht etwa die Domestizierung von Flora und Fauna eine Verbesserung – nicht etwa der eben genannten Pflanzen und Tiere, sondern der conditio humana, indem man Pflanze und Tier nutzbarer macht, Profit aus ihnen schlägt oder sie unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Das Anwenden der lange hiernach entdeckten Mendel’schen Gesetze, ist mit Sicherheit nicht der modernen Biotechnologie gleichzusetzen, deren Beginn man gemeinhin mit der Entdeckung der DNA im Jahr 1953 oder der Möglichkeit zur Rekombination von DNA-Molekülen im Jahr 1973 verortet.279 Die Erzeugung hybrider Organismen durch selektive Züchtung bedeutet jedoch seit jeher bereits eine indirekte Manipulation des genetischen Erbgutes noch ohne ein transgenetisches Eingreifen.280 Dennoch sind derart erschaffene Pflanzen und Lebewesen keine natürlich vorkommenden Geschöpfe. Die Veredelung von Pflanzen ist eine Domäne dieses 277 »BwO« ist der in der Psychoanalyse und der Philosophie gängige Ausdruck für den »Body without Organs«: »The BwO: it is already under way the moment the body has had enough of organs and wants to slough them off, or loses them.«; in: Gilles Deleuze und Félix Guattari, »November 28, 1947: How Do You Make Yourself a Body Without Organs?«, in: DELEUZE, Gilles und Félix Guattari, A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, London und New York 2012, S. 165-184, hier S. 166. 278 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 167. 279 Vgl. hierzu: Yves Michaud, »Art and Biotechnology«, in: KAC, S. 387-394, hier S. 389. 280 Ein transgenetischer Eingriff bedeutet eine gentechnische Modifizierung eines Organismus, die in einem Labor stattfindet. Das Kreuzen, Mutieren und Rekombinieren von Pflanzen und Tieren fallen unter den Begriff der Züchtung, die ebenfalls zu genetischen Veränderungen führen kann.

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Vorgehens, welches einerseits eine Vielfalt – auch an daraus resultierenden Nahrungsmitteln – liefert, andererseits ästhetischen Genuss verheißt. Es fand bereits an anderer Stelle Erwähnung, dass Edward Steichen seinen 1936 im New Yorker MoMA ausgestellten Rittersporn auf manuelle Weise mit chemischen Mitteln genetisch veränderte und zu der von ihm geschaffenen Vielfalt und Farbigkeit verhalf.281 Nebst der Flora hat man sich seit jeher auch mit der Hybridisierung der Fauna auseinandergesetzt. Sowohl der Nutzwert als auch der ästhetische Wert eines Tieres bilden wiederum die Motivation hierfür. Die Herstellung ornamentaler Lebensformen – zum Beispiel von unterschiedlichen Hunderassen oder dem im Aquarium hübsch anzusehenden und unter dem Züchtungsnamen »Glofish« bekannten fluoreszierenden Zierfisch – unterliegen dabei dem Zeitgeschmack. Unbemerkt gehen hier die selektiven Züchtungsverfahren (Hund) über in transgenetische Manipulationen (Fisch), die nur mehr im Labor hervorgerufen werden können. Und während man über Jahrhunderte hinweg hybride Nutztiere wie das Muli ohne weiteres akzeptierte, stieß die Chimäre einer »Schiege« von 1984 – eine bis dato nur als Hybrid erzeugbare Züchtung aus Schaf und Ziege – auf Argwohn.282 Das Misstrauen steigerte sich noch, als man 1995 ein menschliches Retortenohr auf den Rücken einer Maus implantierte. Letzteres zu Unrecht, wie angemerkt werden muss, denn zwar war die »Schiege« von 1984 eine Chimäre, also eine künstliche Paarung der Transgenetik, jedoch nicht die Maus von 1997, der man lediglich ein menschlich aussehendes Ohr wachsen ließ, noch ohne – und das stellte den eigentlichen großen Erfolg dar – gentechnisch manipulieren zu müssen.283 Ähnlich vernunftwidrig reagiert der Mensch, wenn sich die genetische Manipulation auf die eigenen Organe und die sie erhaltenden Lebensmittel bezieht. Beidem schenken wir wenig Aufmerksamkeit, obwohl gerade hier die Verquickung von transgenetisch Manipuliertem und natürlich Erzeugtem – Barbara Maria Stafford nennt es die »coexistence of humanity/animality/vegetality/minerality«284 – zu nachweislich unüberschaubaren Mutationen der Produkte wie der sie verinnerlichenden Konsumenten führen kann. Aus ethischer Sicht – und hier setzt auch die Bio Art an – ist es entsprechend von Bedeutung, auf welcher Grundlage die Mutationen in lebenden Dingen basieren, ob es

281 Zur Ausstellung brachte Steichen eintausend unterschiedliche Ritterspornpflanzen in das Museum of Modern Art, die er über 26 Jahre gezüchtet hatte; vgl. u.a.: Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 11; davidkremers, »REPRO DUCTION«, in: KAC, S. 295-300, hier S. 298; sowie Jens Hauser, »Landscapes and Fragments. Holistic ›Natureculture‹ in the Era of Biotech Art«, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 294. 282 Das »Geep« – die Kreuzung aus »goat« (engl. für »Ziege«) und sheep« (engl. für »Schaf«) zierte am 22. Januar 1984 das Titelbild des Magazins »Nature«; vgl.: Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 7. 283 Vgl.: Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 7. Die so genannte Vacanti-Maus war eine Bio-Maus, die zur Züchtung von – in diesem Fall aus vom Rind stammenden – Knorpelgewebe genutzt wurde. Das Labor-Team aus Boston, Cambridge, um die Gebrüder Vacanti erforscht so die natürliche Herstellung von Transplantationsgewebe; vgl.: Oron Catts und Ionat Zurr, »Semi-Living Art«, in: KAC, S. 231-247, hier S. 233. 284 Barbara Maria Stafford, »From Genetic Perspective to Biohistory: The Ambiguities of Looking Down, Across, and Beyond«, in: KAC, S. 373-386, hier S. 379.

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sich um Hybride285 oder Chimären286 handelt, mit denen wir Umgang pflegen und die wir uns einverleiben. Denn, »there is a clear distinction between breeding and genetic engineering. Breeders manipulate indirectly the natural processes of gene selection and mutation that occur in nature. Breeders are unable, therefore, to turn genes on or off with precision […]. In this sense, a distinctive trait of transgenic art is that the genetic material is manipulated directly.«287 Eine Unterscheidung hierüber macht freilich erst seit der Entdeckung der DNA Sinn, die alle davor angestellten Vermutungen zum genetischen Erbgut einerseits ad acta legen ließ – wie bisher angenommen kam somit nicht das Blut als Träger dieser Informationen in Frage –, und andererseits die bestehenden Wissenslücken füllte und damit die Dechiffrierung des menschlichen Erbgutes über die folgenden Jahrzehnte möglich machte.288 Mit dem erfolgreichen Abschluss des Humangenprojekts, konnte im Jahr 2001 die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms bekanntgegeben werden. Dabei wurde ersichtlich, dass sich auch der menschliche Organismus im Verlaufe seiner Evolution nicht‐humane Gen-Sequenzen einverleibt hatte. Der Mensch ist damit selbst eine Chimäre: »Before deciding that all transgenics are ›monstrosity‹, humans must look inside and come to terms with their own ›monstrosity‹, namely, with their own transgenic condition. The common perception that transgenics are not ›natural‹ is incorrect. It is important to understand that the process of moving genes from one species to another is part of wild life (without human participation). […] Transgenic art suggests that romantic notions of what is ›natural‹ have to be questioned and that the human role in the evolutionary history of other species (and vice versa) has to be acknowledged, while at the same time respectfully and humbly marveling at this amazing phenomenon we call ›life‹.«289 285 Ein Hybrid ist die natürliche Paarung eines Mischwesens. 286 Eine Chimäre ist ein Mischwesen, dessen Organismus aus mindestens zwei genetisch unterschiedlichen Geweben und Zellen zustande kam. 287 Eduardo Kac, »Transgenic Art«, auf: www.ekac.org/transgenic.html [zuletzt aufgerufen am 16. Dezember 2016], originär publiziert in: Leonardo Electronic Almanac, Vo.6, N.11, Dezember 1998, n.p. 288 Vgl.: Joachim Pietzsch, »Der Welt Erbe liegt uns im Blut: Ein Blick auf das erste Jahrhundert der Genforschung«, in: FRANKFURT A.M. (Ausst.kat.), Museum für Angewandte Kunst Frankfurt a.M. und Schirn Kunsthalle Frankfurt, Blut. Kunst, Macht, Politik, Pathologie, 11. November 2001 – 27. Januar 2002, hg.v. James M. Bradburne unter Mitarbeit von Annette Weber, Texte von: James Clifton, Valentina Conticelli, Stanislaw Dumin, Claudia Eberhard-Metzger, Mino Gabriele, Henry A. Giroux, Christian Holtorf, Georg Kugler, Jonathan Miller, Giuseppe Orefici, Kim Pelis, Joachim Pietzsch, Miri Rubin, Annette Weber und Peter Weiermair, München 2001, S. 231-243, hier S. 231. Und auf S. 232 ergänzt Pietzsch: »Rückblickend lässt sich die Geschichte der Gewinnung des Wissens in vier Schritte einteilen: Die Feststellung, dass die Vererbung von abgrenzbaren Einheiten, den Genen, vermittelt wird; die Entdeckung, welche molekulare Struktur die Gene haben; die Erfindung von Techniken zur Bearbeitung der Gene und die Entwicklung einer Übersicht über die Summe der genetischen Information des Menschen.« 289 Eduardo Kac, »Life Transformation – Art Mutation«, in: KAC, S. 163-184, hier S. 180. Gleichzeitig konnte eine über 99 %-ige Homologie zwischen dem Menschen und der Pflanze festgestellt werden; vgl. u.a.: Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 5, und das Quellenmaterial auf S. 25, Fußnote 7, sowie Marc Quinn, in: GRONINGEN (Ausst.kat.), Groninger Museum, Groningen, Marc Quinn. Recent Werk – Recent Sculpture, 29. April – 27. August 2006, hg.v. Groninger Museum, Texte von: Rod Mengham, Marc Quinn, Kees van Twist und Sue-An van der Zijpp, Groningen 2006, S. 66.: »The sequencing of the genome is a profound moment in human history; we are the first people to be able to read the instructions to make ourselves. What was interesting to me in the results of sequencing of the hu-

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Um Richtlinien dafür zu schaffen, wer zukünftig auf welche Weise und mit welchen Folgen in das menschliche Erbgut eingreifen darf, die Natur oder auch der Mensch selbst, entstanden Gesetze. Für die europäischen Mitgliedsstaaten gilt seit 2004 das so genannte »Gewebegesetz«, das die Qualität von und den Umgang mit menschlichem Gewebe und Zellen sichert.290 Hierzu zählen hämatopoetische Stammzellen aus peripherem Blut, Nabelschnur(blut) und Knochenmark, Geschlechtszellen (Eizellen, Samenzellen), fötale Gewebe und Zellen sowie adulte und embryonale Stammzellen, sofern diese nicht in ein und demselben chirurgischen Eingriff innerhalb einer Person verwendet werden.291 Explizit von diesen Richtlinien ausgenommen wird die forschungsbedingte Nutzung menschlicher Gewebe und Zellen. Die bildenden Künste finden an dieser Stelle keinerlei Erwähnung. Für die Kunst gelten weitreichendere Regelungen, die das Grundgesetz verankert. Zusätzliche Bestimmungen macht das Gewebegesetz wiederum für allogenes, von einem fremden Körper entnommenes Gewebe und Zellmaterial, das sowohl von einem lebenden wie toten Spender abstammen darf. Autologes Gewebe, welches vom eigenen Körper abstammt, ist dahingegen wiederum von dieser Richtlinie ausgenommen.292 Um dem Fachjargon Beispiele abzugewinnen, sei gesagt, dass heute selbstverständlich medizinisch wie ethisch problemlos Haut am eigenen Körper verpflanzt werden kann oder auch Blut- und Organspenden an andere Personen weitergereicht werden dürfen. Auch die Transplantation unbelebter Objekte ist hierdurch berücksichtigt, wie dies mit dem Einsetzen eines Herzschrittmachers oder eines künstlichen Hüftgelenkes durchgeführt wird. Diese heute nur mehr wenig irritierenden Maßnahmen bedeuten Standardeingriffe. Gleiches gilt mittlerweile aber auch für Xenotransplantationen, die ebenfalls durch das Gewebegesetz abgedeckt werden: eine Übertragung lebensfähiger Zellen oder Organe, die nicht mehr nur einem fremden Organismus entstammen, sondern einer fremden Spezies. Hier beginnt bei vielen sich der Sachverstand wie Intellekt gegen ein Dasein als Chimäre, als Frankensteins Braut zu sträuben. Sind wir allerdings selbst davon betroffen, wird sich unser Lebenswille nicht schwertun, sich dem geltenden Recht zu unterwerfen. Abschließend sei zum Gewebegesetz hinzugefügt, dass dieses wichtige Bestimmungen zur kontrollierten Lagerung und damit zur Sicherung des Gewebes und der Zellen erlässt293 und man genome was that we share 99.9 % of our genome with everyone else and in fact most of it with every living thing on the planet, both animals and plants.« 290 GEWEBEGESETZ, Richtlinie 2004/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen; auf: http://eur‐lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32004L0023:DE:HTM [zuletzt aufgerufen am 16. Dezember 2016]. Hierbei handelt es sich um eine Richtlinie, die in nationales Recht umzusetzen ist: Gesetz des Bundesgesetzblattes vom 20. Juli 2007 (BGB1. I S. 1574). Als so genanntes Mantelgesetz ändert es andere, bereits bestehende Gesetze. Die ursprünglichen diesbezüglichen Regelungen finden sich im Transplantationsgesetz, welches durch das Gewebegesetz geändert wurde: https://www.gesetze‐im-internet.de/bundesrecht/tpg/gesamt.pdf [zuletzt aufgerufen am 17. Januar 2017]. 291 GEWEBEGESETZ, Einleitende Bestimmungen, Punkt (7) und (8). 292 Vgl.: GEWEBEGESETZ, Einleitende Bestimmungen, Punkt (16) sowie Artikel 2: Geltungsbereich, Punkt (2). 293 GEWEBEGESETZ, Artikel 21.

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– nicht weniger weitblickend – dass das Beschaffen des organischen Materials keinen kommerziellen Zwecken dienen darf.294 Zwei für den menschlichen Organismus und die Bio Art wichtige Schlussfolgerungen lassen sich aus dem hier verkürzt Zusammengetragenen nennen: erstens ist der Mensch nicht nur bereits aufgrund seiner evolutionären Entwicklung ein chimärisches Wesen, sondern die Erweiterungsmöglichkeiten hin zu einem mehrfach mit unterschiedlichen Spezies gekreuztem Lebewesen Mensch sind gesetzlich gegeben. Und zweitens stehen die Erfahrung und das technische Rüstzeug für Verfahren, die Chimären auszubilden vermögen, zur Verfügung – und zwar jedem: »That means that artists now can not only combine genes from different species but easily write a DNA sequence in their word processors, email it to a commercial synthesis facility, and in less than a week receive a test tube with millions of molecules of DNA with the expected sequence.«295 Die Transgenetik war entsprechend schon lange bevor sie in unser Bewusstsein vordrang, Teil der Menschheitsgeschichte und es ist nicht abzusehen, wie weit diese zukünftig Einfluss auf unser Leben, unseren Organismus haben wird, geschweige denn, welche Konsequenzen für unsere Identität, unser Selbst daraus resultieren.   Anhand der eben erhobenen Daten wird ersichtlich, dass Forschung und Wissenschaften es heute ermöglichen, noch zu unseren Lebzeiten der Physis auf die Sprünge zu helfen, die Lebensqualität zu verbessern, den Körper zu erhalten oder sogar zu korrigieren, das Leben insgesamt in die Länge zu dehnen. Diese Maßnahmen firmieren unter dem Schlagwort Life-Enhancement. Andererseits dürfte klargeworden sein, dass das genannte Wissen und die daraus resultierenden Maßnahmen darüber hinaus weitreichendere Eingriffe in die Entstehung, den Fortbestand und die dauerhafte Nachhaltigkeit oder sogar das Überleben des Menschen zulassen. Die ersten lebenserhaltenden bzw. -verbessernden Schritte in Form von körperfremden Apparaturen, also Implantaten, die den menschlichen Organismus unterstützen sollten, fanden zeitgleich im Jahr 1961 statt: in Deutschland wurde der erste Herzschrittmacher eingesetzt, um akut Leben zu retten, und in Amerika starten Nathan Kline und Manfred Clynes das »Cyborg-Project«, das den Menschen mit sich selbstregulierenden Maschinenteilen ausstatten würde, die ihm ein Leben ungeachtet körperlicher Bürden und Dysfunktionen zum Beispiel auch außerhalb des Planeten gestatten könnten. »The purpose of the Cyborg is to provide an organizational system in which these robot‐like problems are taken care of automatically and unconsciously, thus freeing man to explore, to create, to think, and to feel.«296 Die exogenen Elemente, die dem Menschen zu seiner Automatisierung verhelfen sollten, umfassen künstliche optische Zellen, Stimulatoren der inneren Organe, Ersatzteile für magnetisch fixierbare 294 GEWEBEGESETZ, Artikel 12. 295 KAC, Eduardo, »Transgenic Art«, auf: www.ekac.org/transgenic.html, originär publiziert in: Leonardo Electronic Almanac, Vo.6, N.11, Dezember 1998, n.p. [zuletzt aufgerufen am 23. März 2016]. 296 KLINE, S. 348.

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Augen, Nylon-Zähne, Arterien aus Polyethylen und einem Exoskelett.297 Dabei handelt es sich in der Tat um künstlich erzeugte Versatzstücke, die sich als mit dem menschlichen Organismus verträglich erweisen. Viele der von Kline und Clynes unterbreiteten Vorschläge – so exotisch sie zunächst anmuten – sind heute in modernisierter Form zu einer gängigen Praxis der medizinisch wirksamen Hilfsangebote geworden. Während deren Maßnahmen auch ohne das Wissen um unser genetisches Erbgut Anwendung finden können, eröffnen uns letztgenannte Erkenntnisse die Möglichkeit zu einer personalisierten Medizin. »Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit werden nun als Informationsprozesse begriffen, und damit verfügen wir über die praktischen Mittel, das Ende des Todes abzusehen, da unser Wissen über diese Dinge exponentiell wächst.«298 So werde, laut Ray Kurzweil, sich umgekehrt durch die Gewinnung passgenauer Informationen zu einem individuellen Patienten der Konsum von eigens auf eine Person abgestimmter pharmazeutischer Gaben exponentiell verringern.299 Mit dem Aufruf zur Suche nach dem 1000-$-Genom durch die amerikanischen National Institutes of Health im Jahr 2008, begann die Wissenschaft, nach Methoden zu suchen, die Sequenzierung des Erbgutes einer Person auf die Kosten von 1000 Dollar zu reduzieren. Seit September des Jahres 2015 ist dies und damit in Konsequenz auch ein personalisierter medizinischer, biologischer, pharmazeutischer und genetischer Umgang zu einem überschaubaren Preis umsetzbar und das Projekt zu einer erfolgversprechenden Datenbank geworden.300 Auch wenn der Einfluss unserer Gene erwiesenermaßen nur bis zu fünfzig Prozent auf die Dauer unserer Lebensspanne beträgt, so reicht vermutlich eine genetische Veränderung dieses Anteils aus, um sowohl die Lebensqualität zu verbessern, als auch den Zeitpunkt unseres Todes hinauszuzögern.301 Durch Mutation den bestehenden Körper zu verändern, ist das eine. Durch Mutation einen Körper – und damit auch dessen zukünftigen Leib – entstehen zu lassen, das andere. Beides ist mittlerweile möglich. Die in‐vitro-Fertilisation ist nur eine, wenn auch seit ihrer ersten Anwendung im Jahr 1985 die bekannteste Vorgehensweise, Leben außerhalb des menschlichen Körpers wachsen zu lassen und dabei noch ohne genetisch verändernde Eingriffe auszukommen. Fünf Jahre später setzt man bereits 297 Vgl.: KLINE, Nathan S. und Manfred Clynes, Drugs, Space and Cybernetics. Evolution to Cyborgs, New York 1961; Michel Tibon-Cornillot, »Die transfigurativen Körper. Zur Verflechtung von Techniken und Mythen«, in: KAMPER, S. 145-164, hier S. 147-148; sowie Kapitel II.3.2. 298 Ray Kurzweil, in: HÜLSWITT, S. 15-34, hier S. 21. 299 Ray Kurzweil nahm zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 2010 täglich 250 Nahrungsergänzungsmittel ein. Seine Forschungsarbeit an der neuen Technologie des »protected supplements«, die von Nanokäfigen umgeben dafür Sorge tragen sollen, dass Zusatzstoffe zielgerichtet zu den einzelnen Organen transportiert werden, lässt Kurzweil zuversichtlich sein, dass er die eingenommene Menge an Tabletten auf 80 bis 100 reduzieren werde können; vgl.: Ray Kurzweil, in: HÜLSWITT, S. 15-34, hier S. 20-21. 300 Vgl. hierzu das »Personal Genome Project: Harvard« (PGP), auf: www.personalgenomes.org/harvard [zuletzt aufgerufen am 17. Dezember 2016] sowie Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 41-42. 301 Vgl. hierzu: James W. Vaupel, »Statt tot zu sein, sind sie am Leben.« Roman Brinzanik im Gespräch mit dem Demografen James W. Vaupel, Berlin, 19. Oktober 2009, in: HÜLSWITT, S. 212-225, hier S. 217, sowie Hans-Ulrich Treichel, »Der Mensch ist von Natur aus künstlich.« Im Gespräch mit dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Treichel, Berlin, 20. September 2009, in: HÜLSWITT, S. 280-302, hier S. 296.

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Gentherapien ein, um defektes genetisches Erbgut am Menschen auszutauschen oder zu verbessern.302 Mit dem neuen Forschungszweig, der so genannten synthetischen Biologie, vereinen sich die Wissenschaften der Chemie, der Informatik, der Molekularbiologie und der Ingenieurswissenschaften zu einem Anwendungsbereich, der sich auf die Entwicklung künstlich entwickelter Organe und biologischer Systeme spezialisiert, die unter natürlichen Bedingungen nicht entstehen würden.303 Voraussetzung für dieses Unterfangen ist nicht nur die komplette Sequenzierung des Humangenoms, sondern auch die künstliche Reprogrammierung von menschlichen Stammzellen zurück in pluripotente Zellen. Dazu muss man wissen, dass der Mensch unterschiedliche Stammzellen besitzt. Die für Mensch und Forschung wertvollsten unter ihnen sind die pluripotenten Stammzellen, welche die Fähigkeit besitzen, sich in jeden der 250 Körperzelltypen des menschlichen Organismus zu entwickeln. Eine embryonale Stammzelle ist so eine pluripotente Zelle. Zu bisherigen Forschungszwecken wurde mit eben dieser gearbeitet.304 Seit 2007 ist es möglich, nicht‐pluripotente Zellen durch Reprogrammierung in pluripotente Stammzellen zurückzuverwandeln: »Letztendlich möchte man in der Hierarchie nur ein wenig zurück und dann wieder nach vorne.«305 Diese induzierten pluripotenten Stammzellen, kurz: iPS-Zelle genannt, dienen nicht nur der Forschung, sondern unmittelbar auch dem Patienten, dessen eigene Körperzellen durch Reprogrammieren Pluripotenz zurückerlangen können, um sie wieder in der jeweils benötigten Gewebeform oder einem Organ im selben Leib – und damit ohne das Risiko einer Abstoßung – zum Einsatz zu bringen. Bereits im gleichen Jahr war es auf diese Weise gelungen, eine vollständige und lebensfähige Maus zu erschaffen. Bis in das Jahr 2012, in dem der Japaner Shinya Yamanaka den Nobelpreis für seine bahnbrechende Entdeckung erhielt, konnte gleichfalls die Gefahr der Bildung von Tumorzellen minimiert werden.306 Alleine weil es bisher aus ethischen Gründen nicht in Frage kommt, menschliche Chimären zu erzeugen, wurden eben genannte Testläufe nicht auf den Menschen ausgeweitet. Eine künstlich erzeugte, gesunde Maus, lässt aber durchaus den Rückschluss 302 Vgl.: Ulrich Tröhler, in: BLUM, S. 31-53, hier S. 43. 303 Vgl.: Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 51, Fußnote 10. 304 Ursprünglich gewinnt man pluripotente Zellen vier bis sieben Tage nach der Befruchtung der Eizelle aus einem noch nicht in der Gebärmutter eingenisteten Embryo; vgl.: Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 36-37, Fußnote 1. Im Gegensatz zu den pluripotenten Zellen, sind die unipotenten Zellen teilungsunfähige Zelltypen, die sich nicht regenerieren können und sich entsprechend nicht mehr nachbilden. Einmal abgetötet, sind diese für den menschlichen Organismus auf immer verloren. Multipotente adulte Zellen können sich immerhin zu verschiedenen Zelltypen ausbilden, jedoch nicht – wie die pluripotenten – zu allen; vgl.: Hans R. Schöler, »Das gealterte Bild des Dorian Gray«, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 58-59. 305 Hans R. Schöler, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 59. 306 Tumore bilden sich, da die reprogrammierten Körperzellen zunächst noch den Ballast der bereits in ihnen steckenden Mutationen mit sich tragen, welcher sich durch eine erneute Nutzung in einem neuen Organismus potenziert. Die Erbsubstanz ist eine bereits gealterte. Dies ist auch der Grund dafür, warum das geklonte Schaf Dolly (1996-2003) nicht das normale Lebensalter eines natürlich gezeugten Schafes erreichte; vgl.: Hans R. Schöler, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 58 und S. 68-70. Mittlerweile kann dieses Krebsgen ausgeschaltet werden und es wird weiter an einer mutationsfreien Technik des Reprogrammierens geforscht, zum Beispiel indem man die Körperzellen unter Nutzung von Proteinen generiert; vgl.: Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 38.

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zu, »dass theoretisch jede Zelle im Körper das Potenzial zum Lebewesen hat.«307 Dies gleichfalls in einem menschlichen Organismus. Im Übrigen gilt dies auch für die einem Organismus entstammenden tierischen Lebensmittel – etwa für Milch – als auch für die Körpersubstanzen und Abfallprodukte des menschlichen Körpers.308 All dies belegt und bestätigt, dass auch ein Leben nach dem Tod möglich wäre. Ein Menschen-Klon ist damit machbar, bestätigt auch der Stammzellenforscher Hans R. Schöler: »Ich sehe momentan keinen prinzipiellen biologischen Grund, weshalb es nicht funktionieren sollte, Menschen zu klonen. Ob man das tun sollte, ist eine ganz andere Frage.«309 Ein Grund, warum man dies nicht tun sollte, ist, da damit eine unendliche Vervielfältigung der immer identischen Duplikate des Primärorganismus entstehen würde.310 Nebst der möglichen künstlichen Erzeugung eines Organismus, bleibt die Frage nach der zweiten Komponente des die Identität eines Menschen stiftenden Organs offen: des Gehirns. Was denkt sich ein Gehirn, das weiß, dass es mindestens zweifach im gleichen Körper, aber doch demjenigen eines Anderen besteht? Was bedeutet ein multipliziertes Körper-Haben für den – auch in dieser Schrift erwiesenermaßen – vielschichtigen Komplex des potenziellen Leib-Seins?

Die posthumane Ära: Das Künstler-Genom im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Es gilt entsprechend, den Unterschied zwischen der Chimäre Mensch und dem natürlichen Menschen herauszufinden. Für die fraglichen Untersuchungen können zum einen die Neurobiologie und die Psychiatrie hilfreich tätig werden, die anhand messbarer Erhebungen der Gehirnströme Übereinstimmungen und Differenzen festhalten; dann wären da noch die Lebenswissenschaften und die synthetische Biologie, die einen physischen Vergleich anstellen können; die Sozialwissenschaften würden das Verhalten bezüglich des Umfeldes beider untersuchen; die Juristen die rechtliche Anwendung auf zwei miteinander übereinstimmende Personen überprüfen. Die Philosophie und die 307 Hans R. Schöler, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 69, vgl. auch S. 67, sowie Peter Gruss, in: HÜLSWITT, S. 35-57, hier S. 37-38. 308 Vgl.: Yves Michaud, in: KAC, S. 387-394, hier S. 389. 309 Hans R. Schöler, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 69. Derzeit wird daran geforscht, außerhalb des Organismus, also »in der Kulturschale« Spermien und Eizellen herzustellen, die keine genetischen Mutationen als Erbe mit sich führen. Damit wären die biologischen Hindernisse ausgeschaltet, die zu potenzierten Alterserscheinungen und einem frühen Tod führen könnten; vgl.: ebd., S. 71-72, sowie Ivana Mulatero, »Afterword«, in: MULATERO, S. 326-339, hier S. 326. In Großbritannien ist nun auch am Menschen erlaubt, was bislang nur bei Tieren und Pflanzen eingesetzt wurde: Das Herausschneiden, Ausschalten und Umschreiben eines Abschnittes der DNA in‐vitro und damit eine Einflussnahme auf noch ungeborenes Leben. Dies betrifft die künstliche Befruchtung einer Eizelle, bei der das Erbgut von drei Personen genutzt werden darf, um einer Erberkrankung entgegenzuwirken; vgl.: ZEIT-online, »Genforschung: Großbritannien erlaubt Genversuche an Embryonen«, in: Zeit‐online, 01. Februar 2016, auf: www.zeit.de/wissen/2016-02/genforschung‐grossbritanniengenmanipulation‐forschungsprogramm [zuletzt aufgerufen am 18. Dezember 2016], n.p. Der Beschluss wurde vom Britischen Oberhaus endgültig am 15. Dezember 2016 verabschiedet. 310 Vgl. u.a.: Michel Tibon-Cornillot, in: KEMPER, S. 145-164, hier S. 148.

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Kunst jedoch werden Überlegungen zur Identität des künstlichen Menschen im Vergleich zu einem natürlichen Organismus anstellen. Aber nicht alleine deshalb stellen sich einige Künstler die Frage nach dem KünstlerGenom im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dies geschieht bereits seit jeher in Form des Selbstportraits des Künstlers. Es entsteht einerseits als ein Weg der Selbstbefragung, gleichzeitig steckt in jedem Selbstportrait aber auch die Hoffnung auf ein dauerhaftes Verbleiben im Weltlichen noch nach dem Tod. Sich ein Überdauern im Weltlichen zu sichern, gelingt mit einem traditionellen Portrait in bildhafter wie materialhafter Form. Sich ein eventuelles Überdauern als Datenquell und damit zu einem späteren Zeitpunkt sogar in leiblicher Form zu ermöglichen, sofern die wissenschaftlichen Erkenntnisse und ethischen Bedenken dies zulassen, hierzu bedarf es darüber hinaus der genetischen Information des Portraitierten. Diese hinterlässt – sofern sie auch in materialhafter Form aushalten – der Künstler Marc Quinn mit den lebensgroßen, dreidimensionalen Selbstportraits seines Kopfes, die er seit dem Jahr 1991 in einem fünfjährigen Rhythmus aus jeweils viereinhalb Litern Eigenblut anfertigt und in Kühlvorrichtungen bei -70 °Celsius aufbewahrt.311 Noch stimmt das Abbild des Portraitierten mit seinem tatsächlichen Konterfei überein und lässt eine Wiedererkennung durch einen vergleichenden Betrachter zu. Diese Option fehlt in den seit dem Jahr 2000 entstehenden genetischen Portraits des Künstlers, der damit begonnen hat, sein Ebenbild und dasjenige von anderen anhand von Bakterienkulturen, die aus der DNA der jeweiligen Person gewonnen werden, zum Ausdruck zu bringen. Ein figurativer Abgleich zwischen den Portraits und den hinter Spiegelglas aufscheinenden halbtransparenten Tropfen ist hier nicht mehr möglich. Dafür entspricht die abstrakte Version umso mehr der exakten Repräsentation des via genetischem Material Zitierten und enthält darüber hinaus genügend Informationen, um – wie weiter oben festgehalten – den so Dargestellten erneut zu erschaffen. Quinn portraitiert in dieser Manier nicht nur sich selbst (Self-Conscious, 2000), sondern auch den Nobelpreisträger Sir John Sulston (2000-2001), der maßgeblich an der Sequenzierung des menschlichen Genoms beteiligt war: »I wanted to use the actual scientific process from John’s work to make the portrait. It contains about a million pieces of genetic information, enough to show that it is John and no one else, but it’s also a portrait of every one of his ancestors. And because there are only one in a thousand differences within that information, it is also a portrait of us and our relationship to John, which is why there is a mirrored frame.«312 Ähnlich verfährt Gary Schneider in seinen genetischen Selbstportraits von 1997, welche die DNA des Künstlers in Datenreihen, Aufnahmen seiner Chromosomen unter dem Mikroskop, Autoradiogrammen und Hydrothermographen – alles übliche Mittel der Datenerhebung in der Genforschung – zeigt. Das genetische Profil fällt auch hier hinter dem naturgegebenen Äußeren des so Portraitierten zurück.313 Beispielhaft sei ein 311 Vgl.: Marc Quinn, in: GRONINGEN, Ausst.kat., Quinn, 2006, S. 40. 312 Marc Quinn, »Genomic Portrait«, in: KAC, S. 309-311, hier S. 309. 313 Vgl.: Hélène Samson, »Resemblance and Identification: The Paradox of Gary Schneider’s Genetic SelfPortrait«, in: ASSELIN, S. 380-390, hier S. 381-382 und S. 384. Vgl. auch Kapitel IV.2.1.

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letztes Selbstportrait genannt, welches ebenfalls das Potential eines sich selbst‐erzeugenden Abbildes und zugleich ein unsterbliches Portrait des Repräsentierten darstellt: Paul Perrys Good and Evil on the Long Voyage kreuzt im Jahr 1997 die an Krebs erkrankte Zelle einer Labormaus mit denjenigen gesunden weißen Blutzellen des Künstlers. Der daraus gewonnene Hybrid wird sich aufgrund der Natur einer Krebszelle immer weiter teilen und sich unendlich reproduzieren.314 Die Nutzung des körpereigenen Materials in Artefakten beinhaltet entsprechend immer auch die Möglichkeit, dieses zu multiplizieren, sich erneut paaren zu lassen, neues Leben zu erschaffen und einen dauerhaften Verbleib zu sichern. Die religiös motivierten Reliquien setzen dabei zu einem Zeitpunkt ein, als man sich lediglich die ideelle Wiedergeburt in einer besseren, jedoch ausschließlich virtuellen Welt erhoffte; die Reliquien ORLANs dahingegen erheben nach heutigem Erkenntnisstand zurecht den Anspruch auf eine körperliche wie leibliche Präsenz in einer vielleicht nicht mehr allzu fernen Zukunft. Damit markiert ORLANs Tun den initiativen Ansatz der Bio Art, wie sie seit 1993 in der Geschichte der Kunst Einzug hält. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Entstehung der Bio Art liefern die heute für jedermann zugänglichen und hierfür notwendigen Informationen und Materialien. In einem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Flora, Fauna und dem Menschen, sind die biotechnischen Daten zu deren Umsetzung nach wie vor frei und nach weitestgehend nicht regulierten Bestimmungen zugänglich: »At one Web site, I can order up genetic tests to see if I have genes associated with breast cancer or Alzheimers’ disease, among other conditions. A handheld genetic sequencer is available that would allow me – a là Gattaca – to test the DNA of my dates. From various biotechnology companies, I can buy the building blocks of life to design human genes.«315 Dabei verfolgt das breite Gesamtfeld der Bio Art äußerst divergierende Denkweisen und Praktiken, deren grundsätzliche Gemeinsamkeit in einer Verflechtung von Kunst und der Biologie liegt und häufig zu einer Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern führt. Zum Einsatz kommen sowohl die tradierten künstlerischen Mittel als auch das Werkzeug und die Techniken, wie sie normalerweise im Labor und auf dem Gebiet der Informatik und der naturwissenschaftlichen Forschung zu finden sind. Die neuen Technologien und wissenschaftlichen Erfolge haben dazu geführt, dass wir in einer Zeit der posthumanen Versprechungen den menschlichen Körper anders wahrnehmen als noch vor 60 Jahren: das ehemals sich selbst erhaltende und regulierende System unseres Leibes als ein Subjekt, hat sich in ein kontrollierbares, künstlich veränderbares, virtuell erzeugbares und elektronisch übermittelbares Objekt verwandelt. Die Möglichkeiten einer physischen, digitalen wie elektronischen Manipulation unserer Körper beeinflussen dabei gleichzeitig eine zusätzliche Variable: die einer manipulierbaren Identität.316 Diverse Praktiken führen zu Uneinigkeiten in der Namensgebung der neuen Methoden in der Kunst. Für den Überbegriff, der alle Vorgehensweisen eint, nutzt man 314 Vgl.: O’REILLY, Sally, The Body in Contemporary Art, New York und London 2009, S. 139. 315 Lori B. Andrews, »Art as a Public Policy Medium«, in: KAC, S. 125-149, hier S. 131. 316 Vgl.: Eugene Thacker, »Open Source DNA and Bioinformatic Bodies«, in KAC, S. 31-42, hier S. 39, sowie KAC, Art., 1998, n.p.

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überwiegend die aus einem Komposit der beiden Bestandteile dieser Kunst zusammengesetzte Bezeichnung der Bio Art. Hierunter fallen wiederum zwei sich voneinander unterscheidende Betätigungsfelder, nämlich die Theorie und die Praxis. Beides – der theoretische wie der praktische Umgang – arbeitet mit Material, das lebt, deren einzelne Bestandteile leben oder einst am Leben waren. In der theoretischen Umsetzung einer Bio Art kommt es ausschließlich zu gedanklichen, theoretischen und computergesteuerten – also zumeist virtuellen – Experimenten. Man spricht von einer (New) Media Art, der Biotech Art oder der Genetic Art 317 , die lediglich eine Simulation oder Repräsentation vom Wachstum des Lebens übermitteln. In der Praxis werden diese Überlegungen in die Tat umgesetzt, sei es in‐vitro, am Lebendbeispiel oder an der DNA. Bezeichnungen hierzu lauten so vielschichtig wie Methoden zu ihrer Verwirklichung genutzt werden: Art of the Living, Life Science Art, Wet Art, Moist Media Art, oder vermehrt Transgenic Art.318 Den Boden für einen erstmaligen Auftritt in der musealen Öffentlichkeit bereitete 1993 die Ars Electronica in Linz mit dem Ausstellungstitel »Genetic Art – Artificial Life«. Die von Peter Weibel hierfür zusammengetragenen Werke umfassen laut Programm »autopoietic systems, virtual creatures, the software of artificial life, genetic images, synthetic life, the evolution and ecology of digital organisms, interactive evolution and the algorithmic beauty of nature. […] the artificial creation of life can be perceived both in terms of hardware and software.«319 Die Bio Art entsteht entsprechend sowohl im »dry lab« auf computerbasierten Methoden der Analyse biologischer Daten und Prozesse, als auch im »wet lab« im Umgang mit chemischen, biologischen und medizinischen Nass-Substanzen, wie sie dem Laborumfeld entstammen. Immer plant sie das künstliche Leben – zum Teil auf eine metaphorisch‐virtuelle Art und Weise, ein anderes Mal durch die Hybridisierung von Lebendmaterial und/oder Gewebe mit interaktiven technologischen und elektronischen Apparaturen320 , zum Teil durch selektive Züchtung und genetische Kreuzung oder Manipulation zu neuem Leben. Metapher und Realität vermengen sich. Gregor Schneider erschafft eine Metapher. ORLAN wagt die Realität. 317 In der Biotech Art wie der Genetic Art finden sowohl genetische wie nicht‐genetische Manipulationen an Pflanze, Tier und dem Menschen statt, d.h. biotechnologische Mittel werden in ihrem weitesten Sinne genutzt; vgl.: Pier Luigi Capucci, »The Double Division of the Living«, in: MULATERO, S. 299-305, hier S. 300. 318 Vgl. u.a.: Franco Torriani, »Some Key Words«, in: MULATERO, S. 248-251, hier S. 249; Jens Hauser, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 287; sowie Pier Luigi Capucci, in: MULATERO, S. 299-305, hier S. 300-301. 319 Peter Weibel, zitiert nach: Jens Hauser, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 288. Die daran teilnehmenden Künstler der ersten Stunde waren u.a. Wim Delvoye, Oron Catts, Brandon Ballangee und Franco B.; hinzu kamen in den nächsten zehn Jahren weitere bekannte Namen wie George Gessert, Eduardo Kac, Joe Davis, Marta de Menezes, Art Orienté objet (Marion Laval-Jeantet & Benoît Mangin), Tissue Culture & Art/SymbioticA (Oron Catts, Ionat Zurr und Guy Ben-Ary), Adam Zaretsky, Chrissy Conant, Polona Tratnik und Jun Takita. 320 Hierfür stehen heute genetische, molekulare, neuronale, digitale, mikroelektronische und nanotechnolgische Fortsätze zur Verfügung; vgl.: Louis Bec, »Towards Hypozoology«, in: MULATERO, S. 271-283, hier S. 272.

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Gregor Schneider: Die Konservierung von Körper und Geist Die Umsetzung einer Mutation und/oder Konservierung von Körper und Geist auf einer gedanklichen, theoretischen, computergenerierten, aber auch gentechnologisch inspirierten Ebene am lebenden Organismus, ist Anliegen der New Media Art samt ihrer Verzweigungen hin zur Biotech Art und der Genetic Art. Deren Pionierphase ist beendet und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse wie Alltagstauglichkeit der Vorschläge sind längst nicht mehr auf den Laborbereich beschränkt, sondern der Öffentlichkeit weitestgehend vertraut und werden von dieser genutzt. Informationstechnologien führen zur Kreation künstlichen Lebens, künstlicher Intelligenzen, (Bio)Robotern und Avataren, die den Menschen ersetzen oder deren Programme und Simulationen an Stelle des Menschen gewinnbringend für Erfahrungsaustausch sorgen. Es entstehen sowohl computerbasierte virtuelle Doppelgänger des Menschen, als auch Vorschläge zur Anwendung in einer immer weiter fortschreitenden Hybridisierung des Organismus. Stelarcs technologische und elektronische Körperfortsätze und Implantate etwa sind heute nicht mehr nur als Kunstform geläufig. Dennoch zeigt sich Stelarc in seinem Schaffen immer den bedeutsamen künstlerischen Schritt voraus, indem er Technologien verinnerlicht, die erst weit danach ihren Nutzwert für den Alltagsgebrauch erkennen lassen. Etwa wenn sein linker Arm während der Performance Ping Body (1995) mit elektronischen Muskelstimulatoren versehen wird, die via Internet von Netzbesuchern gelenkt und befehligt werden können. Stelarcs 2006 implantiertes Ear on Arm diente der erhöhten Sensibilisierung seiner eigenen Sinne und auch derjenigen, die sich seinem zusätzlichen funktionstüchtigen Hörapparat und dem darin sich befindlichen Miniaturmikrophon – das nicht nur empfängt, sondern auch sendet – im Internet zuschalten würden.321 Ähnliche, wenn auch fiktive Vorschläge zu einer Verbesserung der Humaneigenschaften, machte 1998 die im kalifornischen Pasadena eröffnete Boutique »Gene Genies Worldwide«. Das Künstlerduo Tran T. Kim-Trang und Karl S. Mihail bot in ihrem wie ein Labor ausstaffierten Laden den Verkauf von in spe biotechnologisch und gentechnisch veränderbaren Charaktereigenschaften und Gesichtszügen an, welche sich die Kundschaft per Katalog vor Ort aussuchen und für die Zukunft reservieren konnte.322 Während einige Künstler in ihren Werken denkbare und noch undenkbare Szenarien entwerfen, die in ferner Zukunft dem menschlichen Organismus eine Verbesserung in Funktion und Dauerhaftigkeit ermöglichen könnten, stellen andere Künstler die Zweckhaftigkeit und die Verträglichkeit dieser Errungenschaften mit dem Menschen in Frage – und sei es, indem sie lediglich den ästhetischen Wert in den Vordergrund spielen. So manipuliert Marta de Menezes in ihren biotechnologisch verfremde321 Vgl. die Website des Künstlers: http://stelarc.org/?catID=20247 [zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2016]. 322 »Brochures highlighted traits that studies had shown to be genetic: creativity, conformity, extroversion, introversion, novelty seeking, addiction, criminality, and dozens more. Shoppers initially requested one particular trait they wanted changed, but once they got into it, their shopping list grew. Since Gene Genies offered people not only human genes, but ones from animals and plants, one man surprised everyone by asking for the survivability of a cockroach.«; in: Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 125.

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ten Schmetterlingen aus der Serie Nature? (1999-2000) die farbenprächtigen und reichhaltig gemusterten Flügel hin zu einem sich asymmetrisch abbildenden Erscheinungsbild. Die auf das menschliche Auge nun befremdlich wirkenden, naturfernen neuen Eigenschaften der Tiere, behalten dennoch durchwegs ihr imposantes und aufwendig gemustertes Äußeres.323 Die mindestens so absonderlichen Kreaturen von Patricia Piccinini sind dahingegen tatsächlich fiktive Wesen aus Silikon, Fiberglas und Haar, deren Echtheitsgrad vor allem aus der handwerklich brillanten Fertigung der abstoßenden und zugleich possierlichen Geschöpfe resultiert. Piccinini erschafft in ihren Werken wie Family (2002-2003) oder Still Life with Stem Cells (2002-2003) ethische Fragen aufwerfende Entstellungen einer genetischen Wissenschaft, die aus dem Ruder gelaufen zu sein scheint und dennoch von der Gesellschaft als eine Norm aufgefasst wird, an die man sich gewöhnt zu haben glaubt. Die Lebenswissenschaften ermöglichen eben nicht mehr nur die im Falle der Not technische und biologische Wiederherstellung oder auch die wünschenswerte Verlängerung eines Lebens, sondern gleichfalls das willkürliche Auf‐den-Kopf‐stellen einer natürlichen Ordnung, die – und zwar nur weil man es vermag – auch jenseits ihrer Zweckmäßigkeit stattfindet. Voraussetzung hierfür ist, dass man einerseits dazu in der Lage ist, künstlich Leben zu erzeugen, und andererseits auch nicht davor zurückschreckt, Leben künstlich am Leben zu erhalten. Die Kryonik bietet hierbei die Aussicht auf beides, weswegen sie auch aus künstlerischer Sicht zum Einsatz kommt. Iñigo Manglano-Ovalle sammelt seit dem Jahr 2000 in seiner Arbeit Banks in Pink and Blue immer wieder Spermien. Die zum Teil von berühmten Künstlern gespendeten Zellen werden in einem rosaroten und einem blauen Kryo-Tank aufbewahrt und bei -196 °C in Flüssigstickstoff, der alle zwei Wochen ausgetauscht wird, am Leben erhalten.324 Da ein zukünftiger Mensch – gemäß der Theorie der Kryonik – bereits in diesem Stadium als juristische Person wahrgenommen werden kann, stellt Manglano-Ovalle die Frage nach den Grundlagen menschlichen Lebens vor der Geburt und nach dem Tod, das sich in beiden Fällen lediglich in einem Wartestadium, also weder im Noch‐nicht-Sein noch im Nicht‐mehr-Sein befindet. Die ehemalige Schweizer Künstlerkooperation »Etoy« bietet für dieses Szenario eines vorrübergehend stillgelegten Organismus den zusätzlichen Speicherplatz für alle jenseits des Körperlichen anfallenden Daten und virtuell aufbewahrbaren Angaben, die zum Mensch-Sein gehören. 2007 baut sie den Mission Eternity Sarkophagus, einen betretbaren, standardisierten Cargo-Container, dessen Innenseiten mit einem LED-Bildschirm und enormen Speicherkapazitäten ausgestattet sind. Im selben Jahr wurden die sterblichen Überreste des ersten »Testpiloten« in Form einer Database anstelle der Biomasse in der mobilen Grabstätte integriert. Die darin hinterlegten visuel323 Vgl.: Homepage der Künstlerin: http://martademenezes.com/[zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2016]. Marta de Menezes arbeitet mit den unterschiedlichsten medizinischen und biogenetischen Techniken. Bekannt ist sie vor allem für die Nutzung des MRI, das etwa die Gehirnströme von Wolfgang Kemp bei der Betrachtung eines Renaissancegemäldes als so genanntes Functional Portrait aufzeichnete. Sie verweist damit auf die Darstellung eines Selbstportraits – einmal in Form von hieraus resultierenden Fotografien, ein anderes Mal im übertragenen Sinne –, welches alleine durch Gehirnfunktionen erzeugt wird und damit aus der Virtualität kommend in einem sichtbaren Konstrukt mündet. 324 Vgl.: Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 139.

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len Informationen, Textnachrichten an die Nachwelt und Daten zur Person werden so nicht nur den Lebenden überliefert, sie wurden auch deshalb hochgeladen, damit der Pilot in einer Nachwelt Kontakt zu den noch kommenden »Co-Piloten« wird aufnehmen können, deren Zeitkapseln sich miteinander in der globalen Atmosphäre über die bereits vorhandenen Abermillionen von Netzwerken kurzschließen können.325 Auch hier begegnen sich Metapher und Realität.   Auf einer metaphorischen Ebene versucht auch Gregor Schneider mit seinen Räumen, den Zusammenhalt zwischen dem Körper und dem Leib aufrechtzuerhalten, um dem Menschen sein Selbst nahe zu bringen, welches auch nach dem Tod zu schützen und zu bewahren ist. Für den Körper hält er den Kryo-Tank bereit sowie Grabstätten für den verweslichen Anteil des Leibes. Dem aus diesem Leib heraustretenden Geist, der die tote Lebenshülle hinter sich lässt, bietet er Häuser und tote Räume an, in denen – ähnlich dem Gedanken der Kryonik, aber auch demjenigen der Künstlerkooperation »Etoy« – er sich in einer wie auch immer gearteten Form niederlassen und einnisten kann. Für einen würdigen Ort der De-Konstruktion von Körper und Geist, sieht Schneider den Sterberaum vor. Bedenkt man die Forderungen der Transhumanisten, so sind es Körper und Geist wert, in einer verbesserten Welt wieder lebensfähig, zusammen- und rückgeführt zu werden, sobald die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Was die Künstler – hier Gregor Schneider oder etwa »Etoy« – gedanklich und anhand ihres künstlerischen Schaffens abklopfen und zur Diskussion stellen, ist den Transhumanisten eine Selbstverständlichkeit. Diese möchten den einst künstlich wiederhergestellten und nun erneut ansehnlichen Körper als intellektuellen Träger einer Kollektivseele wissen, der in dieser Idealform unsterblich sein wird.326 Obschon der Organismus und der Geist – damit die gesamte Identität einer Person – am seidenen Faden der allzu weltlichen Energieversorgung hängen, kann dies und alle weiteren berechtigten Zweifel an dieser Mission – ähnlich der Pascal’schen Wette – nicht zu einem Gegenbeweis der Tauglichkeit dieses Unterfangens beitragen. Das kann nur das Gegenteil: der von Gregor Schneider präsentierte Beweis der von Gott und der Forschung verlassenen Körperhülle im Stadium seiner Verwesung.327 Denn was bedeutet ein vorübergehendes Dasein in einem Permafrostbehälter anderes als dessen christliches Pendant des um ein Vielfaches heißer überlieferten Vorhofes zur Hölle, dem Fegefeuer? Nicht umsonst platzierte Gregor Schneider seine Kryo325 Die Daten werden in »pints« hochgeladen und von »storage angels«, die jederzeit zu Hilfe gerufen werden können, geschützt; vgl.: http://vernissage.tv/2007/05/30/mission‐eternitysarcophagus‐etoy-corporation‐tweakfest-2007/[zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2016]. Die Hompage der Künstlervereinigung www.etoy.com [zuletzt aufgerufen am 14. März 2015], steht seit geraumer Zeit nicht mehr im Internet zur Verfügung. Ab dem Jahr 2013 hatte man vor, in Hibernation zu gehen. 326 Birgit Richard, »Inkarnation der Untoten? Virtueller Tod und Leichen in den digitalen Medien«, in: MACHO, S. 579-595, hier S. 585-587. 327 Gemeint sind die Überreste des mumifizierten Toten im Schneewittchensarg in Schneiders Totem Raum, Rom 2010. Vgl. hierfür Kapitel III.4.

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Tanks Phoenix I und II inmitten des sakralen Raums.328 Für den (wissenschafts-)gläubigen Menschen – sprich: den Transhumanisten ebenso wie für den Christen – hätte ein vorübergehendes Aussetzen des Lebens vor seiner Auferstehung aus dem Totenreich keinerlei negative Bedeutung. Der Zustand gleicht dann einer zeitweiligen Bewusstlosigkeit. Sich währenddessen eine Vorstellung von der Befindlichkeit seiner Identität zu machen, ist in beiden Fällen unmöglich: diese ist – im sprichwörtlichen Sinne – weder während einer bewusstlosen Etappe noch nach unserem Dahinscheiden denkbar. Gleiches gilt im Übrigen für unser Dasein noch vor unserer Geburt: eine posthumane oder eine pränatale Nichtexistenz schließen Gedanken zu unserem Selbst in gleichem Maße aus. Und doch gibt es da einen notwendigen Unterschied zwischen der Bewusstlosigkeit noch vor unserer Geburt, der Bewusstlosigkeit des Säuglings noch vor dem Einsetzen des Spiegelstadiums, der Bewusstlosigkeit während einer Privation und der erst im Sterbeprozess bewusstwerdenden Vorstellung von einer zukünftigen, immerwährenden Bewusstlosigkeit. Gregor Schneider lässt diese Erkenntnis in uns in seinem räumlich gewordenen Schwarzen Quadrat am Ende der Tunnel des Toten Raumes, Rom 2010 in uns reifen. Wir realisieren, dass es die Würdigung des uns zukünftig Entgehenden ist, das wir im Moment des Sterbens betrauern. »[D]as Problem der zeitlichen Asymmetrie« zwischen pränataler und posthumaner Nichtexistenz liegt im Bewusstsein des Menschen, denn: »[E]s stimmt zwar, dass niemand in dem Zeitraum vor seiner Geburt oder nach seinem Tod existiert. Doch die Zeit nach unserem Tod ist die Zeit, die uns der Tod raubt. Wären wir nicht gestorben, wären wir zu dieser Zeit ja noch am Leben. Deshalb führt der Tod stets zum Verlust irgendeiner Lebensspanne, die sein Opfer noch erlebt hätte, wäre er nicht zu dieser oder einer früheren Zeit gestorben. Wir wissen nur zu genau, wie es für uns gewesen wäre, wenn ihm dieses Leben noch geblieben wäre, das er verloren hat, und es bereitet uns keinerlei Mühe, denjenigen zu identifizieren, der diesen Verlust erlitten hat.«329 Eben dies ist auch der Kern des Problems: wir glauben zu wissen, wie es für uns hätte weiter sein können. Was sich die Kryonik im Positiven ausmalt und verspricht, muss aber nicht eintreten – weder das als positiv Erdachte, noch eine Wiederbelebung zu einem späteren Zeitpunkt. Auch aus diesem Grund bieten Gregor Schneiders Räume samt ihrer virtuellen und tatsächlichen Toten das Denkexperiment eines wiedereinsetzenden Lebens nach dem Tod. Aus dem gleichen Grund bietet er Räumlichkeiten an, die nicht nur den Körper nach seinem Tode beherbergen, sondern zugleich deren Geist für die Zukunft bewahren. Ein Bestreben, das die Kryonik in professionellem Ausmaße und mit viel Energie bereits forciert: während des vorübergehenden Ausscheidens aus dem Leben – also während sich der Körper des Suspendierten in einem Tank befindet – dienen Avatare, ausgestattet mit gespeicherten Kopien der geistigen Inhalte der fraglichen Person dazu, dessen Bewusstsein aufrechtzuerhalten und mit hinzukommenden Daten, die das Fortlaufen der Zeit mit sich bringt, zu aktualisieren. Die für eine Reinkarnation notwendigen Gedächtnisprotokolle werden entweder in einem Archiv oder in einer Zeitkapsel aufbewahrt. Enthalten sind Fotos, Briefe, Tonbandaufzeichnungen und Mikrofilme der 328 Vgl. Kapitel III.4. 329 NAGEL, S. 24-25 [kursive Hervorhebungen durch Thomas Nagel].

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jeweiligen Person. Zusätzlich wird Geld hinterlegt, um den Start in ein neues Leben finanzieren zu können.330 Die Unwahrscheinlichkeit beider Entwürfe eines Nachlebens – der wissenschaftlich begründete und der künstlerische – mögen auf der Hand liegen. Von der Hand zu weisen sind sie jedoch nicht. Wenn »Etoy« ähnlich der Kryonik ein geistiges Protokoll in einem Kunstraum speichert, so ist es ebenso sinnvoll, die geistige Präsenz von Menschen in Räumen manifest werden zu lassen. Schneiders Räumlichkeiten funktionieren dann wie eine Cloud, in der Identitäten hochgeladen werden, sofern man ihrem geistigen Verbleib auch nach dem Tod Glauben schenken will. Auch die Funktion und die Aufnahmekapazitäten des Sterberaumes hat man sich dann in ähnlicher Weise vorzustellen. Am Ende haben all diese Betrachtungen etwas mit unserem Begriff von der Zeit zu tun, in der wir unser Körper-Haben verorten, ob wir uns pränatal oder postnatal wähnen, wann die jeweilige Phase eintritt und wie lange sie anhalten wird. Alleine die Phase unseres post mortem zu gestalten, obliegt dem Rezipienten, welcher der virtuell endlos erscheinenden Dauerschleife des Lebens gewaltsam entrissen werden soll.331 Nur er kann entscheiden – und dies auch nur bedingt –, wohin er seinen Körper und Geist entlassen möchte. Ob dann eine Wiedervereinigung der Hardware Körper und der Software Geist stattfinden, wie dieses zukünftige Dasein aussehen wird, muss bis auf weiteres unbeantwortet bleiben: »The next world in our world but like what?«332

ORLAN: Die Konservierung des Leibes Die Transgenetik bezweckt nun aber eine Konservierung sowohl des Körper-Habens als auch des Leib-Seins. Dies entspricht einem Bewahren der körperlichen Eigenschaften des Menschen unter Beibehaltung seiner geistigen wie identitätsstiftenden Merkmale. Die Transgenetik strebt entsprechend nach dem ganzheitlichen Menschen. Es sei deshalb auch den Künstlern erlaubt, die wissenschaftlichen Errungenschaften nun dem künstlerischen Experiment zuzuführen, um eine Tauglichkeit dieser bahnbrechenden Lösung zur zeitlichen Begrenztheit des menschlichen Daseins anhand ihrer Umsetzung zu erproben. Die Transgenic Art pflegt deshalb – genau wie die biotechnologischen Wissenschaften und die medizinische Forschung – Umgang mit den genetischen Daten, die ein Menschenleben ausmachen. Sie hat die Befähigung erlangt, neues Leben zu erschaffen: »Transgenic art […] is a new art form based on the use of genetic engineering techniques […] to create unique living beings. Molecular genetics allows the artist to engineer the plant and animal genome and create new life form. The nature of this new art is defined not only by the birth and growth of a new plant or animal but above all the by the nature of the relationship between artist, public, and transgenic organism.«333 Da die Wissenschaft ihre Experimente seit langem auch auf das menschliche Genom aus330 Vgl.: www.alcor.org/FAQs/index.html [zuletzt aufgerufen am 22. Dezember 2016] sowie Birgit Richard, in: MACHO, S. 579-595, hier S. 587-588. 331 Vgl. auch: NAGEL, S. 21 sowie S. 27-28. 332 Gregor Schneider, in: ROM, Ausst.kat., Schneider, 2010, S. 82-87, hier S. 87. 333 KAC, Art., 1998, n.p.

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geweitet hat, erlangte auch die Kunst die Befähigung hierzu: sie arbeitet am Menschen, um dessen Leib für alle Beteiligten ermessen zu lernen. Sowohl die Transgenetik als auch die Transgenic Art manipulieren die Prozesse eines lebenden Organismus. Ihr Vorgehen verfolgt in beiden Betätigungsfeldern folgende drei Komponenten: »(1) the coaching of biomaterials into specific inert shapes of behaviors; (2) the unusual or subversive use of biotech tools and processes; (3) the invention or transformation of living organisms with or without social or environmental integration. It is in the third approach that it reveals its most radical vector, precisely because it works in the living – that is, living in the most ordinary sense of the word, from a single cell to a mammal.«334 Das heißt, dass die aus diesen Prozessen resultierenden Lebewesen auch dazu gedacht sind, sich in die Welt zu integrieren und es noch jenseits eines Miteinanders zwangsläufig auch zu Überlappungen und Vermengungen der künstlich erzeugten Geschöpfe mit der bereits vorhandenen Menschheit kommen wird. Oder wie es Eduardo Kac ausdrückt: »Bio art is in vivo.«335 Ähnlich wie die Wissenschaften, setzt die Bio Art in den frühen 1990er Jahren damit ein, zunächst auf Lebendgewebe und einige Jahre später auch auf Lebewesen manipulativ einzuwirken. David Kremers’ Arbeiten mit Kolibakterien der Sorte E.coli sind die ersten künstlerischen Probebohrungen zu einer gentechnisch modifizierten Kunst. Durch das Hinzufügen farbiger Enzyme und Proteine und das zusätzliche Füttern mit Agar reagieren die Bakterienkulturen zu buntfarbenen Lösungen, mit denen der Künstler seine Somite-Bilder (1992) malt. Entzieht man ihnen die sie befeuchtenden Nährstoffe, hält ihr weiteres Wachstum inne. Dennoch können sie jederzeit wieder zum Leben erweckt werden, denn es sind – laut Namensgebung des Künstlers – Somiten, das Ursegment aus der embryonalen Wachstumsstufe des Wirbeltieres, welches für dessen Fortentwicklung Sorge trägt.336 Eduardo Kac ist wohl der bekannteste Künstler der ersten Generation an Bio Artists. Während er in den 1990er Jahren noch Bioroboter herstellte, die eine physisch‐mechanische Verknüpfung und einen Austausch von lebenserhaltender Energie zwischen Mensch und Maschine erlauben337 , wagte er mit Alba (2000) erste Schritte zu einem genetisch mutierten und lebensfähig geborenen Tier, dem G(reen)F(luorescent)P(rotein)-Bunny. Das hierzu genutzte und der Qualle entstammende fluoreszierende Protein ist Spezien‐unabhängig einsetzbar und lässt bei UV-Bestrahlung nun auch Kacs Hasen im Dunklen leuchten. Ziel ist jedoch nicht alleine die Existenz dieses Hasen, sondern auch der damit angestoßene öffentliche Diskurs zur künstlich 334 335 336 337

Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 18. Eduardo Kac, in: KAC, S. 1-27, hier S. 19. Vgl.: davidkremers, in: KAC, S. 295-300, hier S. 295-296. Hierzu zählen Arbeiten wie The 8th Day (2001), die ein genetisch erzeugtes, sich gegenseitig erhaltendes und in sich geschlossenes Artensystem von Amöben, Fischen, Mäusen und einem Bioroboter birgt, oder die Arbeit A-Positive (1997), die einen energetischen Kreislauf bildet, indem menschliches Blut intravenös an einen Roboter abgeführt wird, der mit dem hieraus extrahierten Sauerstoff eine kleine Flamme in sich nährt; an den Menschen zurückgeführt wird in diesem Kreislauf DeGlukose, auch als Dextrose oder Traubenzucker bekannt; vgl. auch: Eduardo Kac, in: KAC, S. 163-184, hier S. 174 und S. 176-177, sowie Dorothy Nelkin, »Blood and Bioethics in the Biotechnology Age«, in: KAC, S. 115-123, hier S. 118.

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erzeugbaren Bio-Diversität wie zu den Chancen der sozialen Integrierbarkeit und Akzeptanz von vermehrt zu erwartenden gentechnisch veränderten Organismen.338 Das GFP-Bunny Alba ist ein lediglich in seiner Genstruktur modifizierter Hase, der in einem für heutige Verhältnisse vollkommen normalen Kontext – in‐vitro, ausgetragen, geboren, genährt – in diese Welt gelangte. Anders verhält sich das mit Zellstrukturen und Organismen, die der Petrischale entstammen, extra‐uteral ausgetragen werden und weder für ihr Entstehen noch für ihr Wachsen und Überleben in Abhängigkeit von einer Mutter genährt werden müssen. Derartiger Kreaturen nimmt sich die Künstlergruppe The Tissue Culture & Art Project (TC&A Project, seit 1996) an, bestehend aus den Künstlern Oron Catts, Ionat Zurr sowie Guy Ben-Ary aus dem SymbioticA-Labor im australischen Perth. Anhand von Gewebezüchtungen entstehen unter ihrer Regie so genannte »semi‐living«, also anteilig lebendige und sich selbst erhaltende Skulpturen. Die Besonderheit dieser Kreaturen liegt darin, dass sie – einmal in ihrer Entstehung begriffen – nicht nur Zellketten und damit einen in der zweiten Dimension wachsenden Organismus ausbilden, sondern ein dreidimensionales Wachstum aufweisen. Inspiriert wird dieses Schaffen von einer biotechnologischen Gewebebearbeitung, welche es ermöglichen will, defekte oder verletzte menschliche Körperpartien oder Organe in‐vitro in einer gewünschten Form wachsen zu lassen, um diese anschließend ersetzen zu können.339 Im Jahr 2000 entstanden so im Bioreaktor von TC&A Project sieben Worry Dolls in Form der kleinen Püppchen aus Guatemala, denen Kinder gerne ihre Sorgen anvertrauen. Eine der zwergenhaften Figuren verkörperte die Angst vor Biotechnologie, eine andere die Angst vor dem Kapitalismus, wieder eine andere die Angst vor der Eugenik. Bestehend aus Polymeren, ausgestattet mit Muskelgewebe und Knochenmaterial, waren diese Miniatur-Wesen vollkommen abbaubar.340 Unterstützt werden die Künstler in ihren Bestrebungen von zahlreichen Institutionen, da man sich mit ihrer Hilfe gleichfalls Lösungen für die Probleme unserer Konsumentenwelt, der globalen Plünderung von nachlassenden Ressourcen, der ethischen Probleme einer über Hand nehmenden Massentierzüchtung, aber auch der lebensverlängernden wie -erhaltenden Optionen für den Menschen verspricht.341 In diesem Sinne entwickelte das TC&A Project die Disembodied Cuisine (2000), welche die »production of meat without victims«342 zum Ziel hatte. Hierfür wurde im Museum das Muskelgewebe von Fröschen im Bioreaktor generiert und durch tägliche Pflege und Zugabe von Nährstoffen im Inkubator vervielfältigt. Acht Wochen später fand vor Ort ein Festmahl mit Froschsteaks statt.343 Eine Barriere gilt es allerdings nach wie vor zu überwinden: sofern die so erzeugten Organismen nicht über kurz oder lang gegessen werden oder ihrer Funktion in einem anderen, sich selbst‐erhaltenden Organismus wie dem menschlichen Körper zugeführt werden, sind 338 Vgl. auch: KAC, Art., 1998, n.p.; Eduardo Kac, in: KAC, S. 163-184, hier S. 165; Gunalan Nadarajan, »Ornamental Biotechnology and Parergonal Aesthetics«, in: KAC, S. 43-55, hier S. 52. 339 Vgl.: Oron Catts und Ionat Zurr, »Semi-Living Art«, in: KAC, S. 231-247, hier S. 233. 340 Vgl. auch: Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 127. Zur selben Zeit entstehen im Bioreaktor »Schweineflügel« aus eben diesem Gewebe, die das englischsprachige und ironisch gemeinte Sprichwort If Pigs Could Fly (2000/2001) umsetzen. 341 Vgl.: Oron Catts und Ionat Zurr, in: KAC, S. 231-247, hier S. 234. 342 Jens Hauser, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 289. 343 Vgl.: Jens Hauser, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 290.

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sie zum Tode verurteilt. Es stellt sich dabei jedoch nicht nur die technische, sondern vor allem auch die ethische Frage nach ihrer Produktion und ihrem Erhalt. Dies gilt vor allem, sofern menschliches Gewebe involviert ist. Das Künstler-Duo Art Orienté objet, bestehend aus Marion Laval-Jeantet und Benoît Mangin, bot etwa ihre eigene Skin Culture (1997) auf dem Kunstmarkt feil. Diese erwuchs aus den Hautzellen der beiden Künstlerinnen auf Schweinehaut am MIT in Cambridge/Boston und wurde in einer konservierenden Flüssigkeit ausgestellt. Die anschließend mit Tieren tätowierten Hautlappen standen zu einer Übernahme an fremden Körpern zur Verfügung und stellten den bislang die Norm bedeutenden Prozess einer am eigenen Leib ausgeführten Tätowierung im Gegensatz zu einer aufwendigen und medizinisch weitaus bedenklicheren Schönheitsoperation auf den Kopf: »Skin Culture […] presents the fantasy of being able to change your skin for different skin, of being able to use standard quick plastic surgery instead of hours of tattooing.«344   Solcherart Kunstschaffen wirft Fragen auf. Die Kunst der Manipulation – geschehe sie nun in einem wissenschaftlichen oder in einem künstlerischen Umfeld – führt zum einen zu einer Demonstration der Einmaligkeit jedes einzelnen menschlichen Wesens aufgrund seiner intellektuellen und kognitiven Eigenschaften sowie seiner emotionalen und identitätsstiftenden Merkmale, und zum anderen wird deutlich, wie wenig wir uns hinsichtlich der physiologischen Funktionsweise und des genetischen Auf- wie Abbaus voneinander unterscheiden. Das Körper-Haben eint alle Organismen untereinander, das Leib-Sein macht unser individuelles Wesen aus. Der Physis willfährig zu sein, entpuppt sich als durchwegs machbar, das Selbst dabei zu berücksichtigen, erweist sich als weitestgehend schwierig und als unwägbar in seinen geistigen wie seelischen Auswirkungen. Darüber hinaus ergibt sich die Aussicht auf die Erschaffung vollkommen neuartiger Lebensformen von sowohl liebenswerten Kreaturen, als auch monströsen Chimären, deren Verträglichkeit mit Mensch und Umwelt sich noch zu erweisen hat. Jens Hauser betont dieses mögliche Konfliktpotential: »The generic term ›Bioart‹ often creates the illusion of referring only to an aesthetic object to be concerned, whereas the important aspect of these artworks lies much rather in the tension between the viewer and the viewed.«345 Es bleibt entsprechend abzuwarten, ob Wissenschaft und Kunst dem Menschen neue Höhenflüge bescheren werden, oder aber die neuen Errungenschaften aus dem Ruder zu laufen drohen und die natürliche Ordnung auf unkontrollierbare Abwege gerät. Daher blicken wir in die vage Zukunft eines jeden Einzelnen, der sich dem Konflikt um diese Fragen stellt oder – im Falle der akuten Betroffenheit – stellen muss. Noch gilt das Recht der Selbstbestimmung eines Individuums, das zu schützen und am Leben zu erhalten ist. Jedoch um welchen Preis, dies fragen die Künstler. Noch hegen wir 344 Object-Oriented Art (Marion Laval-Jeantet und Benoît Mangin), »Skin Culture«, in: KAC, S. 291-293, hier S. 291. Die Haut wurde von keinem der Käufer in den eigenen Körper integriert, sondern in Formaldehyd aufbewahrt; vgl.: Jens Hauser, in: MULATERO, S. 284-298, hier S. 291. 345 Jens Hauser, in: SILVESTRIN, Daniela, »Dialogues on »Bioart« #1. A Conversation with Jens Hauser«, in: Digicult. Digital Art, Design and Culture, 2015, n.p., auf: www.digicult.it/news/dialogues‐onbioart-1-a‐conversation-with‐jens-hauser/[zuletzt aufgerufen am 23. Dezember 2016].

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die Herrschaft über unsere eigene Identität, wenn auch nicht das Patentrecht im juristischen Sinne: der Versuch der englischen Dichterin Donna Rawlinson MacLean im März des Jahres 2000, sich selbst patentieren zu lassen, wurde vom britischen Amt für Patentrechte abgelehnt. Und dennoch ist die Begründung für ihren Antrag durchaus nachvollziehbar: »It has taken 30 years of hard labor for me to discover and invent myself, and now I wish to protect my invention from unauthorized exploitation, genetic or otherwise.«346 Wenn uns schon der juristische Weg zu einem Patent auf das Selbst verwehrt ist, so ist der nächste folgerichtige Schritt, sich selbst zu patentieren, indem man Maßnahmen zu seiner eigenen Reproduktion einleitet.   Eben dies tut ORLAN. Seit 1990 sammelt die Künstlerin ihre Körperzellen in Reliquiaren. Seit 2003 arbeitet ORLAN unter anderem mit dem australischen Labor von SymbioticA zusammen.347 Sie züchtet seither Gewebe, und zwar ihr eigenes, um es nicht nur es selbst sein zu lassen, sondern ORLAN eröffnet die Diskussion um den künstlich erzeugten Hybrid aus den unterschiedlichsten Organismen und damit Blickwinkeln. ORLAN kreiert sich selbst. Einmal in Form von virtuellen Hybriden348 diversester Ausformulierungen, ein andermal – wie im Folgenden untersucht – als lebende Chimäre für die Zukunft. In ihrem Manifest aus dem Jahr 1995 nennt sie dieses Unterfangen die »Kunst des Fleisches«: »Carnal Art is a work of autoportraiture in the classical sense, but with the technological means of its time. It oscillates between disfiguration and refiguration. It inscribes itself in the flesh because our era begins to lend itself to this possibility. The body is becoming a ›modified ready‐made‹ because it is no longer the ideal ready‐made waiting to be signed.«349 Zum Zeitpunkt dieser Äußerung sind die Mittel hierzu noch relativ beschränkt und dennoch stellt ORLAN bereits die richtigen – auch ethischen – Fragen zu unserer zukünftigen fleischlichen wie leiblichen Identität.350 Während die Künstlerin in den 1990er Jahren noch die Collagetechniken der Avantgarde des 20. Jahrhunderts zur Anwendung bringt, indem sie in ihrem Gesicht »cut‐and-paste«-Methoden einsetzt, geht 346 Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 136, sowie auf: https://www.theguardian.com/science/ 2000/feb/29/genetics.uknews [zuletzt aufgerufen am 23. Dezember 2016]. 347 ORLAN äußert sich in einer Email an die Autorin vom 31. Mai 2016 wie folgt hierzu: »It’s really possible that we work together again. I worked with Sup’Biotech, Polytechnique, the CNRS and now I work with researchers at the Institute Pasteur for the project »Organoïde« with Fabrice Hybert.« 348 Hierzu zählen unter anderem die Fotoserie Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, InBetween (1994) mit Bildmaterial aus der siebten Performance-Operation Omniprésence, genauso wie die seit 1998 vorgenommenen Self-Hybridations sowie Folgearbeiten, in denen sich ORLANs Ebenbild in fiktiver Manier mit anderen Organismen verknüpft. Vgl. hierzu auch Kapitel III.2. 349 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319; vgl. auch Anhang, Punkt III. 350 »Carnal Art is interested […] in the high tech medical and biological techniques that challenge the body’s status and pose ethical concerns.«, in: ORLAN, »Carnal Art Manifesto«, in: DONGER, S. 28-29, hier S. 29; vgl. auch Anhang, Punkt II., sowie in: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 319; vgl. auch Anhang, Punkt III.: »My work and its ideas, incarnated in my flesh, interrogate the status of the body in our society and its evolution in future generations via new technologies and upcoming genetic manipulations. My body has become a site of public debate that poses crucial questions for our time.«

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sie hiernach zu einer »copy‐and-paste«-Technik über, die ihre genetischen Daten mit denjenigen anderer Organismen in Collagen neu zusammensetzt. Die Präsentation ihres Selbst in den in‐vivo-Operationen führt damit zu Re-Präsentationen ihres Selbst in den ihren Körper und ihre Identität fortsetzenden in‐vitro-Organismen desselben Leibes. »Dismantling the organism has never meant killing yourself, but rather opening the body to connections that presuppose an entire assemblage, circuits, conjunctions, levels and deterritorializations measured with the craft of a surveyor.«351 Nach der DeKonstruktion gelangt ORLAN in die Phase ihrer Re-Produktion und damit dem organlosen Körper im Sinne von Gilles Deleuze einen bedeutsamen Schritt näher: »It is not at all a question of a fragmented, splintered body, of organs without the body (OwB). The BwO is exactly the opposite. There are not organs in the sense of fragments in relation to a lost unity, nor is there a return to the undifferentiated in relation to a differentiable totality. There is a distribution of intensive principles of organs, with their positive indefinite articles, within a collectivity or multiplicity, inside an assemblage, and according to machinic connections operating on the BwO. Logos spermaticos […] the contemporaneousness of a continually self‐constructing milieu.«352 Diesen von Deleuze und Guattari genannten sinn- und identitätsstiftenden Keim will ORLAN seit 2000 aus ihren Genen erwachsen lassen. Zunächst keimt jedoch nur die Absicht, die eigenen Hautschichten – Epidermis, Dermis wie Subcutis – sich reproduzieren und dabei mit den Genzellen von dunkelhäutigen Menschen vermengen zu lassen.353 Mit Hilfe des Gen-Labors SymbioticA, ein einzigartiger Zusammenschluss von Künstlern354 und Naturwissenschaftlern an der University of Western Australia in Perth, bringt ORLAN im Jahr 2003 ihr Vorhaben in Form eines Flugblattes auf der »L’Art Biotech« am »Le Lieu Unique« in Nantes an die Öffentlichkeit.355 Die erste für dieses Projekt vorgenommene Biopsie ORLANs fand im Jahr 2007 statt. Kostüme und Setting trugen wieder einmal das Motiv des Harlekinmantels. Das hierbei entnommene Hautgewebe wurde in verschiedenen Kombinationen mit fremden Zellen im Bioreaktor zusammengeführt. ORLAN kombiniert sich dabei in den einzelnen Biokulturen mit Muskelkulturen eines Beuteltieres, ein weiteres Mal mit den Fibroblastzellen eines zwölf Wochen alten dunkelhäutigen Fötus, mit den Zellen der Augenhornhaut eines Rindes und mit den Zellen eines Schwans. Jede einzelne Verbindung fördert symbolische Konnotationen und ethische Fragen zu Tage, vor allem aber setzen sie ein Zeichen 351 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 177. 352 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 182-183 [kursive Hervorhebungen durch Gilles Deleuze und Félix Guattari]. 353 ORLAN, in: O’BRYAN, S. 141-150, hier S. 143-144. 354 Unter anderem sind dort die Künstler Oron Catts, Ionat Zurr und Guy Ben-Ary des Tissue Culture & Art Projects tätig. 355 ORLAN ist auf dem Faltblatt als Giraffen-Frau abgebildet, der Text lautet wie folgt: »Urgent‐urgent. In collaboration with the Australian group SymbioticA/Tissue Culture and Art, present in Nantes as part of the exhibition L’Art Biotech, the artist ORLAN continues her hybridization and Carnal Art. She urgently hopes to find a woman or man with black skin to create an artwork based on ORLAN’s skin and the donor’s to obtain a hybrid skin. The operation will be benign. Participation is not paid, but will be the occasion for an exchange of photographs signed by ORLAN to the donor.«, vgl.: Markus Hallersleben und Jens Hauser, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 144, Fußnote 19.

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gegen den nach wie vor schwelenden Rassismus: egal, um welche inter- oder transhumane Zell-Verknüpfung es sich handelt, das phänomenale Äußere der sich im Bioreaktor präsentierenden Zellkulturen ist stets das gleiche einer transparenten, fleischfarbenen Nährstofflösung.356 ORLAN verweist damit das ungläubige Publikum auf die Schilderung seiner selbst, wie es sich angesichts des buntscheckigen Harlekins in Michel Serres’ »Troubadour des Wissens« abzuwenden beginnt. Der unreine Zellbastard erweist sich erneut als Hybrid. Und bereits im Hinausgehen begriffen, ereignet sich vor den Augen dieser Zuseher auf Michel Serres’ fiktiver und auf ORLANs gentechnisch inszenierter Bühne das Unerwartete: »An der Stelle des Mondkaisers erhob sich darauf eine blendende, glühende Masse, eher hell als bleiche, eher durchsichtig als matt, lilienfarben, schneefarben, kindlich‐naiv, rein und jungfräulich, ganz blank. ›Pierrot! Pierrot!‹, schrien noch die Dummen, als der Vorhang fiel. Sie gingen hinaus und fragten sich: ›Wie können die tausend Farben der Buntscheckigkeit sich in ihrer Summe in Weiß auflösen?‹«357 Was bereits die Farbentheorie besagt – nämlich, dass sich in einer additiven Farbmischung alle Farben zu Weiß vereinen – stellen ORLANs Überlegungen erneut unter Beweis. Zusätzlich werden ihre Resultate anhand der Erkenntnisse des Humangenomprojektes bestärkt, welche zu Tage förderten, dass es kein RassenGen gibt.358 »ORLAN confronts the symbolic connotation of whiteness as purity with its technical‐material constructedness as a literal hybrid, that is, impure cell‐bastards. […] ORLAN seeks to comprehend the cultural dissolution of black/white – including her own skin cells – as the melting of colour into the transparent.«359 ORLAN nennt ihr Projekt The Harlequin’s Coat. Sie hat hierfür einen Harlekinmantel entworfen, auf dessen bunten Rauten sich in Bioreaktoren ihre mit weiteren Organismen gepaarten lebenden Zellen befinden. Sie bilden, genauer gesagt, den Kopf 356 Das Beuteltier symbolisiert das nicht‐humane Pendant des asiatisch‐australischen Ureinwohners. Die WS-1-Hautkultur des afroamerikanischen Fötus wurde aus einer kommerziellen Gewebebank geordert, die speziell auf die wissenschaftliche Forschungsrelevanz von ethnischem und geschlechtsspezifischem Gewebe verweist. Die Rinderzellen nutzt ORLAN in Anspielung auf den Rinderwahn und dessen Ursachen, der Rassenkreuzung. Die Zellen des Schwans dienen der Metapher des ewig Schönen und sind der Verbindungsflexibilität der Zellen untereinander von Nutzen; vgl. hierzu: Markus Hallersleben und Jens Hauser, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 142 und S. 144-145. Jens Hauser schließt eine hieraus resultierende Folgefrage an, die sich aus der Züchtung einer Chimäre ergibt: »The question that follows is: how many human cells does it take for a rat’s brain to become human? And vice‐versa, how many human animal organs can be introduced into a human being before he becomes an animal?«, in: Jens Hauser, in: KAC, S. 284-298, hier S. 290. 357 SERRES, Troubadour des Wissens, S. 6-11, hier S. 11. Der gesamte Textauszug findet sich im Anhang unter Punkt IV. 358 Noch während des Zweiten Weltkrieges veranlasste der United States Congress, Afro-Amerikaner als Spender zunächst auszuschließen. Diejenigen, die auf das Blut angewiesen waren und es trotzdem akzeptierten, wurden als Bastarde gebrandmarkt. De jure wird die »one drop of blood rule« nicht mehr ausgeübt und auch die Sequenzierung des Menschen hat ergeben, dass es keine speziellen Gen-Unterschiede für Rassen gibt. In soziologischer Hinsicht, so ist man sich einig, unterscheidet man jedoch sehr wohl weiter; vgl. u.a.: Joachim Pietzsch, in: FRANKFURT A.M., Ausst.kat., Blut, 2001, S. 231-243, hier S. 241, sowie Dorothy Nelkin, in: KAC, S. 115-123, hier S. 120. 359 Markus Hallersleben und Jens Hauser, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 146 [kursive Hervorhebungen durch Markus Hallersleben und Jens Hauser].

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des Harlekins, »[w]ith the bioreactor as its machinic face, this multi-medial installation interfaces manifold artistic practices, and transgresses cultural coordinates such as ›race‹, species, gender or life span. It can be further analysed as a transfacial body.«360 Dieses von ORLAN gezeichnete Portrait besitzt in der Tat einen organlosen Körper und konterkariert damit nicht nur den Bioroboter einer Braut Frankensteins, sondern auch das Official Portrait in Bride of Frankenstein Wig (1990), das die Künstlerin in der Rolle des Monsters zeigt. Noch in ihrer sechsten Performance-Operation hatte sich ORLAN durch Zitation auf eben diesen von Antonin Artaud in seinem Hörspiel »Pour a finir avec le jugement de dieu« (1947) beschriebenen organlosen Körper berufen, den Gilles Deleuze als einen Gemeinschaftskörper unterschiedlichster Konfiguration beschreibt: »This [BwO] can take place in very different social formations through very different assemblages (perverse, artistic, scientific, mystical, political) with different types of bodies without organs. It is constructed piece by piece, and the places, conditions, and techniques are irreducible to one another. The question, rather, is whether the pieces can fit together, and at what price. Inevitably, there will be monstrous crossbreeds. The plane of consistency would be the totality of all BwO’s, a pure multiplicity of immanence, one piece of which may be Chinese, another American, another medieval, another petty perverse, but all in a movement of generalized deterritorialization in which each person takes or makes what she or he can, according to tastes she or he will have succeeded in abstracting from a Self [Moi], according to a politics or strategy successfully abstracted from a given formation, according to a given procedure abstracted from its origin.«361 ORLANs Abstraktion besteht aus einer humanen und nicht‐humanen, jedoch immer organlosen Verquickung von Existenzen, welche nicht das »Entweder-Oder«, sondern das sie vereinende »Und« in den Vordergrund rückt.362 Nicht nur Harlekin liefert den Beweis dafür, dass der Hybrid die Norm darstellt. Die Wissenschaften tun es ihm gleich. In diesem Sinne multipliziert auch ORLAN nicht nur ihre Hautzellen im Reaktor, sondern entwirft gleichfalls eine Modekollektion und weitere Artefakte aus buntfarbenem Rautenstoff, der die Geste ihrer Manipulation und Vervielfältigung noch steigern soll. ORLAN häutet sich ebenso wie der Harlekin. Und sie tut dies in einem doppelten Wortsinn: Wenn auch das englischsprachige »skinning«363 bislang alleine die Bedeutung einer Enthäutung zum Beispiel von Tieren mit sich führte, so erlangte die Vokabel im Zeitalter der Digitalisierung eine neue Form der Nutzung und bezeichnet heute auch ein Hinzufügen von Oberflächenstrukturen etwa bei der Entwicklung von Videospielen, 3-D-Computergraphiken und anderen digitalen Animationen. Die Textur und Farbigkeit unserer Haut, die unser Körper-Haben und Leib-Sein im Verlaufe unseres Lebens veranlasste, entspricht damit gleichzeitig einer virtuellen Welt, die sich lediglich in der Fiktion materialisiert. Noch am 2. Juni 2016 360 Markus Hallersleben und Jens Hauser, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 139 [kursive Hervorhebungen durch Markus Hallersleben und Jens Hauser]. Die Zellkulturen werden bei Körpertemperatur ständig in Bewegung gehalten; vgl.: ebd., S. 151. 361 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 174; vgl. auch: ebd., S. 166, sowie O’BRYAN, S. 16. 362 Vgl. auch: Dominic Johnson, »The pains and pleasures of performance«, in: DONGER, S. 85-99, hier S. 99. 363 Vgl. die Erklärung der Wortbedeutung bei: Markus Hallersleben und Jens Hauser, in: DONGER, S. 138-153, hier S. 143.

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führte ORLAN dem Publikum diese sich für die Zukunft zu materialisieren beginnende Fiktion vor Augen, indem sie in ihrer Performance Tangible strip‐tease (en Nanonséquence) ihre körpereigenen Substanzen zunächst mittels Schläuchen durch die Zuschauerreihen lenkt, um sie anschließend in einem Bioreaktor zu kultivieren. Die Aktion diente dazu, »to unfold the ORLAN-Body on stage and in the hands of its audience, from a biological, fictional, documentary, scientific and imaginary writing.«364 Damit löst ORLAN freilich keinesfalls das Rätsel unserer Sterblichkeit. Auch nicht, wenn sie auf ihrer Internetseite eine Petition Against Death/Petition Contre la Mort (seit 2011) zur Unterschrift bereithält: »Similarly the petition against death that I have circulated […]: it is sometimes not signed, as if the petition would reciprocate, as if it had a power, an effect, as if it had a power that I haven’t given to it. It’s a playful and poetic petition like flashmobs, a strike that doesn’t have a concrete demand, that is not aimed at succeeding.«365 Und doch: »Obviously, I can sign it and I will. The simple fact to write it is a way to sign it but it’s first of all a call to other people.«366 Die Petition ist zum Zeitpunkt wenig Erfolg verheißend – aber sie ist ein gedankliches Experiment zu einer Zukunft, in der das »Was‐wäre‐wenn« Realität werden könnte. Auch die Zellkulturen des Harlequin’s Coat haben nicht überlebt. Jedoch sind neue entstanden und auch für das zukünftige Schaffen geplant.367 Ob diese prosperieren oder nicht, ist nicht von Belang: »Although this will not become a hybrid skin in the form of a coat as planned, all the questions raised in this tentative experiment are the same ones as if the hybridizing were possible. I use technologies to push at further questions about human identity: what we are, what we can be, what we want to be. I propose the use of biotechnologies precisely where they divide opinion: the mutation of the human genome without any anticipated outcome. I refuse the intentionality of striving for one result rather than another because intentions are at the root of ethical problems, not the tools themselves. By focusing on the tools and what they can do I pose all the possible ethical questions around biotechnologies. More importantly, as with any of my work, I address the question of intentionality. I aim to reflect on biotechnologies beyond the ideologies that rule human identity.«368 ORLAN besitzt entsprechend die kritische Distanz, zu wissen, dass erstens die neuen Errungenschaften sowohl im Positiven wie im Negativen zum Einsatz kommen und noch kommen werden, ebenso, dass die Intentionen eines fraglichen Einsatzes schwerlich beherrschbar sind, zweitens ist sie sich darüber im Klaren, dass sie die wissenschaftlichen Probleme wie das genetische Vorgehen der Forscher zur Kultivierung eines dauerhaften Körper-Habens nicht beeinflussen oder gar beschleunigen können wird. Worüber sie allerdings erfolgreich reflektiert, ist die menschliche Identität, darüber, 364 ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 31. Mai 2016. 365 ORLAN, »This is my body … This is my software«, in: DONGER, S. 35-47, hier S. 40. Die Petition ist zugänglich auf: www.orlan.eu/petition/[zuletzt aufgerufen am 28. Dezember 2016]. 366 ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. 367 ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016: »Of course, all the cells or bacteria […] are dead but now at Sup’Biotech, my bacteria are put in the freezer at – 80° near the HeLa cells. And I keep on to cultivate my cells and my bacterium and at Pasteur I will work with my stem cells.« 368 ORLAN, in: »The poetics and politics of the face‐to-face«, in: DONGER, S. 103-118, hier S. 118.

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ob es sie gibt und wenn ja, in welcher Form sie existiert und wo, inwiefern unser Selbst weitergegeben werden und dauerhaft überleben kann. Dazu kreiert sie den bereits von Rabelais erdachten grotesken Körper, das organlose Biotop, die beide im Werden sind: »Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen.«369 Im Deleuz’schen Sinne ist es das Ei, welches ORLAN in seinem indifferenten und noch zu keinerlei bestimmten Zweck ausstaffierten Dasein formuliert: »The BwO is the egg. But the egg is not regressive; on the contrary, it is perfectly contemporary; you always carry it with you as your own milieu of experimentation, your associated milieu.«370 Aus dem Ei erwächst in einer Gratwanderung der spätere Organismus, der – schon längst abgekoppelt von seinen Vorfahren – bereits alles in sich trägt: »The egg is the BwO. The BwO is not ›before‹ the organism; it is adjacent to it and is continually in the process of constructing itself.«371 Damit wäre auch die Frage, was zuerst da war – Huhn oder Ei – sprichwörtlich und erneut gestellt. Sie lässt sich getrost auf unsere Identität anwenden. Diese lässt sich niemals zurückbilden, sondern lediglich immer weiter ausbilden und fortführen, abgekoppelt vom Fleisch und dem Selbst der einstigen Mutter, und dennoch einen Teil ihres Leibes mit sich nehmend.372 Die Prognose und Umsetzung zu einem dauerhaften Überleben der Menschheit muss daher lauten, das Körper-Haben vom Leib-Sein abzutrennen, noch bevor es die Evolution für uns tut und damit unseren Tod herbeiführt. Ein erster Schritt stellt die beliebige Modifikation des Körpers dar, der am Ende sogar zu einem austauschbaren werden kann.373 Auch eine Cyborg-Identität wäre denkbar, indem virtuelle Avatare ins Leben gerufen werden, die uns ihre Körper leihen und umgekehrt wir ihnen unsere Identität übertragen. Ebenso eine Verknüpfung der beiden Entwürfe, eine Kombination des Menschen aus Hybrid und Cyborg, könnte das Körper-Haben vom Leib-Sein weiter entkoppeln.374 Langfristig gedacht, wird allerdings der Körper der Hinderungsgrund dafür sein, den Menschen ewig währen zu lassen. Dies sorgt für Missvergnügen 369 BACHTIN, S. 358 [kursive Hervorhebungen durch Michail Bachtin]. 370 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 181. 371 DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 182. Wichtig für diesen Gedanken ist Deleuze’ Unterscheidung zwischen dem Organ und dem Organismus: »We come to the gradual realization that the BwO is not at all the opposite of the organs. The organs are not its enemies. The enemy is the organism. The BwO is opposed not to the organs but to that organization of the organs called the organism.«; in: DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 175. 372 Vgl. nochmals: DELEUZE, A Thousand Plateaus, S. 182. 373 ORLAN, in: ORLAN und Sander L. Gilman, in: DONGER, S. 197-201, hier S. 200: »My work in forthcoming years will be developed from my propositions about and reflections on exchangeable bodies, bodies that can be grafted, transformed and healed, and the appearance of which (in pre‐programmed stages) will not be fixed anymore. These are bodies that have recycled, ›hybridable‹ matter that can be modified in its innate programming.« 374 Auch hierfür sieht ORLAN digitale und elektronische Systeme vor, die mit kybernetischen Informationen gespeist werden und so die Präsenz des Körpers in den virtuellen Raum übertragen; vgl. hierzu u.a.: www.orlan.eu/[zuletzt aufgerufen am 28. Dezember 2016]; INCE, S. 94 und S. 96; ORLAN, »The Complex Dialectics of Virtuality and Reality«, in: KEREJETA, S. 227-229, hier S. 228; sowie ORLAN, in: Email-Korrespondenz zwischen ORLAN und der Autorin vom 27. Juli 2016. Vgl. auch Kapitel III.2.

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angesichts der zeitgenössischen biogenetischen, technischen wie digitalen Möglichkeiten, denen der Körper schlichtweg im Wege steht. Und auch Darwins Evolutionstheorie besagt, dass ein Körper, der aufgehört hat, sich an eine sich verändernde Umwelt anzupassen, überhaupt nicht mehr gebraucht wird, gar überflüssig geworden ist.375 Der entscheidende zweite Schritt, so ORLAN, muss entsprechend die Befreiung vom Körper sein: »Like the Australian artist Stelarc, I think that the body is obsolete. It no longer is adequate for the current situation. We mutate at the rate of cockroaches, but we are cockroaches whose memories are in computers, who pilot planes and drive cars that we have conceived, although our bodies are not conceived for these speeds. We are at the threshold of a world for which we are neither mentally nor physically ready.«376 Um das Körper-Haben in einer fernen Zukunft erfolgreich überwinden zu können, müssen wir weiterhin, vor allem aber nach unserem Tod, an diesem festhalten. Dies zum einen, weil – wie weiter oben abgeleitet – der Organismus zusammengenommen mit unserem Gehirn und in Ermangelung eines praktikablen Ersatzes hierfür nach wie vor unserer Identität eine Herberge bietet. Zum anderen, weil wir auf diesen Körper und dessen DNA für eine zukünftige Wiederaufbereitung in Form eines Hybrids nicht verzichten werden können. Nur dann werden sich Körper und Identität wieder zu einem Leib-Sein vereinen können. So plant ORLAN, ihren einmal verstorbenen Körper als Kunstwerk und gleichzeitige Reliquie einem Museum zur Aufbewahrung zu überantworten, um in einer geeigneten und der jeweiligen Zeit angemessenen Erscheinungsform ad infinitum leibhaftig zu sein.377 Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erweisen sich nicht nur die Reliquien der christlichen Glaubensvorstellung, sondern eben auch ORLANs zunächst paradox erscheinende Negation des Körpers durch dessen Hinterlegung als eine Verneinung des Todes. Nochmals sei deshalb abschließend auf ORLANs eigentliches Anliegen im Rahmen der Bio Art verwiesen: »My work is a struggle against the innate, the inexorable, the programmed, Nature, DNA (which is our direct rival as artists of representation), and God!«378

Am Ende der Zukunft: Eine Ära des Massenindividuums In dieser zukünftigen Welt des Massenindividuums wird es schwerfallen, eine persönliche Identität zu entfalten oder zu erhalten, zumal bereits der Körper jedweder gewünschten Selbst-Manipulation zu gehorchen hätte. Würde man den in dieser Schrift erörterten angestrebten Eigenschaften des vollkommenen Körpers Folge leisten, so hätte dieser idealtypisch schön, alterslos und ohne entstellender angeborener oder krankheitsbedingter Makel, vor allem aber ein unsterblicher zu sein. Berücksichtigt man die 375 Vgl.: Winfried Menninghaus, in: HAUSTEIN, S. 151-164, hier S. 153-154, sowie O’REILLY, S. 137. 376 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 325; vgl. auch Anhang, Punkt III. Ähnlich äußert sich ORLAN auch ein Jahrzehnt später zum Thema in: ORLAN, »EXTRActions: A Performative Dialogue ›with‹ ORLAN«, in: O’BRYAN, S. 141-150, hier S. 143-144. 377 Vgl. u.a.: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 326; vgl. auch Anhang, Punkt III, sowie Julian Zugazagoitia, »Orlan: the embodiment of totality?«, in: KEREJETA, S. 230-232, hier S. 230. 378 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 325; vgl. auch Anhang, Punkt III.

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Abhängigkeiten zwischen Körper-Haben und Leib-Sein, dann formt das eine das andere. Indem der Körper modifiziert wird, manipulieren wir auch unsere Identität, unser Selbst, wie wir es wünschen, und das Selbst, wie es die Anderen sehen. Tut dies jeder, führt der individuell veranlasste Gestaltungsprozess an unserem Körper zu einer flächendeckenden Subjektivierung jedweden Daseins: »[G]enetic manipulation offers the possibility of shaping a humanized matter. Identity is building itself a cultural form through technological means.«379 Der für den Menschen furchterregendste Gedanke ist jedoch der Verlust seines Körpers sowie seiner Identität und damit des Lebens an sich. Es wundert deshalb wenig, dass lebenserhaltende Maßnahmen für das einzelne Individuum nur als recht und billig erachtet werden, ebenso wie Schritte, die den Bestand des Nachwuchses auf Dauer bereits bei dessen Erzeugung sicherstellen. Schon längst muss dabei die schwerwiegende Frage nach dem, was aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht machbar ist, und demjenigen, was man auch in die Tat umsetzen sollte, abgewogen werden. Carmen Kaminsky nennt es die »Wechselwirkung von Können und Sollen«, welche unweigerlich zu »ethisch‐pragmatischen Problemen« führt.380 Schon heute ist man sich darüber im Klaren, dass das (gen-)technisch Machbare lediglich an den Grenzen einer kümmerlichen Phantasie scheitert. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass beide Parteien – die Forschung wie das Individuum – darauf pochen, das bioethisch Erschwingliche und das bioethisch Erzwingbare gegeneinander abzuwägen. Dabei kollidieren notwendigerweise die menschliche Natur samt ihrer eigennützigen Forderung nach Liberalismus mit der Illusion, der selbst verliehenen Autorität und der Überheblichkeit des Menschen, sich selbst als ein endlos gestaltbares, multiplizierbares und unsterbliches Wesen selbst zu erschaffen und zu erhalten. Dem gegenüber steht die ständig widerhallende Frage nach der rechtlichen und moralischen Rechtfertigung einer tatsächlichen Anwendung der erworbenen Fähigkeiten. Während die einen das Wissen und Können um die Herstellung und den Erhalt des Menschen nach Maß als eine durchaus gewinnbringende Errungenschaft begrüßen, zweifeln andere an der Wertigkeit und Authentizität eines Lebens, dessen Körper und Identität unter künstlichen und von Menschenhand gelenkten Bedingungen herbeigeführt wird. Auch ein Vergleich zwischen dem im Labor entstandenen oder im Nachgang verbesserten Menschen und dem natürlich erzeugten Leben würde zu Abwägungen und damit neuen Maßstäben führen. Der naheliegende Rückschluss lautet, dass Leben zu geben und zu erhalten ja nur die Kehrseite eines Tuns ist, welches Leben beenden oder erst gar nicht zum Einsatz kommen lassen könnte. Leben geben und nehmen, gebären und töten liegen hier nahe beisammen.381 Nehmen wir etwa an, ein neues Leben würde in‐vitro erzeugt, dabei gentechnisch verändert, von einer Mutter ausgetragen und geboren – es wäre dennoch ein Baby, das zur Welt kommt, genährt, 379 Bernard Andrieu, »Embodying the Chimera: Biotechnology and Subjectivity«, in: KAC, S. 57-68, hier S. 65, siehe auch S. 66. Vgl. darüber hinaus: Barbara Maria Stafford, in: KAC, S. 373-386, hier S. 367, sowie die Kapitel II.3.2 und III.1. 380 Carmen Kaminsky, »Toleranz als Strategie. Wie klug ist es, die Redefreiheit in der Bioethik zu beschränken?«, in: BIRNBACHER, S. 53-65, hier S. 60. 381 Michael Wunder, »Bioethik und Gewissen. Zur Debatte um den Menschen nach Maß und dem Maß der Toleranz«, in: BIRNBACHER, S. 41-51, hier S. 42.

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erzogen und von der Familie wie Umwelt sozial geprägt wird. Nehmen wir weiter an, es wäre »Baby Adam«, für dessen Leben im Jahr 2000 Eizellen und Spermien ausgewählt und dessen Gene selektiv verändert wurden, um seine kranke, vor ihm geborene Schwester in Form von Spenderorganen am Leben zu erhalten. Adam ist infolgedessen ein Kind, dessen biogenetisch gestaltetes Leben sich in dem Bewusstsein, als Hilfsmittel entstanden und geboren worden zu sein, weiterentwickelt, was wiederum das soziale Miteinander in der Familie und mit der Umwelt prägen wird.382 Das bewusste Wahrnehmen seiner eigenen Künstlichkeit einerseits, und seines zweckbestimmten Daseins andererseits, können zu einem emotionalen wie intellektuellen Chaos beitragen, das uns angesichts einer immer weiter fortschreitenden »Anthropomorphisierung der Technologie und eine[r] Artefaktibilisierung des Menschen«383 alle in wachsendem Maße existentiell verwirren wird. Der Ethiker Bert Gordijn beschreibt den Konflikt wie folgt: »Wenn wir über uns nachdenken, unterscheiden wir gewöhnlich zwischen Natur und Kultur, zwischen natürlich und künstlich, bewusst und unbewusst, organisch und nichtorganisch. Diese Unterscheidungen aber werden zunehmend obsolet werden. Und doch repräsentieren diese Gegensatzpaare für sehr lange Zeit essenzielle Elemente des menschlichen Selbstverständnisses. Wir werden also zusehends Probleme haben, uns selbst zu kategorisieren und uns von technischen Systemen zu unterscheiden.«384 Mit dem Körper einer Chimäre ausgestattet, stellt sich wieder einmal die Frage nach dem Sitz und der Ausbildung unserer Identität. Dennoch darf nicht unterschlagen werden, dass wir Zeitgenossen zum einen schon seit langem als Chimären geboren werden385 und uns zum anderen an den immer weiter wachsenden hybriden Anteil unseres Körpers gewöhnt haben. Hirnimplantate, Neuropharmaka und so genannte »smart drugs«, welche die Körperfunktionen wiederherstellen oder verbessern, sind hierbei noch die Ausnahme der Regel. Der Nutzen von Zahnimplantaten, technisch‐operativen Sehhilfen oder die kosmetische Chirurgie gehören jedoch bereits nicht mehr zu den als verwerflich oder ethisch befremdlich beurteilten Maßnahmen, sondern stellen den Normalfall einer Verbesserung des Men-

382 »Baby Adam«, geboren am 29. August 2000, ging als erstes Designerbaby in die Geschichte ein. Adam Nashs Gene wurden pränatal beeinflusst, um nicht dieselbe Erbkrankheit wie seine Schwester zu entwickeln und gleichzeitig diese mit seiner Blutspende heilen zu können. Vgl. auch: davidkremers, in: KAC, S. 295-300, hier S. 297; sowie Bernard Andrieu, in: KAC, S. 57-68, hier S. 67. 383 Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier S. 201. 384 Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier S. 201-202. 385 Siehe weiter oben in diesem Kapitel sowie Eduardo Kac, in: KAC, S. 163-184, hier S. 180.

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schen dar, weswegen Bert Gordijn urteilt: »Früher oder später werden wir alle Cyborgs sein.«386 Auch wenn man sich über den Nutzen oder Schaden all dieser Möglichkeiten einig wäre, so stellt ein weiteres Problem der gleichberechtigte Zugang zu diesen Erkenntnissen, Anwendungen und lebensverbessernden wie -erhaltenden Maßnahmen dar. Die invasiven Behandlungen und der Genotyp scheiden bereits heute im Gesundheitswesen die sozialen Gruppen voneinander.387 Hinzu kommt wieder einmal die Frage nach dem Grad der Veränderbarkeit eines Menschen und damit die Auswirkungen auf dessen Identität: »Insofern verändert Technologie die sozialen Rollen erheblich und wirkt sich auch auf die Identität aus. Und je größer dieser Einfluß auf Ihre Persönlichkeit, auf Ihre kognitiven Fähigkeiten, auf Ihre Stimmungen uns so weiter ist, desto größer wird der Einfluss auf Ihre Identität sein.«388 Dies beeinflusst wiederum das Miteinander untereinander, indem wir keine belastbaren Rückschlüsse mehr anhand der Äußerlichkeiten des Körper-Habens und der Verhaltensweisen des Leib-Seins auf die Identität unseres Gegenübers ziehen können. Und wer entscheidet künftig über den Zugang, die qualitative und quantitative Verteilung und darüber, wer Nutznießer der den Menschen verbessernden und glücklich machenden Errungenschaften sein wird? Wer hat die Macht, darüber zu bestimmen: die Gesellschaft – am unwahrscheinlichsten –, die Politik, die Wirtschaft oder schlichtweg das Kapital? Und umgekehrt: Hält, wer die BioMacht besitzt auch automatisch die politischen und wirtschaftlichen Fäden in Händen? Ob dieser Fragen, gibt Cary Wolfe Folgendes zu bedenken: »Bioethics presumes to serve as the self‐designated conscience for those contemporary bioethical apparatuses and institutions that exert power over life and death, but the obvious problem here is that the functions of ›conscience‹ and those of establishing policies palatable to both state and economic power do not always or even often go hand in hand. Moreover, while there may be precious few compulsions on the side of conscience for the field of bioethics, there is no shortage of them on the side of policy, so that the tail does indeed wag the dog […].«389 386 Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier S. 202. Gordijn führt in diesem Zusammenhang auch die fragwürdigeren Möglichkeiten der den Menschen verbessernden technischen wie medikamentösen und transgenetischen Maßnahmen an. Hierzu zählt er die Interessen der amerikanischen DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) an der Forschung zu Hirn-ComputerSchnittstellen, deren Erkenntnisse im Krieg etwa zur Fernsteuerung von gedanklich gelotsten Kampfrobotern eingesetzt werden könnten, genauso wie im Straßenverkehr oder – auf einer allgemein praktischen Seite – im Haushalt. Auch medizinisch erprobte Substanzen wie Ritalin oder Modafinil gehören mittlerweile zu den häufig verabreichten, wenn auch umstrittenen Psychopharmaka, nicht zu vergessen die Dopingmittel, welche nicht nur die geistige, sondern vor allem die physischen Kapazitäten des Menschen verbessern. 387 Vgl. u.a.: Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 130. 388 Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier 205. 389 Cary Wolfe, »Bioethics and the Posthumanist Imperative«, in: KAC, S. 95-114, hier S. 96. Auch der Hirnforscher Ad Aertsen hegt ganz praktische Zweifel an diesem Zukunftsszenario: »Und es könnte zum Beispiel die Krankenkasse sein oder die Regierung, die entscheidet, wie viel in wen investiert wird. Das ganze Spektrum all dieser Technologien bekommt man natürlich nicht umsonst. Und die Frage ist, ob jeder zu ihnen Zugang haben wird oder nur bestimmte Kategorien von Leuten, die irgendwelche Tests bestehen und wichtig für die Gesellschaft sind. Das sind Fragen der Ethik, die dann kommen werden. Ich möchte nicht gerne auf dem Stuhl desjenigen sitzen, der das zu ent-

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Dieser Diskriminierung, die sich im Gesundheitssystem abbildet und derzeit die Kranken und Alten betrifft, die ihrer – je nach Sichtweise390 – schuldhaften oder unverschuldeten Unvollkommenheit wegen benachteiligt werden, wird anhand zusätzlich ermittelbarer Daten der individuellen DNA weiter Vorschub geleistet. Der Zugang zu diesen Informationen dient den verschiedenen wirtschaftlich denkenden Interessensgruppen der Vorteilsnahme. Der Besitz von derart sensiblen Daten und der Umgang damit, zieht auch eine Demarkationslinie zwischen denjenigen, die persönlichen Nutzen daraus ziehen können, und denjenigen, denen der Zugang hierzu in jederlei Hinsicht verwehrt bleibt. Diskriminiert werden dann auch diejenigen Individuen, die einen individuellen Gewinn für ihr Körper-Haben und Leib-Sein erzwingen wollen: etwa die Untoten, die sich in einer fernen Zukunft eine erfolgreiche Manipulation ihrer eigenen DNA erhoffen, um wieder ins Leben zurückgeholt zu werden. Ihnen wird weder eine Rehabilitation ihres Seins gegönnt, aber auch nicht der Tod, der weder feierlich begangen, noch respektvoll betrauert werden will.391 In der Folge ist sogar zu befürchten, dass die erfolgreiche Anwendung der bislang gewonnenen Erkenntnisse umgekehrt zu einer Diskriminierung derjenigen genetischen Hybride führen wird, die sich die Umsetzung der erfolgversprechenden Manipulationen leisten können, dazu auserwählt werden oder den Wagemut besitzen, diese zuzulassen und wirksam von Alter, Krankheit und dem Tod zu heilen sind: »Calling this construct transgenic gives it a dimension of endogenous abnormality, a hidden dimension that divulges the underlying pressure of degrading and impure procedures that engendered it.«392 Diese möglichen Szenarien müssen weiter beobachtet werden, noch bevor vollmundige, aber fragwürdige Versprechungen der durchwegs positiv gestimmten Befürworter suggerieren, manipulative und biogenetische Eingriffe würden allen Individuen gleichermaßen zum Wohlbefinden verhelfen, indem das Leid der Menschheit insgesamt gemindert werde, und zukünftig auch dem uneingeschränkten Fortbestand jedes einzelnen Selbst stattgegeben werden könne. Eine Maximierung des ausschließlich Positiven für jedermann in Form der Herausbildung des ewig jugendlichen Idealtypus, der weder altert, noch erkrankt, geschweige denn dem Tode geweiht ist, würde letztlich aber auch zu folgendem Szenario führen: das zur Endlosigkeit verdammte Leben müsste nicht mehr verdient oder mit Verstand und Motivation so lange wie möglich erhalten werden, denn es wäre vorhanden, der damit aufkeimenden Langeweile wäre standzuhalten, indem fehlende Bildungslücken geschlossen und Zeit sinnvoll verbracht werden kann, die für eine kurze Lebensdauer errechneten sozialen Systeme bedürften scheiden hat. Aber ich weiß auch nicht, ob ich Leute kenne, denen ich es gerne in die Hand geben möchte.«, in: Ad Aertsen, in: HÜLSWITT, S. 137-157, hier S. 157. 390 Vgl. hierzu die Kapitel II.3.2 und III.3. 391 Vgl. Kapitel II.3.2 sowie Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 130. 392 Louis Bec, »Life Art«, in: KAC, S. 83-92, hier S. 86-87. Auch rechtliche Probleme sind zu erwarten. So denkt Lori B. Andrews, die zu den Mitgliedern der »National Bioethics Advisory Commission« unter Bill Clinton zählte, in einem Gedankenexperiment über einen »geklonten Bill Gates« nach: weder für die persönliche Intention des Genannten gibt es laut bestehender Gesetze hierüber rechtliche Vorgaben, leider aber auch nicht zu einem Klon, der durch Fremdeinwirkung und gegen den Willen von Bill Gates entstünde; vgl.: Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 126.

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der Umstrukturierung und Neugestaltung, der Erhalt der Menschheit müsste monetär und durch nachwachsende Ressourcen gewährleistet sein und die Frage nach dem Wohin mit den anstehenden Menschenmassen gelöst werden. Zunächst würde der Einsatz und die schrittweise Umsetzung der Errungenschaften der Wissenschaften allerdings zu einer gemischten Gesellschaftsform führen, deren Verträglichkeit sich noch zu erweisen haben wird: da wären die wohl nach wie vor auf natürliche Weise gezeugten und weiterhin sterblichen Lebewesen, diejenigen, deren Leben verlängert wird und/oder deren Körper überarbeitet wurden, die im Kryo-Tank oder als Reliquie Suspendierten und die wiedererweckten, erneut Sterblichen oder von nun an Unsterblichen, die digitalen Identitäten in der Cloud, im Biocomputer oder Gedächtniscontainer, die Re-Produzierten und die geklonten Doppelgänger, die hybriden Neuschöpfungen und schlussendlich die neu hinzukommenden Unsterblich-Geborenen. Eine in sich hybride Gesellschaft an alten und neuen Körper- beziehungsweise Leib-Modellen fordert mehr noch als heute den absoluten Willen zur Integration, der – denkt man darüber nach – nur schwerlich aufzubringen sein wird. Zurück von einer imaginären zu einer wirklichen und zugleich sinnbildlichen Möglichkeit der Integration der so unterschiedlichen und seit geraumer Zeit überdachten Lebensformen und damit dem bioethischen Diskurs, wie er bis hierher geführt wird. Der Konflikt entspinnt sich freilich auch hier in der Diskrepanz zwischen der moralischen Verpflichtung zu helfen und zukünftiges Leid anhand der zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern und der ethischen Frage, ob dies um jeden Preis – und zu welchem Grad – noch gegen die Natur geschehen soll und darf. Und auch die bioethische Expertise ist sich uneins in ihrem Urteil, denn der überquerte Grat bietet einmal die Aussicht auf einen unakzeptablen Missbrauch dieses Wissens und ein anderes Mal Aussicht und Hoffnung auf Besserung, die Erfüllung von intensiv Begehrtem und dem für das Individuum als so notwendig erachteten Streben nach einer verlängerbaren Dauer des Daseins.393 Die Philosophie und die Soziologie wiederum sind – ähnlich der Bio Art – geneigt, gänzlich andere Verweise zu geben als es die Bioethik vermag. Sie liefert damit mögliche Antworten auf existentielle Bedrängnisse und die unseren Leib lebensbedrohlich quälenden Fragen und sie vermögen gleichzeitig Trost zu spenden, ob des nach wie vor unerfüllbaren Begehrens nach einem ewiglich währenden und gesunden Fortbestand. Setzt man am entgegengesetzten Ende des bisher Überlegten an, zu einem Zeitpunkt, wenn die gesamte Menschheit imstande ist, dauerhaft zu überleben und ungeachtet der eben aufgelisteten Probleme, die es zu lösen gelte, so ist daran zu erinnern, dass nicht nur die Guten überleben werden. Wenn aber auch die Bösen zu einem geretteten Bestand der Menschheit gehörten, wäre das für andere eine ebenso dauerhafte Strafe, 393 Beispielhaft sei hier auf die Stammzellenforschung verwiesen: hierfür werden Embryonen genutzt, die nicht eigens für die Zwecke der Forscher entwickelt werden dürfen. Jedoch dienen die überflüssig gewordenen künstlich befruchteten Embryonen, die nach der Erfüllung eines Kinderwunsches elternlos bleiben würden, speziell wissenschaftlichen Zwecken und werden nicht verworfen; vgl. Hans R. Schöler, in: HÜLSWITT, S. 58-80, hier S. 77. Dem wäre hinzuzufügen, dass sich die Fragwürdigkeit des Verfahrens für viele schon bei einer quantitativ hohen Anzahl an künstlich befruchteten Eizellen ergibt, deren Austragung eventuell nicht erfolgreich verläuft und deren verbliebener Rest für die Gesellschaft überflüssig geworden ist.

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die keinerlei Gnadenerlass in Aussicht stellte.394 Ein Für-Immer kann zur Qual werden, auch dann, sofern ein Weiterleben nicht bei gesundem Verstand und Leib gewährleistet werden könnte. Das ersehnte Ideal der Ewigkeit würde zu einem Weiterleben-Müssen degradiert. Positiv formuliert hieße das für unsere derzeitige Situation, dass auch die Bösen eines Tages sterben müssen und diejenigen, die schweres und dauerhaftes Leid zu tragen haben, sterben dürfen. Andererseits gilt es zu bedenken, dass die Fähigkeit des Menschen, Leid zu empfinden, auch dessen Mensch-Sein ausmacht.395 Es prägt unsere Empfindsamkeit gegenüber unserem Körper und der ihn umgebenden Welt, aber auch die Seele und das Mitempfinden mit dem Anderen. Und obwohl das Leid nicht ewiglich währen darf, so erscheint es doch gerecht, dass alle gleichermaßen leiden, sich darin läutern können, ihnen Katharsis zu Teil wird. Die Unsterblichkeit eines alterslosen und des Leidens nicht fähigen Leibes wäre auch deswegen wenig kostbar, weil sie empfindungslos, ohne Anreize oder einen Antrieb verliefe und damit bedeutungslos wäre: »Wäre der Mensch in einem gänzlich unverständlichen Sinne lebendig, nämlich ohne tödlich zu sein, dann ›lebte‹ er ohne jede Bedeutsamkeit.«396 Der Rückschluss daraus ist, dass die Makellosigkeit des Lebens eben nicht in seiner Makellosigkeit besteht, sondern in seiner Einmaligkeit und in seiner Endlichkeit als Perspektive.   Es ist deshalb erneut zu überdenken, ob eine Ära des zur Unsterblichkeit manipulierten Massenindividuums erstrebenswert ist. Eine Ära des Menschen, dessen künstliche Herstellung sowie Wiederaufbereitung zu neuen Sorgen und Verpflichtungen führten, welche die bisher bekannten bei weitem übertreffen könnten. Eine Ära von massenhaft erzeugten Identitäten, die sich in ihren Idealen und anzustrebenden Normen gleichen und bei einem Nicht-Tätig-Werden der lebenserhaltenden Maßnahmen dennoch alle zum Tode verurteilt wären, oder – im schlimmsten Fall und bei Eintreten einer Forschungsleistung, die das Leben unsterblich machen könnte – zu einem immerwährenden Verbleib verdammt wären. Dass der Wille zur Evolution aller Lebewesen allerdings bereits gebrochen ist, zeigt das gleichnishafte Erlebnis Marina Abramović’: »When I was on a very small island in south Thailand, only one kilometre long, I discovered that there were no shells there. So that, the so‐called ›naked crabs‹ had no houses. Normally they would find small shells, use them as houses and carry them around. Because they couldn’t find shells, those hermit crabs would go into Nivea containers [that] tourists would leave on the beach and carry them on their shoulders as their own houses. I found it so sad that three hours later, I took a boat to another, bigger island, where natives were selling shells to tourists. I bought three kilos of small shells suitable for houses for the little crabs and I went back to the small island by boat. All day I was trying to teach one particular crab to take off the Nivea container from his back and put on a real 394 Vgl. auch: David Gems, in: HÜLSWITT, S. 81-99, hier S. 93. 395 Vgl.: Aaron Ben-Ze’ev, in: HÜLSWITT, S. 226-242, hier S. 240, sowie Kapitel III.4. 396 Rainer Marten, in: HÜLSWITT, S. 15-29, hier S. 24. Vgl. auch Bert Gordijn, in: HÜLSWITT, S. 187-211, hier S. 199, der folgendes Beispiel anführt: »[E]in schönes Musikstück wäre nicht so schön, wenn ich es in saeculum saeculorum hören würde. Deshalb glaube ich, dass ein Zusammenhang zwischen intrinsichem Wert und Limitationen besteht, Anfängen und Enden.« [kursive Hervorhebungen durch Bert Gordijn].

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shell, but every time he went back to his Nivea container and, you see, evolution. In the end they love plastic better. You see how far we’ve gone in changing nature.«397 Nicht nur für den Menschen, auch für das Tier gibt es erstrebenswerte Verbesserungen, die der Natur widersprechen. Aber vor allem der vom Verstand gelenkte Mensch verspürt nicht nur das Verlangen nach Schutz und Praktikabilität einer ergriffenen Maßnahme. Wir Menschen ergreifen die Gelegenheit zur Korrektur unserer Lebensumstände und sind dabei zugleich in der Lage, hierfür in die natürliche Ordnung unseres Entstehens und das Wie und Wie‐lange des körperlichen Fortbestandes einzugreifen. Das Dasein der Krabbe erfährt kaum eine Veränderung, lebt sie nun in einer Muschelschale oder in einer Niveadose. Es ist also von Bedeutung, wie für uns Menschen die Definition von einem Leben lautet, das uns und unserem Selbst – und nicht demjenigen des Anderen – gerecht wird und als lebenswert erscheint: »[W]e have to rethink and put to the test our sancrosanct idea of what we understand by ›human‹ and ›humanity‹, as well as our understanding of the nature of the relationship between humans, animals/plants, and machines.«398 Unser individuelles Dasein orientiert sich dabei an so vielfältigen Faktoren den Körper und unsere Identität betreffend und an demjenigen, was nach heutigen Standards und nach dem Begreifen unserer DNA daran manipulierbar ist, dass die Frage, ob dies für ein persönliches Wohlbefinden ausschlaggebend sein kann, ins Hintertreffen gerät. Die Frage, die da lautet: Können diese Standards die Interaktion zwischen uns Menschen, die Entstehung und den Verbleib unserer Identität, das Leib-Sein ausreichend erklären, fördern und im Falle unseres Ablebens auf ein Neues imitieren? Diese Frage zu beantworten, danach streben die Wissenschaften und die Kunst gleichermaßen. Beide möchten begreifen, welche sozialen Implikationen aus dem Wissen zur und der stattfindenden Manipulierbarkeit um ein Menschenleben aufgeworfen werden, welche Begrenzungen unserem Dasein auferlegt sind. Beide streben nach Verhaltensregeln den Einsatz dieser Maßnahmen betreffend. Hierbei stehen die zum Teil konkurrierenden Rollen von Wissenschaft und Kunst auf dem Prüfstand. Sowohl die Wissenschaften begehen in ihrem Tun dabei – vergleicht man die lautenden nationalen Gesetze und die jeweiligen ethischen Vorgaben untereinander – Untaten. Beide sind dazu im Stande, ungeborenes Leben, hybrides Dasein und in‐vitro erzeugte Organismen zu vernichten. Aber warum sollte der Bio Art erlaubt sein, was der Wissenschaft, und darin wiederum den Bio- oder Lebenswissenschaften, zum Teil untersagt wird und umgekehrt?399 Worin besteht der Unterschied, wenn die Forschung neues Leben hervorbringt, dieses verändert und damit experimentiert, solange, bis es lebensfähig erscheint, im Gegensatz zu den Künstlern, welche DNA generieren, sie multiplizieren, kreuzen und züchten, das Extrakt sich zu fremden Wesen ausbilden lassen, welche im Museum vor sich hinvegetieren und am Ende durch eine bloße Berührung des Rezipienten sterben?400 397 Marina Abramović, zitiert nach: Kristin Stiles, in: BIESENBACH, S. 33-94, hier S. 94. 398 Jens Hauser, in: SILVESTRIN, Art., 2015, n.p. 399 Vgl. u.a.: Lori B. Andrews, in: KAC, 125-149, hier S. 125 und S. 141. 400 Vgl. u.a.: Oron Catts und Ionat Zurr, in: KAC, S. 231-247, hier S. 237 und 239: »During the early years of our practice we could not present the living semi‐living sculptures outside of the confines of the laboratory. Besides the reluctance of galleries to present living/moist art, and the regulati-

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Denken wir an Eduardo Kacs GFP-Bunny Alba (2000). Auf einer transgenetischen Ebene ist der Hase nichts Anderes als die fluoreszierenden Zierfische, die alleine ihres hübschen Anblicks wegen für den Normalverbraucher gezüchtet werden. Und doch erregte Alba bei weitem mehr Aufsehen und Widerspruch als die massenhaft manipulierten aquatischen Haustiere. Der Unterschied findet sich in der Historie des Hasen, in der Offenlegung des Prozederes seiner Entstehung und der Benennung der Motivation hierzu. Eduardo Kac eröffnet damit den Diskurs über das im Labor gezüchtete Leben, welches den Übergang zur Norm erprobt: das Labor-Objekt wird zum sozialen Subjekt. Alba ist damit ein Kunstwerk, welches zu einem Repräsentanten seiner eigenen Produktion wird.401 Ethische, politische, philosophische und soziale Fragen, die zunächst nicht den Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis bilden können, verquicken sich in der Bio Art mit einer lebensnahen Praxis des erforschten, rein empirisch motivierten Sachstandes. Der Künstler George Gessert geht deshalb von einer bewusstmachenden Rolle der Künste aus: »Most experiments fail, but I believe that art can increase our chances of success, as well as warn us away from the worst kinds of failure. […] Art involves a full range of emotional, intellectual, social, and ethical energies, and utilizes every kind of awareness […]. Other disciplines deliberately downplay or ignore much of what constitutes awareness. Science, for example, necessarily distances itself from pure emotion. Art works in full view of the public, and is widely recognized as everyone’s business. Evolution is also everyone’s business. The more artists explore genetics and evolution the better.«402 Kunst überprüft damit die Norm, den bestehenden Status quo. Sofern sie dabei Kontroversen lostritt, ist auch dies als Teil des Kunstwerkes zu betrachten. Kunst ist in diesem Fall selbsterklärend, denn der sich an diese Arbeiten anschließende Diskurs wird gelenkt von den sich widersprechenden Parteien, deren Argumente es nun für jedermann neu zu überdenken gilt. Lori B. Andrews trifft den Nerv der hitzig geführten Debatte zur Bio Art – und damit in gleichem Maße zur Biotechnologie –, indem sie das Folgende fordert: »It’s time to go beyond thinking ›Gee Whiz! Isn’t it amazing they can do that?‹ We can use life‐science art to think about the ways in which people can control the technology, rather than the technology controlling ons involved in receiving permission to present life tissue constructs in a public domain, there are also the practicalities involved in setting up the basic requirements for the survival of semi‐living sculptures outside of the lab. The semi‐living sculptures need to be kept in sterile conditions, immersed in nutrient media and kept at a temperature which suits their needs (mammalian tissue in 37 degrees Fahrenheit, fish and amphibians can be left at room temperature). […] At the end of every installation we faced the ultimate challenge of an artist – we have to kill our creatures. Transferring living material across borders is difficult and not always possible, and as there is usually no one who is willing to ›adopt‹ the semi‐living entities and feed them (under sterile conditions) daily, therefore we have to kill them. The killing is done by taking the semi‐living sculptures out of their containment and letting the audience touch (and be touched by) the sculptures. The fungi and bacteria which exist in the air and on our hands are much more potent than the cells. As a result, the cells get contaminated and die (some instantly, and some over time). The Killing Ritual also enhances the idea of the temporality of living art and the responsibility which lies on us (humans and creators) to decide upon their fate.« 401 Jens Hauser, in: SILVESTRIN, Art., 2015, n.p. 402 George Gessert, »Why I Breed Plants«, in: KAC, S. 185-197, hier S. 191-192.

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the people.«403 ORLAN fasste diese Bedenken noch kürzer: »Remember the Future.«404 Die Bio Art bietet dem Rezipienten an, die dominierenden Ideologien aus der Distanz zu betrachten, um zu Alternativen bezüglich der probaten, aber weiterhin diskutablen Veredelung der Spezies Mensch zu gelangen.   Jeder groteske Körper – der von ORLAN neu entworfene, der von Gregor Schneider in Räumen gelagerte und abgespeicherte, unser eigener –, wie er von Bachtin beschrieben wurde, wird sich also auch in einem postgenetischen Zeitalter in regelmäßigen Rhythmen und Konvulsionen Bahn brechen und nach seiner Befreiung suchen, indem er die bestehende Gesellschaftsordnung durchbricht. Lediglich die Dauer dieses außerordentlichen Zustandes wird zukünftig eine andere sein. Die Degradierung des Körpers in dieser Phase lässt aber auch dann ein Körpergrab für eine neue Geburt entstehen, um nochmals mit den Worten Bachtins zu sprechen.405 Der Tod, der wohl nie zur Gänze – und dann nur mit minder Erfolg verheißendem Gewinn für die Menschheit – abgeschafft werden kann, bedeutet dann nichts Absolutes, sondern die Erneuerung im Sinne einer immer fortschreitenden Veredelung. So »hatte Rabelais keineswegs die biologische Erneuerung und Verjüngung des Menschen in den folgenden Generationen im Sinn. Das biologische Moment ist von ihm vom sozialen, historischen und kulturellen nicht zu trennen. Das Alter des Vaters blüht in der Jugend des Sohnes nicht auf der gleichen, sondern auf einer höheren historischen und kulturellen Entwicklungsstufe wieder auf. Das Leben wiederholt sich nicht in der Erneuerung, es geht weiter in Richtung Vollendung.«406 Das postgenetische Zeitalter tut entsprechend gut daran, nicht nur das Körper-Haben zu berücksichtigen, sondern gleichfalls auf den ganzheitlichen Menschen zu achten, der, ausgestattet mit einem Verstand und einer Seele, einem Selbst und einer Identität, das eigentliche Leib-Sein ausmacht.

403 Lori B. Andrews, in: KAC, S. 125-149, hier S. 142. 404 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 317; vgl. auch Anhang, Punkt III. 405 Vgl.: BACHTIN, S. 71. 406 BACHTIN, S. 452, vgl. auch Kapitel II.3.1.

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V. Transgression in der Kunst. Eine Apologie

Der Erkenntniswert einer Grenzüberschreitung in der Kunst hängt insbesondere davon ab, welche Vorstellungen von und Erwartungshaltungen an die Kunst man hat. Landläufig verspricht Kunst in erster Linie schöngeistigen wie intellektuellen Genuss, Zerstreuung und Kurzweil. Allerdings vergisst man dabei, dass Kunst auch mit als unangenehm und als abstoßend bewerteten, gar unlauteren Mitteln und unter erschwerten Rezeptionsbedingungen zu ertragreichen Einsichten und Begegnungen führen kann. Es ist ein Unterschied, welche Zweckmäßigkeit man der Kunst zugrunde legt: diejenige einer zweckmäßigen Erquickung ohne jeglichen Zweck1 , oder diejenige einer zweckhaften Erfahrung. Tolstoi differenziert mit einem prägnanten, wenngleich überspitzten Beispiel zwischen diesen beiden Zielen einer Zweckmäßigkeit: »Und in derselben Weise wie Menschen, welche glauben, daß Zweck und Bestimmung der Nahrung Kunst sei, den wahren Sinn des Essens nicht erfassen, so können auch Menschen, die den Zweck der Kunst im Genusse sehen, den wahren Sinn und die Bedeutung der Kunst nicht erkennen, da sie der Thätigkeit, welche ihren Sinn in dem Zusammenhang mit anderen Erscheinungen des Lebens hat, den falschen und ausschließlichen Zweck des Genusses zuschreiben. – Die Menschen haben erst dann begriffen, daß der Sinn des Essens die Ernährung des Körpers ist, als sie aufhörten, den Genuß für den Zweck dieser Thätigkeit zu halten. Dasselbe ist auch mit der Kunst der Fall. Die Menschen werden den Sinn der Kunst erst dann erfassen, wenn sie aufhören werden, den Zweck dieser Thätigkeit in der Schönheit, d.h. im Genusse zu sehen. […] Und ebenso wie eine Betrachtung darüber, warum der eine Birnen, der Andere Fleisch gern ißt, keineswegs zu einer Definition dessen beiträgt, worin das Wesen der Ernährung besteht, trägt die Lösung der Frage über den Geschmack in der Kunst (worauf unwillkürlich die Betrachtungen über die Kunst zurückgeführt werden) nicht nur nicht zur Aufklärung dessen bei, worin eigentlich jene besondere menschliche Thätigkeit besteht, die wir Kunst nennen, sondern sie macht diese Aufklärung vollkommen unmöglich.«2 Um also festzustellen, wozu Kunst letzten Endes in der Lage ist, ist es hilfreich, zu erörtern, was genau Kunst ist, welche Funktionen sie zu erfüllen vermag, welche Relevanz sie besitzt, insbesondere sofern 1 Vgl.: KANT, § 15 Das Geschmacksurteil ist von dem Begriffe der Vollkommenheit gänzlich unabhängig, S. 79 sowie das Kapitel III.1. 2 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 80-81, vgl. auch S. 26-27.

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Kunst Tabus bricht und damit Grenzen überschreitet. »Und somit ist – so seltsam das klingen mag – trotz der Berge von Büchern, welche über die Kunst geschrieben worden sind, eine zutreffende präcise Definition der Kunst bis jetzt nicht gegeben worden, und zwar, weil als Grundlage des Begriffs der Kunst der Begriff der Schönheit genommen ist.«3 Die Kunst definieren zu wollen, ist ein nahezu aussichtsloses, dieser sogar diametral entgegengesetztes Unterfangen, welches deshalb zumeist in allgemeingültigen Behauptungen mündet. Der Kunst einen Sinn zuzuschreiben, diese zu erklären, ihrem grenzgängerischen Willen einen Nutzen zuzuschreiben, ist jedoch durchaus im Bereich des Möglichen.

V.1 Was ist Kunst? Die Frage danach, was Kunst sei, wird einerseits von vielen – auch dem gebildeten Durchschnittsmenschen, wie Tolstoi ihn nennt4 – als geklärt und einfach zu beantworten eingestuft, andererseits erscheint es denjenigen, die bislang nach Antworten suchten – darunter den Ästhetikern, den Philosophen, den Rechtswissenschaftlern, den Kunstwissenschaftlern und nicht zuletzt den Künstlern selbst – als durchwegs schwierig, allgemeine definitorische Kriterien zusammenzutragen, welche Kunsterzeugnisse von solchen scheiden, die nicht den Künsten zuzurechnen sind. Die bisherigen Überlegungen, Kunst nach ihrem Ursprung, nach ihrer physiologischen und psychologischen Wirkung auf den Organismus, nach ihrem praktischen Nutzen, nach dem Vergnügen, welches sie zu bereiten vermag, zu beurteilen, haben sich als ungenau in ihrer Umschreibung herausgestellt, da diese Merkmale entweder auch auf andere Dinge zutreffen, oder wichtige Eigenschaften der Kunst gänzlich vernachlässigen, zum Beispiel, dass diese zweifelsfrei nicht immer nur ein Pläsier sein muss, sondern durchaus auch unangenehme Eindrücke vermitteln kann.5 »Alle Versuche, die absolute Schönheit als Selbstzweck, als Zweckmäßigkeit, als Symmetrie der Teile, Harmonie, Einheit in der Verschiedenheit u.f.m. definieren entweder gar nichts oder sie definieren nur einige Züge von einigen Kunsterzeugnissen und decken noch lange nicht alles ab, was die Menschen seit jeher für Kunst hielten und noch halten.«6 Auch könne es eine solche Definition deshalb nicht geben, so Tolstoi weiter, weil sowohl die metaphysischen wie die praktischen Beurteilungskriterien nach den falschen Motiven einer Kunst fragten: »Die Ungenauigkeit all‘ dieser Bestimmungen kommt daher, weil […] als Zweck der Kunst der von ihr erhaltene Genuß und nicht dessen Bedeutung im Leben des Menschen und der Menschheit festgesetzt wird.«7 Deshalb ist es hilfreich, nicht von der Fähigkeit des Kunstwerkes, Genuss zu verschaffen, zu sprechen, sondern eher dem Kant’schen Begriff Folge zu leisten, der sich von wahrer Kunst verspricht, ein ungebundenes Wohl3 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 82. 4 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 21: »Die Kunst ist eine Thätigkeit, die Schönheit in die Erscheinung bringt, antwortet ein solcher Durchschnittsmensch.« 5 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 84-85. 6 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 74-75. 7 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 85.

Transgression in der Kunst. Eine Apologie

gefallen erzeugen zu können, welches befreit von allen Interessen, Bedürfnissen und Bestimmungen urteilen lasse. »Denn Gunst ist das einzige freie Wohlgefallen.«8 Demnach ist die Antwort auf die Frage, was Kunst ist, jenseits dessen zu suchen, welche epochemachenden Kunststile sie durchläuft und welche unterschiedlichen Gestalten, Formen, materiellen und konzeptionellen Ausformulierungen, welche semantischen und semiotischen Bedeutungen sie annimmt, und damit auch jenseits eines Zeit- und Kulturindexes. Denn ein deskriptives Verständnis von Kunst ist zugleich ein sie bewertendes Verfahren, welches zu keinen brauchbaren Ergebnissen führen kann.9 Bleibt noch die Möglichkeit, Kunst nicht nach ihren werkimmanenten Gesichtspunkten zu definieren, sondern stattdessen ihre wirkimmanenten Mittel und Folgen aus der Perspektive der Rezipienten zu Rate zu ziehen. Aus dieser Warte heraus können vier Kriterien den Ausschlag geben: Erstens kennzeichnet sich Kunst nach außen hin als solche, indem sie meist eine Signatur, zumindest aber eine Zuweisung10 an einen oder mehrere Künstler aufweist. Zweitens wird sie von einem Alltagsobjekt unterscheidbar gemacht, indem man Kunst auf eine exponierte Art und Weise zur Schau stellt, sei es auf einem Podest, einer Bühne oder in einer Vitrine, und man dies drittens in einer hierfür geeigneten Institution wie dem Museum oder einem anderen der Kunstwelt angegliederten Szenario tut. Das wirkimmanente Moment impliziert zuletzt die Rezeption des Kunstwerkes nicht alleine vor Ort, sondern gleichfalls in der Kunstkritik und allen hieraus folgenden Medien und publizierten Veröffentlichungen, welche die Werke in einer Kunstgeschichtsschreibung verankern. All diese Kriterien tragen etwa dafür Sorge, dass wir kein Problem damit haben, Marcel Duchamps Fountain von einem Urinal zu unterscheiden.11 Doch weder die werk- noch die wirkimmanenten Vorstellungen von einer Kunst lassen unparteiliche Aussagen zu. Ganz im Gegenteil verleihen diese Kategorisierungen einem institutionalisierten Begriff von Schönheit, Genuss und Beliebtheit gesteigertes Gewicht. Dabei ist es gerade dieses subjektive Geschmacksurteil, welches dem ästhetischen Gehalt von Kunst ein Erkenntnisurteil verweigert. Denn das uns Lust oder Unlust verheißende Geschmacksurteil sei, so Kant, mehr von der parteilichen Einbildungskraft und weniger vom Verstand gelenkt, eher von unserem ästhetischen als von unserem logischen Empfinden geleitet. Eine Begriffsvermittlung von Kunst könne der individuelle Geschmack daher nicht leisten.12 Tolstoi fasst in knappen Worten zusammen, warum dem zwangsläufig so sein muss: »Eine Erklärung dafür, weshalb etwas dem Einen gefällt und dem Anderen mißfällt, und umgekehrt, giebt es nicht und kann es nicht geben.«13 Das heißt, dass die reine Lust oder Unlust an einem (an)ästhetischen 8 KANT, § 5 Vergleichung der drei spezifisch verschiedenen Arten des Wohlgefallens, S. 57, vgl. auch davor S. 56. 9 Vgl. hierzu auch: SCHMÜCKER, Reinold, Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998, S. 127 und S. 143. 10 Eine Zuordnung kann mittels objektiv gesicherter Kriterien geschehen (Signatur, Zertifikat usw.), oder aber durch subjektive Beurteilungskriterien (Pinselduktus, Zuschreibungen, usf.). 11 Vgl. hierzu auch: SCHMÜCKER, S. 80, sowie TABOR, S. 131. 12 Vgl.: KANT, § 1 Das Geschmacksurteil ist ästhetisch, S. 47-48; § 2 Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse, S. 50, sowie § 8 Die Allgemeinheit des Wohlgefallens wird in einem Geschmacksurteile nur als subjektiv wahrgenommen, S. 65. 13 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 74.

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Existentielle Grenzerfahrungen

Gegenstand ein wertoffenes Beurteilungskriterium vermissen lässt.14 Wenn also weder die werk- noch die wirkimmanenten Kriterien und auch nicht das Geschmacksurteil des Rezipienten zu einer Definition von Kunst beizutragen vermögen, muss sie – so Kant – in der Genialität des Artefakts und dem Genius des es Hervorbringenden zu suchen sein.15   Soviel sei zu Beginn dieser Argumentation gesagt: ein Kunstwerk ist kein Zufallsprodukt. Es handelt sich dabei zunächst um ein geistiges Produkt, welches in Einzelfällen von der Imagination überwechselt in ein durch den Künstler – handwerklich oder konzeptionell – gestaltetes Objekt.16 Gleichzeitig ist es das geistige Produkt des Rezipienten, der das Werk auf einer eigenen Vorstellungsebene auf eine bestimmte Weise wahrnimmt. »Kunst wird also nicht nur durch den Vollzug ästhetischer Erfahrung allererst konstituiert, sondern hat gar keine von diesem Vollzug unabhängige Existenz.«17 Damit geschieht eine aufeinander bezogene und unauflösbare Verflechtung der werkund der wirkimmanenten Ebene eines Kunstwerkes. In beiden Fällen ist es Subjektivität, die erzeugt wird. Immer wird für die Erschaffung von Kunst eine bestimmte Formensprache gewählt, deren Gestalt und Bedeutung sich aus den folgenden Bestandteilen ergibt: dem Äußeren des Werkes und seinem entweder kunstimmanenten Bezug oder dessen auf den soziokulturellen Kontext gerichteter Blick, der sich kunstexterner Inhalte annimmt. Das Äußere eines Kunstwerkes bestimmt zunächst den perzeptuellen Eindruck und es wäre verkehrt, das fachgerechte Geschick, die Fähigkeit des Künstlers, seine Visionen zum Ausdruck zu bringen, nicht mehr mit einem »Kunst kommt von Können« beurteilen und diese Befähigung als lediglich zweitrangig bewerten zu wollen, wie dies der Kunstverteidigung häufig der Rechtfertigung dient. Dies geschieht aus der fälschlicherweise apologetischen Annahme heraus, dass etwa nicht‐figurative und als kunstfern erachtete Ausdrucksformen nicht mehr des tradierten handwerklichen Geschickes und der konzeptionellen Fähigkeit des Künstlers bedürfen, seinem Ansinnen ein entsprechendes Äußeres zu verleihen. So sind auch die vermeintlich alleine einem ozeanischen Impuls entstammenden, getröpfelten Bilder eines Jackson Pollock in jedem Fall einem handwerklich, intellektuell und konzeptionell professionell ausgeführten Vorhaben zu verdanken. Der Zufall unterliegt auch hier in der wohlweislich überlegten und umgesetzten Expression. Und umgekehrt vermag das oftmals fehlende handwerkliche Geschick eines Kasimir Malewitsch nicht dessen intellektuelles und künstlerisch außerordentlich durchdachtes und kunstgeschichtlich relevantes Ansinnen zu schmälern. Die nun über das Äußere hinausreichenden Aspekte betreffen die Deutungsmöglichkeiten des Kunstwerkes. Zunächst wäre da die kunstimmanente Reflexion, die Künstler auf das in der Geschichte der Kunst bislang Gewesene reagieren lässt. Da jeder Künstler 14 Vgl. hierzu auch: Bernd Kleimann, »Erfülltes Interesse. Worin der Reiz der Kunst besteht«, in: KLEIMANN, Bernd und Reinold Schmücker (Hg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001, S. 68-87, hier S. 81. 15 Vgl.: KANT, § 48 Vom Verhältnis des Genies zum Geschmack, S. 198. 16 Vgl. hierzu auch: SCHMÜCKER, S. 143. Der Begriff Objekt meint hier ein Kunstwerk im weitesten Sinne, welches auch Aufführungen, mediale Äußerungen sowie Konzepte umfasst. 17 SCHMÜCKER, S. 221-222.

Transgression in der Kunst. Eine Apologie

das kulturelle wie kunsthistorische Erbe, dessen künstlerische Umsetzung, den damit einhergehenden ästhetischen Kommentar samt der sie äußernden Vorbilder oder der ästhetisch weniger geschätzten Mitstreiter in einer Art Gedächtnisprotokoll mit sich trägt, kann er auch Bezug auf diesen Kunstkanon nehmen. Thema dieser künstlerischen Auseinandersetzung sind einerseits die Hommage und andererseits die Kritik an der Kunst der Vergangenheit oder der Zeitgenossen. Besser gesagt – und so verweist Anthony Julius etwas schärfer formuliert auf diese Dynamik – sieht sich der Künstler zu einer Kopie beziehungsweise einer Destruktion des bisher Stattgefundenen veranlasst.18 Damit ist die Voraussetzung für eine Geschichte der Kunst unter anderem in ihrem hermeneutischen Zusammenhang zu sehen und in den sich in einer Chronologie entwickelnden und aufeinander aufbauenden Errungenschaften, Neuerungen und Reaktionen auf das, was die Kunst bislang hervorbrachte und möglich machte. Für den Rezipienten dieser Kunst bedeutet diese Theorie, »daß Kunsterfahrung der Kenntnis künstlerischer Verfahrensweisen und Traditionen ebenso bedarf wie die Einübung von Techniken des Wahrnehmens und Beschreibens, weil uns ohne diese wie ohne jene die besondere Geformtheit vieler Werke entginge. Wenn wir Kunstwerke als Medien diskontinuierlicher Kommunikation interpretieren, können wir also auch erkennen, daß die hermeneutischen Kunstwissenschaften unverzichtbare Entdeckungshelfer der ästhetischen Erfahrung sind.«19 Dieser Sachverhalt bedarf zuweilen der mäeutischen Unterstützung, der Geburtshilfe zu einem Erkenntnisgewinn angesichts von Kunst, die sich dem uneingeweihten Betrachter nicht anhand einer bloßen Kontemplation erschließt. Zum Beispiel sähe man in Michelangelos David lediglich einen wohlgebauten Jüngling, wüsste man nicht um seine symbolische Rolle als Bezwinger Goliaths, dem sich der Auftrag der höchst umkämpften Republik Florenz zu dieser Skulptur vor dem Palazzo Vecchio verdankte. Aber auch im 20. Jahrhundert erschließt sich das figurative Bildgeschehen nicht so einfach, wenn man etwa des Französischen nicht mächtig ist und somit nicht erkennen kann, dass es sich in Magrittes Gemälde Der Verrat der Bilder (»Ceci n’est pas une pipe«, 1929) eben nicht um eine Pfeife handelt. Und auch in Picassos Plastik der Pavianmutter mit Jungem (1951) wird man nur einen Primaten samt Kind sehen, wüsste man nicht um die Assemblage-Technik des Spaniers, der für den Kopf des Muttertieres unter anderem zwei Spielzeugautos seines damals vierjährigen Sohnes Claude – einen Panhard und einen Renault –, Chassis an Chassis aneinandersetzte. Besonders schwierig für den Rezipienten wird es allerdings dann, wenn nicht mehr nur die inhaltlich‐erzählerischen Bezüge zu entschlüsseln sind, sondern diese seit Beginn der Moderne immer mehr obsolet werden und man sich vermehrt den formalen Relationen innerhalb eines Kunstszenarios anhand der abstrakt bis gegenstandslos gewordenen Bildinhalte und Ausdrucksformen zu stellen hat. Wer den Überblick über die Stilentwicklungen des 20. Jahrhunderts verloren hat, versteht nicht den Unterschied zwischen den funktionell gesetzten »zips« in der Farbfeldmalerei eines Barnett Newman und der von den »stripes« erzeugten all‐over-Struktur auf Frank Stellas Bildern. Beide malten dann – wenn auch einmal in Primär-, ein anderes Mal in Nicht-Farben – immer nur Streifen. 18 Vgl.: JULIUS, S. 92. 19 SCHMÜCKER, S. 288-289.

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Im Vergleich zu einer Kunst, die sich den kunstimmanenten Bezügen widmet und oftmals anhand von Fachwissen aufwendig dechiffriert und erarbeitet werden muss, zeigen sich diejenigen Kunstwerke, die einen soziokulturellen oder zeitgenössischen Kontext aufgreifen, indem sie auf kunstexterne Inhalte reagieren, vielfach schneller zu begreifen und sie geben eindeutiger zu verstehen, für welche Inhalte sie einstehen. Dies tun Künstler – wie jeder andere auch – aus einer subjektiven Sicht heraus, die wiederum auf die subjektive Auffassung und das individuelle Urteil des Betrachters trifft. Dass es Künstlern dabei gelingen könnte, aus Platons Symbolik des Höhlen-Gleichnisses auszubrechen, ist eine Mär, da auch die künstlerischen Reaktionen auf gesellschaftliche Codes nicht frei von eben diesen gesellschaftlichen Zwängen sind. Demnach sitzen wir alle in ein und derselben Höhle fest, denn »[d]ie freie Betätigung unserer Fähigkeiten wird durch die uns vorgegebenen Ausdrucksmittel begrenzt. Es gibt Erfahrungsbereiche, die nur mit Hilfe eines bestimmten Sprachcodes« übermittelt (Künstler) und entziffert (Rezipient) werden können und damit »für jedes Individuum ein entscheidender Bestandteil der ihm im Augenblick gegebenen sozialen Umwelt«20 sind. Dies zeigt, dass alle Kunstwerke von ihrer Wirkungs- wie Rezeptionsgeschichte abhängen, die zugleich eine ihrer Voraussetzungen bilden.21 Eine Verquickung von Kunst und Leben ist hierbei das einträglichste Sujet für eine allen Beteiligten fassliche Diskussionsebene, weshalb Artaud die Gleichzeitigkeit beider Phänomene betont: »Einen Protest gegen die abgesonderte Vorstellung, die man sich von der Kultur macht; als gäbe es einerseits Kultur und andererseits Leben; als wenn echte Kunst nicht ein verfeinertes Mittel wäre, das Leben zu begreifen und auszuüben.«22 Befasst sich Kunst mit dem Leben, imitiert dieses und verschmilzt am Ende gar selbst mit dem Leben und dabei auch mit demjenigen des Betrachters, formuliert sie einmal eine allseits begreifliche Metapher, ein andermal aber auch die uns alle betreffende Wirklichkeit. Beides zusammengenommen macht die aufgegriffenen Themen uneingeschränkt lesbar und liefert einer Rezeption einen eingängigen Nährboden zu einer bedeutungsvollen Auseinandersetzung und ertragreichen Erfahrung, was wiederum in Artauds Schriften Bestätigung findet: »Der wirkliche Gegenstand des Theaters besteht in der Schaffung von Mythen, im Ausdruck des Lebens unter universalem, umfassendem Aspekt und in der Gewinnung von Bildern, in denen wir uns wiederfinden möchten, aus diesem Leben. Und in der dadurch erzielten Erreichung einer Art von allgemeinen Ähnlichkeit, die so überwältigend ist, daß sie augenblicklich ihre Wirkung ausübt.«23 Es sind unter anderem die Künstler ORLAN, Hannah Wilke und Gregor Schneider, denen es gelingt, derartige universale Lebenserkenntnisse zum Ausdruck zu bringen und diese in einer ästhetischen Erfahrung ihre Wirkung tun zu lassen. Damit sich diese ästhetische Erfahrung einstellt, bedarf es einiger von Bernd Kleimann unter dem Begriff »Erfüllungscharakter« zusammengefasster Bedingungen, die 20 DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 215. Vgl. auch: REBENTISCH, Juliane, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M. 6 2014, S. 66. 21 Vgl. hierzu: SCHMÜCKER, S. 237. 22 Antonin Artaud, »Vorwort: Das Theater und die Kultur«, n.d., in: ARTAUD, S. 9-15, hier S. 12 [kursive Hervorhebung durch Antonin Artaud]. 23 Antonin Artaud, in: ARTAUD, S. 113-130, hier S. 125.

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Kunst für den Betrachter zu erfüllen habe. Den Begriff der »Erfüllung« bringt Kleimann zum Einsatz, um die erwiesenermaßen wenig einträgliche Forderung nach einem Kunstgenuss zu vermeiden. Er argumentiert wie folgt: »Eine ästhetische Erfahrung ist in dem Grad erfüllt, in dem sie in ihrem Vollzug als lohnend erlebt wird. Als lohnend wiederum darf sie gelten, sofern der Erfahrende durch die ästhetische Qualität des Gegenstandes zu einem selbstzweckhaften Wahrnehmungsprozess angeregt wird. Erfüllt ist die ästhetische Erfahrung dann, wenn ihre Gegenstände zu einer intensiven, dauerhaften, selbstzweckhaften Wahrnehmung einladen.«24 Hierzu dürfe die Erfüllung einer ästhetischen Erfahrung weder an positiven noch negativen Affekten gemessen werden. Eine abstrakte Wertschätzung müsse daher von einer konkreten, durch die Kunst hervorgerufenen Emotion wertneutral unterschieden werden.25 Zu berücksichtigen sei ebenso die Gleichzeitigkeit aller von einem Kunstwerk angesprochenen Sinneseindrücke zuungunsten einzelner emotiver, kognitiver, evaluativer oder volativer Empfindungen.26 Zuletzt müsse Kunst überzeugende Gründe für ihr Dasein bieten, sich etwa als interessant, fesselnd, faszinierend oder anrührend zeigen und dies in ihre ästhetische Präsentation einfließen lassen.27 Hier schließt sich der Kreis und mündet in der Ausgangsüberlegung eines handwerklich geschickt ausgeführten und durchdachten Ausdrucks von Kunst, der auch in ihrem Äußeren ersichtlich werden sollte. Neben all diesen Anforderungen an die Kunst darf dabei nicht ihr Bedeutungsgehalt in Vergessenheit geraten. Dieser kann einerseits auf einer ästhetischen, jedoch gleichfalls auf einer ethischen Ebene gesucht werden. Betont sei an dieser Stelle, dass die Offenheit der Bedeutung von Kunst im Vordergrund zu stehen hat, denn »[n]ur weil ein Kunstwerk als Werk unabhängig von der Geschichte seiner Auffassung und Interpretation existiert, ist diese Geschichte die Geschichte seiner Auffassung und Interpretation.«28 Kunst ist demnach in erster Linie ein kommunikatives Medium, dessen Deutung im jeweiligen Fall erschlossen werden muss. Kunst ist Kunst, sofern sie eine gelungene Welterschließung ermöglicht: »In der artistischen Reflexion von Erfahrung liegt somit eine Herausforderung für unsere lebensweltliche Haltung. […] Es ist diese im Zusammenspiel von Form und Inhalt geleistete künstlerische Erfahrungsreflexion, der unser ästhetisches Interesse gilt, und es ist die Gelungenheit dieser werkgebundenen Sichtweisenreflexion, durch die unsere ästhetische Erfahrung zu einer erfüllten Erfahrung wird.«29 Sofern es dem Kunstwerk gelingt, so Lessing, Sprache stammeln zu lassen und dem verbalen Transfer seine im Vergleich besseren Ausdrucksmöglichkeiten entgegensetzt, handelt es sich um wahre 24 Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 83 [kursive Hervorhebung durch Bernd Kleimann]. 25 Dies wurde bereits mehrfach in dieser Schrift als Bewertungskriterium von Kunst herangezogen. Siehe hierzu auch Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 83-84. 26 Vgl.: Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 84. Kleimann bezeichnet diesen Erfüllungscharakter als »Inklusionsbedingung«. Lediglich die Nahsinne – Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn – seien hiervon auszunehmen, da diese einer neutrale Bewertung entgegenstünden; vgl.: ebd., S. 84-85. Da diese dennoch in der Kunst zum Einsatz gebracht werden, beschäftigen sich die Kapitel III.2, III.4 und IV.1.2 mit dieser Problematik, welche nochmals in Kapitel V.3 thematisiert wird. 27 Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 86. 28 SCHMÜCKER, S. 238 [kursive Hervorhebung durch Reinold Schmücker]. 29 Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 87 [kursive Hervorhebung durch Bernd Kleimann].

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Kunst.30 Und Tolstoi setzt hinzu: »Um die Kunst genau zu definieren, muß man vor allen Dingen aufhören, sie als Mittel zum Zweck zu betrachten, dagegen muß man in der Kunst eine der Bedingungen des menschlichen Lebens sehen. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, müssen wir zugeben, daß die Kunst eines der Mittel zum Verkehr der Menschen unter einander ist.«31 Sowohl Lessing als auch Tolstoi stimmen darin mit Kant überein. Diese für eine Definition von Kunst sorgenden Kriterien widersprechen dabei keinesfalls der Tatsache, dass Kunst seit jeher eine Funktion zu erfüllen hat. Davon wird im folgenden Kapitel die Rede sein. Denn Kunst ist nach allem bisher Gesagten auch eine zweckgerichtete Tätigkeit, ebenso wie andere Verrichtungen, die wir tagtäglich bewerkstelligen. Künstler wollen in ihrem Schaffen nicht nur für Aufmerksamkeit sorgen, sondern zugleich das gewonnene Interesse des Rezipienten nutzen. Deshalb bedarf es einer Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk an sich und dem, was und wie und wozu der Künstler damit eine Aussage trifft.

V.2 Contre l’art pour l’art: Kunst und ihre Funktion Die Kunst zu einem ausschließlichen Träger moralisch wertvoller Ideen und zu einem Impulsgeber für praktische Lebensweisheiten deklarieren zu wollen, wäre verkehrt. Es reduzierte Kunst einerseits zu einem alleinigen Vehikel der Propaganda und würde ihr andererseits die Rolle einer allen anderen normgebenden und Denkanstöße leistenden Institutionen übergeordneten Instanz verleihen. Dessen ungeachtet darf aber nicht jegliche Verbindung von Kunst und Ethik, von Kunst und Leben und damit von Kunst und einer Funktion negiert werden.32 Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus: Die Notwendigkeit zu einer Kunst setzt einen Zweck voraus, der nicht immer mit dem unbezwingbaren Verlangen, Kunst als Selbstzweck zu erschaffen in eins fällt. Der dem Schönheitsideal verpflichteten Kunst jenseits einer Zweckmäßigkeit – Kunst also, die vor allem schmückt, dem Genuss dient und unsere Stimmung heben möchte –, hält die Kunsterfahrung als ganzheitliches Phänomen, welche sowohl ästhetische wie anästhetische Eindrücke umfasst, eine Kunstauffassung entgegen, welche durchaus einen Zweck erfüllt und damit Funktionen übernimmt. Dass aber Kunst eine Funktion besitzen soll, widerspricht zunächst ihrem Wesen als grundsätzlich autonome Kreation, welche jegliche Funktionalität verneint. Ist die Rede von der Autonomie der Kunst, bedeutet dies aus kunstphilosophischer Sicht, dass das künstlerische Werk seit seiner Emanzipation von herrschaftlichen wie religiösen Aufgaben und indem es sein Sujet nun frei von ideologischen Vorgaben wählen kann und ebenso wenig mehr der akademischen Nachahmung der Natur verpflichtet ist, zugleich von jeglichem gesellschaftlichen Nutzwert befreit wäre.33 Wenn aber die Zweckmäßigkeit der Kunst alleine in ihrem höheren Selbstzweck liegen sollte, ein schöngeistiges, wenngleich interesseloses Wohlgefallen zu erzeugen, so wird auch damit bereits eine 30 31 32 33

Vgl. hierzu: LESSING, S. 155. TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 85-86. Vgl. auch: BEARDSMORE, S. 4. Vgl.: Reinold Schmücker, »Funktionen der Kunst«, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 15-16.

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Funktion erfüllt: die der Erschaffung eines über allen Dingen stehenden Produktes, das den Betrachter auf seine Metaebene zu ziehen und diesen das gesellschaftlich, religiös, politisch und soziokulturell Alltägliche vergessen zu lassen vermag. Wenngleich zweckmäßig nur in ihrem selbstlosen Sinne und in ihrer Funktionslosigkeit, erfüllt sie auf diese Weise eine Funktion. Reinold Schmücker folgert deshalb aus der oben angeführten eklektizistischen Wertung das Folgende: »Wer nur eine spezielle, auf bestimmte denkbare Funktionen begrenzte Autonomie der Kunst behauptet, räumt nämlich die grundsätzliche Funktionalität von Kunst implizit ein. Eine spezielle Autonomiethese kann deshalb den Sinn einer Analyse von Kunstfunktionen nicht in Abrede stellen.«34 Erschwerend kommt hinzu, dass die eben entlarvten ästhetischen Funktionen einer Kunst nicht der einzige Nutzwert sind, den die Kunst auch heute noch erfüllt. Derweil die Kunst sich zwar nicht mehr nach gesellschaftlichen, religiösen, politischen oder kulturellen Vorgaben auszurichten hat, heißt dies nicht, dass Kunst nicht trotzdem weiterhin den Bezug zu solchen Motiven sucht und einen Kommentar dazu liefert. Der Kunstschaffende ist frei in seiner Wahl des Gegenstandes, wenn auch – wie weiter oben bemerkt – in seinem Ausdruck und den wirkimmanenten Gegebenheiten gebunden an die gesellschaftlichen Prozesse und Codes, von denen er selbst geprägt wird, auf welche er reagiert und durch welche er sich Gegenreaktionen erhofft. Jürgen Tabor bezeichnet dies als eine »lose Beziehung zwischen der materiellen Erscheinung eines Kunstwerks und seiner Diskursebene.«35 Die These von der Autonomie der Kunst betrifft entsprechend zwar die Freiheit zu einer Kunst nach dem Willen des Künstlers, jedoch keineswegs die These, Kunst sei frei von jeglicher Zweckdienlichkeit. Stellt man ernsthaft die Frage nach einem Wozu von Kunst und spielt damit auf ihre Funktionslosigkeit an, verkennt man die Ernsthaftigkeit des »Interesse[s], das die ästhetische Kunst beständig weckt; [der] Bedeutung, die ihr im öffentlichen Leben zukommt; de[s] Streit[s], den sie nicht selten entfacht – lässt sich all dies plausibel erklären, ohne dass man der Kunst Funktionen zuschreibt und sie auf Zwecke bezieht?«36 Ich meine nicht. Dieser Logik folgend, erschließen sich sechs externe Funktionen von Kunst: eine kommunikative, eine dispositive, eine soziale, kognitive, mimetisch‐mnestische sowie eine dekorative Funktion.37 Der zuletzt genannte Zweck erfüllt seit jeher die allgemein gültigen Prämissen eines Kunstschaffens, welches sich mit schöngeistigen Dingen und damit anhand eines interesselosen Wohlgefallens an den Betrachter wendet, weswegen es auch hier als Ausgangspunkt der Argumentation hilfreich war. Interessanter und vielschichtiger sind dahingegen die zuerst genannten Funktionen, die jenseits einer ästhetischen Wertung von Kunst erfüllt werden können. Da wäre einmal der kommunikative Aspekt von Kunst, der zwar meist zugunsten der verbalen Kommunikation und damit dem sprachlichen Ausdruck hintangestellt wird, jedoch nichtsdestoweniger die Funktion einer visuell getätigten Rede übernehmen kann, indem Kunst expressiv Sachverhalte zum Ausdruck bringt und appellativ an den Betrachter herantritt. Dass diese Fähigkeit der Kunst einem Vergleich mit Sprache standhält, beschreibt bereits Lessing, 34 35 36 37

Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 16. TABOR, S. 132. Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 13. Vgl.: Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 27-29, sowie SCHMÜCKER, S. 28, Abb.1 Funktionen der Kunst.

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der die Rede zuungunsten von wahrer Kunst stammeln sieht, und laut Joseph Kosuth besitze Kunst den unmittelbareren Ausdruck, das zu sagen, was dem sprachlichen Austausch verwehrt bleibe.38 »Wir können deshalb annehmen, daß in Kunstwerke auch solche Gehalte Eingang finden können, die mittels der gesellschaftlichen vorverstandenen Zeichen nicht oder nur unzureichend kommuniziert werden können.«39 Des Weiteren muss man dem Kunstwerk eine dispositive Funktion zuschreiben, indem es die Befähigung besitzt, jegliche Grundeinstellung zu einem Verhalten oder einem Zustand emotiv zu verstärken. So setzt sich der Rezipient in der Kunsterfahrung einer Situation aus, die motivierende, aber auch distanzierende, therapeutische und freilich auch unterhaltende Zwecke erfüllt.40 Zuletzt seien an dieser Stelle die sozialen, die kognitiven und die mimetisch‐mnestischen Funktionen von Kunst unter ihrem gemeinsamen Gesichtspunkt einer identitätsstiftenden Fähigkeit zusammengefasst, welcher in dieser Schrift auch bislang der Vorrang galt. Das kognitive Verstehen einer Kunst bildet dabei die Basis der Entwicklungsfähigkeit und der Veränderbarkeit einer sozialen Identität, »für die kollektive Erinnerungs- und Mythisierungsprozesse eine entscheidende Rolle spielen.«41 Kunst, die von einer weltanschaulichen Natur geprägt ist, erzeugt Bilder, die in uns widerhallen und unsere ästhetischen wie ethischen Denkbilder befragen, diese bestätigen oder auf den Kopf stellen, und so veränderten Perspektiven und Lebenseinstellungen zu ihrer Entstehung und darüber hinaus zu einer Daseinsberechtigung verhelfen. Dass eine transgressive Kunst weder gewillt ist, Bestehendem das Wort zu reden, noch endgültige Alternativen zu liefern, gerade darin zeigt sich ihre kognitive wie soziale Funktion. Um die zuletzt genannten Funktionen erfüllen zu können, bedarf es eines Realitätsbezuges der Kunst, der auf einer emotionalen wie ethischen Ebene seine Wirksamkeit zeigt. Der eine Weltsicht möglicherweise wegweisend prägende Zweck einer Kunst ist in ihrem realitätsgebundenen Kontext kulturenübergreifend und zeitlos verständlich, nicht nur, aber gerade dann, wenn es sich um die Versinnbildlichung des Köper-Habens und Leib-Seins handelt. Beides geht uns alle an, sie bietet aus der philosophischen Sicht von Wolfgang Welsch ein mea res agitur: »Bei aller räumlicher und zeitlicher Distanz haben wir die Empfindung, dass es hier auch um uns geht. Wie wenn diese Werke ein Versprechen oder eine Herausforderung – und ein Potential – enthielten, unsere Sensibilität, unser Verstehen und vielleicht auch unser Leben besser und weiter zu machen. […] Die Standarderklärung, die hermeneutische, geht fehl. Sie behauptet, dass alles Verstehen letztlich durch den eigenen kulturellen Kontext bestimmt sei. Das ist hoch38 Vgl.: LESSING, S. 155; David Freedberg, »Joseph Kosuth and The Play of the Unmentionable«, in: NEW YORK (Ausst.kat.), The Brooklyn Art Museum, New York, The Play of the Unmentionable. An Installation by Joseph Kosuth at the Brooklyn Art Museum, hg.v. The Brooklyn Art Museum, Texte von: Robert T. Buck, David Freedberg, Charlotta Kotik und Randall Short, New York 1992, S. 31-68, hier S. 38, sowie Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 29. 39 SCHMÜCKER, S. 286. 40 Vgl.: Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S. 29. 41 Reinold Schmücker, in: KLEIMANN, S. 13-33, hier S29. Gerade die mimetische Kunst besitze in ihrer illustrativen und dokumentarischen Herangehensweise die Funktion, Erinnerungen im Betrachter wachzurufen; vgl.: ebd., S. 30.

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gradig unplausibel. Weder die anfängliche Faszination noch ein späteres elaboriertes Verstehen ist solcherart kulturabhängig.«42 Die Realität, auf die Kunst in ihrer kognitiven wie sozialen Funktion Bezug nimmt, ist dabei nicht zwangsläufig eine, die in der Vergangenheit liegt und damit das Besondere darstellt, über das es in einer dokumentarisch‐narrativen Weise zu berichten gilt. Kunst tätigt vor allem philosophische und damit allgemeine Aussagen, deren Wahrheitsgehalt sich noch zu erweisen hat. »Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«43 Gemäß der Erläuterungen des Aristoteles mache diese philosophische Funktion die Kunst – hier in Form der Dichtkunst – zu einem vielfach ernsthafteren Unterfangen als etwa die Geschichtsschreibung, die sich dem Einzelfall verschrieben habe. Damit hält Kunst der Gesellschaft nicht nur einen Spiegel dessen vor, was gewesen ist und wodurch sie geprägt wurde, sondern verweist in die Zukunft, die durch das kognitive und soziale Bewusstsein jedes Einzelnen erst noch zu gestalten ist. Es wäre unaufrichtig, dabei einseitig zu verfahren, schönzumalen, was nicht im Bereich des eben geforderten Wahrscheinlichen liegt, schlechtzureden, was besser nicht sein könnte. Es reicht vollkommen aus, das von Aristoteles und gleichermaßen in dieser Schrift geschilderte Notwendige und Mögliche zur Ausführung zu bringen, um die Gemüter in ästhetischer wie ethischer Hinsicht zu rühren: »It seems then necessary towards moving the passions of people advanced in life to any considerable degree, that the objects designed for that purpose, besides their being in some measure new, should be capable of exciting pain and pleasure from other causes.«44 Die von Edmund Burke beschriebenen Leidenschaften aber, können alleine durch die Anschauung des Wahren und Erhabenen hervorgerufen werden. Und hierzu zählen die weit voneinander entfernt liegenden Dichotomien der höchsten Freuden wie der schlimmsten Gräuel, der reizvollsten Geschöpfe wie der abgründigsten Emotionen, des delikatesten Geschmackes wie des als abstoßend und ekelhaft Verworfenen, des Vertrauten und des Grotesken. Die hiervon hervorgerufenen Leidenschaften erfüllen die Funktion des von Jill Bennett eingangs dieser Schrift formulierten »seeing feeling«, welches uns das Dargebrachte in einem kognitiven Wahrnehmungsprozess in Erkenntnis umwandeln lässt. Der durch das Schauen ausgelöste Affekt geht also einem verstandesmäßigen Begreifen voraus.45 Die hiervon evozierten und – wie weiter oben verdeutlicht – zu einer Identitätsbildung notwendigen Erinnerungen werden durch das erneute Erlebnis wiederbelebt und ergänzt. Im Fall eines für den Rezipienten noch nicht erlebten, jedoch wahrscheinlichen Ereignisses setzt das Mitempfinden die Entfaltung eigener, die Situation nachvollziehender Empfindungen in Gang. Beide Male entstehen Bilder des Erinnerns.46 Nicht zuletzt hat Kunst die Funktion, Fragen anzustoßen, deren Beantwortung dem Individuum und der Gesellschaft Schwierigkeiten bereitet. Dahingegen ist es nicht 42 43 44 45 46

Wolfgang Welsch, »Wiederkehr des Schönen?«, in: HAUSTEIN, S. 39-50, hier S. 47-48 und S. 49. ARISTOTELES, S. 29, Punkt 9. BURKE, S. 24. BENNETT, S. 7-8 sowie S. 22. Vgl. auch Kapitel I. Vgl.: BENNETT, S. 41.

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zwingende Aufgabe der Kunst, so Chris Burden, Lösungen bereitzuhalten: »[Art is] a free spot in society, where you can do anything. I don’t think my pieces provide answers, they just ask questions, they don’t have an end in themselves. But they certainly raise questions.«47 Antworten schuldig bleiben zu müssen, bedeutet nicht ein Versagen der Kunst, denn ihre Funktion ist es lediglich, verdrängte oder unbekannte, gegebenenfalls unbeliebte Informationen bereitzustellen, den Diskurs zu eröffnen und einen Resonanzboden für ein wiederholtes Justieren ungeklärter Dilemmata zu schaffen. Kunst übernimmt damit die Funktion, der Wirklichkeit ein neues – selbst fiktionales – Gewand überzustreifen, dessen Effekte und Praktikabilität – sofern sie als Verbesserungen empfunden werden – auf die bestehende Realität zurückwirken können.48 Dabei schreckt Kunst nicht davor zurück, Konventionen vorzuführen und diese zu brechen: »The best of contemporary art is taken to be challenging, difficult, exasperating. It is anticipated that it will provoke resistance, affront, dismay. […] Art invites us to recognize the complexities of our world, to re‐examine our assumptions and to make contact with individual visions different from ours.« Und Julius Anthony schlussfolgert hieraus eine letzte Funktion von Kunst: »Though [art] has a number of diverse aspects, the master thesis is: art teaches. Art exists to teach a lesson, and its shocks and disturbances are justified by this overriding purpose.«49 Zu lehren bedeutet im Falle der Kunst keinen didaktischen Frontalunterricht. Kunstwerke wollen nicht etwa belehren, sondern im Sinne des docere einen Denkanstoß leisten und den Betrachter unterrichten, diesen in Kenntnis setzen. Der Lernprozess beginnt entsprechend erst dann, wenn der Erkenntnisgewinn den Rezipienten dazu veranlasst, qua rationaler Überlegungen, selbst Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Wirkbereich von Kunst, sondern auch die Entstehung des Werkes, der Werkbereich wird von dieser Funktion der Kunst motiviert. Davon zeugt gleichfalls die Aussage des Künstlers Stelarc: »When I come and see a work of art, I want to go away asking questions, not feeling satisfied or entertained. Art is a means of opening up the world, opening up to the world. It is not about closure, it is not about comfortable reassurance.«50 Ausgerechnet weil Kunst als autonomes Medium dem ihr lange Zeit einzig zuerkannten Elfenbeinturm entronnen ist, ist sie in der Lage, all die eben genannten Funktionen zu übernehmen. Auch Tolstoi sieht das Wesen der Kunst in einer Zweckmäßigkeit begründet, die jenseits einer unterhaltsamen und ausschließlich ergötzenden Erscheinungsform nicht mehr um eine Daseinsberechtigung zu kämpfen brauche: »Die Kunst ist nicht – wie die Metaphysiker sagen – die Hervorbringung einer gewissen Idee, von Schönheit, von Gott; sie ist auch nicht, – wie die Ästhetiker-Physiologen sagen, – ein Spiel, während dessen ein Mensch den Überfluß an aufgesammelter Energie herausgiebt; sie ist auch nicht die Hervorbringung von Emotionen durch äußere Zeichen; auch nicht die Erzeugung 47 Chris Burden, in: Chris Burden und Jan Butterfield, »Through the Night Softly«, in: BATTCOCK, S. 222-239, hier S. 223. 48 Vgl. auch: Susan Sontag, »Joe David Bellamy« (1972), in: POAGUE, S. 35-48, hier S. 40, sowie TABOR, S. 133 und S. 135. 49 JULIUS, S. 32-33, vgl. auch: ebd., S. 19. 50 Stelarc, in: Joanna Zylinska und Gary Hall, »Probings: An Interview with Stelarc«, in: ZYLINSKA, S. 114-130, hier S. 124.

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von angenehmen Gegenständen, – vor allem aber ist sie kein Genuß, sondern ein zum Leben und zum Wohl eines jeden einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit notwendiges Mittel des Verkehrs unter den Menschen, welches sie in den gleichen Gefühlen eint.«51 Demnach setzt Kunst ästhetisch‐philosophische Akzente und sie stellt ethisch‐philosophische Fragen. Dies betrifft jedoch bereits Funktionen, welche die Kunst auf eine moralische Instanz zu heben vermögen und wodurch sich gleichfalls ihre Relevanz erklärt. Und damit auch die Relevanz ihres gegebenenfalls transgressiven Verhaltens.

V.3 Zur Relevanz von Kunst und ihrer Transgression Daran anknüpfend, stellt sich die Frage, warum die eben aufgeführten Funktionen einer Kunst wichtig sind sowie weshalb der Nutzwert einer Kunst immer häufiger in einer den Rezipienten düpierenden Manier verköstigt werden sollte. Der Drang der Kunst, Wissen zu produzieren, indem sie provoziert, darf zunächst nicht notgedrungen mit einer bewusstseinsstiftenden Relevanz von Kunst gleichgesetzt werden, denn es ist ein ganz grundsätzliches Anliegen der Künste, Dingen und Sachverhalten eine mediale Gestalt und Form zu verleihen, die den Betrachter unmissverständlich anspricht und sich in ihrem Affekt anhaltend einprägt. Kurz: Der Kunstschaffende geht davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob man dem Kunstwerk begegnet ist oder nicht, es ein Vorher und ein Nachher in diesem Wahrnehmungsprozess gibt, der – einmal geschehen – sein nachhaltiges Wesen erst noch entfalten wird. »art matters«, Kunst geht alle an, so deshalb der Titel der nach den in Amerika sich zutragenden »Culture Wars« erschienenen Publikation, in der Philip Yenawine die Relevanz von Kunst wie folgt beschreibt: »We had a notion of art that changed people’s lives: art that when you confronted it, you couldn’t ignore, you couldn’t simply pass by, art that attempted to make a difference, to communicate something important, that deserved a life. The underlying assumption is that art is somewhat like sleep and love. It’s essential for human existence. You don’t know exactly why you need it, but you can’t be fully human without it. Modern life has tried to put art in a box, but it belongs in the intersections between people and real life.«52 Dabei geht Kunst nicht nur alle an, sondern hält für jeden einzelnen ein vollkommen individuelles, scheinbar auf den Betrachter zugeschnittenes Erlebnis bereit. Das heißt, dass ein und dasselbe Kunstwerk, so unpersönlich es im Verhältnis zu der Gesamtheit aller in einer Ausstellungssituation Anwesenden wirken mag, dem Individuum einen jeweils subjektiven ästhetischen Erfahrungsrapport entgegenbringt. Kunstwerke sind demnach die von Christopher Bollas als Verwandlungsobjekte bezeichneten Boten, die das »ungedachte Bekannte« in unverhofften Erinnerungen aufscheinen und damit eine fortlaufende Ich-Erfahrung möglich werden lassen.53 Für die 51 TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 91. 52 Philip Yenawine, in: WALLIS, Brian, Marianne Weems und Philip Yenawine, art matters. how the culture wars changed america, New York 1999, S. 85. 53 Vgl.: BOLLAS, S. 26 und S. 28, sowie Kapitel IV.1.

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Relevanz dieser Erfahrung ist es unerheblich, ob uns das Wahrgenommene ergötzt oder abstößt: »Verwandlung ist nicht dasselbe wie Befriedigung. Befriedigung ist dem Wachstum nur zum Teil förderlich […]. Genauso sind auch ästhetische Augenblicke nicht immer schöne oder erhebende Ereignisse: Viele sind häßlich und grauenerregend, aber dennoch zutiefst bewegend, weil eine existentielle Erinnerung angestoßen worden ist.«54 Kunst ist ein soziales Projekt, das alle sie Betrachtenden gleich behandelt. Spezifisch wird sie nur aus der Warte des Gegenübers heraus. Indem Kunst gesellschaftsrelevante Themen aufgreift und jenseits eines interesselosen Wohlgefallens nicht nur einem dekorativen Zweck dienlich sein will, verhilft sie der Gesellschaft zu ihrem kulturellen und sozialen Fortschritt. Sie definiert neue Modelle und formuliert Ziele, indem sie dasjenige, was ihren Betrachter bislang prägte und bewegt, hinterfragt, justiert und überprüft. Diesem strukturellen und sozialen Wesen gemäß und um auf Gegenreaktionen zu stoßen, braucht Kunst einen Ansprechpartner, dem sie diese Vorschläge unterbreiten kann. Entsprechend wird Kunst nicht um ihretwillen produziert, sondern für einen Beobachter geschaffen. Produktion und Rezeption bedingen einander nicht nur gegenseitig, sondern die Kunst bildet die Voraussetzung zu einer Kommunikation. Juliane Rebentisch beschreibt dieses Verhältnis wie folgt: »Während wir sonst nur über Wahrnehmung kommunizieren können, kommuniziert Kunst durch Wahrnehmung.«55 Die Gedanken, die Kunst entfacht, die Reaktionen, die sie auslöst, sind frei. Das von Sigmund Freud als magisch und geheimnisvoll bezeichnete Wesen, der Zauber der Kunst, liege in eben diesem Vermögen, Gedanken Macht zu verleihen: »Nur auf einem Gebiet ist auch in unserer Kultur die ›Allmacht der Gedanken‹ erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung Ähnliches macht, und daß dieses Spiel – dank der künstlerischen Illusion – Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales.«56 Den Gedanken zu ihrem hemmungslos freien Lauf zu verhelfen und diese am Ende eventuell sogar etwas bewirken zu lassen, ist bereits eine herausragende Fertigkeit. Freud umschreibt jedoch noch eine zweite Befähigung, die ihresgleichen sucht: Obwohl Kunst – zumindest auf den ersten Blick – lediglich in der Fiktion existiert, bewirkt sie Affekte in uns. Es ist dabei irrelevant für die in ethischer Hinsicht daraus resultierenden Vorhaben, welche Tendenz die affektiv gefassten Gedanken zunächst annehmen, ob sie uns erfüllende Momente bescheren oder aber in Abgründe blicken lassen.

Zur Relevanz von Kunst Egal, welcher Couleur die durch ein Kunstwerk entstandenen Eindrücke sind, sie formen sich durch die in uns während und nach dem Wahrnehmungsprozess wachgewordenen Erinnerungen, durch eine automatisch einsetzende moralische Wertung des Dargebrachten, durch die zu keimen beginnenden weiterführenden Überlegungen und zuletzt durch das Begreifen von Inhalten und einem einsetzenden verstandesmäßigen 54 BOLLAS, S. 41. 55 REBENTISCH, Ästhetik der Installation, S. 90 [kursive Hervorhebungen durch Juliane Rebentisch]. 56 FREUD, S. 102.

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Bedenken der Konsequenzen des Gesehenen – und des von uns Gedachtem. Durch Kunst Informationen zu sammeln und diese zu verarbeiten, sind demnach zwei aufeinanderfolgende Prozesse, deren letztgenannter den gewichtigeren Schritt bedeutet: »The great artist, then, does not impart new facts about hypocrisy or about love or about human degradation. Nor does he draw attention to facts which have been previously ignored. This is not what he tells us. What he does is to bring us to a clearer apprehension of these things; he shows us that it is possible to see them in a new light. And though this may lead to a change in the rules by which we govern our lives, this is not the artist’s intention either. What we gain from his work is not information, nor new principles, but understanding.«57 Damit besitzt Kunst die Relevanz, unser kognitives Vermögen zu verfeinern. Emotionen, das Nachvollziehen von Werten, das Hervorbringen kreativer Ideen, sind dabei allesamt von unserer Fähigkeit abhängig, das Erlebte kognitiv begreifen zu können. Der Grad unserer kognitiven Fähigkeiten hängt deshalb entscheidend davon ab, mit welcher Intensität wir die Wirklichkeit wahrnehmen, die Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Miteinander verstehen, in dem sich das Ich und der Andere gleichberechtigt zurechtzufinden und in Beziehung zu setzen haben. Das Erkennen und Verstehen der Wirklichkeit bilden dabei unerlässliche Faktoren, das Verhältnis des Selbst zu diesem Weltganzen einschätzen und sich platzieren zu können. Dies wiederum zieht Selbsterkenntnis nach sich. Der Kunst zu begegnen heißt entsprechend, seinem Ich zu begegnen, welches sich seiner selbst vergewissert, indem die Erkenntnis in einen Prozess der Stabilisierung und/oder Infragestellung der eigenen Identität mündet.58 Der Kunst gesteht deshalb der Philosoph Oliver R. Scholz eine Relevanz zu, wie sie üblicherweise lediglich seinem eigenen Fach zuerkannt wird: »Ästhetik rückt so – wieder – in die Nähe der Erkenntnistheorie, oder stärker: Sie wird zu einem Teil der Erkenntnistheorie.«59 Dies impliziert auch, dass wir uns im Dargestellten, im Anderen wiederfinden. Sprechen uns dessen Grazie oder Missgestalt, dessen Harmonie oder Disharmonie, dessen Freud und Leid über alle Maßen an, werden wir davon auch im Innersten berührt, so reicht das »seeing feeling« über ein bloßes Verstehen hinaus und geht über in eine ebenfalls von Jill Bennett beschriebene »sense memory«, die von all unseren Sinnen aufgegriffen, daher körperlich erinnert wird und damit zu einem reflexhaften Affekt führt.60 Deshalb sei ihrer Ansicht nach auch davon auszugehen, dass sich die verschiedenen erkenntnistheoretischen Disziplinen zwar ergänzen, jedoch der Kunst anhand ihrer Fähigkeit zum Ausdruck und darin zu einer Übertragung auf den Betrachter eine eigenständige Position neben dem üblichen Spektrum der Erkenntnistheorien gebühre: »One can argue with Deleuze’s disciplinary distinctions when he talks about the difference between philosophy and art, but the advantage of disciplinary specification is that it enables us to ask what art can do that philosophy can’t, what art can do what psychology or psychoanalysis can’t, what sense memory can see that common memory or conventional language can’t. […] But in presenting the process of memory 57 BEARDSMORE, S. 73. 58 Vgl.: SCHMÜCKER, S. 287 und S. 288. 59 Oliver R. Scholz, »Kunst, Erkenntnis und Verstehen. Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik«, in: KLEIMANN, S. 34-48, hier S. 34. 60 Vgl.: BENNETT, S. 39, sowie die Kapitel IV.1.2.

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as ›sign‹, it registers the affective experience of memory, enacting a process of ›seeing feeling‹ where feeling is both imagined and regenerated through an encounter with the artwork.«61 Kunst stellt eine Bereicherung dar, weil wir alleine mit der eigenen Sicht auf die Dinge nur ein eingeschränktes Weltbild wahrzunehmen im Stande wären. Eine ästhetische Erfahrung ist freilich nicht die einzige Möglichkeit, seinen Horizont zu erweitern, aber sie bietet eine der vielfältigsten, überraschendsten und diskutabelsten Aussichten, die eigenen subjektiven Auffassungen erkennen zu können, zu kommunizieren und zu debattieren, indem sie von den subjektiven Ideen, Konflikten und Visionen anderer gespeist und initiiert werden, die diesen zu einem Ausdruck verhelfen. Üblicherweise ist es nicht das Privileg des Künstlers, subjektiv zu denken, im Einklang oder im Widerspruch mit sich und der Welt zu leben und sich eine bessere oder schlechtere Version des aktuell Gelebten, der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen auszumalen. Aber es sind die Künstler, die sich das Privileg angeeignet haben, dies zur Darstellung zu bringen, sich mehr oder weniger lautstark, zumindest aber evident in Gestalt und Form zu äußern und damit einen authentischen Kommentar zu hinterlassen und gleichzeitig herauszufordern. Kenntnis über die ethischen Vorstellungen und Werte des Anderen zu erlangen, daran teilhaben zu können sowie diese mit den eigenen Auffassungen abgleichen zu können, ist wesentliche Voraussetzung für die Erkenntnis der eigenen Wertvorstellungen sowie Basis für einen Gedankenaustausch untereinander. Die künstlerische Imagination bietet uns hierfür verschiedene Modelle – richtige wie falsche, wohl gelittene wie unbeliebte –, die es zu überprüfen gilt und die den Ausgangspunkt eines Austausches bilden. Der hierdurch angestoßene Diskurs wird einerseits durch die Vielfalt der Meinungen innerhalb einer Gesellschaft bereichert und andererseits fördert er einen intensiven und verständnisvolleren Umgang aller Beteiligten untereinander. Damit einher geht der Gedanke, eine Verbesserung der bestehenden Verhältnisse zu erreichen. Dies geschieht nicht im Alleingang, sondern anhand des eben beschriebenen Transfers von Gedanken, Meinungen und Lösungsvorschlägen. Damien Hirst etwa stellt sich diesen künstlerischen Anforderungen, indem er seinem subjektiven Ansinnen folgenden Wortlaut verleiht: »[Y]ou have to believe what you are doing is going to change the world for the better. You really have to believe that otherwise there is no point in doing it. Even if it was small, you have to believe that you are changing the world for the better, by something that you are doing. […] I want them to go away having experienced something and leave richer on some level. I want to give you the energy to go away and think about your life again. To pose some questions. They may be uncomfortable questions but they need to be asked. To make people think again about what they know.«62 Oder wie es ORLAN in ihrer knappen Aussage auf einen Nenner bringt: »Art is what makes life more interesting than art itself.«63 61 BENNETT, S. 40-41. 62 Damien Hirst, in: »Damien Hirst interviewed by Mirta d’Argenzio«, in: NEAPEL, Ausst.kat., Hirst, 2004, S. 50-250, hier S. 219 und S. 238. 63 ORLAN, »The Complex Dialectics of Virtuality and Reality«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 125-133, hier S. 125.

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Soweit also zu einer Relevanz der Kunst, sofern sie einen Konsens in der Mannigfaltigkeit nach sich zieht und eine Einigung im Kompromiss erreicht. Die Welt interessanter gestalten zu wollen, dem steht niemand konträr gegenüber. Die Welt aufregender und das Leben jedes einzelnen denkwürdiger sein zu lassen, als es etwa die Kunst von ORLAN zulässt, darüber dürften die Meinungen bereits auseinandergehen. Die Welt darüber hinaus verändern zu wollen, ist zum einen ein hehres, zum anderen ein subversives, je nach Ideologie und Gesinnung sogar ein überhebliches Unterfangen. Auch darin zeigt sich die Relevanz von Kunst: »[N]ot all art is subversive, for sure, but only art is.«64 Kunst verhilft uns nämlich auch dazu, eine Differenzierung des vom Künstler gereichten moralischen Urteils vorzunehmen. Ob wir etwas als moralisch erstrebenswert oder moralisch verwerflich beurteilen, hängt zunächst von den Vorgaben des Kunstwerkes ab. Kunst erschüttert uns, genauso wie sie unsere Gemüter zu erheben vermag. Gerade darin bietet sie eine unerschöpfliche Bandbreite, indem sie unsere emotionale Verfassung in die eine oder die andere Richtung beeinflusst. »Kunst, die das vermag, ist von unschätzbarem Wert für das moralisch‐praktische Räsonieren, für die Verfeinerung der moralischen Phantasie und die Differenzierung des moralischen Urteils.«65 Moral und Anstand, ethische Verantwortung und ein schuldbewusstes Gewissen sind jedoch keine Begabungen, die uns anhand eines vorgegebenen Wertesystems und, weil es sich um einen gesellschaftlichen Konsens handelt, in die Wiege gelegt würden, sondern diese Wertorientierungen müssen begriffen werden und indem man sie lebt zu der Befähigung führen, das moralisch Richtige vom moralisch Abtrünnigen zu unterscheiden. So gibt auch R.W. Beardsmore zu bedenken: »But morality is not a skill, and though a man cannot learn anything without being taught some principles, without his being taught that some actions are good, others evil, he will not have learned much if this is all that he learns.«66 Zur Vervollständigung unseres Denk- und Einfühlungsvermögens gehört eben auch die Ausbildung einer sozialen wie moralischen Intelligenz, die unabdingbare Voraussetzung für ein verständnisvolles Miteinander sind. Kunst, die jenseits der moralischen Gepflogenheiten und der ethischen Norm agiert, schafft neue Erkenntnisse und intensiviert den Diskurs, der unseren gewonnenen Einsichten und unserem ethischen Urteilsvermögen zu einem schärferen Weitblick verhelfen. »[Art] liberates us from the tyranny of familiar ways of looking at things. […] We become exiles from the known. It can make a genuine contribution to knowledge; it can make a genuine contribution to our moral education. […] And then there is another kind of art, one that gives us the experience of our limitations by taking us beyond them. In such a case, one will retreat, chastened, back behind the boundaries of one’s everyday conceptions, at once elevated and humbled, a witness to one’s own limitations, privileged by a glimpse of what lies beyond them. We do not change our views here, we change our view of our views.«67 So gesehen ist es notwendig, seine Grenzen zu kennen, indem man sie erfährt. Mit welchem Ausgang, ist abschließend zu diskutieren. 64 65 66 67

JULIUS, S. 169 [kursive Hervorhebung durch Anthony Julius]. Oliver R. Schulz, in: KLEIMANN, S. 34-48, hier S. 44. BEARDSMORE, S. 66 [kursive Hervorhebung durch R.W. Beardsmore]. JULIUS, S. 34 [kursive Hervorhebungen durch Anthony Julius].

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Zur Relevanz von Transgressionen in der Kunst Die Relevanz einer künstlerischen Transgression stellt sich aus Sicht von ORLAN wie folgt dar: »Je provoque donc j’existe.«68 Für den Betrachter ergibt sich ein ähnlicher Kausalzusammenhang, jedoch befindet sich dieser in einer passiven Rolle, indem er das Ziel dieser Provokation bildet: Ich bin, weil ich provoziert werde. Ohne Frage ist dieser Kehrschluss zwar richtig, denn die Emotion ist wohl eine der wichtigsten, uns der Teilhaftigkeit am Leben versichernden Reaktionen, jedoch löst eine Provokation zumeist vor allem negative, aggressive und unbedachte Gefühle aus. Dies wiederum entspricht nicht der Gesamtheit der emotionalen Erfahrungen und moralischen Erkenntnisse, die wir angesichts transgressiver Kunst zu durchleben vermögen. Was grenzüberschreitender und damit provokanter Kunst jedoch gemein ist, sind die existentiell relevanten und uns alle berührenden Fragen einer das Bewusstsein steigernden Erfahrung des Selbst und unserer Identität. Sofern sich Kunst als relevant zeigt, indem sie eine existentielle Grenzerfahrung begeht, kann man davon ausgehen, dass es sich entschiedenermaßen nicht um die üblicherweise dekorativen und beliebten Artefakte handelt, die in Kunstinstitutionen für ein beachtliches Besucheraufkommen, auf dem Kunstmarkt für exorbitante Preise und auf der Beliebtheitsskala für uneingeschränkten Beifall sorgen. Für ein vorbehaltloses Behagen im Betrachter sorgen zu sollen, dagegen wehren sich diejenigen Künstler, die den Tabubruch begehen: »As soon as we speak of difficult subjects such as the body, its cut and opening, the difficulties of living, illness, death, social and political problems, then the collector hesitates over buying, is even unable to recognize this as art. It is a form of censorship that condemns visual artists to an optimistic, sexy, nice and decorative vision. Art turns into an added value of happiness. There is a similar pressure on thinkers and politicians: to reassure, to comfort.«69 Kunst zu einem Substitutionsgut oder zu einem Attribut eines bejahenden Lebensgefühls verkommen zu lassen, ist zwar durchaus legitim, jedoch steht dies in keinem Verhältnis zu einer Relevanz von Kunst, wie sie im vorausgehenden Abschnitt nachgewiesen werden konnte. Nicht zuletzt aber stellt gute Kunst nicht nur die eben eruierte Bereicherung dar, die über ein reines Gefallen hinausreicht, sondern sie besitzt die Fähigkeit, weiter zu gehen und tiefer zu rühren, sobald sie nicht den Konsens sucht, sondern durch Gegenrede einmal für Aufsehen sorgt und zum anderen – und dies fällt bei weitem schwerer ins Gewicht – zu einer existentiellen Erfahrung anleitet. Transgressionen in der Kunst entstehen selten als Entgegenkommen oder streben eine einvernehmliche Schlichtung der Streitfrage an. Dennoch will die Transgression eine Verständigung, deren Auftakt zu einer Kommunikation mit einem Paukenschlag beginnt: dem Widerstand. ORLAN formuliert die Beweggründe und zugleich ihre persönlichen Ziele, warum sie mit ihrer Kunst Grenzen überschreitet: »For me, art which is interesting is related to and belongs to resistance. It must upset our assumptions, overwhelm our thoughts, be outside norms and outside of the law. It should be against bourgeois art; it is not there to comfort, nor to give us what we already know. It must take risks, at the risk of not being accepted, 68 ORLAN, in: LEMOINE-LUCCIONI, S. 139. 69 ORLAN, »ORLAN/Paul Virilio [Interview, 2009]«, in: DONGER, S. 188-195, hier S. 192.

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at least initially. It should be deviant and involve a project for society. And even if this declaration seems very romantic, I say; art can, art must, change the world, for that is its only justification.«70 Kunst, die dem Betrachter eine Störung und Belästigung bedeutet, wird demnach nur dann als lästig empfunden, wenn man das ebenso mit ihr zu vereinbarende Potential eines Zurücksetzens von allem bisher Bekannten und Akzeptierten mit dem Ziel einer Überprüfung des Gewussten sowie einer anschließenden Neuberechnung von moralischen Werten unberücksichtigt lässt. Dennoch ist man geneigt – und die Geschichte der Kunst hat es erwiesen –, diesen Weg einer Revolte aus Gründen des Unbehagens und der Furcht auszuschlagen und die bequemere und probate Variante der Meidung des Tabus und seines Bruchs oder gar den Weg der Zensur zu wählen.71 »Yet not every state is oppressive, and not every subversion is liberating. (One might add: not every repression is unjustified, and not every liberation is welcome).«72 Die Relevanz einer künstlerischen Transgression liegt daher tatsächlich in einem Abwägen, Grenzen neu definieren zu wollen, oder Grenzen dort belassen zu können, wo sie berechtigt sind. Gemeinhin wird aber befürchtet, dass eine korrupte Kunst die Korruption der Gesellschaft bewirkt – und umgekehrt. Das »Unaussprechliche«, welches in der Kunst zuweilen, aber insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhundert seinen Ausdruck sucht, wird von Joseph Kosuth 1992 in der Ausstellung »The Play of the Unmentionable« überspitzt zu einer Unterwanderung eines gesellschaftlich relevanten und dieses am Laufen erhaltenden Wertesystems. Kosuth stellt in seinem konzeptionell erarbeiteten Gesamtkunstwerk einst als subversiv erachtete und heute arrivierte Bildwerke der Kunstgeschichte ihrem zeitgenössischen Kommentar gegenüber. Aus heutiger Sicht sind die zitierten Werke Teil des Kunstkanons, die Kommentare dahingegen beweisen, dass sie in einer zeitlosen Manier die Grenzgänge der Kunst monieren und als dem System entgegengesetzt und gefährlich erachten.73 Kosuth zeigt, dass sowohl die ästhetischen wie die moralischen Wertvorstellungen einer Gesellschaft dem Zeitgeist unterliegen und die Kunst dazu in der Lage ist, eben diese Grenzen zu verschieben. Er zeigt aber auch, dass der Beigeschmack einer möglichen Revolte durch die Kunst auch weiterhin für Unruhe zu sorgen vermag. Eine Unruhe, die seitens der Produzenten und seitens der Rezipienten ganz bewusst gesucht wird. Um dieser Rastlosigkeit zu begegnen – derjenigen der Hüter der bestehenden Wertesysteme und derjenigen, die dieser Störungen durch die Kunst ansichtig werden –, ist man seit jeher darauf bedacht, Inseln des Verbotenen zu schaffen, die schadlos betreten werden können, ohne die bisher gesetzten Grenzen zu beeinträchtigen. Rabelais’ Welt, der Karneval und – aus kunsthistorischer Sicht – das Museum bieten eben diese Eilande eines vorrübergehenden Schutzbereiches, der zugleich die außerhalb dieser räumlichen wie zeitlichen Bereiche bestehenden Grenzen beibehalten lässt und dabei 70 71 72 73

ORLAN, Art., 1996, n.p. [kursive Hervorhebungen durch die Autorin]. Vgl. Kapitel II.1. JULIUS, S. 176. Vgl.: NEW YORK (Ausst.kat.), The Brooklyn Art Museum, New York, The Play of the Unmentionable. An Installation by Joseph Kosuth at the Brooklyn Art Museum, hg.v. The Brooklyn Art Museum, Texte von: Robert T. Buck, David Freedberg, Charlotta Kotik und Randall Short, New York 1992.

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doch der Notwendigkeit der Transgression Tribut zollen. Eine metaphorische Aufhebung von Hierarchien und Distanzen, von Normen und Tabus findet dabei jenseits des Alltags statt und befriedigt die Lust am Verbotenen und Verworfenen, noch ohne einen Verlust von Sicherheit und Ordnung darzustellen.74 Ganz im Gegenteil erfüllt das Erleben des Ausgegrenzten in einem von Jürgen Tabor so genannten »dialektischen Umkehrprozess« den Zweck einer Bestätigung der bisherigen Überzeugungen und darin das Bedürfnis nach Stabilität.75 Allen Beteiligten wird somit genüge getan. Die Notwendigkeit der zeitweiligen Grenzüberschreitung und der immer häufiger ausgespielte Trend der zeitgenössischen Kunst hin zu einer Transgression, werden so zwar reglementiert, jedoch scheint es zu einer Methode zu verkommen, diesen Bedürfnissen zu einem Ventil zu verhelfen: die Kunstinstitutionen bieten sowohl dem Betrachter die Verköstigung unnormierter Lust, als auch garantieren sie den um das Wertesystem Bangenden und ebenso der progressiven Kunst einen verlässlichen Schutzschirm, der niemanden zu Schaden kommen lässt. Das mag solange gutgehen, wie sich Kunst mit zweien der insgesamt drei von Anthony Julius aufgeführten optional zur Verfügung stehenden Grenzüberschreitungen auseinandersetzt: erstens mit einer kunstimmanenten Reflexion und damit einer Transgression, welche die Regeln des eigenen Metiers bricht, und zweitens, indem Kunst auf subversive Weise einen politischen Widerstand formiert.76 Begeht Kunst jedoch den Tabubruch, indem sie an existentielle Grenzerfahrungen rührt, von denen wir uns im Verlaufe eines Lebens nolens volens alle betroffen zeigen, wird aus dem goutierbaren und schützenswerten Skandalon eine Seinskrise, die nun umso mehr auf das sichere Geleit von entsprechenden Einrichtungen und Gesetzen angewiesen ist. Die Kunstinstitutionen schaffen es in diesem Fall nicht mehr, einen zuverlässigen Garant für Ordnung und einen ungefährdeten Moment für den Betrachter herzustellen – sie fungieren dann nurmehr als gesetzlich umfriedeter Bereich für die Kunst selbst. Da das Körper-Haben und Leib-Sein mithin für die rätselhaftesten, schmerzvollsten und zugleich unauflösbarsten Dramen unseres Daseins verantwortlich zeichnen und die Kunst in den hier diskutierten Fällen dazu übergeht, nichts ungezeigt und damit ungesehen zu belassen, was dem Menschen ohnehin nicht fremd, diesem jedoch widerwärtig und mit Angst besetzt ist, bricht sie Tabus, an die in unserer Gesellschaft nicht gerührt werden darf. Eine derartige Motivwahl wirft Licht auf die monströse Materialität unseres Körpers und die unser Leben bedrohenden Momente. Hierzu Zugang zu erlangen, ist eine existentielle Annäherung an unseren Körper wie Leib, die bislang höchstens anhand des distanzierten Gestus der Medizin und der Wissenschaften erträglich erschien. Kunst schlägt den entgegengesetzten Weg ein: »To name a sensibility, to draw its contours and to recount its history, requires a deep sympathy modified by revulsion.«77 Winfried Menninghaus findet hierfür die sprechende Vokabel der »analsadistischen Destruktion der schönen Form«, die sich Bahn bricht und die 74 Vgl.: BACHTIN, S. 65; Bernd Kleimann, in: KLEIMANN, S. 68-87, hier S. 85-86; sowie TABOR, S. 14 und S. 125. 75 TABOR, S. 119-120. Vgl. auch die Kapitel II.3 und IV. 76 Vgl.: JULIUS, S. 102. 77 SONTAG, Susan, »Notes on ›Camp‹« (1964), auf: http://faculty.georgetown.edu/irvinem/theory/ Sontag-NotesOnCamp-1964.html [zuletzt aufgerufen am 05. Februar 2017].

Transgression in der Kunst. Eine Apologie

einstige Symbolhaftigkeit der Kunst sprengt zugunsten einer Realität, die als verworfen, ekelhaft und abjekt gilt, jedoch zugleich als Gewinn empathische Lust und entekelte Wahrheit für den Rezipienten mit sich führt.78 Immanuel Kant nennt es schlichtweg die negative Lust, die wie folgt zustande kommt: »[I]ndem dieses (das Schöne) directe Gefühle der Beförderung des Lebens bei sich führt und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; jenes aber (das Gefühl des Erhabenen) eine Lust ist, welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß sich durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung, derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist; und indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust, als vielmehr Bewunderung oder Achtung enthält, d.i. negative Lust genannt zu werden verdient.«79 Vor dem Erhabenen weicht also die Fähigkeit zur Distanzierung einer akuten Betroffenheit. Diese Betroffenheit wird von Jill Bennett als »shock to thought« bezeichnet. Gleichzeitig macht sie eine bemerkenswerte Einschränkung: »[T]he shock to thought requires more than the activation of an affective trigger.«80 Damit stimmt sie mit Kants das Erhabene auslösendem Moment überein, indem dieses zwar eine augenblickliche und damit vorübergehende Hemmung der Lebensgeister bewirkt, die jedoch im nächsten Moment umso heftiger wieder an die Oberfläche drängen. Dieses wechselseitige Wahrhaben und Sich-Bedingen von Abschreckendem und Anziehendem, führt deshalb zu einem länger währenden und nachhaltigen Erfahrungswert im Vergleich zu einer kurzfristigen, schockhaften Erschütterung des Gefühls der Behaglichkeit. Der hier beschriebene Prozess ist einer, der nicht alleine die Wonne oder das Leid des Gegenübers, das Erhabene des Moments schildert, sondern der das interesselose Wohlgefallen des Betrachters aufhebt zugunsten eines tiefen Empfindens und anschließenden Verstehens des Dargebrachten. Und Jill Bennet fügt dem hinzu: »The issue is where an image takes us once an initial affective connection is established. And here, I turn to Deleuze’s notion of the encounterd sign that propels us into a form of intellectual inquiry through its assault on our senses, emotions, and bodies. The link between sensation and knowledge is, on this account, bridged by a kind of compulsion engendered by the sign.«81 Der wahre shock to thought ebbt nicht ab, sondern mündet in unbändigem Glück und abgrundtiefer Traurigkeit, er verursacht Befriedigung und auch elenden Kummer, er verrät unsere Illusionen und liefert stattdessen gnadenreiche Erkenntnis. In einer mit Bildern überfluteten und von Selbsttäuschungen saturierten Welt ist es zwar schmerzhaft, der Wahrheit gegenüberzutreten, jedoch ist es erfüllender und ein Privileg, intellektuelle wie emotionale, körperliche wie leibliche Einsichten für das eigene Selbst zu gewinnen. Die Bürde und Versicherung, die uns das Tabu bedeuten, sowie die Bürde und Erleichterung, die sein Bruch herbeiführen, sind die uns durch eine Grenzerfahrung in 78 MENNINGHAUS, S. 20-21. 79 KANT, § 23 Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen, S. 105. Vgl. auch Kapitel III.1. 80 BENNETT, S. 50 [kursive Hervorhebungen durch Jill Bennett]. 81 BENNETT, S. 64 [kursive Hervorhebungen durch Jill Bennett].

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der Kunst auferlegten Hürden, die es zugunsten einer Bereicherung zu bewältigen gilt. Sie bedeuten nicht die Lösung des eigentlichen Problems, sondern dessen Benennung: »Philosophy attacks taboos by investigating them; art attacks taboos by breaching them (or enacting their breach). Philosophy wants to let the fly out of the bottle; art wants to keep it there, but to madden it.«82 Auch Thomas Mann lässt die einer Revolte ähnelnde Relevanz von Kunst in »Doktor Faustus« aufscheinen, indem er ihr die Funktion einer aufrichtig den Fortschritt fordernden Errungenschaft des Menschen zuerkennt: »Das vitale Bedürfnis der Kunst nach revolutionärem Fortschritt und nach dem Zustandekommen des Neuen ist angewiesen auf das Vehikel stärksten subjektiven Gefühls für die Abgestandenheit, das Nichts mehr zu sagen haben, das Unmöglich geworden sein der noch gang und gäben Mittel, und es bedient sich des scheinbar Univitalen, der persönlichen Ermüdbarkeit und intellektuellen Gelangweiltheit, des durchschauenden Ekels vor dem, ›Wie es gemacht wird‹, der verfluchten Neigung, die Dinge im Licht ihrer eigenen Parodie zu sehen, des ›Sinnes für Komik‹, – ich sage: der Lebens- und Fortschrittswille der Kunst nimmt die Maske dieser mattherzigen persönlichen Eigenschaften vor, um sich darin zu manifestieren, zu objektivieren, zu erfüllen.«83 Die dabei aufbrechenden Konflikte werden zudem dadurch geschürt, dass Tabus gebrochen werden. Zugleich bestätigt beides – der Konflikt und der Tabubruch – unser In‐der-Welt-Sein. Der Tabubruch reflektiert unsere Grenzen, fordert unseren Ideenreichtum heraus, lässt uns am Ende Vorurteil und Objektivität voneinander unterscheiden. Der Konflikt wendet sich in seiner den tradierten Standards gegenüber abwägenden Natur gegen das, was bislang als in Stein gemeißelt erschien. Transgressive Kunst rebelliert. Aber – um nochmals an das Exzerpt Thomas Manns zu erinnern: sie tut dies nicht um des Selbstzwecks willens, sondern aufgrund ihrer Entschlossenheit zum Fortschritt. Die Relevanz transgressiver Kunst liegt nicht in ihrer Rebellion begründet, sondern in dem, was sie dem Betrachter damit ermöglicht: eine ästhetische Erfahrung, welche zu einer Schwellenerfahrung wird, die ihn der Wahrheit einen Schritt näher gelangen lässt.84 Aufrichtig gegenüber der Vergänglichkeit unseres Daseins zu sein, ist wohl die unerbittlichste Wahrheit, der wir jemals ins Auge zu blicken haben. Die Schwellenerfahrung angesichts von Kunstwerken, die sich des Dramas um unseren stets wandelnden, alternden und moribunden Körper annehmen, bietet uns eine liminale Erfahrung, die zum einen die oftmals negierte Verbindung zwischen unserem Körper-Haben und Leib-Sein bewusstwerden, das Selbst seinen Anknüpfungspunkt zu seiner Identität wiederfinden lässt, und uns zum anderen die Verantwortung für diese Tatsache erneut 82 JULIUS, S. 154. 83 MANN, Doktor Faustus, S. 182. 84 Vgl.: Erika Fischer-Lichte, in: KÜPPERS, S. 138-161, hier S. 158. Susan Sontag bildet das zeitgenössische Pendant zu Thomas Manns Fortschrittsglauben an die Kunst: »Rebellion does not seem to me a value in itself, as – say – truth is. There’s no inherent value in transgression. As there is no inherent value to being interesting. My loyalty is not to the transgression but to the truth behind it. That the forms of life in this society, having become increasingly permissive, corrupt, vulgar, and disgusting, thereby deprive the artists of the taboos against which they can, comfortably, heroically, rebel – that seems far less dismaying than the fact that this society itself is based on lies, on untruths, on hallucinations«; Susan Sontag, in: POAGUE, S. 79-87, hier S. 86-87.

Transgression in der Kunst. Eine Apologie

überträgt. Letzteres umfasst sowohl eine Selbstverantwortung, als auch eine moralische Verantwortung gegenüber der Würde des Anderen. Gerade in diesem Zusammenhang kann es als ethisch fragwürdig erscheinen, die Wahrheit auszusprechen. Jedoch verursachen und fordern moralisch fragwürdige – künstlerische wie wissenschaftliche – Erzeugnisse nicht zu Unrecht Protest, sofern sie auf eben diesen Sachverhalt aufmerksam machen wollen: dass etwas in moralischer Hinsicht zweifelhaft ist. Künstler, die etwa im Rahmen der Bio Art Werke produzieren, wenden daher keinerlei Methoden oder Wissen an, welche abseits unserer gelebten Wirklichkeit zu suchen wären. Auch sie sprechen die Wahrheit. Dass dies die Nachdrücklichkeit von Kunst betont, besitzt Tradition, denn bereits Tolstoi fordert von dieser: »Die Kunst bedarf dreierlei Dinge: Aufrichtigkeit, Aufrichtigkeit und nochmals Aufrichtigkeit.«85   Ob nun als Reaktion auf eine künstlerische Ausformulierung der Transgression auch der Tabubruch an sich als eine relevante Aufforderung zum Umbruch gelesen werden soll, hängt freilich von den jeweils herrschenden Machtverhältnissen und Gesellschaftsstrukturen ab und inwiefern diese gemocht und gelitten werden, oder aber gefürchtet und abgestreift werden wollen. »Wo ein Tabu ist, muss auch nach dem Mana gefragt werden, nach der Macht, die zu seiner Aufrechterhaltung notwendig ist. Tabus werden nur so lange mit Mana besetzt, wie sie zur Aufrechterhaltung der Identität beitragen. Aus diesem Grund gehen Änderungen der Identität typischerweise mit Enttabuisierungen einher, so wie erfolgreiche Tabubrüche ihrerseits zu einer Änderung der Identität führen. Bezogen auf das Individuum wie auch die Gruppe oder Gesellschaft können wir zusammenfassend also feststellen: ›Tabus sichern Identität – Tabubrüche ermöglichen Entwicklung.‹«86 Hiernach gibt es entsprechend in der Tat Situationen und Zeitpunkte, zu denen die Transgression bewusst zu einer Veränderung der Identitäten auffordert und dieser progressive Beitrag auf ebenso fruchtbaren Boden fällt. Kunst besitzt demnach die durchaus relevante Fähigkeit, den anwachsenden Willen zum Protest zu unterstützen und zu beschleunigen. Es ist nicht Aufgabe dieser Schrift, ein Urteil über die Sinnhaftigkeit, die Aussichten oder gar Abwegigkeit eines derartigen Prozesses zu fällen. Eine Prognose, die auch aus der Sicht der Sozialanthropologin Mary Douglas zutreffend erscheint, kann jedoch formuliert werden: hat sich das Stadium des Protestes einmal gelegt, stellt sich auch hier wieder das Bedürfnis nach Orientierung schaffenden Werten und die Gesellschaft strukturierenden Systemen ein, welche die bisherige Ordnung zu ersetzen haben.87 Die Grenzen, die wir uns einst selbst gesetzt haben, werden damit durch neue ersetzt, der Status quo, der in Frage gestellt wurde, bildet einen neuen Status quo heran. Im Gegensatz zu Mary Douglas möchte ich jedoch behaupten, dass mit dem Ersetzen der einen Ordnung durch eine andere, nicht zwangsläufig der Verlust von Ritualen oder eine Sinnentleerung des Symbolsystems einhergeht, welches »etwas vom kosmisch‐umfassenden Charakter des ursprünglichen verloren«88 hat. Denn das kosmische Element, das etwa den hier erörterten Grenz85 86 87 88

TOLSTOI, Was ist Kunst?, S. 110. KRAFT, S. 118. Vgl. auch Kapitel II.1. Vgl. Kapitel III.1 sowie DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 36. DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 37.

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Existentielle Grenzerfahrungen

erfahrungen zugrunde liegt, berührt zugleich ein existentielles Problem, eines, dessen Belastungsprobe der Menschheit weiterhin zu schaffen machen wird. Kunst wird demnach auch in Zukunft ihren Nährboden haben, zumindest was die wirklichkeitsbezogenen und die unser Überleben betreffenden Grundfragen unseres Hier-Seins angeht. Hans-Ulrich Treichel gibt deshalb zurecht das Folgende zu bedenken: »Auch Leidenserfahrungen sind historischen Prozessen unterworfen. Aber ich habe keine Sorge, dass es nicht neue Leidensformen geben wird, die einen Anlass liefern, darüber zu schreiben. Und ich glaube nicht, dass die Leidquantität, die Angstquantität geringer geworden ist. Genauso wenig wie ich an diese Art Fortschritt glauben kann, der den Tod eliminieren will, die Unsterblichkeitsutopie des Herrn Kurzweil. Sollte sie jemals real werden, dann müssten wir diesen Preis bezahlen, natürlich. Das wäre vielleicht das Ende der Kunst, das Ende der Literatur.«89 Das Ende der Kunst ist aber – wiewohl so oft in diesem und im letzten Jahrhundert prognostiziert – noch lange nicht in Sicht. Ein relevantes Phänomen bleibt die Kunst weiterhin, schlichtweg, indem sie uns ohne Scheu die Freuden wie Leiden unserer Existenz verdeutlichen wird. Eine Konstante, die vor 250 Jahren nicht anders empfunden wurde, lässt man die Worte Edmund Burkes Revue passieren: »For my part, I am rather inclined to imagine, that pain and pleasure, in their most simple and natural manner of affecting, are each of a positive nature, and by no means necessarily dependent on each other for their existence.«90 Die künstlerische Transgression aber geht mit diesen Themen über in das Erhabene, welches – so Immanuel Kant – alles andere vergleichsweise klein sein lässt und »das jeden Maßstab der Sinne übertrifft«.91 Und er fährt wenige Seiten später fort, den Grund hierfür zu benennen, der auch heute noch die Motivation dafür bildet, warum Künstler den Tabubruch zugunsten einer existentiellen Grenzerfahrung suchen: »Macht ist ein Vergnügen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstand dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch‐erhaben. Wenn von uns die Natur dynamisch als erhaben beurteilt werden soll, so muß sie als Furcht erregend vorgestellt werden (obgleich nicht umgekehrt jeder Furcht erregende Gegenstand in unserem ästhetischen Urteile erhaben gefunden wird). Denn in der ästhetischen Beurteilung (ohne Begriff) kann die Überlegenheit über Hindernisse nur nach der Größe des Widerstandes beurteilt werden. Nun ist aber das, dem wir zu widerstehen bestrebt sind, ein Übel, und wenn wir unser Vermögen demselben nicht gewachsen finden, ein Gegenstand der Furcht. Also kann für ästhetische Urteilskraft die Natur nur sofern als Macht, mithin dynamisch‐erhaben gelten, sofern sie als Gegenstand der Furcht betrachtet wird. Man kann aber einen Gegenstand als furchtbar betrachten, ohne sich vor ihm zu fürchten, wenn wir ihn nämlich so beurteilen, daß wir uns bloß den Fall denken, da wir ihm etwa Widerstand tun wollten, und daß alsdann aller Widerstand bei weitem vergeblich sein würde.«92 Sich den Fall unse89 Hans-Ulrich Treichel, in: HÜLSWITT, S. 280-302, hier S. 288. 90 BURKE, S. 25. 91 KANT, § 25 Namenerklärung des Erhabenen, S. 113 und S. 114. 92 KANT, §28 Von der Natur als einer Macht, S. 127-128 [kursive Hervorhebungen durch Immanuel Kant].

Transgression in der Kunst. Eine Apologie

rer Vergänglichkeit bloß zu denken, ist dabei zugleich der geringste Abstandshalter, den wir noch zu unseren Lebzeiten einzunehmen vermögen. Unser Drama, den Körper zu haben und gleichzeitig Leib zu sein, ist furchterregend wie die Bilder, welche transgressive Kunstwerke in unseren Köpfen hinterlassen. Sie entsprechen unserem heliozentrischen Weltbild, um das sich alles dreht. Dabei sollte man aber auch bedenken, dass man »nicht alles bewundern [muß]: die Sonne selbst hat ihre Flecken.«93 Warum nur sollte Kunst uns die Flecken auf der Sonne verschweigen dürfen?

93 WINCKELMANN, S. 111.

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VI. Resümee

Der Gewaltsamkeit des Dynamisch-Erhabenen, das dem Werden und Vergehen der eigenen Existenz zugrunde liegt, unterliegen sogar die Mächtigen.1 Gleichzeitig gehorcht Bataille zufolge die Gewaltsamkeit den Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen des Verbotenen, indem sie die ungelittene, gar gefürchtete Liaison mit der Sexualität und dem Tod eingeht.2 Wir ängstigen uns vor diesen liminalen Zonen, die zugleich eine große Anziehungskraft auf uns ausüben. Zuweilen wiegt die Faszination sogar höher als das Erschrecken, weswegen wir dazu neigen, die Schwelle, die uns unsere Grenzen aufzeigt, des Triebes, der Neugier und des Erkenntnisgewinns halber zu be- und übertreten: »Die Übertretung ist eine Gebärde, die die Grenze betrifft. Dort an dieser dünnen Trennungslinie offenbart sie sich blitzartig im Vorübergehen, aber vielleicht auch in ihrem Verlauf, vielleicht sogar in ihrem Ursprung. Der Bereich, den sie kreuzt, könnte sehr wohl ihr eigentlicher Raum sein. Das Spiel mit Grenzen und Übertretungen scheint einfach mit Verbissenheit gespielt zu werden: die Übertretung überschreitet und überschreitet immer wieder eine Linie, die sich hinter ihr sofort wieder schließt wie eine Welle des Vergessens, die auf ein Neues bis zum Horizont des Unübertretbaren zurückflutet.«3 Das Überschreiten von Grenzen ist eine von Gefahren begleitete Erfahrung, da sich in der von Foucault als Trennungslinie bezeichneten Zone der Exzess und die Aufrichtigkeit verorten lassen. Es erscheint undenkbar, sich abgesehen vom Diesseitigen ebenfalls das Jenseitige oder auch nur den schmalen Grat dazwischen vorzustellen. Aber – wie Bataille bemerkt – diese Grenzerfahrung will die Ausschweifung und die Maßlosigkeit: »Selbst das Denken (die Reflexion) vollendet sich in uns nur im Exzeß. Was bedeutet Wahrheit, außer Vorstellung des Exzesses, wenn wir nur das sehen, was über 1 KANT, §28 Von der Natur als einer Macht, S. 127 [kursive Hervorhebungen durch Immanuel Kant]: »Macht ist ein Vergnügen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstand dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch‐erhaben.«, sowie Kapitel V.3. 2 BATAILLE, Die Erotik, S. 52: »Wie [die] Form [des Verbotes], so wechselt sein Gegenstand: ob jedoch die Sexualität oder der Tod in Frage steht, immer ist die Gewaltsamkeit gemeint, die Gewaltsamkeit, die erschreckt, aber fasziniert.«; vgl. auch Kapitel II. 3 Michel Foucault, in: FOUCAULT, Schriften zur Literatur, S. 69-89, hier S. 73.

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Existentielle Grenzerfahrungen

die Möglichkeit zu sehen hinausgeht, was zu sehen unerträglich ist, wie es in der Ekstase unerträglich ist, zu genießen? – wenn wir das denken, was die Möglichkeit, zu denken, übersteigt?«4 Kunst, die sich an den Grenzbereichen unseres Daseins orientiert, sorgt für bewusstseinserweiternde Momente, indem sie sich in diesen Zonen des Exzesses aufhält. In ihrer künstlerischen Ausfertigung macht uns die Grenzerfahrung angreifbar, indem sie unser Gemüt erhitzende Reaktionen erzeugt, die sich nicht nur auf das Dargestellte richten, sondern sich zugleich auf den eigenen Körper und dessen Identität rückbeziehen lassen. Der voyeuristische Prozess lässt die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und demjenigen des Gegenübers, zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen unserem Körper-Haben und Leib-Sein porös werden. So erreicht uns daher angesichts transgressiver Kunstwerke noch vor einer möglichen Erkenntnis zur Bedeutsamkeit dieser Erfahrung der rauschhafte Affekt und die aufwallende Emotion, die wie in einem momenthaften nächtlichen Wetterleuchten die Bedingungen unserer Existenz zu erhellen vermögen. Die Grenze wirft zunächst lediglich Licht auf sich selbst.5 All dies kann sich nur ereignen, weil unserem Wertesystem Tabus zugrunde liegen, deren Bruch die massivste Überschreitung von Grenzen bedeutet. Wir leben mitnichten – wie dies landläufig angenommen wird – in einer nahezu tabulosen Gesellschaft. Es bestehen heute mehr Tabus denn je – insbesondere was das Körperdrama anbelangt –, deren Vorhandensein gewünscht, konsolidiert und daher streng umfriedet wird. Die Endlichkeit unseres Daseins und die damit einhergehenden Kümmernisse, welche ehemals als unabwendbarer Teil eines Lebens hingenommen wurden und denen man in einer beinahe stoisch anmutenden Anwandlung auch etwas Gutes abzugewinnen suchte, verkörpern das dichteste und beharrlichste Geflecht an gesellschaftlichen Tabus. Die unbezwingbare Furcht vor dem uns innewohnenden Abjekten, Krankhaften und dem Tode Geweihten, lässt uns die Hoffnung nicht aufgeben, das uns Bevorstehende nicht mehr länger gemäß einem biokonservativen Verständnis von Körper und Geist akzeptieren zu müssen, sondern den Verfall des Körpers Dank der jüngsten wissenschaftlichen Errungenschaften umgehen, zumindest aber hinauszögern zu können. Dass das Drama um den Körper seither Sichtbarkeits- und Sprechtabus unterliegt, ist selbstredend. Sofern die Kunst diese Ängste und die damit verbundenen Hoffnungen ver(sinn)bildlichte, und sei es nur, um sie zu bekräftigen, rührte sie an eben diese Veranschaulichungs- und Denkverbote, die das Tabu aufzuheben vermögen. Den Tabubruch aber unbedingt meiden zu wollen, stellt in gewisser Hinsicht auch eine Notwendigkeit dar, denn: eine Gesellschaft braucht Tabus. Obwohl es zuweilen als erforderlich und bedenkenswert erscheint, Tabus, die uns offensichtlich ein Gängelband anlegen, zu entzaubern und zu entkräften, so vermag es der Tabubruch als Strategie und als Transgression in der Kunst zur Anwendung gebracht, nicht automatisch, ein Gesellschaftssystem zu enttabuisieren und damit bisher bestehende Werte und Sicherheiten zu beseitigen. Dennoch – und hier kommt die Kehrseite des von Bataille als zugleich schrecklich und faszinierend beschriebenen Verbotes zum Tragen – kann das 4 BATAILLE, Die Erotik, S. 261. 5 Vgl.: Michel Foucault, in: FOUCAULT, Schriften zur Literatur, S. 69-89, hier S. 74, sowie BENNETT, S. 130 und S. 145.

Resümee

Tabu nur hinsichtlich seiner Berechtigung überprüft werden, sofern das Angebot zu einem Tabubruch besteht. Damit zeigt sich die Transgression in der Kunst als ein äußerst relevantes Phänomen, welches die Grenze, die es hierfür zu überschreiten gilt, sichtbar werden lässt, denn – so Foucault – »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins; Inexistenz einer Grenze, die absolut nicht überschritten werden kann; umgekehrt Sinnlosigkeit einer Übertretung, die nur eine illusorische, schattenhafte Grenze überschritte.«6 Die Sinnhaftigkeit, der Grenze ansichtig zu werden und diese auch zu überschreiten, liegt demnach auch in ihrem bloßen Vorhandensein begründet, welches nicht zwangsläufig durch die Transgression aufgelöst, sondern vielmehr gesichert, da mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Der Tabubruch benennt damit zwar die bestehenden Probleme und beleuchtet aktuelle Hindernisse und Tendenzen, deren ethischer wie moralischer Wert auf dem Prüfstand stehen, das Tabu an sich bleibt hierdurch jedoch unbehelligt. Die eigentliche Strategie des Tabubruchs in der Kunst besteht also darin, der Erfahrung einer Transgression stattzugeben. Es ist nicht vordringlichstes Anliegen der Kunst, Tabus zu brechen, um sie zu beseitigen. Ansinnen des Tabubruchs ist es dahingegen, profunde Einblicke zu gewähren, indem sich Künstler – und infolge einer existentiellen Grenzerfahrung auch der Rezipient – auf das Problem einlassen, um sich der Realität zu stellen. Da die unsere Existenz bedrohenden Fragen bis auf weiteres unlösbar bleiben, ist es ebenso wenig das Anliegen der Kunst, den bisherigen Vorschlägen zu einer Beseitigung dieser essentiellen Fragen neue Empfehlungen hinzuzufügen. Was die abermalige Transgression jedoch durchaus begriffen hat, ist das Folgende: »Ein Problem ist nicht schon deshalb ein Scheinproblem, weil man es nicht zu lösen vermag.«7 Deshalb geht die von der Kunst erwirkte Grenzerfahrung davon aus, dass es allemal gewinnbringender ist, etwas, das sich jeglicher Belehrungen und Verbesserungsversuchen widersetzt, zumindest zu verstehen, sofern es sich nicht in Wohlgefallen auflösen lässt. Verständnis bewirken zu können, überwiegt hier den Eifer, Einfluss nehmen zu wollen. Denk- und Sprechverbote müssen deshalb aufgehoben werden zugunsten einer Visualisierung des von uns längst Gedachten samt des noch ungedachten, jedoch erahnten Bekannten sowie des uns allen innewohnenden allmählichen Verzehrs von körperlichen Ressourcen und Lebensenergie. Die Veranschaulichung der Grenze, die wir angesichts einer künstlerischen Transgression überschreiten dürfen, schafft ein unerwartetes und unverfälschtes Bewusstsein für die Rolle des Selbst, das unser Dasein bestimmt und von nun an aus einer erweiterten Perspektive begriffen werden kann. Die dem Tabu anhaftenden ethischen Vorbehalte sind diesem Erkenntnisgewinn hinderlich, denn sie suggerieren alleine die skandalöse Subversion, die uns davor zurückschrecken lässt, bei dem Versuch, »diese so reine und so verkapselte Existenz zu denken, wenn man von ihr her ihren Raum denken will, so muß man sie aus allen zweideutigen Verwandtschaften zum Ethischen lösen.« Weil Foucault der Grenzerfahrung alle ethischen Bedenken abspricht, schlussfolgert er, dass »[a]n der Übertretung […] nichts negativ [ist]. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht jenes Unbegrenzte, in das sie hineinspringt und so zum 6 Michel Foucault, in: FOUCAULT, Schriften zur Literatur, S. 69-89, hier S. 73, vgl. auch Kapitel IV.2. 7 NAGEL, S. 13, vgl. auch S. 15.

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Existentielle Grenzerfahrungen

ersten Mal erschließt. Dennoch kann man wohl sagen, daß diese Bejahung nichts Positives an sich hat: kein Inhalt kann sie binden, denn per definitionem kann sie keine Grenze aufhalten. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Bejahung der Teilung. Allerdings sollte man diesem Wort all das nehmen, was an die Gebärde des Zerschneidens erinnern könnte oder an eine Trennung oder an das Maß einer Abweichung, und ihm nur das lassen, was in ihm das Sein des Unterschieds bezeichnet.«8 Unser Körper-Haben und Leib-Sein zu begreifen, lässt weder Grenzen zu, noch kann es von solchen aufgehalten werden. Die damit durch einen strategischen Tabubruch ausgelöste Erkenntnis an der Grenze ist Erfüllungsgehilfin bewusstseinserweiternder Prozesse, die sowohl auf einer sozio‐kulturellen Ebene – in dieser Schrift anhand des Voyeurismus und der Katharsis-Theorie verdeutlicht –, auf einer psychologischen Ebene – erörtert anhand der Erforschung des Selbst, unserer Identität, des organlosen Körpers im Gegensatz zu einem Körper-Haben und Leib-Sein – wie auf einer neurobiologischen Ebene stattfinden und die Wahrnehmungsprozesse um unseren Seinszustand zu verdeutlichen vermögen. Tabus, die überflüssig geworden sind, beseitigen sich so von selbst.   Die gewonnenen Erkenntnisse betreffen jedoch nicht alleine das eigene Selbst, sondern in seiner ursprünglichen empathischen Reflexion auch den Anderen. Diesen in einem Weltganzen miteinzubeziehen, um den Dialog um die allseits bedrohte menschliche Existenz führen zu können, inkludiert alle der Transgression ansichtig gewordenen Teilnehmer. Wann dieser Dialog einsetzen kann, weiß nicht einmal der Teufel zu sagen, dem Thomas Mann die Allmacht über den deutschen Tonsetzer Adrian Leverkühn verleiht: »Schweigen? Aber wir schweigen ja schon […] lang und müssen doch irgend einmal mit einand zusprach kommen und rätig werden über das Ganze und über die interessanten Umstände, in denen du dich befindest. Dies ist natürlich eine Sache zum Schweigen, aber doch nicht zwischen uns auf Dauer, – wo doch das Stundglas gestellt ist, der rote Sand zu rinnen begonnen hat durch die fein‐feine Enge, – oh, eben nur begonnen! Es ist noch fast nichts, was unten liegt, im Vergleich mit der oberen Menge, – wir geben Zeit, reichliche, unabsehbare Zeit, an deren Ende man garnicht zu denken braucht, noch lange nicht, nicht einmal um den Zeitpunkt, wo man anfangen könnte, ans Ende zu denken, wo es heißen könnte: ›Respice finem‹, braucht man sich vorerst zu kümmern, sintemal es ein schwankender Zeitpunkt ist, der Willkür und dem Temperament überlassen, und weiß niemand nicht, wo man ihn ansetzen, und wie weit man ihn hinauslegen soll gegen das Ende. Dies ist ein guter Witz und eine treffliche Vorrichtung: Die Unsicherheit und Beliebigkeit des Augenblicks, wo es Zeit wird, ans Ende zu denken, vernebelt scherzhaft den Augenblick auf das gesetzte Ende.«9 Es liegt entsprechend an uns, den Diskurs zu beginnen. Gewiss ist, dass wir eine Toleranz entwickeln müssen. Nicht nur eine Toleranz gegenüber einer Kunst, die nicht mehr nur schön sein will, sondern auch schwierig und schwer verdaulich. Eine Kunst, die uns weh tut und Grenzen überschreitet. Vor allem 8 Michel Foucault, in: FOUCAULT, Schriften zur Literatur, S. 69-89, hier S. 74 und S. 75. 9 MANN, Doktor Faustus, S. 308.

Resümee

aber müssen wir eine Toleranz entwickeln demgegenüber, dass wir Leib sind und einen Körper haben. Dies kann uns in Zeiten helfen, in denen andere erkranken oder wir selbst einen kranken Leib und Körper mit uns tragen. Diese Toleranz kann uns weiterführen, wenn ein anderer, uns nahestehender Mensch stirbt. Diese Toleranz kann uns in der Tat im eigenen Sterben helfen. Helfen – wenn schon nicht den Tod begreifen lassen. Dies alles bedeutet einen lebenslangen Prozess, der nicht beendet sein wird, wenn er abrupt endet. Diese Schrift möge als ein kleiner Bestandteil hierfür dienlich sein. Denn: das Leben will nicht überlebt, sondern vielmehr gelebt werden. Jegliche gute Kunst sucht uns darin zu schulen.

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Dokumentenanhang

Zur Schreibweise Alle Direktzitate in dieser Schrift wurden in ihrer ursprünglichen Schreibweise und Interpunktion beibehalten. Es wurde nicht nach der neuen Rechtschreibung nachgebessert. Dies gilt auch für die Schreibweise von Namen. Der Künstlername ORLAN wird wie von der Künstlerin selbst verlautbart in Majuskeln geschrieben. Sofern dies die Sekundärliteratur nicht tut, wurde die Schreibweise »Orlan« beibehalten.

I. ORLAN, La Réincarnation de Sainte ORLAN, 1990-93. Eine Chronologie1 Die Serie der Performance-Operationen La Réincarnation de Sainte ORLAN ou Images –nouvelles images/Re‐incarnation of Saint ORLAN or Images – New Images (1990-1993) wurde von ORLAN an ihrem 43. Geburtstag, am 30. Mai 1990, auf dem Newcastle Festival in der 1 Bislang erschwert das Fehlen einer vollständigen Chronologie samt übersichtlicher Beschreibungen der einzelnen Akteure, Ausstattungen und Handlungsvorgänge der medizinisch‐künstlerischen Eingriffe die Interpretation der Performance-Serie La Réincarnation de Sainte ORLAN. In der deutschsprachigen Literatur sind ORLANs Performance und die dazugehörigen Details quasi nicht existent. Der notwendige und hier erstmals erstellte Überblick speist sich aus den folgenden Quellen: AUGSBURG, Tanya, Private Theatres Onstage: Hysteria and the Female Medical Subject from Baroque Theatricality to Contemporary Feminist Performance, Atlanta 1996; DONGER, Simon, Simon Shepard und ORLAN (Hgs.), ORLAN. A Hybrid Body of Artworks, London und New York 2010; INCE, Kate, ORLAN. Millenial Female, Oxford und New York 2000; KEREJETA, Maria José (Hg.), ORLAN 1964-2001, Salamanca 2002; O’BRYAN, C. Jill, Carnal Art. Orlan’s Refacing, Minneapolis, Minnesota, 2005; ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, Peggy und Jill Lane (Hgs.), The Ends of Performance, New York 1998, S. 315-327; Tanya Augsburg, »Orlan’s Performative Transformations of Subjectivity, in: PHELAN, S. 285-314; ROSE, Barbara, »ORLAN: Is It Art? ORLAN and the Transgressive Act«, in: Art in America, 81:2, Februar 1993, S. 83-125; SAINT-ÉTIENNE (Ausst.kat.), Musée d’art modern de Saint-Étienne Métropole, ORLAN: Le récit/The narrative, 26. Mai – 26. August 2007, hg.v. Lóránd Hegyi, Texte von: Joerg Bader, Lóránd Hegyi, Marcela Iacub, Donald Kuspit, Peggy Phelan und Eugenio Viola, Mailand 2007; sowie WEINTRAUB, Linda, Art on the Edge and Over. Searching for Art’s Meaning in Contemporary Society, 1970s-1990s, Litchfield, Connecticut, 1996. Wichtige Bilddaten sind auf der Internetseite der Künstlerin verfügbar: www.orlan.eu/works/performance-2/

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All Saints’ Church in England erstmalig unter dem Titel Imaginary Generic. Successful Operations vorgestellt. Anhand eines computergenerierten, dreidimensionalen Modells kündigte sie an, dass zwei Monate später der erste chirurgische Eingriff stattfinden würde, um im Verlauf von insgesamt neun kosmetischen Operationen ihrem Gesicht und ihrer Person eine neue Identität zu verleihen. Ihr Gesicht sollte hierfür mit den einzelnen Gesichtszügen von Frauen fusionieren, wie sie der westlich geprägte kunsthistorische Kanon verzeichnet: dem Kinn der Venus von Botticelli, der Nase der Psyche von François Pascal Simon Gérard, den Augen der Diana aus der anonymen Schule von Fontainebleau, den Lippen der Europa von Gustave Moreau und der Stirn der Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Um die Beweggründe für diese Eingriffe zu erläutern, publizierte sie verschiedene Texte, deren wichtigste unter den beiden Titeln »Carnal Art Manifesto« und »Intervention« bekannt sind.2 Darin verwendet sie weitere Bezeichungen für die geplanten Performances: »Carnal Art«, »Identity Change«, »Rite of Passage«, »This is my body, this is my software«, »I gave my body to art«, »Successful operation(s)«, »Body/Status« und »Identity Alteration«. In den ersten Operationen erfolgten vor allem Lipoplastien am gesamten Körper. Das abgesaugte Fett verwendete die Künstlerin für Reliquien. Alle weiteren kosmetischen Eingriffe wurden am Gesicht vorgenommen. Weniger bekannt ist der Fakt, dass die zunächst neun geplanten Operationen in ihrer zeitlichen Abfolge von unvorhergesehenen und nicht näher bezifferten korrektiven Maßnahmen abhingen, die als Folge der Eingriffe notwendig geworden waren. Während des medizinischen Prozederes erhielt ORLAN lokale Anästhesien an den betreffenden Körperstellen, etwa spinal oder direkt in die Gesichtspartien, um die Eingriffe bei vollem Bewusstsein durchleben, dabei handlungsfähig bleiben und mit dem Publikum kommunizieren zu können. Für die jeweiligen Aktionen verwandelte ORLAN den Operationssaal in ein Künstlerstudio: »It is an artist’s studio and also a film studio in which I am consciously producing reliquaries, drawings made with my fingers and my blood, videos, photos etc. It is more than just a performance space that is retransmitted via the satellite to several locations in the world like the Pompidou Centre and the McLuhan Centre in Toronto.«3 Die einzelnen Performances trugen unterschiedliche Mottos, die durch die Ausgestaltung der Räumlichkeiten, durch Tanz, Musik und durch das Verlesen literarischer, philosophischer wie psychoanalytischer Texte untermauert wurden, darunter Schriften von Eugénie Lemoine-Luccioni, Michel Serres, Sanskrit Hindu Texte, Alphonse Allais, Antonin Artaud, Elisabeth Fiebig-Bétuel, Raphael Cuir und Julia Kristeva. Alle im Operationssaal Anwesenden – auch die durchwegs staatlich zugelassenen Ärzte – trugen Kostüme, die von berühmten Couturiers entworfen worden waren. Das Set wurde durch thematisch abgestimmte Requisiten wie allegorisch passende Attribute und Zitate aus ORLANs bisherigem Schaffen vervollständigt. Vor den chirurgischen Maßnahmen wurden Personal und Räumlichkeiten sterilisiert. La Réincarnation de Sainte ORLAN wurde zum Teil durch private Mäzene sowie durch den Verkauf selbiger Performance in Form von Videos, Fotografien und weiterer Arte2 Beide Texte befinden sich unter Punkt II. und III. im Anhang dieser Schrift. 3 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 89.

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fakte finanziert. Die behandelnden Ärzte verzichteten auf ein für derartige Eingriffe übliches Honorar.4 1. Performance-Operation: Art Charnel (21. Juli 1990, Paris) Die erste Operation mit dem Titel Art Charnel/Carnal Art fand am 21. Juli 1990 unter der Leitung des französischen Chirurgen Dr. Kamel Chérif Zahar statt. Dabei wurden im Gesicht und an den Oberschenkeln Liposuktionen durchgeführt. Wie bei allen Performance-Operationen verlas ORLAN zum Auftakt die folgende Textpassage aus Eugénie Lemoine-Luccionis Buch »La robe: Essai psychoanalytique sur le vêtement«: Skin is deceiving … . In life, one only has one’s skin … . There is a bad exchange in human relations because one never is what one has … . I have the skin of an angel but I am a jackal … the skin of a crocodile but I am a poodle, the skin of a black person but I am white, the skin of a woman, but I am a man; I never have the skin of what I am. There is no exception to the rule because I am never what I have.5 Das behandelnde Team war in Roben von Paco Rabanne und Charlotte Calberg gekleidet. Den Operationssaal hatte man über und über mit weißen Plastikblumen dekoriert, hinzu kamen drei fluoreszierende Perücken sowie der Mantel einer Madonnenfigur. ORLANs schwarz‐weiß Fotografie La naissance d’ORLAN sans coquille/The birth of ORLAN without shell (1974), die ORLAN als 17. Bild in der Fotostrecke Strip‐tease occasionnel à l’aide des draps de trousseau/Incidental Strip-Tease Using Sheets from the Trousseau (1974-75) als Botticellis Venus pudica zeigt, war auf einem überlebensgroßen Karton aufgezogen und schmückte das Kopfende des Operationstisches. Das während der operativen Maßnahmen abgesaugte Fett wurde in Reliquiaren aus transparentem Resin (Gießharz) verschlossen, die die Form von ORLANs Armen und den Beinen aufweisen. 2. Performance-Operation: Opération dite de la licorne (27. Juli 1990, Paris) Während des zweiten Eingriffes am 27. Juli 1990 eine Woche nach der ersten Operation, setzte Dr. Kamel Chérif Zahar in der Opération dite de la licorne/Unicorn SurgeryPerformance dem Kinn ORLANs eine Prothese ein. ORLAN trug Passagen aus Eugénie Lemoine-Luccionis »La robe« und aus Julia Kristevas »Pouvoirs de l’horreur« vor. Nach Protesten durch den operierenden Arzt wurden die Ausstattung wie das Personal auf ein Minimum reduziert und es durfte nur ein Fotograf zugegen sein. 3. Performance-Operation: (27. September 1990, Paris) In der dritten und letzten von Dr. Kamel Chérif Zahar ausgeführten Operation am 27. September 1990 bestand dieser auf einer Vollnarkose, weswegen ORLAN auf performative Handlungen während des Eingriffes verzichten musste. Stattdessen wurde die Videoaufnahme der ersten Performance Art Charnel als Projektion auf dem Operationstisch gezeigt. An den Wänden standen die Transkriptionen von Dialogen zwischen 4 Die Gebühren, die in der neunten Operation, durchgeführt von Dr. Marjorie Cramer in New York, fällig geworden wären, hätten in etwa $12.000-15.000 betragen; vgl.: O’BRYAN, S. 155, Fußnote 56. 5 Eugénie Lemoine-Luccioni, zitiert nach: ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 317.

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der Künstlerin und Ärzten zu lesen, die sich geweigert hatten, ORLAN zu operieren. Es wurden Fettabsaugungen an den Beinen und Fußgelenken durchgeführt und gleichzeitig wurden Gesicht und Augenlider geliftet. Nach der dritten Performance trug ORLAN ihr Haar, wie Elsa Lanchester in dem Film »Bride of Frankenstein« aus dem Jahr 1935, in einer aufgetürmten Hochfrisur mit weißlich‐blond gefärbten Korkenzieherlocken über der Stirn. 4. Performance-Operation: Opération réussie (27. Dezember 1990, Paris)6 Für den vierten Eingriff am 27. Dezember 1990, der Opération réussie/Successful Operation, wurde Dr. Kamel Chérif Zahar durch den französischen Chirurgen und Kunstsammler Dr. Bernard Cornette de Saint-Cyr ersetzt. Dieser formte ORLANs Lippen mit dem Skalpell nach dem Vorbild der Europa aus dem Gemälde von Gustave Moreau und nahm eine Lipoplastie vor. Die mit Silberplättchen besetzten Kostüme stammten von Paco Rabanne. Zur Ausstattung gehörten zwei Schalen, in denen reichhaltig Früchte und je ein Hummer prangten. Ein Behältnis samt Inhalt waren echt, das andere mit den aus Plastik gefertigten Pendants bestückt. Für die Dauer der gesamten Performance hatte ORLAN eine Brust enthüllt. Dieses Motiv der frommen Geste der Maria lactans wurde von einer lebensgroßen Fotografie wiederaufgenommen, auf der ORLAN in weiße Laken gehüllt, mit entblößter Brust zu sehen war. Erneut wurde die Fotoarbeit mit dem Selbstportrait ORLANs als Venus platziert. Während des chirurgischen Eingriffs hielt ORLAN abwechselnd ein schwarzes und ein weißes Kruzifix, letzteres zu einer Gelegenheit verkehrt herum, in die Höhe. Am Ende der Performance drückte sie ihren dick mit Lippenstift markierten, neuen Mund auf ein transparentes Tuch. Aus den während der Operation entstandenen Aufnahmen entstanden 14 Triptychons sowie eine Serie an so genannten Grands reliquaries/Large Reliquaries, die im April 1993 in der Ausstellung My Flesh, the Text, and Languages in der New Yorker Penine Hart Gallery gezeigt wurden. 5. Performance-Operation: Opérationopéra (6. Juli 1991, Paris) In der fünften Performance Opération‐opéra/Opera Surgery-Performance/The Cloak of Harlequin am 6. Juli 1991 operierte ein weiteres Mal Dr. Bernard Cornette de Saint-Cyr, der Fett an den Schenkeln und Füßen absaugte. ORLAN war mit einem schwarzen Kleid von Frank Sorbier ausgestattet, dessen Oberteil aus einer schwarzen Korsage mit schmalen Trägern bestand und dessen weit ausladender Rock mit großflächigen bunten Ornamenten und Blumen bedruckt war. Eine mit bunten Rauten gemusterte turmartige Mütze, die erstmalig das Harlekin-Motiv zum Einsatz brachte, krönte ORLANs Haupt. Während die Künstlerin auf einer Liege in den OP gerollt wurde, hielt sie in ihren rot behandschuhten Händen rechterhand einen Stab, an dessen Ende ein Totenschädel emporragte, und links einen roten Dreizack. Der Operationssaal war mit Früchten und Blumen dekoriert und ORLANs Fotoarbeit La naissance d’ORLAN sans coquille/The birth of ORLAN without shell (1974) wurde in zweifacher Fassung aufgestellt. Nach der obligaten Lesung aus Eugénie Lemoine-Luccioni, wurde das Thema des Harlekins nochmals durch das Verlesen von Auszügen aus Michel Serres’ »Le Tiers-Instruit« aufgegriffen, 6 Über das Datum dieser Operation besteht Uneinigkeit. Jedoch muss sie aus Gründen der Chronologie noch im Dezember des Jahres 1990 stattgefunden haben.

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worin Harlekin als Hermaphrodit bezeichnet wird. Dieser Text war gleichzeitig Grundlage für ein Libretto, welches von Jimmy Blanche komponiert und vor Ort von diesem getanzt wurde. Zu Beginn der Performance trug dieser ein schwarzes Cape und eine grüne Perücke, worunter ein goldenes Bustier und ein roter Slip zum Vorschein kamen. Der Perücke entledigt, zeigte sich sein kahlgeschorener Kopf. Die Verwandlung spielte auf eine sexuelle Transformation an. Der Performance entstammen zwanzig Reliquiare, die mit ORLANs Fett und jeweils zehn Gramm ihres Fleisches7 gefüllt sind. Die schweren Behältnisse bestehen aus mehreren Glasschichten und werden von einem Metallrahmen gehalten. In der Mitte befindet sich eine Art fenestella confessionis, durch welches ORLANs Reliquie sichtbar wird. Auf den Reliquiaren ist der immer gleiche Textauszug aus Michel Serres’ »Le Tiers-Instruit«, jeweils in einer anderen Sprache eingraviert: Das normale, tätowierte, beidhändige, hermaphroditische und gemischt‐rassige Monster, was könnte es uns zeigen unter seiner Haut? Ja, das Blut und das Fleisch. Die Wissenschaft spricht über Organe, über Funktionen, über Zellen und Moleküle, um schlußendlich zuzugeben, daß man in den Laboratorien schon lange nicht mehr über das Leben spricht, aber nie sagt sie das Fleisch, das gerade die Mischung bezeichnet, an einem Ort des Körpers, hier und jetzt, voller Muskeln und Blut, Haut und Haar, Knochen, Nervenstränge und verschiedener Funktionen, das also dasjenige vermengt, welches durch das stichhaltige Wissen analysiert wird.8 Die der fünften Operation entstammenden Videos und Fotoaufnahmen wurden zu Triptychen in Form von weiß gerahmten Kreuzen verarbeitet. Darauf erscheint eine durch Narben entstellte ORLAN zusammen mit einer den Teufel zitierenden, gehörnten Figur. Aus dem Material entstand darüber hinaus eine Videoinstallation, die 1992 auf der Sydney Biennale in Australien an die Decke projiziert wurde. Darin wurden die folgenden Worte Jesu aus der Bibel wiederholt: Es ist noch um ein kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen; ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. (Johannes 14, 19). 6. Performance-Operation: Sacrifice (Februar 1992, Liège, Belgien)9 Der sechste Eingriff Sacrifice fand im Februar 1992 während eines Performance-Festivals im belgischen Liège statt und es operierte der belgische Arzt Dr. Pierre Quin. Am Bauch und im Gesicht wurde Fett abgesaugt. Die Operation hatte Antonin Artauds Gedanken des organlosen Körpers zum Motto, weswegen ORLAN aus dessen Text »Pour a finir avec le jugement de dieu« von 1947 rezitierte. Den Operationssaal schmückten drei Totenköpfe. 7 ORLANs Fleisch wird in einer speziellen Flüssigkeit (Bouins Fixativ) vor der Verwesung bewahrt. 8 SERRES, Michel, Troubadour des Wissens. Versuch über das Lernen (Le Tiers-Instruit, 1991), Zürich 2015, S. 10. Der gesamte Text über den Laizismus, aus dem ORLAN während der Operationen einige Passagen zitiert, findet sich im Anhang unter Punkt IV. 9 Über das genaue Datum herrscht in der Literatur Uneinigkeit.

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7. Performance-Operation: Omniprésence (21. November 1993, New York) Die wichtigste Performance aus La Réincarnation de Sainte ORLAN stellte die siebte Operation namens Omniprésence10 dar, die – wie der Titel andeutet – von New York aus via Satellit in mehrere Museen und Galerien gleichzeitig übertragen worden war, darunter das Centre Georges Pompidou in Paris, das McLucan Center in Toronto, das Banff Multimedia Centre im kanadischen Alberta, die Sandra Gering Gallery in New York und in weitere Städte wie Nizza, Lyons, Antwerpen, Quebec, Hamburg, Köln und Genf. Die technische Leitung übernahm das Filmteam der CBS-News mit deren Chefnachrichtensprecherin Connie Chung. Der Eingriff wurde von der Chirurgin Dr. Marjorie Cramer am 21. November des Jahres 1993 durchgeführt. Omniprésence sollte ORLANs Gesicht mit den Gesichtszügen von drei der vier noch ausstehenden Frauenfiguren aus der Kunstgeschichte vervollständigen. Betroffen waren die Wangenknochen, das Kinn und die Stirn, in welche zwei Implantate eingesetzt wurden: »During the last three operations, the largest implants possible for my anatomy were put in, and two more (normally used to enhance the cheeks) were inserted at each temple to create two bumps. The next operation will probably take place in Japan, to construct a very large nose, the largest nose technically possible (in relation to my anatomy) and ethically acceptable for a surgeon of this country. This nose must start at the forehead in the manner of Mayan sculpture. This operation will only take place in three or four years, as time is needed to find the technical and financial infrastructures and to develop the project as a whole.«11 Die Eingriffe im Gesicht – die Schnitte, Injektionen und das Zurückklappen der Hautlappen am Ohr und am Kinn – wurden jeweils in Nahaufnahme gefilmt. Es fand wieder die übliche Rezitation der Texte von Eugénie Lemoine-Luccioni und Michel Serres statt. Die Beteiligten trugen Kostüme von Lan Vu und ORLAN ein schwarzes, plissiertes Kleid, welches Issey Miyake entworfen hatte.12 Im OP, der in einem frühlingshaften Grünton ausgekleidet worden war, hingen verschiedentlich Uhren, welche die jeweilige Ortszeit von zum Beispiel Tokio, Toronto oder New York anzeigten. Auf dem beigestellten Fernsehgerät prangte ein Totenkopf, an dem die jeweiligen Implantate befestigt waren, die während der Operation in ORLANs Gesicht eingesetzt werden sollten. Noch vor und während der Prozeduren nahm ORLAN mit den in aller Welt via Satellit, Telefon und Faxgerät zugeschalteten Betrachtern Kontakt auf: sie beantwortete Telefonate, ließ sich Faxe reichen und kommunizierte via Liveschaltung mit Museumsbesuchern und den Teilnehmern der Podiumsdiskussion, die zeitgleich im Centre Georges Pompidou abgehalten wurde.13 Zusätzlich wurden die Ereignisse von einer Dolmetscherin in schwarzem Gewand und einem hoch aufragenden grünen Hut in Gebärdensprache übersetzt. Vice versa wurden die sich in den Gesichtern und Reaktionen des 10 Ein Omniprésence zusammenfassendes Video, ist auf der Hompage der Künstlerin einsehbar: www.orlan.eu/works/videos‐dorlan-2/ 11 ORLAN, »Intervention«, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327, hier S. 323-324. Was ORLAN bezüglich ihrer Nase ankündigt, wurde noch nicht ausgeführt. 12 Lediglich CBS-News Anchorwoman Connie Chung war mit ihrer eigenen Garderobe ausgestattet. 13 Die Diskutanten waren Norbert Hillaire, Gladys Fabre, Christian Vanderborght, Serge François, JeanPaul Fargier und Pierre Restany; vgl.: Eugenio Viola, »The narrative«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 23-49, hier S. 37.

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Publikums widerspiegelnden und im übertragenem Sinne empfundenen Schmerzen und der Widerwillen während der Betrachtung des so unverhohlen gezeigten chirurgischen Eingriffs per Bildmedien sichtbar gemacht. Auch aus dieser Operation gingen Reliquien hervor. Außerdem entstand die nach Abschluss von La Réincarnation de Sainte ORLAN in der Sandra Gering Gallery gezeigte Fotoarbeit Self-Hybridation, Entre‐deux/Self-Hybridization, In-Between (1994), welches in 41 Foto-Diptychen den 40 Tage lang dokumentierten Heilungsprozess von ORLANs Gesicht quittiert. In dieser Ausstellung wurden weitere, dem chirurgischen Prozess entstammende Relikte gezeigt, darunter der Arztkittel von Dr. Marjorie Cramer, blutiges Verbandsmaterial, Mull- und Gazetücher, die von ORLAN mit ihrem Fleisch und Blut getränkt wurden. Mit der Live-Übertragung hatte ORLAN eines ihrer Vorhaben vollbracht, »to do a performance that would be like a bomb in intellectual society.«14 8. Performance-Operation: Saints Suaires (28. November 1993, New York) Eine Woche nach Omniprésence führte Dr. Marjorie Cramer den achten chirurgischen Eingriff mit dem Titel Saints Suaires/Holy Shrouds durch, der dazu diente, die in der siebten Operation eingesetzten Implantate nachzuarbeiten und weiter Material für Reliquien zu gewinnen. Von ORLAN wurden dabei Sanskrit-Schriften aus dem Hinduismus verlesen. Immer wieder drückte die Künstlerin während der korrektiven Maßnahmen ihr Gesicht auf Gazetücher, wodurch sie mit ihrem Blut und dem Wundfluss Abdrücke auf den Stoffstücken hinterließ. Die Arbeiten tragen den Titel Sainte Suaire/Holy shroud15 und erinnern damit als gewollte Referenz an religiös motivierte Reliquien und Leichentücher, wie sie im Katholizismus verehrt werden. Die Tücher erscheinen heute in den verschiedensten Farbnuancen, auch, weil sie zusätzlich mit fotografischen Abbildern der Künstlerin bedruckt wurden, die unter den eingetrockneten Körperflüssigkeiten hindurchscheinen. 9. Performance-Operation: 9ème opération chirurgicaleperformance (14. Dezember 1993, New York) Ein neuntes und bis zum heutigen Tag letztes Mal sollte Dr. Majorie Cramer am 14. Dezember 1993 eine Korrektur der Implantate und eine Liposuktion zur Gewinnung von körpereigenem Material der Künstlerin vornehmen. Der Titel der OP lautet schlicht 9ème opération chirurgicale‐performance/9th Surgery-Performance. ORLANs Zeichnungen mit Blut dekorierten in vergrößerter Form den Raum. Das erneut gesammelte Fleisch und Fett der Künstlerin wurde zur Herstellung von in Resin gegossenen Reliquiaren genutzt, die in mit Neonlicht erhellten Behältern aus Plexiglas aufbewahrt werden.   Danach gefragt, ob sie weitere chirurgische Eingriffe plant, antwortete ORLAN im Jahr 2007: »I don’t think so. I was the first artist to use surgery to make it think afresh about itself, but surgery is not my job. It’s not because I do it that I want to go on 14 ORLAN, zitiert nach: O’BRYAN, S. 16. Sie war schlagartig einem breiten Publikum bekannt geworden. 15 In der achten Performance wird das Saint suaire n°9 (1993) gezeigt, welches unter dem blutigen Stoff das Foto des geschwollenen Gesichtes der Künstlerin aus der Heilungsphase von Omniprésence durchscheinen lässt. Vgl.: O’BRYAN, S. 16.

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doing it all my life. I had the idea for an operation where the body would be opened up, with no other aim but to open up the body and show it while I read and while I smile. I would say that this is a poetico‐demonstrative action, to show that it is possible to have one’s body cut open and not suffer. I prefer to work with other cutting‐edge technologies that are not linked to surgery: robotics, artificial intelligence, biogenetics, and biotechnologies. I am working, at the moment, on a collaborative project (I like collaborations a lot, I have collaborated with an architect, musicians, a choreographer, a designer, a scriptwriter, and others) with a group of Australian artists, SymbioticA and Jens Hauser. There are artists that have a laboratory that specializes in skin cultures at the University of Perth, and Jens Hauser is a biotech art theorist. They have got a laboratory organized to culture skin and muscle cells. I will be creating an installation with my harlequin coat made up of rectangular Petri dishes in which there will be different colors. Some of these will be garnished with skin cultures obtained from my cells mixed with different cells. This harlequin coat alludes to »Laïcité«, and the Preface to the »Tiers instruit«, a philosophical work by Michel Serres that I used for my fifth sugery‐performance, Opération‐opéra (Operation-Opera). The harlequin is a metaphor for multiculturalism and hybridization, for each piece of his costume is made from different materials with different provenances.«16

II. ORLAN, »Carnal Art Manifesto« (1989) 17 Definition Carnal Art is the work of the self‐portrait in its classical sense, but with technological means which are from one’s own time. It oscillates between distortion of figure and reconstruction of the figure. It is inscribed in flesh because our era is starting to allow such possibility. The body becomes a modified readymade because it is no longer this ideal readymade one can simply sign. Distinction Unlike Body Art, Carnal Art does not contain a desire for pain, does not look for it as a purifying source, does not consider it as Redemption. Carnal Art is not interested in the final plastic result but in the surgical operation performance itself and the modified body, now a site of public debate. Atheism Clearly Carnal Art is not the inheritor of the Christian tradition, against which it fights! It points at its negation of body‐pleasure and lays bare its unravelling in the face of scientific discoveries. 16 ORLAN, in: Eugenio Viola, »Conversation with ORLAN«, in: SAINT-ÉTIENNE, Ausst.kat., ORLAN, 2007, S. 83-97, hier S. 97. 17 Das »Carnal Art Manifesto« entspricht der von der Künstlerin ORLAN legitimierten und von Simon Donger übersetzten englischsprachigen Fassung aus: DONGER, S. 28-29.

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Neither is Carnal Art the inheritor of a hagiography handed down by martyrs: it adds rather than subtracts, magnifying abilities instead of minimizing them. Carnal Art is not self‐mutilation. Carnal Art transforms flesh into language and reverses the Christian principle of the word turned flesh into the flesh turned word; only the voice of ORLAN remains unchanged: the artist works on representation. Carnal Art finds the famous ›you will give birth in pain‹ anachronistic and ridiculous, like Artaud Carnal Art wants to get rid of God’s judgement; now we have caesareans and multiple anaesthetics, pain killers and morphine! The end of pain! Perception Now I can see my body open without suffering. I can see deep into my entrails, a new step in the mirror process. I can see the heart of my lover and its splendid drawing has nothing to do with the symbolic doodles that are usually drawn. Darling, I love your spleen, I love your liver, I love your pancreas and the line of your femur turns me on. Freedom Carnal Art affirms the individual freedom of the artist and so it fights against norms and preconceived ideas; that is why it is inscribed in the social fabric, in the media (where it is scandalously challenging common ideas) and far into the legal apparatus. Focus Carnal Art is not against cosmetic surgery, but against the standards it carries and which are inscribed particularly over women’s skin, but also men’s. Carnal Art is feminist, necessarily. Carnal Art is interested in cosmetic surgery, but also in the high tech medical and biological techniques that challenge the body’s status and pose ethical concerns. Style Carnal Art loves the Baroque and parody, the grotesque and the styles left behind, because C arnal Art is opposed to social pressures exerted as much upon human bodies as upon the bodies of artworks.

III. ORLAN, »Intervention« (1995) 18 In French, ›Intervention‹ also means ›operation‹.   Few images force us to close our eyes: 18 ORLANS Text »Intervention« wurde von der Künstlerin zu verschiedenen Gelegenheiten in Exzerpten oder in Gänze verlesen und mehrfach sowie in verschiedene Sprachen übersetzt. Die hier abgedruckte Version folgt der ausgezeichneten und vollständigen Übersetzung aus dem Französischen von Tanya Augsburg und Michel A. Moos, in: PHELAN, The Ends of Performance, S. 315-327.

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Death, suffering, the opening of the body, certain aspects of pornography (for certain people) or for others, birth. Here the eyes become black holes in which the image is absorbed willingly or by force. These images plunge in and strike directly where it hurts, without passing through the habitual filters, as if the eyes no longer had any connection with the brain. When you watch my performances, I suggest that you do what you probably do when you watch the news on television. It is a question of not letting yourself be taken in by the images and of continuing to reflect about what is behind these images.   In my performances, in addition to the medical personnel and my team, there is a sign language interpreter for the deaf and hearing‐impaired. This person is there to remind us that we are all, at certain moments, deaf and hearing‐impaired.   Her presence in the operating theatre brings into play a language of the body.   My surgical performances began on May 30, 1990, in Newcastle, England. It was the logical development of my preceding work, but in a much more radical form.   This performance has two titles: The first, The Reincarnation of Saint Orlan, alludes to the character that was gradually created by appropriating the religious images of madonnas, virgins, saints.   The second title, Image – New Images, winks at Hindu gods and goddesses who change appearances to carry out new deeds and exploits (for me it is about shifting referents, passing from Judeo-Christian religious iconography to Greek mythology), something that I do after all my operations. On the other hand, this title alludes to the said new images – i.e., new technologies – because I make myself into a new image in order to produce new images.   We could say that this performance is a command performance. In fact, English curators, having seen one of my performances at the Centre Georges Pompidou, during a demonstration over the Fluxus movement and Happenings in June 1989, came to me to invite me to participate in their festival, to do a piece on the theme ›Art and Life in the Nineties‹.   With this opportunity, I found the means to say loudly and clearly all that I thought was negative about artistic production in the eighties.   I therefore decided to do an anti‐performance, as counterpoint to what was taking place in the panorama of contemporary art.   During these years, the majority of artists (I’m not saying all) had become completely adapted to the society and hyperadapted to the laws of the market.  

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Often my students at the École Nationale in Dijon asked me for recipes on how to sell and how to get into certain galleries in certain circles.   I was at the other end of the spectrum from this attitude.   My work emerged during the seventies (I should specify that I was twenty‐three – I was born May 30, 1947 – and that my first street performances were done in 1965, when I was eighteen), when art was engaged with the social, the political, the ideological, a period when artists were very invested intellectually, conceptually, and sometimes physically in their work.   During this time, I had already used surgery at a performance symposium that I organized in Lyon for five years. I had to be operated on urgently: my body was a sick body that suddenly needed attention. I decided to make the most of this new adventure by turning the situation on itself, by considering life an aesthetically recuperable phenomenon: I had photography and video brought into the operating room, and the videos and photographs were shown as if it had been a planned performance.   Being operated on is not frivolous; the experience was very intense: I was certain that one day, somehow, I would work again with surgery.   I wanted to take up again these tropes and ingredients of my work to elaborate a performance without being false to myself, a performance in continuity with previous steps and approaches.   A performance facing the future, using up‐to-date techniques. One of my favorite mottoes is ›Remember the Future‹.   I wanted to make a performance radical for myself and beyond myself …   It was upon reading a text by Eugénie Lemoine Luccioni, a Lacanian psychoanalyst, that the idea of putting this into action came to me (a passage from reading to the carrying out of the act). At the beginning of all my performance‐operations, I read this excerpt from her book, La Robe: Skin is deceiving … . In life, one only has one’s skin … . There is a bad exchange in human relations because one never is what one has … . I have the skin of an angel but I am a jackal … the skin of a crocodile but I am a poodle, the skin of a black person but I am white, the skin of a woman, but I am a man; I never have the skin of what I am. There is no exception to the rule because I am never what I have. Reading this text, I thought that in our time we have begun to have the means of closing this gap, that, with the help of surgery, it was becoming possible to match up the internal image to the external image.  

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I say that I am doing a woman‐to-woman transsexualism by way of allusion to transsexuals: a man who feels himself to be a woman wants others to see himself as a woman.   We could summarize this by saying that it is a problem of communication.   One can consider my work as classical self‐portraiture even if initially it is conceived with the aid of computers. But what can one say when it comes to permanently inscribing this work into the flesh? I will speak of a ›Carnal Art‹, in part to differentiate myself from Body Art, to which nevertheless it belongs.   Carnal Art is a work of autoportraiture in the classical sense, but with the technological means of its time. It oscillates between disfiguration and refiguration. It inscribes itself in the flesh because our era begins to lend itself to this possibility. The body is becoming a ›modified ready‐made‹ because it is no longer the ideal ready‐made waiting to be signed.   Unlike Body Art, from which it distinguishes itself, Carnal Art does not desire pain, does not seek pain as a source of purification, and does not perceive pain as Redemption. Carnal Art is not interested in the final plastic result, but in the surgical operation‐performance and the modified body, as venue for public debate.   For me it is about pushing art and life to their extremes.   My work and its ideas, incarnated in my flesh, interrogate the status of the body in our society and its evolution in future generations via new technologies and upcoming genetic manipulations.   My body has become a site of public debate that poses crucial questions for our time.   At the inception of this performance, I constructed my self‐portrait by mixing and hybridizing, with the help of a computer, representations of goddesses of Greek mythology – chosen not because of the canons of beauty that they are supposed to represent (seen from afar), but for their histories.   Briefly: • •

Diana was chosen because she is insubordinate to the gods and men; because she is active, even aggressive, because she leads a group. Mona Lisa, a beacon character in the history of art, was chosen as a reference point because she is not beautiful according to present standards of beauty, because there is some ›man‹ under this woman. We now know it to be the self‐portrait of Leonardo da Vinci that hides under that of La Gioconda (which brings us back to an identity problem).

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Psyche because she is the antipode of Diana, invoking all that is fragile and vulnerable in us. Venus for embodying carnal beauty, just as Psyche embodies the beauty of the soul. Europe because she is swept away by adventure and looks toward the horizon.

After mixing my own image with these images, I reworked the whole as any painter does, until the final portrait emerged and it was possible to stop and sign it.   I do not want to resemble Botticelli’s Venus. I do not want to resemble the Europe of Gustave Moreau – who is not my favorite painter. I chose the Europe of this painter because she figures in an unfinished painting, just like so many of his paintings! I do not want to resemble Gérard’s Psyche. I don’t want to resemble Diana of the Fontainebleau School. I don’t want to resemble Mona Lisa, although this continues to be said in certain newspapers and on television programs despite what I have said on numerous occasions!   (The media fallout, from which I cannot escape, be it televisual or written press, makes claims the meaning of which will be felt in ten years. I propose that the resulting media images in galleries and museums form an integral part of my work since, whatever their reductive tendencies may be, they allow me to see my impact on a public I’m addressing, a public that isn’t necessarily part of the micro‐milieu of art.)   These representations of feminine personages have served me as fabric of inspiration and are there deep underneath in a symbolic manner, and in this way their images can resurface in works that I produce, with regard to their histories.   With this computer‐generated work, I then went to see the surgeons, asking them to bring me as close as possible to this image.   At first finding a surgeon was a difficult thing. After many rejections, I found one, a cautious one who proceeded to go ahead a step at a time, which allowed me to understand where I was going and what it was possible to make happen in an operating room, what the limits were, what my limits were, how I would react, how my body would react; and thus to learn better how to orchestrate the entirety of these operations.   As a plastic artist I wanted to intervene in the surgical aesthetic, which is cold and stereotyped, and to confront it with others: the décor is transformed, the surgical team and my team wear clothing conceived by established fashion designers, by myself, or by young, up‐and-coming stylists (Paco Rabanne, Franck Sorbier, Miyaké, Lan Vu).   Each operation has its own style. This ranges from the carnivalesque (which is not for me a pejorative word; the word carnival originally means carne vaut) to the high‐tech, passing through the baroque, and so forth.

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Existentielle Grenzerfahrungen   For I think there are as many pressures on women’s bodies as there are on the body – on the physicality – of works of art.   Our era hates the flesh; and works of art cannot enter certain networks and certain galleries except according to preestablished molds. Among others, the parodic style, the grotesque, and the ironic are irritating, judged to be in bad taste and often scorned.   Each performance‐operation is built on a philosophical, psychoanalytical, or literary text (Eugénie Lemoine Luccioni, Michel Serres, Sanskrit Hindu texts, Alphonse Allais, Antonin Artaud, Elisabeth Fiebig-Bétuel, Raphael Cuir, Julia Kristeva).   The operating room becomes my studio, from which I am conscious of producing images, making a film, a video, photos, drawings with my blood, relics with my body fat and my flesh, kinds of sudaria and other objects that will later be exhibited; These works attempt to varying degrees to be autonomous. I try to inscribe again in substance the same ideas that presided in the elaboration of the performances – from which they issue – so that the quality of this materiality reveals the essence of these ideas. In the plastic work, it is less a question of equaling the transition to action and the violence of the act, as it is a bringing to the light of the elements of construction of a thought, which affords itself the freedom of transgression of the taboo act. That is to say, like any artist, to take off from a position, from a social project and/or an artistic problematic, and to have to find and put to work a plastic solution.   I’m on my ninth performance‐operation. The first six were performed in Europe with two French surgeons, Dr. Kamel Chérif Zahar, Dr. Bernard Cornette de Saint-Cyr, and a Belgian surgeon, Dr. Pierre Quin.   The seventh operation (the most important one) and the eighth and ninth were performed by Dr. Marjorie Cramer, a feminist plastic surgeon in New York.   The seventh performance‐operation, which took place on November 21, 1993, was based on the concept of Omnipresence.   It was broadcasted life by satellite from the Sandra Gering Gallery in New York, to the Centre Georges Pompidou in Paris, the McLuhan Center in Toronto, the MultiMedia Center in Banff, and a dozen other sites with which we were in contact by means of interactive transmission […].   Spectators could thus participate in the operation from several countries around the world and, in addition, ask questions, to which I responded live when the operation procedure permitted.   The performance was about, among other things, desacralizing the surgical act and making a private act transparent, public.

Dokumentenanhang   By the same token, in the gallery, the photographic installation rested on two ideas: to show what normally is held secret and to establish a comparison between the self‐portrait made by the computing machine and the self‐portrait made by the body‐machine.   In order to do this, I placed forty‐one metal diptychs in the gallery, corresponding to forty days of exhibition, plus one for the final image: on the bottom half of each diptych was a photo of a computer screen showing a face made with the help of morphing software. I exposed the ›space between‹, in other words, an image of the exact, unretouched space conceived as the intersection of my face and the portrait of my reference personages. On the top half of each diptych, each day we affixed with magnets the image du jour, therefore that of a face first of all bandaged, the multicolored: from blue to yellow, passing through red, and sufficiently swollen. Each metal plate was dated.   On the last day, the installation was complete, and by dint of that the exhibition was over.   During the last three operations, the largest implants possible for my anatomy were put in, and two more (normally used to enhance the cheeks) were inserted at each temple to create two bumps.   The next operation will probably take place in Japan, to construct a very large nose, the largest nose technically possible (in relation to my anatomy) and ethically acceptable for a surgeon of this country. This nose must start at the forehead in the manner of Mayan sculpture.   This operation will only take place in three or four years, as time is needed to find the technical and financial infrastructures and to develop the project as a whole.   But also, I take this time because the greatest risk I run is that this radical, very shocking performance could eclipse all the plastic work that comes out of it. Furthermore, my present objective is to produce and to show the works that have come out of the preceding operations, making known the processes of construction of this performance and taking up with the largest possible public the questions they raise.   My work is not against cosmetic surgery, but against the standards of beauty, against the dictates of a dominant ideology that impress themselves more and more on feminine flesh … and masculine flesh.   Cosmetic surgery is one of the sites in which man’s power over the body of woman can inscribe itself most strongly.   I would not have been able to obtain from the male surgeons what I obtained from my female surgeon; the former wanted, I think, to keep me ›cute‹.

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Existentielle Grenzerfahrungen   Feminists reproach me for promoting cosmetic surgery. In fact, although I am a feminist, I am not against cosmetic surgery, and I can explain this: in the past we had a life expectancy of forty to fifty years. Today, it has jumped to seventy or eighty (and is constantly going up).   We all have a feeling of strangeness in front of the mirror; this often becomes more acute as we age. For some people this becomes unbearable, and the use of cosmetic surgery is very positive in this case.   Obviously, cosmetic surgery ought not to become compulsory! Here again, social pressure must not prevail over individual desires.   Cosmetic or not, surgery is not natural, but taking antibiotics in order not to die of infection is not any more natural! It is a phenomenon of our century, one of many possibilities, a choice.   I am the first artist to use surgery as medium and to alter the purpose of cosmetic surgery: to look better, to look younger.   »I is an other« [»Je est un autre«]. I am at the forefront of confrontation.   Like the Australian artist Stelarc, I think that the body is obsolete. It no longer is adequate for the current situation. We mutate at the rate of cockroaches, but we are cockroaches whose memories are in computers, who pilot planes and drive cars that we have conceived, although our bodies are not conceived for these speeds.   We are at the threshold of a world for which we are neither mentally nor physically ready.   Psychoanalysis and religion agree in saying, »One must not attack the body,« »One must accept oneself.« These are primitive, ancestral, anachronistic concepts. We think that the sky will fall on our heads if we touch the body!   Nevertheless, many people have had organ grafts, hip replacements, and a good number of crash victims’ faces have been reconstructed. And how many more straightened or bobbed noses are out there enjoying the air without physical or psychological problems?   Are we still convinced that we must bend ourselves to the decisions of Nature, this lottery of genes distributed by chance?   My work is a struggle against the innate, the inexorable, the programmed, Nature, DNA (which is our direct rival as artists of representation), and God!  

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My work is blasphemous.   It is an endeavor to move the bars of the cage, a radical and uncomfortable endeavor! It is only an endeavor.   I based one of my operations on a text by Antonin Artaud, who dreamed of a body without organs. This text mentions the names of the poets of his time. Then it enumerates how many times these poets must have defecated, urinated, how many hours were needed to sleep, to eat, to wash, and concludes that this is totally disproportionate to the fifty or so pages of magical production (as he calls the creative act).   A few words about pain. I try to make this work as unmasochistic as possible, but there is a price to pay: the anesthetic shots are not pleasant. (I prefer to drink a good wine with friends rather than to be operated on!) Nevertheless, everyone is familiar with this. It’s like at the dentist: you make a face for a few seconds. And as I have not paid my tribute to Nature in experiencing the pains of childbirth, I consider myself happy. After the operations, it is more or less uncomfortable, more or less painful. I therefore take analgesics.   As my friend the French artist Ben Vautier would say, »Art is a dirty job, but somebody’s got to do it.«   In fact, it is really my audience who hurts when they watch me and the images of my surgeries on video.   I compare myself to a high‐level athlete. There is the training, the moment of the performance, where one must go beyond one’s limits – which is not done without effort (or pain) – and then there is the recuperation.   Like a sportsman who makes a solitary crossing of the Atlantic, we often do crazy things without necessarily being crazy.   »I have given my body to Art.« After my death it will therefore not be given to science but to a museum and, mummified, will form the centerpiece of an interactive video installation.   When the operations are finished, I will solicit an advertising agency to come up with an artist’s name and logo; next I will retain a lawyer to petition the Republic to accept my new identity and my new face. It is a performance that inscribes itself into the social fabric, that challenges the law, that moves toward a total change of identity. (Should this prove impossible, in any event, the attempt and the pleading of the case by the attorney will form part of the work).  

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I will conclude with two excerpts of a text by Michel Serres, which served as a framework in the construction of the sixth surgical operation. The first excerpt of this text was used in making a series of relics.   The idea of these series is to produce the most reliquaries possible, all presented in the same manner, always with the same text but each time translated into another language, until the body is depleted; each time in a different language until there is no more flesh to put in the center of the reliquary: The current tattooed monster, ambidextrous, hermaphroditic and cross‐bred, what can it make us see, now, under its skin? Yes, blood and flesh. Science speaks of organs, functions, of cells and molecules, only to admit at last that it’s high time we stopped speaking of life in laboratories; but science never mentions the flesh, which, quite rightly, signifies the conflation, here and now, in a specific site of the body, of muscles and blood, skin and hair, bones, nerves and divers functions, that inextricably binds that which pertinent knowledge analyzes.   The second part of this text was not used for the reliquaries but was read during the operation and on video: Now already for a while many spectators will have left the auditorium, tired out by ineffectual theatrical effects, irritated at the turn from comedy to tragedy, having come to laugh and deceived at having been made to think; there will be some even – knowledgeable specialists no doubt – who will have understood on their own terms, that each portion of their knowledge resembles the coat of the Harlequin, since each one works at the intersection of many other sciences and at the interference point of almost all of them. Thus their academy – its encyclopedic institution – formally rejoins the comedy of art.   Carnal Art loves the baroque and parody, the grotesque and free‐form because Carnal Art is opposed to social pressures that exert themselves as much on the human body as on the body of artworks. Carnal Art is anti‐formalist and anti‐conformist.

IV.Michel Serres, Troubadour des Wissens. Versuch über das Wissen (Le Tiers Instruit, 1991) [Auszug: Laizismus] 19 Laizismus Zurück von der Inaugenscheinnahme seiner Mondlandschaften, erscheint Harlekin als Kaiser auf der Bühne zu einer Pressekonferenz. Welche Wunderlichkeiten er wohl gesehen hat, als er so außergewöhnliche Orte durchquerte? Das Publikum erwartet Extravagantes. 19 SERRES, Michel, Troubadour des Wissens. Versuch über das Lernen (Le Tiers-Instruit, 1991), übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Karl Werner Modler, Zürich 2015, S. 6-11.

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»Nein, nein«, antwortet er auf die ihn bedrängenden Fragen. »Alles ist überall wie hier, identisch mit dem, was man sonst auf diesem Globus aus Erde und Wasser sehen kann. Nur graduell ändern sich Größe und Schönheit.« Die Zuhörer sind enttäuscht und trauen ihren Ohren nicht: Anderswo ist es doch sicher anders! Hat er denn nichts auf seiner Reise beobachten können? Zuerst stumm und verblüfft, beginnen sie langsam unruhig zu werden, aber Harlekin wiederholt hochgelehrt seine Lektion: nichts Neues, weder unter der Sonne noch auf dem Mond. Das Wort des Königs Salomon geht demjenigen des Trabantenpotentats voraus. Dem ist nichts hinzuzufügen, kein Kommentar. Ob sie nun königlich oder kaiserlich ist, wer die Macht innehat, findet im Raum tatsächlich nur Gehorsam gegen die eigene Macht wieder, das heißt gegen das eigene Gesetz: Die Macht rückt nicht zur Seite. Wenn sie sich fortbewegt, schreitet sie auf einem roten Teppich voran. So entdeckt die Vernunft unter ihren Schritten bloß ihre eigene Regel. Hochmütig, voller lächerlicher Verachtung und Dünkel, mustert Harlekin die Zuschauer. Mitten in der Klasse, die langsam unruhig wird, steht ein schöner und schlechter Geist auf und streckt die Hand aus, um auf Harlekins Mantel zu zeigen. »He du«, schreit er, »der du sagst, daß alles überall wie hier ist, willst du uns auch weismachen, daß dein Mantel aus einem Stück ist, zum Beispiel vorne gesehen wie am Boden?« Das Publikum ist aufgerüttelt, weiß nicht mehr, ob es still sein oder lachen soll; und tatsächlich zeigt das Kleid des Königs das Gegenteil dessen an, was jener behauptet. Eine zusammengesetzte Buntheit, Stückwerk, aus Flicken oder Fetzen, von jedweder Größe, in tausend verschiedenen Formen und Farben, unterschiedlich alt, diverser Herkunft, schlecht angenäht, ohne Harmonie aneinandergereiht, ohne auf die Umgebung abgestimmt zu sein, den Umständen entsprechend gestopft, ganz nach Bedarf, Zufüllen und Kontingenzen. Zeigt es eine Art Weltkarte, die Reisekarte des Komödianten, wie ein mit Marken übersäter Koffer? Anderswo ist es also niemals wie hier, kein Stück gleicht dem anderen, keine Provinz ließe sich mit dieser oder jener vergleichen, und alle Kulturen unterscheiden sich. Der Portolan-Umhang des Mondkönigs widerspricht dessen Behauptung. Betrachten Sie mit allen Ihren Augen diese Landschaft gestreift, getigert, getönt, moiriert, verziert, genarbt, gepeitscht, gelöchert, gemasert, kunterbunt, zerrissen, mit Schleifen, Kreuzkappen, zerrissenen Fransen, überall unerwartet, miserabel, ruhmreich, so großartig, daß Ihnen der Atem wegbleibt und das Herz pocht. Mächtig und platt regiert das Wort, es ist monoton und versiegelt den Raum; prachtvoll aus Armut dagegen, unwahrscheinlich, verzaubert das Kleid. Der lächerliche Kaiser wiederholt sich wie ein Papagei und hüllt sich in eine Weltkarte ein, die aus schlecht aneinandergeklebten Mannigfaltigkeiten besteht. Reines und einfaches Wort, zusammengesetztes und schlecht assortiertes Kleid, schillernd, schön wie ein Ding: Was wählen? »Kleidest du dich mit dem Seebuch deiner Reisen?«, sagt auch schon der perfide Schöngeist. Alles lacht. Der König ist ertappt und niedergeschlagen.

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Existentielle Grenzerfahrungen   Harlekin hat schnell den einzigen Ausgang aus seiner lächerlichen Position erraten: Er muß diesen Mantel, der ihn als Lügner entlarvt, ausziehen. Er erhebt sich zögernd, betrachtet mit offenem Mund die Zipfel seines Kleidungsstücks, dann betrachtet er selig das Publikum, schaut wieder seinen Mantel an, als wäre er von Scham gepackt. Der Saal lacht ein bißchen dümmlich. Er nimmt sich Zeit man wartet. Endlich trifft der Kaiser des Mondes eine Entscheidung. Harlekin zieht sich aus; nach vielen Grimassen und ungelenken Verrenkungen hat er soeben den bunten Mantel zu seinen Füßen fallen lassen. Eine weitere getönte Hülle kommt zum Vorschein: Er hatte einen zweiten Fetzen unter dem ersten Tuch getragen. Verwirrt lacht der Saal wieder. Man muß also wieder von vorne anfangen, denn die zweite Hülle ist, ähnlich wie der Mantel, aus neuen und alten Stücken zusammengesetzt. Unmöglich, die zweite Tunika zu beschreiben, ohne wie eine Litanei zu wiederholen: getigert, getönt, gestreift, übersät … Harlekin zieht sich also weiter aus. Ein weiteres moiriertes Kleid, eine neue verzierte Tunika, dann eine Art geriffeltes Tuch kommen nacheinander zum Vorschein, und noch ein gemaserter kunterbunter Strumpf … Der Saal bricht in schallendes Gelächter aus, immer verblüffter, Harlekin wird nie zu seinem letzten Kostüm kommen, während das vorletzte, so oft man will, dem vorletzten ähneln wird: bunt, zusammengesetzt, zerrissen … Harlekin trägt eine dicke Schicht dieser Harlekinsmäntel auf sich. Unendlich weicht das Nackte unter den Verstecken zurück, und das Lebende unter der aus Lumpen aufgeblähten Puppe oder Statue. Gewiß, der erste Mantel zeigt das Nebeneinander der Stoffstücke, aber die Vielfalt, die Kreuzung, der aufeinanderfolgenden implizierten Hüllen zeigen und verdecken sie zugleich auch. Einer Zwiebel oder Artischocke gleich, hört Harlekin nicht auf, seine getönten Mäntel zu entblättern oder zu entschuppen, das Publikum hört nicht mehr auf zu lachen.   Plötzlich Stille; Ernst, sogar Schwere legt sich auf den Saal nieder, der König ist jetzt nackt. Der letzte Schirm wurde ausgezogen und ist soeben gefallen. Bestürzung! Tätowiert stellt der Mondkaiser eine kunterbunte Haut zur Schau, noch viel eher eine Buntheit als Haut. Der ganze Körper ähnelt einem digitalen Fingerabdruck. Wie ein Bild auf einer Bespannung, geriffelt, getönt, verziert, getigert, damastartig gewoben, moiriert, widersteht die Tätowierung der Betrachtung auf dieselbe Weise wie die Kleider oder Mäntel, die am Boden liegen. Auf daß der letzte Schleier falle und das Geheimnis sich offenbare, das genauso kompliziert ist wie die Menge der Barrieren, die es gehütet haben. Sogar Harlekins Haut widerspricht der von seinem Sagen behaupteten Einheit, da auch sie ein Harlekinsmantel ist. Der Saal versucht erneut zu lachen, aber er kann nicht mehr: Vielleicht müßte der Mann sich abhäuten; Pfiffe, Spottrufe … Kann man von jemanden verlangen, sich selbst zu enthäuten? Der Saal hat es gesehen, er hält den Atem an, man könnte eine Fliege hören. Harlekin ist nur dann Kaiser, selbst ein lächerlicher, Harlekin ist nur dann Harlekin, vielfältig und unterschiedlich, wogend und mehrzählig, wenn er sich anzieht und auszieht: mit Namen versehen, mit Titeln versehen, weil er sich schützt, sich verteidigt und sich

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versteckt, auf vielfältige und indefinite Weise. Brutal haben die Zuschauer zusammen soeben das ganze Mysterium durchschaut. Jetzt ist er enthüllt, schutzlos der Intuition ausgeliefert. Harlekin ist Hermaphrodit, gemischter Körper. Männchen und Frau. Skandal im Saal, der zu Tränen bestürzt ist. Der nackte Androgyne mischt das Genus, ohne daß man die Umgebung, Orte oder Ränder ausfindig machen könnte, wo die Geschlechter aufhören und beginnen: ein in einem Weibchen verlorener Mann, eine mit einem Männchen vermischte Frau. Auf diese Art zeigt er oder sie sich: als Monster. Monster? Sphinx, Tier und Mädchen, Zentaur, Männchen und Pferd; Einhorn, Chimäre, zusammengesetzter und gemischter Körper; wo und wie die Löt- oder Schnittstelle ausfindig machen, die Spur, wo die Verbindung sich knüpft und sich zuschnürt, die Narbe, wo die Lippen sich verbinden, die rechte und die linke, die obere und die untere, aber auch der Engel und das Tier, der hochmütige, bescheidene oder rachedurstige Sieger und das ergebene oder widerspenstige Opfer, das Leblose und das Lebendige, der Armselige und der Steinreiche, der platte Dumme und der lebhafte Verrückte, Genie und Blödmann, Meister und Sklave, Kaiser und Narr. Monster, gewiß, aber normal. Welchen Anschein beseitigen, um die Nahtstelle zu finden? Harlekin-Hermaphrodit gebraucht beide Hände, nicht beidhändig ist er, sondern ein umgelernter Linkshänder, man sah es gut, sogar links behände, als er sich auszog, seine Umhänge wirbelten auf beiden Seiten herum. Sein mit greisenhaften Falten vermischter Charme führte dazu, daß man sich nach seinem Alter fragte: Jüngling oder alter Kauz? Aber insbesondere haben alle, als die Haut und das Fleisch zum Vorschein kamen, seine Rassenmischung entdeckt: Mulatte, Kaper, Eurasier, Hybride allgemein, und im wievielten Grad? Viertelblut, Achtelblut? Und wenn er nicht König spielte, wenn auch nur zum Spaß, so hätte man Lust, Bastard zu sagen oder Promenadenmischung, Kreuzung. Mischling, Zwielichtiger oder Zwielichtige, Verschnittener. Das normale, tätowierte, beidhändige, hermaphroditische und gemischt‐rassige Monster, was könnte es uns zeigen unter seiner Haut? Ja, das Blut und das Fleisch. Die Wissenschaft spricht über Organe, über Funktionen, über Zellen und Moleküle, um schlußendlich zuzugeben, daß man in den Laboratorien schon lange nicht mehr über das Leben spricht, aber nie sagt sie das Fleisch, das gerade die Mischung bezeichnet, an einem Ort des Körpers, hier und jetzt, voller Muskeln und Blut, Haut und Haar, Knochen, Nervenstränge und verschiedener Funktionen, das also dasjenige vermengt, welches durch das stichhaltige Wissen analysiert wird. Das Leben würfelt oder spielt Karten. Harlekin entdeckt endlich das Fleisch. Das vermischte und dem Harlekin beigemengte Fleisch und Blut sieht immer noch einem Harlekinmantel zum Verwechseln ähnlich.   Seit langem schon hatten zahlreiche Zuschauer den Saal verlassen, ermüdet von den mißlungenen Knalleffekten, irritiert von dieser Wendung von der Komödie zum Tragischen, sie waren zum Lachen gekommen und waren enttäuscht, denken zu müssen. Einige von ihnen, wahrscheinlich gelehrte Spezialisten, hatten ihre Lektion sogar verstanden, daß nämlich jeder Abschnitt ihres Wissens dem Harlekinmantel gleicht, da jeder in der Überschneidung oder in der Interferenz mehrerer anderer Wissenschaften

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und manchmal beinahe aller arbeitet. Und so holte ihre Akademie oder die Enzyklopädie formell wieder die Komödie der Kunst ein. Als nun aber alle den Rücken gekehrt hatten, als die Öllämpchen schwächer wurden und man spürte, daß die Improvisation heute Abend als Reinfall enden würde, schmetterte jemand plötzlich einen Ruf, als ob etwas Neues sich abspielte an einem Ort, wo alles an diesem Abend Wiederholung war, sodaß sich das ganze Publikum auf einen Schlag umdrehte und alle Blicke gleichzeitig auf die Bühne richtete, die von den letzten sterbenden Lichtern des Bühnenrands grell erleuchtet war: »Pierrot! Pierrot!«, rief er aus, »Pierrot des Mondes!« An derselben Stelle des Mondkaisers erhob sich darauf eine blendende, glühende Masse, eher hell als bleich, eher durchsichtig als matt, lilienfarben, schneefarben, kindlich‐naiv, rein und jungfräulich, ganz blank. »Pierrot! Pierrot!«, schrien noch die Dummen, als der Vorhang fiel. Sie gingen hinaus und fragten sich: »Wie können die tausend Farben der Buntscheckigkeit sich in ihrer Summe in Weiß auflösen?« »Genauso wie der Körper«, antworteten die Gelehrten, »die diversen Unterschiede während der Reise assimiliert und zurückbehält und dann, vermischt mit neuen Gesten und anderen Gebräuchen, nach Hause zurückkehrt und in seinen Haltungen und Funktionen dermaßen verschmilzt, daß er glaubt, es habe sich nichts für ihn verändert, genauso nimmt das laizistische Wunder der Toleranz und der gütigen Neutralität friedlich ebenso viele Lernprozesse auf, um daraus die Freiheit der Erfindung, also des Denkens, hervorspringen zu lassen.

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Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

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Chris Goldie, Darcy White (eds.)

Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North

2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3

Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

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Kunst- und Bildwissenschaft Julia Mia Stirnemann

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Annerose Keßler, Isabelle Schwarz (Hg.)

Objektivität und Imagination Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts 2018, 472 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3865-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3865-7

Alexandra Vinzenz

Vision ›Gesamtkunstwerk‹ Performative Interaktion als künstlerische Form 2018, 456 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4138-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4138-1

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